2 ar pi a Et ent re eat 4 Beinamen wenn en Taten RB Bon REIT TE Je TE EEE RAIN Set RETTET Tann Mr na nn er I - si a TE akt nn armen m Menue nn Beh, hsgreraunggtmaen gEmafat ein neue Hrn men nenne green. age rer weit nur are E NER Sy nem as ET me RR ee RETTET , ET - B : f} Br ! Da a iD en re MARINE BIOLOGIGAL LABORATORY. Received Accession No. Given by Place, *,*No book or pamphlet is to be removed from the Lab- oratory without the permission of the Trustees. fr ne Biologisches Centralblatt. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professoren in München herausgegeben von Dr. J. Rosenthal, Professor der Physiologie in Erlangen. Zweiundzwanzigster Band. 1902. Mit 82 Abbildungen. Leipzig. Vıesskars vom @eorr gT hie me 1902. # , Er Let} \ f il ee ’ i n a \ j “ Y x “ * - ‘ . { j ; [3 i ) H \ , D ’ |‘ “ » . x . * f r f BJ e em „ B > 4 ze rn PrpEn - Erlang en. E “ Di - .. v.-Buchdruckerei von Fr. Junge (Junge & Sohn) 4 5 Inhaltsübersicht des zweiundzwanzigsten Bandes. O=0TIEInRal: R — Referat Seite Adlerz, @. Periodische Massenvermehrung als EvolutionsfaktorO . . 108 Arbeiten aus der biologischen Abteilung für Land- und Forstwirtschaft am kaiserlichen Gesundheitsamt R . . . . FELL SHIEE Beard, J. Heredity and the epieycle of the germ-cells O . 321, 353, 398 Bethe, Albrecht. Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen zum Teil nach neuen Versuchen O . . . 2... .2.2..49, 234 Boveri, Theodor. Das Problem der Befruchtung R. . . . . . .. 978 Bredig, Georgs ‚Anorsanische Bermertf 3... al. Lena Gunningcham, J. T. Unisexual Inheritance O:.. .... ...; 1. er 1,33 Dorner, Georg. Darstellung der Turbellarienfauna Ostpreußens R. . 663 Driesch, Hans. Kritisches und Polemisches O0. . . . . 151, 181, 439 Escherich, K. Ueber den sogenannten „Mittelstrang“ der Insekten O 179 — Biologische Studien über algerische Myrmekophilen, zugleich mit allgemeinen Bemerkungen über die Entwicklung und Bedeu- SureSdersSympBRI16; Di, 2 2 5 a A EEE Fischer, E. Berichtigung . . . . EN Friedmann, H. Zur Physiologie der oo hen OR ER — Ueber die Chromosomen als Träger der Vererbungssubstanz O0 .. 778 Fritseh (Fri&) A. und Vavra, V. Untersuchungen des Elbflusses und seiner Altwässer BR . . . .:.. BR : PERLE NE) Fruhwirth, C. Die Züchtung der tandwisfechäftliohen A: 289 Goebel, K. Organographie der Pflanzen, insbesondere der Archegoniaten undıder Sameapiimzen mi EN NR LE IR — TUeber Regeneration im Pflanzenreich O0. . . . . . 38, 417, 481 Hiltner, L. Ueber die Ursachen, welehe die Größe, Zahl, Stellung und Wirkung der Wurzelknöllehen der Leguminosen bedingen R . 219 Jacobi, Arnold. Die Aufnahme von Steinen durch Vögel R. . .. 223 VI Inhaltsübersicht. Seite Jost, L. Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze O0 . . . . 4161 Korschelt, E. und Heider, K. Lehrbuch der vergleichenden Ent- wicklungsgeschichte der wirbellosen Tiere R . . .... 42 Kükenthal, W. Leitfaden für das zoologische Praktikum R . . . . 320 Küster, Ernst. Die Mendel’schen Regeln, ihre ursprüngliche Fassung und ihre modernen Ergänzungen O . . 2. 2 2 2.2.2.2... 1429 Lämmel, R. Ueber periodische Variation in Organismen O0. . „. . . 868 Lauterborn, Robert. Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm (Cartersus Stepanowi Dyb.)O . . . 2 2. 2... are 29419 Leche, Wilhelm. Ein Fall von Vererbung erworbener Eigenschaften 0. 09 Lendenfeld, R. v. Die Arbeiten von Agassiz über die Korallriffe der Bidschimseln 0°}, 222 N RE 0 — Zur mimikristischen Tierfärbung 0 a rl Linden, v. Experimentelle Untersuchungen über die Vererbung erwor- bener' Eigenschaften 2, a a 2 ia as ee ee 62 Loew, Oskar. Zur Theorie der primären Protoplasma-Energie OÖ . . 733 Marchand, F. Ueber das Hirngewicht des Menschen O . . . . . . 376 Mares, F. Das Energieprinzip und die energetische Betrachtungsweise in. der Physiologie. O, Te Bm NEE 79072270052 02109925 Massart, Jean. Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe R 9, 41, 65 M'oLl, J. W. Die. Mutätionstheorie Mm: Tailor el Näcke, P. Einige innere somatische Degenerationszeichen bei Para- Iytikern und 'Normalen@R... 2 Dee eo) Nusbaum, Jözef. Zur Kenntnis der Regenerationserscheinungen bei den Enchytraeiden ©, . . ... . : IE Re RESET Ostwald, Wolfgang. Zur Theorie des Planktons O . . . . . 596, 609 hädl, Em. D. Ueber die Lichtreaktion der Arthropoden auf der Dreh- scheibe ©..." PN So. a a ee N N 2S Reh, L. Die Verschleppung von Tieren durch den Handel, ihre zoo- logische und wirtschaftliche Bedeutung O0. . . . . . 119 Reichenbach, H. Ueber Parthenogenese bei Ameisen und andere Be- obachtungen an Ameisenkolonien in künstlichen Nestern O . 461 Reinke, J. Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vita- lismus® OL...) ee ae ee N > Rosenthal, Werner. Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie R . 666 Schaffer, Josef. Eine Sperrvorrichtung an den Zehen des Sperlings (Passer domestieusL.) ‚O1, a 2 mine Were Schapiro, J. Ueber Ursache und Zweck des Hermaphroditismus, seine Beziehungen zur Lebensdauer und Variation mit besonderer Berücksichtigung einiger Nachtschneckenarten O0 . . . 97, 136 Inhaltsübersicht. v1 Seite Schimkewitsch, W. Ueber direkte Teilung unter künstlichen Be- dinpungen Or ee ERENTO I et 5605 Schmidt-Nielsen, Sigval. Autolytische Vorgänge in gesalzenen Hesmmsen Orras Sara) an DER TAN TARA EA0S Schultz, Eugen. Ueber das Verhältnis der Resbterition zur Embryonal- entwicklung und Knospung 0 . . .... 360 Shibata, K. Experimentelle Studien über die Entwieklung Dane: sperms bei Monotropa (Vorläufige Mitteilung) O0 . . . . . 705 Simroth, Heinrich. Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens und über die Entstehung der Gastropoden 0 .... ; = 239.262 Skorikow, A. S. Die Entstehung des Pnohlanktene in aan Zue5nt Stieda, Ludwig. Geschichte der Entwicklung der Lehre von den Nervenzellen und Nervenfasern während des 19. Jahrhunderts 2 465 Stölzle, Remigius. A.v.Kölliker's Stellung zur Descendenzlehre R 159 Thilo, Otto. Die Vorfahren der Schollen O . .. . ET Triepel, Hermann. Einführung in die physikalische Anatomie R . . 780 Walkhoff, Otto. Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen in seiner funktionellen Entwicklung und Gestalt R . . . . 298 Nasmann, BE. Br Petrus Houde J.S.07.2 N Te ee al 1382 — Noch ein Wort zu Bethe’s Reflextheorie O0 . . . . ESG — Einige Bemerkungen zu J. Sjöstedt’s „Monographie ee Ter- MILENMALITIKABES 0: 2 a Re are er Deere 1A Wassilieff, Alexander. Ueber künstliche Parthenogenesis des See- Te0leras OD We ee ae er 108 Werner, F. Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier O0 . . 737 Wille, N. Ueber Gasvakuolen bei einer Bakterie OÖ .. .......% Zacharias, Otto. Ueber die Schwebeborsten des sStephanodiscus BantzschtanusaGL Un. ON. ale a a 13 — Ueber die Einwirkung der arsenigen Säure auf den en KOEBOrS ee We a ne ee: 20 — Zur Fauna der Umgebung von Buitenzorg BR. . . 2 2 2.2. 383 — Einige Beispiele von massenhafter Vermehrung gewisser Plankton- Organismen’ in. Hachen’ Leichen ON rn nen ren. 5838 — Ueber das Vorkommen von Infusorien im Cikaden-Schleim O0 . 608 — Ueber die Ergrünung der Gewässer durch die massenhafte An- wesenheit mikroskopischer Organismen 0. . . .. 700 — Zur biologischen Charakteristik des Schwarzsees bei Kitzbühel BRILLE ee a TOR Ziegler, Heinrich Ernst. Ueber den derzeitigen Stand der Descen- denzlehre in der Zoologie R. . . . . a RT Zykoff, W. Das pflanzliche Plankton der Wolga bei Sa 0. 2.60 VII Inhaltsverzeichnis. Seite Zykoff, W. Wo sollen wir den Zwischenwirt des Cystoopsis acipenseri Ne Wagen. suchen? © ... 12. 2. a oe ARE 229 Blumenbach Stipendium. . . E ur rer ht Deutscher Verein für öffentliche Gesundheit Jahres- versammlung in München . 1.2... u). wach zer ne 50 atteraturverzeichnis.. ..% ,..% "0% wie u 020259038 480,536 Preisausschreibung der kais. Akademie der Wissenschaften zu Wien 415 Selonka;. Emil: "Todesanzeige ı „Narr Eye er ee 97 Selenka’s Emil wissenschaftlicher Nachlass . . 2. 2 2 2. 2.2.2 ..704 Biologisches Oentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. E. Selenka Professoren in München, herausgegeben vou Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXI. Band. Inhalt: Cunningham, Unisexual Inheritancee. — Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. — Reinke, Bemerkungen zu OÖ. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. — Bredig, Anorganische Fermente, ner 3909. Nr.l. Unisexual Inheritance by | J. T. Cunningham, M. A. The chief question on which biologists are divided in opinion at the present time is that of the inheritance of acquired characters. Darwin himself believed in such inheritance, although he attributed to it only a subordinate importance as a factor of evolution. It would perhaps be generally admitted that the question is still open, that on the one hand the hereditary transmission of such characters has not been finally disproved, and on the other hand that there is not suffi- cient satisfactory evidence to prove that it oceurs. But nearly everyone interested in evolution, in spite of this formal admission, is firmly con- vinced on one side or the other. The followers of one school, are scarcely willing to consider any arguments in favour of the affirmative side in the absence of direct experimental verification, while the hereties frequently make damaging attacks on the system of doctrine by which the facts of evolution are supposed to be explained on the prineiple of selection alone. The rejection by many evolutionists of one factor which Darwin admitted is due chiefly to the influenee of Weismann’s writings, and Weismann’s opposition to it was not founded on an inductive method of investigation such as that employed by Darwin, but arose from his able and persevering endeavours to formulate a detailed conception of the process and mechanism of heredity. Finding no facts or data on which to base a Conception of the process by which a change in parts or organs of the body could be transmitted to the germ cells in the reproductive organs, Weismann started from the assumption that XXI, l 2, Cunningham, Unisexual Inheritance. the powers of development in the germ cells are entirely independent of the body, that germ cells derive all their properties from the germ cells of previous generations. Thus a hen’s egg develops into a chick, not because it is produced by a hen but because it is descended from the eggs of previous generations which also had the power of deve- loping into chicks. When one egg develops into a chiek, it divides into numerous cells, some of which form the body of the bird, while others are the germs of new eggs, and the body of the bird has no influence on these new germs. The developmental powers of the germ- cells themselves however, as they multiply by subdivision, and unite in sexual union, undergo variations, and therefore the individuals deve- loped from them are not exactly alike for all time, but show, as we observe, individual peculiarities, By constant seleetion from numerous individuals with small or great peculiarities evolution is supposed to be effected. The body of the individual, as distinguished from the germ cells in its.reproductive organs, may be modified by aceident or exereise or stimulation.e A muscle grows larger when exereised, sunlight causes the skin to become pigmented, the frietion of a boot may produce a corn. But such physiological changes, according to Weismann, begin and end with the individual, with the body or soma. We can thus definitely distinguish between variations which arise in the soma, soma- togenic variations, and variations which have their origin in the germ- cell, blastogenie, and according to Weismann somatogenie variations have no effect on the germ cells and therefore never become here- ditary. That I am justified in attributing the disbelief in the inheritance of somatogenic variations to theoretical prejudice is proved I think by a passage which Herbert Spencer quotes from a letter addressed to him by a zoological expert at Cambridge. The passage contains this statement: „Most of us here at Cambridge are intensely opposed to the doctrine of the inheritability of acquired variations. Even assuming that the developmental power of a germ is determined by its moleeular structure, 'we still fail to conceive any means by which for instance a change in the development of a muscle or nerve can effect a corresponding change in that part ofthe germ which is destined to produce a corresponding part in the descendant.“ There is however another way of testing the rival theories of heredity, besides the possibility of eoneeiving the mechanism of the process, and that is by eomparing the necessary logical eonsequences of the theories with observed and admitted facts. The theory whose deductions agree more closely with the facts of observation is likely to be the nearer the truth. I have lately devoted considerable labour to making such a comparison for the facts concerning secondary sexual Cunningham, Unisexual Inheritance. 3 characters. The existence of structural differences between the sexes, apart from the essential reproductive organs, is one of the most interesting phenomena in zoology. An adult stag has an enormous pair of branching bony structures attached to his skull, and the female has generally no trace of such organs. The stag is the father of deer both male and female, his male progeny develop antlers like his own, his female progeny show no trace of antlers. Do these familiar facts agree with the hypothesis that only blastogenie variations are here- ditary? We know well enough that some variations are blastogenie, hare lip for example, or the existence of a sixth finger or toe. But these are transmitted indifferently to male or female progeny. We have no reasön to believe that any kind of selection whether sexual selection or natural seleetion can explain the limitation of inheritanee to one sex. This question has been discussed at length by Darwin in his „Descent of Man“, 2nd Edition, chapter XV. Darwin was led to examine the subject very carefully in consequence of Wallace’s contention that the variations which led to the special male characters in birds tended at first to be transmitted equally to both sexes, but that the female was prevented from acquiring the conspieuous characters of the male through natural selection, because of the danger she would thus have ineurred during ineubation. Darwin states that he knew of no facts rendering it probable that a character could be limited to one sex by selection when it was not originally sexually limited in transmission. I am not aware that since 1885 any new facts have been pro- duced which would diminish the validity of Darwin’s concelusion. We must assume therefore that the variations which give rise to unisexual characters are from their first appearance unisexual in their oceurrence and transmission. If we deny the inheritance of acquired characters we can only assume this without any explanation. We can only ob- serve with Darwin that variations oceurring late in life are more likely to be unisexually inherited than others, but we can give no reason why changes should oceur in the determinants within the germ which produce characters late in life limited in inheritance to one sex. We can only say that they do occur, like other variations equally inherited by both sexes, and that when they oceur they may be preser- ved and accumulated by selection. Weismann in his treatise on the „Keimplasma“ has considered in detail the mechanism of unisexual heredity, but he has not satis- factorily explained the first origin of unisexual variations. He refers to the fact that a character not appearing in the female may yet be transmitted through the female from grandfather to grandson. The ovum from which the female was developed therefore contains the deter- minants of, i. e. the living partieles which determine, the male cha- 4 Cunningham, Unisexual Inheritance. raeters, and hands them on to the germ cells of the following gene- ration, although the characters themselves do not actually show themselves in the female. But more than this he points out is required. The determinants exist also in the cells of the body of the female, because in certain cases when the female has become sterile from old age the male characters are developed. Conversely the determinants of the female characters exist in the male, because when the latter is castrated at an early age the male characters are not developed or, asWeismann interprets the matter, female characters are developed instead. Weismann’s explanation of the facts then is that in each rudiment of an organ in the developing soma there are two sets of determinants or a set of double determinants, one set of which is active and the other latent, while the latent may be called into activity by special conditions such as castration, or sterility. But so far as I can discover Weismann has made no attempt to explain how on his own theory the activity ofone or other set of homo- logous determinants in the soma, in an external organ for example, can be in any way affeeted by the removal of the primary generative organs, or by the condition of those organs. He conceives the deve- lopment of the individual, as in the first place a subdivision of the fertilised ovum into a number of cells, some of which will become the germ cells of the next generation. The rest then are the somatie cells, and these as they divide become differentiated, each cell as it is formed taking with it only the determinants of the organ or organs in whose formation it is going to take part. According to the theory the fate of these somatie determinants can have no influence on the determinants in the germ cells, for if they had we should have the possibility of the inheritance of acquired characters. Consider then the cells of the frontal bone in a young stag from which the antlers will grow. These cells eontain the determinants of the antler, and presumably no female determinants, since the female possesses no antlers. Yet if the testesare removed the determinants of the antlers refuse to act, and remain latent. It is evident therefore that the action of these determinants depends on the presence of the primary generative organs, i. e. of the germ cells of the next generation, in another part of the body. There must therefore be some connection, some continuity between the germ cells and the determinants of the antlers, while the theory postulates that there is none. It may perhaps be argued that the activity of the antler-determinants depends not on the presenee of the germ cells, but on nervous excitement or other conditions of the soma, which are due to the functional activities concerned in the liberation of the germ cells. In that case how are we to conceive the origin of the variations which originally gave rise to the antlers? Variations according to the theory \ Cunningham, Unisexual Inheritance. 5 arise by changes in the determinants within the germ plasm, changes which are independent of the condition of the soma. How then do these modified determinants ever come to depend for their behaviour on the condition of the soma? It is perhaps easy enough for the follower of Weismann to say that the variation which arose in certain germ cells originally was not merely production of determinants which would in development produce antlers, but of determinants which would only produce antlers when the body was in the condition caused by the activity of the re- productive organs. But since the variations of the determinants in the germ cells are supposed to be entirely independent of the soma or its eondition there is no reason why such a variation should ever arise. The periosteum of the frontal bones, the formative action of which produces the antlers, has not originally any sexual character, is not in other animals specially affected by the periodical activity of the generative organs. Why then should the variation in the deter- minants which gives rise to antlers be correlated with the sexual function ? It is I think impossible in this case to explain the facts by the process of selection, for if the development of the antlers took place like that of teeth at a certain stage of life independently of the sexual funetions, the antlers would be equally effective as weapons. A tiger does not lose his teeth when castrated, what advantage then is it to the deer tribe that the development of the antlers should be so pro- foundly affeeted when the reproductive organs are removed? Selection does not even explain the presence of antlersin deer and their absence in other tribes of mammals, such as horses or swine. There is no valid evidence, in spite of the fabled oceurrence of horned horses, of antlers oceurring as occasional spontaneous variations, in animals that do not normally possess them. Another important peeuliarity of antlers is their annual loss and reerescence. According to Weismann’s conception the determinants are used up when the cells which they determine have been definitely formed. In his treatise on Das Keimplasma he expressly refers to the antlers of stags in the ehapter on regeneration, or as I prefer to call it, reerescenee. He believes that recrescence is not a process due to a common original property of organisms, but is a special adaptation produced by selection. This means that as an occasional variation there oecur in certain cells not merely the determinants of the cells developed from them, but also extra sets of determinants which can provide the regenerated tissues when the first are removed. The for- mation of these extra or reserve determinants is supposed to oceur in the germ, as a blastogenie variation, and selection alone is supposed to decide whether the possibility of reerescence shall belong to a given 6 Cunningham, Unisexual Inheritance. organ or not. Again the selectionist merely assumes that the required variation oeeurred in the germ, and gave rise to the observed pheno- mena in development. It is difficult to see how selection can be made to assist in the explanation of the annual reerescence of antlers, for permanent antlers would have been equally effective as weapons. It may be urged that antlers once formed do not grow, but it is not evident that either the periodical renewal or the characteristie branching give to antlers any superiority as weapons over the permanent horns of antelopes, and cattle. It may be fully granted that, since the growth and periodical renewal of the antlers take place in existing stags as a hereditary and constitutional process, independent of all exeiting causes except the functional activity of the testes, there must be something in the constitution of the ovum from which a stag is developed, which „deter- mines“ all these peeuliarities in the antlers. The fertilised ovum of a deer or a rabbit is to our perceptions a minute mass of protoplasm, and although tbe two may not be exactly alike in size and other respeets, yet it is perfeetly impossible for us to distinguish in them the differences which cause one to develop into a stately stag, the other into a defenceless rabbit. Yet we know that there is as much difference between the two ova as between the two animals into which they develop. The characters of the adult animals are not due to the different food they eat, nor to differences of celimate, nor even to the fact that the embryo in one case is developed in tbe body of female deer in the other in that of a doe rabbit: they are due entirely to some peculiarities in the ova, of whose existence we are certain, but of whose nature we are profoundly ignorant. So far there is no objection in prineiple to Weismann’s attempt to construct a theory of the mechanism of development, a theory of the constitution and properties of the ovum. But when we ask whence was derived this power of the stag’s ovum to give rise to antlers having such a marvellous history, what is the reply? Merely that the properties which are in the ovum arose in the ovum. The hypothesis of Weismann then is that the properties of the deer’s ovum which cause antlers to develop were originally of the same nature as the blastogenie variations which occasionally in the human ovum cause the development of supernumerary fingers, or hare lip, or even a double head. That such blastogenie variations oceur is admitted, and it may even be possible in course of time to find the causes of them, but the question to be considered is whether all here- ditary peeuliarities are of the same kind. What evidence have we of tbe observed oceurrence of blastogenie variations limited to one sex, and correlated with the functional activity of normal reproduetive organs? Cunningham, Unisexual Inheritance. 7 There is one well known abnormality in the human race which appears at first sight to offer evidence of this kind. I refer to the disease called haemophilia, a congenital tendeney to excessive blee- ding. This disease is comparatively rare, but its importance from our present point of view is due to the fact that it is strongly hereditary, and that it oeeurs chiefly in men, rarely in women. Ac- cording to Wickham Legg, one of the Sin authorities on the subject, the disease generally appears in the sons of women who be- long to an affected family, though the women themselves show the symptoms but slightly or not at all; on the other hand fathers are said rarely to transmit the disease to their sons. The exact nature of the abnormality to which the bleeding is due seems to be doubtful, Dr. Gamgee considered the fault lay rather in the blood vessels than in the blood. Weismann refers to this disease, and explains it according to his theory. He suggests that the determinants of the blood- in the human ovum are double determinants, one set developing in the male, the other in the female, and that the congenital variation giving rise to haemophilia has arisen only in the male deter- minants. But it is to be’observed that the disease does not exactly correspond to a secondary sexual character. It generally shows itself in boys during the first year of life, though sometimes the symptoms do not appear until a few years later, whereas secondary sexual characters generally do not appear much before the period of puberty. It seems to me quite possible that the actual defect, or variation, whatever it may be, is equally present in both sexes, but produces more serious results in males in consequence of differences normally present between the sexes. That there are normal differences between man and woman in the blood, is certain, in man there are more red corpusceles and the specific gravity is higher. The general blood pressure also may be higher in man. Haemophilia therefore is not shown to be a case of a unisexual congenital variation at all. Evidence to be of real importance in this enquiry should consist of cases in which a unisexual congenital variation is observed to oceur in a species in which the male and female are normally similar. Wild species of pigeons fulfil this condition, and it isa fact that sexual differences have appeared to a certain degree in pigeons under domesti- cation. Darwin refers to a Belgian breed in which the males alone are marked with black striae, and the peculiarities of the pouter and carrier are more developed in the male than in the female. But it is by no means certain that these differences arose as blastogenie variations: it seems to me more probable that they are to be explained in the same way as I explain the sexual differences in wild animals. The oceurrence of unisexual variations in individual pigeons has not I believe been described. 8 Cunningham, Unisexual Inheritance. The reasons then for regarding secondary sexual characters as due to blastogenie variations are by no means conelusive, and such a view affords no explanation of the remarkable correspondence between the development of such characters and the life and habits of the animal possessing them. On the other hand such characters have a much greater resemblance to acquired characters, and when so re- garded their peeuliarities are seen to be due to antecedent conditions, instead of arising by a kind of spontaneous generation in the germ plasm. The growth of the antlers of a stag resembles physiologically the formation of a knob of bone or exostosis which occurs when the periosteum or membrane covering the bone is mechanically irritated. Stags fight with their antlers, and if they fought originally with their foreheads before antlers existed, we could understand the origin of these structures. The females do not butt with their heads, and these have no antlers.. When the antler is developed the external skin and periosteum are removed in the process known as the peeling of the velvet. Now bone denuded of its periosteum by injury or disease sooner or later dies and dead bone is absorbed or thrown out of the body. The antler likewise when the velvet is shed becomes a mass of dead bone, although the eireulation of blood and the life of the bone may continue for some time in the centre. Absorption then takes place at the base of the dead structure and the antler is shed, to be followed by a larger successor. The phases in the history of the antler correspond to the phases in the activity of the reproductive organs. The growth of the antler takes place in summer, when the testes are quiescent but maturing. The velvet is shed in August after which the stag begins to fight and the testes are active. The fighting and pairing season lasts from September to December, and the antlers are shed usually in the following April. All these facts become intelligible if we regard them as the here- ditary repetition of processes of growth and absorption originally pro- duced directly by the mechanical irritations caused by fighting. Stags are in the habit of rubbing the velvet from the fully developed antlers purposely, but probably the shedding of the velvet and all the other processes in the history of an antler would take place in a stag at the present day by heredity alone. It is consistent with physiologieal science however to suppose that originally the antler began to grow in consequence of the blows received in fighting, that the velvet was torn from the same cause and that the shedding of the antler followed in consequence. After the old antler was shed the same results would be produced at the next rutting season. The unisexual inheritance and the remarkable effects of castration are explained by the hypo- thesis that the new processes of growth and absorption are necessarily Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe, 9) repeated by heredity in their original associations. As acquired characters they were produced when the testes were active and the brain and nervous system irritated by sexual excitement, as inherited characters they only develop when these conditions are present or approaching. On this hypothesis there is no need for a double set of determinants in both male and female. The determinants, the living elements, are the same in both, but their action depends on the con- dition of the generative organs, and of the whole body. (Schluss folgt.) Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe!). Von Jean Massart, Professor an der Universität Brüssel, Assistent am botanischen Institute. I. Allgemeinheit der nicht-nervösen Reflexe. Alle Vorgänge, welche sich im lebenden Protoplasma eines Orga- nismus abspielen, können zum mindesten von zwei verschiedenen Ge- sichtspunkten aus betrachtet werden. Man kann entweder die chemische Seite der Frage ins Auge fassen und die stofflichen Veränderungen studieren, sowie die zur Ausführung notwendige Kraft, oder man unter- sucht vom Standpunkt der Reizbarkeit, durch welche Reize eine Re- aktion eintritt. Diese zweite, physiologische Seite der ganzen Frage ist von den- jenigen, welche sich mit dem Chemismus beschäftigten, beinahe ganz vernachlässigt worden, gerade so, als ob sie vergessen hätten, dass nichts in einem Lebewesen spontan ist, dass alle Veränderungen, selbst die unbedeutendsten, “durch Reize bedingt sind, folglich dem Gebiet der Reizbarkeit zugezählt werden müssen. Mit einem Worte, jede protoplasmatische Thätigkeit ist ein elementarer Reflex, der auf seine größte Einfachheit zurückgeführt ist. Bei den Metazoen ist ein eigener Apparat vorhanden, welcher die verschiedenen Teile des Organismus miteinander verbindet und so den Zusammenhang herstellt zwischen der Stelle der Reizung und der, welche die Reaktion hervorbringen soll. Aber dem Nervensystem unter- stehen bezüglich ihrer Reizbarkeit nicht alle Zellen der Metazoen. Die freien Zellen (Leukocyten, Spermatozoen, Wanderzellen des Binde- gewebes) stehen in keiner Verbindung mit dem Nervensystem. Ueber- dies hat das Nervensystem durchaus nicht die allgemeine Leitung über alle Vorgänge in den Zellen, mit denen es sich verbindet; es reguliert nur die gröberen Vorgänge (Kontraktion, Drüsensekretion ete.), und es giebt dem Tiere nur Auskunft über die gröbsten Abänderungen der 1) Auf Wunsch des Herın Verfassers übersetzt aus den „Annales de Institut Pasteur“ (25 aoüt 1901). 10 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. Außenwelt (Licht, Schall, Stoß ete.). Alle feineren Vorgänge entziehen sich seinem Einfluss; die Zellen teilen und entwickeln sich und ge- winnen ihre spezifischen Eigenschaften, das Gefäßendothel nimmt die Mikroben auf und verdaut sie ohne irgend eine Mithilfe von seiten des Nervensystemes. Es sei ferner erwähnt, dass bei den Tieren während der ersten Teilungen des Eies die Nerven fehlen. So entbehrt die Gastrula der Echinodermen vollständig aller Nerven, zur Zeit, wo sie schon frei schwimmt und sich in der Außenwelt zurecht finden muss. Kurzum, die nervösen Reflexe stellen selbst bei den höheren Tieren die Ausnahme dar; wenn die Mehrzahl der Physiologen ihnen eine so hervorragende Stellung einräumt, so geschieht es einfach deshalb, weil ihre Wirkungen viel auffälliger sind. Endlich giebt es neben den Metazoen, wo die nervösen Reflexe gewöhnlich die ganze Auf- merksamkeit auf sich lenken, eine- ganze Menge niederer Lebewesen (Schizophyten, Flagelaten, Infusorien, Rhizopoden ete.) und Pflanzen, bei denen ausschließlich nicht-nervöse Reflexe vorhanden sind!). So ausgedehnt auch das Bereich der nicht-nervösen Reflexe sein mag, so hat es dennoch seine ganz bestimmten Grenzen. Und man fragt sich, warum Loeb (1890 und 1891)?) und seine Schule sich be- müht, missbräuchlich gleiche Bezeichnungen einzuführen für Begriffe, welche sich in den reinen und einfachen Erscheinungen der Reizbarkeit nicht ähneln. Welchen Vorteil könnte es haben, mit demselben Worte „Tropismus“ ganz verschiedene Reaktionen zu bezeichnen, wie die Ortsveränderungen, welche die Insekten vollführen, um sich dem Lichte zu nähern und die Krümmung, durch die Phycomyces (Pilz) sein Ende gegen den Lichtreiz richtet? Liegt es nicht auf der Hand, dass die lange Reihe nervöser Vorgänge, welche die Ortsbewegung eines In- sektes herbeiführt, nichts zu thun hat mit den Protoplasmaverände- rungen, welche sich im Mycel eines Pilzes abspielen? Die Wissenschaft hat bei derartigen Vergleichen nichts zu gewinnen; sie beruhen auf einer willkürlichen Verwirrung der Termini, welche schließlich eine Verwirrung der Begriffe herbeiführt. II. Analyse eines nicht-nervösen Reflexes. A. Die Phasen des Reflexes. Selbst der einfachste Reflex ist viel komplizierter als er auf den ersten Blick erscheint. In einigen genau studierten Fällen konnte man nicht konstatieren, dass dieselben Protoplasmateile einmal den Reiz aufnehmen und dann die Reaktion vollführen können. Bei der Mehrzahl der grünen einzelnen Organis- men, Br Zoosporen der Algen, wird das Licht durch den 1) Nach meiner Kenniais hat Errera (1894) zuerst die Erscheinungen der Reizbarkeit der Pflanzen erklärt: „Ueber Reflexe ohne Nerven“. 2) Das alphabetisch geordnete Litteraturverzeichnis findet sich am Schlusse des Aufsatzes, Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 11 Augenpunkt (Occellus) wahrgenommen, während durch die Geißel- bewegung die Körperaxe parallel zum Licht gestellt wird. Es muss also eine Uebertragung des Reizes vom Augenpunkt zu den Geißeln auf einem unbekannten Wege stattgefunden haben (Engelmann 1882). Der Vorgang ist noch viel verwickelter, wenn die Erregung aus dem Inneren kommt. Nehmen wir beispielsweise folgenden Fall. Viele Pflanzen bringen vertikale Stengel hervor, welche sich lange ver- längern können, ohne sich zu verzweigen, wenn nur die Endknospe unverletzt ist. Sobald aber die Spitze verletzt ist, entwickeln sich Adventiv-Knospen. Das gleiche Resultat wird erzielt bei einem mit seiner Spitze versehenen Stengel, bei dem man aber eine Ringe- lung macht (d.h. unterhalb der Endknospe in der Höhe von ungefähr 1 cm alle oberflächlichen Gewebe fortnimmt, so dass nur noch das Holz übrig bleibt). Die unter der Ringelung gelegenen Knospen fangen sogleich zu treiben an. Dieses Experiment lehrt, dass die Endknospe einen Reiz aussendet, der das Wachstum der seitliehen Knospen verhindert; so- bald aber dieser Reiz nicht mehr ausgesandt wird (Decapitation, nach dem Abschneiden der Spitze) oder nicht mehr zu den Adventiv- knospen gelangen kann (nach der Ringelung), erwachen diese sofort. Aus anderen Experimenten, deren Einzelnheiten der Kürze halber übergangen werden, folgt, dass der Reiz nicht direkt zu den seitlichen Knospen gelangt, er wird vielmehr erst von einem sensiblen Organ aufgenommen, welches dann die Empfindung auf die Reaktionsorgane überträgt. Wir haben dann an diesem Hemmungsreflex folgende fünf Phasen zu untersuchen: Reizung — Reizleitung— Empfindung — Empfindungs- leitung — Reaktion. In den einfachsten Fällen, wo der Reiz von außen kommt, sind die beiden ersten Termini zu streichen; der nicht-nervöse Reflex um- fasst dann nur drei Phasen: Empfindung — Empfindungsleitung — Reaktion. Ein soleher Reflex ist auf seine einfachste Form zurückgeführt. Sicherlich umfasst eine jede der fünf Phasen auch noch eine Unzahl nicht wahrnehmbarer Protoplasmaveränderungen. Die Reiz- und Em- pfindungsleitung ist sicherlich keine einfache Leitung im physikalischen Sinne, sondern ihre Langsamkeit lässt vermuten, dass sie von zahl- reichen chemischen Umwandlungen begleitet ist, entsprechend ebenso vielen kleinen Elementarreaktionen. Wir kennen weder die Protoplasma- veränderungen in dem Augenblicke, in dem der Reiz wahrgenommen und zur Empfindung wird, noch die ununterbrochene Kette der Ver- änderungen, welche später die Reaktion herbeiführen. Wir werden übrigens später noch auf diesen unentwirrbaren Knäuel der Protoplasma- veränderungen zurückkommen müssen. Wir müssen uns augenblicklich 12 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. damit begnügen, dass der erste Schritt zur tieferen Erkenntnis dieser Erscheinungen von Czapek (1898) gemacht worden ist, der fand, dass die Wurzelspitze unmittelbar nach der Reizung eine größere Menge aromatischer, oxydabler Körper enthält, so lange als eine Ver- minderung der Sauerstoff übertragenden Stoffe (oxydierende Fermente) besteht. B. Dauer und Stärke der Perioden. Nehmen wir nun einen Reflex an, der durch einen gut zu handhabenden äußeren Reiz hervor- gebracht und durch eine unzweideutige Reaktion beendet wird, deren Beginn, Ende und Stärke wir leicht feststellen können: z. B. die Krüm- mung der Wurzel unter dem Einfluss der Schwere oder der Centrifugal- kraft (Czapek 1891 und 1898), oder die Krümmung des Stengels bei Beleuchtung von einer Seite (Wiesner 1878, 1880). Es handelt sich zunächst darum, die Dauer und Stärke zu messen. Wir müssen dann den Reflex in begrenzte Unterabteilungen zerlegen, ohne auf die Phasen zu achten, die wir nicht festgestellt, sondern einfach angenommen haben. Weil a) die Reizleitung, b) die Empfindung, ec) die Empfindungs- leitung voneinander nicht unterschieden werden können, so müssen wir auf einmal die ganze Zeit vom Ende des Reizes bis zum sicht- baren Anfang der Reaktion messen. Außerdem umfasst diese „Latenz- zeit“ die ersten Veränderungen, welche sich im Reaktionsapparat vom ersten Augenblick bis zum Sichtbarwerden der Reaktion abspielen. 1. Erregung (und Empfindung). Es versteht sich von selbst, dass wir uns das Studium der Erregung angelegen sein lassen, weil es uns nicht möglich ist, die Empfindung zu analysieren. In Wirk- lichkeit ruft nicht die Reizung die Reaktion von seiten des Organismus hervor, es ist vielmehr die stattgehabte Veränderung des Mediums, es ist einzig und allein die Störung, welche der Reiz im Protoplasma her- vorruft. Die Empfindung aber verbirgt sich unseren Untersuchungs- mitteln. Anstatt die Protoplasmaveränderungen zu studieren, müssen wir uns mit der Untersuchung ihrer unmittelbaren Ursache begnügen. Sehr selten sind im großen und ganzen die Fälle, in denen man die Reizung von der Wahrnehmung trennen kann. Noctiluca, (Flagellaten) z. B., wenn sie in den Wogen zu leuchten beginnen und das Meerleuchten erzeugen, reagieren sie nicht auf die Bewegung des Wassers, sondern gegen eine Formveränderung der Zelle. Ein Be- weis dafür ist, dass das Leuchten besteht, so lange man die Zelle sanft deformiert, ohne die geringste Erschütterung; — wird aber die Flüssig- keit, in der sich die Flagelaten befinden, stark geschüttelt, so bleibt alles dunkel (Massart 1893). a) Schwelle der Dauer und Stärke. Damit ein Reiz wirk- sam werde, genügt es nicht, dass er bestimmte Eigenschaften habe, auf die wir noch zurückkommen werden, sondern er muss auch ein Minimum der Dauer und Stärke haben. Man bezeichnet diese kleinsten Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 13 Werte mit dem Namen „Schwellenwert“. Es ist wesentlich die Schwelle der Dauer (Zeitschwelle) von jener der Stärke (Intensitätsschwelle) zu unterscheiden. ° Eine Pflanze, welche einen kurzen Augenblick selbst einem sehr starken Licht ausgesetzt ist, wird nicht reagieren. Ebenso kann man eine Wurzel während einer unbestimmten Zeit einer Centri- fugalkraft unter 0,001 gr unterwerfen, ohne dass etwas geschieht (Czapek 1895, 1). b) Gipfel der Dauer und Stärke. Es giebt ein Maximum der Dauer, über welches hinaus der Reiz aufhört wirksam zu sein, oder ein Maximum der Stärke, welches man ungestraft nicht über- schreiten darf, ohne dass der Reiz unwirksam wird. So hat man z.B. oft festgestellt, dass die Organismen, welche mehreremal hintereinander und in kurzen Zeitabständen auf einen bestimmten Reiz reagiert haben, nach und nach die Fähigkeit zu reagieren verlieren. Man muss zweifelsohne nur die Ermüdung hierfür, beschuldigen, da ja dieselben beinahe erschöpften Individuen von neuem reagieren werden, wenn man den Reiz verstärkt. Noctiluca, welche nach einer großen Zahl schwacher Erschütterungen aufgehört hat ihr Licht auszusenden, wird wieder leuchten, wenn die Erschütterung viel stärker wird. Was den Gipfel der Stärke anbelangt, so scheint es, dass man ihn logischer- weise gelten lassen muss. Es verhält sich ohne Zweifel mit den Er- scheinungen der Reizbarkeit wie mit allen anderen vitalen Vorgängen, sie haben ein Minimum, Optimum und Maximum (Errera 1896). Allein die Bestimmung des Maximums ist schwer auszuführen oder selbst unmöglich, weil der Reiz auch seinen gewöhnlichen Erfolg bei jener Stärke hervorbringt, welche dem Protoplasma bereits schädlich ist. Die Paramäcien (Infusorien) z. B. bewegen sich auch dann noch zur Kathode, wenn selbst ihr Körper unter der Kraft des elek- trischen Stromes bereits zu zerfallen anfängt (Ludloff 1895). c) Umkehr. Vermehrt sich die Wirksamkeit des Reizes von seiner Schwelle bis zur schädlichen Stärke in ununterbrochener Weise? Man könnte eine ganze Reihe von Thatsachen anführen, die sich mit einer solchen Anschauung in Uebereinstimmung befinden. Z. B. Poly- toma Uvella (Flagellate) ist sehr empfindlich gegen Kaliumkarbonat, eine Lösung von 0,0069 °, Glyooooo mol) zieht sie schon deutlich an; die Erregung wird immer stärker und stärker in dem Maße, als die Konzentration wächst, bis sie so stark geworden ist, dass der Organis- mus augenblicklich abstirbt (Lösung von 10°/,). Andere Organismen hingegen verhalten sich in mehr zweckmäßiger Weise. Viele niedere Lebewesen des Meeres (Bakterien, Flagellaten, Infusorien) bewegen sich, sobald siein eine im Vergleich zum Meerwasser hypotonische Lösung ge- bracht werden, nach einer stärkeren Lösung hin. Sobald aber die Lösung hypertonisch wird, sieht man sie sofort ihren Weg umkehren, als ob sie immer in einer Lösung verbleiben wollten, welche den gleichen 44 Massart, Versuch einer Einteilung der nieht-nervösen Reflexe. osmotischen Druck ausübt, wie ihr gewohntes Medium (Massart 1891, 1). Dasselbe beobachtet man bei einem schwachen Lichte. Viele grüne Flagellaten und Zoosporen von Algen richten sich mit ihrer vorderen Spitze gegen das Licht, sobald aber seine Intensität stark wird, kehren sie ihm das hintere Ende zu: die Schwimmbewegungen veranlassen jetzt die Flucht der Organismen. Diese haben demnach die Neigung, sich auf ein Licht von mittlerer Stärke zuzubewegen (Strasburger 1878). Andere Beispiele sind die folgenden: die Para- mäcien (Infusorien) fliehen sehr niedrige und sehr hohe Temperaturen (Mendelsohn 1895), die aeroben Bakterien suchen eine mittlere Sauer- stoffspannung auf. In allen diesen verschiedenen Fällen ist die Richtung, nach welcher sich die Reaktion vollzieht, veranlasst durch die Inten- sität des Reizes. Je nachdem sie sich erhebt, vermehrt sie die Reaktion bis zu einer gewissen Stärke, von der ab sie dieselbe vermindert. ‚Bei einer bestimmten Stärke bleibt die Reaktion aus, sobald man diese überschritten hat, tritt sie wieder ein, aber in umgekehrter Richtung; es tritt Umkehr ein. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Beispielen findet man bei Volvox (Flagellate), dass die Dauer der Reizung die Umkehr hervor- ruft. Die frischen und noch niemals durch den elektrischen Strom er- regt gewesenen Individuen gehen zur Kathode, nach einer bestimmten Zeit der Einwirkung kehren sie sich um und wenden jetzt ihren vorderen Pol gegen die Anode (Carlgren 1899). Man könnte leicht noch einige andere Beispiele von Organismen anführen, welche selbst befähigt sind die Stärke des ihnen am besten zusagenden Reizes zu unterscheiden, und welche zu reagieren auf- hören, sobald sie sich unter diesen optimalen Bedingungen befinden. Nichtsdestoweniger wird die Zahl dieser Fälle immer eine sehr geringe bleiben, so dass wir weit davon entfernt sind, diesem Phänomen jenen Charakter der Allgemeinheit zuzuerkennen, wie es Verworn (1900) thut. 2. Leitung und Reaktion. Die Psychologen haben den Namen der Reaktionszeit jener Zeit gegeben, welche zwischen der Reizung und Reaktion verstreicht. Sobald es sich um nicht-nervöse Reflexe handelt, die gewöhnlich viel langsamer verlaufen als die von den Psychologen studierten Erscheinungen, kann man oft einen ersten Zeit- abschnitt unterscheiden, während welchem nach außen hin sich nichts zeigt (Latenzzeit), und einen zweiten, in dem sich die sichtbare Reaktion abspielt. Weil diese letzte Zeit nur für die Art der Reaktion, die wir unter dem Namen der Aktion noch viel weiter unterscheiden werden, bestimmte Grenzen hat, nennen wir sie Aktionszeit (temps de riposte). a) Latenzzeit. Verschiedene Experimente zeigen, dass die Latenzzeit durch die Dauer und Stärke der Reizung verändert. wird. Die Zahlen, welche von Czapek (1898) für den Geotropismus derWurzel der Lupine angegeben worden sind, sind auf alle Fälle beweisend. Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 15 b) Aktionszeit. Sie scheint nicht abhängig zu sein von der Er- regung, welche die Reaktion hervorruft, aber sie wird sehr stark be- einflusst durch alle jene Reize, welche Interferenzen veranlassen (siehe weiter unten), während sich die Reaktion vollzieht. ec) Stärke der Aktion. Sie folgt dem wohlbekannten Weber’- schen Gesetze. 3. Erinnerungszeit. Es giebt noch eine letzte Zeit, über welche ein Wort zu sagen wichtig ist. Es ist die Zeit, während welcher der Organismus das Gedächtnis für eine Empfindung bewahrt, auf welche er nicht reagieren konnte. Nehmen wir den Fall, eine Wurzel sei horizontal gelagert, so schickt sie sich an, ihre Spitze nach unten zu krümmen. Sobald aber die Wurzel in Gips eingeschlossen wird, kann sie diese Reaktion nicht ausführen. Nach einer hinlänglichen Dauer der Erregung entzieht man die also eingegipste Wurzel dem richten- den Einfluß der Schwere (dazu genügt eine Drehung auf einem Klino- staten mit horizontaler Axe). Nach einigen Stunden befreit man das ganze Organ, indem man es auf dem Klinostaten lässt, und man kon- statiert, dass die Wurzel trotz der beträchtlichen Zeit, die verstrichen ist, eine Erinnerung an die Empfindung bewahrt hat, da sie doch noch jetzt ihre Krümmung ausführt (Czapek 1898). 11I. Natur der Reize. Die Reihe der Reize aufzuzählen, welche die reizbaren Organe der Lebewesen ohne Nerven in Erregung versetzt, heißt nichts anderes als ihre Sinne aufzählen. Man wird sehen, dass diese Aufzählung viel länger ist, als man gewöhnlich meint. Man teilt im allgemeinen die Reize in innere und äußere ein. Aber nichts ist schwieriger als diese Unterscheidung in bestimmten Fällen. Wenn ein Leukocyt angezogen wird von den Substanzen, welche aus einer Zelle im Stadium des Zerfalles diffundieren, wenn er durch die Berührung des Kapillarendothels erregt wird und sich dureh die Zellinterstitien hindurch schiebt, so reagiert er auf Reize, die für ihn äußere, für das Gesamttier aber innere sind. Wie wird man den Reiz nennen, auf den die Zellen eines jungen Asteriasembryo nach der Bildung einer Anhäufung in Kugelform (Morula) reagieren, wenn sie sich alle in der Peripherie in einer einzigen Lage anordnen (Blastula), eine Reaktion, mit welcher jede Zelle auf die Erregung antwortet, welche ihr ihre Nachbaren zusenden? Es giebt keinen that- sächlichen Unterschied zwischen dem, was sich in den Zellen dieses Embryo abspielt, und dem, was wir für die Adventivknospen kennen gelernt haben, welche gleichfalls ihre Reize von anderen, aber viel weiter entfernten Zellen empfangen. (Siehe Seite 11.) Es wäre vielleicht besser, die Bezeichnung „inneren Reize“ nur auf jene zu beschränken, welche, entstanden in einer Zelle, die Wahr- 16 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. nehmung und Reaktion von seiten der anderen Teilchen derselben Zelle veranlassen. Z. B. die rhythmischen Kontraktionen der einzelligen Organismen, die Bildung der Pseudopodien bei den Leukoeyten, die Bewegungen der Spermatozoen werden wenigstens zum Teile von wirklichen inneren Reizen beherrscht. Nach dieser Definition dürfen wir den Namen innere Reize nur jenen allein beilegen, von denen wir die Erfolge an einzelligen Organismen feststellen, oder aber an Zellen, denen jede Berührung, jeder Zusammenhang irgendwelcher Art mit anderen Elementen fehlt. Wir müssen also auch weiterhin der alten Definition folgen und innere Reize alle jene nennen, welche aus dem Organismus selbst kommen und deren Natur uns unbekannt ist, dagegen sie zu den äußeren Reizen zählen, in dem Maße, als unsere Kenntnisse genauer werden und wir es dahin bringen werden, ihre Natur zu bestimmen. Wir haben es ja mit chemischen Substanzen zu thun, welche die Phago- eyten gegen die alten Zellen führen; warum zögern wir dann, diese Reize den anderen chemischen Reizen zuzuzählen? Welchen ver- nünftigen Grund würde es geben, sie in dem „Winkel der Verstoßenen“ zu lassen, wohin wir die inneren, zu wenig bekannten verweisen ? Schließlich noch eine Bemerkung bezüglich der Terminologie. Man hat die treffende Gewohnheit durch ein zusammengesetztes Wort den gesamten Reflexvorgang zu bezeichnen. Also Phototaxismus be- zeichnet einen Taxismus, hervorgebracht durch Einwirkung des Lichtes; Chemiotropismus bezeichnet einen Tropismus, der durch eine chemische Substanz bedingt wird. Ich werde für jeden Reiz den Terminus (in Klammern) angeben, womit man den Reiz durch ein zusammengesetztes Wort bezeichnen könnte, welches den ganzen Reflex veranschaulicht. Meistens habe ich nur das übliche Wort gebraucht, einigemal, sobald es sich um noch nicht benannte Reize handelt, wird es nötig sein, einen neuen Terminus einzuführen. a) Innere Reize. — Diese Reize sind sehr schwierig einzuteilen; wir haben nicht die geringste Kenntnis von ihrer thatsächlichen Natur. Deshalb müssen wir uns begnügen, sie in zwei Gruppen zu teilen; die erste umfasst die, welche vom Alter, die zweite diejenigen, welche von der Form der Organe abhängig sind. 1. Alter (Chrono-). Diese Erscheinungen spielen sich nur in einem bestimmten Zeitpunkt des Lebens ab; sie sind daher durch Reizungen bedingt, welche nur in diesem bestimmten Zeitpunkt vorhanden sind. So wechselt oftmals die Stellung der Blätter mit ihrem Alter. Der typischste Fall hierfür findet sich bei Yucca (Webber 1895), wo die Blätter anfangs aufrechtstehend sich allmählich mehr ausbreiten und zu- letzt ihre Spitze nach unten wenden. Ein anderes eharakteristisches Beispiel für den Einfluss des Alters wird durch die Wiekelranken der Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 17 Bryonia und anderer Kletterpflanzen geliefert, welche keine Stütze er- fasst haben, welche also von aussen nicht erregt worden sind, und die sich dennoch mit eintretendem Alter korkzieherartig einrollen. 2. Form (Morpho-). Alle die unzäblbaren Reaktionen, welche die embryonalen Umwandlungen bestimmen und die wechselseitige Stellung der Organe bedingen, sind ganz gewiss durch innere Reize her- vorgebracht, von denen die einen vom Alter, die anderen von einer vorher- bestehenden Form abhängen. Aber alle diese Dinge sind noch immer zu unklar, als dass man nach dieser Richtung hin mehr als eine Hypothese aufzustellen vermöchte. Man könnte höchstens irgend welche inneren Reize angeben; deren Ursache leichter zu ermitteln wäre. A. Einfluss der Spitze (Acro-). Wir haben bereits den hemmenden Einfluss der Stengelspize auf die Adventivknospen er- wähnt. Eine ähnliche Wirkung findet sich auch bei den Wurzeln. Solange die Spitze der Hauptwurzel unverletzt ist, sind die Seiten- wurzeln horizontal oder schräg gerichtet (Sachs 1874); schneidet man aber die Hauptwurzel an der Spitze ab, so krümmen sich alle Se- kundärwurzeln nach unten. B. Polarität (Polo-). Meistens zeigen die Pflanzen eine Polari- tät derart, dass an jedem Organteile, wie klein er auch sei, sein proximales und distales Ende ausgezeichnet erscheint (Vöchting 1878, 1884, 1892). Wie man auch die Stecklinge von Weidenästen orien- tieren mag, seien sie mit dem oberen oder unteren Ende in die Erde versenkt, sie werden immer am proximalen Ende (d. i. jenem, welches gegen die Wurzel gerichtet war) die stärksten Wurzeln und am distalen Ende die stärksten Knospen erzeugen. Das Gleiche gilt von den Wurzelstecklingen von Monstera deliciosa (Aracaee), wo sich die neuen Wurzeln in der Nähe des distalen Endes entwickeln. In diesen ver- schiedenen Fällen reagiert das Organ auf eine ihm eigentümliche Polarität. C. Krümmung (Campto-). Sobald ein pflanzliches Organ, welches sich z. B. unter dem Einfluss der Schwere gekrümmt hat, diesem Reize entzogen wird, bevor die Krümmung endgültig fest ge- worden ist, so sieht man sie wieder vollständig verschwinden. Der gekrümmte Teil hat also einen Reiz erzeugt, auf den das Organ durch seine Wiederaufrichtung reagiert hat. Vöchting (1882) nannte diese Erscheinung Rectipetalität. Die Krümmung kann auch einen späteren Erfolg haben. Bei einer geraden Wurzel bilden sich die Seitenwurzeln in gleicher Weise auf allen Seiten. Sobald aber die Wurzel gekrümmt wird, sendet sie einen Hemmungsreiz aus, welcher die Entwicklung aller auf der konkaven Seite gelegenen wurzel- bildenden Zellen verhindert (No111900)!). Sie erzeugt demnach einen 1) Fasst man sämtliche von Noll angestellten Experimente ins Auge, so zeigt sich bestimmt, dass es sich hier um einen Hemmungsreiz auf die Zellen XXI. 2 AS Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. Reiz, der alle seitlichen Wurzeln der gekrümmten Wurzel zwingt, sich der Konvexität entsprechend zu krümmen. * ES b) Aeußere Reize. Die äußeren Reize, welche bei der Reiz- barkeit der Organismen ohne Nerven ins Spiel kommen, können in drei Gruppen eingeteilt werden: mechanische, physikalische und chemische. 1. Mechanische Reize. Diese Gruppe umfasst alle jene Reize, welche durch direkte Einwirkung eine Verschiebung des Organismus herbeizuführen streben. Verworn (1900) vereinigt unter dem Namen Barotaxis alle jene Reaktionen, die durch einen einseitig wirkenden Druck hervor- gerufen werden. Er unterscheidet Thigmotaxis, Rheotaxis und Geotaxis; er stützt sich auf die Anschauung von Jensen (1892), nach welcher die Schwerkraft vor allem bei den niederen Wasser- organismen durch die Unterschiede der hydrostatischen Drucke wirkt. Diese Anschauung ist wahrscheinlich unrichtig. a) Schwere (Geo-). In diese Abteilung gehört auch die Centrifugalkraft, welche in derselben Weise wie die Schwere wirkt. So krümmen sich die Wurzeln gegen die Erde (sie folgen der Richtung der Schwere), hingegen krümmen sie sich nach der Außenseite einer im Kreise rotierenden Scheibe, sie folgen also auch hier der Richtung der Kraft. Nach neueren Untersuchungen scheint es wahrscheinlich, dass die Schwerkraft infolge jenes Druckes wahrgenommen wird, welchen das Herabsinken der in den Zellen enthaltenen dichteren Körner auf das seitliche Protoplasma erzeugt (N&mec 1900, Haber- landt 1900). b) Flüssigkeitsstrom (Reo-). Viele Zellen sind sehr empfind- lich für die Strömungen der Flüssigkeit, in welcher sie sich befinden (Jönsson 1883, Stahl 1884, 1). e) Kompression (Piezo-). Eine allgemeine Kompression kann wie ein Reiz wirken (Pfeffer 1893). Die Pflanze hat trotz des Wider- standes, welchen sie antrifft, das Bestreben, zu wachsen, und übt einen Druck aus, der bis auf 12 Atmosphären steigen kann. d) Berührung (Hapto-)!), Man muss eine Verwechslung zwischen allgemeiner Kompression und einem scharf begrenzten Druck vermeiden, bei welch letzterem die Reizung nicht durch den Druck im eigentlichen Sinne hervorgerufen wird, sondern, wie Pfeffer (1883) gezeigt hat, durch die Differenz des Druckes, welchen benachbarte der konkaven Seite handelt, und nicht, wie er annimmt, um einen begünstigen- den Einfluss auf die Zellen der konvexen Seite. 1) Es ist viel richtiger, den Terminus Hapto- beizubehalten, der von Errera (1884) herrührt, als den Terminus Thigm o, der vonVerworn (1889, 2) gebraucht wird. Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe, 19 Stellen tragen. So führen die Wurzeln, welche auf eine allgemeine Kompression durch eine starke Wachstumsvermehrung reagieren, bei einer Berührung eine Krümmung aus, welche sie von dem Reize ent- fernt (Darwin 1882). Die Erregbarkeit durch Berührung ist verbreitet; unter dem Ein- flusse einer Berührung krümmen sich die Wickelranken der Kletter- pflanzen, es leuchtet Noctiluca, die Hyphen von Polyporus (Pilz) ver- mindern ihr Wachstum, die Spirillen stellen die Bewegung ein und platten sich gegen den berührenden Körper ab, die Leukocyten der Wirbeltiere strecken ihre Pseudopodien gegen den Reiz aus, die Spermatozoiden einer großen Anzahl von Tieren und selbst der Algen werden durch Berührung zur Befruchtung ins Ei geleitet. Die Berührungsempfindlichkeit ist oft von einer außerordentlichen Feinheit. Das Streichen mit einem Faden von 0,00025 mgr genügt, um die Wickelranke von Sicyos (Cueurbitacaee) zu erregen (Pfeffer 1885). Der minimale Widerstand durch die Oberflächenspannung eines Flüssig- keitstropfens genügt zur Hervorbringung von Berührungsempfindungen sowohl bei Leukocyten (Massart und Bordet 1890), als auch bei vielen Bakterien und Flagellaten (Massart 1890).” e) Erschütterung (Sio-). Wohl unterschieden von der durch Berührung hervorgerufenen Reizung ist jene, welche durch die Er- schütterung veranlasst wird. Die Wickelranken, welche selbst auf eine sehr feine Berührung antworten, ertragen die heftigsten Erschütte- rungen ohne die geringste Reaktion; andererseits reagiert die Sinn- pflanze viel besser auf einen Stoß als auf einen Druck. f) Zug (Elco-). Hegler (Pfeffer 1891) hat Beispiele von Pflanzen beschrieben, welche auf Zug reagieren. Die Reaktion be- steht in einer Abnahme der Geschwindigkeit des Längenwachstumes und in einer Vermehrung der in den Organen enthaltenen widerstands- fähigen Elemente (Fasern ete.). 2. Physikalische Reize. Beinahe alle physikalischen Kräfte können bei den nervenfreien Lebewesen Reaktionen auslösen. Eine Ausnahme besteht nur für den Magnetismus und die X-Strahlen. a) Lieht (Photo-)'‘). Die Reizbarkeit durch Licht ist sehr weit verbreitet. Sie existiert nicht nur bei beinahe allen mit einem Chromo- phyll versehenen Lebewesen, sondern auch meist bei einer großen An- zahl ungefärbter Organismen. b) Dunkelheit (Scoto-). Gewöhnlich wirkt die Dunkelheit nicht als Reiz, worin sie sich vom Licht unterscheidet. Sie wirkt ein- fach wie das mehr oder minder vollkommene Fehlen des Lichtes. Dennoch giebt es einige besondere Fälle, wo sie wie ein eigenartiger 4) Es wäre besser, immer den Terminus „photo-“ zu gebrauchen, um das Licht zu bezeichnen, als bald „photo“, bald „helio* zu sagen. 0 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 9 Reiz wirkt. So wirkt sie auf die Zellen der Chloroplasten von Pflanzen. Die Chloroplasten nehmen bei Dunkelheit eine von jener verschiedene Stellung ein, welche sie bei Licht inne haben, aber die beiden ver- schiedenen Stellungen stehen in keinem gegensätzlichen Verhältnis zu einander (Stahl 1830). ec) Wärme (Thermo-). Dieser Reiz ist noch allgemeiner als das Licht, er bedingt direkt zahlreiche Aktionen, er übt einen sehr auffälligen Einfluss auf die Richtung und den Verlauf beinahe aller Reaktionen aus, schließlich ist er unerlässlich dafür, um das Proto- plasma in reaktionsfäkigem Zustande zu versetzen‘). Am häufigsten sind die Reaktionen beschleunigt bei einer mittleren Temperatur, wäh- rend sie sich bei höheren oder niedrigeren Temperaturen wieder ver- langsamen. d) Kälte (Cryo-). Gleichwohl giebt es einige Fälle, in denen die Kälte nicht einfach wie die Abwesenheit von Wärme wirkt, sondern wo sie eine eigene Wirkung ausübt. So beschleunigen sich bei Sty- lonychia Mytilus (ein hypotriches Infusor) die Ciliarbewegungen viel mehr unter dem Einfluss der Kälte (6°), wie unter dem der Wärme (30°). Selbst für die randständigen Cilien übertrifft die Reizung durch Kälte jene, welche Temperaturen von 30° bewirken (Pütter 1900). e) Hertz’sche Wellen (Hertzo-). Phycomyces (Pilz) führt eine Krümmung aus, die ihn von der Quelle der Schwingungen entfernt (Hegler 1891). Die Wellen hatten ein Länge von 0,75 bis 2 m. f) Elektrizität (Elektro-)?). Ihre Wirkung auf die höheren Pflanzen ist weit davon entfernt, hinlänglich bekannt zu sein. Was ihren Einfluss auf die niederen Organismen anbelangt, so ist er durch die Arbeiten von Verworn (1889) aufgeklärt worden. Viele Rhizo- poden, Flagelaten und Infusorien nehmen unter der Einwirkung des elektrischen Stromes eine bestimmte Richtung ein, sei es nun gegen die Anode oder gegen die Kathode. g) Osmotischer Druck (Tono-)®). Viele einzellige Organismen und Pflanzen führen verschiedene Reaktionen aus, die durch den osmotischen Druck des sie umgebenden Mittels bedingt sind. Die Reaktionen bestehen in Bewegungen und in Veränderungen des intra- 1) Af. Klereker (1891) unterscheidet Thermotropismus (Reaktion durch strahlende Wärme) und Caloritropismus (Reaktion durch geleitete Wärme). Es ist sicher, dass im Organismus die Wärme — auf welche der beiden Arten sie auch zu den Zellen gelangt ist — gänzlich in geleitete Wärme umgewandelt wird. Es scheint mir daher diese Untersuchung nicht gerecht- fertigt zu sein. 2) Es bietet keinen Vorteil, die zwei Termini „Elektro-“ und „Galvano-“ beizubehalten. 3) Ich sehe keinen Vorteil darin, den alten Terminus „Tono-“ durch den Terminus „Osm o-*“ (Rothert 1901) zu ersetzen. Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 31 cellulären Druckes. Die niederen Meeresorganismen werden viel häufiger durch zu starke, als durch zu schwache Lösungen gereizt (Massart 1891). Bei den Pflanzen haben alle untersuchten Zellen gleichmäßig gegen- über hypo- und hypertonischen Lösungen reagiert (van Ryssel- berghe 1899). Im Gegensatz zur Ansicht von Pfeffer (1888) und Verworn (1900) ist die erregende Wirkung der Lösungen nicht mit den chemischen Eigentümlichkeiten des gelösten Körpers verknüpft. Man muss sich mit Rothert (1901) fragen, ob sie nicht ihren Grund im Wasser- austritt aus dem Protoplasma hat, mit anderen Worten, ob die Wahr- nehmung, welche die Zellen haben, sobald sie in eine stärkere Lösung, als die für sie übliche gebracht werden, nicht von einem Austritt des Wassers durch das Protoplasma hindurch herrührt, und ob sie unter umgekehrten Bedingungen eine Durchtränkung mit Wasser nicht merken. Selbst wenn die Sache erwiesen wäre, wenn die Empfindlichkeit für Konzentrationen nur ein gesonderter Fall der Empfindlichkeit für den wechselnden Wassergehalt wäre, so müsste man dennoch die Unter- scheidung zwischen den zwei Arten der Reizung (Rothert 1901) vor- läufig aufrecht erhalten, bis es möglich wäre, für alle Reize die Er- regung durch die Wahrnehmung zu ersetzen. 3. Chemische Reize. Chemische Reize (Chimio-), d.h. jene, bei denen die chemischen Eigenschaften der Substanzen — mit Aus- schluss ihrer mechanischen oder physikalischen Eigentümlichkeiten —- allein im Spiel sind; sie sind wahrscheinlich die wichtigsten von allen für die Regulation der Thätigkeiten des Organismus. Für die Mehrzahl derselben müssen wir uns damit begnügen, zu entscheiden, ob ein Reiz chemischer Art vorliegt, ohne die Einzeln- heiten feststellen zu können. Mitunter erzeugen die verschiedensten Körper, zwischen denen irgend ein gemeinsames Merkmal nicht zu be- stehen scheint, dieselben Wirkungen; z. B. diejenigen Substanzen, welche eine Anziehung auf Bakterien ausüben und jene, welche das Leuchten bei Noctiluca hervorrufen. Sehr häufig wissen wir gar nicht, welches die wirksamen chemischen Körper sind. So erscheint die Zell- teilung bei verletzten Phanerogamen mit allen ihren Eigenartigkeiten als eine Reaktion auf einen chemischen Reiz, aber man weiß nicht, welche diese Substanzen sind (Massart 18983). Es giebt nur wenige Fälle, in denen eine ganz bestimmte Reaktion durch einen einzigen Körper oder eine kleine Gruppe von Körpern hervorgerufen wird. a) Sauerstoff (Aero-). Es giebt sehr charakteristische Re- aktionen, in denen er nicht durch andere Körper ersetzt werden kann. Sobald es sich um bewegliche Organismen handelt, gehen sie beinahe immer auf den Sauerstoff zu, wenigstens bis zu einer bestimmten Spannung (Engelmann 1881). Gleichwohl beschrieb vor kurzem 22 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. Rothert (1901) ein Bacterium, welches den Sauerstoff in jeder Kon- zentration flieht. b) Alkalien(Alealio-) und Säuren (Oxy-). Beiden Alkalien hat man nicht oft eigenartige Wirkungen beobachtet. Kleine Amöben, welche in dem sie gewöhnlich umgebenden Medium die Gestalt von Sehnecken mit einem einzigen breiten vorderen Pseudopodium haben, werden strahlig, sobald man sie in eine alkalische Lösung bringt Verworn (1896). Euglena, Eutreptia und andere nachverwandte Flagellaten ziehen ihren Körper in charakteristischer Weise zusammen (s. ausführlicher später), außerdem schwimmen sie vermittels der Geißeln. In einem neutralen Medium kommen die beiden Bewegungsformen nebeneinander vor, sobald man aber der Flüssigkeit ein wenig Alkali hinzufügt, verlangsamen sich die Schwingungen der Geißeln und hören bald auf, während die Kontraktionen sich verstärken. Es genügt, die Flüssigkeit anzusäuern, um die Geißelbewegungen wieder erscheinen zu sehen; jetzt ist aber die Zelle starr. e) Narcotica(Narco-). Diese Reize sind nicht durch ihre che- mische Konstitution kenntlich gemacht, aber durch die Art, in der sie die Reizbarkeit verändern; alle diese Körper bewirken eine hervor- ragende Verlangsamung der Reflexe. Nach allem, was wir wissen, richtet sich ihre Wirkung auf die Empfindung; es ist daher jedenfalls unlogisch, ihre Wirkungen der Kategorien der „Lähmung“ zuzuzählen, wie es Verworn (1900) thut. Außerdem giebt es keinen Fundamental- unterschied zwischen einer Reizerscheinung und einer Lähmungs- erscheinung. Sehen wir nicht, dass die Wärme einfach nach der Höhe der Temperatur das Wachstum einer Pflanze sehr stark beschleunigt, oder es bis zum vollständigen Stillstand verlangsamt? Es giebt also hier nicht zwei verschiedene Reize. Noch mehr; ist eine schwächende Erregung, nicht eine Reizung von der gleichen Art wie eine ver- stärkende oder hemmende Reizung? Sind nicht die Abschwächung, Verstärkung, Unterdrückung eines Reflexes im Verlaufe der Ausführung gleichfalls Reflexe, die durch eine quantitative Veränderung der Re- aktion in Erscheinung treten ? Eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen „Reizerscheinungen“ und „Lähmungserscheinungen“, wie sie Verworn macht, hat daher keine weitere Berechtigung. Nach unserer Meinung wären die Narcotia der Kategorie der Reize zuzuzählen, wie die anderen chemischen Körper. Wenn es nicht so wäre, so müsste man auch die Bezeichnung Reiz für den Sauerstoff weglassen, wenn er die Bewegungen gewisser anacrober Bakterien hemmt. Alle diese Agentien sind echte Reize, selbst wenn der Reflex, den sie hervorrufen, eine Abschwächung oder Hemmung einer anderen Reaktion bewirkt, d) Wasser (Hydro-). Das Wasser ist für das Zustandekommen aller Lebenserscheinungen unentbehrlich. Aber abgesehen von diesem Reinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“, 23 allgemeinen Einfluss bringt es noch ganz spezielle Wirkungen hervor. Im dampfförmigen Zustande führt es bei der Mehrzahl der Pflanzen Krümmungen herbei; die Wurzeln der Phanerogamen wenden sich der feuchteren Stelle zu (Sachs 1872). Um wie ein Reiz zu wirken, muss der Dampf nicht notwendig in ungleichmäßiger Weise verbreitet sein, der Grad Feuchtigkeit oder Trockenheit der Atmosphäre kann gleichfalls die Pflanzen beeinflussen, besonders in Bezug auf die Ver- diekung der Cutieula (Kohl 1886). Im flüssigen Zustande hat das Wasser gleichfalls sehr deutliche Wirkungen. Ein und dieselbe Pflanze wird sehr verschiedene Eigenschaften zeigen, je nachdem sie in feuchter Luft oder in Wasser gewachsen ist. Bisweilen kann man selbst an einem langgestreckten Blatte (z. B. Stratiotes aloides) sehen, dass es in seiner unteren unter das Wasser getauchten Hälfte die Eigentüm- lichkeiten einer Wasserpflanze hat, während der aus dem Wasser her- vorragende Teil die Eigenschaft der Landpflanze zeigt. Irgend eine annehmbare Erklärung dafür, auf welche Art die Pflanze in diesem Falle die Anwesenheit des Wassers fühlt, ist noch nicht gegeben worden. Es ist die Frage erlaubt, ob das Wasser mit seinen so verschie- denen Wirkungen wirklich der Gattung der chemischen Reize zugezählt werden soll. Vielleicht wirkt es bald wie eine Oxydulverbindung des Wasserstoffes bald wie eine gelöste und ionisierte Substanz, während in anderen Fällen der Organismus auf den Transpirations- strom reagiert. (Fortsetzung folgt.) Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. Von J. Reinke. In Anlass meines, auf der diesjährigen Naturforscherversammlung in Hamburg gehaltenen und in Nr. 19 des Biol. Centralblattes ab- gedruckten Vortrages wurde ich von befreundeter Seite auf das vor kurzem erschienene Buch von Bütschli, Mechanismus und Vitalismus, Leipzig 1901, Engelmann, aufmerksam gemacht. Ich verschaflte mir diese Schrift sofort und las sie, um sie dann mit dem Gefühl einiger Enttäuschung zur Seite zu legen. Ich fühlte mich enttäuscht, weil das Buch nach meinem Dafürhalten viel weniger zur Förderung des im Titel genannten Problems beiträgt, als ich gehofft und erwartet hatte. Um dies Urteil in vollem Umfange begründen zu können, bedürfte es eines Kommentars zur Schrift Bütschli’s, der dieser an Umfang mindestens gleich käme. Da hiervon keine Rede sein kann, werde ich mich möglichst kurz zu fassen suchen. Ich glaube aber, dass im Interesse einer Klärung unserer Anschauungen über Mechanismus und 94 Reinke, Bemerkungen zu 0. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. Vitalismus, also über eine der aktuellsten Fragen der Biologie, eine Auseinandersetzung mit dem Standpunkte von Bütschli zur Not- wendigkeit wird. Zunächst hätte man vom Verfasser eine klare Darlegung dessen erwarten sollen, was er sich unter Vitalismus und unter Mechanismus vorstellt. Allein man muss dies mühsam aus der Lektüre der ganzen Schrift mitsamt deren Anmerkungen zusammensuchen. Zwar heißt es im Anfang, dass der Gegensatz zwischen dem älteren und dem sogenannten Neo-Vitalismus kein eigentlich prinzipieller sei, und dass sich in beiden die Ueberzeugung ausspräche, dass die Lebensvorgänge nicht vollständig begriffen werden könnten ohne das Zugeständnis einer nur in der Örganismenwelt bestehenden, besonderen Kraft; allein in späteren Ausführungen wird weit über diese Begriffsbestimmung hinausgegangen. Auch ich war stets der Meinung, dass die Annahme einer Lebenskraft das Kriterium des Vitalismus sei, und da ich diese Annahme nicht teile, habe ich in allen meinen Schriften, in denen jene Frage berührt wird, gegen den Vitalismus Stellung genommen; ich verweise nur auf meinen Hamburger Vortrag. Ich habe mich selbst dagegen als Mechanisten eingeschätzt, da ich in meiner Dominanten- Theorie, die auf die leblosen Maschinen gegründet ist und die ent- sprechenden Verhältnisse hypothetisch auf die Organismen überträgt, den Mechanismus auf dem Gebiete des Lebens bis in seine äußersten mir möglich erscheinenden Konsequenzen getrieben zu haben glaubte. Allein Bütschli belehrt mich eines besseren. Er sagt, ich hätte (S. 105) in der Dominantenlehre eine ganz eigentümliche vitalistische Theorie entwickelt. Sodann beanstandet Bütschli, dass ich die Dominanten Kräfte nenne, was er durch ein (!) hinter Kräfte an- deutet und dadurch, dass er meine Theorie gleichsam mit einer Hand- bewegung in folgenden Worten abzuthun sucht, anstatt sie durch Gründe zu bekämpfen oder gar zu widerlegen: „Was Reinke Domi- nanten nennt, sind also weiter nichts als die besonderen Bedingungen des maschinellen Systems. Wenn er diese nun „Kräfte“ nennt, so findet er sich in Widerspruch mit dem, was man von jeher unter Kraft ver- standen hat“; und: „So kommt denn Reinke, von dem seltsamen Trugschluss ausgehend, dass die Bedingungen eines maschinellen Systems Kräfte seien“ ete. Indem Bütschli mich solchergesalt be- kämpft, enthüllt sich in diesen Worten gerade ein wunder Punkt seiner Schrift: es ist der Umstand, dass er in seinen Darlegungen nicht auf den für die Mechanik so wesentlichen Begriff der Kraft zurück- geht, sondern demselben geradezu ausweicht!), weil ihm dieser Begriff offenbar unbequem ist. 1) Auf 8.62 sagt Bütschli, dass der Kraftbegriff besser ganz eliminiert würde, ferner: „Wie gesagt, vertrete ich Ja die Meinung, dass der überflüssige Begriff der Kraft am besten ganz vermieden würde“, Reinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. 95 Dem gegenüber verweise ich auf den Begriff der Kraft, wie ich ihn am Eingange des Hamburger Vortrages und in meiner Einleitung in die theoretische Biologie S. 141ff. entwickelt habe, wobei ich jedem, der mit der einschlägigen Litteratur vertraut ist, getrost überlasse, ob ich einen besonderen, vom sonstigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch abweichenden Kraftbegriff anwende oder nicht; höchstens räume ich ein, dass E. du Bois-Reymond in der Einleitung zu seinen Unter- suchungen über tierische Elektrizität den Begriff Kraft, die er als Maß der Bewegung definiert, enger, ich füge hinzu, zu enge und zu ein- seitig auffasst. In unserer Zeit, wo längst eine sorgfältige Scheidung zwischen den Begriffen „Kraft“ und „Energie“ stattgefunden hat, be- sitzt duBois-Reymond's Kraftbegriff nur noch historisches Interesse; mir aber kam es gar nicht darauf an, die historische Entwicklung des Kraftbegriffes zu verfolgen, sondern ich wandte ihn an, wie die mo- derne Wissenschaft es thut und thun muss. Ich beschränke mich darauf, die neueste Darstellung der Mechanik aufzuschlagen, zugleich sicher eine der genialsten, welche die Wissen- schaft kennt: ich meine die „Prinzipien der Mechanik“ von Heinrich Hertz, Leipzig 1894. Dort findet sich als $ 455 auf S.208 folgende Definition der mechanischen Kraft: „Unter einer Kraft verstehen wir den selbständig vorgestellten Einfluss, welchen das eine von zwei gekoppelten Systemen zufolge des Grundgesetzes auf die Bewegung des anderen ausübt“. Diese Definition ist auf den Zusammenhang des Buches berechnet; ich glaube aber bei keinem Vertreter der Mechanik auf Widerspruch zu stoßen, wenn ich mechanische Kraft auch definiere als die Wirkung oder den Einfluss, den ein materielles System auf die Bewegung eines anderen ausübt. Verallgemeinere ich dann den Begriff der mechanischen Kraft zu dem der Kraft überhaupt, der auch für energetische und biologische Betrachtungen Gültigkeit hat, so lautet die Definition: Kraft ist die Wirkung oder der Einfluss, den eine Naturerscheinung auf eine andere ausübt. Bütschli ist in seiner Polemik gegen mich das Missgeschick passiert, dass er als Quellen meiner Dominantentheorie sowohl das Biologische Centralblatt als auch meine „Welt als That“ eitiert, dann aber sagt, dass er meine Theorie nur nach der kurzen Darlegung im Centralblatt besprechen wolle. Hätte er die Welt als That nicht bloß eitiert, sondern sich die Zeit gelassen, das betreffende Kapitel zu lesen, so würde ihm nicht entgangen sein, dass ich weit entfernt bin, zu be- anspruchen, den Begriff der Dominanten bei Maschinen neu gebildet zu haben, sondern dass derselbe von Lotze herrührt, der meine Do- minanten als „Kräfte zweiter Hand“ lange vor mir charakterisiert hat, und dass ich in dem Worte Dominanten nur einen kürzeren und be- quemeren Ausdruck für jenen Begriff gebildet habe. Also zu den 26 KReinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. Kräften werden die Dominanten auch von Lotze gerechnei, der doch sonst für Bütschli nicht ohne Autorität zu sein scheint. Nun komme ich zu Bütschli’s Verniehtungsurteil gegen die Domi- nanten. Sie sollen nichts weiter als „die besonderen Bedingungen“ eines maschinellen Systems sein; damit sind sie beseitigt. Das ist aber nichts als ein dialektischer Fechterstreich, den Bütschli gegen den ihm ungelegen kommenden Begriff führt, ein Hieb, der überaus leicht zu parieren ist. Was sind nicht alles „besondere Bedingungen“ eines maschinellen Systems? Denken wir z.B. an einen Eisenbahnzug, der sich auf dem Wege von Hamburg nach Berlin befindet. Da sind be- sondere Bedingungen jenes „maschinellen Systems“ nicht nur die Schienen, die Räder, der Dampfkessel, sondern auch die Kohle, das Feuer und das Wasser der Lokomotive. „Besondere Bedingung“ ist ein ganz allgemeiner Begriff, dem man selbstverständlich sowohl Dominanten als auch Energien, äußere Umgebung u. s. w. unterordnen kann. Dass die Dominanten Bedingungen sind, werde ich gewiss nicht bestreiten. — Wenn Bütschli also weiter nichts gegen die Dominanten zu sagen weiß, so hat er gar nichts gegen sie vorgebracht!). Indessen ist Bütschli noch von einem weiteren Missgeschick er- eilt worden. Nachdem er mich wegen der Dominanten-Theorie, die ich bislang für mechanistisch hielt, zum Vitalisten gestempelt hat, er- klärt er mich auch noch für einen Anhänger der Urzeugung (S. 104), was ihn insofern „eigentümlich berührt“, weil die Entstehung der Dominanten doch auf eine „intelligente Schöpfungskraft“ hinweisen müsse. Es ist ihm also gleichfalls unbekannt geblieben, dass ich in der „Welt als That“ in einem 30 Seiten langen Kapitel die Unmög- lichkeit der Urzeugung zu erweisen suche und hauptsächlich daraus die Notwendigkeit der Annahme einer Schöpfung herleite, in welcher Ansicht ich mit zahlreichen Forschern ersten Ranges, ich nenne nur Kepler, Newton, Linne, Cuvier, Lotze, K. E. von Baer und Charles Darwin?) übereinstimme. 4) Sehr wohl ist mir bekannt, dass in der Mechanik aus der Kon- figuration eines Systems „Maschinenbedingungen“ hergeleitet werden, deren Einfluss in „Bedingungsgleichungen“ zum mathematischen Ausdrucke kommt; allein von einer Anwendung der Mechanik auf die Biologie will ja Bütschli nicht viel wissen (l. ec. $. 7). Meinerseits zerlege ich jene Maschinen- bedingungen in Struktur und Kraft und nenne die letztere Dominanten, doch ist auch für mich der Kraftbegriff kein Grundprinzip, sondern eine Hilfs- konstruktion, ein Symbol für etwas wirkendes. Die Dominanten sind das Wirkungsvermögen der Struktur. Zieht jemand es vor, anstatt von Dominanten von Maschinenbedingungen eines Organismus oder des Protoplasmas zu sprechen, so bin ich auch damit einverstanden. „Maschinenbedingungen“ ist ein terminus technicus der Mechanik, nicht aber „Bedingungen“ schlechtweg; unter sie würde man auch die Betriebsenergie subsumieren können. 2) Auch Voltaire dürfte in dieser Schar nicht zu übersehen sein. Reinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. 27 Au Aber wen rechnet im Laufe seines Buches Bütschli nicht zu den Vitalisten! Er fasst an späteren Stellen den Begriff des Vitalis- mus entschieden anders und weiter, als er im Anfang gethan, wo er die alten und neuen Anhänger der Lebenskraft als Vitalisten bezeich- nete. So sagt erS.9, der Neovitalismus suche zu erweisen, „dass im Organismus ein besonderes, eigengeartetes gesetzliches Geschehen ein- trete, welches zwar energetisch derselben Abhängigkeit unterworfen sei, wie das der anorganischen Welt, dagegen in letzterer sich in solcher Weise nicht finde. In letzter Instanz müsste der Neovitalismus auch anerkennen, dass dies eigenartige Geschehen bedingt werde durch besondere physico-chemische Kombinationen, wie sie den Organismen eigentümlich sind.“ — Dem gegenüber kann ich nur sagen, dass ich dies nicht für Vitalismus erklären würde, sondern einfach für eine be- sonnene und vorurteilsfreie Beurteilung der Lebenserscheinungen. Aber noch ganz andere Anschauungen werden von Bütschli für vitalistisch erklärt: so auf S. 10 und später die Ueberzeugung, dass volles Begreifen der Lebenserscheinungen aus der Kausalität unmög- lich sei und eine Berücksichtigung der in den Lebenserscheinungen hervortretenden Finalität!) hinzutreten müsse. Ferner heisst es S. 14, gerade die Vitalisten meinten, dass man vom Erklären der Lebens- erscheinungen gar nicht sprechen, sondern sich auf das Beschreiben beschränken solle. S. 82 sagt er, die Frage, ob der „Bedingungs- komplex“ für die erste Entstehung eines Organismus „sich auf natür- lichem Wege bilden konnte, oder ob etwas, der nichtlebenden Natur Mangelndes hinzukommen musste“, also die Frage der Urzeugung oder Schöpfung, sei „der eigentliche Angelpunkt des Streites zwischen Mechanismus und Vitalismus“. So verstehe ich wenigstens diese Aeuße- rung. Endlich erklärt er 5.88 für den „eigentlich springenden Punkt in dem Problem des Mechanismus und Vitalismus“ die „Stellungnahme zur Darwin’schen Lehre oder oder irgend einer möglichen Lehre, welche die Entstehungsmöglichkeit erhaltung- oder zweckmäßig organi- sierter, sowie innerhalb gewisser Grenzen entsprechend reagierender Lebewesen begreiflich macht“. Dies glaube ich dahin übersetzen zu dürfen: wer nicht glaubt, dass die zweckmäßige Organisation der Tiere und Pflanzen lediglich durch Selektion gebildet wurde, ist ein Vitalist. So sind nahezu alle Standpunkte, die sich mit demjenigen Bütschli’s nicht decken, als Vitalismus zusammengeworfen. Aber ein neckischer Kobold muss Bütschli umschwebt haben, als er sein Buch nieder- schrieb. Denn ihm ist etwas offenbar Ungewolltes passiert: er hat sich selbst als Vitalisten bekannt und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens äußert er sich S. 17 folgendermaßen: „Niemand wird be- 4) Mit E. von Hartmann bediene ich mich des Wortes Finalität statt Teleologie, welch letzterem Ausdruck das Wort Aetiologie entsprechen würde. 98 Reinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus*. streiten, dass auch dem einfachsten Organismus ein äußerst verwickelter Bedingungskomplex zu Grunde liegen muss; und dass deshalb der physico-chemischen Erklärung der Lebensvorgänge — ihre Möglichkeit zugegeben — einstweilen nur weniges, einzelne Teilerscheinungen zu- gänglich sein können; und auch das nur im Sinne der allgemeinen Wahrscheinlichkeit ihrer Ableitung aus gewissen physico-chemischen Bedingungen“. Dann aber, und darauf lege ich den Nachdruck, fügt er S. 21 hinzu: „Die komplizierte organisierte Form entsteht in einer Weise, die auf anorganischem Gebiete ohne Analogie ist, d.h., sie ent- wickelt sich“. Hierzu kommt noch auf S. 79 die Bemerkung: „Die Entwickelungserscheinungen sind in ihrer Eigenart den Organismen durchaus eigentümlich“. — Ist denn das nicht Vitalismns im weiteren Sinne Bütschli’s? Zweitens bekennt Bütschli in seiner ganzen Schrift sich als An- hänger des psychophysischen Parallelismus. Was darunter zu ver- stehen ist, glaube ich in Kap. 40 meiner „Einleitung in die theoretische Biologie“ klarer dargelegt zu haben, als es durch Bütschli geschehen ist. Worauf es mir aber ankommt, ist dies, dass Bütschli die psycho- physische Koordination S. 4 für etwas Unbegreifliches erklärt, dessen Unbegreiflichkeit wir hinnehmen müssen. Gehört denn der psycho- physische Zusammenhang etwa nicht zu den Lebenserscheinungen, und besitzt er vielleicht ein Analogon im Gebiete der anorganischen Natur? Da Bütschli ihn unbegreiflich findet, findet er eine Lebenserscheinung unbegreiflich, und das muss er selbst doch als Vitalismus gelten lassen. Unwillkürlich drängt sich da die Frage auf: wie mag Bütschli, der überzeugte Anhänger der Entstehung der ersten Organismen durch Ur- zeugung aus Zufall und ihrer Fortbildung durch Selektion, sich wohl die Entstehung der Psyche aus anorganischem Material vorstellen ? Aus dem Angeführten glaube ich schließen zu sollen, dass bei Bütschli keine völlige Klarheit herrscht über das, was man Vitalis- mus zu nennen hat; es erhebt sich nun die weitere Frage, was unser Autor unter Mechanismus versteht. Ich finde, dass Bütschli in Bezug hierauf sich kaum deutlicher ausspricht, als in Bezug auf seinen Be- griff des Vitalismus. Zunächst verwahrt er sich gegen einen engeren Zusammenhang von ‚Mechanismus mit Mechanik, der bekannten physikalischen Dis- ziplin: „der Begriff des Mechanismus hängt nur in entfernterem Sinne mit Mechanik zusammen“ heisst es auf S. 7“; „nicht um das Begreifen der Lebenserscheinungen auf mechanische Weise handelt es sich für den Mechanismus, sondern um die Begreiflichkeit oder Erklärbarkeit des Organismus auf Grund der gesetzmäßigen Geschehensweisen, welche wir auf anorganischem Gebiet erfahren“. Und $.8 wird hinzugefügt: „Der Mechanismus erachtet es also für möglich, die Lebensformen und Lebenserscheinungen auf Grund komplizierter physico-chemischer Be- Reinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. 99 dingungen zu begreifen.“ Ich muss gestehen, dass dasjenige, was Bütschli hier Mechanismus nennt, mir eher eine Art von erkenntnis- theoretischem Rationalismus zu sein scheint, wobei die stillschweigende Voraussetzung unterläuft, dass das Anorganische das Begriffene, das Lebende das zu Begreifende sei. Bütschli protestiert dann weiter gegen eine Verwechslung der mechanistischen Beurteilungsweise mit einer materialistischen, wobei er als Kriterium der letzteren hinstellt (S. 8) die „Ansicht, auch die psychischen Erscheinungen als kausale Folgen physischer Vorgänge begreifen oder erklären zu können. Die mechanistische Auffassung ist nicht der Meinung, dass Psychisches aus Physischem begriffen werden könne; ihr erscheinen beide Gebiete ge- sondert, obgleich nicht ohne Zusammenhang. Jedem physischen Zu- stand entspricht ein psychischer, es besteht ein Koordinationsverhältnis beider, dagegen keine Kausalbeziehung des Psychischen zu einem zeit- lich vorhergehenden Physischen im Sinne von Wirkung und Ursache.“ — Mir ist es doch zweifelhaft, ob diese Definition des Materialismus all- gemein als eine ausreichende anerkannt werden wird. Wenn ich meine eigene Auffassung der Organismen und der Lebenserscheinungen als eine mechanistische bezeichnete, so dachte ich dabei allerdings an eine ganz andere Bedeutung des Wortes Mechanismus wie Bütschli. Ich schloss mich einfach dem Gebrauch unserer Sprache an und verstand unter Mechanistik die Theorie, welche den Organismen eine Maschinenstruktur zuschreibt. Auch im Griechischen heisst unyavn Maschine, ungavaw etwas ausklügeln oder künstlerisch verfertigen. In der Maschine ist aber die Form, der ich auch die Struktur zurechne, das Wesentliche. Darum unterschied ich in meiner Centenarrede!) drei mögliche Auffassungen des Lebendigen, die vitalistische, die materialistische und die mechanistische in folgen- der kurzen Weise: der Vitalismus sucht das Leben auf eine besondere Kraft, die Lebenskraft, zurückzuführen; der Materialismus will es aus der Eigenschaft eines Stoffes, des angeblich lebendigen Eiweiß, er- klären; während die mechanistische Betrachtungsweise die Form in den Vordergrund rückt, in dem sie annimmt, dass durch die besondere Konfiguration des Protoplasmas die Lebensbewegungen mittelst der verfügbaren Energie geregelt werden, wie die Leistungen einer Maschine von der oft äußerst verwickelten Struktur derselben abhängen. Trotz- dem werden die Bewegungen der Maschine durch mechanische Energie unterhalten, und die Substanz, aus der man ihre Teile fertigte, kommt auch außerhalb der Maschine vor“. Die letztere Auffassung ist die meinige. (Schluss folgt.) 4) Die Entwicklung der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie im 49. Jahrhundert. Kiel 1900, $S. 16. Auch abgedruckt in der Deutschen Rundschau 1900. 30 Bredig, Anorganische Fermente. Georg Bredig: Anorganische Fermente. Darstellung kolloidaler Metalle auf elektrischem Wege und Untersuchung ihrer katalytischen Eigenschaften. Kontakt- chemische Studie. 99 S., gr. 8 mit 6 Textfiguren. Leipzig 1901. W. Engelmann. Es könnte beinahe den Anschein gewinnen, als sollten wir in ein neues Stadium der Lehre von den Fermentwirkungen eintreten, welches eigentlich nur eine Rückkehr bedeutet zur Berzelius’schen, vor allem aber zu der von Schönbein geschaffenen Lehre der Katalyse, welche von Ostwald in exakter Weise neugestaltet wurde. Bredig hat in seiner sehr wertvollen und originellen Arbeit zunächst die Eigenschaften der kolloi- dalen Lösungen übersichtlich dargestellt, welche in mancher Beziehung Aehnlichkeit mit denen der Fermente bieten. Ferner hat Bredig die sehr interessanten Eigenschaften der von ihm durch elektrische Kathoden- zerstäubung direkt aus Wasser und Metall erhaltenen kolloidalen Sole (d. h. nach Graham flüssige Kolloide) von Gold, Platin, Iridium, Palla- dium, Silber und Kadmium genauer studiert. Hier interessieren uns vor allem die Untersuchungen, welche Bredig gemeinsam mit Müller von Berneck, Ikeda und Reinders ausgeführt hat, welche zeigen sollen, dass die Kontaktwirkung der Metalle dieselbe ist wie die der organischen Fermente. Durch die Verwendung des elektrisch hergestellten Platinsol war es möglich, beim Studium der Katalyse die Platinmenge zu dosieren und äußerst fein zu verteilen und zu verdünnen, so dass ge- naue Messungen über den zeitlichen, quantitativen Verlauf der Platin- katalyse des Wasserstoffsuperoxydes ausgeführt werden konnten. Unzweifel- haft giebt es eine ganze Reihe von Aehnlichkeiten zwischen Fermenten und Katalysatoren, von denen die auffallendste die Zersetzung des H,O, ist. Geht doch Schönbein so weit, diese Zersetzung als das „Urbild aller Gärungen“ zu bezeichnen. Nach Bredig und seinen Mitarbeitern zeigen nun die hergestellten Metallsole ein ganz ähnliches Verhalten gegen H,O, wie die Fermente, weshalb diese Metallsole als „anorganische Fermente“ bezeichnet werden, da sie außerdem noch den kolloidalen Zustand mit den Fermenten gemeinsam haben. Es sind nach Bredig’s eigenen Worten „anorganische Modelle der organischen Enzyme“. Um die Zulässigkeit dieser Bezeichnung und ihre Bedeutung zu würdigen, müssen wir zweierlei berücksichtigen: Ist die katalytische Fähigkeit der Fermente, namentlich ihr Verhalten gegen H,O, eine wesentliche Eigen- schaft der Fermente, und wird die typische Fermentwirkung vernichtet, wenn die H,O, katalisierende Kraft des Enzyms gestört wird? Die Unter- suchungen Schönbeins, sowie insbesondere die von Jakobson haben ge- zeigt, dass man den Fermenten die Fähigkeit H,O, zu katalysieren nehmen kann, ohne dass dadurch die typische Fermentwirkung des Emulsin und Trypsin verloren geht. Infolgedessen handelt es sich um zwei Eigen- schaften der Enzyme, welche nicht untrennbar miteinander verknüpft sind. Also ist die Fähigkeit der Fermente H,O, zu katalisieren keine solche, an welche die enzymatische Funktion gebunden erscheint, mithin ist sie für den Fermentprozess nicht wesentlich. Außerdem müsste erst noch der Beweis erbracht werden, dass alle Enzyme H,O, katalysieren, wenn wir Bredig, Anorganische Fermente. BEI diese Eigenschaft als eine für die Fermente typische betrachten wollen, wobei noch dem Umstande Rechnung getragen werden muss, dass die Reindarstellung der Fermente noch nicht gelungen ist. Die zweite Frage ist die nach der kolloidalen Struktur der Fermente. Um sie zu beant- worten, müssten wir gleichfalls die Fermente rein dargestellt haben; wir haben aber stets enzymhaltige Eiweißlösungen vor uns, welche Kolloide sind. Darum müssen aber die Enzyme noch nicht Kolloide sein, wenn- gleich es auch sehr wahrscheinlich ist, da wir sie als den Nucleoalbuminen nahestehende Körper betrachten. Trotzdem muss aber immer wieder her- vorgehoben werden, dass ein strikter Beweis für diese Annahme noch nicht erbracht worden ist, weshalb wir noch nicht berechtigt sind, diesen Punkt als wesentliches Kriterium anzusprechen. Sehr interessant sind die Untersuchungen über die Vergiftungs-(Läh- mungs-)Erscheinungen der katalytischen Kraft der Platin- und Goldsolen, welche vielfach die gleichen Ergebnisse liefern wie analoge Versuche an Fermenten. Aus der großen Reihe der untersuchten Substanzen sei nur die nachstehende Zusammenstellung erwähnt. Die lähmende Wirkung auf die Platinkatalyse ist noch merklich bei Zusatz von: 0,0000001 g-Mol. H,S pro Lit. 0,000000056 „ HCN en 0,00000005 „ JCN So 00000001 Sg, Nah 0,00004 LuNBr, ENDE 0,00004 AUNENERD OR 0,00018 DER NEE 0 0,00004 Bl Tai! 0,00024 SANDER MER 0,001 @O,H RR 0.009000 1. I EECL, N 0,0048 ” HgCy, ” ” 0,002 2) N2,80, 2 0,0002 UL NALS,O, Kal 0,0003 HEN En Besonders bemerkenswert muss es erscheinen, dass sich ähnliche Lähmungen auch bei der Buchner’schen Zymase bezüglich des Alkohol- gärungsvermögens vorfinden; ferner zeigen sich jene Stoffe, welche als Blutgifte (Kobert) sehr wirksam sind, von ähnlichem Einfluss auf das H,O, Zersetzungsvermögen des Platinsol. Eine Ausnahme macht KÜIO,, welches die Platinkatalyse gar nicht verändert. Aber nach den vorläufigen Untersuchungen von Schaer, sowie von Kobert wird auch die katalytische Kraft des Blutes durch KÜIlO, nicht verändert, woraus folgt, dass das Oxyhaemoglobin nicht der H,O, Katalysator des Blutes sein dürfte. Eine Vergleichung des lähmenden Einflusses verschiedener Agentien auf die Blut- und Platinkatalyse des H,O,, welche durch die vorläufigen Unter- suchungen Schaer’s möglich wurde, ergiebt keine volle Uebereinstimmung der erzielten Wirkung. Es muss aber die ausführliche Publikation Schaer’s abgewartet werden; vielleicht wird sich bei Berücksichtigung der von Bredig erhobenen Einwände eine größere Uebereinstimmung er- geben. Die Lähmung der Platinkatalyse durch gewisse Substanzen, z. B. 32 Bredig, Anorganische Fermente. HCN, kann nach Durchlüftung wieder zum Verschwinden gebracht werden, ähnliche Erholungserscheinungen finden sich auch bei einigen Fermenten. Da die Reaktionen der kolloidalen Katalysatoren an ungeheuer ent- wickelten Oberflächen stattfinden, so hält es Bredig für „durchaus wahrscheinlich, dass ähnliches auch bei den Wirkungen der Fermente, Enzyme, Blutkörperchen und oxydierenden und katalysierenden Organ- geweben vorliegt. Wir sehen also, dass der Organismus nicht nur des- halb seine ungeheuren Oberflächen in den Geweben und kolloidalen Fer- menten entwickelt, weil er osmotische Vorgänge braucht, sondern auch wegen der möglichst großen katalytischen Wirksamkeit solcher Ober- flächen. Wenn also Boltzmann sagt, dass der Kampf der Lebewesen ums Dasein ein Kampf um die freie Energie sei, so ist von allen Energiearten jedenfalls die freie Energie der Oberflächen für den Organismus eine der wichtigsten“. Um eine solche Begründung für die Strukturverhältnisse der Organismen abgeben zu können, dazu bedürfte es viel eingehenderer Studien, denn das große Rätsel, warum das lebende Protoplasma mit einer solchen Fülle von höchst komplizierten physikalischen und chemischen Eigenschaften ausgestattet ist, ist ein zu schwieriges, als dass es so nebenbei gelöst werden könnte. Die bei der Differenzierung organischer Gebilde in Frage kommenden Bildungsfaktoren sind zu mannig- faltiger Art; denn hier sind nicht nur einfache physikalische und chemische Momente in Rechnung zu ziehen, sondern Vererbung, Anpassung an Funktionen, deren materielle Vorgänge uns noch vielfach ganz unbekannt sind, kommen mit in Frage, so dass eine jede einseitige Argumentation nach dieser Richtung hin keine Aussicht auf Erfolg haben kann. Uebrigens wissen wir noch gar nicht, in welchem Umfange katalytische Prozesse für den Lebensprozess von Bedeutung sind, so dass wir heute schon ge- zwungen sein sollten, eine direkte funktionelle Anpassung der Organismen an diese Prozesse anzunehmen. Immerhin wird aber die Entwicklungsmechanik, welche allen differenzierenden Momenten Rechnung zu tragen hat, auch die freie Energie der Oberflächen in den Kreis ihrer Betrachtungen mit einbeziehen müssen, um im geeigneten Falle sie als Differenzierungsfaktor anzusehen. Der Physiologie fällt aber die wichtige Aufgabe zu, die Bedeutung der Katalyse für den Bestand des Lebens zu erforschen, erst dann kann die Entwicklungsmechanik ihren gestaltenden Einfluss ermitteln. [101] R. F. Fuchs (Erlangen). Die geehrten Herren Mitarbeiter unsres Blattes werden ersucht, Beiträge botanischen Inhalts an Herrn Professor Dr. Karl Goebel, München, Friedrichstr. 17, alle andern an die Redaktion des biologischen Centralblatts, Er- langen, physiologisches Institut, einzusenden. Alle geschäftlichen Mitteilungen, namentlich die auf Versendung des Blattes, auf Tauschverkehr oder auf Anzeigen bezüg- lichen, bittet man an die Verlagsbuchhandlung Arthur Georgi, Berlin SW., Hedemannstr. 10, zu richten. Verlag von Arthur Georgi in Berlin SW., Hedemannstraße 10. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Öentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. E. Seienka Professoren in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXI. Band. Nr. 2. Inhalt: Cunningham, Unisexual Inheritance (Schluss). — Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe (Fortsetzung). — Reinke, Bemerkungen zu O©, Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus* (Schluss). — Zykoff, Das pflanzliche Plankton der Wolga bei Saratow. — v, Linden, Experimentelle Untersuchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften. 15 Tanner 1000. Unisexual Inheritance by J. T. Cunningham, M. A. (Schluss. It does not seem to me that much light is or can be, thrown on the problem of sexual dimorphism by the statistical methods of in- vestigation now so much in vogue among biologists. Professor Karl Pearson, although not celaiming to be a biologist himself, has taken a leading part in the development of the mathematical treatment of biological statisties. In his Grammar of Science!) he gives an outline of the science of biolegy from what he considers the physical point of view, as distinguished from the metaphysical. His exposition may be perfeetly sound so far as it goes, but I have been unable to discover in it any discussion of the phenomena of unisexual inheritance. In eonsidering inheritance in animals which reproduce sexually he states that there are three chief forms, blended inheritance, exclusive inheri- tance, and particulate inheritance. By exelusive inheritance he does not mean unisexual inheritance, but merely the inheritancee by an offspring of either sex, of any character exelusively from one parent?). In another place he con- 4) The Grammar of Science, nd Edition: London, A. & C. Black, 1900. 2) For example when a black mouse is paired with a white the offspring may be all black, orallwhite, or piebald black and white, or ofa uniform inter- mediate colour. The first two cases are exelusive inheritance the third is parzieulate inheritance, the last blended inheritance. XXL 3 34 Cunningham, Unisexual Inheritance. siders the various forms of sexual selection. Of this he distinguishes five forms, one of which termed apolegamie or preferential mating is stated to be selection in the narrower sense of Darwin, while another is assortative mating, the selection of like by like, preference not for a mate in which certain characters are must developed, but for a mate most similar to the seeker. He does not consider all the forms in detail, but in his own words „contents himself with some illustrations of how exaet quantitative methods can be applied to the problems of apolegamie and homogamie mating“. His application of quantitative methods consists in ascertaining whether preferential mating is actually taking place with regard to given characters. In the whole of the discussion not a word is said as to the consequence of the selection, as to the interpretation or ex- planation of the existence of constant differences between the sexes. In fact, Professor Pearson seems to have in mind the question whether it is possible to demonstrate by measurements and numbers that both progressive change of type in a single race, and the differentiation of one race into two or more, aciually take place as the result :of variation and selection. He remarks that „without a barrier to inter- erossing during differentiation the origin of species seems inexplicable“. He considers sexual selection as merely forming a barrier to inter- erossing: to quote his words: „By sexual selection I would understand something rather more than Darwin includes by that term, namely, all differential mating due to taste, habit, or eircumstance, which pre- vents a form of life from freely intererossing.“ But of sexual selection in the true Darwinian sense, as a part of the theory of sexual dimor- phism, and the explanation of the evolution of conspicuous characters which are either useless or even harmful in ordinary life, Professor Pearson seems to have no conception whatever. He takes the case of stature in the human race and ascertains from actual measurements what differenees there are in type and variability between husbands, and men in general, or between wives and women in general. He finds that in no case, except in the type in the case of women, is there any certain difference, and in that exception the difference is not „significant“. The statisties, he says, only run to a few hundreds, and were not specially collected for the purpose; still so far as they go they show no evidence in mankind of preferential mating with respect to stature, or of any character very elosely correlated with stature. And yet stature is one of the characters in which human beings are most distinetly dimorphie sexually. If we take from Professor Pearson’s figures the difference in type between husbands and wives instead of between husbands and men in general, it is 5.267 inches, while the difference in variability is very slight. Professor Pearson makes no remark on this. Cunningham, Unisexual Inheritance. 35 He next considers eye-colour from the same point of view, and finds that there is a distinet difference of type between husbands and men in general. There is also a difference in type but of less magni- tude between wives and women in general. The general tendeney is for the lighter eyed to mate, the darker eyed being less frequently married. Whether the fact is due to actual preference on the part of the women is not certain, it may be due to greater philogamie in- stinets on the part of the blonde section of the population. In this case then more light-eyed men get married than dark eyed men, and also more light eyed women than dark eyed women, but the selection is greater among the men. But what Professor Pearson does not discuss is the relation of these conelusions to the sexual dimorphism. Are men lighter eyed than women in type? The figures given show a considerable difference between the sexes in this respeet, and apparently it does consist in the men being lighter in eye-eolour. But what reason is there for supposing that the seleetion for marriage of the lighter-eyed men would have any effeet in making men on the average lighter-eyed than women? Again we find the essential point ignored by Professor Pearson: sexual seleetion may have been proved to be taking place, but what is the relation of this seleetion to the sexual dimorphism ? Professor Pearson next proceeds to discuss assortative mating in mankind, and examines again the same two characters, namely, stature and eye-colour. He finds that there is a quite sensible tendeney of like to mate with like, husband and wife are more alike for one of these characters than unele and niece, and for the other more alike than first cousins. There is therefore according to this evidence, not only no sexual selection in relation to stature, but actually a selection in the opposite direetion. Yet as I have already urged the difference in stature is one of the most marked of the secondary sexual differences in mankind. Professor Pearson’s investigation with regard to this point therefore goes to prove that the sexual dimorphism in this character is not only not maintained by sexual selection or preferential mating, but is maintained in direet opposition to assortative mating which is the opposite of sexual selection in Darwin’s sense. Professor Pearson also finds that a quite sensible measure of homogamy or assortative mating exists with regard to eye-colour. This seems to be in contradietion to his previous result that preferential mating occurs in reference to this charaeter. It is diffieult to under- stand how women can at the same time prefer men with the lightest eyes, and those with eyes most like their own. The contradietion is apparently explained by the fact that the lightest-eyed women are also more frequently married. But it seems to me that if this is the case sexual selection in Darwin’s sense does not take place in 3# 96 Cunningham, Unisexual Inheritance. reference to this character. Yet as I have said there would seem to be some sexual dimorphism in eye colour in mankind. I am not con- cerned however to interpret Professor Pearson’s results, but merely to point out that they tend to disprove the assumption that there is a connection between sexual selection and sexual dimorphism, and also to point out that Professor Pearson has failed to show how the causes of sexual dimorphism are to be investigated by his mathematical methods. If the theory I have formulated in my book on Sexual Dimor- phism!) were true we should have a complete explanation of all the peeuliarities of unisexual characters. That theory is founded on the truth that ina great number of the best known cases the special struc- tures which eonstitute the unisexual characters are exposed in every generation to definite special stimulations produced by the behaviour of the animals in their sexual relations. The theory is merely that such stimulations cause excessive growth of the tissues affeeted, in other words, produce local hypertrophy, and that such processes of growth after a number of generations are inherited. The modifications of growth having been set up in mature individuals of only one sex during sexual maturity and activity, are inherited only in correlation with the same condition of the body. If the inherited process of deve- lopment were thus a repetition more or less exact of the process set up by external stimulation, we should have an intelligible explanation of the well known and remarkable peculiarities in the development of secondary sexual characters. For the original process was limited to one sex, and was set up when the testes were functionally active, and when the nervous system was in a state of excitement which affeeted all {he functions of the body. The hereditary repetition would therefore be similarly limited, whether the limitation was merely to one sex, or as in many cases restrieted to one season of the year in that sex. Moreover as the original process of growth was associated with the funetional activity of the testes, and the nervous exeitement produced by that activity, the hereditary repetition would be wanting in an individual from which the testes had been removed, and thus we should have an explanation of the suppression of secondary characters in castrated males, otherwise one of the most inexplicable facts in all physiology. Professor Meldola, in eritieising my book?), declared that he could see no force in this argument. He stated that there was ab- solutely nothing in the Lamareckian explanation to account for the non- transmission of the male characters to the female. He asked why 1) Sexual Dimorphism in the Animal Kindom: London, A.&C.Black, 1900. 2) „Nature“ Vol. 63, p. 197. Dec. 27, 1900. Cunningham, Unisexual Inheritance. 37 should my view be supposed to account for the limitation of the male characters to the male, and the former view (Darwin’s) to fail. He then repeated Wallace’s suggestion that the female being in greater need of concealment had had any tendency to inherit the male cha- racters eliminated by natural selection. These eriticisms seem to me to show that my critie had failed to understand not only my theory but Darwin’s. Darwin did not even attempt to explain the uni- sexual limitation, but pointed out that the variations must have been unisexually limited before they were selected. It is not a question of my explanation versus Darwin’s but of mine versus none. Mine is a theory of the origin of certain variations, Darwin’s a theory oftheir preservation. Professor Meldola does not show in what way or for what reason my hypothesis fails to explain the facts, he merely asserts that it fails.. When in a correspondence in „Nature“ I put forward some arguments in explanation of my position, Professor Meldola urged that my theory could not be true, because as I myself admitted, male characters were in certain cases developed also in the female as for instance in the Reindeer. My theory is intended to explain first and foremost secondary sexual characters of the most typical kind, which I defined as those which are affeeted by castration, which do not develop normally after removal of the generative organs. Whether such characters may ultimately be transferred to both sexes, or whether unisexual characters exist which are independent of the condition of the generative organs are secondary questions which do not necessarily invalidate my theory of the origin of the typical cases. Professor Meldola at once attacked my definition, and stated that so far as he knew there was no single observation, with the ex- ception perhaps of Stylopised bees, which would bring the sexual characters of fishes, reptiles, erustacea, inseets ete., within its scope, and asked: „Is there any known case among these lower groups, where the removal of the generative organs leads to the appearance of the characters of one sex in individuals of the other sex?“ Now from the facts colleeted by Darwin and those added by myself it is fully proved that in the lower classes to which Professor Meldola refers, unisexual characters as a general rule are not developed until the approach of sexual maturity, and the selfevident similarity of the phenomena in these lower animals with those seen in mammals and birds, justifies the eonclusion that in the former also the development of the characters is physiologically eorrelated with the normal action of the reproductive organs. Professor Meldola’s argument that my definition cancels at least half my own book would only be sound if he had proof that removal of the generative organs did not prevent the normal development of unisexual characters in fishes, reptiles, erustacea, etc. 38 Cunningham, Unisexual Inheritance. Taking the words „removal of the generative organs“ literally, Professor Meldola’s question may perhaps be answered in the nega- tive; for although artificial eastration has been attempted in fish, cray- fish and even caterpillars, the effeets of the operation on the unisexual characters do not appear to have been ascertained. It so happens, however, that there exists very remarkable evidence concerning the effects of a natural process of castratiöon in one at least of the lower classes of animals, namely, the Crustacea. I refer to the remarkable observations which have been made prineipally by the eminent french zoologist, Alfred Giard, on what is known as parasitic castration. Professor Meldola, whose zoologieal studies have been chiefly devoted to insecets, appears to be unacquainted with these important obser- vations and they seem to me to afford strong support to my conelusions. One case which has been most carefully investigated is that of crabs infested by the parasite called Sacceulina. The common shore erab Carcinus moenas is frequently attacked by one}; species of Sac- culina. The parasite is a Cirripede, its early stages showing that it is allied to the barnacles. In its adult condition it forms a conspi- cuous bulbous structure attached by a thin peduncle to the lower sur- face of the abdomen, the so-called tail, of the crab. The peduncle is connected internally with a system of branching roots which ramify through nearly all the internal tissues of the erab. By means of these roots the parasite absorbs its nourishment from its host. Crabs in- fested with the parasite are almost invariably sterile. The generative organs, ovaries or testes, do not appear to be destroyed, but they are unable to become functionally active. The interesting fact in relation to my present subject is that male crabs infested by the Sacculina resemble the females externally, their secondary sexual characters being to a great extent suppressed, just as the antlers are suppressed in castrated stags. In the common shore crab the unisexual characters of the normal male are prineipally the enlargement of the pincher claws, and the different form and structure of the tail. In the normal male the tail is narrower than in the female, and of the seven seg- ments of which it is composed the 3rd, 4th andÖth are firmly united, the joints between them being obliterated. In tbe infested male the tail is considerably broader and the lines of division between seg- ments 3, 4and 5are quite distinet. According to Yves Delages who has made the most complete investigations of Saceulina, the crabs are infested when from three to four months old, and from four to twelve millimetres in diameter. Presumably at this time the special modifications of the male abdomen have not appeared, and the normal development of the testes being prevented by the presence of the Sac- eulina, at first entirely internal, the external or secondary modifications are also suppressed. It is possible, however, that even in the young Cunningham, Unisexual Inheritance. 39 male crabs which are attacked by Sacculina the unisexual modifications have begun to appear, and that in subsequent development there is a regressive development of them. Another doubtful point is the history of both male and female crabs after the Sacceulina has died. For the parasite does not kill the erab, it merely renders it incapable of re- production. According to Delage the Saceulina lives a little more tha nthree years, and then dies a natural death, after having produ- ced its eggs. After the death of the parasite the crab may recommence to moult and to grow, but the investigator does not say whether the crab recovers its fertility, nor has Giard discovered whether the sup- pressed secondary sexual characters of the male are recovered after the death of the parasite. Delage says he once met with a large crab which had no external Sacculina, or any trace of the scar where the peduncle had been attached, but around the intestine internally there were roots of a Saceulina in process of degeneration: he does not deseribe the sexual characters of this crab. Evidence there- fore of the history of the erab after the death of the parasite is still to be obtained. Other modifications of secondary sexual characters oceur in both male and female shore erabs infested by Saceulina: in the normal male the first and second segments of the abdomen alone bear appendages which are modified as copulatory organs into stifl stylets: in the infested specimens these are more or less reduced in size. In the normal female the segments 2 to 5 bear four pairs of long appen- dages with two branches to which the eggs when laid are attached: these are reduced in size in the infested females. In Stenorhynchus phalangium the sexual dimorphism is more pronounced than in Carcinus maenas, the difference between the sizes of the first pair of legs, the pincher celaws, in the males and females being much greater. In male Stenorhynehus infested with Saceulina the pincher celaws are no larger than in the female. In another form, Inachus Scorpio, the zoologist Fraisse was decei- ved by the effect of the parasite on the special characters of the males, and mistook them for females, so that he came to the conelusion that the males were never infested. Another erustacean parasite belonging to a different order, namely, theIsopoda, lives in {he branchial eavity of prawns and although it sends no processes into the interior of its host, but is entirely an external parasite, it nevertheless eauses the host usually to be sterile. Giard does not say whether this is due to any special effeet on the generative organs, but it appears to be due merely to the general effeet on the mutrition of the host. However this may be, Giard has shown that the secondary sexual characters of the host are here also more or less completely suppressed. So much is this the case 40 Cunningham, Unisexual Inheritance. that investigators previous to Giard’s discovery had stated that only the females were attacked by the parasite, the truth being that the males infested were mistaken for females. The secondary sexual characters in the prawns are less marked than in erabs, they consist in modifications of the first two pairs of abdominal appendages for copulatory purposes, greater length of the thoraeie chelae, and greater size of the olfaetory branch of the first antennae. It might perhaps be argued that the effeet on the primary gene- rative organs, ovaries or testes, being due to the disturbed nutrition of the host, the reduction of the secondary sexual characters was likewise simply due to diminished nutrition: the supply of nourish- ment being reduced the organs could not grow to their normal size. But it must be remembered that reduetion in the supply of nourishment ought merely to reduce the size of the whole body, as starvation of a young animal is known to do, it does not necessarily reduce parti- eular organs in comparison with others. The correct interpretation seems to be that the primary organs are not destroyed, but for want of nourishment are unable to produce generative produets, and it is this funetional development which is correlated with the development of the secondary characters. The case of Stylopised bees to which Professor Meldola refers is precisely analogous with the cases of parasitic castration in Crustacea to which I have already referred. The facts in this case were care- fully and successfully investigated by Professor Perez of Bordeaux in 1879. It was originally supposed that the bees carrying the para- site formed distinet species, but Perez found that they were indi- viduals of other species modified by the effects of the parasite. The parasite Stylops is believed to belong to, or to be allied to, the Coleoptera or beetles. The minute active larva soon after it is hat- ched obtains entrance into the body of a larva of a solitary bee of the genus Andraena, and there changes into a footless maggot which lives at the expense of its host without killing it. The female stylo- pised Andraena has a head somewhat smaller than normal, the ab- domen more globular, and more hairy : the most remarkable peculiarity is, however, that in the female the posterior legs are more slender, and their pollen brushes either much reduced or absent. The ovi- positor is also reduced. The modifications of the male are of less degree, consisting chiefly in the loss of the eoloration proper to the face. M. Perez found that in the female the development of the ovaries was completely arrested, and mature eggs were never produced, while in the male only the testicle of the side on which the parasite lies was affeeted, the other produeing normal spermatozoa. In this case it is evident that the modifications of the hinder legs in the fe- male bee are secondary sexual characters. It must be remembered Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 41 that the bees of the genus Andraena are solitary bees which provide food for their own young and do not produce neuter females or wor- kers like the hive bees. According to my views therefore the hind legs in the female have been modified by the stimulations involved in colleeting pollen for the young, and when the development of the ovaries is arrested the pollen brushes are imperfeetly developed. It may appear to be ineonsistent with this interpretation that in the hive-bee the queen, a fully developed fertile female, is destitute of the pollen basket and pollen brush on the hind foot which are pre- sent in the worker. It might be argued that according to the above interpretation the sterility of the ovary in the worker ought to lead to the absence of modifications for nursing functions, and that these ought to be developed in the fertile queen. The explanation in this case is I believe that the ancestors of the hive bee possessed such modifiecations and that the queen has lost them through dis use. This effeet of disuse has been correlated throughout the evolution with an increased fertility, and in the worker when the funetional activity of the ovaries is suppressed the specialisations of the hind limb reappear. The ovary of the worker is not atrophied from the larval stage as in stylopised Andraena, it is merely prevented from attaining its per- fect development. Possibly if the worker bee were stylopised its pollen colleeting adaptations would be suppressed as in the solitary Andraena. Although the last case and some others may offer special diffhieulties, Ithink the above facts indicate that there is at present no valid objecetion to the conelusion that in all cases throughout the animal kindom secondary differences between the two sexes of the same species depend for their perfect development on the presence and normal condition of the primary or essential generative organs, and I maintain that this dependence or correlation is explained on the hypothesis that external stimulations have been the determining causes of the secondary characters, but is not explained on the hypothesis that the said characters have been determined exclusively by the pro- cess of selection from variations arising in the germ and independent of external stimulations. [105] Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. Von Jean Massart, Professor an der Universität Brüssel, Assistent am botanischen Institute, (Fortsetzung.) IV. Art der Reaktionen. A. Vorbereitende Reaktionen oder Tonus. Jeder Organis- mus ist Zeit seines Lebens Sitz einer unausgesetzten Thätigkeit, von der jede Aeußerung eine Reaktion auf irgend einen Reiz darstellt. Die groben sinnfälligen Reaktionen, die einzigen, welche der Beobach- 42 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. tung zugänglich sind, sind nur Abänderungen jener elementaren Reflexe, die viel zu schwach und flüchtig sind, um wahrgenommen zu werden. Aber sie sind darum nicht minder wichtig; sind sie es nicht, welche bewirken, dass das lebende Protoplasma in diesem Zustand der fort- währenden Wandelbarkeit bleiben muss, welcher das Charakteristikum des Lebens ist? Diese Reaktionen sind vorbereitende in dem Sinne, als sie, ohne sich nach außen durch irgend eine Wirkung zu offen- baren, nichtsdestoweniger für die Vorbereitung des Protoplasmas nötig sind: sie setzen es in stand, auf andere Reize durch sichtbare Reaktionen zu antworten. Ein bestimmtes Beispiel wird es besser erläutern, von welchen Erscheinungen hier die Rede ist. Ein trockenes Samenkorn reagiert auf keinen Reiz. Bieten wir ihm Wasser, so ist es sogleich im stande, die so verwickelten Erscheinungen der Keimung zu zeigen; von diesem Augenblick an ist es reizbar für Narcotica geworden; jede Temperatur- veränderung wirkt zurück auf seine Wachstumsschnelligkeit. Kurzum, das Wasser hat das Korn aus seiner Starre befreit, es hat das Proto- plasma vorbereitet, die Eindrücke der anderen Reize wahrzunehmen. Unglücklicherweise sind die Beispiele sehr selten, wo wir den Reiz kennen, auf den der Organismus mit einer vorbereitenden Reaktion antwortet. Die typischsten dieser Fälle haben den Namen Tonus er- halten (z. B. Phototonus); es wäre richtiger, diesen Terminus auf alle vorbereitenden Reaktionen auszudehnen, auf die Gefahr hin, dass die Mehrzahl der tonischen Reaktionen durch innere, noch immer un- bekannte Reize bedingt ist. Der Hydrotonus, der beschrieben worden ist, bedingt eine Vor- bereitung des Protoplasmas des Samenkornes, so dass es eine ganze Menge Reize aufzunehmen vermag. Gewöhnlich wird aber der Tonus viel genauer spezialisiert: er setzt den Organismus in stand, auf einen einzelnen Reiz oder eine kleine Gruppe von Reizen zu antworten. Begnügen wir uns, einige Beispiele anzuführen. Wenn von zweilndividuen der Sinnpflanze (Mimosa pudica), das eine fortwährend dem Lichte, das andere andauernd der Dunkelheit ausgesetzt worden ist, so fahren ihre Blätter während mehrerer Tage fort, die Be- wegungen der Tagesstellung und der Nachtstellung zu zeigen, die sie unter normalen Bedingungen ausführen. Aber nach und nach werden die Be- wegungen geringer, um bald gänzlich aufzuhören. In diesem Zeitpunkte sind die zwei Pflanzen in einem sehr verschiedenen Zustande. Diejenige, welche am Lichte belassen worden ist, hat ihre vollkommene Reizbar- keit bewahrt, und es genügt, sie nur einen Augenblick zu verdunkeln, damit sich ihre Blätter sofort schließen. Die andere Pflanze ist im Gegensatz starr geworden, sie reagiert auf den Lichtreiz nur, wenn man die Erregbarkeit durch langes Verweilen am Lichte wieder her- stell. Damit also die Sinnpflanze im stande sei, auf einen äußeren Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 43 Reiz mit einer Bewegung zu reagieren, muss ihr Protoplasma durch einen Tonus vorbereitet worden sein, der durch das Licht hervorgerufen worden ist (Phototonus) (s. besonders Pfeffer 1875). Im Phototonus der Sinnpflanze wirkt das Licht einfach durch seine Stärke. Das folgende Beispiel zeigt eine viel größere Spezialisierung des Reizes; es genügt nicht, dass der Reiz eine beliebige Stärke hat, sondern er muss auch die Pflanze in einer bestimmten Richtung beein- flussen. Schwendener und Krabbe (1892) haben gezeigt, dass das Lieht sehr oft nur dann eine Drehung eines pflanzlichen Organes her- vorruft, wenn dieses Organ zur selben Zeit einer gewissen Erregung durch die Schwere ausgesetzt ist. Als Beispiel sei ein Fall erwähnt, den ich zu untersuchen Gelegenheit hatte. Die horizontalen Aeste von Russelia sarmentosa (Serophulariaceae) drehen ihre Internodien abwechselnd nach rechts und links. Diese Reaktion ist in ihren Grundzügen durch eine einseitige Beleuchtung bedingt, welche die jungen Blätter wahrnehmen. Man kann sich davon überzeugen, indem man die Blätter wegnimmt oder in eine Zinnfolie einschließt: unter diesen Bedingungen bleibt die Drehung aus. Eine ungleichmäßige Be- leuchtung allein genügt aber nicht: niemals zeigt ein vertikaler und hori- zontal beleuchteter Ast die geringste Drehung. Es musste also die Schwere quer auf den Ast einwirken, damit sie einen Geotonus her- vorruft, der das Protoplasma in stand setzt, durch eine Drehung auf den Lichtreiz zu reagieren. x 2 Bevor wir zu den abändernden Reaktionen übergehen, haben wir zu bemerken, dass es zwischen ihnen und den Tonus keine unbedingte Trennung giebt. So ist eine gewisse Wärmemenge nötig, damit eine Zelle fähig sei, die Reize, welche ihre Teilung bedingen, aufzunehmen. Aber die Wärme wirkt jetzt, nachdem sie zuvor wie ein thermotonischer Reiz gewirkt hat, wie ein abändernder Reiz, da die Geschwindigkeit, mit der sich die Teilung der Zelle vollzieht (Reaktionszeit), von der Temperatur abhängt. Wie soll man die Wärme, welche thermotonisch wirkt, von der trennen, welche wie ein abändernder Reiz wirkt. Wie verhält es sich in dem Beispiele der Sinnpflanze, welche in der Dunkel- heit gehalten worden ist und die gegen Licht nur durch eine lange Einwirkung dieses Reizes wieder empfindlich wird, — von welchem Zeitpunkt an hört das Licht auf, ein thermotonischer Reiz zu sein, um ein abändernder Reiz zu werden? B. Umwandelnde Reaktionen. Wir haben früher gesehen, dass die einzigen Reflexe, deren Reaktionen sich durch eine sichtbare Wirkung äußern, jene sind, welche aus einer groberen Veränderung der Elementarreflexe bestehen. Wir kennen also im allgemeinen nur die Reizung, welche den Anfang des Reflexes darstellt und die grobe 44 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. Erscheinung, den Knalleffekt des Schauspiels, das ihn beendet. Aber wie können wir uns über jene Erscheinungen Auskunft geben, welche von dem Augenblick an aufeinanderfolgen, wo der Reiz das so kom- plizierte Schauspiel trifft, welches sich im Protoplasma abspielt, bis dahin, wo wir plötzlich der Lösung beiwohnen. Wenn wir einen Blick hinter die Coulissen geworfen hatten, wenn wir in der Nähe allen Umwandlungen der Verwicklung beigewohnt hatten, so würden wir ohne Zweifel gesehen haben, dass die handelnden Personen dieselben geblieben sind, dass von dem Augenblick an, wo der Störenfried auf die Bühne getreten ist, sie einfach ihr Spiel verändert haben, indem ge- wisse unter ihnen mehr Bedeutung gewinnen, während andere mehr in den Hintergrund treten. Ebenso verhält es sich mit der Endreaktion eines Reflexes, sie ist nur die Folge der Veränderungen in der Ge- schwindigkeit und Stärke der elementaren Reaktionen. Die“Einfachheit der Mittel schließt doch nieht die Verschiedenartigkeit der Ergebnisse aus. Wenn uns gewisse Reaktionen nur als quantitative Veränderungen derjenigen, welche schon vor Eintreffen des Reizes bestanden, er- scheinen, sind andere sicherlich qualitative, viel einschneidendere Ver- änderungen. Da wir aber die wirklichen Vorgänge nicht kennen, s0 können wir nur die wahrnehmbaren Wirkungen der Reflexe studieren und einteilen. Der Bequemlichkeit halber'nennen wir die quantitativen Veränderungen Interferenzen, die qualitativen dagegen, welche im all- gemeinen viel kürzer und gröber sind, Reaktionen (ripostes). Damit die Namen dieser Reaktionen zeigen, zu welcher Klasse sie gehören, endigen die Namen für Interferenzen auf „-osis“, jene der Reaktionen auf „-ismus“. Zwei Beispiele werden besser als eine immer hinkende Definition die Unterschiede klar machen, welche die zwei Arten von Reaktionen voneinander unterscheiden. ErstesBeispiel. Nehmen wir ein Infusorium, z. B. eine Vorticella, in voller Thätigkeit. Seine kontraktile Vakuole schlägt regelmäßig. So lange als die äußeren Bedingungen dieselben bleiben, haben seine Pulsationen einen bestimmten Rhythmus. a) Aber jede Temperaturveränderung verändert diesen Rhythmus; die Wärme beschleunigt die Schläge, die Kälte verlangsamt sie. b) Die Kohlensäure wirkt wie auch ein Reiz. Unter ihrer Einwir- kung werden die Schläge in immer größeren Zwischenräumen aus- geführt, die Systolen werden nur ausgeführt, wenn die Vakuole sich sehr vergrößert hat; schließlich steht die Vakuole in Diastole still (Rossbach 1872). c) Wenn die Nahrung mangelt, kapselt sich der Organismus ein. Während der Bildung der Kyste werden die Schläge der Vakuole viel langsamer, eine vollständige Erweiterung tritt nicht mehr ein: die Systolen treten ein, wenn die Vakuole noch ganz klein ist, und bald tritt Stillstand ein, aber dieses Mal in Systole. Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 45 d) Wir können, ohne den enkystirten Organismus aus seiner Betäubung zu befreien, die Vakuole allein wieder in Thätigkeit ver- setzen: es genügt, die Kapsel in eine Salzlösung, z. B. KNO, von 18/ 90000 mol zu bringen. Am folgenden Tage, sobald sich das Infusor an dieses Medium angepasst hat, ist die Vakuole unsichtbar geworden, Eine neue Reizung, mit einer Lösung von 2/,ooooo mol, lässt sie wieder erscheinen (Massart 1889). Die verschiedenen Reaktionen, welche wir angeführt haben, zeigen alle rein quantitative Aenderungen des Pulsierens der Vakuole; Be- schleunigung, Verlangsamung, Stillstand, Wiedererwachen sind daher als Interferenzen anzusehen. e) Das gilt nicht mehr für eine Erscheinung, welche ein anderes Infusor, Paramaecium Aurelia zeigt. Unter der Einwirkung einer Tem- peratur von 30°—35° bildet es mit einem Schlage neue pulsierende Vakuolen in seinem Protoplasma, welche denselben Rhythmus aufweisen, wie die normalen Vakuolen (Massart 1901). Hier haben wir es sicherlich mit einer qualitativen Veränderung zu thun. Denn welcher Art auch die elementaren Reflexe waren, welche sich im Protoplasma in dem Augenblicke abspielten, als wir die Wärme einwirken ließen, so ist doch sicherlich die Bildung der kontraktilen Vakuolen eine grund- sätzlich verschiedene Reaktion gegenüber jenen, welche vorher statt- fanden. Als zweites Beispiel nehmen wir einen ausgebildeten Stengel an, dessen Pericykel aus ruhenden Zellen zusammengesetzt ist. a) Ein entsprechender Reiz erzeugt in den elementaren Reflexen einiger Zellen des Pericykels Veränderungen unbekannter Art, die sich durch die Teilung dieser Zellen und durch die Bildung eines Wurzel- auges äußeren, es ist ein neues Organ entstanden (qualitative Aende- rung oder Reaktion). b) Unter der Einwirkung innerer und äußerer Reize vergrößert sich diese Wurzel. Nehmen wir jetzt an, sie sei horizontal gelegt: die Schwere wirkt dann nicht mehr in der gleichen Weise auf alle Seiten, und die Wurzel krümmt ihre Spitze gegen die Erde. Ein ur- sprünglich gerades Organ hat eine Krümmung ausgeführt. Das ist auch noch eine Reaktion. c) Während die Krümmung ausgeführt wird, ändern wir die Tem- peratur, sogleich konstatieren wir eine Veränderung der Geschwindig- keit, mit der die Krümmung sich vollzieht. Die durch die Temperatur- senkung oder -steigerung herbeigeführte Veränderung ist eine quan- titative. Es hat einfach eine Interferenz zwischen der Temperatur und den Faktoren, welche bisher im Spiel waren, stattgefunden. d) Sobald die Wurzel wieder vertikal geworden ist, fängt sie von neuem an, sich durch ein regelmäßiges und beständiges Wachstum nach abwärts zu verlängern, solange die Protoplasmathätigkeit nicht 46 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. gestört ist. Wenn wir aber die Wurzel dem Lichte aussetzen, werden die verschiedenen Reaktionen, welche durch ihr Zusammenwirken die Verlängerung veranlassen, verlangsamt; wir schaffen von neuem eine Interferenz. e) Betrachten wir nun eine viel ältere Wurzel. Die wurzel- bildenden Zellen, welche in symmetrischer Weise auf die geraden Teile verteilt sind, entwickeln sich ganz gleichmäßig, und die Wurzel um- giebt sich auf ihrer ganzen Oberfläche mit Sekundärwurzeln. Nur auf der konkaven Seite des gekrümmten Teiles wird den Reizen, welche die Entwicklung der Wurzeln bewirken, durch einen Hemmungs- reiz entgegengewirkt und als Endergebnis dieses Widerstreites fehlen auf der konkaven Seite die Sekundärwurzeln. Das ist auch eine Interferenz; sie hat die Reaktion so stark eingeschränkt, dass jede äußere Erscheinung ausbleibt. Wie man sieht, besteht die quantitative Veränderung oder Inter- ferenz in einem Wechsel der Geschwindigkeit oder der Intensität, mit der sich eine Reaktion abspielt. Die qualitative Veränderung oder Reaktion unterscheidet sich von der Interferenz vielleicht nicht durch die Art der Protoplasmaveränderungen, welche sie herbeiführen, aber der sichtbare Erfolg ist ein ganz anderer. Wir haben es hier mit der Ent- stehung einer neuen Sache zu thun, welche selbst nicht in Form einer schwachen Andeutung erzeugt worden wäre, wenn der Reiz nicht ein- gewirkt hätte. Hüten wir uns dennoch wohl, uns einer Täuschung über den wirk- lichen Wert der Unterscheidung zwischen Interferenz und Reaktion hin- zugeben. Es genügt mir, dass diese Gruppierung einen Fortschritt darstellt im Vergleich zu dem, was bisher vorgeschlagen worden ist. Aber selbst wenn es möglich wäre die Einteilung der Erregungen durch jene der Empfindungen ersetzen zu können, so wäre das nur solange ein wirklicher Fortschritt, bis man die Kenntnis von den äußeren Reizen durch jene von den feinen Vorgängen ersetzen kann, welche sich im Protoplasma verbergen. Die Wörter „Interferenz“ und „Reaktion“ haben daher meiner Meinung nach nur eine relative und provisorische Bedeutung. Da die Aktionen besser untersucht sind als die Interferenzen, so wollen wir mit diesen beginnen. I. Qualitative Umwandlungen oder Reaktionen. Die Reaktion kann nur durch die Endwirkung bestimmt sein, ohne dass man in der Lage wäre, Rechenschaft zu geben von den Ver- änderungen der die elementaren Reaktionen, welche sich im Augenblieke der Reizung abspielen, noch von den vielen Reaktionen, welche jedenfalls eine ununterbrochene Kette bilden müssen von der Reizung bis zum Sichtbarwerden der Wirkung. Wir wissen z. B., dass eine geotropische Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 47 Krümmung durch einseitige Abänderung des Längenwachstums herbei- geführt wird und dass sie fixiert wird durch den einseitigen Zufluss von Protoplasma und durch die einseitige Verdickung der Zellwände, aber nichtsdestoweniger ist es die Krümmung selbst, welche einzig diese Reaktion zu charakterisieren vermag. Ein anderes Beispiel. Col- pidium (Infusor), dessen ruhiges Schwimmen in diesem Augenblick nur von inneren Reizen beherrscht wird: die Cilien bewegen sich in rhyth- mischer Weise und der Körper folgt einer Schneckenlinie. Plötzlich beginnt ein äußerer Reiz das Spiel der Cilien zu verändern. Das Infusor nimmt eiue starke Erschütterung wahr; es beginnt sofort die Richtung der Ciliarbewegung umzukehren und schwimmt plötzlich zurück (Pho- bismus). Wenn der Reiz eine leichte hypertonische Lösung ist, werden die Bewegungen der frontalen Cilien übertrieben und das Indi- viduum neigt sich auf die Rückenseite (Clinismus). Wenn endlich als Reiz der elektrische Strom einwirkt, schlagen die frontalen Cilien viel stärker, aber immer gegen den Mund zu, während die anderen Cilien in einer Richtung sich bewegen, welche von der Richtung des Stromes bestimmt wird; schließlich wird das Infusor parallel zur Stromrichtung mit seinem vorderen Ende gegen die Kathode gerichtet sein (Taxis- mus). Alle diese verschiedenen Reaktionen sind durch die Verände- rungen der Ciliarbewegungen erzeugt. Nichtsdestoweniger werden wir sie als ebenso viele verschiedene Reaktionen betrachten. Die Reaktionen können in vier Abteilungen unterschieden werden: formbildende Reaktionen, motorische, chemische und schließlich solche, welche nicht in eine der vorhergehenden Abteilungen passen. 1. FormbildendeReaktionen. Das sind jene, welche die Ent- stehung von Zellen oder Organen veranlassen. Die Zellen oder die Organe haben immer eine bestimmteRichtung oder Lokalisation mit Bezug auf den Reiz oder in Bezug auf den Körper. In diesem letzteren Falle handelt es sich auch kurz gesagt um eine Reaktion gegenüber einem inneren Reize, nach dem sich die Zellwände orientieren. Wir wissen z. B., dass in den keimenden Sporen von Equisetum die erste Scheidewand immer senkrecht zur Richtung des Lichtes gebildet wird (Stahl 1885). Der richtende Einfluss des Reizes ist hier offenkundig, Wenn man aber auf dem Vegetationspunkt von Halopteris (Alge) längsgestellte Scheidewände sich bilden sieht, während andere senkrecht zur Axe stehen und noch andere einen bestimmten Winkel mit der Axe bilden, und wenn diese Scheidewände in einer bestimmten Ordnung aufeinander folgen, kann man dann zweifeln, dass diese Regelmäßigkeit durch innere Reize herbeigeführt worden ist? «) Merismus. Zellteiluing, Teilung der Zellorganellen oder dichotomische Teilung von Organen. Dass diese Teilungen von Reizen bedingt sind, ist nicht zweifelhaft. Unglücklicherweise kennen wir beinahe in keinem Falle diesen Reiz. 48 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. $8) Neismus. Entstehung neuer Organe an einem gegebenen Punkte. Z. B. Bildung von Wurzeln an einem Steckling, Bildung von Auswüchsen an einer verletzten Stelle bei Fueus (Alge), die Ent- stehung der Saugwurzeln an den Stengeln der Flachsseide an den Punkten, wo sie ihren Wirt berührt. 2. Motorische Reaktionen. Bei den beweglichen Organismen kommen zweierlei Bewegungsarten in Betracht: a) Die Ortsveränderungen, welche meist durch Cilien (oder Geißeln) oder Pseudopodien, odermanchmaldurch innere Protoplasmakontraktionen erzeugt werden. b) Die Winkelbewegungen, welche aus einer Ab- änderung in der Thätigkeit der Cilien, Geißeln oder Pseudopodien hervorgehen. — Die auf ihrer Unterlage feststehenden Pflanzen können nur Winkelbewegungen ausführen, die am häufigsten aus einer Modi- fikation des Längenwachstums resultieren. Es ist wichtig, mit Genauigkeit die Bezeichnung für die Winkel- bewegung bei den beweglichen Organismen zu bestimmen. Die An- häufungen von Euglena (Flagellate) an den am stärksten beleuchteten Stellen einer Flüssigkeit wird durch das Zusammenwirken zweier Re- aktionen hervorgebracht: eine Winkelbewegung, welchedie Richtung der Flagellaten gegen das Licht bedingt und welche zu wirken aufhört, sobald dieser Erfolg erreicht ist (Taxismus), und hernach einer Schwimm- bewegung (Nectismus), welche sie vorwärts führt. Der Taxismus be- wirkt einzig, dass Euglena in die richtige Richtung gebracht wird und sie wieder einnehmen, wenn sie davon abweichen. Wenn wir sagen: „der Phototaxismus leitet die Euglena gegen die Lichtquelle“, so unterdrücken wir wissentlich die zweite Reaktion in unserem Aus- druck; man darf niemals vergessen, dass wir diese Weglassung machen. Wählen wir ein anderes Beispiel. Die Anhäufung von Bakterien in einer Capillarröhre, welche eine Lösung von Fleischextrakt enthält, ist gleichfalls durch zwei verschiedene Reaktionen bedingt. Die Schwimm- bewegung führt die Bakterien zufällig vor die Oeffnung des Rohres, in die Diffusionssphäre des Fleischextraktes. Von diesem Augenblick an sind die Mikroben in einer Falle gefangen, denn sobald ihre Schwimmbewegungen die Schwelle der Diffusionssphäre zu überspringen streben, wirft eine heftige Rückwärtsbewegung sie von der Oeffnung des Rohres zurück (Rothert 1901). Alle Individuen dringen endlich in das Rohr hinein. Sobald sie in die Röhre eingedrungen sind, ver- hindert dieselbe Reaktion (Phobismus), welche sie in der Diffusionszone festhielt, sie von jetzt ab zu verlassen. Wie man sieht, ist hier nicht der geringste Taxismus im Spiel. In keinem Augenblick giebt es eine Winkelbewegung, und die Anhäufung der Bakterien ist einzig durch zwei Ortsbewegungen bedingt. A. Ortsbewegungen. Wir erörtern nur jene, welche durch gut bekannte Mittel erzeugt werden, indem wir die Bewegungen der Os- Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 49 eillatoriaceen,Beggiatoaceen, Diatomeen, Gregarinen etc. beiseite lassen. a) Neetismus. Schwimmen vermittelst der Cilien oder Geißeln bei den Schizomyeeten, Flagellaten, Zoosporen der Rnizopoden, Algen und Pilze, Infusorien, beinahe allen Spermatozoeu und vielen sehr jungen Larven. Die einzelligen Lebewesen schwimmen im allgemeinen nicht geradlinig: sie beschreiben häufig eine Schneckenlinie, welche sich entweder aus der Art, mit der die Bewegungsorganellen schwingen, oder aus der Körperform ergiebt. 8) Herpismus. Kriechen mit Hilfe sehr verschieden geformter Pseudopodien. Die‘ Rhizopoden, niederen Flagellaten und gewisse Sporozoen, Leukocyten, einige Zoosporen und Spermatozoen zeigen diese Art der Bewegung. In diese Abteilung könnte man auch die intracellulären Protoplasmabewegungen mit einbeziehen (Rotation und Cirkulation). y) Phobismus. Von vielen Organismen wird bei Gegenwart eines „unangenehmen“ Reizes ein heftiges Zurückweichen ausgeführt. Diese Aktion war zum erstenmale von Engelmann (1882) bei einem Bakterium beobachtet worden, der ihrden Namen „Schreeckbewegung“ gegeben hat, welchen Terminus ich mit Phobismus übersetze. Jennings (1897 und 1899) hat den Phobismus bei Paramaecium Aurelia (Infusor) untersucht, wo er sehr häufig ist. Er ist auf diese Weise, dass dieses Infusor auf chemische Substanzen, konzentrierte Lösungen, Wärme, Erschütterung ete. reagiert. Der Autor verwechselt Phobismus und Taxismus. Ganz neuerdings hat Rothert (1901) ihn bei verschiedenen Bakterien wieder studiert, er trennt ihn auch nicht vom Taxismus ... In Wirklichkeit ist der Phobismus ganz verschieden vom Taxismus: er ist gekennzeichnet durch ein direktes Zurückweichen, d. h. durch die Bewegung, durch welche der Organismus, ohne eine Drehung um seine transversale Axe, in der Richtung seines früher nach hinten gewendeten Endes zu schwimmen anfängt. 6) Proteismus. Mehr oder weniger plötzliche Verkürzung der Längsaxe, die Gestalt des Körpers wird für gewöhnlich ver- ändert. Viele niedere Organismen (Gregarinen, Flagellaten, In- fusorien) können ihren Körper so stark einziehen, dass die Längs- axe viel kürzer wird als der Durchmesser; zur selben Zeit führt der Körper häufig ziehharmonikaähnliche Bewegungen aus, nament- lich bei den Flagellaten (Euglena, Eutreptia), bei denen diese Be- wegungen den Namen Metabolismus erhalten hatten. Bei gewissen Formen ist die Kontraktion nieht symmetrisch, so dass sich der Körper krümmt. Man kann in dieser Abteilung auch noch die Bewegungen unter- bringen, welche die Stiele vieler festsitzender peritricher Infusorien (Vorticella ete.) ausführen. XXI. 4 50 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. B. Winkelbewegungen. Diese sind Reaktionen, welche die Axe des Gesamtkörpers (bei den beweglichen Organismen), oder die Axe eines Organes (festsitzende Pflanzen) in eine neue Stellung bringen, derart, dass sie einen Winkel mit der ursprünglichen Stellung bildet; sie be- dingen niemals irgend eine Fortbewegung des Körpers. In ihrer neuen Stellung wird die Axe des Organes oder des Orga- nismus entweder in Bezug zum Reiz oder zum Körper in eine be- stimmte Richtung gebracht. Dieser zweite Fall kann sich auch zeigen, selbst wenn der Reiz von außen kommt. So rufen Veränderungen in der Beleuchtung Krümmungen der Blätter von Oxalis und vieler anderer Pflanzen hervor: die Blättehen entfernen oder nähern sich einander, d. h. sie nehmen ganz bestimmte Stellungen zum Blattstiel ein, aber niemals in Bezug auf das Licht. Ich könnte z. B. auch noch auf Colpidium hinweisen (s. S. 47). Wir haben gesehen, dass unter dem Einfluss eines ganz genau lokalisierten äußeren Reizes (eine zu kon- zentrierte Lösung) das Infusor gleichfalls eine Reaktion (Clinismus) ausführt, welche aber durchaus keine bestimmte Richtung in Bezug auf diesen Reiz aufweist. Wir wollen die Reaktionen, welche in Bezug auf den äußeren Reiz selbst eine bestimmte Richtung aufweisen und jene, bei denen die Richtung durch den Körper, d. h. einen inneren Reiz bestimmt wird, gesondert untersuchen. Der Unterschied zwischen den beiden Kate- gorien besteht also darin, dass bei der ersteren die sichtbare Richtung durch eine äußere Wirkung (Geotropismus) bedingt wird, während sie bei der zweiten gänzlich unter der Abhängigkeit innerer Reize steht (Exonastismus der Blüten zur Zeit ihres Aufblühens), oder wenigstens ein innerer Reiz die Aktion regelt, welche ein äußerer Reiz’ hervorgebracht hat (Bewegungen der Blätter bei Tagesstellung und bei Nachtstellung). In diesem letzteren Falle wirkt die äußere Ursache nur durch ihre Stärke, während in dem Falle. wo der äußere Reiz einen be- stimmenden Einfluss auf die Aktion ausübt, er nicht nur durch seine Stärke allein, sondern auch vor allen Dingen durch seine Richtung wirkt, z. B. bei der Krümmung der Lufthyphen des Phycomyces (Pilz) gegen das Licht. Ebenso wie bei jeder richtigen und natürlichen Einteilung der Lebensvorgänge begegnen uns auch hier schwierige Fälle. Wir haben schon früher gesehen, dass eine Wurzel, welche sich zu krümmen beginnt, sich wieder gerade zu richten strebt und dass, wenn die Krümmung fest geworden ist, die an den Seiten entstandenen Wurzeln sich nach außen krümmen. Es handelt sich hier um Beispiele von Reaktionen, bei denen die richtende Wirkung in Beziehung zu einem Reiz bekannten Ursprunges steht; aber da die Richtung auch zum Körper der Pflanze in Beziehung steht, werden wir diese Reflexe in die zweite Abteilung einreihen. Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. ap 1. Reaktionen, deren Richtung durch den äußeren Reiz geregelt wird. Unter der Richtung des Organes nach der Aktion verstehen wir einzig die Richtung desjenigen Teiles, welche den äußeren Reiz wahrnimmt. Wenn wir also sagen, die Blüte eines Stiefmütterchens wende sich gegen das Licht, so haben wir nur die Endstellung der Blüte selbst im Auge, indem wir von den häufig sehr ungewöhnlichen Richtungen, welche der Stiel annimmt, absehen. Mit Rücksicht auf den richtenden Einfluss des Lichtes zeigen die Desmidiaceen eine sehr sonderbare Eigentümlichkeit: sie drehen abwechselnd die beiden Enden gegen das Licht (Stahl 1880). a«) Taxismus. Abweichung des Körpers der einzelligen Lebe- wesen und Larven; z. B. Elektrotaxismus (s. S. 20), Phototaxismus (s. S. 16, 19). ß) Tropismus. Die hinlänglich bekannten Krümmungen, welche die pflanzlichen Organe vollführen; z. B. Geotropismus (s. S. 18). y) Strophismus!). Die Torsion, welche von den pflanzlichen Organen ausgeführt wird; z. B. Photostrophismus (8. S. 43). 2. Reaktionen,derenRichtung in Beziehung zum Körper steht. &) Clinismus. Neigung der Körperaxe bei den einzelligen Lebewesen von der Art, dass die Körperaxe einen Winkel mit der ur- sprünglichen Stellung bildet (Jennings 1897, 1899, 1900). In den am besten bekannten Fällen wird der Clinismus durch andere Cilien her- vorgerufen als der Taxismus (Pearl 1900). Es ist daher verhältnis- mäßig leicht, die beiden Reaktionen voneinander zu unterscheiden, was von Jennings vernachlässigt wurde. Bei den Flagellaten ist die Unterscheidung viel schwieriger, weil dieselben Geißeln wirksam sind. Schließlich bei den Amoeben und anderen Pseudopodien aus- sendenden Zellen ist es aufgelegter Maßen unmöglich, Clinismus, Taxismus und selbst Phobismus zu unterscheiden, weil der Körper zu keiner Zeit eine bestimmte Axe besitzt. ß) Nastismus?). Die Krümmungen, welche die pflanzlichen Organe unter der Einwirkung sehr verschiedener Reize ausführen. Sie sind oft mit Tropismus verwechselt worden. Wir nennen besonders die Krümmungen, welche im allgemeinen viele horizontale Organe gegen die ventrale Seite ausführen, z. B. die Ausläufer von Lysimachia Nummularia (Primulacee), die Schließ- und Oeffnungsbewegungen der Blüten, die Tag- und Nachtstellung der Blätter, das Sichwiederauf- richten der neuerlich gekrümmten Organe. y) Helieismus. Eine Torsion, welche am häufigsten in einem 4) Schwendner und Krabbe (1892) nennen diese Aktion „Tortis- mus“. Czapek (1898) hat den gegenwärtigen Terminus eingeführt. 2) Das Wort „Nastie“ wurde zum erstenmal von H. de Vries (1872) in dem Sinne, wie wir es anwenden, gebraucht. 4* 59 Reinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. bestimmten Alter bei pflanzlichen Organismen eintritt, z. B. bei den Wickelranken (s. S. 17) oder bei den Früchten von Streptocarpus ete. 3. Chemische Reaktionen. Es ist sicher, dass jede wie immer geartete Reaktion von chemischen Veränderungen begleitet wird; woher käme andernfalls die notwendige Kraft? Aber einige Reflexe werden allein durch ein chemisches Phänomen sichtbar: z. B. die Absonderung (Sekretion) der Enzyme bei Drosera (fleischfressende Pflanze), welche ein Insekt gefangen hat; die Absonderung der Säure in den Ernährungsvakuolen eines Protozoen (Le Dantec 1890); die Schleimbildung bei vielen niederen Organismen (Klebs 1886). Es giebt ohne Zweifel noch viele andere Beispiele, wo sich ein vorher nicht vorhandener Körper nach einem passenden Reiz bildet; diese Er- scheinungen sind durchaus nicht genügend bekannt. 4. Verschiedene Reaktionen. Die niederen Organismen zeigen eine gewisse Anzahl von Reaktionen, die in keine der vorhergehenden Ab- teilungen gehören. Man kann besonders die folgenden hervorheben: «) Photismus. Aussendung von Licht unter Einfluss eines Reizes, 2. B. bei Noctiluca (Massart 1893). ß) Bolismus. Austreibung der Trichocysten oder anderer ähn- licher Zellorganellen bei verschiedenen Infusorien (Massart 1901). y) Sphygmismus. Bildung neuer kontraktiler Vakuolen durch Einwirkung eines Reizes (Massart 1901). (Schluss folgt.) Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“, Von J. Reinke. (Schluss.) Gegen diese Lehre von der Maschinenstruktur des Lebendigen richtet nun aber Bütschli seine Angriffe, obgleich er sagt (S. 72), dass wir „eine richtig gebaute und arbeitende Maschine in gewissem Sinne organisiert nennen könnten“. Er bestreitet also nicht die weit- gehende Uebereinstimmung zwischen Organisation und Maschinen- struktur, aber er beschränkt diese Analogie ausdrücklich auf die höheren Organismen. (S. 72) „Was bleibt bei einem Mikrococeus von Organisation übrig?“ fragt er. Wo also eine Zelle sehr klein wird und der mikroskopischen Analyse dadurch Schwierigkeit bereitet, hört danach die Organisation auf. Man fragt sofort: wo ist denn die Grenze der kleinen, nicht organisierten Lebewesen gegen die größeren, organisierten? Wenn ich selbst dem Elementarorganismus und ausdrücklich auch dem Protoplasma Organisation, d. h. Maschinenstruktur zuschreibe, so habe ich diese Maschinenstruktur, abgesehen von einer Reihe anderer Gründe, schon aus der Thatsache gefolgert, dass das Protoplasma in seinen Lebensverrichtungen eine Maschinenthätigkeit ausübt, worunter ich chemische Fabrikthätigkeit subsumiere. Dass der Elementarorganismus Reinke, Bemerkungen zu ©. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. 53 D JO eine überwiegend mit chemischer Energie arbeitende Maschine ist, habe ich oft genug hervorgehoben; aber diese so harmonisch geordneten Arbeiten des Protoplasmas wären gar nicht denkbar ohne eine ent- sprechende Konfiguration, die das Protoplasma zum eigentlichen Elementarorganismus macht und es dadurch als eine chemisch ar- beitende Maschine erscheinen lässt. Ohne Annahme einer spezifischen Struktur bezw. Form ist der Stoffwechsel nicht zu begreifen; und Kant’s Definition: „Ein Körper, dessen bewegende Kraft von seiner Figur abhängt, heisst Maschine“, bleibt auch hier in Kraft, denn nie- mand wird das Wort Figur auf den äußeren Umriss beschränken und die innere Konfiguration davon ausschließen wollen. Allerdings be- merkt Bütschli dann auch wieder (S. 76), dass er „eine maschinelle Struktur der Zelle, insofern diese sich aus verschiedenen Organen auf- baue (Kern, Centrosom, Plasma und dessen eventuellen Differenzierungs- produkten) nicht leugne“, seine Ansicht sei aber die, „dass die Sub- stanz dieser Zellorgane, insofern sie nicht als zusammengesetzt erkenn- bar ist, eine solche Hypothese über ihre maschinelle Struktur nicht erfordere“. Wo bleibt da wieder der Mikrococeus!) ? Im Zusammenhang damit tritt Bütschli für die Zulässigkeit des Vergleiches eines Krystalls mit einem Organismus ein (S. 80). Dem gegenüber möchte ich nur hervorheben, dass der Organismus doch durch die Maschinenarbeit, die er verrichtet, sich ganz fundamental vom Krystall unterscheidet. Dann folgt wieder der Satz: „dass eigent- lich der eigenartige, von ganz besonderen chemischen Einrichtungen bedingte Stoffwechsel des Organismus dasjenige ist, was ihn in letzter Instanz charakterisiert“. Bin ich hiermit auch einverstanden, so bleibt doch nicht zu übersehen, dass auch die Dampfmaschine ihren eigen- artigen chemischen Stoffwechsel besitzt und das galvanische Element nicht weniger. So gut letzteres eine Maschine ist, so lege ich auch dem Protoplasma Maschineneigenschaften bei. Ferner heisst es bei Bütschli: „Die Form hat für den einfachsten Organismus, der ja eigentlich formlos sein kann, nur eine sehr geringfügige Bedeutung. Im komplizierten Lebewesen dagegen erlangt sie allmählich eine immer mehr steigende Bedeutung, da sie es ist, welche das Maschinelle im höheren Organismus darstellt“. Ich behaupte eine gleiche Bedeutung der Form, d. h. der Konfiguration auch für das Protoplasma, dessen geregelte Lebensthätigkeit ohne entsprechende Strukturform undenkbar wäre. Wenn allerdings Bütschli das erste Protoplasma durch Zu- fall aus anorganischen Stoffen entstanden sein lässt (vergl. z. B. S. 85), so muss er sich gegen Anerkennung einer Maschinenstruktur desselben auf das heftigste sträuben. 4) In einer Hinsicht bin ich mit Bütschli einverstanden, das ist in der Verwerfung der Pangenesis in jeder Form, weil ich sie für überflüssig halte. (Vergl. Bütschli S. 75; S. 89.) 54 Reinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus®. Ich muss hier noch eines weiteren Angriffes gedenken, denBütschli gegen mich richtet (S. 78). In meinem Satze, dass ein im Mörser zer- riebenes Plasmodium so wenig noch Protoplasma sei, wie eine zu Pulver zerstoßene Taschenuhr noch eine Taschenuhr sein würde, glaubt Bütschli die Berechtigung bestreiten zu sollen, das Protoplasma mit einer Taschenuhr zu vergleichen. Wenn ich nun gesagt hätte, was doch gleichbedeutend wäre, dass zerriebenes Plasmodium so wenig Protoplasma wäre, wie ein zu Pulver zerstoßener Milchtopf noch ein Milehtopf, würde Bütschli dann auch dagegen protestieren, dass ich das Protoplasma mit einem Milchtopf verglichen hätte? Es folgt dann der geradezu unverständliche Satz: „Reinke scheint zu meinen, dass das lebende Protoplasma des Plasmodiums thatsächlich aus denjenigen Proteinen bestehe, die er und Rodewald daraus gewonnen haben“. Dagegen ist zunächst zu bemerken, dass die Analyse des Plasmodiums von Aethalium denn doch zahlreiche andere Stoffe ergab, als nur Proteine. Dass aber eine Mischung aller der. „gewonnenen“ Stoffe noch lange kein lebendiges Protoplasma liefern würde, habe ich als meine Ueberzeugung gerade ausdrücklich hervorgehoben. Wenn un- mittelbar darauf gesagt wird, „als eine maschinelle Struktur überhaupt nicht die Bedingung chemischer Vorgänge sein kann“, so erlaube ich mir nochmals, auf die maschinelle Struktur jedes galvanischen Ele- ments, jedes mit einem Liebig-Kühler verbundenen Destillations- apparates und auf alle die anderen Apparate hinzuweisen, ohne die heute ein Chemiker nicht auszukommen vermöchte. Die Zelle ist eben ein chemisches Laboratorium, d. h. ein maschineller Apparat kom- plizierter Art und keine Chemose, d. h. eine Verbindung oder eine bloße Mischung von Verbindungen, wie ich sie erhalte, wenn ich in einem Becherglase eine Anzahl Verbindungen zusammengieße. Wenn wir heute die maschinelle Struktur des Elementarorganismus im Ein- zelnen noch nicht zu durchschauen vermögen, so beweist dies nichts gegen meine Vorstellung, die wir unabweislich aus der Besonderheit der chemischen Arbeiten des Elementarorganismus folgern müssen. Wenn Bütschli schließlich meint, dass mein angeblicher Beweis für die Maschinenstruktur des Protoplasmas ihm um so weniger zwingend erscheine, „als alle Energie, welche diese Maschinenstruktur in Thätigkeit setzt, ja doch von chemischen Prozessen geliefert würde und schließlich mit der Maschinenstruktur nichts weiter erklärt oder verstanden wird“, so kann mich dies nicht abhalten, mir auch ferner die Lebensthätigkeit des Protoplasmas unter dem Bilde und nach der Analogie einer „maschinellen“ Arbeit vorzustellen. — — — Bütschli behandelt noch eine Reihe von Fragen, die mit seinem Problem im engeren oder weiteren Zusammenhange stehen. So widmet er eingehende Erörterungen der Kausalität des Naturgeschehens, worauf hier aber nur kurz eingegangen werden kann. Reinke, Bemerkungen zu O, Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. 55 Zunächst wird mit Recht hervorgehoben, dass alle Veränderungen in der Natur von Bedingungen abhängig sind (S. 11). Von diesen Bedingungen soll eine, die er als wirkende Ursache vor den übrigen, den bedingenden Ursachen, aussondert, sich vor letzteren dadurch auszeichnen, dass sie freie Energie besitzt und diese an das sich ver- ändernde Ding abgiebt. Jene wirkende Ursache wird später auch Ursache schlechtweg genannt. Dazu bemerke ich, dass diese Ablei- tung des Begriffes Ursache mindestens ungewöhnlich ist; für gewöhn- lich pflegt man unter Ursache die Summe oder das Integral aller positiven und negativen (d. h. fördernden oder hemmenden) Bedingungen eines Geschehens zu verstehen. Alle jene Bedingungen werden wir einteilen können in nächste, fernere und letzte. In der Regel sind nur die nächsten Bedingungen eines Geschehens unserer Wahrnehmung zu- gänglich, und auch unter ihnen pflegen wir dann im praktischen Sprachgebrauch häufig eine einzige als Hauptbedingung auszusondern und geradezu die Ursache zu nennen. Ganz ohne Willkür geht es dabei aber kaum ab. Der Begriff der Ursache, die etwas bewirkt, berührt sich eng mit dem der Kraft, wie auch aus dem in meinem Hamburger Vortrage mitgeteilten Citate aus Helmholtz ersichtlich ist. Für ganz unzu- lässig aber halte ich es, wenn Bütschli den Begriff der Ursache mit dem der Energie verquickt oder gar identifiziert. Das geschieht nicht nur S. 11, sondern S. 59 wiederholt er ausdrücklich, „dass Energie identisch ist mit dem, was wir auch als wirkende Ursachen bezeich- neten“. und S. 69 heisst es, „ich blieb doch immer etwas im Zweifel, ob es möglich ist, damit die wirkenden Ursachen oder Energien fest- zustellen, welche die Entwickelung bedingen“. S. 11 und 12 heisst es ferner, dass die wirkende Ursache von B ihrer Quantität nach in dem bewirkten Zustande von A sich wiederfindet; bei der Auslösung soll aber kein solches Verhältnis zwischen wirkender Ursache und Wirkung bestehen. Das ist unklar; in Wirklichkeit verhält es sich so, dass die auslösende Ursache, sofern sie einen Vorrat von potentieller Energie in kinetische Energie überführt, mit letzterer nicht numerisch gleichwertig zu sein braucht; aber der Auslösungsprozess selbst be- ruht auf einem Akte mechanischer Arbeit, die natürlich der auslösenden Kraft bezw. Energie proportional ist. Somit ist gerade die auslösende Ursache eine Energie. Bütsehli meint (S. 66), es sei unrichtig, wenn Kirchhoff sage, dass der Begriff der Ursache sich von gewissen Unklarheiten nicht befreien lasse. Mir ist es recht zweifelhaft geblieben, ob es Bütsechli gelang, den Kausalbegriff zu erklären. Mit seiner Gleichsetzung von wirkender Ursache und Energie dürfte er wenig Zustimmung finden'). 4) Dann wäre der Begriff „Ursache“ ja nur anwendbar auf dem Gebiete der mechanischen Arbeit! 56 Reinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. Ich beschränke mich hier darauf, die Erörterung der Kausalität abzu- schließen mit zwei Aussprüchen von E. Mach, einem unserer hervor- ragendsten Denker, dem auch Bütschli mehrfach seine Anerkennung nicht versagt. Die erste Stelle findet sich S. 455 von Mac h’s Mechanik und lautet: „Wenn wir von Ursache und Wirkung sprechen, so heben wir unwillkürlich jene Momente heraus, auf deren Zusammenhaug wir bei Nachbildung einer Thatsache in der für uns wichtigen Richtung zu achten haben. In der Natur giebt es keine Ursache und keine Wirkung. Die Natur ist nur einmal da. Wiederholungen gleicher Fälle, in welchen A immer mit B verknüpft wäre, also gleiche Er- folge unter gleichen Umständen, also das Wesentliche des Zusammen- hanges von Ursache und Wirkung, existieren nur in der Abstraktion, die wir zum Zweck der Nachbildung der Thatsachen vornehmen“. — Die zweite Stelle entnehme ich Mach’s populär-wissenschaftlichen Vorlesungen S. 277, wo es heisst: „Ich hoffe, dass die künftige Natur- wissenschaft die Begriffe Ursache und Wirkung, die wohl nicht für mich allein einen starken Zug von Fetischismus haben, ihrer formalen Unklarheit wegen beseitigen wird. Es empfiehlt sich vielmehr, die begrifflichen Bestimmungselemente einer Thatsache als abhängig von- einander anzugeben, einfach in dem rein logischen Sinne, wie dies der Mathematiker, etwa der Geometer, thut. Die Kräfte treten uns ja durch Vergleich mit dem Willen näher; vielleicht wird aber der Wille noch klarer durch den Vergleich mit der Massenbeschleunigung“. Ohne meine Auffassung mit der von Mach identifizieren zu wollen, schienen jene Sätze mir bei der hohen Bedeutung ihres Urhebers doch interessant genug, um sie in diesem Zusammenhange anzuführen. Betrachten wir nunmehr die Stellungnahme Bütschli’s gegenüber dem Zweckbegrif. Während er die von Kirchhoff und Anderen hervorgehobene Unklarheit des Begriffes der Ursache bestreitet, sagt er S. 86: „Wenn es erlaubt ist, sich über die Dunkelheit eines Be- griffes zu beklagen, so gilt dies gewiss für den des Zweckes“. Gleich darauf erklärt er, dass er im Hinblick auf das Geschehen in der Natur „Motive oder Zwecke“ nie wirklich kenne; er müsse sich „stets zuerst schlüssig machen, zu urteilen, was er denn eigentlich erwarte, dass geschehen sollte“. — Hierin giebt sich Bütschli’s prinzipielle Stellung zur Finalität zu erkennen. Ob die Beurteilung der doch wohl meistens anerkannten Zweckmäßigkeit der einzelnen Teile des Auges, der Cor- tischen Fasern im Ohr u. s. w. dadurch erleichtert wird, erscheint mir fraglich. Auch was Bütschli S. 29 über Finalität sagt, scheint mir zur Förderung der Frage wenig beizutragen; man vergleiche damit den Abschnitt über Finalität in E. v. Hartmann’s Kategorienlehre (Leipzig 1896) S. 431ff. Wenn z. B. Bütschli S. 31 bemerkt, dass Zweckgeschehen und Bewusstsein nicht willkürlich voneinander trenn- bare Erscheinungen sind, so möchte ich diesem Satze den Ausspruch Reinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“. 57 Hartmann’s gegenüberstellen (1. e. S. 454): „Die bewusste Finalität ist nur die höchste und letzte Blüte der unbewussten Finalität“ sowie den anderen (S. 443): „Dass in der Welt der Individuation reale Finalbeziehungen bestehen, wird schwer zu leugnen sein, wenn man nicht auf jede Welterklärung verziehten will“. | Soweit aber Bütschli zweckmäßige Einrichtungen an den Orga- nismen doch nicht in Abrede stellen kann, sucht er sich dieselben mundgerecht zu machen, indem er sich auf den Standpunkt des „Dar- winismus“ (soll wohl soviel heißen wie Allmacht des Selektionsprinzips) stellt unter Beiseiteschiebung aller an demselben geübten Kritik seit Wigand, Nägeli, E. v. Hartmann bis auf G. Wolff. Dem gegenüber kann ich meine Ansicht nur dahin äußern, dass das Er- gebnis des Streites über die Tragweite des Selektionsprinzips mir Aus- druck zu finden scheint in folgendem Satze von E. v. Hartmann’s Kategorienlehre: „In der organischen Natur kann auch nicht einmal mehr der Schein entstehen, als ob das Zweckmäßige durch die Aus- lese final zufällig entstände“ (l. e. S. 461). In Bezug auf die Leistungsfähigkeit des Zufalls ist Bütschli freilich ganz anderer Meinung. Der Zufall spielt in seinen Anschauungen eine geradezu phänomenale Rolle. Dass nach unserm Sprachgebrauch das zufällige Geschehen im Gegensatz steht zum geordneten, gesetz- mäßigen, notwendigen scheint Bütschli nebensächlich zu sein; als Merkmal des Zufälligen wird dagegen hervorgehoben (S. 23), dass es „ganz unberechenbar und deshalb unmöglich vorauszusagen“ sei. Von dieser Begriffsbestimmung ausgehend erklärt Bütschli, dass in der „wirklichen, nichtlebenden Welt“ mehr Zufall als Nichtzufall sei. Aber auch die nur durch Fortpflanzung sich erhaltenden Orga- nismen sind zufällig entstanden, und in Bezug darauf heißt es S. 25: „Die zufällige Entstehung eines fortpflanzungsfähigen Organismus er- hebt demnach das zufällige Produkt zu etwas Dauerndem, sich regel- mäßig Wiederholendem, wodurch ihm in seiner dauernden, regelmäßigen Suecesion der Charakter des Zufälligen entzogen wird“. Durch diese Behauptung ist die Entstehung der biologischen Gesetzmäßigkeit aus dem Zufall spielend erklärt. Aber noch mehr. Indem Bütschli ver- schiedene Möglichkeiten der ersten Entstehung von Organismen durch- geht und sie alle auf den Zufall zurückführt, endet er mit folgendem Satze ($. 26): „Lassen wir endlich die Organismen durch einen Schöpfungsakt entstehen, so nimmt ihre Entstehung erst recht den Charakter des Zufalls an; denn ein soleher Schöpfungsakt ist un- berechenbar, die Gedanken eines Schöpfers nachzudenken unmöglich“. Weiter sucht Bütschli den Nachweis zu führen, dass auch die Maschinen der Menschen wesentlich dem Zufall zu danken seien (S. 27): „Kompliziertere Maschinen entstanden durch zufällige assoeiative Kom- bination verschiedener einfacher; auch die Dampfmaschine entsprang 58 Reinke, Bemerkungen zu O. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“, nieht einer fertigen Idee, sondern aus zufälligen Beobachtungen über die hebende Wirkung des Dampfdruckes und aus fortgesetztem, lang- dauerndem Probieren neuer, zufälliger, verbessernder und vervoll- kommender kleiner Kombinationen“. Es ist gewiss nicht in Abrede zu stellen, dass für die Erfindung der Dampfmaschine eine zufällige Beobachtung des Erfinders mit in Betracht kam; allein wie unter- geordnet ist dies Moment nicht im Vergleich zu der Größe von In- telligenz, die in jener Erfindung steckt und deren Bütschli gar nicht gedenkt. Wollen wir aber die Taschenuhr, die Dynamomaschine, das Telephon u. s. w. für Produkte des Zufalles erklären, so ist dies in meinen Augen so unrichtig, als wenn wir einen lebendigen Organismus durch Zufall aus anorganischem Material hervorgehen lassen wollten. Nachdem Bütschli dem Zufall auch eine wesentliche Rolle für die Erzeugung des Parthenon zugeschrieben, fasst er seine Gedanken in Bezug auf die Welt des Lebendigen auf S. 28 folgendermaßen zu- sammen: „Dass nun ein zufällig auftretender, erhaltungs- und fort- pflanzungsfähiger einfachster Organismus durch Häufung zufälliger neuer Kombinationen, welche sich erhielten, insofern sie unter den gegebenen allgemeinen Bedingungen zweckmäßig waren, zu höherer Komplikation von zweck- oder erhaltungsmäßiger Funktionierung fort- schreiten konnte, halte ich, trotz der vielen erhobenen Einwände für wahrscheinlich. Nicht ein Zufall wäre in diesem Sinne das Entstehen eines höheren Organismus, sondern eine Häufung zahlreicher Einzel- zufälle unter Fortdauer des Zweck- oder Erhaltungsmäßigen“. Ich vermag in diesen Worten nur eine Selbstkritik dieser neuesten natur- philosophischen Zufallstheorie zu erblieken, die in meinen Augen einen Kommentar überflüssig macht. Unter den übrigen Betrachtungen Bütschli’s sei nur noch in aller Kürze eingegangen auf den von ihm konstruierten Gegensatz zwischen exakten und beschreibenden Naturwissenschaften, sowie auf dasjenige, was er unter Erklären versteht. Er sucht diesen Gegen- satz zu charakterisieren (5.53) als den „jener Wissenschaften, welche die gesetzmäßigen Abhängigkeitsverhältnisse der Veränderungen der Dinge auf experimentellem Wege festzustellen suchen, und derjenigen Wissenschaften, welche die gegebenen Regelmäßigkeiten in der gegen- wärtigen Natur und ihren historischen Wandel im Laufe der Zeit zu ermitteln suchen“. Polemisch wendet er sich gegen Kirchhoff, der in einer kurzen Notiz das vollständige Beschreiben als Aufgabe der Mechanik hingestellt hatte (S. 14 und 64). Bütschli scheint dabei entgangen zu sein, dass H. Hertz in der Einleitung zu seinen Prin- zipien der Mechanik die Zurückführung der Mechanik auf eine be- schreibende Wissenschaft ausführlichst begründet. — Was das Erklären anlangt, so sagt Bütschli darüber (S. 64): „Eine Erscheinung er- klären, ist ihre Ableitung, Rückführung oder ihre Unterordnung unter Reinke, Bemerkungen zu 0. Bütschli’s „Mechanismus und Vitalismus“ 59 eine empirisch bekannte allgemeinere Erscheinung oder Gesetzlichkeit“. Dem gegenüber halte ich daran fest, dass Erklären Beschreiben ist; zu einer vollständigen Beschreibung biologischer Erscheinungen gehört aber auch die Berücksichtigung ihrer kausalen und finalen Abhängigkeit. Obgleich noch eine Reihe weiterer Meinungsverschiedenheiten zwischen Bütschli und mir besteht, will ich hier abbrechen. An wissenschaftlicher Polemik pflegt keiner Freude zu haben, weder die Streitenden noch der unbeteiligte dritte, der Leser; dennoch sind solche Auseinandersetzungen im Interesse des Fortschreitens unserer Er- kenntnis zuweilen unerlässlich. In jeder derartigen Diskussion kommt aber ein psychologisches Moment hinzu, welches Goethe in den Worten andeutet: „Aufrichtig zu sein kann ich versprechen, unparteiisch zu sein aber nieht“. Man macht aus dem besonderen Gesichtspunkte nur zu leicht eine Parteifrage. Ich selbst habe den Vitalismus als gegnerische Partei bekämpft, indem ich traditionell seinen Begriff als Vertreter einer Lebenskraft auffasste. Dem gegenüber erklärt Bütschli unter Verwerfung meiner Hypothese von der Maschinenstruktur des Protoplasmas auch mich für einen Vitalisten. Sollte man ihm insofern zustimmen, als man jeden Vitalist nennt, der gesteht, dass er die Ge- samtheit der Lebenserscheinungen mit Einschluss des Bewusstseins!) in der Gegenwart nicht mechanistisch zu erklären vermag, so will ich gerne ein Vitalist heißen. Thatsächlich scheint mir die derzeitige wissenschaftliche Sachlage folgende zu sein. In der Naturwissenschaft sind wir bemüht, durch Beobachtung und Denkverknüpfung geistige Bilder des natürlichen Geschehens zu gewinnen. Die Erscheinungswelt bietet unserer Be- trachtung aber verschiedene Seiten dar; daher sind verschiedene Bilder der gleichen Objekte möglich. Das gilt insbesondere von den leben- digen Wesen. Je nachdem man deren physico-chemisch analysierbare Eigenschaften betont und in den Vordergrund stellt, oder solche Eigen- schaften, die einer derartigen Analyse widerstreben, wie Fortpflanzung, Vererbung, Entwickelung, Bewusstsein als charakteristisch hervorhebt, wird unser Bild, unsere wissenschaftliche Vorstellung mehr „mecha- nistisch“ oder mehr „vitalistisch“ ausfallen. Das Ideal, dem wir zu- streben, muss die künftige Ueberwindung jenes Gegensatzes sein. Ob wir dies Ideal in unserem Kampfe um die Wahrheit jemals erreichen werden? Heinrich Hertz?) hat in meisterhafter Weise darauf hin- gewiesen, dass es nötig ist, die Zulässigkeit der verschiedenen Bilder 4) Bütschli’s Meinung, dass das Bewusstsein unbedingt an das Dasein eines Nervensystems geknüpft sei, scheint mir auch eine noch unbewiesene Behauptung zu sein. Wer vermöchte eine Gegenbehauptung zu widerlegen, wonach auch die nervenlosen Tiere und die Pflanzen schon Anfänge eines un- vollkommenen Bewusstseins besitzen? Empfinden nicht auch die Bakterien ? 2) Die Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1894, S. 3ff. 60 Zykoff, Das pflanzliche Plankton der Wolga bei Saratow. kritisch zu prüfen und die größere Richtigkeit und Zweckmälßigkeit derselben gegeneinander abzuwägen. Bei Anwendung dieser Grund- sätze wird das Problem des Vitalismus zu einem wesentlich erkenntnis- theoretischen. Ich gehe hier nicht näher darauf ein, weil ich damit beschäftigt bin, die Anwendbarkeit der Hertz’schen Ideen auf die Biologie in einer besonderen Studie zu erörtern. Soviel aber scheint mir festzustehen: heute sind Mechanismus und Vitalismus (im weitesten Sinne) noch einseitige Anschauungen der Lebenserscheinungen, wie z. B. auch die Morphologie und die Physiologie der Organismen es sind, und wir kommen nicht hinaus über den Spruch: Doctrina multi- plex, veritas una. [108] Das pflanzliche Plankton der Wolga bei Saratow. (Vorläufige Mitteilung.) Von W. Zykoff. (Leiter der Biologischen Station in Saratow und Privatdozent in Moskau.) Dr. Bruno Schröder bemerkt in seiner Abhandlung „Das pflanz- liche Plankton der Oder“ !) ganz richtig, „dass uns zur Zeit noch ein- gehende Planktonuntersuchungen großer, langsam fließender Ströme, z. B. der unteren Donau, der Wolga oder des Missisippi, des Amazonen- stromes, fehlen, bei denen der eigentliche Charakter des Flussplanktons viel klarer und deutlicher hervortreten dürfte als in der Oder bei Breslau“. Als Leiter der Biologischen Station an der Wolga bei Saratow habe ich im Sommer vorigen Jahres (Ende April bis Mitte Juli) es für notwendig erachtet, einen bedeutenden Teil meiner Zeit auf das Stu- dium des Phytoplanktons der Wolga zu verwenden. Wenn ich auch eine eingehendere Mitteilung über die Biologie des Phytoplanktons und die Beschreibung der von mir gefundenen neuen Formen auf eine ge- legenere Zeit verschieben muss, so dürfte doch meiner Ansicht nach bei dem völligen Mangel irgend welcher Angaben über das Phyto- plankton nicht nur der Wolga, sondern auch der anderen Flüsse Russ- lands auch eine bloße Aufzählung der Algenspecies der Wolga nicht ohne allgemeines Interesse sein. Folgende Algenspecies sind von mir in der Wolga gefunden worden: I. Schizophyceae. 1. Merismopedium elegans Al. Br. 5. Aphanizomenon flos aquae Ralfs. 2. M. glaucum Näg. 6. Anabaena flos aquae Breb. 3. Clathrocystis aeruginosa Henfr. 7. A. spiroides Klebahn. 4. Tetrapedia emarginata Schröd. 8. Anabaena sp.? II. Bacillariaceae. 9. Oyelotella comta Kütz. 11. Melosira varians Ag. 10. Stephanodiscus HantzschianusGrun. 12. M. granulata Ralfs. 1) Forschungsberichte aus der Biol. St. zu Plön. Teil 7, 1899, S. 20. 13. 14. 15. 16. 12: 18. 19: 20. 29. 30. 31. 34. 3. 36. 37. 38. 39. 40. 41. AR. 43. 44. 45. 46. AT. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73. Zykoff, Das pflanzliche Plankton M. distaas Kütz. Rhizosolenia eriensis H. Sm. Attheya Zachariasi Brem. labellaria fenestrata Kütz. T. fenestrata var. asterionelloides Grun. Diatoma vulgare Bory. D.tenue Kütz. var. elongata Lyngb. Fragilaria virescens Ralfs. 21 22 23 24. 25 26 27 28 der Wolga bei Saratow. 61 . F. capucina Desm. . F. crotonensis Kitton. . Synedra Ulna Ehrbg. var. acti- nastroides Lemmerm. S.acus Kütz var. delicatissima Grun, . Asterionella gracillima Heib. . Cymatopleura Solea W. Sm. . Surirella spiralis Kütz. . Surirella sp.? Ill. Conjugatae. Closterium sp.? Arthrodesmus convergeus Ehrbg. Staurastrum gracile Ralfs. 32 33 . 8. paradoxum Meyen var. chaeto- ceras Schröd. . 5. echinatum Bröb. IV. Phytomastigophorae. Dinobryon stipitatum Ehrbg. D. sertularia Stein. D. ceylindricum Imh. var. divergeus Lemmerm. Mallomonas acaroides Perty. Synura uvella Ehrbg. Pteromonas alata Cohn. P. volgensis nov. Sp. Gonium pectorale Müll. Pandorina Morum Bory. Eudorina elegans Ehrbg. Volvox aureus Ehrbg. Cryptomonas erosa Ehrbg. Euglena acus Ehrbg. E. gracilis Klebs. 48 49 50 51. 52. 93. 94. 55. 6. 57. 58. 59. 60. 61. 62. . E. oxyuris Schmarda. . E. viridis Ehrbg. . E. tripteris Klebs, Phacus pleuronectes O. F. M. P. pyrum Ehrbg. Trachelomonas volvocina Ehrbg. T. hispida Stein. T. acuminata Schmarda. T. lagenella Ehrbg. Ginnodinium sp.? Glenodinium acutum Apst. Glenodinium pulviseulus Stein. Peridinium quadrideus Stein. P. tabulatum Ehrbg. Ceratium hirundinella ©. F. M. V. Chlorophyceae. Scenedesmus quadricauda Breb. 5. obliquus Kütz. var. dimorphus Rabenh. Coelastrum microporum Näg. C. sphaericum Näg. Pediastrum Boryanum Menegh. P. pertusum Kütz. Raphidium polymorphum Fres. Golenkinia radiata Chodat. Acanthosphaera Zachariasi Lem. Richteriella botryoides Lemmerm. R.botryoides var. fenestrata Schröd. Vergleichen wir dieses Verzeichnis Schröder für die Oder aufgestellten !), 1) 1. ec. S. 20-2. 74 75 76 U. 78 79 80 81 82 83 . Tetraspora gelatinosa Dew. . Kirchneriella lunata Schmidle. . Cohniella staurogeniaformis Schröd. Dietyosphaerium Ehrenbergianum Näg. . D. pulchellum Wood. . Lagerheimia wratislawiensis Schröd. . Chodatella ciliata Lemmerm. . Actinastrum Hantzschii Lagerh. var. fluviatile Schröd. . Crucigena rectangularıs Näg. . Ophiocyticum capitatum Wolle. der Algen mit dem vonBruno so sehen wir, dass das Phyto- 62 v. Linden, Untersuchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften. plankton beider Flüsse die größte Aehnlichkeit hat; dass aber das Phytoplankton der Wolga für 2’, Monate eine größere Anzahl von Algenspecies ergab (83) als das Phytoplankton der Oder für 1’), Jahre (65). Unzweifelhaft ist das erstere viel reicher an Arten als das letztere. Ich kann die Richtigkeit des Gedankens von Bruno Schröder durchaus bestätigen, dass „nach dem bisher bekannt gewordenen Vor- kommen von Actinastrum Hantzschi Lagerh. var. fluviatile nov. var. und von Synedra ulna (Nitzsch) Ehrb. var. acti- nastroides Lemmermann ist es also durchaus nicht ausgeschlossen, dass es schwebende potamische, sogen. „autopotamische“ Organismen giebt“). [112] 2/15. Oktober 1901. W, Zykoff. Nachtrag: Das Genus Golenkinia, welches von Chodat?) mit der Art @. radiata festgestellt wurde, ist, wie es sich erwiesen hat, schon längst von Fresenius unter dem Namen Miceractinium pu- sillum?) beschrieben worden. Deswegen muss nach dem Prioritäts- recht das Genus Golenkinia fallen und seitan Golenkinia radiata Micractinium pusillum Fresenius genannt werden. Experimentelle Untersuchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften. In Nr. 18 des XXI. Bandes dieser Zeitschrift wird uns über sehr interessante Züchtungsversuche berichtet, die E. Fischer mit Arctia caja ausgeführt hat, und die gezeigt haben, dass die von diesem Schmetterling unter dem Einfluss künstlich veränderter Lebens- bedingungen erworbenen Eigenschaften auf die Nachkommen vererbt werden, selbst wenn die junge Generation in vollkommen normalen Verhältnissen aufwächst. Fischer ist indessen keineswegs der erste, der derartige Ver- suche ausgeführt hat. Das Verdienst, die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften auf experimentellem Weg gelöst zu haben, gebührt vielmehr Fischer’s ehemaligem Lehrer Standfuss, der schon zwei Jahre früher bei Vanessa urticae gezeigt hatte, dass in der That eine Uebertragung der von den Eltern im Puppenstadium erworbenen Eigenschaften auf die Nachkommen stattfindet. Eine Zu- sammenfassung dieser höchst interessanten Versuchsergebnisse ist im XVI. Jahrgang der Insektenbörse erschienen, scheint aber viel zu A22C. 8.20, 2) R. Chodat. Golenkinia, genre nouveau des Protococeoidees (Journ. de Botan. 8° anne, 1894, p. 305—308, Pl. III). 3) G. Fresenius. Beiträge zur Kenntnis mikroskopischer Organismen (Abh. d. Senkenberg. Naturf.-Ges. Bd. II, 1856-1858, p. 236—237. Taf. XI, Fig. 46—49). v. Linden, Untersuchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften. 63 wenig bekannt geworden zu sein, da nicht einmal in der Fischer'- schen Abhandlung über denselben Gegenstand darauf Bezug genommen worden ist. Um nun Standfuss das ihm gebührende Prioritätsrecht bei der Entscheidung dieser hochwichtigen Frage zu sichern und seinen Ver- suchsergebnissen auch Eingang in weiteren Kreisen zu verschaffen, halte ich es für geboten, die Ergebnisse seiner schönen Experimente an dieser Stelle eingehender zu erörtern. Die sorgfältig vorbereiteten Versuche wurden von Standfuss im Sommer 1897 begonnen und zu Ende geführt. Als Versuchsobjekte hatte er sich die verschiedenen, bei uns vorkommenden Vanessaarten, deren Raupen auf der Brennessel leben, ausersehen, doch gelang es ihm nur bei Vanessa urticae genügendes Material für das Experiment zu erziehen. Die Versuche wurden mit 8231 Puppen begonnen, die alle durch die Einwirkung von Frost mehr oder weniger aberrative Falter ergaben. Am 7. Juni 1897 konnten die ersten anormalen Schmetterlinge in ein zu diesem Zweck besonders eingerichtetes Ge- wächshaus eingesetzt werden, und bis zum 15. Juni befanden sich be- reits 42 Stück, davon 32 Z' und 10 £ unter Beobachtung. Die Männchen waren ohne Ausnahme sehr extrem gebildete Stücke mit oberseits vollkommen geschwärzten Hinterflügeln, von den Weibchen gehörten dagegen nur zwei dieser Varietät an, die übrigen acht Exem- plare hatten blaue Randflecke und teilweise trat auch noch mehr oder weniger braune Grundfarbe am Analwinkel der Hinterflügel hervor. Am 26. Juni zeigte sich das erste Eierhäufchen an der Unterseite eines Nesselblattes, und in den darauffolgenden Tagen konnten acht Weibchen, darunter auch dasanormalste, beim Eierlegen beobachtet werden. Die Eier wurden nie auf einmal, sondern an verschiedenen Tagen auf verschiedene Blätter abgesetzt, so dass es nicht möglich war, die durchschnittliche Eier- zahl festzustellen, die von jedem Weibchen abgelegt wurde; aus der Gesamtzahl zu urteilen, konnte das Mittel nicht unter 200 Stück liegen. Vom 2. Juli ab schlüpften Raupen aus, die zunächst auf den Nessel- büschen des Gewächshauses frei heranwuchsen, nur die Brut des ab- normsten Weibchens wurde von Anfang an abgesondert und ein- geschlossen erzogen. Durch Infektionskrankheiten wurde die anfängliche Zahl von 2000 Raupen erheblich vermindert, so dass schließlich nur noch 493 Exem- plare in das Puppenstadium eintraten. Vom 21. Juli an schlüpften Falter aus und bis zum 27. Juli hatten sich 200 durchaus normale Falter entwickelt, von diesen waren sogar einige Nachkommen des anormalsten Weibehens. Das erste aberrative Exemplar erschien am 28. Juli, am 31. Juli und 1. August kam noch je ein weiteres, am 5. August endlich stellte sich unter den letzten Faltern, welehe aus diesem Versuch hervorgegangen waren, ein stark 64 v. Linden, Untersuchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften. aberratives Individuum ein, wie die früheren drei ebenfalls ein Nach- komme des anormalsten Weibehens und ebenfalls männlichen Geschlechts. Die Nachkommen der sieben Paare, von denen die Weibehen nur wenig aberrativ gewesen waren, schlugen somit durchweg zur Normalform zurück. Nur die Verbindung des einen am Leben gebliebenen extrem gebildeten Weibehens mit einem wie die übrigen stark veränderten Männchen ergab Falter, wie sie in der Natur nicht vorkommen und bis jetzt nur auf künstlichem Wege erzielt worden sind; nur in diesem Fall war eine Ver- erbung erworbener Eigenschaften zur Gewissheit ge- worden. Merkwürdig ist, dass die neu erworbenen Charaktere nur auf männliche Nachkommen übertragen wurden. Wir müssen hieraus den Schluss ziehen, dass die männlichen Individuen sowohl primär, wenn es sich um die Erwerbung einer neuen Eigenschaft handelt, als auch sekundär bei der Vererbung durch die Eltern erworbener Cha- raktere, variabler, für das neue empfänglicher sind, wie die Weibchen. Wir sehen aber ferner, dass die vom Männchen zuerst erworbene Eigenschaft erst dann auf die Nachkommen übertragen und für die Umbildung der Arten von Bedeutung wird, wenn Paarung mit einem Weibchen stattfindet, das in derselben Richtung verändert wurde. Diesen hier experimentell festgestellten Vererbungsmodus hat Eimer schon vor Jahren aus seinen Ergebnissen bei dem Studium der Tier- zeichnung abgeleitet. Er stellte fest, dass in der Regel die Männchen, und zwar die alten Männchen, neue Eigenschaften, neue Zeichnungen erwerben. Dass diese Veränderungen allmählich bei jungen Männchen und schließlich bei den Weibchen auftreten und dass erst dann eine Vererbung der Eigenschaften auf die Jungen, und zwar zuerst auf die männlichen Jungen, stattfindet. Auch die Ergebnisse der Fischer’schen Versuche mit Arctia caja bestätigen das eben Gesagte. Auch hier, wo aus 173 Puppen 17 aberrative Exemplare erhalten worden sind, wo also die Ueber- tragung der von den Eltern erworbenen Eigenschaften noch viel auf- fallender ist, sind es fast nur Männchen, welche die Träger der neuen, von beiden Eltern vererbten Charaktere wurden; der Versuch hatte nur ein einziges aberratives Weibchen ergeben. Nachdem wir durch diese Versuche gesehen haben, dass keine Vererbung erworbener Eigenschaften eintritt, wenn nur das Männchen abgeändert ist und dass die neuen Charaktere nur dann auf die Nachkommen übertragen werden, wenn auch das Weibehen annähernd ebenso stark von der Normal- form abweicht, wäre es interessant, festzustellen, ob etwa aberrative Formen aus der Verbindung eines normalen Männchens mit einem anorınalen Weibchen hervorgehen können. v. Linden. [110[ Verlag von Arthur Georgi in Berlin SW, Hedemannstraße ot Druck der K. bayer. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Oentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. E. Selenka Professoren in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXI Band. 1. Februar 1902. Nr. 3. Inhalt: Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe (Schluss). — Leche, Ein Fall von Vererbung erworbener Eigenschaften. — v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. Von Jean Massart, Professor an der Universität Brüssel, Assistent am botanischen Institute. (Schluss. II. Quantitative Umwandlungen oder Interferenzen. Wir haben früher gesehen (s. S. 43), dass der Terminus „Inter- ferenz“ jede quantitative Veränderung der elementaren Reflexe, welche im Augenblicke, wo der Reiz eingetroffen ist, sich zu vollenden im Zuge waren, bezeichnet. Aber es giebt auch. noch andere quantitative Veränderungen, welche mit demselben Terminus bezeichnet werden müssen. Es sind dies jene, welche den Verlauf (Geschwindigkeit, Stärke und Richtung) der Reaktionen bestimmen, welche wir im vorangehenden Kapitel auf- geführt haben: eine Zellteilung (Merismus), eine bestimmt gerichtete Krümmung gegen einen äußeren Reiz (Tropismus) ... . braucht zu ihrer Vollendung eine gegebene Zeit. Aber diese Zeit kann sehr wesentlich verändert werden, je nachdem der eine oder andere ver- ändernde (modifizierende) Reiz seine eigene Reaktion mit der im Gange befindlichen zu vermischen beginnt. In einem anderen Falle wird die Stärke einer Reaktion verändert. Schließlich wird bei einer Reaktion von bestimmter Richtung nicht selten die Richtung unter der Einwirkung einer Interferenz geändert. Da der letztere Fall weniger bekannt ist, so halte ich es für nützlich, einige beweisende Beispiele anzuführen. Die Stellung eines ausgewachsenen Blattes, z. B. bei Fuchsia, ist durch das Zusammenwirken und die wechselseitige Interferenz min- destens dreier Reaktionen bestimmt: nämlich des Phototropismus und XXI. 5 66 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. Geotropismus, welche dem Blatte eine transversale Richtung (d. h. eine horizontale Stellung) zu den Reizen zu geben streben, — und des Nastis- mus, der, durch innere Ursachen bedingt, zuerst die Blätter nach außen, dann nach unten umzukehren trachtet. Die Gleichgewichtslage des Blattes ist daher ein Ausgleich zwischen diesen verschiedenen Re- aktionen. Andererseits genügt es, die Pflanze dem richtenden Einflusse des Lichtes und der Schwere zu entziehen, um die Blätter sich voll- ständig zurückschlagen zu sehen, indem sie ihre obere Seite nach außen richten. Der Phototropismus, Geotropismus und Nastismus waren initeinander im Kampfe und interferierten. — Ein phototropischer Stengel krümmt sich nicht nach der Lichtquelle, wenn er einer horizontalen Beleuchtung von mittlerer Stärke ausgesetzt wird; der Geotropismus strebt unaufhörlich, den Stengel wieder gerade zu richten, und die endgültige Gleichgewichtsstellung wird schräg sein (Czapek 1395, 2). In diesen Beispielen erzeugen die im Spiel befindlichen Reize alle Reaktionen von bestimmter Richtung, und die Gleichgewichtsstellung ist eine Mittelstellung zwischen jenen, welche die verschiedenen Reize gegeben haben würden, wenn sie allein wirksam gewesen wären. Anders verhält es sich in den folgenden Fällen; hier wirkt die inter- ferierende Bewegung nur durch ihre Stärke, und sie kann dadurch allein keine bestimmt gerichtete Reaktion geben; aber das Fehlen der Richtung des Reizes verhindert nicht einen richtenden Einfluss von seiten der Interferenz. Die unterirdischen Rhizome von Adoxa Moscha- tellina stellen sich transversal zur Wirkung der Schwere, d. h. sie sind solange horizontal gerichtet, als sie in der Dunkelheit sich befinden. Sobald sie aber vom Licht getroffen werden, wird die Richtung ihres Geotropismus verändert, und sie krümmen ihre Spitze nach unten (Stahl 1884, 2). — Bei einer Temperatur von 15—20° steigen gewisse Chromulina-Arten (gelbe Flagellaten) in der Flüssigkeit empor und sammeln sich in den oberen Schichten an. Aber bei einer Tem- peratur von 5—7° ändeıt sich die Richtung ihres Geotaxismus: sie steigen auf den Grund des Gefäßes hinab (Massart 1891, 2). co = 7 Man kann die Interferenzen in zwei Gruppen einteilen, je nach- dem sie die verschiedenen bereits erörterten Reaktionen verändern, oder die elementaren Reaktionen, ohne welche das Leben nieht möglich ist. 1. Interferenzen, welehe durch dieReaktionen erfahren werden. Es ist überflüssig, sie im einzelnen zu beschreiben. Es liegt auf der Hand, dass alle Reaktionen, die wir untersucht haben, in ihrer Geschwindigkeit ‚und Stärke dermaßen verändert werden können, dass sie vollständig aufhören können, um später wieder anzu- fangen, und dass andererseits die bestimmt gerichteten Aktionen in ihrer Richtung verändert werden können. Einer jeden Reaktion entspricht dann eine Interferenz; sie trägt Massart, Versuch einer Einteilung der nieht-nervösen Reflexe. 67 denselben Namenwie die Reaktion, nur wird die Endung „-ismus“ durch „-osis“ ersetzt. Z. B. Die Temperaturveränderungen verändern den Tropismus (Troposis, s. S. 45), den Merismus (Merosis s. 5. 43); viele verschiedene Reize beeinflussen den Rhythmus der kontraktilen Va- kuolen (Sphygmosis, s. S. 44)... . 2. Interferenzen, welche durch die elementaren Re- aktionen erfahren werden. Es handelt sich um sehr verwickelte Re- aktionen, ohne welche das Leben nicht möglich ist. Man kann sich kein Lebewesen denken, in dem sich nicht ununterbrochen chemische Um- wandlungen vollziehen, und das nicht die Stätte eines Freiwerdens von Wärme und Elektrizität ist, dessen Protoplasma nicht eine bestimmte Permeabilität und Kohäsion hat, in dessen Zellen nicht ein bestimmter osmotischer Druck herrscht und das schließlich nicht auch eine be- stimmte Form besitzt. Ja noch mehr, es giebt sogar bei den Pflanzen immer einen Teil, der im Wachstum begriffen oder befähigt ist, von neuem das Wachstum zu beginnen. Alse alle die verschiedenen Mengen von Eigentümlichkeiten und Prozessen, welche das Freiwerden von Wärme, das Wachstum, den osmotischen Druck . . . bedingen, können unter der Einwirkung hinlänglich bekannter Reize quantitative Verände- rungen eingehen. Sie sind derartig, dass, trotzdem wir das Wesen, wodurch die Veränderungen in der lebenden Zelle erzeugt werden, nicht kennen, wir doch den Reiz und den Enderfolg des Reflexes fest- stellen können. Nun wollen wir diese Reaktionen durchgehen. e@) Chimiosis. Die zahlreichen, in dieser Abteilung vereinigten Interferenzen sind schon zum Teil in der Kategorie der Interferenzen enthalten, welche durch Reaktion erfahren werden; z. B. wenn man die Absonderungsgeschwindigkeit des Verdauungssaftes bei einer fleisch- fressenden Pflanze verändert. Aber die wichtigsten der hierher ge- hörigen Prozesse sind jene, welche die chemischen Grunderscheinungen des Protoplasmas bestimmen. Wissen wir doch, dass sowohl die Assimilation des Kohlenstoffes bei den mit einem Chromophyli ver- sehenen Pflanzen, als auch die Fermentationen, sowie die feinsten Um- wandlungen von Stoffen in der Abhängigkeit vieler Reize sich befinden. ß) und y) Thermosis und Elektrosis. Die Veränderungen in dem Freiwerden der Wärme und Rlektrizität sind eine natürliche Folge der Chimiosis. Ein erst kurz bekanntes Beispiel wird genügen, sie zu zeigen: Waller (1900) hat die Veränderungen des elektrischen Potentiales der Blätter infolge der Wirkung der Lichtstärke, also wahr- ‚ scheinlich infolge der Assimilation, studiert. ö) Peranosis. Veränderung der Permeabilität des Protoplasmas, z. B. unter dem Einfluss der Temperatur (van Rysselberghe 1901). &) Synaphosis. Veränderungen der Kohäsion des Protoplasmas. In dieser Abteilung könnte man die Erscheinungen der Körnehenbildung im Protoplasma, welche Pflanzenzellen zeigen, z. B. infolge der Wir- H* 8 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. kung sehr verdünnten Coffeins, die Bildung zahlreicher kleiner Vakuolen im Endoplasma der Infusorien durch die Wirkung verschiedener Reize, der Zerfall des Protoplasmas von Vorticella durch Aethereinwirkung!) u. S. w. zusammenfassen. ©) Tonosis. Veränderungen der Turgescenz (intracellulärer os- motischer Druck). Van Rysselberghe (1899) beschreibt eine Ver- mehrung oder Verminderung der Turgescenz, je nachdem die Zellen in konzentriertere oder weniger konzentrierte Lösungen als ihre ge- wöhnlichen gebracht werden. „) Auxosis?2). Veränderung des Wachstums eines Organes oder eines Organismus. Nicht selten wird das gesamte Wachstum in den verschiedenen Richtungen des Raumes beeinflusst, bald ist es das Längenwachstum, bald nur das Diekenwachstum. Wir bewahren das Wort „Auxosis“ nur für jene Fälle, wo das allgemeine Wachstum eine Veränderung erlitten hat. Die Veränderung des Längenwachstums wird Dolichosis?) genannt -werden und die des Dieckenwachstums Pachynosis. Wir wollen von jedem dieser beiden Fälle ein Beispiel anführen. Auxosis im eigentlichen Sinne. Die Brennessel hat gegen- ständige Blätter; die beiden Blätter eines jeden Paares sind gleich. Dasselbe gilt für die der Brennessel verwandten Pflanzen, z. B. für Pilea trinervia. Die Blätter eines jeden Paares sind aber hier nur an den vertikalen Stengeln gleich; sobald die Stengel schräg oder hori- zontal gerichtet sind, werden die Blätter ungleich: diejenigen, welche nach oben gerichtet sind, werden viel kleiner, diejenigen, welche nach abwärts sehen, viel größer; diejenigen, welche nach der Seite ge- richtet sind, haben allein in allen ihren Teilen dieselbe Größe, wie die an den vertikalen Stengeln befindlichen. Die Schwere hat also das allgemeine Wachstum der nach aufwärts gerichteten Blätter geschwächt, während sie das der nach abwärts gerichteten begünstigt hat. Dolichosis. Elfving (1880) und Schwarz (1881) haben ge- zeigt, dass die Verlängerung verzögert wird, sobald die Pflanze mit der Spitze nach unten zu wächst. Andererseits wissen wir, dass das 1) Zu diesem Punkte wird bald eine Arbeit von Fıl. Stefanowska er- scheinen. 2) Nicht zu verwechseln „Auxosis* mit „Auxesis“, einem Terminus, der von Czapek (1898) vorgeschlagen wurde, um die Bildung von neuen Or- ganen, was ich „Neismus“ nenne (s. $. 48), oder das Wachstum der seit- lichen Organe zu bezeichnen. Vom Standpunkt der Etymologie aus ist der Terminus „Auxesis“ nicht geeignet, um eineBildung von Organen zu be- zeichnen, 3) Czapek (1898) verwendet das Wort „Dolichosis“ nur, um die Ver- mehrung des Längenwachstums zu bezeichnen, während er die Verminderung „Stasis* nennt. Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 69 Lieht, welches auch seine Richtung sei, gleichfalls das Wachstum verlangsamt. Pachynosis. Die Verdiekung der reizbaren Häkchen, welche gewisse Lianen besitzen, wird viel stärker, wenn das Häkchen durch die Berührung gereizt worden ist, als wenn es keine Gelegenheit gehabt hatte, eine Stütze zu ergreifen (Treub 1883). 3) Morphosis!). Veränderung der Gestalt und Struktur haupt- sächlich bei den Pflanzen. Die Gestalt einer ausgewachsenen Pflanze ist das Ergebnis der Aufeinanderfolge unzählbarer Reaktionen. An be- stimmten Stellen teilen sich die Zellen aktiv, sei es an der Spitze, sei es am unteren Ende oder an der Peripherie der Organe; — diese werden länger, jene hören auf zu wachsen, aber bald fangen sie wieder zu wachsen an. Die einen wachsen in die Dicke, während die anderen ihren an- fänglichen Durchmesser fortwährend beibehalten. Neue Organe ent- stehen an bestimmten Orten, die Organe fallen vorzeitig ab. Gewisse Teile verdanken ihre Starrheit ihrer Turgescenz; andere besitzen eigene widerstandsfähige Elemente. Die Stengel, Wurzeln, Blätter, Blüten, Früchte führen unter der Wirkung einer Fülle innerer und äußerer Reize die verschiedensten Krümmungen und Drehungen aus. Um nicht nur den äußeren Anblick, sondern auch selbst die innere Struktur dieses so komplizierten Gebäudes zu verändern, zu dessen Bau so viele Reflexe zusammenwirken mussten, genügt es oft, einen neuen Reiz ein- wirken zu lassen, oder einen einzigen der gewohnten Reize zu beseitigen. Verbringt man eine Pflanze in die Dunkelheit, so werden ihre Luft- organe unkenntlich. Noch besser, unterwirft man sie einer ununter- brochenen Beleuchtung, mit anderen Worten, entzieht man sie der Ab- wechslung von Dunkelheit und Licht, so ändert sich in gleicher Weise sehr tief ihre Struktur (Bonnier 1895). Setzen wir eine Junge Pflanze von Ranunculus aquatilis in der Weise, dass gewisse Blätter sich im Wasser entwickeln und andere in feuchter Luft, so kann man feststellen, dass die ersteren in fadenförmige Streifen zer- schnitten sind, keine Stomata ihre Epidermiszellen aber Chloro- plasten haben, während die Luftblätter viel breitere, abgeplattete Segmente mit wohl unterscheidbarer oberer und unterer Fläche haben; ferner haben sie Stomata und ihre Epidermiszellen sind nicht mit Chloroplasten versehen (Askenasy 18370). Wir werden nieht versuchen, die so komplizierten Interferenzen, welche zu Veränderungen der Forın führen, zu zergliedern. Uebrigens ist dieses Kapitel der Physiologie bis zum heutigen Tage noch fast gar nicht bearbeitet worden. 1) Die Veränderung der Form der Pflanzen unter der Einwirkung äußerer Ursachen wurde von Sachs (1895) „Mechanomorphosis“ genannt. Unser Ter- minus „Morphosis“ umfasst alle Veränderungen dureh die verschiedensten Reize. 10 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. V. Richtung, Art und Lokalisation der Reaktionen. Es bleibt uns nur noch eine Ergänzung der Terminologie aufzu- stellen übrig. Die Frage nach der Terminologie ist durchaus nicht unwichtig. Die Fortschritte einer Wissenschaft sind weit mehr, als man glaubt, vom Vorhandensein einer klaren, präzisen, richtigen und einheitlichen Terminologie abhängig. Aber gerade diesen Punkt scheinen die Autoren bei den Namen, welche die nicht-nervösen Reflexe bezeichnen, nicht in Rechnung gezogen zu haben. A. Riehtung in Beziehung zum äußeren Reiz. Gewöhn- lich schließt das zusammengesetzte Wort, welches den Reflex bezeichnet, auch die Richtung in sich, in welcher die Reaktion verläuft. So werden die Wurzeln als prosgeotropisch oder positiv-geotropisch bezeichnet, weil sie nach der Reizquelle (der Erde) zu gerichtet sind. Die Stengel dagegen werden als apogeotropisch oder negativ-geotropisch bezeichnet, weil sie sich von der Erde entfernen. Es ist von vornherein klar, dass positiv und negativ nichts bezeichnet. Was dagegen die Worte „pros“') und „apo“?) anbelangt, so ist auf alle Fälle ihre Wahl rein willkürlich. Anstatt den Geotropismus einer Pflanze ins Auge. zu fassen, wollen wir sehen, wie sich diese Dinge bei dem Rheotaxismus eines Infusors (Richtung des Körpers durch Einwirkung eines Flüssigkeits- stromes) verhalten. Nach der gebräuchlichen Terminologie müsste man Prosrheotaxis sagen, wenn der Organismus sich der Reizquelle nähert, und Aporheotaxis, wenn er sich von ihr entfernt. Wenn aber das Strömen des Wassers durch den Druck eines Stempels auf die Flüssigkeits- oberfläche erzeugt wird, so werden die Individuen, welche dem Flüssig- keitsstrom entgegen aufsteigen, als prosrheotaktisch zu bezeichnen sein. Aber in der Natur werden die Flüssigkeitsströmungen durch die Schwere bedingt: bei einem Bache z.B. liegt die Bewegungsursache in der An- ziehungskraft der Erde; es müsste also logischerweise der Organismus, welcher mit dem Strome sich abwärtsbewegt, als prosrheotaktisch bezeich- net werden. Und wie wird man ein Infusor benennen, welches sich gegen den Strom bewegt, welcher in der Flüssigkeit durch die Ciliarbewegung eines Rädertierchens hervorgerufen wird? Es giebt in diesem Falle zwei Ströme, der eine ist gegen das Rädertierchen gerichtet, während der andere sich davon entfernt. Folglich wird das Infusor im Vor- marsch oder im Rückzug von seinem Feinde sich befinden, es wird entweder pros- oder aporheotaktisch sein. Es wäre sicher viel logischer, die Orientierung dureh die Richtung des Organismus in Bezug auf die Strom- richtung zu bezeichnen und zu sagen aufsteigender Rheotaxismus oder Ana- rheotaxismus und absteigender Rheotaxismus oder Katarheotaxismus?). 4) Das Wort „pros“ ist von Rothert (1896) eingeführt worden. 2) Das Wort „apo“ ist von Darwin (1882) eingeführt worden, 3) Die Worte Ana- und Kata- werden in der Elektrizitätslehre in dem- selben Sinne gebraucht. NENNT Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. il Dieselbe Regel ließe sich für alle wirklichen oder angenommenen Strömungen anwenden. Betrachten wir zuerst die mechanischen Reize, welche eine bestimmte Richtung haben, dem Körper aber die Freiheit seiner Bewegungen lassen: die Schwere, der Flüssigkeitsstrom und die Berührung. Man würde alle Reaktionen Kata- nennen, in denen der Organismus oder das Organ der Richtung folgt, die ihm der äußere Reiz aufzuwingen strebt: die Wurzel müsste katageotropisch genannt werden, — die Infusorien, welche mit dem Strome emporsteigen, ana- rheotaktisch — die Wurzel, deren Spitze sich von dem berührten Gegenstande entfernt, kathaptotropisch. Man könnte auch absteigender - Geotropismus, aufsteigender Rheotaxismus, absteigender Haptotropismus sagen. Die Richtung der physikalischen und chemischen Reize ist einer Ortsveränderung vergleichbar. Alle gelösten Körper diffundieren und geben daher zu einer wirklichen Ortsveränderung Anlass. Hier könnten wir auch sagen, dass die Reaktion absteigend oder aufsteigend ist, Kata- oder Ana-, je nachdem als der Organismus in derselben Rich- tung wie der Diffusionsstrom sich bewegt, oder ob er sich nach der Seite wendet, wo das Maximum der Konzentration ist. Nach dieser Regel ist die Mehrzahl der Süßwasserorganismen katatonotaktisch, weil sie konzentrierte Lösungen fliehen, und die Bakterien, welche auf den Fleischextrakt zugehen, sind für diese Substanz anachimio- taktisch. Schließlich sind Licht, Wärme, Blektrizität, Hertz’sche Wellen auch Schwingungsbewegungen, welche ihren Ort verändern. Wir be- zeichnen daher durch den Terminus Kata- die Reaktionen, in denen der Organismus seinen Ort im Sinne der Fortpflanzungsrichtungder Wellen- bewegung ändert und durch Ana- jene, wo er nach der entgegen- gesetzten Richtung sich bewegt. Phycomyces ist anaphototropisch, katathermotropisch und katahertzotropisch; Paramaecium Aurelia ist katelektrotaxisch. Für die Reaktionen, welche keine Parallelstellung zur Richtung des Reizes bewirken, besteht keine Schwierigkeit. Die Botaniker nennen übereinstimmend transversal (Dia-) jene Reaktion, wo das Organ eine senkrechte Stellung zum Reiz, und Para-, wo es eine Profilstellung (z. B. die Blätter eines ausgewachsenen Eucalyptus Glo- bulus) einnimmt. Man könnte noch hinzufügen Plagio- für die schräge Richtung, z. B. der Stengel der Schlingpflanzen. B. Richtung in Beziehung zum Körper. Bescheiden wir uns, die Grundsätze zu untersuchen, welche zur Bezeichnung dieser Richtungen als Leitfaden dienen könnten. Die Auswahl der angenommenen Termini scheint mir nicht glücklich. Während die tropischen Krümmungen von der Richtung der Reaktion bestimmt werden, sind die nastischen durch die Seite bestimmt, 70, Massart, Versuch einer Einteilung der nicht nervösen Reflexe. welche sich am meisten vergrößert; also nennt man ein Organ epi- nastisch, welches sich nach unten zu richtet. Es wäre besser, auf die Worte „Epi“ und „Hypo“ zu verzichten, welche eine Verwechslung mit dem Geotropismus herbeiführen könnten und den Nastismus durch die Richtung, nach welcher sich das Organ krümmt, zu bezeichnen: die Bewegung beim Aufblühen der Blüten und beim Ausbreiten der Blätter wird Exonastismus genannt werden, die entgegengesetzte Bewegung Endonastismus; die Krümmung eines kriechenden Stengels nach seiner ventralen (unteren) Seite Gastro- nastismus (z. B. bei Lysimachia Nummularia); die Krümmung der auf einer gekrümmten Wurzel entstandenen Sekundärwurzeln nach der konvexen Seite (s. S. 18) Cyrtonastismus; die Wiederaufrichtung der vorher gekrümmten Organe Orthonastismus. Die bei den Infusorien untersuchten Klinismen könnten mit den folgenden Worten bezeichnet werden: Noto-, Gastro-, Dextro-, Laevo- klinismus, je nachdem sich das Individium nach der dorsalen oder ventralen Fläche, rechten oder linken Seite dreht. VI. Stärke und Geschwindigkeit der Reaktionen. Die Terminologie, deren Grundzüge wir in dem vorhergehenden Kapitel angegeben haben, lässt sich bestens für die Reaktionen verwenden. Wir haben jetzt zu betrachten, wie man die Verände- rungen der Stärke und Geschwindigkeit der Interferenzen benennen könnte. Es dürfte zweckmäßig sein, die Richtung der Veränderung durch ein an das zusammengesetzte Wort, welches den ganzen Reflex veranschaulicht, Zwischenwörtchen zu bezeichnen. Wenn die Interferenz in einer allgemeinen Abschwächung der Reaktion besteht, könnte man sie als Mio- bezeichnen: wenn es sich dabei um eine Verlangsamung handelt als Brady-; bei einer Verringe- rung der Stärke der Reaktion als Oligo-. Wenn aber die Interferenz in einer allgemeinen Verstärkung der Reaktion besteht, so könnte man das Plio- nennen: bei einer Be- schleunigung Tachy-, und bei einer Verstärkung der Intensität der Re- aktion Oratero-. Bisweilen ist die Verminderung eine derartige, dass die Reaktion ganz aufhört. Wir haben ein Beispiel dafür in dem hemmenden Ein- fluss der Spitze auf! das Wachstum der Aventivknospen (s. S. 11) ge- sehen und in der Hemmung, welche die wurzelbildenden Zellen auf der konkaven Seite einer eekrümmten Wurzel (s. S. 17) trifft. Wir wissen auch, dass der Nectismus des Bacterium photometricum in dem Augenblick, wo man es in die Dunkelheit verbringt (Engelmann 1882), aufhört. Diese Hemmungen können als Pausi- bezeichnet werden. Andererseits beginnt die kontraktile Vakuole eines enkystirten Infusors unter der Wirkung einer Salzlösung wieder zu schlagen (8. S. 45). Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. 7 Jedes Wiedererwachen einer augenblicklich gehemmten Erscheinung könnte durch Egiro- bezeichnet werden. In dem Beispiel, welches wir angeführt haben, wirkt die Salzlösung durch ihren osmotischen Druck und wir nennen den Reflex Tonegirosphygmosis. In verschiedenen Fällen erleidet das Wachstum eine sehr eigen- tümliche Veränderung. Es wird eine wirkliche Balaneierung er- zeugt. Wir kennen schon ein Beispiel. Bei Pilea (s. S. 68), bei welcher die horizontalen Aeste nach oben zu viel kleinere Blätter tragen als die der vertikalen Aeste — und nach unten zu viel größere, während die Blätter, welche sich in der Ebene des Astes be- finden, dieselben Größenverhältnisse haben wie die an den aufrechten Stengeln. Wiesner (1868), der sich viel mit dieser Erscheinung be- schäftigt hat, gab ihr den Namen Anisophyllie. Wir verdanken Wiesner gleichfalls die Kenntnis von der Balaneierung im Dieken- wachstum. Die horizontalen Zweige der Linde (Tilia) besitzen nach oben zu viel diekere Jahresringe als an der unteren Seite (Epitrophie); bei der Eibe (Taxus) ist es umgekehrt (Hypotrophie). Diese beiden Termini!) stammen von Wiesner (1889). In Wirklichkeit besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der allgemeinen Wachstums- Balaneierung der Blätter und der Balancierung im Diekenwachstum der Zweige. Die erste ist eine Auxosis, die zweite eine Pachynosis zu nennen. Es wäre ganz richtig, die Balancierungen durch Aniso- zu bezeichnen. Im Gegensatz zu den anderen Interferenzen hat diese Reaktion eine bestimmte Richtung. Man könnte die Orientierung durch die Rich- tung, in welcher das Wachstum überwiegt, bezeichnen. So würde man die ungleiehmäßige Entwicklung der Blätter von Pilea (unter der Ein- wirkung der Schwere) absteigende Geanisauxosis, und dieselbe Er- scheinung für die Verdickung der Linde aufsteigenden Geanisopachy- nosis nennen. VII. Einige allgemeine Termini. Es ist immer sehr unangenehm, eine lange Umschreibung anzu- wenden, um einen Gedanken auszudrücken, besonders wenn diese Um- schreibung häufig wiederkehren muss. Deshalb möchte ieh mir er- lauben, einige Termini vorzuschlagen, welche keinen anderen Zweck haben, als jede Umschreibung zu ersetzen. Oxynesie. Die Fähigkeit des Organismus, einen Reiz zu er- zeugen. Aesthesie. Die Fähigkeit des Organismus, einen Reiz zu em- pfinden. Dieser Terminus zerfällt in zwei Unterabteilungen, und zwar: 4) Sie scheinen mir nicht glücklich, da in Wirklichkeit hier die Er- nährungserscheinung nicht in den Vordergrund tritt. 74 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. Autaesthesie, Empfindlichkeit für innere Reize (z. B. Camptaesthesie, Empfindlichkeit für Krümmung), und Cosmaesthesie, Empfindlichkeit für äußere Reize (z. B. Thermaesthesie, Empfindlichkeit für Wärme). Tonesie. Fähigkeit des Organismus, einen Tonus zu zeigen. Ergesie. Fähigkeit des Organismus, eine Reaktion zu zeigen. Allesie. Fähigkeit des Organismus, eine Interferenz zu zeigen. Diese Worte, welche ich zur Bezeichnung wähle, beziehen sich auf Eigenschaften des Organismus. Es wäre ferner von Nutzen, Worte zu besitzen, um die Fähigkeit des Reizes, bald diese oder jene Reaktion hervorzurufen, zu bezeichnen. Man könnte diese Worte mit -agog bilden. So ist das Licht tonesagog, wenn es der Sinnpflanze den notwendigen Tonus verleiht; taxagog, oder tropagog, wenn es einen Taxismus oder Tropismus bedingt; es ist auxotagog, wenn es das Wachstum verändert u. s. w..... Sit venia verbis. Litteraturverzeichnis. 1891. J.Af Klercker, Ueber kaloritropische Erscheinungen bei einigen Keim- wurzeln (Ofversigt af Kongl. Vet.-Akad. Forhandl., n? 10, Stockholm). 1870. E. Askenasy, Ueber den Einfluss des Wachstumsmediums auf die Ge- stalt der Pflanzen (Bot. Zeitschr., 1870, S. 193). . Bonnier, Influence de la lumiere Electrique continue surla forme et la structure des plantes (Rev. gen. Bot., t. VII, p. 241). 1900. Carlgren, Ueber die Einwirkung des konstanten Stromes auf niedere Organismen. Arch. f. Physiol., 1900. 159, 1. Fr. Czapek, Untersuchungen über Geotropismus (Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. XXVIL, S. 243). 1895, 2. — Ueber Zusammenwirken von Heliotropismus und Geotropismus (Sitzungsb. Kais. Akad. Wiss. Wien Math.-nat. Kl., Bd. CIV, Abt. 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Allgemeinheit der nicht-nervösen Beflexe-. .-. . 2 21.....9 1. - Analyse eines micht-nervösen Rellexes mr rn. 10 A Diesp-hasen’dessBRetlexestr I. unle RRENN USEANNE0 BeDauer! und Stärke der Beriodene N... 2.2 Zara 112 As Erresune (und Empfindung)... ren a ren AN nr ae 3) Schwelle der; Dauersundı Stärke. :.. :.. N. Wish nal? bia@ipfel der Daver: und. Stärke, ..-. ER Rls Van Km a 13 e) Umkehr: ...:...:. a. 2 SALE RE I A er 13 2. Leitung und Reaktion EN EEE ltr ed RE © DALE RETNGE ne Be ee u a A b) Aktionszeit . . 2 2 a RR At 1 330 2) Me VER 5; c) Stärke der Aktion. a SIEGTE AO =. 0 el SE TIBNELNNESZEIL I ein a. ee HRENSmZdens Reizen. 2 ER DE EN ee 0 ee SEHINELEPROIZEL N ee a el BAER NEHTONG In. a N N 6 SR BOCH (MOEDHOS)E EN ee 17 unDestinmteßkerzer a er la. HU Fre re 117, 78 Massart, Versuch einer Einteilung der nicht-nervösen Reflexe. Seite Aohındluss det>Spitze "(Acro-) . ii lt... 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Nareotiea (Nareo-) u u. : he EURER DE 22 d) Wasser (Hydro-)nenenyeors rl alerts Me I > IV. Art der Reaktionen . . . BRITEN el A. Vorbereitende Reaktionen er Donna (RE li B. Umwandelnde Reaktionen . . . Sa LATE ee 5) I. Qualitative Umwandlungen oder eakknnen, Pal ar a ER de, 1 HAIO 17,RormbildendesReaktionen.. ns en SO) AMEETISINUS-.. 0... ee ee Shen, CR Dane D)SNelSmsr 2.2.2 Ali ee all keitmiateuk A AS 2.2Motorische Reaktionen .. was al. zent a aaelerr 148 A. -Ortisbewegungen 1. ur... 2127 RR a rl TE A RAS 0). ,Nectismua i.r 22... sk Se kA B) «Berpismüs,z.... 1... 0 ee an: si arena Be y), Ehobismusi.-. ..; Says Dir ME ee er ag 0) Proteismus ı cu. sole Hot fe hetn braten fe B. Winkelbewegungen . . 50 1. Reaktionen, deren Richten Auch es Anfieren Reiz Epresclt wird Tre a reihen Bet fe weile il e) Taxismus: 5 27 SS en 2 ea B) Tropismus 2, 3 ie ee ed y) Strophismus . . . 51 2, Reaktionen, deren chin in ee zum Basen Ha 51 MECNISIMUS; 00 ee en PYANABSLISMUS "00.00 aut. Raser »)eHalieismus., +... at. EN et 3..Chemische Keaktionen ..... ) ein, N ee Leche, Ein Fall von Vererbung erworbener Eigenschaften. 79 Seite Averschredene Reakhanen se Kl ten. 10.52 2) Pad See Deo A ae EA Ey; u EOS N RE RE 7) y) Sphygmismus . . . 5.2 5 Va II. Quantitative Umwandlungen oder Mnleifärenzen SER. en 5) 1. Interferenzen, welche durch die Reaktionen ehren Werden TREE 2. Interferenzen, welche dureh die elementaren Reaktionen erfahren Werdeng 40. en re a ee er eo O)MCHTENONI Se Kae euere, Ten ee Fr ee a. 2 ae BiEBBermosislan nn: Ar a hi 67 ME EEKTEORISE EN u: a En OBIELANGSISO EN ne N re ner n0 SSNTEENLOEI RR ee EN A >: DEN OOSUSE TEN Mes EN PR REN ec 08 DIEPNUSOSTSE TE ee ee Neu... 08 DolkeRosiae ST NIEREN 2ER SEN RE 68 Bachynasıis 5 ra SER NEE 3 EEE ER er 69 ®) Morphosis. . . NE un eh V. Richtung, Art und lee Be Baker re N REEL 4370 Az Richtung in Beziehung zum äußeren Reiz. un. u. .., 70 Ir Biehtung- in Beziehungs=aut den Körper. Merz 2 Br. 0.000 VI. Stärke und Geschwindigkeit der Reaktionen . . . .... ...72 DalrsEnmızesallzemeinekerminwer un... en te un 13 BILLOEABURVERZOICHNEST HER ER ee Bela Ein Fall von Vererbung erworbener Eigenschaften. Von Wilhelm Leche. Nach übereinstimmenden Beobachtungen an sowohl in unseren zoologischen Gärten gehaltenen Exemplaren des Warzenschweines (Phacochoerus) als auch an im freien Zustande lebenden, unterscheiden sich diese Tiere von allen ihren Familiengenossen durch ihr eigen- artiges Gebahren beim Wühlen und Fressen. Sie fallen nämlich hier- bei regelmäßig auf die Handgelenke und rutschen, mit den hintersten Extremitäten nachstemmend, auf den besagten Gelenken leicht und ausdauernd, dabei mit den oberen Eekzähnen tiefe Furchen auswühlend, um zu den Pflanzenwurzeln und Knollen, welche ihre Lieblingsnahrung ausmachen, zu gelangen (vergl. Brehm’s Tierleben). Die Handgelenke sind, in Uebereinstimmung mit dieser absonderlichen Art der Bewegung, mit dieken, stark verhornten Schwielen, welche jeglicher Haarbeklei- dung entbehren, bedeckt. Fehlen' uns auch zur Zeit Aufschlüsse über die Verwandtschafts- verhältnisse des Phacochoerus zu den übrigen Mitgliedern der Schwein- familie, und müssen wir auch nach Stehlin!) die Abzweigung des 1) H. G. Stehlin: Ueber die Geschichte des Suiden-Gebisses. Abhandl. d. Schweiz. paläontologischen Gesellsch. Bd. 26—27, 1899 — 1900. 80 Leche, Ein Fall von Vererbung erworbener Eigenschaften, Phacochoerus-Typus in früh-tertiäre Zeit verlegen, so kann doch be- treffs des unmittelbaren genetischen Zusammenhanges, d. h. betreffs der Abstammung des Phacochoerus von derselben Urform wie der übrigen Schweine kein ernsthafter Zweifel aufkommen. Da nun nicht nur kein anderer Suide, sondern auch kein anderes Huftier besagte Bewegungsart noch jene Schwielen in der Carpalregion aufweist — bei allen ist die Haut in dieser Region von derselben Beschaffenheit Senkreehter Schnitt durch einen Teil der Carpalschwiele und ihrer Umgebung von einem 18 cm langen Embryo des Phacochoerus africanus. a Grenze zwischen Schwiele und der anliegenden Haut; A Haaranlagen. wie an den angrenzenden Teilen der Extremität —; da ferner Phaco- choerus sich auch in Bezug auf andere Organisationsverhältnisse als ein eigenartiges und hoch differenziertes Mitglied innerhalb der . Sehweinefamilie darstellt, so folgt hieraus, dass die eigenartige Be- wegungsart und das Auftreten der besagten Schwielen jedenfalls keine für diese Familie ursprüngliche Eigenschaft ist, sondern ein späterer, für Phacochoerus eigentümlicher Erwerb ist. Leche, Ein Fall von Vererbung erworbener Eigenschaften.’ 1 Aus obigem folgt aber auch mit Notwendigkeit, dass diese für Phacochoerus eharakteristischen Momente: die Bewegungsart beim Aesen und die Carpalschwielen, in einem Kausalzusammenhange stehen; und dieser wiederum kann kein anderer sein, als dass die Schwielen durch die besagte Gewohnheit hervorgerufen sind. Aus diesen Ueberlegungen erhellt, dass sich an das Verhalten des Integuments des Carpalgelenkes beim Embryo ein prinzipielles Inter- esse knüpft. Ich habe deshalb die Gelegenheit, welehe mir durch die Erlangung von zwei verwendbaren Phacochoerus-Exemplaren — nämlich ein ganz junges, 41 cm langes Tier (in Spiritus konserviert) und ein 18 em langer Embryo (in Müller’scher Flüssigkeit fixiert), welchen ich der Güte meines Freundes, Privatdozenten Dr. Jägerskiöld in Upsala, verdanke -—- geboten wurde, benutzt, um die fragliche Bildung genauer zu untersuchen. Beim jugendlichen Tiere, an dessen Hufen bereits eine schwache Ab- nutzung zu bemerken ist, ist die fragliche Carpalstelle etwa kreisrund und 14mm im Diameter, ohne Spuren von Haaren und scharf von der Um- gebung abgesetzt, wo schon kurze Haare sichtbar sind. Die mikro- skopische Untersuchung von Querschnitten ergab, dass die Schwielen von einem stark verhornten Epidermislager gebildet werden und jeder Haaranlage entbehren, in ihrem sonstigen Bau aber nicht erheblich von der umliegenden Hautpartie verschieden sind. Bedeutungsvollere Resultate ergaben Querschnitte durch die frag- lichen Hautstellen des Embryo, welcher, außer an einigen Stellen am Kopfe, völlig haarlos ist. Hier ist die Schwiele, welche sich auch makroskopisch etwas markiert, schon deutlich angelegt (siehe die Textfigur): sie ist ausgezeichnet sowohl durch ihre beträchtlich dickere Oberhaut als auch durch die völlige Abwesenheit von Haaranlagen, welche dagegen in der umliegenden Hautpartie schon vorhanden sind. Aus diesen Thatsachen geht also hervor, dass die Carpal- schwielen bei Phacochoerus eine erworbene Bildung sind, welche schon beim Embryo auftritt, also vererbt wird. In der Litteratur finde ich wenigstens einen völlig analogen Fall mitgeteilt. Die Backenzähne bei Halicore haben bekanntlich beim er- wachsenen Tiere glatte Flächen, während sie beim Embryo mit Höckern ausgerüstet sind. Während man bisher angenommen, dass die Höcker des jungen Tieres rasch abgekaut würden, fand Kükenthal!), dass bei einem kurz vor der Geburt stehenden Embryo diese Kauflächen schon sehr deutlich angelegt sind und dass es wahrscheinlich ist, dass ein Resorptionsprozess in den Spitzen der Höcker den ersten Anlass zur 4) W.Kükenthal: Vergleichend-anatomische und entwicklungsgeschicht- liche Untersuchungen an Sirenen. Aus: Semon, Zoologische Forschungs- reisen in Australien. Jena 1397. XXI. [5 89 v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. Ausbildung dieser Kauflächen beim Embryo gegeben hat. Diese bereits beim Embryo erfolgende Bildung der glatten Flächen kann aber, da eine Kauthätigkeit oder eine Druckwirkung überhaupt im intrauterinen Leben ausgeschlossen sind, nach Kükenthal nur durch Vererbung erklärt werden. | [111] Stockholm, den 22. Oktober 1901. Die Arbeiten von Agassiz über die Korallriffe der Fidschiinseln. Von R. von Lendenfeld. Die geologischen Bauverhältnisse und die Korallriffe der Fidschi- inseln, sowie die pelagische Fauna der umliegenden Meeresteile sind neuerlich von Agassiz untersucht worden. Er selbst!), sowie An- drews?), weleher in seinem Auftrage die Geologie jener Inseln stu- dierte, haben nun die Ergebnisse dieser Arbeiten veröffentlicht. Im folgenden will ich die wichtigsten derselben wiedergeben, vorher aber einige, das Verständnis erleichternde Bemerkungen über die geomorpho- logischen und geotektonischen Verhältnisse der Gegend machen, in welcher die Fidschiinseln liegen. Eine der wichtigsten, geotektonischen Linien der gegenwärtigen Erdoberfläche ist jener „vulkanische Spalt“, welcher von der Nordost- spitze Neuseelands über die Kermadekinseln nach NON bis zum Nord- ende der Tongainseln zieht. Oestlich von dem Nordendteile dieses Spaltes und ganz nahe an demselben liegt ein submariner, der Spalte paralleler Rücken, dessen höchste Punkte über die Meeresoberfläche emporragen. Das sind die Tongainseln.. Nach Osten fällt dieser Rücken steil zu jener großen und ungemein tiefen Furche ab, welche sich, dem Spalt gleichfalls parallel laufend, von 32° bis 5° südl. Br. erstreckt und dessen tiefste Punkte 9180 und 9430 m unter dem Meeresniveau liegen. Im Westen von dem Spaltnordende und etwas weiter von demselben entfernt, erhebt sich aus dem hier gegen 3000 m tiefen Meere zwischen 15° 30‘ und 19° 30° südl. Br. und 177° östl. Länge und 178° westl. Länge eine Gruppe von Inseln. Das sind die Fidschiinseln. Die meisten von den, diesen Archipel zusammensetzenden größeren und kleineren Eilanden liegen in einem nach Nord konvexen und nach Süd offenen, hufeisenförmigen Bogen. Der Bogen selbst ist 1) A. Agassiz, The Islands and Coral Reefs of Fiji. In: Bull. Mus. comp. Zool. Harvard, v. 33, 167 pp., 112 Taf., 1899. 2) E. C. Andrews, Notes on the Limestones and general Geology of the Fiji Islands with special reference to the Lau Group. Based upon sur- veys made for Alexander Agassiz. With a preface by T. W. E.David. In: Bull. Mus. comp. Zool. Harvard, v. 38, 50 pp., 39 Taf., 1900. v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. 83 mit Inseln dicht besetzt und es werden auch einige isolierte Inseln in seinem Inneren angetroffen. Besonders bemerkenswert ist es, dass diese Inseln nicht die höchsten Erhebungen einer breiten, kon- tinuierlichen Untiefe darstellen, was daraus hervorgeht, dass in der Mitte der Gruppe, im Inneren des Bogens, dem die meisten von den Inseln angehören, das Meer 2370 bis 2730 m tief ist und auch auf dem Bogen selbst stellenweise sehr beträchtliche Tiefen angetroffen werden. So beträgt die geringste Tiefe des Nanukukanales zwischen Naitamba und Ngamia im Nordosten 993 m, während der Kanal zwischen Ngau und Mambulitha 1372 m tief ist. Dem westlichen Teile des Inselbogens gehört die größte Insel der Gruppe, VitiLevu, dem nördlichen die etwas kleinere Insel Vanua Levu an. Die Inseln des östlichen Bogenteiles, welche die Lau-Gruppe bilden, sind sämtlich klein. Auch die isolierten Inseln im inneren des Bogens erreichen keine bedeutenderen Dimensionen. Das Gesamtareal der Inseln beträgt 20873 Quadratkilometer. Viti Levu ist 11600, Vanua Levu 6400 Quadratkilometer groß. Geologisch sind die Fidschiinseln besonders deshalb interessant, weil sie zu den wenigen Eilanden des tropischen Pacifik gehören, die nicht ausschließlich aus jungvulkanischem Gestein oder recenten Korallen- bauten bestehen. Wiewohl diese Thatsache schon seit längerer Zeit bekannt war, so haben doch erst die hier zu besprechenden Unter- suchungen von Agassiz und Andrews genauere Aufschlüsse über die Lagerungsverhältnisse der in den Fidsehiinseln anstehenden Ge- steine gebracht. David unterscheidet, auf Grund namentlich der Untersuchungen von Andrews, sieben Gesteinsstufen verschiedenen Alters in den Fidschiinseln. Das älteste dort vorkommende Gestein, welches im Singatokathaäle auf Viti Levu angetroffen wird, ist ein harter, blaugrauer, geschichteter Kalkstein ohne makroskopisch sichtbare Fossilien. Die aus diesem Gestein bestehenden Schichten sind steil aufgerichtet. Es wurden an ihnen Verflächungswinkel von 50° gemessen. Es ist möglich, dass dieser Kalkstein demselben Horizont angehört wie die Globigerinakalke der Salomoninseln und Neu-Kaledoniens. Später als dieser alte Kalkstein wurden jene vulkanischen, spheru- litischen Rhyolite mit diabasischen Dolerite gebildet, von denen die Rollsteine im Fidschier Seifenstein stammen. Die dritte Stufe wird durch drei verschiedenartige Gesteine repräsentiert, welche wohl als verschiedene, demselben Horizonte an- gehörige Facies aufgefasst werden können. Da haben wir zunächst die geschichteten Kalksteine des Singatokathales. Diese haben eine Neigung von 15° und sind reich an Foraminiferen, Nulli- poren, Muschelschalen, Seeigelstacheln u. dergl. Dieser Kalkstein ist nicht koralligener Natur und hat eine Mächtigkeit von etwa 460 m. 6* 84 v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. Derselbe corallenlose, geschichtete Kalkstein nimmt an dem Aufbau der Inseln Mba Vatu und Vanua Mbalavu Teil und bildet in manchen Eilanden der östlichen Laugruppe das Fundament, auf welchem die jüngeren, korallenhaltigen Kalksteine ruhen. Eine andere, wohl derselben Stufe angehörige Gesteinsart sind ver- steinerungsführende, kalkige, vulkanische Konglomerate, welche stellenweise in Seifenstein übergehen. Es ist möglich, dass ein Teil dieser Ablagerungen etwas jünger als der oben erwähnte, geschichtete, nicht coralligene Kalkstein ist. Die dritte Facies dieser Stufe ist der bekannte Fidschier Seifen- stein. Es ist das ein submarin gebildeter, vulkanischer Tuff, welcher vielerorts in foraminiferenhaltigen und auch in coralligenen Kalkstein übergeht und mit echten Korallriffen wechsellagert. Dünne Lagen von Lapilli und von Augit und Plagioklaskrystallen kommen — in Suva — in demselben vor. Die untere Grenze dieser Schichtenreihe ist nicht beobachtet worden. Ihre Minimaldicke beträgt 92m. Sie haben einen Verflächungswinkel von 10° In diesen Schichten wurden Tridacna- schalen und Carcharodonzähne gefunden, welche zeigen, dass sie tertiären, pliocänen oder jüngeren Alters sind. Ueber diese, aus drei verschiedenen Facies zusammengesetzte dritte Stufe folgt die vierte Stufe, welche aus korallenhaltigem Kalk- stein besteht. Diese Stufe ist bedeutend, jedoch in verschiedenen Teilen der Inselgruppe sehr verschieden hoch gehoben worden. Der höchste bisher aufgefundene Teil dieses Kalksteines liest 320 m über dem Meeresspiegel. Der kleinere Teil desselben besteht aus Korallen- stöcken, der größere Teil scheint aus dem Korallensande und dem kalkigen Getrümmer hervorgegangen zu sein, welches die bewegte See von den Korallriffen loszureißen und in der Umgebung derselben ab- zulagern pflegt. In Mango, Tuvutha und anderwärts sind die deutlich als solche erkennbaren Korallenstöcke auf die obersten 30—60 m be- schränkt. Nach den in Mango beobachteten Aufschlüssen ist die Mächtigkeit dieses Kalksteines, selbst in nahe aneinander gelegenen Orten, recht ungleich. An einzelnen Stellen beträgt dieselbe 244 m. Vielerorts ist das Liegende dieses Kalksteines nicht aufgeschlossen, so dass die thatsächliche Maximaldieke ‚der Schicht wohl noch be- deutender sein mag. Die in derselben vorkommenden Korallen gehören denselben Gattungen wie die jetzt im Fidschiarchipel lebenden an und manche von den Astraea-, Maeandrina- und Pocillopora-Arten dieses Korallenkalkes scheinen mit recenten identisch zu sein. Die Zwischen- räume zwischen den einzelnen Stöcken sind mit Korallentrümmern, Foraminiferen, Nulliporen etc. ausgefüllt. Auch Muschelschalen und die bekannte rote Erde nehmen Anteil an dem Aufbau dieser Ablage- rung. Die Muschelschalen gehören zu den Gattungen Turbo, Cassis, Lithophaga, Macha, Tellina, Mereirix, Dosinia, Chama, Pholas und v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. ° 85 Pecten. Dall, welcher sie bestimmte, meint, dass sie tertiär, jünger als eocän, entweder miocän oder pliocän sind. Ob die Korallenstöcke dieses Kalksteines sich in situ befinden oder nicht, konnte Agassiz nicht entscheiden. David unterzieht diesen Fidschiischen Korallenkalk einer Ver- gleichung mit dem in Funafati erbohrtem und kommt zu dem Schlusse, dass beide einander ähnlich sind, dass sie sich aber in Bezug auf das Verhältnis der fossilen ‘Korallenbänken zu den zwischen denselben liegenden, aus verkitteten kleineren Fragmenten bestehenden Lagen voneinander unterscheiden: im !Fidschier Korallenkalk herrschen die letzteren viel mehr vor als im Funati-Bohrkern. Die fünfte Stufe besteht aus Andesiten und Korallen-Konglomeraten, welche besonders in Mango sehr schön ausgebildet sind. Der Andesit liegt auf dem Korallen-Konglomerat und bildet Lavaströme, welche stellenweise eine Mächtigkeit von 91 m erreichen. Auch einige dom- förmige Hügel, von denen der größte 213 m hoch ist, bestehen aus diesem Andesit. Die sechste Stufe wird von Olivin-Basalt dargestellt. Dieser hat ein sehr frisches Aussehen und dementsprechend wohl auch ein geringes Alter. Die Mächtigkeit dieses Basalts ist eine sehr ge- ringe. Die siebente und jüngste Stufe sind die recenten Riffe. Die verschiedenen Inseln des Archipels sind insofern sehr ver- schieden, als die einen aus diesen, die anderen aus jenen von den oben beschriebenen Gesteinen bestehen. Zunächst ist zu bemerken, dass die beiden großen Inseln Viti Levu und Vanua Levu weit älter wie die übrigen sind: der aus steil aufgerichteten Schichten bestehende, alte Kalkstein des Singatokathales ist auf keiner der kleinen Inseln gefunden worden. Die letzteren bestehen entweder nur aus recentem Riffkalk oder sie haben einen älteren, aus vulkanischem Gestein oder aus dem jungen Korallenkalk (Stufe 4), oder aus beiden zusammen- gesetzten Kern. Die geologische Zusammensetzung kommt in dem land- schaftlichen Charakter der Eilande sehr deutlich zum Ausdruck. Die ganz oder vorwiegend aus vulkanischem Material aufgebauten Inseln haben abgerundete Gipfel und sanft gegen die Küste abfallende Ab- hänge; die ganz oder vorwiegend aus dem Korallenkalk bestehenden haben flache, nieht selten in der Mitte eingesenkte Scheitel und steile, zur Küste jäh absetzende Abhänge. Die meisten von den kleineren Inseln, namentlich der östlichen Laugruppe sind rundlich und haben eine ungegliederte Küste. Einige von den vulkanischen Inseln, wie Totoya, stellen ein größeres Stück eines Kreisbogens dar und enthalten im Inneren eine Lagune. Die mittelgroßen Inseln sind unregelmäßig gestaltet und haben wenig ge- gliederte Küsten. Eine reichere Gliederung weisen die Küsten der 86 : v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. beiden großen Hauptinseln auf; nur die Südküste von Viti Levu ist ungegliedert. Alle Küsten dieser Inseln werden von lebenden Korallriffen ein- gefasst und außerdem giebt es noch zahllose andere, größere und kleinere, in der Umgebung der Inseln sich erhebende, isolierte Riffe. Den Küsten entlang ziehen Strandriffe von wechselnder Breite, welche vielerorts, weiter vom Ufer sich entfernend, zu Wallriffen werden. Gar nicht selten kommt, namentlich dort, wo das Wallriff sehr weit von der Küste entfernt ist, hinter demselben noch ein, der Küste dicht sich anschmiegendes Strandriff zur Ausbildung, und es erheben sich aus dem Lagunenkanal größere und kleinere, mehr oder weniger isolierte Riffe. Den Südküsten der beiden Hauptinseln (Viti Levu, Vanua Levu), sowie den Westküsten der östlichen Inseln (Laugruppe) sind keine weiter abstehenden Wallriffe vorgelagert, dagegen finden sich solche vor den Nordküsten der ersteren und den Ostküsten der letzteren. Am weitesten entfernt sich das große Seeriff im Nordwesten von Vanua Levu, vom Lande. Die Lagunen, welche sich hinter den Wallriffen und innerhalb der Atolle ausbreiten, haben zum Teil recht bedeutende Dimensionen. Die Lagune des Argoriffes in der Laugruppe ist gegen 40, jene, welche vom Nanuku- und Nakusemanu-Riff umschlossen wird, 44°), km lang. Kleinere und kleinste Lagunen finden sich in großer Zahl. Auch die Tiefe einiger von den Lagunen ist recht beträchtlich ; dieselbe ist in großen Lagunen in der Regel bedeutender wie in kleinen. Die erwähnte, große Nanuku-Nakusemanu-Lagune hat eine Maximal- tiefe von 95 m, jene der Buddrifflagune eine solche von 85m, während bei den anderen, kleineren Lagunen meist Maximaltiefen von 42 (z. B. Aiwa) bis 47 m (z. B. Nairai) angetroffen werden. Atolle, welche eine bedeutendere Unterbrechung ihres Ringwalles aufweisen, haben zuweilen, namentlich gegen diese Unterbrechung hin, bedeutend tiefere Lagunen, die Maximaltiefe der Vanua Mblavu-Lagune ist in der Nähe der Unterbrechung ihres Ringwalles über 183, jene der Lagune in der Umgebung der Mbengha- und Yanutha-Insel an der entsprechen- den Stelle 256 m tief. Ueber die Neigungsverhältnisse der äußeren Riffböschungen sagt Agassiz eigentlich nichts. Er selbst ist nicht in der Lage gewesen, äußere Riffböschungsprofile auszumessen. Immerhin lassen die Tiefen- coten der Seekarten den Schluss zu, dass vielerorts die äußere Riff- böschung hoch und auch ziemlich steil ist. Das Wallriff an der Südost- küste von Vanua Levu fällt an einerStelle auf 3'/;;, km Horizontaldistanz zu einer Tiefe von 1300 m ab. Außerhalb des Mbenga-Wallriffes wurden !/,;, km vom äußeren Riffrande Tiefen von 273—365 m und darüber gelothet. Hier giebt es also einen über 45° steilen und über 250 m hohen, submarinen Abhang. Nördlich von Matuku wurde 5'/, km v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. 87 vom Riffrande eine Tiefe von 1920 m gefunden. Der Nordostabfall des Aiwariffes senkt sich in !/, km Horizontaldistanz 345 m tief hinab. Ueber die Kimbomboriffe sagt Agassiz, dass sie sich direkt aus tiefem Wasser erheben, und an mehreren Stellen seines Buches spricht er von der tiefblauen Farbe des Wassers dicht außerhalb des Riffes, eine Färbung, die stets ein Anzeichen bedeutender Tiefe ist. Wenn wir diese Angaben mit den oben mitgeteilten Messungen und den übrigen aus den Seekarten zu entnehmenden Reliefverhältnissen zu- sammenhalten, so kommen wir zu dem Schlusse, dass der Neigungs- winkel der obersten 200-500 m der äußeren Riffböschungen in der Fidschigruppe zumeist etwa 35—55° beträgt. Agassiz betont, dass bei den Korallriffen im allgemeinen und besonders auch bei den Riffen des Fidschi-Archipels die Riffkrone nicht in dem Maße wie Dana, ich und andere annehmen, einen wirk- lichen Damm bildet und nur in verhältnismäßig geringem Grade die Wasserbewegung hemmt. Vielerorts wird sie von größeren und kleineren Breschen durchbrochen, die selbst bei tiefster Ebbe mehrere Meter Wasser haben. Bei mittlerem Wasserstande ist der größte Teil der ganzen Riffkrone völlig überflutet und zur Flutzeit wird sie von nahezu 4 m Wasser bedeckt. Die großen Dünungswellen überschlagen die Riffkronen immer außer zur Zeit der tiefsten Ebbe. So kommt es, dass Wind und Strömungen große Wassermassen in die Lagunen hineinwerfen und dass das Wasser in den letzteren durchaus nicht so ruhig ist, wie die genannten Autoren annehmen. Das über die Kronen und durch die Breschen der Wallriffe hereinstürzende. Wasser ist es, welches diejenige pelagische Korallennahrung in den Lagunenkanal hereinbringt, die es den Korallen ermöglicht, sich auch hinter dem Wallriff zu erhalten und hier Strandriffe zu bilden. Die Breschen in den Strandriffen und den küstennahen Wallriffen pflegen sehr genau den Ausmündungen jener Schluchten am Ufer gegenüber zu liegen, durch welche die Wildwässer zur Regenzeit Schlamm und Sand ins Meer hinausführen. Den Angaben von Agassiz über die Rifffauna ist folgendes zu entnehmen. Die riffbauenden Korallen gedeihen an den inneren Riffböschungen in Tiefen zwischen 5'/), und 14'J; m. An den äußeren Riffböschungen reichen sie bis zu 30 oder 36'/; m herab. Auf beiden Seiten des Riffes dehnt sich sandbestreuter Grund zwischen den Korallenstöcken aus. Nach unten, gegen die untere Grenze der Zone desiRiffkorallenwachstums, stehen die einzelnen Korallenstöcke weit voneinander entfernt; nach oben hin drängen sie sich dichter zusammen. Gegen die obere Grenze des von ihnen eingenommenen Gürtels werden sie kleiner, 88 v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. An der äußeren Riffböschung am Eingange in das Mbenghariff sah Agassiz in einer Tiefe von Il m große Stöcke von Madrepora, Fungia und Pocillopora, kleine Porites, Astraea, Maeandrina und Gor- gonia. Die mit 3—4 m Wasser bedeckte Riffkrone des nördlichen Astrolabe-Riffes war mit Gruppen von üppig wachsenden Madrepora, Pocillopora, Astrae, Maeandrina und wenigen Gorgonien bedeckt. Auf weniger hoch mit Wasser bedeckten Riffkronen herrschen tote Korallen- fragmente vor, welche hier von üppig gedeihenden Korallinen und Nulliporen überwuchert und miteinander verbunden werden. Auf dem Suva, an der Südküste von Viti Levu, vorgelagertem Riff wurde eine an Arten zwar ziemlich arme, an Individuen aber sehr reiche Fauna angetroffen. Gegen den inneren Riffrand zu finden sich zahllose, große, schwarze Ophiotrix. Dieselben verbergen ihren Körper in Vertiefungen des Gesteins und breiten ihre Arme über die freien Oberflächen aus. Gegen den äußeren Riffrand hin tritt Echinometra lucuntur an Stelle dieses Ophiotrix. Diese Echinometren bohren hier 5 cm tiefe, ander- wärts noch tiefere Löcher in das Riff, in denen sie dann sitzen. Die Löcher liegen so dicht beisammen, dass nur dünne Wände zwischen ihnen übrig bleiben und die ganze Riffoberfläche ein wabiges Aussehen erlangt. Noch weiter draußen beginnen lebende Madreporen und Poeilloporen aufzutreten. Die Riffkrone wird von korallinen und an- deren Algen bekleidet. Zwischen denselben werden Holothurien, eine blaue Linckia und ein grüner Goniaster angetroffen. Große Krabben kriechen über die Felsen hin, kleine, glänzend blau gefärbte Fische beleben die Wasserlöcher und ab und zu sieht man Muraenen und Squillen. Lebhaft gefärbte Spongien wachsen an den Unterseiten vor- ragender Riffteile. Vielerorts ist der Riffkalk von bohrenden Mollusken und Anneliden durchtunnelt. Die pelagische Fauna zeigt keine besonderen Eigentümlichkeiten. In allen Lokalitäten, in denen gefischt wurde, scheinen so ziemlich die gleichen Tiere vorzukommen. Junge Fische, Fischeier, Salpa, Doliolum, Aleiopiden, Copepoden, Squilla, Embryonen von Macruren und Brachyuren, Rhegmatodes, Halopsis, Agalma, Tamoya, viele Diphyies, Ectopleura, Oceania, Berenice, Liriope, Polygordius, Tomopteris, Octopus, Mollusken- embryonen, Hyalea, Atlanta, Styliola, Tiedemannia wurden in Tiefen zwischen O und 320 m mit dem Tannernetz erbeutet. Im ganzen glich diese pelagische Fauna jener der Strasse von Florida, war jedoch weit weniger reich. Mit dem Öberflächennetze wurden außerdem noch einige Schirm- quallen, große Sagitten, Collozoon und Foraminiferen gefangen. Es ist bemerkenswert, dass die meisten, im Fidschiarchipel ge- sammelten Schirmquallen zu denselben Gattungen wie die Acalephen an der Ostseite des Isthmus von Panama gehören. Sie scheinen, ebenso wie viele Genera von Echinodermen, Crustaceen und Fischen der v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. 39 Westindischen Inseln, auch im Pacifik weit verbreitet zu sein. Von den Medusen- und Siphonophoren-Gattungen des Golfes von Mexiko wurden folgende im Fidschiischen Gebiete gefunden: Linerges, Poly- clonia, Aurelia, Halopsis, Tiaropsis, Gonionemus, Liriope, Bougainvillia, Eutima, Oceania, Aglaura, Eucharis, Idya, Agalma, Physalia und Diphyes. Auch den Bololowurm konnte Agassiz beobachten. Er schreibt über denselben folgendes: „Wir waren so glücklich, uns zu derselben Zeit in Levuka zu befinden, als der Bololowurm sich dort zeigte. Am 17. November (1897) begaben wir uns um 3 Uhr früh nach einem etw 5 km südlich von Levuka gelegenen Landvorsprung, welcher Bololopoint genannt wird. Kaum hatten wir diesen Ort erreicht, so griff unser Führer ins Wasser und zog einen Bololowurm heraus. In wenigen Minuten war das Meer voll von Würmern, zahlreiche Boote stießen vom Land ab, Männer, Frauen und Kinder wateten in dem, wegen der herrschenden Ebbe seichten Wasser auf der Riffkrone: mit Netzen und allerlei sonstigen Utensilien ausgerüstet, oblagen sie dem Bololofange. Als der Morgen angebrochen war und das Licht zunahm, bemerkten wir auch eine bedeutende Zunahme des Bololo. Die Würmer waren so massenhaft, dass zu einer Zeit das Wasser in der Umgebung unseres Bootes ganz voll von ihnen war und wie Nudelsuppe aussah. Ein Kübel, mit dem wir schöpften, schien nichts anderes als Bololo- würmer zu enthalten. Wir legten eine reiche Bololosammlung an und konservierten die Würmer auf allerlei Art. Wie wir erwartet hatten, fanden wir, dass ihr plötzliches Erscheinen zu der Ablage der Ge- schlechtsprodukte in Beziehung stand: sie waren gekommen, um hier auf der Riffkrone zu laichen. Es gab Männchen und Weibchen, und alle waren ganz mit reifen Eiern bezw. Spermatozoen gefüllt. Bald nachdem die Würmer gefangen waren, legten sie ihre Geschlechts- produkte ab, das Wasser in den Behältern wurde milchig trübe und am Boden sammelten sich große Massen von dunklen Eiern an. So- bald sie sich ihrer Geschlechtsprodukte entledigt hatten, kollabierten die Würmer, und nichts blieb von ihnen übrig als eine leere, kaum sichtbare Haut. Das ist der Grund des scheinbaren plötzlichen Ver- schwindens des Bololo. Die Männchen sind lichtgelblichbraun,‘ die Weibehen dunkelgrün. Ihre Beweglichkeit ist eine ganz außerordent- liche, und das Platzen des Tieres, beim Ausstoßen der Geschlechts- produkte, eine höchst eigentümliche Erscheinung.“ Es ist bekannt, dass Darwin, Dana und die meisten Anhänger der Korallrifftheorie des ersteren die Fidschiischen Riffe als Beispiele von Korallenbauten auffassen, welehe während einer Periode positiver ‚Strandverschiebung gebildet worden sind. Dementgegen behauptet 90) v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. Agassiz, dass die recenten Fidschiischen Riffe nicht während einer Periode positiver Strandverschiebung gebildet worden seien und dass die letzte Strandverschiebung, die in jenem Gebiete stattgefunden hat, eine negative war. Wir wollen nun an der Hand der Ergebnisse der neuen Untersuchungen von Agassiz diese beiden, einander wider- sprechenden Anschauungen kritisch beleuchten. Die Lage des Fidschiarchipels in der Nähe jener wichtigen, von Neuseeland nach Norden abgehenden Linie geringen Widerstandes, die wiederholt dort ausgebrochenen, zum Teil sehr bedeutenden, vul- kanischen Massen, die Ungleichheit der Höhe, bis zu welcher der junge Korallenkalk in verschiedenen Teilen des Archipels erhoben worden ist und endlich die Terrassen und alten Strandlinien, von denen an- einer Stelle nieht weniger als fünf übereinanderliegen und welche zeigen, dass die letzte negative Strandverschiebung ruckweise erfolgt ist und von Perioden der Ruhe unterbrochen war, lassen mit ziemlicher Sicher- heit schließen, dass die Fidschiinseln im allgemeinen sehr häufigen und bedeutenden Niveauveränderungen und sonstigen tektonischen Störungen ausgesetzt gewesen sein dürften. Ganz sicher ist es, dass seit der Bildung des Korallenkalkes eine oder mehrere negative Strand- verschiebungen stattgefunden haben. Agassiz meint, dass zwischen und nach diesen negativen Bewegungen keinerlei positive Bewegung stattgefunden hätte. Dies wird in seinem Buche oft und mit einem gewissen Eifer behauptet, es wird aber keinerlei Thatsache angeführt, welche die Richtigkeit dieser Behauptung zu stützen geeignet wäre. Ich meinerseits sehe durchaus keinen Grund, warum wir nicht annehmen sollen, dass im Fidschiischen Gebiete oseillatorische Bewegungen statt- gefunden haben und noch stattfinden, dass dort Perioden positiver Strandverschiebung, deren Spuren bekanntlich oft schwer zu erkennen sind, mit Perioden negativer Strandverschiebung abwechselten und noch abwechseln. Im Gegenteile: manche Eigentümlichkeiten des Bodenreliefes scheinen mir die Annahme jüngst stattgefundener, posi- tiver Bewegungen höchst wahrscheinlich zu machen. Es giebt in der Fidschigruppe mehrere, mehr oder weniger hohe und gut erhaltene, alte Vulkane mit breiten, vom Meere erfüllten Kratern. Der am besten erhaltene von diesen ist die Insel Totoya. Dieselbe besteht aus einem drei Vierteile eines Kreises bildenden Kraterwall, der im Südosten durch eine Bresche unterbrochen ist. Im Inneren des Kraters liegt eine durch die erwähnte Bresche mit dem umgebenden, offenen Meere in Verbindung stehende Lagune. Der höchste Punkt des Kraterwalles liegt 365 m über dem Meere. Die Lagune im Inneren des Kraters ist annähernd kreisrund und hat einen Durchmesser von 6 km. Diese Lagune ist bis 64m tief und hat einen gegen die Bresche zu abdachen- den Boden. In der Mitte derselben liegt eine kleine, aus lebenden Korallen bestehende Insel (Kini-Kini). Ein ziemlich schmales Strandriff v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. 91 umsäumt den Kraterwallrest sowohl auf seiner Innen- wie auf seiner Außenseite. Ferner findet sich ein großes, ausgezeichnet entwickeltes Wallriff, welches fast die ganze Insel einfasst und nur im Norden auf eine größere Strecke unterbrochen ist. Dieses Wallriff ist 1'.—3'/, km von dem Außenrande des Kraters entfernt. Zwischen Krater und Wall- riff liegt eine durchschnittlich 37 m tiefe Lagune. Stellenweise sind Tiefen von 47 und 49 m in derselben gelotet worden. Aus dieser Lagune erheben sich einige wenige kleine Riffe. Agassiz meint nun, dass diese Insel mit ihren Riffen in folgender Weise entstanden wäre: An der Stelle, wo jetzt Totoya liegt, entstand infolge von Ausbrüchen ein Vulkankegel von beträchtlicher Höhe. Derselbe stellte eine Insel dar, deren Strandlinie durch das heutige Wallriff bezeichnet wird. Infolge von Abrasion wurde, bei gleich bleibendem Meeresniveau, die Insel so weit abgetragen, dass nur der jetzige Rest übrig blieb. Dann siedelten sich Korallen auf den abradierten, submarinen Flächen an und bildeten die jetzigen Riffe. Dagegen ist einzuwenden, dass die Meeresbrandung nur an den exponierten Küstenstrecken angreifen und hier abradierend wirken kann: die Lagune im Inneren der Insel konnte jedenfalls nicht vom Meere ausgewaschen werden, diese kann nur — sie ist ja 6 km breit — durch die lange anhaltende Thätigkeit der Atmosphärilien nach vor- hergegangener Barrankenbildung, in der Luft also, gebildet worden sein. Sowie einmal das Meer in sie eingedrungen war, musste sie — unverändertes Meeresniveau vorausgesetzt — durch die Anhäufung der von den Innenabhängen des Kraterwalles herabkommenden Sand-, Schlamm- und Schuttmassen immer mehr ausgefüllt, statt weiter ver- tieft werden; nie könnte sie 64 m tief werden. Hierzu kommt noch die Anwesenheit eines Strand- und Wallriffes. Die Beschaffenheit des Korallenkalkes zeigt uns, dass schon im Jungtertiär Korallenriffe im Fidschigebiete wuchsen. Es giebt keinerlei Grund, anzunehmen, dass das Korallenwachstum dort seit jener Zeit jemals ganz unterbrochen war, nur ab und zu werden die vulkanischen Ausbrüche die Korallen an einzelnen Stellen getötet haben. Auch die Thatsache, dass in jenem tertiären Korallenkalk dieselben Genera, ja teilweise sogar die- selben Arten vorkommen wie in den jetzt lebenden Fidschiischen Riffen spricht für die Kontinuität des Korallenwachstums in dieser Gegend seit jener Zeit. Aus all dem lässt sich wohl mit ziemlicher Sicherheit der Schluss ziehen, dass es Riffkorallen im Fidschigebiete während der Zeit gab, während welcher, nach der Auffassung von Agassiz, die Abrasion des Totoyavulkans stattgefunden hat. Wenn es aber diese ganze Zeit über dort Korallen gegeben hat, so müssen sie auch diese ganze Zeit über nahe dem Strande der Insel gewachsen sein und den Strand selbst im ausgedehntesten Maße vor Abrasion 99 v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. geschützt haben. Da müsste denn die Abrasionswirkung gar sehr hinter der Wirkung der Atmosphärilien zurückgetreten sein und sicher- lich wären jene bedeutenden Höhen des Kraterwalles viel früher von diesen entfernt worden als das Meer von der Seite her die Insel irgendwie erheblich hätte abtragen können — von der Auswaschung der Lagune gar nicht zu reden. Endlich scheint es schwer begreiflich, warum auf dem — nach Agassiz — durch Abrasion in der Um- gebung der Insel entstandenen submarinem Plateau außen ein Wallriff und innen ein Strandriff aufgebaut wurde, während die dazwischen liegenden Teile, welche gegenwärtig von dem Lagunenkanal ein- genommen werden, gar nicht oder doch viel weniger wie die äußeren und inneren Randteile von Korallriffmassen überlagert wurden. Mir scheint, dass die A gassiz’sche Annahme mit den Thatsachen vielfach im Widerspruche steht, dass durch bloße Abrasion (und Atmosphärilienwirkung) die Erscheinungen, die uns in der Gestaltung von Totoya entgegentreten, nicht erklärt werden können. Suchen wir also nach einer anderen Erklärung. Es ist oben dar- auf hingewiesen worden, dass der breite Totoyakrater, dessen gegen- wärtiger Rand einen Durchmesser von über 7 km hat, subaerisch von den Atmosphärilien aus einem einst viel höheren Vulkankegel mit viel engerem Krater herausmodelliert worden ist. Der Boden der inneren Lagune zeigt, wie gesagt, eine deutliche Abdachung gegen die Unter- brechung des Kraterwalles, die einstige Barranke hin, was wohl als Beweis für die Richtigkeit der Annahme einer subaerischen Bildung der inneren Kratermulde angesehen werden kann. Ist aber diese Mulde subaerisch' gebildet worden und steht jetzt das Meer 64 m hoch in derselben, so muss seit der Muldenbildung eine positive Strandverschie- bung um mindestens 64 m stattgefunden haben. Die Annahme einer solchen erklärt uns aber nicht nur die Gestalt des alten Kraterrestes, sondern auch die Bauverhältnisse des Riffes, welches sich an denselben lehnt. Unter Annahme einer positiven Strandverschiebung würde die Genesis von Totoya etwa folgende gewesen sein. Lange fortgesetzte Ausbrüche bauten im Meere eine hohe vulkanische Insel von Kegel- gestalt mit engem Krater auf. Während der vulkanischen Aus- brüche wurden Staub-, Lapilli- und Lavamassen in der Umgebung der Insel im Meere abgelagert und diese töteten die dort sich ansetzenden Korallen immer wieder. Als dann die Ausbrüche aufhörten, konnten die Korallen sich ungestört entwickeln: alsbald bildeten sie ein Riff, welches die Insel umsäumte. Die Atmosphärilien nagten die äußeren Abhänge ab und durch die Austiefung einer südöstlich gelegenen Schlucht entstand eine Barranke. Nun wurde der Kraterwall ebenso von innen wie von außen angegriffen. Das Meer stieg und drang durch die Barranke in den von den Atmosphärilien erweiterten Krater ein. Das v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinsen. 93 Riff, welches sich um die Insel gelegt hatte und anfangs natürlich ein Strandriff war, wuchs ebenso rasch in die Höhe als der Meeresspiegel anstieg und breitete sich auch seitlich nach aussen etwas aus. Hinter diesem Riff sank der Meeresboden herab und hier konnten, wegen der weniger günstigen Ernährungsbedingungen, die Korallen in ihrem Wachstum mit dem Steigen des Meeres nicht gleichen Schritt halten: trotz des Korallenwachstums und trotz der Ablagerung des von der Insel dureh die Atmosphärilien und die Brandung abgeschwemmten Materials in dieser Zone sank sie immer tiefer unter den Spiegel des Meeres hinab, wodurch der Grund für die Rifikorallen zu tief und eine breite Lagune gebildet wurde, die das Riff vom Insel- strande trennte. Dicht am Strande konnten sich die Korallen trotz der Senkung halten: nach Innen, gegen die Mitte der rücken- den Insel vorrückend, fanden sie immer einen, im richtigeu Niveau liegenden Fußpunkt. Hier von demjenigen pelagischen Materiale sich ernährend, welches das über die Riffkrone und durch die Rifl- breschen eindringende Wasser mitbrachte, bildeten sie jenes Strandrift, das sich heute noch dicht an die Uferlinie des alten Kraterwalles schmiest. Jeder, der diese beiden Theorien miteinander vergleicht, wird, glaube ich wohl, zugeben, dass die letztere mit den beobachteten That- sachen viel besser im Einklange steht wie die erstere. Ausgehend von seinen Beobachtungen an Totoya hält Agassiz es für sehr leicht möglich, dass manche Atolle mit tiefen Lagunen und auch manche von denen, die sich isoliert aus größeren Meerestiefen erheben, in der Weise, wie es einige ältere Autoren angegeben hatten, auf Kraterrändern fußen. Er meint, dass es viele, zum Teil sehr weite Krater gäbe, die nur mit ihrem Rande aus dem Wasser hervor- schauen, dass solche dann ganz abradiert würden und eine ringförmige Untiefe bildeten, auf welcher das Riff sich dann ansetzt. Nach meiner Meinung müsste die bewegte See nieht nur die Abrasion des Randes, sondern auch die Ausfüllung des (submarinen) Kraterbeckens herbei- führen und könnte ein größeres Kraterbeeken überhaupt nur subaerisch durch Ausspülung des Kraters und Entfernung des Materials durch eine Barranke zu stande kommen. Ohne positive Strandverschiebung könnte es nicht zur Bildung weiter, unterseeischer Kraterbecken kommen, und wenn mit ihrer Hilfe ein solches Becken gebildet worden wäre und sie dann aufhörte, so würde das Becken durch die Wirkung der Abrasion bald wieder ausgefüllt werden. Es ist oben erwähnt worden, dass der Korallenkalk, welcher die vierte Stufe der in den Fidschiinseln beobachteten Gesteinslagen an- gehört, stellenweise eine Mächtigkeit von bedeutend über 200 m er- langt. Dieser Kalk, von dem Agassiz glaubt, dass er während der zweiten Hälfte der Tertiärperiode gebildet wurde, ist Riffkalk. 94 v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. Agassiz selbst sieht ihn als ein erhobenes Riff an und hält es für höchst wahrscheinlich, dass derselbe während einer Periode positiver Strandverschiebung gebildet worden sei. Ihre bedeutende Mächtigkeit lässt es in der That als höchst unwahrscheinlich erscheinen, dass diese bedeutende Kalkmasse nur einem lateralen Wachstum eines auf seinem eigenen Gerölle fußenden und auf diesem immer weiter ins Meer hinaus wachsenden Riff ihre Entstehung verdankt, wie Andrews anzunehmen geneigt scheint. Das Hangende sowohl als das Liegende dieses Korallenkalkes besteht vielerorts aus vulkanischem Gestein, stellenweise das erstere auch aus recenten Riffkalk. Jedenfalls haben vor und nach der Bildung dieses Korallenkalkes vulkanische Aus- brüche im Fidschiischen Gebiete stattgefunden. Gewisse Einlage- rungen weisen darauf hin, dass auch während seiner Bildung solche vorkamen. Auch das recente Riff fußt auf vulkanischem Gestein (wo es nicht direkt dem Korallenkalk aufruht) und auch während seiner Bildung scheinen vulkanische Ausbrüche vorgekommen zu sein. Lithologisch giebt es zwischen dem recenten Riff und jenem alten Korallenkalk keine anderen Unterschiede als eben die, welche auf dem größeren Alter des letzteren beruhen. Wenn nun dieser Korallenkalk „höchst wahrscheinlich“ (Agassiz) während einer Periode positiver Strand- verschiebung entstanden ist, warum sollte denn dann der recente Riff- kalk nicht auch während einer solchen Periode gebildet worden sein. Stellenweise hat Agassiz gesehen, dass das recente Riff dünn ist. Daraus nun schlielit er, dass es nirgends eine bedeutendere Mächtig- keit habe — doch sicher kein zulässiger Schluss. Eingangs ist gesagt worden, dass die oberen Teile der äußeren Riffböschungen recht steil sind. Agassiz unterlässt es, den Versuch zu machen, diese Steilheit der äußeren Riffböschung auf Grund seiner eigenen Rifftheorie zu erklären. Es ist wohl sicher, dass sie nicht auf einen terrassenförmigen Bau des die Unterlage der Riffe bildenden Meeresbodens beruht, weil solche Terrassen — außer eben durch Riffe — submarin nicht gebildet werden können und weil sie, wenn sie subaerisch gebildet worden sind und dann, infolge einer positiven Strandverschiebung, unter das Meer gelangen, während der Sen- kung durch die abradierende Wirkung der Brandung zerstört werden müssen. Es ist bekannt, dass das stetige Vorkommen von Lagunen in den Atolls, und von Lagunenkanälen hinter den Wallriffen, eine der Haupt- stützen der Darwin’schen Korallrifftheorie bildet. Lagunen und Lagunenkanäle sind in den Fidschiischen Riffen ausgezeichnet ent- wickelt. Bei Annahme einer positiven Strandverschiebung während der Bildung der Riffe ist ihre Entstehungsweise natürlich leicht genug erklärt. Anders verhält es sich aber, wenn man von einer positiven v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. 95 Strandverschiebung absieht. Agassiz sucht ihre Entstehung auf die ausspülende Wirkung des bewegten Meeres zurückzuführen. Er meint, dass die großen Dünungswellen über die Riffkrone hinweg und in die Lagune, bezw. den Lagunenkanal hineinstürzen, dass dabei hinter dem Riff eine etwas nach abwärts gerichtete Strömung zu stande kommt und dass diese, Grundteile mit sich reissend, den hinter dem Riff ge- legenen Boden der Lagune austieft. Dagegen ist zunächst einzuwenden, dass, wenn dies so wäre, in allen Meeren und in allen Breiten, nicht bloß in den von Korallen be- siedelten Gebieten, atollähnliche Bildungen zu stande kommen müssten, dass Sandbänke und andere Untiefen auch in der Mitte ausgetieft werden müssten und dass wallriffähnliche Erhöhungen mit dahinter liegenden, lagunenkanalähnlichen Vertiefungen überall dort ausgebildet werden müssten, wo der, von einer Küste herabziehende, submarine Abhang eine nur geringe Neigung hat. Thatsächlich werden aber solche Bildungen nur dort beobachtet, wo lebende, festsitzende Orga- nismen, seien sie nun Korallen, Röhrenwürmer, Kalkalgen oder sonst welche, die solche Vertiefungen ab- oder einschließenden Dämme bilden: nicht mit der überall gleich wirkenden, bewegten See, sondern mit den riffbauenden Organismen stehen diese Bildungen in kausalem Zusammenhang. Aber auch nicht jedes von solchen Organismen er- baute Riff schließt eine derartige Vertiefung ein: also ist zu ihrer Bildung nicht allein das Vorhandensein riffbauender Organismen, sondern auch die Mitwirkung noch eines anderen Agens erforderlich, und dieses Agens kann doch wohl nur die positive Strandverschiebung sein. Ferner ist zu bemerken, dass die Wirkung der die Riffkrone überstürzenden Wassermassen naturgemäß auf die dicht hinter dem Riff gelegene Zone beschränkt sein muss. Hier könnten die Wässer allenfalls eine Vertiefung auswaschen, das Material aber, welches von hier entfernt würde, müsste gleich dahinter in Form eines abgerun- deten, breiten Dammes wieder abgelagert werden, wie wir das hinter jeder Flusswehre sehen können. Thatsächlich finden sich die tiefsten Stellen der Lagunen aber gar nicht dicht hinter dem Riffdamm, sondern gegen die Mitie oder, wenn eine tiefere Bresche im Riffwall vorhanden ist, gegen diese zu. Endlich muss es als ganz unstatthaft bezeichnet werden, die Austiefung von großen, viele Kilometer breiten Lagunen einer solchen, in ihrer Wirkung bestenfalls räumlich ganz beschränkten, Wasserwirkung zuzuschreiben. Die meisten von den aus altem Korallenkalk bestehenden Inseln sind, wie oben erwähnt, breit blockförmig und haben steile Seiten- abstürze und flache Scheitel. Bei manchen von ihnen, wie Naiau, Tuvutha, Kambara, Wangava und anderen bemerkt man, dass die Scheitelfläche in der Mitte mehr oder weniger stark eingesenkt ist. Frühere Autoren und jetzt auch David, haben die Ansicht aus- 96 v. Lendenfeld, Die Arbeiten über die Korallriffe der Fidschiinseln. gesprochen, dass diese Inseln nichts anderes als alte, infolge einer negativen Strandverschiebung trocken gelegte Atolle und die centralen Scheiteldepressionen die Böden ihrer Atolllagunen seien. Dem entgegen ist Agassiz der Meinung, dass diese Senkungen erst sekundär, nach- dem die Inseln schon trocken gelegt waren, entstanden sind und zwar infolge der Einwirkung des atmosphärischen Wassers auf den Kalk- stein. Er meint, dass das Regenwasser durch den Humus dringend, Kohlensäure auflöst und dass dann dieses kohlensäurereiche Wasser den Kalkstein, welcher die Unterlage der Humusdecke bildet, auflöst. Besonders gefördert würde diese lösende Wirkung dadurch, dass in dem Kalk allerlei Spalten und Höhlen vorhanden sind, in die das kalklösende, kohlensäurehaltige Wasser einzudringen vermag. Solcher Art soll das atmosphärische Wasser die mittleren Teile der (ursprüng- lich flachen) Inseln entfernen und jene Vertiefungen erzeugen, welche wir jetzt auf ihrem Scheitel beobachten. Dass das atmosphärische Wasser den Kalk auflöst und entführt, ist natürlich nicht zu bestreiten, dass aber diese Arbeit in den mittleren Teilen der Inseln intensiver und rascher verrichtet werden soll wie am Rande, glaube ich nicht, und doch müsste es so sein, wenn in der That die centrale Depression dieser Ursache ihre Entstehung verdankte. Mir scheint, dass durch diese A gassiz’sche Hypothese die Entstehung solcher Inselformen nicht erklärt werden kann: die Auffassung der- selben als gehobene Atolle scheint mir entschieden die plausibelste zu sein. Wenn sie aber alte Atolle darstellen, so sind es Atolle, die wegen ihrer Mächtigkeit, ihrer Isoliertheit und ihrer geringen Horizontal- ausdehnung doch wohl nur während einer Periode positiver Strand- verschiebung haben gebildet werden können. Agassiz hat sich bemüht, durch die Untersuchung der Fidschi- inseln den Nachweis zu erbringen, dass die dortigen Korallriffe nicht während einer Periode positiver Strandverschiebung gebildet worden seien. Nach meiner Meinung hat er diesen Beweis nicht nur nicht ge- liefert, sondern durch die neuen, von ihm mitgeteilten Thatsachen nur neue Beweise für die Richtigkeit der Darwin’schen Senkungstheorie erbracht und ich erblicke in der Unwahrscheinlichkeit der Hypothesen, welche er aufgestellt hat, um die thatsächlich beobachteten Verhält- nisse ohne Zuhilfenahme einer positiven Strandverschiebung zu erklären, eine starke Stütze der Anschauung, dass — wie immer andere Korall- riffe in anderen Gegenden gebildet worden sein mögen — die Fidschi- ischen Riffe während einer Periode positiver Strandverschiebung auf- gebaut worden sind. [109] Verlag von Arthur Georgi in Berlin SW., Hedemannstraße 10. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. E. Selenka Professoren in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Br in Be: Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle ‚Buchhandlungen und Postanstalten. ZU. Band. 15. Februar 1902. Nr. #. a alt: Sen, Ueber Ursache und Zweck des enantrehenes, seine Beziehungen zur Lebensdauer und Variation mit besonderer Berücksichtigung einiger Nackt- schneckenarten. — Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutions- faktor. — Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel; ihre zoologische und wirtschaftliche Bedeutung, Am 21. Januar starb zu München der Professor der Herr Dr. Emil Selenka. Seit der Begründung des Biologischen Centralblattes hat Zoologie der Verstorbene zu dessen Herausgebern gehört und war für das Blatt ununterbrochen mit warmer Teilnahme thätig. Wir verlieren in ihm nicht nur einen geschätzten Mitarbeiter, sondern auch einen liebenswürdigen und stets anregenden Freund. Sein An- denken wird bei uns in Ehren bleiben. Die Herausgeber. De Ueber Ursache und Zweck!) des Hermaphroditismus, seine Beziehungen zur Lebensdauer und Variation mit besonderer Berücksichtigung einiger Nacktschneckenarten. Von Dr. J. Schapiro, Bern (Schweiz). Die Untersuchungen zu vorliegender Arbeit wurden im Sommer- semester 1898 im hiesigen zoologischen Institute begonnen und im Wintersemester 98/99 beendet. 1) Diese Arbeit wurde als Dissertation der hohen philosophischen Fakultät zu Bern eingereicht. Ich gebe sie hier in ihrer ursprünglichen Form und be- halte mir vor, weitere Beiträge über dieses Thema folgen zu lassen. XXI. L 98 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. Ich gestatte mir hier, meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Th. Studer, meinen verbindlichsten Dank auszusprechen für die guten Ratschläge, die er mir bei dem praktischen Teile der Arbeit erteilt, sowie für das große Interesse, welches er meiner Arbeit ge- widmet hat. Bei einigen Arionarten: wie Arion empiricorum, minimus U. 8. W., ebenso bei einigen Limax- und Agriolimaxarten lässt sich die Lebens- dauer!) mit ziemlicher Sicherheit auf ein Jahr festsetzen, wobei es ja einige Ausnahmen geben mag. Ob diese Annahme bei anderen Arionarten, wie Bourguignati, Brunneus und Limaxarten zutrifft, muss sich aus zukünftigen Beob- achtungen ergeben. Allerdings spricht die gleiche Gattungsangehörigkeit für die gleiche Lebensdauer. Allein aus der Gleichheit der Gattung einzig auch auf eine gleiche Lebensdauer schließen zu wollen, wie Simroth annimmt, wäre meiner Meinung nach nicht gut annehmbar, da sogar Individuen ein- und derselben Art sich durch Ungleichheit in der Lebensdauer unterscheiden. Die Bienenkönigin lebt bekanntlich 2—3 Jahre und noch länger, während die Arbeiterinnen nur einige Wochen leben. Auch bei den Ameisen und Wespen wurden Unterschiede in der Dauer des Lebens zwischen Männchen und Weibchen beobachtet. Allerdings giebt es bei den letzteren einen prinzipiell geschlechtlichen Gegensatz, der bei unseren Tieren fortfällt. Der geschlechtliche Gegensatz aber ist doch gewiss im Vergleich mit dem Art- oder Gattungsunterschiede nur sehr geringfügig; die Geschlechter können ihrer wesentlichen Natur nach nicht verschieden sein, da sie doch von derselben Speeies erzeugt werden. Ich will jedoch noch ein Moment, welches unseren Tieren gemein- sam ist, und das zu Gunsten der Annahme einer gleichen Lebensdauer spricht, erwähnen, nämlich: die allen gemeinsame langsame Bewegung. Dass die raschere oder langsamere Aeußerung der Lebensthätigkeit, womit doch die des Stoffwechsels eng verbunden ist, auf die Lebens- dauer bestimmend einwirkt, ist schon vielfach nicht mit Unrecht her- vorgehoben worden. Lotze sagt in seinem Mikrokosmus: „Große und rastlose Beweglichkeit reibt die organische Masse auf, und die schnell- füßigen Geschlechter der jagdbaren Tiere, der Hunde, selbst die Affen stehen an Lebensdauer sowohl dem Menschen, als den größeren Raub- tieren nach, die durch einzelne kraftvolle Anstrengungen ihre Bedürf- nisse befriedigen. Die Trägheit der Amphibien gestattete dagegen auch den kleineren unter ihnen eine „größere Lebenszähigkeit“. Weis- mann?) erkennt diese Worte bis zu einem gewissen Grade an, wenn er es auch als irrtümlich bezeichnet, wenn man glauben wolle, dass 1) Simroth, Versuch einer Naturgeschichte der deutschen Nackt- schnecken u. s. w. Zeitschr. f. wissensch. Zoologie 1885. 2) S.8. Weismann, Aufsätze. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus, 99 „Schnelllebigkeit“ unbedingt ein kürzeres Leben nach sich ziehe. Die schnelllebigen Vögel erreichen ein relativ hohes Alter und übertreffen darin sogar die trägen, in Körpergröße ihnen gleichen Amphibien. Weismann konnte allerdings für den zweiten Fall, dafür, dass Träg- heit nicht unbedingterweise Langlebigkeit nach sich zieht, unsere Schnecken als Beispiel anführen (Arion empirik. und Limax max. leben nur ein Jahr!), Helix pomatia lebt nach A. Lang?) zwei Jahre). Jedoch glaube ich, dass die eitierten Worte Lotze’s nicht ganz von der Hand zu weisen sind, wenn sie auch in der Form, wie er sie gebraucht, nieht anwendbar sind. Gewiss ist es nicht unbedingt maßgebend für die Lang- oder Kurzlebigkeit einer Art, ob sie schnelllebig oder träge ist, da die Lebensdauer doch hauptsächlich von der allgemeinen Kon- stitution abhängig ist. Die Männchen der Rädertiere, welche weder Mund, Magen, noch Darm haben, können gewiss nicht das Alter eines hochorganisierten Steinadlers, der über 100 Jahre?) lebt, erreichen. Nehmen wir aber an: Zwei Tiere von gleicher oder ähnlicher Struktur und unter gleichen Lebensbedingungen existierend, von denen eines aber träger ist als das andere, so wird sicherlich das letztere eine kürzere Zeit leben als das erstere, aus dem einfachen Grunde, weil die ihm innewohnende Lebenskraft durch seine Schnelllebigkeit schneller verbraucht wird. Somit können wir, wie ich glaube, bei unseren hier in Frage kommenden nahe verwandten Schneckenarten, die außerdem durch ihre trägen Lebensäußerungen übereinstimmen, auf eine ungefähr gleiche Lebensdauer schließen; dazu kommt noch, dass unsere Tiere im ersten Jahre schon sich fortpflanzen, somit schon in einem Jahre ihre Bestimmung bezüglich der Arterhaltung erfüllen. — Erwähnen will ich noch, dass unsere Tiere durch den Mangel der Schale gleich schlecht gegen äußere Schädigungen, wie: Kälte u. s. w. geschützt sind. Nach dieser Auseinandersetzung dürfte wohl die Annahme, dass alle Arten bloß einjährig sind, berechtigt erscheinen. Warum haben aber unsere Schnecken überhaupt ein kurzes Leben? — Die Antwort auf diese Frage liegt nahe. Ihre kurze Lebensdauer liegt eben in ihrer inneren Konstitution, denn wenn es auch unleugbar ist, dass die- selben vielen ungünstigen Verhältnissen ausgesetzt sind, wie: Kälte, Dürre u. s. w., was sicherlich auf ihre Lebensdauer nicht ohne Ein- fluss bleibt, so genügen diese Gründe meiner Meinung nach nicht, um die Kürze ihres Lebens zu erklären. Viel näher liegt die Annahme, dass ihr Selbsterhaltungstrieb ihnen über die meisten Schwierigkeiten 1) 8. 8. 98. 2) A. Lang, Kl. biol. Beobachtungen über Weinbergschnecken, Viertel- jahrsschrift der Naturforschenden Gesellschaft, Zürich, Jahrg. XLI, 1896, Jubel- band, S. 434. 3) Brehm, Leben der Vögel, p. 72. = 400 Sehapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. hinweggeholfen hätte, wenn ihre Konstitution der Langlebigkeit an- gepasst wäre. Inwiefern nun ihre kurze Lebensdauer durch ihre konstitutionelle Beschaffenheit bedingt wird, will ich versuchen, in folgenden Zeilen zu begründen. Eine der Hauptursachen — es mag deren mehrere geben —, der Kurzlebigkeit unserer Schnecken, ist der Hermaphro- ditismus. Weismann!) hat zweifellos recht, wenn er sagt: „Es ist neuerdings öfters von dem Teilungsprozesse ‘der Amöben die Rede gewesen, und ich weiß wohl, dass er meistens so aufgefasst worden ist, als sei das Leben des Individuums beschlossen mit seiner Teilung, als entstünden aus ihnen nun zwei neue Individuen, als falle hier Tod und Fortpflanzung zusammen. In Wahrheit kann man aber doch hier von Tod nicht reden? Wo ist denn die Leiche? Was stirbt denn ab? Nichts stirbt ab, sondern der Körper des Tieres zer- teilt sich in zwei nahezu gleiche Stücke, von nahezu gleicher Be- schaffenheit, von denen also jedes dem Muttertiere vollkommen ähn- lich ist, von denen jedes, wie dieses, weiterlebt und sich später, wie dieses, wieder in zwei Hälften teilt!“ — „Stellen wir uns eine Amöbe mit Selbstbewusstsein begabt vor, so würde sie bei der Teilung denken: „ieh schnüre eine Tochter von mir ab“, und ich bezweifle nicht, dass jede Hälfte die andere für die Tochter und sich selbst für das ur- sprüngliche Individuum ansehen würde. „So komme,“ fährt er fort?), „eine unendliche Reihe von Individuen zu stande, deren jedes so alt ist als die Art selbst, deren jedes die Fähigkeit in sich trägt, ins Un- begrenzte und unter stets neuen Teilungen weiter zu leben.“ — In dem Eneystierungsprozesse bei vielen einzelligen Wesen (Monoplastiden), worauf hier übrigens nicht weiter eingegangen werden soll, findet Weismann im Gegensatz zu Götte keineswegs ein Analogon des Todes, vielmehr nur?) eine Schutzeinrichtung, deren ursprüngliche Bestimmung einfach die war, einen Teil der Individuen einer Kolonie vor dem Untergange durch Eintroeknen oder Erfrieren zu schützen, oder in anderen Fällen auch die Fortpflanzung durch Teilnng, währenddem das Individuum unbehilflicher und feindlichen An- griffen leichter preisgegeben ist, zu schützen, oder ihm noch in an- derer Weise einen Vorteil zu sichern! Was den Tod der Metazoen anbetrifft, so ist nach demselben Autor der Grund dazu nur außer- halb des Organismus zu suchen, als eine Anpassungserscheinung nach dem Prinzip der Nützlichkeit. Durch die Arbeitsteilung, die mit der Vielzelligkeit verbunden ist, haben sich die Zellen der Meta- zoen in zwei Gruppen geschieden ; in propagatorische- oder Fortpflanzungs- zellen, und in Körper- oder somatische Zellen. Nur auf die propa- 1) S. 30, Aufsätze. 2) S. 138, Weismann, Aufsätze. 3) S. 35, Aufsätze. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. 101 gatorischen Zellen ist die ewige Lebensdauer der einzelligen Organismen durch Erbschaft übergegangen, während die übrigen Zellen aus Nütz- licehkeitsgründen, wobei natürlich in erster Linie die Arterhaltung in Betracht kommt, sich einer begrenzten Lebensdauer angepasst. haben. Gesetzt, irgend eine Tierform besäße das Vermögen, ewig zu leben. Nach dem Selektionsprinzip wird es sich fragen, inwiefern diese Un- sterblichkeit für die Art nützlich sei! Das wird sie entschieden nicht sein. Jedes Individuum wird doch mindestens einmal in 1000 Jahren an irgend welchem Teile seines Körpers durch irgendwelche schädliche Zufälligkeit, und mag es eine noch so geringe sein, eine nicht mehr ganz gut zu machende Schädigung erfahren. Im l.aufe der Zeit werden sich solche Schädigungen immer mehr häufen und es immer krüppelhafter werden. Trotzdem wird das In- dividuum noch immer leben — es sei denn durch einen gewaltsamen Tod dem Leben entrissen. So wird es der Art nicht nur nutzlos sein, sondern sogar schädlich werden, indem dieses unvollkommene Indivi- duum einem anderen vollkommeneren und tüchtigeren den Platz raubt. Das Leben der Metazoen musste sich daher auf einen Zeitraum be- schränken, während dessen die Tüchtigkeit der Art gefördert wurde, und so geschah es auch. Es muss hier nochmals betont werden, dass die zweckmäßige Einrichtung des Todes bei den Metazoen nicht die Geschlechtszellen trifft, dieselben leben ewig. Jede gesunde, lebenskräftige Geschlechtszelle, wenn unter ihr günstige Bedingungen gebracht, z. B. wenn sie befruchtet wird, ver- mehrt sich doch weiter bis zu einem Gesamtorganismus mit Geschlechts- zellen. Letztere, welche doch im Grunde nur die erste Zelle sind, ver- mehren sich, wenn sie unter die gleichen Bedingungen gebracht werden, weiter bis zu einem Gesamtorganismns u. s. w. Mithin giebt es bei diesen doch keinen natürlichen Tod, d. h. ihrem Wesen nach, sondern höchstens einen zufälligen, wenn sie sich z. B. nicht kopu- lieren, oder zufälligen Schädlichkeiten ausgesetzt sind. Nur die somatischen Zellen, die gewissermaßen Anhängsel der eigentlichen Träger des Lebens sind, der Geschlechtszellen, sind sterblich. Bei den einzelligen Geschöpfen wurde aus Nützlichkeitsgründen das ihnen innewohnende ewige Leben beibehalten. Denn hier sind Individuum und Fortpflanzungszelle noch ein und dasselbe und würde daher eine begrenzte Lebensdauer der Individuen — da jedes so alt ist als die Art selbst — ein Erlöschen der Einzelligen zur Folge haben, was doch sicherlich nicht im Interesse der Art liegen kann. Bei den Vielzelligen hingegen sind die Nützlichkeitsgründe die entgegengesetzten. — So ungefähr Weismann, dem ich in dieser Auseinandersetzung im wesentlichen folgte. Bei aller Anerkennung der Weismann’schen Auseinandersetzung glaube ich noch ein wichtiges Moment hinzufügen zu können, nämlich 102 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. die Ungleichwertigkeit der Körper- und Geschlechtszellen. Es ist doch klar, dass die Keimzellen unvergleichlich vollkommener sind als die übrigen Körperzellen. Die Keimzellen enthalten die Anlage, unter ge- eigneten Bedingungen ein ganzes Individuum, und mag es noch so komplizierten Baues sein, hervorzubringen, während: die Leistungen der somatischen Zellen nur einen lokalen Charakter tragen, die Bil- dung bestimmter Organe und Gewebe. Schon Goethe und Geoffroy St. Hilaire, denenDar win!) hierin beistimmt, haben darauf hingewiesen, „dass kein Organ ohne irgend- welche entsprechende Verkleinerung der umgebenden Teile vergrößert werden kann“. — Sagen wir es mit anderen Worten: wenn ein Organ, dureh Niehtgebrauch verkümmert, oder wenn eine größere Summe organischer Lebenskraft irgend einem Organe zufließt, dadurch anderen Organen die Nahrung entzogen wird, und sie somit eine Reduzierung erfahren, so erfolgt eine höhere Ausbildung anderer Organe als Ersatz für den Verlust. Blinden Menschen und Tieren z. B. ist ein stark ausgebildetes Riech-, Hör- und Tastorgan eigen. Wenn wir das Gesagte nun auch auf die Zellen anwenden, was wir doch, wie ich glaube, ohne jegliche Einwendung thun können, so folgt daraus, dass, je höher ein Individuum steht, somit also auch seine Geschlechtszellen im Werte steigen (weil sie doch seine gesamten Eigenschaften in sich tragen müssen), desto einseitiger, reduzierter, im Vergleich zu den Geschlechtszellen nur rudimentär und krüppelhaft sind die somatischen Zellen. Und müssen sie daher in gegebener Zeit ihren Platz räumen, d. i. „Tod“, weil wir uns doch „Leben“ nur als ein „Ganzes“ von ewiger Dauer denken können, während die somatischen Zellen nur einen Bruchteil der Lebenserscheinungen des Ganzen erfüllen ?). Die Geschlechtszellen hingegen vereinigen in sich insofern ein ganzes Leben, als sie unter geeigneten Bedingungen (Befruchtung) ein ganzes Leben hervorbringen können. Nun stellen wir die Frage — wir wollen hier von den Geschlechts- zellen absehen —, welehe Keimstätte als vollkommener zu betrachten ist, eine geschlechtlich differenzierte, oder eine zwittrige, und zwar wie die bei unseren Tieren, wo Eier und Sperma in dem Follikel aus ein und demselben Epithel gebildet werden? Ich will diese Frage, 4) Darwin, Variier. d. Art. II, S. 389. 2) Ist dieses nun einmal zugegeben, so würde sich allerdings daraus dieses merkwürdige Resultat in folgender Fassung ergeben, nämlich: „Je höher ein Tier organisiert ist, je spezialisierter seine Körperzellen sind — seine soma- tischen Zellen daher einen kleineren nichtigeren Bruchteil des Gesamtlebens darstellen — desto verminderter ist seine Lebensfähigkeit und -Dauer, was, wie allgemein bekannt ist, nicht der Fall ist. Ich will mich nicht wiederholen und bemerke nur, dass die auf der folgenden Seite gegen einen anderen Ein- wand angegebene Erläuterung auch hier natürlich volle Gültigkeit hat. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. 105 ohne mich auf großen Widerspruch gefasst zu machen, dahin zu be- antworten suchen: Die zwittrige Keimstätte ist gewiss vollkommener, weil sie beides, männliche und weibliche Geschlechtsstoffe, also ein Gesamtindividuumsprodukt enthält, während eine differenzierte doch nur ein relativ Halbindividuumsprodukt liefert. Nach allem Gesagten ergiebt es sich von selbst, dass bei unseren Tieren, die im absolutesten Sinne Zwitter sind, der Tod schneller folgen muss, als bei getrenntgeschlechtlichen, da doch bei ersteren die Un- vollkommenheit der somatischen Zellkomplexe gegenüber dem Zellkeim- komplexe viel bedeutender ist als bei den letzteren. Mit anderen Worten: Unsere hermaphroditischen Tiere müssen, da ihre somatischen Zellkomplexe im Verhältnis zu denjenigen der Nichtthermaphroditen einen viel kleineren Bruchteil des Gesamtlebens darstellen, auch nur eine viel kleinere Lebensfähigkeit und -Dauer haben. Sollte meine Hypothese durch Beobachtungen an anderen Zwittern irgend welchen Widerspruch erfahren, so ist dieselbe doch nicht ganz von der Hand zu weisen, da bekanntlich ‘bei der Lebensverlängerung oder -Verkürzung noch andere Faktoren eine Rolle spielen — z.B. das Alter, in welchem die Zeugungsperiode beginnt, sowie die Dauer derselben, auch Größe und Kompliziertheit des Baues, welche eine längere Zeit des Wachıs- tums erfordern u. s. w. —, die bei manchen Zwittern entgegengesetzt, d. h. für eine Lebensverlängerung wirken können; aber jedenfalls glaube ich nach meiner vorangeschickten Erläuterung behaupten zu müssen, dass Zwittrigkeit im Prinzip Kurzlebigkeit bedingt. Was nun in Bezug auf den Hermaphroditismus hauptsächlich zu sagen ist, so glaube ich folgendes anführen zu können. Häckels!) Ausführung, wonach er sagt: „Vergleichende kritische Betrachtung dieser Verhältnisse führt uns zu der Ueberzeugung, dass die ältesten Mollusken Gunchorismus besaßen, und dass dieser sich von den Promollusken direkt auf die Placophoren, Lamellibranchier, Seapho- poden, Prosobranchier und Cephalopoden durch Vererbung über- tragen hat. Erst in Folge besonderer Anpassung hat sich poiy- phyletisch aus der Geschlechtstrennung der Hermaphroditismus sekun- där entwickelt“, dürfte wohl der jetzigen Anschauung ganz entsprechen. Es fragt sich nur, auf welche Art, d. h. durch welche Faktoren und wie überhaupt die Sache aufzufassen sei! Ich will diesen Gegenstand etwas ausführlicher behandeln. Da bei manchen Hermaphroditen, z. B. bei Bothriocephalen und Tänien jedenfalls auch eine?) Selbst- 4) Systematische Phylogenie, Bd. II, S. 548. 2) Bekanntlich münden bei denselben die männlichen und weiblichen Ge- schlechtswege gemeinsam, somit ist also eine Selbstbefruchtung ermöglicht, und ist mit Bestimmtheit anzunehmen, dass, wenn auch eine gegenseitige Befruchtungvon abgelösten Proglottiden beobachtet worden ist, trotzdem auch Selbstbefruchtung stattfindet, sonst würde der Zweck der gemeinsamen Mündung unbegreiflich sein. 104 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. befruchtung stattfindet, also ebenso wie bei Parthenogenesis nur von einem Individuum die Rede ist, und wir außerdem nach der jetzt allgemein herrschenden Meinung mit Hertwig!) sagen: „Die Partheno- genesis ist nicht eine ungeschlechtliche Fortpflanzung, welche die ge- schlechtliche vorbereitet, sondern vielmehr eine Fortpflanzung, welche aus der geschlechtlichen abgeleitet werden muss, sie ist eine ge- schleehtlieheFortpflanzung, bei welchereszu einerRück- bildung der Befruchtung gekommen ist.“ Hermaphroditismus und Parthenogenesis gleichen sich also auch darin, dass bei beiden die Befruchtungsform eine sekundäre, durch Rückbildung erworbene ist. Somit glaube ich, dass man die Parthenogenesis als gleichwertiges Pendant zum Hermaphroditismus betrachten kann, und würde man daher gewiss nicht fehlgehen, zöge man gewisse Schlüsse von Partheno- genesis auf Hermaphroditismus. — Zur besseren Uebersichtlichkeit des nun Folgenden glaube ich das Wesentliche der Befruchtungsvorgänge voranschicken zu müssen. Unter Befruchtung verstehen wir bekannt- lich die Verschmelzung von zwei verschiedenen Geschlechtszellen, von Ei- und Samenzellen, miteinander. Dieselbe kann nur bei reiferen Geschlechtszellen stattfinden. Nachdem dieselben das Keimstadium, in welchem sie sich fortwährend durch Teilung vermehrten (Ursamen- und Ureierzellenstadium), durchlaufen und auch das zweite, in welchem sie durch Substanzaufnahme gewachsen und einen bläschenförmigen Kern erhalten (Ei- und Samenmutterzellenstadium), hinter sich haben, beginnt das Reifestadium. Der Reifeprozess fängt mit der Auflösung des Keimbläschens und der darauffolgenden doppelten Teilung der Samen- und Eimutterzelle an. Während nun bei ersterer alle durch die Doppelteilung entstandenen vier Samenzellen befruchtungsfähig sind, ist dieses bei letzterer nur bei einem Teile der Fall, während die anderen Teilprodukte rudimentär bleiben (Polzellen). Beide, Ei- und Samenkern, gleichen sich aber darin, dass durch die Doppelteilung die Zahl ihrer Chromosomen auf die Hälfte eines normalen Kernes reduziert wurden. (Bei gewöhnlicher Zellteilung erhält jede neu- gebildete Zelle die normale Anzahl Chromosomen, während der Kern der reifen Ei- und Samenzelle durch die Doppelteilung nur die Hälfte der Chromosomen, also die Hälfte eines Normalkernes bekommt.) Nun müssen wir nach den oben kurz skizzierten Reifeerscheinungen folgerichtig auf die Frage: welche Ursache ist es eigentlich, die die Kernteilung nach der Befruchtung hervorruft? — die Antwort geben: Es kann nur eine Ursache möglich sein, nämlich die plötzlich durch die Kopulation aufs doppelte angewachsene Masse des Kerns, welcher jetzt durch die Vereinigung der männlichen und weiblichen Kern- substanzen die Normalgröße des Kerns und somit auch die zur em- bryonalen Entwicklung nötige Kernsubstanz erlangt hat. 4) Hertwig, Lehrbuch der Zoologie, S. 116. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. 105 Ohne auf das Vererbungsproblem hier näher eingehen zu wollen, — wobei es unumgänglich wäre, die schweren Geschütze Weismann’s, des zur Zeit auf diesem Gebiete so bedeutenden Gelehrten, anzuführen — willich nur kurz bemerken, dass nach den eben erläuterten Vorgängen bei der Befruchtung die von O. Hertwig schon vor Jahren im all- gemeinen Rahmen gegebene Darstellung über die Vererbung ganz plausibel erscheint. O. Hertwig!) geht von dem auf Erfahrung be- ruhenden Satze aus: „Alle Organismen ähneln im allgemeinen beiden Eltern gleich viel, indem sie von beiden Eigenschaften geerbt haben. Wir dürfen, wie es von seiten Nägeli’s geschehen ist, aus dieser Thatsache schließen, dass die Kinder von Vater und Mutter gleiche Mengen wirksamer Teilchen empfangen, welche Träger der vererbten Eigenschaften sind.“ — So der ‘gewöhnliche Weg, der zu dem oben- erwähnten Resultat über die Ursache der Befruchtung führt. Zu dem- selben Resultat mit nicht minder thatkräftiger Argumentation führt uns auch, wie ich glaube, folgender Weg. Wenn wir uns fragen, ob der Befruchtungsakt nnr ein physiologisch-chemischer (gelöste Stoffe), oder auch ein morphologischer ist, so wird unsere Antwort lauten: dass abgesehen von den zur Zeit bekannten zahlreichen Beobachtungen über diesen Gegenstand, O.Hertwig?) schon in den achtziger Jahren die morphologische Seite der Befruchtung hervorhob. „Während der Entwicklung und Reifung der Geschlechtsprodukte, sowie bei der Kopulation derselben, erfahren die männlichen und die weiblichen Kernsubstanzen, wie eingehende Beobachtung lehrt, niemals eine Auf- lösung, sondern nur Umbildungen in ihrer Form, indem Eikern und Spermakern, der eine vom Keimbläschen, der andere vom Kern der Samenmutterzelle abstammen!“ — Der wesentlich morphologische Charakter der Befruchtung erscheint mir übrigens auch aus rein theo- retischen Gründen als eine philosophische Notwendigkeit, denn die Eigenschaften der Erzeuger, welche auf die Nachkommen übertragen werden, was wir doch täglich und stündlich beobachten, können doch nur an die Befruchtungsstoffe gebunden sein, als eine Funktion eines materiellen Substrates. Daher ist es undenkbar, dass die Eigenschaften der elterlichen Organismen, d.h. Eigenschaften von Organismen, — darunter auch viele hochorganisierte — durch etwas Aufgelöstes, Desorganisiertes übertragen werden kann; und wenn wir auch für die Häckel’schen Moneren mit Häckel?) eine Urzeugung, also aus un- organischen Stoffen entstehend, annehmen, so sind dieselben doch nur „strukturlose Organismen, ohne Organe“. Für höhere Organismen, ja selbst für eine einfache Zelle wäre eine Urzeugung aus dem oben an- geführten Grunde undenkbar. — Wenn wir nun also annehmen müssen, 1) Jen. Zeitschr, 1885, Bd. XVIII, S. 283. 2) S. 302, Jen. Zeitschr. 3) Häckel, Keimesgesch. d. Menschen, $. 470. 106 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. dass bei der Kopulation die morphologische (feste, ungelöste Stoffe) Seite das Wesentliche ist, so müssen wir, wie ich glaube, auf die S. 104 gestellte Frage: „Welche Ursache ist es eigentlich, welche die Kernteilung nach der Befruchtung hervorruft?“ die schon dort er- wähnte Antwort geben: „Eskann nur eine Ursache möglich sein“ u. s. w. Nach beiden Auffassungen also lässt sich folgendes feststellen: In der Befruchtung dürfen wir nicht hauptsächlich eine Art Belebung des Keimes ansehen, oder mit anderen Worten: sie beruhe nicht auf einem prinzipiellen Gegensatze der männlichen und weiblichen Be- fruchtungsstoffe, sondern wir müssen sie so auffassen, dass durch die Vereinigung der beiden Kerne die Normalgröße der nötigen Kern- substanz gegeben ist, welche zum Aufbau des Embryo erforderlich ist. Wie soll nun nach dieser Auffassung der Befruchtung die Par- thenogenesis aufgefasst werden? Sicherlich sind wir gezwungen, an- zunehmen, dass das reife, parthenogenetische Ei — da es bekanntlich gewöhnlich nur eine Richtungszelle ausstößt — doppelt soviel Kern- substanz in einem Kerne haben muss, als das befruchtungsbedürftige Ei unmittelbar vor der Befruchtung, und können wir uns die Entstehung der Parthenogenese etwa folgendermaßen denken, und um mit Weis- mann!) zu sagen: „Ungunst der Lebensbedingungen haben dieselben verursacht.“ Wenn z.B. eine Art auf eng begrenzten Wohnstätten ver- breitet leben muss, wo sie schnell wechselnden äußeren Einflüssen preis- gegeben ist, wo sie zwar einige Zeit hindurch unter für Leben und Vermeh- rung günstigen Bedingungen zubringt, dann jedoch plötzlich ganz un- günstige, sehr zerstörende Lebensbedingungen eintreten, muss es selbstver- ständlich von großem Vorteile sein, wenn während der günstigen Perioden eine möglichst rasche Vermehrung der Individuen stattfinden kann. Eben darin liegt ja der Vorteil der Parthenogenesis. Erstens muss ja die Vermehrung eine viel intensivere werden, wenn alle Individuen Weib- chen sind, und daher alle Keimzellen, die überhaupt hervorgebracht werden, ein neues Tier liefern, zweitens tritt eine große Beschleunigung der Vermehrung dadurch ein, „dass jede Verzögerung der Entwicklung, wie sie durch Kopulation und Befruchtung entsteht, wegfällt“. Nun bei dem Hermaphroditismus, der ebenfalls, wie oben erwähnt, aus dem getrenntgeschlechtlichen Zustande ‚hervorgegangen ist, müssen wir natürlich annehmen, dass es — hier sollen hauptsächlich nur Nackt- schnecken berücksichtigt werden — ebenso wie bei Parthenogenesis von Vorteil für Erhaltung der Art war, den getrenntgeschlechtlichen mit dem hermaphroditischen zu vertauschen. Allein dieser Vorteil lässt sich auf den ersten Augenblick nicht begreifen. Nehmen wir z. B. H. p., Ar. emp., Lim. cin. u. a. m. Dieselben begatten sich be- kanntlich gegenseitig, es fragt sich also, inwiefern der Hermaphro- 1) Aufsätze, S. 819. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. 107 ditismus bei diesen Arten zur Erhaltung der Art von Nutzen ist; die oben erwähnten Vorteile der Parthenogenesis gegen getrenntgeschlecht- liche fallen doch hier fort, auch irgend welche andere sind hier nicht zu ersehen. Gesetzt aber auch, dieselben pflanzen sich auf dem Selbst- befruchtungswege fort, wie es in der That bei manchen Zwittern der Fall!) ist, wobei in diesem Falle der Hermaphroditismus für die Art von Vorteil wäre, denn bei der trägen Bewegung dieser Tiere fällt es ihnen natürlich nicht leicht, einander aufzusuchen, um den Be- gattungsakt zu vollziehen, so wäre noch immer der Umstand unbegreif- lich, warum statt Hermaphroditismus nicht Parthenogenesis eingeführt wurde, was doch, den Niedergang der Art zu verhüten, geeigneter ge- wesen wäre als Hermaphroditismus (vergl. S. 106). Dass es leichter sei, sich letzterem anzupassen als der Parthenogenesis, ist nicht anzu- nehmen. Die Anpassung an Parthenogenesis scheint durchaus nicht schwer zu sein. Während regelmäßige Parthenogenesis?), z. B. der Sommereier vieler Daphniden und Rotatorien auf diesem Wege ent- standen ist, dass der zweite Richtungskörper unterdrückt worden, so- mit also die Eizelle so viel Kernsubstanz enthält, als wenn nach Ein- tritt der zweiten Richtungsteilung Befruchtung erfolgt wäre, ist sie bei den Bieneneiern, wo eigentlich Befruehtung notwendig wäre (bei den Bieneneiern wird der zweite Richtungskörper nicht unterdrückt, die befruchteten wie die unbefruchteten Eier bilden zwei Richtungskörper), auch ermöglicht worden, nämlich: indem die Kernsubstanz mit höherer Wachstumsfähigkeit ausgestattet worden ist. Ein ähnliches Verhalten finden wir bei den Eiern solcher Schmetter- linge, die, wenn auch in überwiegender Majorität befruchtungsbedürftig, sich aber auch manchmal parthenogenetisch entwickeln. Man sieht also, dass Parthenogenesis eine durchaus nicht schwer zu erlangende Einrichtung ist, oder sollte etwa eine Umwandlung der weiblichen Geschlechtszellen in männliche oder umgekehrt — was wir doch bei dem Hermaphroditismus, da derselbe aus getrenntgeschlechtlichen In- dividuen hervorgegangen, unbedingt annehmen müssen — der Natur leichter sein als den parthenogenetischen einfacheren Weg einzuschlagen, nämlich: entweder durch Ausstattung des zweimal geteilten Kerns mit größerer Wachstumsfähigkeit, oder noch einfacher — wie die Partheno- genesis gewöhnlich doch ist — durch Unterdrückung des zweiten Richtungskörpers?! — Bekanntlich ist die Parthenogenesis, trotzdem sie eine einfache Einrichtung ist — jedenfalls einfacher als Hermaphroditismus —, doch auffallend nur bei einigen wenigen Gruppen des Tierreiches vorhanden. Sie ist, wie bekannt, anzutreffen bei den Crustaceen, Insekten und 1) s. S. 103 unten und zweite Anmerkung. 2) Weismann, $. 766. 108 Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. Rädertieren, während bei Würmern, ja sogar ausnahmsweise bei Säuge- tieren und Menschen, wenn auch hier nur in seltenen Fällen, der Hermaphroditismus auftritt. Es liegt die Annahme nahe, dass es aus irgend welchen Nützlichkeitsprinzipien geschieht, dass der kompliziertere Hermaphroditismus der einfacheren Parthenogenesis bei manchen Tier- arten vorgezogen wurde. Nun, Parthenogenesis hat auch ihre Schatten- seiten. Die Schäden der Inzucht sind genugsam bekannt, die Tiere werden in der Regel dadurch zur Degeneration!) gebracht. Die Inzucht, glaube ich, kann man in drei Grade scheiden: erstens die Begattung der nächsten Blutsverwandten, z. B. zwischen Vater und Tochter, oder Geschwistern (also von zwei Individuen); zweitens: Selbstbefruchtung — also ein Individuum, aber zwei Geschlechtszellen; drittens: Parthenogenesis — nur ein und dieselbe Geschlechtszelle, also Inzucht im höchsten Grade, und die folglich den Inzuchtschäden am meisten zugänglich sein muss. Ich will noch hinzufügen, dass bei Parthenogenesis, ganz abgesehen von der obenerwähnten, durch In- zucht verursachten konstitutionellen Schwäche, noch ein Moment hin- zutritt, nämlich: das allmähliche Verlieren der Umbildungsfähigkeit. Weismann, durch verschiedene Erwägungen geleitet, modifizierte zu- letzt seine frühere Annahme, dass er parthenogenetischen Arten die Fähigkeit der Umbildung durch Selektionsprozesse ganz absprach, da- hin, sie können zwar dieselbe noch bis zu einem gewissen Grade be- sitzen, werden aber die Umbildungsfähigkeit um so vollständiger ein- büßen, je länger die Parthenogenesis bereits angedauert hat. Nur die amphigone Fortpflanzung?) „hat das Material an individuellem Unter- schiede zu schaffen, mittelst dessen Selektion neue Arten hervorbringt“! (Schluss folgt.) Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. Von Dr. G. Adlerz, Sundswall. Wer sich die Mühe gegeben hat, durch Messungen oder andere Untersuchungsmethoden die Körperteile einer größeren Individuenzahl von irgend welcher Species zu vergleichen, wird wahrscheinlich, oft mit einer gewissen Ueberraschung, erfahren, wie zahlreich die Ab- weichungen vom Typus in der That sind. Diese Abweichungen sind zwar oft ganz unansehnlich, aber aus einer solehen Untersuchung geht wenigstens hervor, dass Veränderlichkeit die Regel ist, während der Individuen, welche den Typus genau realisieren, d. h. hinsichtlich ihrer Körperbeschaffenheit genau die mittleren der untersuchten Indi- viduenzahl bilden, sehr wenige sind. Die hier angedeuteten Ab- weichungen sind solche, welehe zu unbedeutend sind, um in die Augen 4) Darwin, Variieren der Arten, II. T., S. 160—162. — Hensen, Physio- logie der Zeugung, S. 125. 2) Weismann, 8. 331. Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. 109 zu fallen und von deren Dasein man sich nur durch genaue Unter- suchung überzeugen kann. Als nieht ganz so häufig, wenn auch zahlreich genug, dürfte man jene kleinen Abweichungen betrachten können, welche, im Gegenteil zu den ersteren, ansehnlich genug sind, um auch ohne besondere Untersuchung in die Augen zu fallen und welche man mit den ersteren unter der Bezeichnung individueller Variationen zusammenzufassen pflegt. Wenn die natürliche Zuchtwahl bei ihrer ausmerzenden Wirksam- keit sich an derartigen unbedeutenden Abweichungen anklammern könnte, so würde die Natur von einem Wirrwarr von Zwischenformen anstatt mehr oder weniger ausgeprägter und begrenzter Arten ganz erfüllt sein. Wahrscheinlich sind auch die individuellen Variationen für die Artumbildung von geringer, wenn überhaupt von irgend einer Bedeutung. Diese erfordert größere Variationsbreite, Varietäten von Selektionswert. Ohne Zweifel steckt viel Wahrheit in der oft gehörten Be- hauptung, dass der Urheber der modernen Zuchtwahltheorie nicht mit hinreichender Deutlichkeit die Begriffe betont hat, welche von neueren Naturforschern als Selektionswert und Eliminationswert be- zeichnet worden sind. Ein ganzes Heer von Einwendungen hat sich aus diesem Gesichtspunkte gegen Darwin erhoben, allerdings sehr berechtigt, aber insofern unwesentlich, als die Berechtigung der Theorie durch sie nicht in Frage gesetzt wird. Dagegen scheint es mir unberechtigt, wenn man als ein conditio sine qua non für das Eingreifen der Naturzüchtung fordert, dass die Variationen von vitaler Bedeutung sein müssen. Wäre dies der Fall, so würden sich ja keine niedrigeren Formen haben erhalten können. Verdrängung ist nicht dasselbe wie Ausrottung, und oft ist es wohl geschehen, dass unverändert verbliebene Individuen einer Art das Feld räumen mussten, um sich der Konkurrenz ihrer veredelten Artgenossen zu entziehen. Auch wo die Umstände den Schwächeren nicht gestatten, sich auf diese Weise aus dem Spiele zu ziehen (wie z. B. auf einer kleineren Insel oder auf einem anderen isolierten Gebiete), dürfte ein unmittel- bares Ausrotten nur selten vorkommen. Die Individuenzahl der vor- teilhaften Abänderung müsste gesteigert werden, und dagegen könnten große Hindernisse entstehen, wenn diese Zahl anfänglich so gering wäre, dass die Abänderung, zufolge wiederholter Kreuzungen mit den unveränderten Individuen, mit Auslöschung bedroht würde. Das voll- ständige Ausrotten einer Art ist daher wahrscheinlich immer ein lang- wieriger Prozess. Dennoch kann ich nicht die Meinung jener Forscher teilen, welche dafür halten, dass vorteilhafte Abweichungen, um dauernden Bestand 110 Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. zu gewinnen, schon anfänglich bei einer Mehrzahl von Individuen auf- treten müssen. Die Geschichte der Kulturrassen liefert nicht wenige Beispiele davon, dass ein einziges bedeutend abweichendes Individuum die Entstehung einer ganzen Rasse veranlassen könne, trotz der Kreu- zung mit der unabgeänderten Hauptrasse. Aus welchem Grunde aber sollte man bezweifeln, dass auch im Naturzustande eine kräftig aus- geprägte Varietät trotz Kreuzungen ihr Gepräge auf eine hinreichende Zahl von Abkömmlingen drücken könne, um den Bestand der neuen Rasse zu sichern? Diese Vermutung scheint mir berechtigt, auch wenn es Variationen von mehr oder weniger qualitativer Beschaffen- heit gelte. Aber diejenige Variation, welche in der ersten Generation eine qualitative war, muss ja, wenn sie nützlich ist, in den folgenden Generationen quantitativ werden. Schon die erste vorteilhafte Ab- änderung verschob die Variationsmitte und damit auch die extremen Variationen ein Stück nach der vorteilhaften Richtung hin. Die extremsten Variationen nach derselben Richtung bilden eine neue Variationsmitte, deren Extreme sich noch weiter nach derselben Seite strecken u. s. w. Das Fortschreiten nach derselben Variationsrichtung hin scheint also gesichert, da die vorteilhaften Variationen immer da sind, sei es, dass man, um dies zu erklären, sich mit Fritz Müller auf Personalselektion, oder mit Weismann auf Germinalselektion beruft. Die Ursachen der Variabilität betrachtet man ja überhaupt als in völligem Dunkel eingehüllt, insofern man eine vollständige Erkenntnis dieses Prozesses fordert. Anders gestaltet sich jedoch die Sache, wenn man sich auf die Frage beschränkt, unter welchen Umständen die Variabilität eine Steigerung zeige, und welche also die Einflüsse seien, die auf dieselben einwirken können. Gewöhnlich fertigt man diese Frage damit ab, dass veränderte äußere Umstände die Variabilität hervorrufen. Um in dieser Sache Klarheit zu gewinnen, muss man die experi- mentelle Methode anwenden, wie dies auch bei der Behandlung der Kulturrassen schon seit langer Zeit geschehen ist. Die veränderten Verhältnisse, welchen Tiere und Pflanzen im Kulturzustande ausgesetzt sind, bedeuten ja eine ansehnliche Milderung oder ein gänzliches Aufhören des Kampfes ums Dasein. Bessere und reichlichere Nahrung als in reinem Naturzustande wird geboten, und das Fortleben der Abkömmlinge ist besser gesichert. Im großen und ganzen wachsen die Individuen also unter möglichst günstigen Be- dingungen auf. Wie geschützt gegen äußere Einflüsse das Keimplasma auch sein mag, für Schwankungen in den Nahrungsverhältnissen muss es dennoch empfänglich sein, wie auch Weismann zugiebt, obgleich er dieser Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. 111 Sache nur geringes Gewicht beizumessen scheint. Wenn, wie es wohl wahrscheinlich ist, die Variationen äußerst die Resultate chemisch- physikalischer Vorgänge in den Keimzellen sind, so scheint es ganz natürlich, dass die reichlichere Nahrung der Kulturrassen eine größere Variabilität derselben auslösen könne. Diejenigen Organe, welche im Naturzustande während eines strengen Kampfes ums Dasein in stetiger Wirksamkeit (um Nahrung zu suchen, um Beute zu verfolgen, um Feinden zu entgehen, nebst anderen solchen kraftraubenden Beschäf- tigungen) begriffen sind, konkurrieren im Kulturzustande nicht in dem- selben Grade um die Nahrungsstoffe, da sie nicht mehr nötig haben, so große Menge davon zu verbrauchen. Es können daher derartige für die Selbsterhaltung nicht direkt nötigen Organe wie die Keimdrüsen reichlichere Nahrung bekommen, was freilich unter anderem mehrere Kombinationen der variierenden Elemente ermöglichen dürfte. Dass somit reichlichere Nahrung eine der wichtigsten, wenn auch indirekt wirkenden, Ursachen der Variabilität der Kulturrassen ist, dürfte wohl als ab- gemacht betrachtet werden können, insofern als Gewissheit in dieser Frage überhaupt zu gewinnen ist. In der That wird ja das Variations- vermögen dieser Rassen, im Vergleich mit den Verhältnissen im Natur- zustande im hohen Grade gesteigert, und kaum wäre wohl irgend ein anderer im Kulturzustande wirkender Umstand hervorzuheben, welcher von so durchgreifender Bedeutung für den Organismus wäre als Nahrungsüberfluss. Vor allem tritt diese gesteigerte Variabilität darin hervor, dass eine weit größere Prozentzahl der Abkömmlinge deutliche Variation zeigt. Durch ein sorgfältiges Accumulieren von auch nur den ge- ringsten sichtbaren Abänderungen, welche im Naturzustande gar nicht von Wahlwert gewesen wären, wirkt die Zuchtwahl des Menschen weit rascher als die Züchtung der Natur, welche, um eingreifen zu können, Variationen von größerer Bedeutung für die abweichenden In- dividuen abwarten muss. Derartige kleine Abänderungen sind wohl nicht die Anfänge der Kulturrassen gewesen, sondern die plötzlichen und unvermittelten Sprungvariationen. Diese, welche wohl, bisweilen wenigstens, von qualitativer Natur sein können, erscheinen ja im Kulturzustande weit zahlreicher, als man sie in der freien Natur zu sehen pflegt. Die Variationsbreite ist somit größer im Kulturzustande, wozu wohl auch die reichlichere Nahrung eine mehr oder weniger direkt wirkende Ur- sache sein dürfte. Dass während einer luxuriierenden, von üppigen Lebensumständen hervorgerufenen Variation auch nützliche, d. h. für das Individuum selbst vorteilhafte, Abweichungen, besonders nach vorher einge- schlagenen Variationsrichtungen, nicht selten auftreten dürften, scheint wohl sehr wahrscheinlich zu sein. Dagegen möchte man in Abrede 442 Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. stellen, ob die Verschlechterung der Lebensumstände geeignet sein könnte, auf der einen Seite einen höheren Grad von Variabilität zu bewirken, auf der anderen Seite andere als physiologisch verschlechterte Varietäten hervorzurufen. Wenigstens scheint mir diese Sache nicht entschieden zu sein. Vielleicht könnten auch hier die Kulturrassen eine Andeutung geben. Wenn z. B. einige Individuen einer vom Menschen veredelten Haustierrasse in Freiheit versetzt werden, nehmen ihre Abkömmlinge ja früher oder später, oft schon sehr bald, die Kennzeichen der wilden Stammform wieder an. Was aus dem Gesichtspunkte des Menschen eine Entartung ist, wird aus dem Gesichtspunkte der Naturzüchtung eine Verbesserung. Die vernachlässigte Zuchtwahl der Natur greift wieder ein. Der oberflächliche und dem Tiere selbst schädliche Kultur- firnis fällt weg, und die Rasse zieht ihre frühere, der Wildnis an- gepasste Rüstung wieder an, je nachdem die vorteilhaften Variationen nach dieser schon vorher eingeschlagenen und daher leichter wieder- herzustellenden Richtunghin eintreten. Derartige Veränderungen scheinen mir somit nicht dazu zu nötigen, dass man, um sie zu erklären, sich auf den Atavismus beriefe, sondern nur auf die Naturzüchtung. Ein anderes Beispiel von der Entstehung vorteilhafter Varietäten unter verschlechterten Lebensumständen dürften die zwerghaften Pferde- rassen gewisser Inseln bieten. Gewöhnlich werden ja diese Rassen als Produkte der direkten Einwirkung des Klimas und der schlechten Nahrung angesehen. Wäre dem so, so möchte man wohl mit Fug er- warten, dass diese Zwergpferde, wenn man ihre Lebensverhältnisse wieder verbesserte, ihre frühere Körpergröße wieder annehmen würden. Dass jedoch dies nicht der Fall ist, sondern dass wenigstens in ge- wissen Fällen eine konstante Zwergrasse gebildet worden ist, ist nicht zu leugnen. Auch glaube ich, dass die Entstehung einer solchen Rasse durch Naturzüchtung erklärt werden könnte. Eine Motivierung dürfte doch hier vonnöten sein. Die Inseln, wo solche Pferderassen sich finden oder wenigstens sich gefunden haben, sind, so viel ich weiß, die norwegischen Inseln Wärö und Röst im Eismeer, Gotland, Oeland, die Shetlandsinseln und die Falklandsinseln. Alle diese Inseln haben während des Winters ein ziemlich strenges Klima, insofern wenigstens, als das Gras verwelkt und der Schnee die Erde bedeckt. Wenigstens was Gotland betrifft, ist mir mitgeteilt worden, dass die kleinen Pferde, welche man da „Skogsrussar“ nennt, früher und vielleicht noch heutzutage, den ganzen Winter hindurch im Walde halbwild umherzustreifen pflegten, um sich von dem äußerst knappen und schlechten Futter mühselig zu ernähren, welches unter so widrigen Umständen zu finden war. Sogar Tannen- zweige mussten sie angreifen, um dadurch ihren Hunger zu stillen. Vermutlich sind die Verhältnisse auf den anderen Inseln ähnlich ge- Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. 113 wesen. Wenn eine Pferderasse von gewöhnlicher Körpergröße einer solehen bedeutenden Verschlechterung der Lebensumstände unterworfen wird, so scheint es mir unzweifelhaft, dass die Naturzüchtung während der folgenden Generationen dankbare Angriffspunkte bekommen muss. Wo ein großes Pferd keine hinreichende Nahrung finden könnte und daher seinem Untergange entgegen ginge, müsste das Auskommen einem kleinen Pferd leichter werden. Alle Individuen von kleinem Wuchs waren daher begünstigt, und es wird selbstverständlich sein, dass schon aus dieser Ursache eine Pferderasse von kleinem Wuchs im Laufe der Zeit entstehen könnte. Aber schon im Mutterleibe könnte unter solchen Umständen eine Auslese des Foetus statt- finden, weil ein kleiner Foetus einer schlecht ernährten Mutter hin- reichende Nahrung bekommen dürfte, wo ein größerer Foetus so schlecht ernährt würde, dass das neugeborene Füllen zu schwächlich geworden wäre, um so karge Lebensumstände zu ertragen. Vielleicht giebt es auch andere Fälle, welche eine entsprechende Erklärung von der Entstehung einer Zwergrasse erlauben. Wenn somit die Verbesserung der Lebensumstände als eine Quelle gesteigerter Variabilität im Kulturzustande angesehen werden muss, und wenn auch verschlechterte Lebensverhältnisse bei den Kulturrassen diejenige Variabilität hervorrufen können, welche sie brauchen, um sich den veränderten Lebensumständen anzupassen, so lässt es sich wohl kaum bezweifeln, dass die Organismen auch im Naturzustande auf entsprechende Weise gegen dieselben physiologischen Einflüsse reagieren. Und wenn im ersteren Falle, wenigstens unter vorteilhaften äußeren Umständen, die Steigerung der Variabilität sich unbestreitbar nicht nur durch eine vergrößerte Zahl variierender Indi- viduen zeigte, sondern auch durch die Steigerung der Variationsbreite, so dürfte man wohl erwarten können, dass die Organismen auch in der freien Natur unter ganz besonders vorteilhaften Umständen eine in entsprechendem Grade gesteigerte Variationsbreite zeigen. In den vorstehenden Zeilen bin ich genötigt gewesen, an einige bekannte und mehr oder weniger anerkannte Verhältnisse ziemlich ausführlich zu erinnern, um das nachfolgende zu motivieren. Unter „gewöhnlichen Umständen“, d. h. solange als die seit längerer Zeit existierenden Naturverhältnisse unverändert bleiben, be- steht ja unter den Organismen einer Gegend ein Gleichgewichts- verhältnis, welches sich darin zu erkennen giebt, dass die Zusammen- setzung der Tier- und Pflanzenwelt sowohl betreffs der Identität der Arten als hinsichtlich der Zahl der Individuen dieselbe bleibt. Für einige Organismen ist eine starke Ueberproduktion der Abkömmlinge von- nöten, damit sie nicht ausgerottet werden; andere, welche auf Kosten jener leben, erhalten sich auch ohne allzu große Ueberproduktion in derselben Individuenzahl, welche ihnen unter vorhandenen Umständen möglich ist. XXI. 8 114 Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. Derartige Umstände sind einer lebhaften Variation nicht förder- lich, Die Arten haben sich einander angepasst. Die Variabilität bleibt gerade so groß als nötig, um jede Art auf der Höhe der gegen- wärtig erforderlichen Anpassung zu erhalten. Eine der soeben an- gedeuteten unter den Tier- und Pflanzenarten einer Gegend entsprechende Stabilität scheint innerhalb eines jeden Organismus zu walten, solange als keine Veränderungen der äußeren Umstände eine gesteigerte Varia- bilität hervorrufen. Gewöhnlich stellt man sich vor, es würden geologische Zeiträume erforderlich sein, um Veränderungen der Naturverhältnisse von hin- reichender Effektivität zu bewirken, um die Variationsbreite ihre gewöhnlichen Grenzen überschreiten zu lassen. Wären derartige Ver- änderungen der Naturverhältnisse die einzige Quelle gesteigerter Varia- bilität, so müsste offenbar der natürlichen Zuchtwahl so selten Gelegen- heit gegeben werden, einzugreifen, dass die überaus große Vielfältigkeit der organischen Welt fast unerklärlich bliebe. Es scheint mir daher, als fänden sich näher bei der Hand liegende und öfters zurück- kommende Ursachen gesteigerter Variation der Organismen. Einige von diesen glaube ich in denjenigen Umständen zu sehen, welche die nicht seltenen periodischen Massenvermehrungen her- vorrufen. Die äußerste Ursache derselben liegt wohl in ganz besonders günstigen meteorologischen Verhältnissen, welche teils während einer oder mehrerer Fortpflanzungsperioden eine für die Art überaus reich- liche Nahrung hervorgebracht haben, teils der Entwicklung und dem Aufwachsen der Abkömmlinge im höchsten Grade förderlich ge- wesen sind. Der ungewöhnlich leiehte Nahrungserwerb muss in besonderem Grade den Kampf ums Dasein vermildern sowohl unter den Individuen einer jeden Art als unter verschiedenen Arten, die von denselben Nahrungsquellen abhängig sind. Man findet hier dieselben Umstände wieder, welche oben als einige der wirksamsten, wenn auch indirekt wirkenden Ursachen der gesteigerten Variabilität der Kulturrassen be- zeichnet wurden. Und giebt es wohl einen Grund, zu glauben, dass die nämlichen Umstände hier in der freien Natur auf den Organismen anders ein- wirken sollten? Soweit ich verstehe, kann es nicht so sein. Die über- reichliche Nahrung der Eltern muss auf ihr Keimplasma einwirken, so dass nicht nur das Fortpflanzungsvermögen größer wird, sondern auch, was hier als das wichtigste hervorzuheben ist, die nächste Gene- ration eine gesteigerte Variabilität zeigt. Dass reichliche Nahrung unter übrigens gleichen Umständen das Reproduktionsvermögen steigert, dürfte wohl a priori als wahrschein- lich angesehen werden. Und in zahlreichen Fällen dürfte es wohl Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. 415 auch dargethan sein. Ich will nur aus meiner eigenen Erfahrung ein Beispiel anführen. Die bei der Schwärmung aus ihren Kolonien ausge- flogenen Ameisenweibchen, welcheallein eine neueKolonie gründen werden, sperren sich, ohne irgend einen Nahrungsvorrat gesammelt zu haben, in ganz geschlossenen Höhlen ein, wo sie nur wenige Eier legen, was sich schon aus ihrem wenig angeschwollenen Hinterleib schließen lässt. Nur aus einigen von diesen Eiern schlüpfen Larven heraus, während die übrigen den ersten Larven als einziges Futter gegeben werden. Die Nahrung dieser ersten Larven ist somit sehr knapp, und die erst ausgeschlüpften Arbeiter werden daher winzig klein. Sie gehören der kleinköpfigen Arbeiterkaste an. An den in ihren Kolonien zurückbleibenden Weibchen dagegen, welche von den ihnen umgebenden Arbeitern beständig mit neuer Nah- rung versehen werden, schwillt der Hinterleib dermaßen von Eiern an, dass sie bisweilen kaum gehen können. Sie legen auch kolossale Massen von Eiern, aus welchen nicht nur die kleinköpfige Arbeiter- kaste, sondern auch die in ihrer Körperform bedeutend ab- weichende großköpfige nebst allen Zwischenformen ent- wickelt wird. Hier scheint somit auch die Variationsbreite der Ab- kömmlinge durch reichliche Nahrung der Eltern beeinflusst worden zu sein. Von welcher großen Bedeutung günstige meteorologische Verhält- nisse für die Entwicklung und das Aufwachsen der zarten und em- pfindlichen Abkömmlinge sein müssen, ist wohl kaum vonnöten, hier hervorzuheben. Treten solche besonders günstige Verhältnisse ein, so muss daraus erfolgen, dass eine bedeutend größere Zahl der Abkömm- linge als gewöhnlich reifes Alter erreicht. In seiner höchsten Steige- rung ist dies, was man als Massenvermehrung bezeichnet. Während einer solehen Massenvermehrung dürfte somit, nach dem vorstehenden, nicht nur eine größere Zahl von Varietäten in direktem Verhältnis zu der vergrößerten Individuenzahl auftreten, sondern auch eine größere Prozentzahl variierender Individuen, woneben die Variations- breite eine Steigerung zeigen muss — alles als eine Folge der günstigen Nahrungsverhältnisse der Eltern. Wenn nun die günstigen Nahrungsverhältnisse plötzlich aufhören, so kann die außerordentlich große Individuenzahl der Art nicht länger bestehen. Ein vielfach heftiger Kampf ums Dasein muss auflodern. Aber die größere Zahl variierender Individuen und die gesteigerte Variationsbreite müssen auch der natürlichen Zuchtwahl einen weiteren Spielraum geben, vielfach zahlreichere Gelegenheiten einzugreifen. Und spurlos geht wahrscheinlich das Fegefeuer der Massenvermehrung nimmer an einer Art vorüber. Aus diesem Gesichtspunkte habe ich geglaubt, dieMassenvermehrung als Evolutionsfaktor bezeichnen zu dürfen. S* 4116 Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. Ob die Verschlechterung selbst der Lebensumstände, welche das Aufhören der Massenvermehrung veranlässt, geeignet sein mag, eine Variabilität mit Angriffspunkten für die natürliche Zuchtwahl hervor- zurufen, muss bis auf weiteres dahingestellt werden. Ich beschränke mich auf die Erinnerung an die Möglichkeit davon, welche in den vorstehenden Beispielen angedeutet worden ist. Im vorstehenden wurden unter den Ursachen der Massenver- mehrungen nur besonders für Ernährung und Fortpflanzung günstige meteorologische Verhältnisse hervorgehoben, und diese sind, meiner Meinung nach, die wesentlichsten. Jedoch dürfte man einwenden können, dass ein bedeutendes Abnehmen der Feinde der Art gleich- zeitig stattfinden müsste, und unstreitig muss eine solche Verminderung der Zahl der Feinde eine in noch weiterem Grade unbehinderte Ver- ınehrung der betreffenden Art ermöglichen. Aber wenn auch im Anfange der Massenvermehrung die Individuenzahl der Feinde die unter gewöhn- lichen Umständen normale wäre, so dürfte jedoch die Massenvermehrung, wenigstens oft, so überwältigend sein, dass sie nicht in bedeutenderem Grade von den Feinden gehemmt werden könne. Auf dem Felde säet man die Getreidekörnchen massenhaft aus und sieht dann ruhig zu, wie die Vögel einen Teil von ihnen aufpicken, denn man ist davon überzeugt, dass der Ueberschuss dennoch so groß ist, dass der Verlust wenig zu bedeuten hat. Anders wäre es, wenn die Vögel, statt dieses zufälligen Ueberflusses an Nahrung, das ganze Jahr und mehrere Jahre hindurch einen solchen genössen. Sie würden sich dann in dem Grade vermehren, dass der von ihnen angerichtete Schaden sehr bedeutend werden würde. Die Erfahrung zeigt, dass ein ähnliches Verhältnis bei den Massen- vermehrungen in der freien Natur waltet. Die eine Massenvermehrung kann eine andere nach sich ziehen. Wenn eine Art sich in besonderem Grade vermehrt hat, so bieten sich auch denjenigen Arten, die auf Kosten derselben leben, in entsprechendem Grade günstige Umstände für eine reichlichere Vermehrung, was freilich zur Wiederherstellung des Gleichgewichts unter den Individuenzahlen der Arten beitragen muss. Während des Kampfes, der dabei stattfindet und welcher von demjenigen der Individuen derselben Art ganz verschieden ist, werden der natürlichen Zuchtwahl zahlreiche Gelegenheiten dargeboten, ihre Thätigkeit an ganz verschiedenen Angriffspunkten auszuüben. Um letzteres zu illustrieren, kann an jene bekannten Massenvermehrungen der Nonne und anderer schädlichen Insekten erinnert werden, welche von einer entsprechenden Massenvermehrung der Schmarotzerinsekten begleitet und allmählich gehemmt zu werden pflegen. Diese finden Jetzt vielfach zahlreichere Gelegenheiten, an den Raupen jener ihre Eier einzuimpfen. Selten finden sich die Schmarotzerinsekten schon anfangs in mehr bedeutender Zahl. Erst nachdem die Massenvermeh- Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. 117 rung der Nonne während eines oder mehrerer Jahre stattgefunden hat, erscheinen sie in größerer Menge. Massenvermehrungen sind ja in der Tierwelt kein seltenes Ereignis. Als bezeichnend möchte es betrachtet werden, dass die Tiergruppe, welche das größte Adaptionsvermögen aufzuzeigen hat und an Arten- zahl alle anderen Tiergruppen übertrifft, d. h. die der Insekten, auch öfter als die übrigen ihre Massenvermehrungen wiederholt. Besondere Aufmerksamkeit haben die Massenvermehrungen der Lemminge und die gewisser schädlichen Insekten erregt. Unter diesen Umständen sollte man erwarten, in der Litteratur einige Beobachtungen über die Variation der massenhaft auftretenden Individuen zu finden. Dies aber ist ein Gesichtspunkt, welcher fast ganz vernachlässigt worden zu sein scheint. Jedoch glaube ich nicht, man sei daraus be- rechtigt, zu schließen, dass keine größere Menge Varietäten da gewesen seien. Die theoretische Wahrscheinlichkeit einer gesteigerten Varia- bilität scheint mir so groß zu sein, dass ich überzeugt bin, eine solche könne dargethan werden, wenn nur die Aufmerksamkeit darauf ge- richtet wird. Viele Abweichungen können der Art sein, dass sie die Aufmerk- samkeit gar nicht auf sich ziehen, obgleich sie sehr bedeutend sein mögen. So scheint es z. B. wahrscheinlich, dass nur Farbenvarietäten die Aufmerksamkeit derer erwecken werden, die nicht andere Ab- weichungen besonders suchen. Die einzige Angabe, welche ich in dieser Frage habe aufspüren können, rührt von den Beschreibungen der berüchtigten Verheerungen der Nonne in den Fichtenwäldern Ost- Preußens während der Mitte des vorigen Jahrhunderts her. Da wird es angegeben, dass die sonst seltene Varietät Eremita gegen das Ende der Verheerung sehr zahlreich aufgetreten sei. Dazu könnte eine An- gabe gelegt werden, dass die Individuen der Scharen von Oedipoda migratoria dermaßen variieren sollen, dass man es versucht habe, ver- schiedene Arten nach den verschiedenen Varietäten aufzustellen. Weniger spärlich sind die Angaben von veränderten Gewohnheiten während der Massenvermehrungen. Eine veränderte Gewohnheit ist eine ebenso beachtenswerte Variation als irgend welche rein morpho- logische. Auch jene kann Gegenstand der Naturzüchtung werden und auf die Abkömmlinge vererbt werden. Wäre dies mehr allgemein ein- gesehen, so sollte es viel Erstaunen über rätselhafte instinktmäßige Handlungen der Tiere ersparen. Sehr bedeutungsvoll können ja über- dies solche Variationen sein, weil sie mehr oder weniger durchgreifende morphologische Abweichungen veranlassen können, wovon die rudi- mentären Organe und die verschiedenen Fälle von Funktionswechsel sprechende Beispiele sind. Die Angaben von veränderten Gewohnheiten, welche von den Massenvermehrungen der Insekten angeführt werden, gelten hauptsäch- 118 Adlerz, Periodische Massenvermehrung als Evolutionsfaktor. lich Veränderungen des Nahrungserwerbs, bisweilen von dauernder Beschaffenheit und somit von der natürlichen Zuchtwahl fixiert. Solche Fälle könnten in großer Menge erwähnt werden. Betreffs dieser be- schränke ich mich doch, auf die entomologische Litteratur hinzuweisen. Endlich will ich einige von mir selbst beobachtete Thatsachen erwähnen, welche den nächsten Anlass zu vorliegendem Aufsatze ge- geben haben. Sie rühren von zwei verschiedenen Massenvermehrungen eines Tagfalters her, weleher in ganz Schweden und wohl auch in einem großen Teile des übrigen Europas häufig ist: Polyommathus virgaureae. Diese beiden Massenvermehrungen wurden in der Provinz Medelpad des mittleren Schwedens beobachtet, die erste 1896. Dieses Jahr sah man im Juli jenen Falter an Individuenzahl stark zunehmen, so dass er um die Mitte des Monats in dieser Hinsicht alle übrigen Tagfalter- arten zusammen bedeutend übertraf. Dabei wurde eine große Menge einer übrigens nirgendwo im ganzen Lande gefundenen Varietät des Weibehens beobachtet. Diese Varietät zeichnet sich durch eine Reihe hellblauer Flecke innerhalb des rotgelben Bandes auf der Oberseite der Hinterflügel aus. Zahl und Deutlichkeit der Flecke variiert sehr. Die höchste Zahl der Flecke war fünf, und von den Varietäten mit der vollen Zahl wohlausgebildeter Flecke bis an die Individuen der Hauptform, wo keine Spur der Flecke zu sehen sind, konnte eine un- unterbrochene Reihe von Zwischenformen aufgestellt werden. Während der folgenden Jahre erschien die Art nicht in auffallend großer Individuenzahl. Vereinzelte Individuen der genannten Varietät zeigten sich auch dann, waren aber sowohl absolut als relativ viel seltener als während der Massenvermehrung. Dazu kommt, dass keine so stark ausgeprägten Varietäten als wäh- rend des Jahres der Massenvermehrung gesehen wurden, warum die Behauptung, dass die Variationsbreite während des letzteren Jahres größer gewesen sei, berechtigt sein dürfte. Verflossenen Sommer, 1901, fand eine Massenvermehrung derselben Falterart wieder statt, wobei während der letzten Hälfte des Monats Juli, ganz wie 1896, die Individuenzahl der Art sich bedeutend größer zeigte als die aller übrigen Tagfalter zusammen. Und auch jetzt trat die genannte Varietät in großer Menge auf. Durch Zählen aller Weibehen unter den sehr zahlreichen Individuen, welche auf den Blumen verschiedener größeren Tanacetumbestände saßen, fand ich, dass bedeutend mehr als die Hälfte die betreffende Variation mehr oder weniger ausgeprägt zeigten. Jene beiden Massenvermehrungen haben somit den Schluss be- bestätigt, welchen ich schon auf theoretischem Wege gezogen hatte, dass während der Massenvermehrung einer Art sowohl die absolute ‚als die relative Zahl variierender Individuen ebenso wie auch die Variationsbreite über das gewöhnliche Maß hinaus gesteigert werden. Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel. 419 [Die genannte Varietät ist auch aus einem anderen Gesichtspunkte von Interesse, indem sie einen Rückschlag nach dem Geschlechtstypus zu bilden scheint, von welchem P. virgaureae sich mehr als die anderen Arten entfernt hat. Eine entsprechende Reihe blauer Flecke sieht man oft bei den Weibchen von Aippothoö, amphidamas und phlaeas, bei letzterer Art auch bei den Männchen, wogegen sie bei virgaureae nicht früher angetroffen wurde. Das zufällige Wiederauftreten der be- treffenden Zeichnung bei letzterer Art dürfte daher wohl als ein Fall von Atavismus angesehen werden, und wenn dem so ist, liegt wohl kaum ein Grund vor, das Fixieren und die Verbreitung dieser Ab- weichung für die Zukunft zu erwarten.] [118] Sundsvall, im Oktober 1901. Die Verschleppung von Tieren durch den Handel; ihre zovlogische und wirtschaftliche Bedeutung. Von Dr. L. Reh, Hamburg. (Vortrag, gehalten auf der 73. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Hamburg.) M. H.! Die heutige Verbreitung der Tiere ist ein Produkt zweier Faktoren, deren einen die Tiere selbst, deren anderen die Einflüsse der Außenwelt bilden. Zu letzteren gehören außer den terrestrischen, geologischen und ähnlichen Vorgängen auch wieder die Tiere in ihrer Rolle als Verbreiter anderer Tiere. Die bedeutendste Stelle unter ihn nimmt unzweifelhaft der Mensch ein, gemäß seiner höchsten systematischen Stellung im Tierreiche. Sein Eingreifen in das Getriebe der Natur schafft keineswegs „künstliche“ oder „unnatürliche* Ver- hältnisse, wie wir uns unter dem Drucke der uns in Fleisch und Blut übergegangenen anthropozentrischen Anschauungen gewöhnlich aus- drücken, sondern gehört durchaus in den Rahmen der biologischen Naturerscheinungen. Es ist nur quantitativ, nicht qualitativ von dem Eingreifen anderer Tiere verschieden. Die Rolle des Menschen als Verbreiter von Tieren begann mit seiner Entstehung und hat sich mit seiner fortschreitenden Entwicke- lung vergrößert. Ihren ersten Anfängen nachgehen zu wollen, wäre fruchtloses Bemühen; dagegen dürfte es nicht unangebracht sein, bei faunistischen Betrachtungen öfters an die diesbezügliche Thätigkeit des Menschen zu denken, selbst da, wo sie nicht sicher nachzu- weisen ist. Einzelne Beobachtungen über die Verschleppung von Tieren durch den Menschen finden sich in der Litteratur überall zerstreut; zu- sammenfassende Arbeiten sind seltener. In Europa haben sich nament- lich Reitter, Fauvel, Dollfus, L.Krüger und W.Marshall mit 120 Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel. ihr beschäftigt; in Amerika R. A. Philippi, Riley, Lintner, Hamilton, Howard!). Als ich im Jahre 1898 an die hier neu gegründete „Station für Pflanzenschutz“ als Zoologe berufen wurde, nahm ich mir vor, ange- regt durch einen Aufsatz Howard’s, namentlich auf die unbeabsichtigte Einschleppung von Tieren zu achten, ein Vorhaben, in dem ich noch dadurch bestärkt wurde, dass der Direktor des hiesigen Naturhistorischen Museums, Herr Prof. Kräpelin, schon seit Jahren im gleichen Sinne thätig war, dem ich daher auch meine Sammlungen übergab. Das Er- sebnis dieser Studien ist niedergelegt inKräpelin’s Aufsatz: „Ueber die dureh den Schiffsverkehr in Hamburg eingeschleppten Tiere“ (Mitt. Naturh. Mus. XVIII); von den dort aufgezählten über 490 Arten sind ca. 80 dem Museum nach erfolgter Einschleppung über- bracht, ea. 410 auf der Station bezw. in dem an sie stoßenden Schuppen gesammelt worden. So groß jene Zahl zuerst erscheint, so giebt sie doch nur ein äußerst unvollkommenes Bild der thatsächlich erfolgenden Verschleppung; denn der Hamburger Hafen zählt 49 solcher Schuppen, und mindestens die Hälfte der Schiffsladungen gelangt überhaupt nicht in die Schuppen, so dass also etwa nur der hundertste Teil der La- dungen zu unseren Sammlungen beisteuerte.e Und selbst die Unter- suchungen der an die Station gelangten Obst- und Pflanzensendungen ergaben nur einen Bruchteil der auf ihnen befindlichen Faunen. Am besten zeigt sich dies darin, dass z. B. nur 5 Würmer-Arten auf der Station, dagegen 20 erst nach erfolgter Einschleppung in hiesigen Gärtnereien u. s. w. gefunden wurden. Die Beteiligung der einzelnen Ordnungen an der Ver- sehleppung entspricht keineswegs immer unseren Voraussetzungen. Während die Käfer z.B. gemäß ihrem ungeheuren Art- und Individuen- reichtum mit 95 Arten in erster Linie stehen, sind Schmetterlinge und Fliegen nur äußerst selten (16 und 10 Arten) vertreten, trotz der scheinbar leichten Verschleppbarkeit ihrer Jugendstadien. Die großen und leicht beweglichen Geradflügler sind verhältnismäßig zahlreich (39 Arten); von Blattläusen und Holzläusen, die man in großen Massen erwartet, wurden dagegen nur drei, bezw. fünf Arten gefunden. Termiten fehlen sogar völlig. Auch Säugetiere und Vögel fehlen in der Kräpelin’schen Liste vollkommen, aus leicht erklärlichen Gründen; doch sind von ersteren Ratten und Mäuse durch den Schiffsverkehr nach allen Handelshäfen, und von diesen durch die Eisenbahnen ins Innere verschleppt?); nach Schilde- 1) S. Litteraturverzeichnis. 2) Nach „Kräpelin, Fauna der Umgegend von Hamburg (Festschrift zur 73. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte, p. 35)“ scheint Mus alexandrinus Is. Geoffroy auf den Hamburger Schiffen den Vorrang vor der Wanderratte zu behaupten. Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel. 121 mw rungen hiesiger Hafen- Beamten scheint Herpestes griseus Ogilby nicht selten mit ost- und westindischen Schiffen hier in den Freihafen zu gelangen. Vögel machen bekanntlich manchmal auf Schiffen und Eisenbahnen nistend, deren ganze Reisen mit, und Sperlinge und Ammern folgen den Wegen und Eisenbabnen. Manche Tiergruppen sind in oft ungeheuerenMassen vertreten, so die Springschwänze, die einzelne Pflanzen öfters zu Hunderten bis Tausenden beleben, und Schildläuse, von denen z. B. einmal in einer einzigen Kiste amerikanischer Aepfel ca. 30000 San Jose- Schildläuse enthalten waren. Was die Herkunft der hier gesammelten Tiere anlangt, so fällt zuerst die sehr große Zahl (290) der amerikanischen Arten auf. Es rührt dies daher, dass die Station bis vor knapp zwei Jahren nur amerikanische Pflanzen zu untersuchen hatte; erst damals kamen die japanischen dazu; alle Pflanzen anderer Herkunft werden anderweitig untersucht. Howard vertrat in einem seiner Aufsätze die Ansicht, dass eine Verschleppung zwischen zwei Erdteilen um so leichter sei, je näher sich diese lägen und je mehr sich ihre Jahreszeiten entsprächen. Dem steht entgegen, dass von jenen 290 amerikanischen Arten 194, also fast ?/,,, aus Mittel- und Südamerika stammen; und selbst wenn man nur die erfolgreiche Einschleppung im Auge hat, dürfte jene Ansicht unhaltbar sein, da die Ueberführung tropischer Pflanzen in den Monaten Juni bis September stattfindet, also wenn in den Tropen Winter und bei uns Sommer herrscht und die beiderseitigen Klimate sich am meisten nähern. Kosmopolitische Arten enthält dieKräpelin’sche Liste 51, eine verhältnismäßig nicht hohe Zahl, europäische 80, worunter solche sind, die aus Süd-Europa stammen, solche, die aus überseeischen Ländern wieder zurück verschleppt wurden, und solche, die sicher erst hier auf die Ladung gekommen sind, wie verschiedene deutsche Käfer, die auf im Freien liegenden Baumstämmen aus Nord-Amerika gefunden wurden, Geotrupes stercorarius L., von ostafrikanischer Ladung, und Aromia moschata L., die einem brasilianischen Dampfer einen Besuch abgestattet hatte. Das zoologische Interesse an dem Studium der Ver- schleppung ist ein mannigfaltiges. Einmal kamen auf diese Weise neue Formen zu unserer Kenntnis, wovon die Kräpe- lin’sche Liste mehrere Beispiele enthält!). Dann erfährt unsere Kennt- 4) Beschrieben sind bis jetzt zwei neue Arten und mehrere neue Varietäten von Ameisen (v. Forel, Bull. Soc. ent. Suisse, Vo1.10, Nr. 7 und Mitt. naturh. Mus. Hamburg, 18), eine (bezw. zwei) neue Gattungen und vier neue Arten von Myriopoden (v. Attems, Mitt. naturh. Mus. Hamburg, 18). Unter den Aptery- goten giebt Schäffer, inKräpelin’s Zusammenstellung, zwei neue Gattungen, 122 Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel. nis der geographischen Verbreitung der Tiere bemerkenswerte Bereicherung, wenn auch gerade hier die Verhältnisse nicht immer klar liegen. Denn einmal gelangen, wie wir soeben gesehen haben, manche Tiere erst am Endpunkte der Reise auf die Ladung; dann nehmen die Schiffe unterwegs an verschiedenen Häfen Ladungen auf, deren Faunen sich mischen können, und schließlich haben die Schiffe doch selbst schon eine endermische Fauna, wie Dermestiden, Blattiden, Cryptophagus-, Ephestia-Arten u. s. w., die also erst in diesen auf die Ladungen übergehen. Wenn wir aber die im tropischen Afrika heimische Eidechse Hemidactylus mabouia Mor. de Sonn. in einer Kiste aus dem Amazonas-Gebiete finden, oder den Carabiden SomotrichuselevatusF.aus Mauritius in Pflanzen aus Columbien, oder zwei Ameisen-Arten aus Indien und dem Bismarek-Archipel in Orchideen aus Mexiko, so sind solche Neben-Einflüsse ausgeschlossen. Die interessantesten Probleme treten uns also erst entgegen, wenn wir das Gebiet der im Gange befindlichen Verschleppung verlassen und uns der Einbürgerungeingeschleppter Tiere zuwenden. Da ist vor allem die äußerst merkwürdige Thatsache, dass, während Europa der ganzen übrigen Erde Bestandteileseiner Fauna übermittelt hat, es selbst von Uebersee für seine Frei- landfauna wenigstens fast nichts erhielt. Das einzige, mit fast völliger Sicherheit hier anzuführende Tier ist die wohl unzweifel- haft aus Central-Amerika stammende Reblaus, die übrigens auf den Pflanzenuntersuchungen der Station nicht gefunden wurde, da ja keine Reben zur Untersuchung vorlagen. Ihr schließt sich die wahrscheinlich ebenfalls aus Amerika stammende Blutlaus an; die von mir früher hierher gerechnete Akazien-Schildlaus, Lecanium robiniarum Dougl., scheint nach neueren Untersuchungen identisch mit unserer gemeinen Rebschildlaus, Lee. rini Behe&, zu sein. Auf dem Landwege hat Europa mit den meisten seiner Kultur- pflanzen auch manche Schädlinge derselben aus Asien, Deutschland im besonderen noch aus Südost-Europa erhalten '). 41 neue Arten, eine neue Varietät an, ohne sie aber zu beschreiben oder zu benennen. Die übrigen Gruppen sind leider meist noch nicht genau genug bearbeitet, um auch nur übersehen zu können, wie viele neue Formen dar- unter sind. 1) Leider ist der Ursprung der meisten unserer Kulturpflanzen, nament- lich der Obst- und Getreidearten, in Dunkel gehüllt. Bei den wenigen, deren Heimat wir kennen (Sauerkirsche aus Kleinasien, Gerste aus Westasien und Nordafrika, Hanf aus dem wärmeren Asien, Buchweizen aus Asien, Runkelrübe von den Mittelmeerküsten, Kartoffel aus Amerika, u. s. w.), ist es jedoch auf- fallend, wie gerade diese Pflanzen keine oder fast keine eigene tierische Parasiten haben, sondern fast nur solche, die von bei uns einheimischen Pflanzen auf sie übergegangen sind. Wo eigene Parasiten bekannt sind, handelt es sich meist um festsitzende Tiere, wie Blattläuse, Gallmilben u.s. w. So scheinen für den Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel. 123 Jene geringe Zahl aus Uebersee bei uns im Freien eingebürgter Arten hat viele Autoren zu der Ansicht geführt, dass die Einschleppungs- Frage fremder Tierarten bei uns keine größere wirtschaftliche Be- deutung habe, eine Ansicht, der auch ich mich früher z. T. angeschlossen hatte. Sie beruht auf dem großen Fehler, die bei uns nur in ge- schlossenen Räumen lebenden Tiere für wirtschaftlich unwichtig zu halten. Es bedarf wohl nur eines kurzen Hinweises, um die Größe dieses Fehlers aufzudecken. Schaben, die in Häusern mannigfache Vorräte verderben und Verbreiter ansteckender Krankheiten sind, Milben, Insekten und deren Larven, die in Speichern und Magazinen an aufgestapelten Waren oft sehr großen Schaden thun, in.Mühlen das Mehl verderben oder dem Landmann seine Aussaat zerstören, Tiere aller Art, die in Gewächshäusern oder an Zimmerpflanzen schädlich oder lästig sind, — sie alle sind doch sicher auch von wirtschaftlicher Bedeutung, wenn auch natürlich nicht in dem Maße, wie die Schädlinge unserer Freilandkulturen. Und gerade unter ihnen sind recht viele eingeschleppte Schädlinge, wie sie namentlich L. Krüger (8) behan- delt, und wie auch aus der Kräpelin’schen Liste mit größter Deut- lichkeit zu ersehen ist!). Die Einschleppung von überseeischen Tieren ist also sicherlich von einer solchen wirtschaft- lichen Bedeutung für uns, dass wir nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht haben, auf sie unsere Aufmerk- samkeit zu richten. Von großem biologischen Interesse ist die merkwürdige Auswahl, die bei der Einbürgerung fremder Arten getroffen wird. Wenn z. B. in Nord-Amerika bis zum Jahre 1889 von den ca. 12000 europäischen Käfern nur 156 eingebürgert waren, so ist das doch sicher ein sehr geringer Teil. Und merkwürdigerweise sind gerade viele unserer häufigsten und schädlichsten Arten nieht dabei. So fehlen in Nord- Amerika unser Maikäfer und seine Verwandten, ebenso unsere Blütenstecher, Anthonomus spp., von denen der Apfelblütenstecher aus Persien stammenden Wallnussbaum eigentümlich: Aphis juglandis WIk., Lachnus juglandis Frisch, L. juglandicola Kaltb., Lecanium juglandis Bch&, Eriophyes (Phytoptus) tristriatus (Nal.) — Unsere Kulturgewächse unbekannter Herkunft haben dagegen eine Menge von tierischen Parasiten, die zwar ge- legentlich auch einmal an einheimischen Pflanzen vorkommen, im wesentlichen ihnen aber eigentümlich sind, wie z. B. die Getreidefliegen und die Kleinschmetter- linge des Weines. 4) Ich nenne von Käfern: Cryptophagus spp. Carpophilus spp., Trogo- sita mauretanica, Silvanus spp., Dermestes spp., Necorobia rufipes, Gnathocerus cornutus, Tribolium spp., Calandra spp.; von Orthopteren: Psociden, Diestram- mena marmorata, Periplaneta spp. und andere Blattiden; von Schmetterlingen: Ephestia spp., Plodia spp., von Dipteren: Drosophila spp.; von Hemipteren die Aphiden und Coceiden; ferner mehrere Myriopoden, Zyroglyphus und Rhizo- glyphus spp., mehrere Regenwürmer und Plathelminthen. 124 Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel. in Deutschland jährlich so viel schaden soll, wie die Erhaltung eines ganzen Armeekorps kostet. Wie bei den Käfern, so ist es auch bei den übrigen Insekten. Von unseren individuenreichen Weißlings- Arten ist nur der Rübenweißling, Pieris rapae L., nach Amerika gelangt, von den Spinnern (Bombyeiden) nur der Goldafter, Por- thetria chrysorrhoeae L. und der Schwammspinner, Liparis dispar L., während die bei uns viel häufigeren Arten, der Kohlweißling, Pieris brassicae L., und die Nonne, Ocneria monacha L., noch nicht nach Amerika verschleppt sind. Von unseren Getreidefliegen sind nur die bei uns verhältnismäßig wenig schädlichen, die Hessenfliege, Cecidomyia destructor Say., und die Weizengallmücke, Diplosis tritici Kirby., in Amerika eingebürgert, während die Frit- undHalm- fliegen, Oscinis spp. und Chlorops spp., die das deutsche National- vermögen jährlich um viele Millionen schädigen, dort noch unbekannt sind. Fast noch merkwürdiger wie diese Auswahl ist die Erscheinung, dass gerade die Insekten in ihrer neuen Heimat ganz be- sonders schädlich werden, die es in ihrer alten in nur ge- ringemMaße waren; die angeführten Arten sind treffende Beispiele hierfür; ein weiteres ist die Reblaus; noch mehr führt Howard in seinen verschiedenen Aufsätzen an!). Was für Amerika gilt, gilt auch für die anderen Erdteile. Die besprochenen Erscheinungen sind so auffallend und häufig, dass die praktischen Entomologen aus ihnen zwei, natürlich nur im allgemeinen gültige Gesetze erschlossen haben: 1. Von den in ihrer Heimat schädlichen Insekten droht uns viel weniger Gefahr als von den dort unschädlichen; 2. die Heimat eines Insekts ist da zu suchen, wo esam wenigsten Schaden thui. Die uns von der Wander- und Hausratte, der orientalischen und deutschen Schabe bekannte Erscheinung des Verdrängens einer Art durch eine andere finden wir auch hier wieder. Die ein- geführten Arten verdrängen meistens einheimische, wofür Howard einige Beispiele anführt. Wenn wir leicht verstehen können, wie das Verdrängen bei den eben genannten Arten vor sich geht, wo die größere und stärkere Art die andere einfach auffrisst, so bleibt es uns völlig rätselhaft bei den Arten, die nur einen passiven Kampf mit- einander führen können, wie z. B., wenn unsere Pieris rapae in Nord- Amerika die dort einheimischen Arten P. protodice Bdv., P. oleracea 4) Von den Kleerüsslern, Phytonomus spp. ist Ph. meles Fabr. in Deutsch- land außerordentlich schädlich, Ph. punctatus Fabr. dagegen so wenig, dass er als Schädling überhaupt nicht in Betracht kommt. In Nord-Amerika, wohin sie beide verschleppt sind, ist das Verhältnis gerade umgekehrt. — Die San Jos&-Schildlaus schadet in ihrer wahrscheinlichen Heimat Japan so wenig, dass es erst in den allerletzten Jahren gelungen ist, sie dort aufzufinden, Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel. 125 Bdv. verdrängt, oder gar unsere Mytilaspis pomorum Behe& in Amerika die Chionaspis furfura Fitch (6). Für den, der an den artbildenden Einfluss der äußeren Existenz- Bedingungen glaubt, ist es selbstverständlich, dass gerade durch die Verschleppung leicht neue Formen entstehen müssten. Ueber- zeugende Beispiele hierfür zu finden ist aber nicht leicht. Das bekannteste ist die Abänderung des Kaninchens auf Porto Santo, wo es 1419 eingeführt wurde, in die Form Lepus huxleyi Häckel, auf Teneriffa, Jamaika und in Australien (10). — Nach Cockerell (1) und Sim- roth (17) sind Helix nemoralis L. und Litorina litorea L. nach ihrer Verschleppung in die Neue Welt im Begriffe, lebhaft abzuändern. — Nach Tower (19) spaltet sich der Koloradokäfer in Nord-Amerika mit seinem Ausbreiten in eine ganze Reihe neuer Arten und Varietäten. Interessant sind die Fälle, in denen Schildläuse nach erfolgter Versehleppung ihre Nährpflanze wechseln, ohne morphologisch abzuändern. So kommt nach Cockerell(1) Aspidiotus aurantii Mask., in den Mittelmeerländern und in Kalifornien eine Pest an Citrus- Bäumen, in Jamaika nur noch an Palmen und Gayaacum officinale, einer Terebinthacee vor. Parlatoria pergandei Comst., ebenfalls an Citrus-Bäumen häufig in den Vereinigten Staaten, findet sich in Jamaika und Antigua nur an Croton, einer Euphorbiacee. Geringe Aenderungen sind dagegen bei Conchaspis angräci Boisd., beschrieben von kulti- vierten Orchideen in Westindien, in Mexiko zu beobachten, wo sie Hibiscus, eine Malvacee, befällt!). Wenn wir für die eigentümliche Erscheinung, dass europäische, wenig schädliche Insekten sich in Nord-Amerika zu Schädlingen ersten Ranges entwickeln, zur Not eine Erklärung in den günstigen klimatischen Verhältnissen, in den Unterschieden inden Anbau-Arten der Pflanzen u. s. w. finden können, so fehlt uns dafür, dass so wenige fremdländische Insekten sich bei uns im Freien eingebürgert haben, so gut wie jede Erklärung. Denn der Hinweis auf das Klima ist nur eine Umschreibung unserer Unkenntnis; es giebt nur den Namen her für eine Summe uns gänzlich unbekannter Einwirkungen auf die Organis- men. Wenn auch auf Klima-Unterschiede der Umstand hinweist, dass wir so viele exotische Tiere in unseren geschlossenen Räumen beherbergen, so widerspricht dem dagegen wieder, dass so viele exotische Pflanzen, die doch gegen klimatische Unterschiede viel empfindlicher sind als Tiere, bei uns leichter im Freien fortkommen?). 4) Es dürfte indes letztere Form wohl die typische Art, die an den kulti- vierten Orchideen vorkommende die Varietät sein. 2) Dass die Wärme nicht die ausschlaggebende Rolle spielt, die man ihr viel- fach zuschreibt, haben gerade die Untersuchungen über die San Jos&-Schildlaus gezeigt. In Nord-Amerika hat sie Kältegrade von —34° C., die bei uns nie vorkommen, völlig unbeschadet überstanden. Versuche von Lowe und Parrott 426 Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel. Auch verhalten sich die Tiere nicht immer gleich gegen klimatische Einflüsse. In Europa konnten wir in den letzten Jahren das Vor- rücken zweier südlicher Formen nach Norden hin beobachten, des Erbsenkäfers, Bruchus pisorumL., der seit einigen Jahren den Eıbsenbau in den Marken ernstlich bedroht, und die rote Obstschild- laus, Diaspis ostreiformis, Sign. (= fallax Horv. — pyricola del Guercio), die den Rhein entlang bis in den Rheingau gedrungen ist. So rücken auch in Nord-Amerika die beiden Insekten, die man in Europa am meisten fürchtet, die San Jos&e-Schildlaus und der Koloradokäfer, immer mehr nach Norden, nach Kanada hinein, vor. Und mit ihrerAnpassung an das unserem deutschen Klima ähnliche kanadische wächst die Gefahr der Einschleppung für uns von Jahr zu Jahr. Es ist also nicht so einfach, die Gefahr beurteilen zu wollen, die uns von fremden Tieren droht. Abgesehen davon, dass wir ja nicht einmal wissen, welche Tiere bei uns schädlich werden könnten, nützt uns auch das Studium ihrer augenblicklichen Verbreitung nicht viel. Ja selbst die auf jahrzehntelange Beobachtungen gestützten Ansichten können eines schönen Tages durch eine nackte Thatsache über den Haufen geworfen werden. Andererseits lehrt uns ja allerdings die Erfahrung, dass keine allzugroße Gefahr der Einbürgerung exotischer Schädlinge für unsere Freiland-Kulturen besteht. Immerhin dürfen wir die Gefahr nicht unterschätzen; ein einziges Insekt wie dieR eblaus kann uns in einem Jahre mehr Schaden zufügen, als jahrzehntelange Grenzüberwachungen kosten würden!). Wenn wir noch dazu die von fremden Tieren bei uns in geschlossenen Räumen verursachten Schäden berücksichtigen, so haben wir vollauf ein Recht zuAbwehrmaßregeln gegen solch unwillkommene Gäste. Eine vollständige Verhinderung der Einschleppung schädlicher Tiere ist natürlich völlig unmöglich. Abgesehen davon, dass, wie wir wiederholt gesehen haben, wir ja nicht einmal wissen, welche Tiere bei uns schädlich werden könnten, leben viel von ihnen, wie namentlich J. B. Smith (18) gezeigt hat, so versteckt, dass sie sich unserer Beobachtung entziehen. Wir können also bestimmteMaßregeln nur gegen bestimmte haben gezeigt, dass sie sich bei +14° C. ganz gut zu entwickeln im stande ist. Trotzdem sie also in Deutschland bezüglich der Wärme durchaus ihr günstige Verhältnisse treffen würde, und trotzdem sie in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sicherlich massenhaft nach Deutschland gebracht wurde, scheint sie sich hier noch nicht eingebürgert, also im ganzen ungünstige Verhältnisse gefunden zu haben. 4) Die dem deutschen Reiche im Jahre 1897/98 durch die Reblaus verur- sachten Kosten betrugen 1118726,55 Mk. Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel. 127 Insekten so ergreifen, wie wir ja auch solche nur gegen die Reb- laus und die San Jos&-Schildlaus haben, und wie sie in vielen anderen, namentlich den angelsächsischen Ländern gegen dieselben und andere Insekten bestehen. Dass wir in der Reblaus-Konvention keinen ausreichenden Schutz gegen dies Insekt hätten, ist meines Wissens wohl niemals behauptet worden, eher gelegentlich das Gegenteil. Das gleiche gilt für die Einfuhrbestimmungen über die San Jose-Schildlaus bezüglich der lebenden Pflanzen. Nur gegen die Obstuntersuchungen ist wiederholt Einspruch erhoben worden, einerseits, weil sie überhaupt unnötig seien, da kein Fall mit Sicherheit bekannt ist, dass eine Schildlaus durch Früchte verschleppt ist, andererseits, weil Unter- suchungen von Stichproben, wie sie hierbei naturgemäß nur möglich sind, doch keinen ausreichenden Schutz böten. M. H.! Dass die Gefahr der Einschleppung der San Jos6-Schildlaus durch Obst eine geringe ist, unterliegt keinem Zweifel; indes ist sie immerhin groß genug, um diesbezügliche Maßnahmen zu rechtfertigen. Dass eine Stichprobenuntersuchung keinen absoluten Schutz gewährt, ist theoretisch richtig. In der Praxis liegt die Sache aber anders. Die Stichprobenuntersuchungen genügen im allgemeinen vollkommen, um zu verhindern, dass einigermaßen stark besetztes Obst nach Deutschland hereinkommt. Ist aber die Besetzung eine so geringe, dass wir bei den Stichprobenuntersuchungen keine San Jose-Schildläuse finden, so ist, in Verbindung mit der geringen Einschleppungsgefährlichkeit des Obstes überhaupt, für die Praxis die Gefahr gleich Null. Ich glaube, dass diese Ueberlegung auch auf die Betrachtung der Gefährlichkeit ganzer Pflanzen anzuwenden sein dürfte. Als wirksamste Hilfe möchte ich aber die erhöhte Aus- bildung des Pflanzenschutzes im Binnenlande ansehen. Wenn über Deutschland ein Netz von Pflanzenschutzstationen, besetzt nicht mit Dilettanten, sondern mit Fachleuten, und versehen mit weit- gehenden Vollmachten, zerstreut wäre, hätten wir wenig Ursache, uns vor der Einführung fremder Schädlinge zu fürchten. Untersuchungen, wie sie in der Arbeit Kräpelin’s niedergelegt sind, tragen aber ebenfalls indirekt dazu bei, die Gefahr der Ein- schleppung zu verringern. Denn sollte eine der angeführten Arten sich irgendwo bei uns als Schädling einbürgern, so können wir sofort mit einiger Sicherheit die Quelle der Einschleppung angeben, also auch verstopfen, mit einer Sicherheit, die um so größer wird, je länger und umfassender solche Untersuchungen ausgeführt sind. Litteratur!?). InuCoekerell;iT. D: A. 1895. On the natural conditions which affect the 1) Die mit einem * versehenen Werke haben mir nicht vorgelegen, sondern sind nach Krüger (Nr. 8) eitiert. 428 Reh, Die Verschleppung von Tieren durch den Handel. distribution and abundance of Coceids. U. S. Dept. Agric., Div. Ent., Bull. Nr. 2, N. S., p. 91—95. 2. Dollfus, Ad. 1896. Recherches zoologiques dans les serres du Mus&um de Paris. Feurille jeun. Nat., 26€ ann., p. 90—94, 112—113. 3.* Fauvel, A. 1889. Liste des Col&opteres communs & l’Europe et ä V’Amerique du Nord. D’apres le catalogue de M. J. Hamilton. Avec remarques et additions. Rev. d’Ent. T. 8, p. 52—174. 4* Hamilton, J. 1889. Catalogue of the Coleoptera commun to North America, Northern Asia, and Europ, with distribution and biblio- graphy. Trans. Amer. ent. Soc., vol. 16, p. 88—162. 5. Howard, L. 0. 1895. Injurious insects and commerce. Insect Life, vol. 6, p. 332—338. 6. id. 1897. The spread of land species by the agency of man; with special reference to insects. Science N. S., vol. 6, Nr. 141, p. 382—398. 7. id. 1898. Danger of importing insect pests. Yearb. U. S. Dept. Agrie., 1897, p. 529—552. 8. Krüger, L. 1899. Insektenwanderungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika und ihre wirtschaftliche Be- deutung. Herausgegeben vom Entomologischen Vereine zu Stettin. Berlin, R. Friedländer, u. S. 9.* Lintner, J. A. 1883. I Report of the State Entomologist of New York, for de year 1882. Albano 1883; 7th Rep., for 1891. 40. Marshall, W. 1900. Der Einfluss des Menschen auf die Verbreitung der Tiere. In des Verfassers Zoologischen Plaudereien. 3te Samml p. 30—54. 41. Philippi, R. A. 1886. Ueber die Veränderungen, welche der Mensch in der Fauna Chiles bewirkt hat. Festschr. Ver. Nat. Kassel zur Feier s. 50jähr. Bestehens, p. 1—20. 42. Reh, L. 1900, Insektenwanderungen zwischen Deutschland und den Ver- einigten Staaten von Nord-Amerika, mit besonderer Berücksichtigung der San Jos&-Schildlaus. Zeitschr. Pflanzenkrankh. Bd. 10, H. 2. 43. id. 1901. Ueber Verschleppung von Tieren durch den Handel. Jahr.-Ber. Gartenbau-Ver.Hamburg-Altona 1900/1901. 14. Reitter, C. 1891. Catalogus Coleopterorum Europae. Mödling, C. Reitter. 15.* Riley, C.N. 1871. 24 Report of the State Entomologist of Missouri for the year 1870. Jeffersen City. 16. id. 1894. The inseets occurring in the foreign exhibits of the world’s Columbian Exposition. Insect Life vol. 6, p. 213—227. 17. Simroth, H. 1901. Abriss der Biologie der Tiere. I. Samml. Göschen, Nr. 131, p. 19. 48. Smith, J. B. 1898. Quarantaine against foreign inseets: how for can it be effectice? Proc. 19th ann. Meet. Soc. Promot. agrie. Science. 19. Tower, W.L. 1900. The Colörado potato eetle. Seience N.S., vol. 12, Nr. 299, p. 433—440. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2, — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXI Band. 1. März 1902. Nr. 5. Inhalt: Küster, Die Mendel’schen Regeln, ihre ursprüngliche Fassung und ihre mo- dernen Ergänzungen. — Schapiro, Ueber Ursache und Zweck des Hermaphro- ditismus, seine Beziehungen zur Lebensdauer und Variation mit besonderer Berücksichtigung einiger Nacktschneckenarten (Schluss). — Driesch, Kritisches und Polemisches. — Stölzle, A. v. Kölliker’s Stellung zur Descendenzlehre. — Bei der Redaktion eingegangene Werke. — Blumenbach’sches Stipendium, Die Mendel’schen Regeln, ihre ursprüngliche Fassung und ihre modernen Ergänzungen. Von Ernst Küster. Das letzte Heft von Ostwald’s „Klassikern der exakten Wissen- schaften“ bringt eineNeuauflage vonMendel’s „Versuchen über Pflanzen- hybriden“. Von den botanischen Schriften, die wir in der genannten Klassikerkollektion vereinigt finden, sind die Abhandlungen Mendel’s die jüngsten: die letzte der beiden Arbeiten ist nicht viel mehr als 30 Jahre alt — und ihr Verfasser hat trotzdem schon lange genug das Schicksal vergessener Autoren teilen müssen. Erst in der aller- jüngsten Zeit ist durch die Publikationen von de Vries, Correns und E. Tschermak!) der unbeachtete, bescheidene Forscher ins rechte Licht gesetzt und das allgemeine Interesse auf seine Leistungen gelenkt worden. In der That nehmen von den botanischen Problemen, die in der jüngsten Vergangenheit ihre Behandlung erfahren haben, die Entdeckung der „doppelten Befruchtung“ und die Frage nach Bildung und Entwicklung der Hybriden das Interesse des botanischen Publikums am lebhaftesten in Anspruch. Die Neuauflage der halb vergessenen Mendel’schen Berichte, die von E. Tschermak besorgt worden ist, bringt zu modernen Arbeiten die willkommene historische Ergänzung?). 4) Litteraturnachweis am Ende des Referates! 2) Mendel hat seine beiden Arbeiten in den Verhandlungen des Natur- forschenden Vereins in Brünn („Versuche über Pflanzenhybriden“, Bd. IV, 1865, XXI. I 4130 Küster, Die Mendel’schen Regeln. Wir nehmen das Erscheinen des Heftes zum Anlass, um auf den Inhalt der vielbesprochenen Mendel’schen Resultate nochmals zurück- zukommen, die von ihm ermittelten Regeln in Kürze zu erörtern und die Grenzen zu skizzieren, die nach neueren Untersuchungen für sie gelten. Die eingehendsten Versuche hat Mendel mit Pisum sativum an- gestellt. Wer über die Entwicklung der Hybriden arbeiten und das Gesetz ermitteln will, welches das mannigfaltige Variieren hybrider Formen bestimmt, muss vor allem geeigneter Versuchspflanzen sich versichern, die 1. konstant differierende Merkmale besitzen, 2. die Hybriden derselben müssen während der Blütezeit vor der Einwirkung jedes fremdartigen Pollens geschützt sein oder leicht ge- schützt werden können, 3. dürfen die Hybriden und ihre Nachkommen in den aufeinander- folgenden Generationen keine merkliche Störung in der Fruchtbarkeit erleiden“ (a. a. O. p. 4). Diese Gründe werden es erklären helfen, dass Mendel und seine modernen Nachfolger durchaus unabhängig voneinander dieselbe Ver- suchspflanze bevorzugt haben, deren Kultur überdies noch die denkbar geringsten Schwierigkeiten macht. Mendel konnte nun !bei seinen Versuchen folgendes feststellen: I. Werden zwei Erbsenrassen, die sich durch ein Merkmal von- einander unterscheiden, durch Befruchtung miteinander verbunden, so gleichen die Bastarde nur der einen der beiden Erbsenformen. Wird z. B. eine Rasse mit runzligem Samen mit einer glattsamigen gekreuzt, so gleichen sämtliche Bastardexemplare der glattsamigen Sorte. Das Merkmal „runzlige Samen“ ist gleichsam getilgt und wird ganz durch das Merkmal der anderen Elternform „glatte Samen“ ersetzt. Aehn- lich liegen die Verkältnisse bei Kreuzung von gelb- und grünsamigen Formen: sämtliche Bastarde gleichen der gelbsamigen Rasse u. 8. w. „In der weiteren Besprechung werden jene Merkmale, welche ganz oder fast unverändert in die Hybridenverbindung übergehen, somit selbst die Hybridenmerkmale repräsentieren, als dominierende, und jene, welche in der Verbindung latent werden, als recessive be- zeichnet (a. a. ©. p. 70). — Wir wollen diese Regel mit Correns als Prävalenzregel bezeichnen. II. Es ist nach Mendel für das Kreuzungsprodukt durchaus gleichgültig, ob das dominierende Merkmal der Samen- oder der Pollen- p.3—47, und „Ueber einige aus künstlicher Befruchtung gewonnene Hieracium- bastarde“, Bd. VIII, 1869, p. 26—31) veröffentlicht. Die Neuausgabe in Ost- wald’s Klassikern umfasst 62 Seiten; Preis 1 Mk. — Im nachfolgenden sollen sich die Seitenangaben stets auf diese Ausgabe beziehen. Dieselben Ar- beiten erschienen ferner im Ergänzungsband zu Flora, 1901. Küster, Die Mendel’schen Regeln. 131 pflanze angehört. Mendel beruft sich hierbei auf Gärtner, nach dem auch geübte Kenner nicht im stande seien, am Bastard zu er- kennen, welche der beiden Arten die Samen- oder Pollenpflanze ge- liefert hat. III. In der Tochtergeneration der Hybriden „treten nebst den dominierenden Merkmalen auch die recessiven in ihrer vollen Eigen- tümlichkeit wieder auf, und zwar in dem entschieden ausgesprochenen Durebschnittsverhältnisse 3 : 1, so dass unter je vier Pflanzen aus dieser Generation drei den dominierenden und eine den recessiven Charakter erhalten“ (a. a. ©. p. 11). Die Formen, die den recessiven Charakter angenommen haben, variieren in der folgenden Generation nicht mehr, sie bleiben in ihren Nachkommen konstant. „Anders verhält es sich mit jenen, welche in der ersten Generation das dominierende Merkmal besitzen. Von diesen geben zwei Teile Nachkommen, welche in dem Verhältnis 3:1 das dominierende und recessive Merkmal an sich tragen, somit genau dasselbe Verhalten zeigen, wie die Hybridenformen; nur ein Teil bleibt mit dem dominierenden Merkmal konstant“ (a. a. O. p. 14). — Mendel hat seine Beobachtungen durch sechs Generationen fortgeführt und bei allen dieselbe gesetzmäßige Aufspaltung derHybriden- gruppe konstatiert: „Die Nachkommen der Hybriden teilten sich in jeder Generation nach den Verhältnissen 2:1:1 in hybride und konstante Formen.“ — Um die gesetzmäßige Wiederkehr dieses Zahlenverhält- nisses zu erklären, nimmt Mendel an, dass in den Bastarden zweierlei männliche und weibliche „Befruchtungszellen“ ausgebildet werden: etwa die Hälfte der Pollenzellen wird ihrer Anlage nach der Eltern- form mit dominierendem Merkmal, die andere Hälfte der mit recessivem Charakter entsprechen. Dieselbe Spaltung wird unter den Keimzellen vorauszusetzen sein. „Befruchtungszellen“ mit dominierendem Charakter seien mit A, die anderen mit a bezeichnet: „es bleibt ganz dem Zufall überlassen, welche von den beiden Pollenarten sich mit jeder einzelnen Keimzelle verbindet. Indessen wird es nach den Regeln der Wahr- scheinlichkeit im Durchschnitte vieler Fälle immer geschehen, dass sich jede Pollenform A und a gleich oft mit jeder Keimzellform A und a vereinigt .... Das Ergebnis der Befruchtung lässt sich dadurch an. schaulich machen, dass die Bezeichnungen für die verbundenen Keim- und Pollenzellen in Bruchform angesetzt werden, und zwar für die Pollenzellen über, für die Keimzellen unter dem Striche. Man erhält in dem vorliegenden Falle: A A BEA. 7 + — Bei dem ersten und vierten Gliede sind Keim- und Pollenzellen gleich- artig, daher müssen die Produkte ihrer Verbindung konstant sein, nämlich A und a; bei dem zweiten und dritten hingegen erfolgt aber- mals eine Vereinigung der beiden differierenden Stammmerkmale, da- 9# 152 Küster, Die Mendel’schen Regeln. her auch die aus diesen Befruchtungen hervorgehenden Formen mit der Hybride, von welcher sie abstammen, ganz identisch sind“. Da & und = (siehe II) einander gleichwertig sind, ist AALEN naar Damit hat das oben angeführte Zahlenverhältnis seine vollauf genügende Erklärung gefunden (Mendel, p. 29 und 30). — Diese zweite von Mendel entdeckte Regel wollen wir mit Correns als die Mendel’sche „Spaltungsregel“ bezeichnen. IV. Das bisher Gesagte bezog sich nur auf die Kreuzungsprodukte von Formen, die nur durch ein Merkmalpaar sich unterschieden („Monohybriden“ de Vries). Was für Bastarde liefert die Kreuzung von Formen, die sich durch zwei oder mehr Merkmalspaare unter- scheiden („Polyhybriden“)? — Wir haben an dieser Stelle das Resultat zu verzeichnen, dem von allen Mendel’schen Ergebnissen die größte praktische Bedeutung zukommt: es gelingt, durch Kreuzung ver- schiedener Rassen neue und konstante Merkmalskombinationen zu erzielen. Damit ist der Weg von dem, was rein theoretisches In- teresse beansprucht, zu dem praktisch verwertbaren gefunden. Men- del’s Ergebnisse weisen uns den Weg zur rationellen Züchtung neuer Rassen. — Das von Mendel aufgestellte, die Polyhybriden betreffende Gesetz, lässt sich am bequemsten an den durch zwei Merkmale ge- trennten Stammformen erörtern. AB sei das Symbol für die Samen- pflanze (A =Samen rund, B= Cotyledonen gelb), ab das der Pollen- pflanze (a —= Samen kantig, b —= Cotyledonen grün). Die nach der künstlichen Befruchtung erzielten Samen stellten alle möglichen Merk- malsmischungen dar: AB, Ab,aB,ab. Die Nachkommen der Hybriden erschienen hinsichtlich des Inhalts ihrer Hülsen in neun verschiedenen Formen: AB, Ab, aB, ab, ABb, aBb, AaB, Aab, AaBb. Aehnlich, nur noch komplizierter liegen die Verhältnisse bei Stammformen mit drei unterschiedliehen Merkmalspaaren. „Die Nachkommen von Hybriden, in welchen mehrere wesentlich verschiedene Merkmale ver- einigt sind, stellen die Glieder einer Kombinationsreihe vor, in welchen die Entwicklungsreihen für je zwei differierende Merkmale verbunden sind. Damit ist zugleich erwiesen, dass das Verhalten je zweier differierender Merkmale in hybrider Verbindung unabhängig ist von den anderweitigen Unterschieden an den beiden Stammpflanzen“ (a. a. O. p- 22). V. Nachdem die Gesetze, welche die Bildung der Erbsenhybride regeln, ermittelt waren, blieb noch die wichtige Frage zu entscheiden: gelten die nämlichen Gesetze auch für andere Pflanzen oder beschränkt sich ihre Gültigkeit auf Pisum sativum? Schon bei Kreuzungsversuchen mit Phaseolus, über die Mendel noch in seiner ersten Abhandlung Küster, Die Mendel’schen Regeln. 133 berichtet, konstatierte er neben vielen Uebereinstimmungen mit Pisum doch schon eine Abweichung: die Bastarde, die aus der Verbindung einer weiß- und einer purpurrotblühenden Varietät hervorgingen, glichen nicht einer der beiden Elternformen, sondern produzierten Blüten mit allen Abschattierungen zwischen Purpur, Blassviolett und Weiß. Umsonst bemüht sich Mendel, durch eine erzwungene Erklä- rung die neue Erfahrung dem für Pisum ermittelten Gesetz unterzu- ordnen: seine späteren Resultate an Fieracium — man vergleiche die zweite seiner Abhandlungen — lehrten zur Evidenz, dass von einer Allgemeingültigkeit des für Pisum geltenden Gesetzes nicht die Rede sein kann: die Bastarde der Hieraciumarten waren untereinander nicht identisch. Die Nachkommen der Bastarde aber stimmten untereinander und mit der Bastardmutterpflanze überein. Der Darlegung der wichtigsten Mendel’schen Resultate, die wir hiermit beschließen, lassen wir eine kurze Erörterung der Korrekturen und Ergänzungen folgen, mit der die Untersuchungen moderner Autoren uns bekannt gemacht haben. Etwas eingehender sei dabei die jüngst- erschienene der einschlägigen Publikationen (TschermakIlI) berück- sichtigt. Wollen wir prüfen, wie weit die Gültigkeit der Mendel’schen Prävalenzregelreicht, so werden wir uns zunächst über die Definition des Begriffes „dlominierend“ einig werden müssen. Correns(a.a.0. III, p. 98) nennt nach Mendel „ein Merkmal dann dominierend, wenn das korrespondierende im Bastard der Beobachtung ganz ent- schwindet oder in ihm nicht sicher erkannt werden kann“. Mendel selbst aber sagt (a.a.O. p. 10), dass die als recessiv bezeich- neten Merkmale „an den Hybriden zurücktreten oder ganz ver- schwinden“. Mendel scheint also den Begriff „dominierend“ nicht so eng gefasst zu haben, wie es Correns verstanden wissen will. Es ist von vornherein wahrscheinlich, dass sich bei Untersuchung von Hybriden verschiedener Pflanzen um so mehr Ausnahmen von der Prä- valenzregel finden werden, je strenger wir die Grundbegriffe definieren. Die von Correns untersuchten Levkojen würden solche Ausnahmen darstellen: verschiedene Merkmalspaare (Beginn des Blühens, Farbe der Blumenblätter, Epidermis des Embryos) sind am Bastard neben- einander zu erkennen: der eine der beiden elterlichen Charaktere tritt freilich zurück, bald in der Stärke, in der er sich manifestiert, bald in der Zahl der Individuen, bei welchen er auftritt. Bei anderen Merkmalen der Levkojen, wie Behaarung der Blätter, Flügelrand der Samen etc. blieb die Prävalenzregel auch bei strenger Definition der Grundbegriffe in Geltung. Einen wichtigen Fortschritt über die Ergebnisse Mendel’s hinaus bedeuten Tschermak’s Beobachtungen über den Einfluss der Rasse bezw. Rassenkombination auf den dominierenden bezw. recessiven 134 Küster, Die Mendel’schen Regeln. Charakter eines Merkmals. Mendel erwähnt bereits das Längenmaß der Axe unter den von ihm berücksichtigten Merkmalen: das Längen- maß der größeren Rasse erwies sich als das dominierende Merkmal. Tschermak erzielte in vier Verbindungen Mittelstellung, in zwei anderen Kombinationen sogar Dominanz des etwas niedrigeren Typus. Ebenso wechselnd ist die Rolle anderer Merkmale bei verschiedenen Rassenkombinationen: „so zeigte in der ersten Generation die Lang- form der Hülse in dem einen Falle Dominanz, im anderen Gleich- wertigkeit, ähnlich die Schmalform. Die langspitzige Form war gar in einer Kombination dominant, in der anderen (fast) recessiv. Die Walzenform des Samens (zweiter Generation) einerseits dominant, andererseits recessiv, in einer dritten Verbindung gleichwertig; die Langform das eine Mal recessiv, das andere Mal dominant: das Merkmal „gedrückt“ recessiv, bezw. gleichwertig“ (Tschermak IH, p. 87). Erst die Nachfolger Mendel’s haben die Frage sich gestellt, ob den verschiedenen Merkmalen durchwegs selbständige Wertigkeit zukommt oder inwieweit gewisse Merkmale teils im Falle bestimmter Rassenkombination, teils ganz allgemein miteinander verknüpft sind. Correns spricht bei jenen von fakultativ, bei diesen von obligatorisch kombinierten Merkmalen. Mendel studierte den Charakter der ein- zelnen Merkmale, de Vries, Correns und Tschermak ergänzten seine Angaben durch Prüfung der Merkmalsgruppen. Tschermak’s Beiträge zu dieser Frage beziehen sich auf Pisum: Farben- und Form- merkmalen der Cotyledonen sowie dem Höhenmerkmal kommt selbst- ständige Wertigkeit zu. Ob der Vereinigung, in der sich andere Merk- male (violette Blüte, roter Blattachselfleck ete.) zusammenfinden, eine eigentliche „Verkoppelung“ zu Grunde liegt, werden spätere Versuche entscheiden. — — Mendel konnte, wie gesagt, keinen Einfluss des Geschlechts der Ueberträger konstatieren. Correns und Tschermak kommen zu entgegengesetzten Resultaten. Correns beobachtete, dass bei Kreu- zung zwischen Matthiola glabra und M. incana stets die jeweilige mütterliche Elternform für die Farbe der Embryoepidermis ent- scheidend war. Sogar an den Mendel’schen Versuchspflanzen ließ sich erweisen, dass der mütterliche Einfluss der maßgebende war (Tsehermak I, p. %). Für die Form des Kreuzungsproduktes von Pisum arvense mit P. sativum war ausschließlich die jeweilige Mutter bestimmend (Tschermak II, p. 86). Durch Kreuzung können nicht nur neue Merkmalskombinationen erzielt werden, gelegentlich zeigt der Bastard auch Merkmale, die den Elternforınen völlig fehlen. Dergleichen Fälle zählt schon die ältere Litteratur auf. Correns sah bei Kreuzungsprodukten bestimmter Erbsenrassen in der Färbung der Hülsen „ein (wenigstens scheinbar) ganz neues Merkmal auftreten“, Ebenso sah Tsechermak aus Rassen Küster, Die Mendel’schen Regeln. 135 mit einfarbiger Samenschale eine Form hervorgehen, die durch gelb- braune, stark schwarz marmorierte Samenschale auffiel. Es wäre von Interesse, zu erfahren, wie sich die Nachkommen der durch das neue Merkmal gekennzeichneten Bastardform verhalten und wie sich das neue Merkmal bei weiteren Kreuzungen verhält. — Eine Verstärkung der elterlichen Merkmale, von der die modernen Autoren wiederholt sprechen, war auch Mendel schon bekannt. Dass die Spaltungsregel kein für alle Pflanzenformen gültiges Gesetz ist, hat Mendel selbst schon durch seine Versuche mit Hieracium erwiesen. Zur Eweiterung unserer Kenntnisse wird es vor allem er- forderlich sein, eine möglichst große Reihe der verschiedensten Pflanzen nach den von Mendel aufgestellten Gesichtspunkten zu prüfen. Ein doppelt fruchtbares Arbeitsfeld verspricht uns die Untersuchung anderer Kulturpflanzen. Für das, was den Theoretiker interessiert, geben sie ein gleich gutes Material ab wie alle anderen noch nieht untersuchten Pflanzen; außerdem stellt aber ihre Prüfung dem Praktiker als Lohn in Aussicht, dem Problem der Züchtung neuer vorteilhafter Rassen auf sicherem Wege näher zu kommen. [117] Halle a/S., November 1901. Litteraturverzeichnis. Correns, C. I. Gregor Mendel’s Regel über das Verhalten der Nach- kommenschaft der Rassenbastarde. Ber. d. D. Bot. Ges., Bd. XVIII, 1900, p. 158. II. Gregor Mendel’s „Versuche über Pflanzen- hybriden“ und die Bestätigung ihrer Ergebnisse durch die neuesten Untersuchungen. Bot. Ztg., 1900, Bd. LVIII, p. 229. III. Ueber Levkojenbastarde. Bot. Cbl., Bd. LXXXIV, 1900, p. 97. Tschermak, E. I. Ueber künstliche Kreuzung bei Pisum sativum. Ztschr. fe landw. Versuchswesen in Oesterreich, 1900, Heft 5 (vergl. Ber. d. D. Bot. Ges., Bd. XVIII, 1900, p. 232). II. Weitere Beiträge zur Verschiedenwertigkeit der Merkmale bei Kreuzung von Erbsen und Bohnen. ibid. 1901, Heft 6 (vergl. Ber. d. D. Bot. Ges., Bd. XIX, 1901, p- 35). Vries, H. de. I Ueber das Spaltungsgesetz der Bastarde. Ber. d.D. Bot. Ges., Bd. XVIII, 1900, p. 83. II. Ueber erbungleiche Kreuzungen. ibid. Bd. XVIII, 1900, p. 435. Nachtrag. Erst nachträglich habe ich Gelegenheit gefunden, mich mit der neuen, umfangreichen Arbeit über „Bastarde zwischen Maisrassen“ von Correns!) bekannt zu machen. Von den Resultaten seiner Unter- suchungen will ich hier nur einige, die an unser Thema besonders eng sich anschließen, ganz kurz besprechen. Ebenso wie bei Kreuzung von Matthiolaarten erwies sich auch 1) „Bastarde zwischen Maisrassen mit besonderer Berücksichtigung der Xenien“, Bibl. Bot. Heft 53. 136 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. bei Zea, dass nur manche Merkmalspaare einen dominierenden Paar- ling besitzen, andere nicht. Bei den „heterodynamen“ Paaren (z. B. chemische Beschaffenheit des Endosperms) gilt Mendel’s Prävalenz- regel, bei den anderen (den „homodynamen“) z. B. auf Größe der Körner, Kolben u. s. w. bezüglichen ist sie ungültig. Weiterhin unterscheidet Verf. zwischen den „homöogonen“ und „schizogonen“ Merkmalspaaren, „je nachdem die zwei Anlagen bei der Keimzellbildung zusammen bleiben oder sich spalten, so dass die Hälfte der Keimzellen nur mehr die Anlage für die eine, die Hälfte nur mehr die für die, andere Anlage besitzt“. Demnach sind vier Typen von Merkmalspaaren zu unterscheiden: 1. heterodynam und schizogon, 2. heterodynam und homöogon, 3. homodynam und schizogon, 4. homodynam und homöogon. Den ersten, dritten und vierten bezeichnet Correns als Pisum-, Zea- und Hieraciumtypus; für den zweiten ist noch kein sicheres Bei- spiel bekannt. Beim Mais sind alle drei genannten Typen vertreten: Dem Pisumtypus folgen die auf Beschaffenheit und Farbe der Spelzen, auf das chemische Verhalten des Endosperms u. s. w. bezüglichen Merkmalspaare, dem Zeatypus die Farbe der Fruchtschale u. a. m., dem Hieraciumtypus Form und Größe des Korns ete. Bei den „Xenien“, die Verf. mit besonderer Ausführlichkeit be- handelt, sieht man bei Berücksichtigung bestimmter Merkmalskategorien stets dasselbe Merkmal auftreten, gleichgültig, ob die eine oder die andere Rasse die männliche Pflanze geliefert hat: „Der Pollen von I wirkt auf II, der von II aber nieht auf I“, — oder beide Merkmale treten nebeneinander auf, sich mehr oder weniger mischend oder mengend, — oder nur das Merkmal der mütterlichen Pflanze tritt auf, die Bestäubung mit fremden Pollen bleibt „scheinbar“ wirkungslos. Verf. nimmt an, dass den beiden Polkernen eine größere Erbmasse zukommt als dem männlichen Kerne. Webber’s Annahme!) einer „parthenogenetischen“ Endospermbildung wird verworfen. Ueber Ursache und Zweck des Hermaphroditismus, seine Beziehungen zur Lebensdauer und Variation mit besonderer Berücksichtigung einiger Nacktschneckenarten. Von Dr. J. Schapiro, Bern (Schweiz). (Schluss.) Dass das Anpassungsvermögen, welches doch einen wichtigen Faktor für die Existenz der Art ausmacht, seinen ureigensten Grund 4) „Xenia, or the immediate effect of pollen in Maize“. N. S. Departm. of Agriculture Bulletin N. 22. Washington 1900. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. 137 in der Variationsfähigkeit besitzt, braucht hier erst nicht erörtert zu werden, und ist es aus alledem einleuchtend, dass die Natur — bildlich genommen — Vorkehrungen treffen musste, um die Partheno- genesis nach Möglichkeit zu verhindern. Mit anderen Worten: Die Natur machte eher einen kleinen Umweg und sparte nicht etwaige An- strengungen, um die Parthenogenesis, wenn sie auch die einfachere, dafür aber die im höchsten Grade schädliche ist, zu vermeiden und sie nur in nicht zu umgehendem Falle anzuwenden. Hier wäre es am Platze, auf die vorher (S. 108) vertretene Mei- nung, dass Parthenogenesis die Variabilität hemmt, während die Amphi- gonie dieselbe fördert, ja sogar die Ursache des Variierens in sich birgt, zurückzukommen und kurz zu erläutern. Parthenogenesis variiert nicht, weil ihre Fruchtmasse nur die Tendenzen eines Individuums, also nur einen Charakter in sich trägt; bei Amphigonie hingegen ent- hält der Keim die Tendenzen zweier Individuen, also eine Kom- bination individueller Charaktere, es ist daher im ersten Augenblick einleuchtend, dass ein parthenogenetisch sich entwickelndes Individuum durchaus keine Veranlassung hat, nicht ziemlich genau seinen Erzeuger zu kopieren, was er durch Erblichkeit tbun musste, während bei Amphigonie die Sache gerade umgekehrt ist, ein auf diese Art ent- standenesIndividuum kann unmöglich nur mit einem seiner Erzeuger ganz identisch sein, es ist vielmebr in seinem Wesen, da es die Vererbungs- tendenzen zweier Eltern in sich vereinigt, ein Kompromiss zwischen seinen beiden Erzeugern. Hiermit also ist der erste Anstoß zur Um- bildungsfähigkeit und Variation gegeben. Kehren wir nun nach dieser Abschweifung zu unserem Thema zurück, den obigen Gedanken festhaltend, und verfolgen wir ihn weiter, so werden wir, wenn wir die Frage aufstellen: welche war die ursprüngliche Form des Hermaphroditismus, die Selbst- befruchtung oder die gegenseitige? — antworten müssen, dass die ur- sprünglichste Form des Hermaphroditismus nicht Selbstbefruchtung ge- wesen sein kann, da sonst der Umweg unbegreiflich sein würde, denn die Selbstbefruchtung hat dieselben Nachteile!) wie die Parthenogenesis, und warum wurde also nicht die einfachere Parthenogenesis ein- geführt? Wie gesagt, wir müssen annehmen, dass die ursprünglichste Form des Hermaphroditismus die Selbstbefruchtung ausschloss. Dies geschah, indem Sperma und Eier in demselben Tiere zu verschiedenen Zeiten reif wurden, und so blieb ihnen niehts übrig als Amphigonie, und damit ist ihnen natürlich auch die Variabilität gesichert, sowie auch die anderen Nachteile der Inzucht-Parthenogenesis von ihnen ferngehalten. Selbstbefruchtung ist nur eine sekundär erlangte Ein- richtung des Hermaphroditismus. 1) Der Hauptfaktor der Variation, die Amphigonie fehlt ja hier. 138 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. Die Ursache der Entstehung des Hermaphroditismus dürfte wohl, wie ich meine, nicht auf rasche Vermehrung — wie es bei Partheno- genesis!) der Fall ist — zurückzuführen sein, denn hier, wo zwei Tiere miteinander kopulieren, liefert weder jede Geschlechtszelle ein neues Individuum, noch wird hier eine Beschleunigung der Vermehrung ein- treten, durch Wegfall der Verzögerung der Entwicklung (s. S. 106). Wir müssen uns denselben auf diese Weise erklären, nämlich dass durch irgend welchen Zufall „ein Geschlecht“ unterdrückt wurde und dem bleibenden Geschlecht, damit die Art nicht gänzlich verschwinde, die Wahl zwischen Parthenogenesis und Hermaphroditismus frei blieb, und es wählte zur Anpassung, da es sich hier nur darum handelte, die Fortpflanzung überhaupt zu ermöglichen, den Hermaphroditismus. — Wenn der Leser meiner Ausführung bis hierher gefolgt ist, wird er begreifen, dass die Wahl aus Nützlichkeitsprinzip geschah. Ich sagte, „ein Geschlecht“ wurde unterdrückt, ich habe mich absichtlich un- bestimmt — welches Geschlecht — ausgedrückt. Pelseneer?) sagt: „Der Hermaphroditismus jst nicht der ur- sprüngliche Zustand, sondern ist aus dem getrenntgeschlechtlichen (weiblichen) in der Weise hervorgegangen, dass die M. erst nicht nur der Größe, sondern auch der Zahl nach reduziert wurden und endlich gänzlich verschwanden, und dass das sporadische Auftreten von Sperma bei den W. zum normalen Verhalten ausgebildet wurde. Hierfür spricht das Vorkommen von rückgebildeten M. in Gruppen, wo keine reinen W., sondern nur Zwitter vorkommen u. s. w.“ Leider war mir das Werk von Pelseneer unzugänglich, auch habe ich dies- bezüglich keine direkten Beobachtungen gemacht und will daher ‘in dieser Beziehung keinen bestimmten Standpunkt einnehmen. Bemerken will ich nur, dass, wenn es sich um rein theoretische Erwägungen han- dele, die Möglichkeit eines Hermaphroditismus männlicherseits durchaus nicht auszuschließen wäre. Weismann?°) hebt die von Berthold festgestellte Thatsache hervor, „dass bei gewissen Algen (Ketocarpus und Scytosiphon) nicht nur eine weibliche, sondern auch eine männliche Parthenogenesis vorkommt, indem zuweilen auch die männlichen Keimzellen allein sich zu allerdings sehr schwächlichen Pflänzchen entwickeln können“. Wir sehen hier eine männliche Parthenogenesis, weshalb also einen ihr vielfach verwandten männlichen Herma- phroditismus ausschließen? (s. S. 104). Das Vorkommen der rück- gebildeten Männchen in Gruppen, wo keine reinen Weibchen, sondern nur Zwitter vorkommen, können wir uns so erklären, dass durch irgend welche Ursache die Weibchen eine Rückbildung und Schwächung er- litten und schließlich gänzlich verschwanden. — Dasselbe nimmt ja 1) 8. Ursache d. Entstehung d. Parthenogenesis, S. 106. 2) Pelseneer, Zool. Jahresbericht, 1895, 8. 9. 3) 8. 301, Aufsätze. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. 139 Pelseneer bei den Männchen an, — nur ein Teil derselben konnte sich dem Hermaphroditismus anpassen, die übrigen aber nicht. Es wird auch einleuchten, dass ein Hermaphrodit sich am liebsten mit einem anderen hermaphroditischen Tiere derselben Art vereinigen wird, ihn begatten, oder von ihm begattet werden, und so wurden die nicht- hermaphroditisch gewordenen (die männlichen) Tiere dieser Art über- flüssig, ihres Amtes, Begatten, enthoben und in Nichtaktivität versetzt. Sie mussten also rückgebildet werden, weil sie ihre Existenzberechtigung verloren haben, da sie zur Erhaltung der Art nichts beitragen. Die- selben werden natürlich auch mit der Zeit von der Oberfläche gänz- lich verschwinden. — Wie gesagt, habe ich mir in diesem Punkte keine genügend sichere Meinung bilden können. Es ist auch für unsere Ausführung ohne Belang, ob die Rückbildung des männlichen oder weiblichen Geschlechtes den Hermaphroditismus verursachte Hier wollte ich nur dies betonen, wie ich schon oben gesagt, dass der Hermaphroditismus nicht genau denselben Zweck verfolgt wie Par- thenogenesis. Letztere hat, wie S. 106 angegeben, die schnelle Ver- mehrung zum Zwecke, der Hermaphroditismus aber kann diesen Zweck nicht verfolgen, wie schon von mir bemerkt wurde, weil derselbe keineswegs Beschleunigung der Vermehrung bewirken kann. Sein Zweck war einfach nur, die normale Vermehrung zu sichern. Durch das Unterdrücktwerden eines Geschlechtes geriet natürlich die Art in Gefahr, von der Bildfläche zu verschwinden, der Hermaphroditismus verhinderte es, indem er die Norm der Zahl der Individuen, den früheren Maßstab (der getrenntgeschlechtlichen Individuen) gegeben hatte. Man kann nach der obigen Definition Parthenogenesis und Hermaphroditismus so auffassen, dass, wenn die Erhaltung der Art eine rasche Vermeh- rung erforderte, eine Anpassung an Parthenogenesis vollzogen wurde; genügte aber zur Erhaltung der Art eine gewöhnliche, nicht über- stürzte Vermehrung, d. h., dass die Fortpflanzung nicht überhaupt aufhörte, dann haben sie sich aus den erwähnten Gründen dem Hermaphroditismus angepasst. Wie schon S. 137 unten bemerkt, kann der Hermaphroditismus — Nichtselbstbefruchtung im Gegensatze zur Parthenogenese — da bei ersterem eine amphigone Fortpflanzung herrscht — ebenso wie Getrenntgeschlechtliche, variieren, und glaube ich, über den Grad des Variierens bei denselben folgendes bemerken zu können. Seite 104 und weiter wurde schon darauf hingewiesen, dass das Wesentliche bei der Befruchtung die Masse ist. Es giebt keinen prinzipiellen Gegensatz der beiden kopulierenden Kerne, nur die Quantität des Befruchtungs- stoffes entscheidet. Hier will ich noch folgende Stellen von Weis- mann!) eitieren: 1) S. 299, Aufsätze. 140 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. „Ei und Sperma sind ihrer Natur nach nicht verschieden.“ Ferner'): „wenn es ausführbar wäre, in das Ei irgend einer Art, unmittelbar nach Umwandlung des Keimbläschens zum Eikern, den Eikern eines anderen Eies künstlich hinein zu bringen, so würden die beiden Kerne wahrscheinlich sich ebenso kopulieren, wie wenn der befruchtete Spermakern ins Ei eingedrungen wäre, und es würde damit der direkte Beweis geliefert sein, dass Ei- und Spermakern in der That gleich sind.“ Indessen dürfen wir uns die Sache gewiss nicht so vorstellen, als gäbe es überhaupt keine Verschiedenheit im Charakter des Eis und Spermas. Wir sehen ja, dass Ei und Sperma einander anziehen, wäh- rend bei ihresgleichen (Ei und Ei, Sperma und Sperma) es nicht der Fall sei, und worauf soll dies denn etwa beruhen, wenn nicht auf charakteristischen, geschleehtlichen Unterschieden? Wenn wir die zweckentsprechenden Befruchtungszellen miteinander vergleichen, wird man, wie ich glaube, bei denselben eine zweiartige Ungleichheit finden: 1. Individuelle Verschiedenheit, d. h. gesetzt auch, dass Ei und Sperma sich so weit gleichen wie Ei und Ei, Sperma mit Sperma, so sind die kopulierenden Ei- und Spermazellen doch individuell ungleich, da es ja zwei individuell verschiedene Individuen sind, welche sich begatten, und folglich müssen doch auch die von ihnen stammenden kopulieren- den Geschlechtszellen individuell verschieden sein. 2. Dieschon oben ge- nannte Ungleichheit des Eies und Spermas. Diese Ungleichheit liegt natürlich nicht prinzipiell in ihrem Wesen (o. oben), aber eine ge- schlechtliche Ungleichheit zweiten oder dritten Grades ist aus anderen Erwägungen, hauptsächlich aber, weil sie sich gegenseitig anziehen, sicherlich vorhanden. Ich will hier eine Stelle von Kölliker?) eitieren: „Der Eikern überträgt nicht bloß Eigenschaften der weiblichen Vor- fahren der Mutter auf das Erzeugte, sondern auch der männlichen und ebenso der Spermakern. Wenn somit das Kind dem Vater der Mutter, oder der Mutter des Vaters ähnlich sein kann, so muss sowohl der Ei- kern als der Spermakern hermaphroditisch sein.“ Wenn wir diesen gewiss richtigen Gedankengang Kölliker’s mit dem von mir oben so betonten geschlechtlichen Gegensatze der zweiartigen Zellen in Ein- klang bringen wollen, so müssen wir „männliche“ Geschlechtszelle so definieren: eine Geschlechtszelle, die aus männlichen und weiblichen Tendenzen zusammengesetzt ist, aber mit einer überwiegend männlichen Charakterausprägung; die weibliche Geschlechtszelle werden wir um- gekehrt definieren. — Dass es eine männliche oder weibliche Charakter- ausprägung der Geschlechtszellen geben muss, dafür spricht dieser Umstand, dass dieselben doch von männlichen oder weiblichen Indi- viduen abstammen, deren Quintessenz doch die Zelle darstellt. 1) S. 300. 2) Kölliker, Zeitschr. f. wiss. Zool.., 1885, S. 10; Bedeutung des Zell- kernes u. 8. w. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. 141 Wir können somit folgende Verschiedenheiten oder Gegensätze der Embryonalzelle unterscheiden. Erstens: die individuelle Verschieden- heit der beiden Zellen, zweitens: die geschlechtliche Verschieden- heit derselben, drittens ist jede einzelne Zelle an sich, da sie herma- phroditisch ist, schon ein Gegensatz männlicher und weiblicher Cha- raktere. Alle diese Gegensätze oder Tendenzen, welche die Embryonal- zellen in sich vereinigen, müssen bewirken, dass der Variabilität der aus ihnen neu entstandenen Organismen eine gewisse Grenze gesetzt und sie also nicht sehr erheblich sei: denn, wenn auch eine amphigone, normale Befruchtung, wie S. 108 u. w. bemerkt, nicht nur zu keiner Beeinträchtigung der Variation führt, sondern im Gegenteil, dass die Verschiedenheit der Tendenzen eben das Material zu Neubildungen schafit, so ist doch aber auch gerade durch diese einander gleichwertigen Gegensätze — „die Kinder gleichen gewöhn- lich den beiden Erzeugern gleichviel')‘ — das Variieren zur Un- beträchtlichkeit und Langsamkeit verurteilt. Bei einigem Nachdenken, glaube ich, wird man zu dem Schlusse kommen müssen, dass die Summe von keinem der verschiedenen Charaktere oder Gegensätze im neuen Keime die Oberhand gewinnen und sich zur Geltung bringen kann. Weder die Summe einer der beiden verschiedenen Zellen, die trotz ihres, jeder einzelnen Zelle eigenen, hermaphroditischen (männ- lichen und weiblichen) Charakters, doch eine Einheit darstellen: Zell- einheit, noch eine der beiden männlichen oder weiblichen Summen, — wenn wir uns z.B. die beiden kopulierenden Zellen, eine jede hal- biert denken — in männlich und weiblich — und wir also die Em- bryonalzelle in männliche und weibliche Summen oder Einheiten son- dieren, — auch wenn wir die gesamte Embryonalzelle in vier Einheiten sondieren (zwei verschiedene männliche und zwei verschiedene weib- liche Charaktere), so sind doch in allen diesen Fällen die einander gegenüberstehenden Einheiten gleichmäßig stark gerüstet, und es ist nicht einzusehen, warum gerade diese oder jene Einheit den Vorrang gewinnen und siegen sollte, so dass die Individualität der Embryonal- zelle nach einer gewissen Richtung hin mehr umgeformt wird. Und wenn daher auch in dieser Vereinigung verschiedener Charaktere der Anstoß zur Umbildung und zum Variieren gegeben ist, so wirken die- selben anderseits aber auch gleichmäßigend und abschwächend auf die verschiedenen Charaktereinheiten. Eine Ausgleichung findet inso- fern statt, dass die neuentstandenen Organismen sozusagen ein normales Durchschnittsmaß einer Gesamtcharaktereinheit darstellen und die Variation nicht über dieselben Gesamtcharaktereinheiten hinaus kann. 1) ©. Hertwig: Problem der Befruchtung u. s.w. — Jen. Zeitschr., 1885, S. 283. — C. v. Nägeli: Mechanisch-physiologische Theorie d. Abstammungs- lehre, 1884, S. 109. 142 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. Nun denken wir uns den Fall‘), dass bei den kopulierenden Individuen, richtiger bei den kopulierenden Zellen, eine Zelleinheit die andere über- wiegt, oder — was unserem Zwecke am besten entspräche — die männliche oder weibliche Charaktereinheit beider Zellen, zusammen die ihr Entgegen- gesetzte. Nach der vorangegangenen Erörterung ergiebt es sich, dass bei dem aus solchen Zellen neu gebildeten Organismus von einem normalen Durchschnittsmaße seiner Gesamtcharaktereinheit nicht die Rede sein kann. Die gesamte männliche oder weibliche Einheit der Embryonal- zelle wird, wenn sie die überwiegend große ist, sich über die ihr Ent- gegengesetzte mehr und mehr emporarbeiten, folglich wird sich der aus der Embryonalzelle entstandene Organismus nach und nach von dem ursprünglichen Typus entfernen. Also: ein Variieren, das im stetig merklichen Flusse begriffen ist. In folgendem will ich nun, nach einer kurzen Uebersicht über Aufenthaltsorte, Färbung und Anatomie der von mir untersuchten Arten, zeigen, wie sich meine theoretische Auseinandersetzung auf letztere anwenden lässt. Arion empiricorum?) (F&russac). Diese Art ist bei Bern überall zu finden, auf feuchten Wiesen, in der Nähe von Wald und in Nadel- wäldern, sowie auf bewaldeten Höhen. Große, ausgewachsene Tiere findet man hauptsächlich im Spät- sommer; dievon mir anfangs Winter gefundenen waren sämtlich sehr klein. In der Umgebung Berns sind hauptsächlich folgende Färbungen zu treffen: Hellgelb, dnnkelrot und schwärzlich. Nach der Lokalität zu unterscheiden waren die hellroten Exem- plare aus dem Bremgartenwalde, die dunkler gefärbten aus dem bo- tanischen Garten, und fast schwärzliche fand ich auf halbem Wege nach dem Garten, etwa 900 m über dem Meere, auf Moos an Tannen- bäumen. Erstere Farbe war vorhanden bei den im Mai und Juli gesammelten, die dunkelrote bei den im August gefundenen Tieren, und die schwärz- lichen Exemplare erlangte ich gegen Ende September. Die Nahrung der Tiere scheint hauptsächlich in Pilzen und Kräutern zu bestehen. Anatomie: Die Schale, rudimentär aus einem lockeren oder festen Zusammenhange von ovalen oder schleifsteinförmigen Kalkpartikelchen bestehend, befindet sich in der Schalentasche oder im Mantelspalt. Der ziemlich große Mantel hat eine gekörnte Oberfläche, die Haut ist stark gerunzelt. Das Atemloch nähert sich dem vorderen Rande, gleich davor befindet sich die Geschlechtsöffnung. Der nicht gekielte Rücken ist hinten mit einer Schwanzdrüse versehen. Der Darm zeigt 1) Ich weise hier besonders auf den Schluss der Arbeit hin. 2) Ich hebe nur die wichtigsten unterscheidenden anatomischen Merkmale hervor. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. 143 vier Schlingen; er läuft ungefähr zwischen der ersten und zweiten Schlinge (ich fand dies aber auch manchmal zwischen der 2.— 3.) noch in einen Blindsack aus. Durch einen kurzen Oesophagus ist die erste Schlinge mit dem Pharyux verbunden. Der Enddarm öffnet sich neben der Niere in die Analrinne. Die gelappten großen Speicheldrüsen sitzen dem Magen vorn auf. Die großen Lebern sind dreilappig. Die diekwandige Kammer des Herzens giebt die Aorta ab, deren Verzweigungen weiß gefärbt sind. Die Niere ist halbmondförmig, sie umfasst den Herzbeutel. Der in seinem Hauptabschnitte schlauchartige Ureter mündet in sich verengen- dem Kanal in das Atemloch. Die Niere seukt sich in die obere Wand des Lungensackes ein, so dass derselbe um diese ausgezackt erscheint. Limax maximus (Linne) findet man überall verbreitet, im Freien sowohl als in Kellern lebend. Die von mir Ende Juli in einem Keller des botanischen Gartens gefundenen Tiere waren dunkel, schmutziggrau gefärbt, mit schwarzer, bindenartiger Punktierung. Andere Exemplare aus der „Enge“ unter Moos an alten Bäumen und unter Pilzen, von denen sie sich haupt- sächlich nähren, gesammelt, waren fast schwarz. Ein Mitte Februar im Universitätsgarten unter Brettern hervorgeholter maximus ähnelte den im Juli gefundenen. Anatomie: Die Schale ist rundlich, flach, im Mantelspalt liegend. Atemloch hinter der Mitte des rechten Randes des gestreiften Mantels. Geschlechtsöffnung hinter den rechten Tentakeln, entfernt vom Atem- loch. Gekielter Rücken ohne Schwanzdrüse. Der Darm zeigt sechs Windungen, deren erste den Magen bildet, der gerade gestreckt ver- läuft; die zweite Schlinge zieht zur Aorta, die dritte und vierte liegen in der rechten, dreilappigen Leber eingebettet, die linke Leber ist zweilappig. Die weißliche Speicheldrüse ist mäßig groß und wenig gelappt. Die aus zwei Teilen: der Harndrüse und dem Ureter bestehende Niere verbindet den Boden der Lungenhöhle mit der Lungendecke. Die Schleimdrüse öffnet sich in den Ureter. Die Herzkammer sieht nach hinten, wo die Aorta heraustritt — welche sich in die Aorta cephalica und intestinalis teilt —, die Vorkammer nach vorn. In der Lunge bildet das Atemgewebe ein einfaches Netzwerk. Agriolimax agrestis (L.). Diese Schnecke ist überall zu finden. Die an der Aare an Sträuchern gesammelten Tiere waren grauweiß, vereinzelt auch ganz weiß gefärbt, sonst fand ich an Waldrändern dunkelgraue, auch rötliche Exemplare. Anatomie: Das Atemloch ist bei agrestis ebenfalls hinter der Mitte des rechten Randes. Die vier Darmschlingen sind in die Leber eingebettet. Am End- 444 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. darme befindet sich ein kleiner gekrümmter Blinddarm. Die Speichel- drüse ist stark gelappt. Die linke einlappige, vorn stark eingekerbte Leber ist schräg vor den Magen gelagert. Agriolimax laevis (Müll.). Ebenso wie agrestis allgemein vor- kommend, auf Wiesen, Aeckern, am Wasser, selten im Walde auf Moos und unter Brettern. Die von mir beobachteten Tiere zeigten dunkelgraue, bräunliche, auch fast schwarze Färbung. Die helleren fand ich im Sommer, die dunkleren im Herbste an den Ufern der Aare. Anatomie: Atemloch wie bei agrestis, ebenso der Darm, Blind- darm fehlt. Speicheldrüse gleichfalls sehr gelappt. Bei den beiden letzteren (agriolimax agrestis und laevis) sind Herz, Niere und Lunge, von kleinen unbedeutenden Abweichungen abgesehen, wie bei Limax Maximus. Geschlechtsorgane. Arion empiricorum: Die Zwitterdrüse fand ich in verschiedener Art; die Form derselben ist vom Reifezustand abhängig. Wenn die Eiweißdrüse groß ist, und auch der Ovidukt ziemlich weit war — also ein reifes Tier —, dann wird sie durch die Arterie in zwei Teile geteilt, von denen der eine dreiviertel und der andere einviertel der Drüse ausmacht. Sind die Eiweißdrüse und Ovidukt unentwickelt, das Tier also noch unreif, so wird die Zwitterdrüse durch die Arterie un- gefähr halbiert. Auch ist bei verschiedenen Reifezuständen die äußere Form der Zwitterdrüse verschieden: bei reifen Tieren ist sie etwas oval, manchmal etwas eckig, bei noch uureifen bildet jede Hälfte un- gefähr eine Kugel. Bei noch ganz jungen Tieren nähert sich die Zwitterdrüse der Form der reifen. Sie ist stark pigmentiert, bei reifen Tieren gewöhnlich dunkelbraun. Der Zwittergang ist geschlängelt, an demselben befindet sich ein Divertikel, die Versicula seminalis, die allerdings etwas schwer zu unterscheiden ist. Simroth nimmt an, dass diese enge Fixation weiter nichts bedeute als eine Stauungsvorrichtung, damit der Abfluss von Sperma und Eiern in den Ovispermatodukt ge- regelt wird und jedes seinen richtigen Weg in die Samenrinne und in den Ovidukt finde. Die Eiweißdrüse ist gelbweiß, groß, mit vielen Einschnitten. Die beiden Rinnen des Ovispermatoduktes sind bis unten zusammenhängend. Nachdem der Ovidukt auf eine Strecke frei ver- läuft, mündet er in das obere Atrium, ebenso der anfangs dünne, nach- her zu einer Patronenstrecke sich erweiternde Vas deferens, sowie das Receptaculum. Der Penisretraktor fehlt, somit natürlich auch ein Penis, denn da kein Retraktor vorhanden ist, würde der Penis bei der Aus- stülpung der Genitalorgane bei der Begattung folglich nicht zurück- gezogen werden können. Zu diesem Resultat kommt auch Simroth:), 1) Simroth ; 8. 234. XXI. > Arton empirticorum. Vs pat = A UL. 10 146 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus, „dass von einem männlichen Penis nicht die Rede sein kann, son- dern, dass die weiblichen Teile das Kopulationsorgan, eine Art weib- lichen Penis erzeugen“. Auf den Vorgang der Begattung selbst will ich hier nicht näher eingehen, da derselbe bei den Schnecken im allgemeinen, wie auch bei Arion emp. hinlänglich bekannt ist, so dass ich es für überflüssig halte, dieselbe zu berühren. Ich will hier nur zufügen, dass alle brünstigen Tiere, die mir in die Hände kamen, stets mit reif ent- wickelten, weiblichen Organen waren, einer großen Eiweißdrüse und weit ausgebildetem Ovidukt, somit also scheint die Begattung aus weiblichem Antriebe zu erfolgen, was mit der Thatsache, dass bei Arion emp. die Kopulationsorgane vom weiblichen Teile gebildet werden, in Einklang zu bringen ist. Limax maximus. Die Zwitterdrüse ist groß, gelappt, von dem Zwittergang nicht halbiert; derselbe ist weißlich, etwas gewunden und bildet ebenfalls ein Divertikel (Vesicula seminalis), kurz vor dem Ein- tritt in den Ovispermatodukt. Die Vereinigung des letzteren ist nicht so innig wie bei Arion emp., er lässt sich sehr weit hinauf in Ei- und Samenleiter trennen. Der Penis ist darmartig gewunden, mit einem langen, kräftigen Retraktor. Das Receptaculum seminis mündet |bei jungen Tieren in den Ovidukt, bei alten am Penis. Ich fand dieselben nur hermaphroditisch bei alten wie bei jungen Tieren. Babor!) aber fand bei vollkommen ausgewachsenen Exemplaren auch männliche In- dividuen, wobei in diesem Falle eine entsprechende Abänderung der Genitalorgane stattfindet. Die Begattung hat Purkyne?) in korrekter Form und im Einklang mit der Anatomie der Genitalorgane geschil- dert. Simroth hat seine, Purkynes Befunde in einigen Punkten berichtigt, worauf übrigens hier nicht näher eingegangen werden soll. Agriolimazx agrestis: Ich fand die ganze Zwitterdrüse von der Leber bedeckt, in welcher letzteren die Darmwindungen eingebettet sind. /witterdrüse war gewöhnlich hellgelb, zuweilen auch kaum gefärbt. Der Zwittergang, wenn er auch die Zwitterdrüse nicht direkt in zwei Hälften teilt, wie bei Arion emp., verläuft doch auf der Oberfläche derselben ungefähr in der Mitte. Der gelblich weile Zwittergang ver- läuft gerade, nicht geschlängelt mit ziemlich langem Divertikel (Ves. semin.). Eiweißdrüse ist gelb, nicht erheblich groß, Ei- und Samen- leiter sind bis nach unten fest vereinigt. Das kurze Vas .deferens mündet etwas unterhalb des blinden Endes des Penis. Am Vereinigungs- punkt von letzterem und Ovidukt sitzt das heceptaculum. Etwas ent- fernt von der Mündung des Vas deferens im Penis haftet ein in mehreren 4) Babor, Ueber den Cyelus der Geschlechtsentwicklung der Stylom- motophoren. 2) Purkyne, Begattung der Arion emp. Archiv für Naturgesch. 1859 S. 267. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. 447 Agriolimax agrestis. Limax masximus. 10: 148 Sehapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. Schläuchehen verzweigtes Flagellum. Der Penisretraktor sitzt dem Penis etwa in der Mitte auf. Ich will hier noch hervorheben, dass ich zwei Tiere in höchster Erregung während des Vorspiels — ehe die Begattung stattgefunden hatte —, in Alkohol tötete, sie hatten mächtig ausgebildete Penes, die Eiweißdrüsen hingegen waren noch nicht völlig ausgebildet. Agriolimax laevis: Die Tiere, die ich fand, waren Hermaphroditen; die Zwitterdrüse war dunkelbraun, traubenartig, der Zwittergang nicht geschlängelt, gewöhnlich dunkel pigmentiert mit hellfarbiger Divertikel (Ves. semin.) am verjüngten, dünnen Ende. Eiweißdrüse mäßig groß und gelb. Ei- und Samenleiter sind bis unten dicht vereinigt. Der freie Ovidukt ist kurz und ziemlich drüsig, ebenso das Vas deferens, welches seitlich, nicht direkt, an der Spitze sich ansetzt. Das Receptaculum sitzt am Vereinigungspunkt von Ovidukt und Penis, wie bei agrestis. Der Penis geht bogen- förmig nach außen. Den einen Ausläufer, der an der Spitze eine Hufeisenform bildet, werden wir wohl als Flagellum betrachten müssen. Neben ihm befindet sich der Penisretraktor, der hier allerdings viel kürzer ist als bei Z£. agr. Wie schon oben bemerkt, waren meine Tiere nur zwittrig, Babor!) aber fand bei sehr großen Tieren von gelblichweißer Farbe im Keimorgan nur Sperma und einen hyper- trophierten Penis. Die Eiweißdrüse ist ziem- lich klein, das Receptaculum seminis fehlt gänzlich. Färbung. Agriolimax laevis. Arion empiricorum. Die Farbe ist sehr variabel, nach Moquin-Tandon?) giebt es davon 11—-15 Varietäten der Färbung. Die Hauptfarben wechseln zwischen schwarz und rot (schwärzlich- rot). EinHaupfaktor bei der Umfärbung ist Wärme), doch ist die Farbe auch sehr abhängig von dem Aufenthalt der Tiere. So findet man in hochgelegenen Gegenden meist ganz dunkle, fast schwarze, auf Wiesen hingegen hellrote mit schwarz gemischte Exemplare. 1) Babor, Ueber den Cyelus d. Geschlechtsentwieklung.u. s. w. s. Litteratur- verzeichnis, 2) Moquin-Tandon, histoire naturelles, des mollusques terrestres et fluviatiles de France. 3) Nach Simroth. Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. 149 Nach Leydig!) soll der Aufenthalt im Feuchten auch maßgebend für die Dunkelung sein. Auch das Wachstum spielt bei der Umfärbung eine Rolle, so sind die kleineren heller als die ausgewachsenen Tiere. Limax maximus. Die vorherrschenden Arten variieren sehr zwischen hell, rotgelb bis braun. Bei ganz jungen Tieren zeigt sich auch eine schmutziggraue Färbung mit schwarzer Punktierung. Agriolimax laevis ist in der Farbe sehr variierend, von dunkel- graubraun bis schwarz in verschiedenen Nüaneierungen. Die Färbung variiert nach der Jahreszeit, denn man findet die helleren Tiere im Sommer, die dunkleren im Herbste; alsdann hängt die Umfärbung auch von dem Aufenthaltsorte ab, so giebt es nur an feuchten Plätzen gedunkelte. Agriolimax agrestis zeigt ebenso wie laevis viele Abstufungen in der Färbung: weißlichgrau, auch ganz weiß und rötlich. Soviel über das Variieren der Färbung. Was nun die morphologische Umbildung unserer Arten im allgemeinen betrifft, so will ich nur darauf hinweisen, dass hier eine solche Inkonstanz und Verschwommenheit herrscht, dass wir sogar innerhalb der Gattung die Unterschiede zwischen zwei Arten nur mit Schwierigkeiten feststellen können. So, wenn wir in der Gattung Arion die Arten unterscheiden wollen, so finden wir, dass z. B. die Anatomie von Arion brunneus mit derjenigen des großen Ar. emp. bis auf einige kleine Abweichungen in den Genitalorganen übereinstimmt. Dasselbe gilt auch für Ar. subfuseus. Der Unterschied der beiden letzteren von Ar. emp. ist der, dass bei demselben nur das eigentliche mit gelben Drüsen ausgestattete untere Atrium den gemein- samen Anteil beiderlei Organe bildet, während beim letzteren noch eine zweite Erweiterung, oberes Atrium, hinzukommt, ist so geringfügig, dass Simroth?) selbst zugesteht, dass ohne Zuhilfenahme der Zeich- nung (Färbung) die Anatomie nur eine schwache Stütze für die Art- unterschiede bietet. Dasselbe gilt von Limax mazximus, der von L. tenellus und L. nyetelius z. B. u. a. sehr wenig anatomisch ab- weicht. Auch Ayriolimax agrestis und /aevis unterscheiden sich z. B. von melonocephalus u. a. sehr wenig. Ich verzichte hier auf die Wieder- gabe der Anatomie der neugenannten Arten, was auch nicht der Zweck dieser Arbeit wäre. Was ich hier betonen will, ist: dass bei unseren Tieren nichts Konstantes, und sozusagen alles im Flusse ist. Anatomie wie Färbung, also eine Variation in sehr hohem Grade. Nun, Arion emp. ist mehr weiblich (s. S. 146), die kopulierenden Zellen haben also einen überwiegend weiblichen Charakter, somit überwiegt in der Em- bryonalzelle die weibliche Charaktereinheit. 1) Leydig, Die Hautdecke und Schale der Gasteropoden u. s.w. Arch. f. Naturgesch., 1876. 283 29% 150 Schapiro, Ursache und Zweck des Hermaphroditismus. Limax masximus hat im Reifezustand eine Periode, in der er nur männlich ist (v. S. 146), wenn solch ein Tier ein Individuum von seiner Art, das hermaphroditisch ist, begattet, so befindet sich doch in der aus den kopulierenden Zellen entstandenen Embryonalzelle eine überwiegend männliche Einheit. — Die eine der kopulierenden Zellen (Sperma), vom männlichen Limax maximus stammend, ist stark überwiegend männ- lich, die andere (Ei) Geschlechtszelle aber, obgleich dieselbe eine weibliche Zelle ist, müssen wir sie doch, da sie ja von einem Hermaphroditen, also einem neutralen Tiere stammt, als annähernd, jedenfalls nicht weit von neutral entfernt, sozusagen halb männlich, halb weiblich ansehen — also die Embryonalzelle: eine überwiegend männliche Einheit. Dasselbe gilt für Agriolimax laevis, der auch eine rein männliche Periode hat (s. S. 148), ebenso für Agriolimax agrestis, der zu einer gewissen Zeit nur männlich reif ist (v. 148). Bei aufmerksamer Verfolgung meiner früheren!) theoretischen Auseinandersetzungen wird sich aus den oben angeführten Thatsachen die Notwendigkeit auch der großen Variation dieser Arten mit Selbst- verständlichkeit ergeben, welche auch thatsächlich stattfindet. Hauptsächliches Litteraturverzeichnis. 1. August Weismann, Aufsätze, Jena 1893. 2. Oskar Hertwig, Das Problem der Befruchtung u. s.w. Jen. Zeitschr. f. Naturw., Bd. XVIII, Jahrg. 1885, Jena. A. Kölliker, Bedeutung d. Zellkerns u. s. w. Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. XLII, 1885, Leipzig. 4. Heinrich Simroth, Versuch einer Naturgesch. u. s. w. Zeitschr. f. wiss, Zool., Bd. IV, 1885, Leipzig. 5. Herbst Spencer, Prinzipien d. Biologie, Bd. II, 1877. Uebersetzt aus dem Engl. von Dr. phil. Vetter. 6. Ernst Häckel, 1. Keimesgesch. d. Menschen, 1891, Leipzig; 2. syste- matische Phylogenie der wirbellosen Tiere, Bd. II, 1896, Berlin. ‘. Charles Darwin, Das Variieren d. Tiere und Pflanzen, Bd. II, über- setzt von Viktor Carus, 1873, Stuttgart. 8. V. Hensen, Physiologie d. Zeugung (Handbuch der Physiologie), 1881, Leipzig. 9. R. Hertwig, Lehrb. d. Zoologie, Jena 1897. 10. Charles Darwin, Variieren d. Arten, II. Teil, übersetzt von Carus, Stuttgart. 11. J. Babor, Ueber den Cyclus der Geschlechtsentwicklung u. s. w. Verh. d. zool. Gesellsch. zu München. Leipzig 94. 12. Moquin-Tandon, Histoires naturelles des mollusques 1. e. t. 13. E. Purkyne, Begattung d. Arion empiricorum, Arch. f. Naturg., 1859. 14. Leydig, Die Hautdecke und Schale der Gasteropoden, Arch, f. Natur- gesch. 1859. 15. Bronn, Klassen u. Ordnungen d. Tiere, Mollusk. v. Käferstein, Heidel- g> 4) Vergl. v. S. 141 u. 142. Driesch, Kritisches und Polemisches, 151 berg; Kl. u. Ordn. d. Tiere, 2. Aufl, Mollusken von Simroth, Heidelberg. 16. Brehm, Leben d. Vögel, S. 72. 17. Revue Suisse de Zoologie, Geneve, Jahrg. 1893 (Ancylus fluviatilis et lacustris par Em. Andre). 18. Anatomisch-physiologische Uebersicht d. Tierreichs v. Bergmann und Leuckart, Stuttgart 1852. 19. Studer, Die Mollusken der nächsten Umgebung von Bern, Separatabdr. d. Naturforsch. Gesellsch, Bern, 1884. Erklärungen der Abbildungen. I. Fig. Geschlechtsorgane von Arion emp. (reifes Tier). II. Fig. Geschlechtsorgane von Arion emp. (unreifes Tier). Ill. Fig. Geschlechtsorgane von Limax mazximus. IV. Fig. Geschlechtsorgane von Agriolimax agrestis. V. Fig. Geschlechtsorgane von Agriolimax laevis. 1a u. b) Quersehnitte aus der Zwitterdrüse von Arion emp. (Bier und Sperma). 2a) Querschnitte aus der Zwitterdrüse von Limax max. (Eier und Sperma). 3a) Querschnitte aus der Zwitterdrüse von Agriolimax agr. (nur Sperma). Diese Schnitte waren durch Boraxcarmin gefärbt. Gemeinsame Bezeichnungen. zd. = Zwitterdrüse; zg. — Zwittergang; eid. = Eiweißdrüse; vs. — Vesicula seminalis; ov. —= Ovidukt; ovst. = Ovispermatodukt; rec. — Receptaculum ; vd. — Vas deferens; pat. = Patronenstrecke; wgr. — weibl. Genitalretraktor; p. = Penis; fl. = Flagellum; rp. = Penisretraktor; 1b, = Leber; dw. = Darm- windungen. Kritisches und Polemisches. I. Die Metamorphosen der Entwicklungsphysiologie. Von Hans Driesch. Ein kleines Stück Wissenschaftsgeschiehte ist es, das dem Leser in diesen Zeilen vorgeführt werden soll, und zwar Geschichte der allerneuesten Zeit. Mag zwar der Hegel’sche Satz, dass die Ge- schichte der Philosophie diese selbst sei, schon von eben der Philo- sophie nur mit Einschränkungen und in bestimmter Weise verstanden, mag ein ähnlicher von den Wissenschaften, die nicht das Denken zum Objekt haben, gar nicht gelten: wissenschaftliche Betrachtungen be- haupten auf alle Fälle ihren Wert schon allein dadurch, dass sie die Bedeutung erkannter Wahrheiten, indem sie ihr Hervorgehen aus dem Irrtum darlegen, um so klarer hervortreten lassen. Ja, es möchten sich wissenschaftsgeschichtliche Studien wohl gar für etwas viel wesentlicheres, nämlich für die Aufhellung der Notwendigkeit des Gedankenverlaufes, sei es des Einzelnen oder von Generationen ver- werten lassen. Dührings Kritische Geschiehte der Prinzipien der Mechanik ist ein klassisches Beispiel dafür. Nun steht zwar die Biologie nicht auf der Ausbildungsstufe der 152 Driesch, Kritisches und Polemisches. Mechanik und ist auch ein Wissensgebiet ganz anderer, nämlich em- pirischer Art; biologische Wissenschaftsgeschichte kann daher die Be- deutung mechanischer nicht im entferntesten beanspruchen. Was allein zu ihrer Rechtfertigung dienen kann, ist jener Nutzen aller Wissen- schaftshistorie, die Wahrheit durch ihr Gegenstück, den Irrtum, um so klarer aufzuzeigen. In diesem Sinne sei im folgenden versucht, die „Entwicklung der Entwicklungsphysiologie“, und zwar gewisser allgemeinster Ergebnisse derselben, zu betrachten. Ein mehr praktisches als theoretisches Ziel hat also dieser Aufsatz; es soll durch ihn, um es gerade herauszu- sagen, verhütet werden, dass die neueste Wendung entwicklungs- physiologischen Theoretisierens von vielen gar nicht erkannt werde, was bei der leider stetig zunehmenden Oberflächlichkeit des Lesens und bei der Neigung, fremde, zumal neue Ansichten unter alte Schlag- wörter!) zu rubrizieren, zu befürchten ist. Mit der Betrachtung der theoretischen Ansichten von Weismann und Roux mag die Erörterung entwicklungsphysiologischer Sätze be- ginnen, denn was vor ihnen liegt, ist einerseits wenig entschieden und entbehrt andererseits, wenn ich so sagen darf, der bewussten Selbst- schätzung. Erst die beiden genannten Forscher waren sich klar, dass sie die Grundprinzipien der biologischen Entwicklungsgesetzlichkeit formulieren wollten und formulierten. Ihre Theorie verdient die Bezeichnung einer maschinellen, komplikativen Zerlegungstheorie. Sie ist „maschinell“, weil sie im Prinzip hofft, mit Kombinationen chemisch-physikalisher Agentien zum „Verständnis“ der von ihr behandelten Phänomene aus- kommen zu können; sie ist „komplikativ“, weil sie im Entwicklungs- ausgangspunkte eine sehr komplizierte Maschine annimmt; sie ist endlich eine „Zerlegungs“-theorie, weil sie unter Zerlegung jener komplizierten Maschine in immer Einfacheres die Entwicklungsphänomene sich ablaufen denkt. Es unterliegt keinem Zweifel, dass nicht nur auf Grund rein deseriptiver Betrachtung des Entwicklungsgeschehens, sondern auch auf Grund der ersten Roux’schen Versuche, jene Theorie sowohl als logisch zulässig wie auch sogar als „wahrscheinlich“ erscheinen musste. Nun zeigte ich und zeigten andere, dass von einer „Zerlegung“ von irgend etwas, als Grundlage der Formdifferenzierung, nicht die kede sein könne, dass eine solche höchstens in seltenen Fällen und auch dann nicht eigentlich aus sich selbst, sondern von außen ver- anlasst, statthabe. 4) Man verschone uns doch endlich mit den Schlagwörtern Epigenesis und Evolution. Wo diese beiden in erheblicher Häufigkeit auftreten, kann man meist schon von anfang an sicher sein, dass von wahrem Eindringen in die Sachlage ganz und gar keine Rede ist. Driesch, Kritisches und Polemisches. 155 Mit diesem Nachweis wähnten wir, das Roux-Weismann’sche Theoriengebäude widerlegt, beseitigt zu haben; wohl die Mehrzahl der Forscher gab uns Recht darin. Wennschen man auch die neue Form- bildungstheorie unausgesprochen oder auch, wie es von mir selbst!) geschah, sehr ausgesprochen, als maschinelle Theorie, in dem oben definierten Sinne, angesehen wissen wollte, so war man doch überzeugt, dass alle anderen Kriterien der Theorie der Gegner widerlegt seien, dass die neue Theorie also an Stelle einer „komplikativen Zerlegungs- theorie“ getreten seials maschinelle unkomplikative Formativ- reiztheorie. „Das Ei besitzt eine sehr komplizierte Struktur, im Sinne einer Tektonik“, „das Ei besitzt eine nur recht einfache Struktur“: das waren die Schlagworte auf beiden Seiten. O. Hertwig hat wohl am ent- schiedensten die „Einfachheit“ der fraglichen Struktur vertreten. So einfach und einleuchtend nun aber auch die Gegnerschaft gegen das ältere Theoriengebäude erscheint und mir selbst mehrere Jahre lang erschienen ist: es steckt ein logischer Fehler in dieser Gegner- schaft, ein Fehler, der zwar nicht die Zerlegungstheorie rehabilitiert, der aber die neue Theorie unabweislich zu Fall bringt. Wir hatten übersehen, dass jenes ältere Theoriengebäude nicht nur auf den Namen einer Zerlegungstheorie, sondern auf den einer „komplikativen Zerlegungstheorie“ Anspruch hat. Mit Widerlegung des zerlegenden Charakters derselben, glaubten wir, sie in toto wider- legt zu haben, glaubten wir alle ihre Eigenschaften, wenn ich so sagen soll, leugnen zu müssen. Verzeihlich wird ein soleher Fehler, zumal bei solchen, die unter dem Eindruck selbst ausgeführter Experi- mente standen, wohl genannt werden dürfen; immerhin ist es gut, dass seine Aufhellung nicht noch länger auf sich hat warten lassen. Der logische Fehler in den verschiedenen Arten der maschinellen unkomplikativen Formativreiztheorie wurde von meinem Freunde Herbst und von mir, unabhängig voneinander und auf wesentlich verschiedenen Wegen erkannt?). Wie das geschah, sei nun etwas eingehender ge- schildert. Was durch die Experimentalforschung etwa bis zum Jahre 1893 gewonnen war, das war freilich eine Widerlegung des Roux-Weis- mann’schen Theoriengebäudes, soweit dieses mit dem Begriff der Zer- legung arbeitete: wenn sich dem gefurchten Keim beliebige Teile nehmen lassen, wenn man seine Konstituenten beliebig verlagern darf, ohne die Erzielung normaler Produkte zu stören, dann ist in der That für ein Zerlegungsgeschehen als Grundlage der Entwieklung kein Platz. Was aber durch diese und ähnliche Versuche gar nicht berührt wird, 4) Analytische Theorie der organischen Entwicklung. Leipzig, 1894, p. 165. 2) Ich betone das, weil, was zwei auf getrennten Wegen erkannten, als gesicherter gelten darf, als was nur einer fand. 154 Driesch, Kritisches und Polemisches. das ist jene andere Seite jenes Theoriengebäudes, welche es zu einem komplikativen stempelt. Roux und Weismann hatten im Ei ein Gebilde von hochkomplizierter Struktur, von Tektonik gesehen. War denn das auch unrichtig? Wir dachten so, unter dem Ein- druck der Experimentalresultate, die ja freilich in Hinsicht der Wider- legung jener einen Seite der gegnerischen Theorie von seltener Beweis- kraft waren. Im Grunde genommen gab sich keiner von „uns“ besondere Rechenschaft darüber, dass in jenem Theoriegebäude zwei voneinander logisch unabhängige Faktoren vorhanden seien, daher denn auch keiner sich fragte, wie es mit jenem zweiten Faktor stehe, ob er wohl gar eine logische Notwendigkeit bedeute. Herbst und ich selbst unternahmen es, im Jahre 1394, ein neues Theoriengebäude an Stelle der als unzulänglich erkannten Zerlegungs- lehre zu setzen: wir suchten, der eine konkreter!), der andere?) ab- strakter, einzudringen in das Ursachen-, in das Reizgetriebe, das logisch für den sich entwickelnden Keim zu postulieren war, wenn es eine „Zerlegung“ nicht gab. Die aus der Physiologie bekannten Reizarten wurden hervorgeholt; alles schien mit ihnen restlos zu gelingen, bei Annahme einer nur einfach gearteten gegebenen Primärstruktur im entwicklungsfähigen Ei. Nun trat, im Jahre 1598, eine Wendung ein, die das Problem zu- nächst über die Frage nach komplizierter oder einfacher Struktur erhob und diese als solche für den Augenblick verschleierte: Ich er- kannte’), dass „die aus der Physiologie bekannten“ Reizarten nieht zur Darstellung der Entwicklungsphänomene genügend, dass durch die Experimentalforschung vielmehr Verhältnisse aufgedeckt seien, denen überhaupt nicht maschinell, d. h. mit den bisher wissenschaft- lich bekannten Geschensfaktoren, beizukommen sei, ich erkannte, dass gewisse Lokalisationsverhältnisse der Differenzierung zur Zulassung einer „Autonomie“ von Lebensgeschehnissen, populär gesprochen, zur Zulassung des „Vitalismus“ zwingend nötigten. Damit gab ich meine ältere Theorie, soweit sie nicht rein ana- Iytisch war, als unvollständig ausdrücklich auf. Ich habe sie also aufgegeben, weil sie maschinell war, nicht weil sie unkomplikativ und auch nicht, weil sie eine Reiztheorie war. Die Roux-Weismann’sche Theorie fiel unter diesem Gesichtspunkte natürlich, als maschinelle Theorie, zum zweitenmal, nachdem sie als Zerlegungstheorie zum erstenmal gefallen war; ihr Charakter als Komplikativtheorie kam aber wiederum gar nicht in Frage. 4) Herbst, Bedeutung der Reizphysiologie für kausale Auffassung der Öntogenese. Biol. Centralb. XIV und XV, 1894 und 1895. 2) Analytische Theorie, 1894. 3) Lokalisation morphogenetischer Vorgänge. Arch. Ent. Mech. 8. 1899. Auch Separat. Driesch, Kritisches und Polemisches. 155 Es ist klar, dass ich bei dieser Sachlage den logischen Fehler, den „unsere“ früheren Ansichten eben wegen ihres nicht-komplikativen Charakters trugen, immer noch nicht sah. Im Grunde, d. h. für den rein sachlichen Gewinn und Fortschritt, war das ja natürlich zum Glück — gleichgültig, denn wenn eine Theorie definitiv falsch ist und von ihrem Autor selbst aufgegeben wurde, ist die Frage, ob sie einen oder zwei Fehler hatte, praktisch nicht von sonderlichem Belang. Es ist aber logisch von großem Interesse, dem zweiten Fehler meiner, „unserer“, Theorie näher nachzugehen, ganz abgesehen davon, dass mich dieses Nachgehen auf meinen zweiten Beweis für die Au- tonomie der Lebensvorgänge geführt hat. Um den zweiten Fehler klar herauszuschälen, muss natürlich die Theorie als Ganzes erst wieder pro forma rehabilitiert sein, d. h. es ist der Nachweis, dass die Maschinentheorie des Lebens zur Darstellung der Ontogenese überhaupt nicht ausreiche, temporär als nicht vor- handen, ja am besten sind zeitweise alle neueren Experimentalunter- suchungen als gar nicht ausgeführt anzusehen. Es ist vielmehr, aller- dings unter dem Gesichtspunkte der Formativreize, nicht unter dem der Zerlegung, die Ontogenese unbefangen zu betrachten, ebenso un- befangen, wie sie Weismann beim Aufbau seines Theoriengebäudes muss betrachtet haben, und nur mit fester Ueberzeugung von der Richtigkeit der Maschinentheorie. Dann zeigt sich folgendes: Der fertige Organismus ist von ganz außerordentlich komplizierter Struktur oder Tektonik, und zwar ist diese Tektonik fast stets nach den drei Axen des Raumes in typisch verschiedener Weise ausgebildet. Wie muss nun ein Mechanismus, besser gesagt, eine Maschine, d. h. ein typisch geordneter chemisch - physikalischer Mannigfaltigkeits- komplex!) — beschaffen sein, wenn er, wie ja vom Ei vorausgesetzt wird, durch Wirkung seiner Konstituenten aufeinander jene komplizierte Tektonik schaffen soll? Er muss auf alle Fälle auch sehr kompliziert, und zwar typisch-tektonisch kompliziert (nicht etwa nur als Ge- menge mannigfaltig) sein; denn selbst vorausgesetzt, es gäbe an ihm weit weniger eigentlich wirkende Faktoren, als es später Mamnig- faltigkeiten giebt: wie ist die typisch-spezifische Ordnung der letzteren denkbar, wenn sie nicht durch Wirkungsbedingungen, durch „Maschinenbedingungen“ vorgesehen ist? Damit aber wird jede „Aus- gangsmaschine*, welche eine äußerst komplizierte Endtektonik liefern soll, selbst sehr kompliziert, und zwar typisch geordnet kompliziert. Also wird solches auch der Entwicklungsausgang, das Ei. Dies ist in Kürze der Gedankengang der Ausführungen, welche meinen zweiten Beweis für die Autonomie der Lebensvorgänge vor- 4) Ich betone besonders, dass ich Chemisches in den Begriff der „Maschine* einschließe und stets in ihn eingeschlossen habe. 6 Driesch, Kritisches und Polemisches. bereiten und einleiten!). Hier sollen sie nicht diesem Zwecke dienen, sondern sind um dessen willen mitgeteilt, was als ihr Nebenergebnis bezeichnet werden könnte, nämlich dazu, um zu zeigen, dass maschinelle Formbildungstheorien, wennschon sie nicht zerlegend sein dürfen, doch komplikativ sein müssen, dass solches ein logischer, besser vielleicht gesagt, ein sachlogischer Zwang für sie ist. Damit aber ist die eine Seite des Roux- Weismann’schen Theoriengebäudes gegenüber meinem eigenen früheren rehabilitiert, als notwendig nachgewiesen. Freilich dieses nur, wenn man auf maschinellem Boden steht, den wir schon einmal zu diesen Betrachtungen verließen; womit denn na- türlich, wie ja schon betont, unsere ganze Betrachtung nur einen historisch-logischen, keinen sachlichen Wert erhält. Sie soll nur dieses zeigen: das Hypothesengebäude von Roux und Weismann wurde damals von „uns“ mit unzureichenden Gründen vollständig ab- gewiesen; denn auch „wir“ waren ja damals Maschinentheoretiker; dann aber hätten „wir“ nur die Zerlegung, nicht mehr, an jedem Bau abweisen dürfen. Herbst ging auf anderem, auf etwas reellerem Wege, der Frage nach „der Zahl der im Keime anfänglich anzunehmenden Verschieden- heiten“ nach?). Er fragte sich: was geschieht im allgemeinen, wenn gegebene chemische Stoffe aufeinander wirken, und er erkannte, dass dabei im allgemeinen nur eine Veränderung aber keine Vermehrung der Verschiedenheiten, und zumal keine typische Ordnung derselben als Resultat zu erwarten sei. Wenn eine Vermehrung der Mannig- faltigkeiten, verbunden mit spezifischer Lokalisation derselben, resul- tieren soll, so bedarf es Einrichtungen dafür. Einrichtungen sind aber selbst Verschiedenheiten, also ist der Formbildungsausgang, das Ei, auf alle Fälle ein aus sehr vielen typischen Verschiedenheiten be- stehendes Gebilde — sobald man auf dem Boden der Maschinen- theorie steht. Auf anderem Wege das gleiche Resultat; es sei zum drittenmal betont, dass es nur ein logisches ist und sein soll. Sachlich ist ihm gerade durch das, was mir aus ihm folgte, aller Boden entzogen worden. Denn, wie schon bemerkt, dienten mir meine Ausführungen über Ausgangs- und Endmaschinen nur dazu, um zu zeigen, wie die „Genese aequipotentieller Systeme mit komplexen Potenzen“, also auch die Ge- nese der Geschlechtsprodukte, also auch der ganze mit dem Worte „Vererbung“ zusammengefasste Thatsachenkomplex, maschinell prin- zipiell unverständlich sei und uns zum zweitenmale die Anerkennung einer Autonomie von Lebensvorgängen abnötige, nachdem uns diese schon einmal, nämlich beim Studium der Differenzierungsvorgänge an der Hand der Formativreiztheorie aufgedrungen war. 1) 8. meine „Organischen Regulationen“. Leipzig, 1901, p. 186 ff. 2) Formative Reize in der tier. Ontogenese. Leipzig, 1901, p. 116 ff. RE FWT, Driesch, Kritisches und Polemisches. 457 Also, mag auch logisch ein Bestandteil desRoux-Weismann’- schen Theorienbaues meinem eigenen früheren gegenüber rehabilitiert sein: gänzlich fallen muss jene Theorie, von aller Zerlegung ab- gesehen, weil sie maschinell ist; ganz ebenso wie meine frühere Theorie eben deshalb gänzlich fallen muss. Dieser Umstand, das Stehen auf dem Boden der Maschinentheorie, vernichtet beide Theorien. Davon abgesehen, hatte jede einen Vorzug uvd einen Fehler: jene war zwar mit Recht komplikativ, aber mit Unrecht zerlegend, die meinige war mit Recht analytisch- formativ, mit Unrecht wies sie die gegebene Komplikation ab. Sollen wir, alles Gesagte zusammenfassend, die Metamorphosen unserer Entwicklungsphysiologie systematisch darstellen, so könnte es durch Unterscheidung folgender Phasen geschehen. Erste Phase: Die Formbildung betrachtet als Zerlegung einer kom- plizierten Struktur. Zweite Phase: a) Nachweis, dass die Formbildung nicht auf Zer- legung beruhen kann. b) Vielmehr spielt sie sich durch Reizwirkungen von einfacher Grundlage aus ab. Dritte Phase: Die Formbildung kann aus einem Grunde überhaupt nicht maschinell verstanden werden (wegen gewisser Lokalisations- phänomene). Vierte Phase: a) Erkenntnis, dass die Formbildung, wenn sie maschinell verstanden werden könnte, auf Basis, wenn schon nicht durch Zerlegung, einer komplizierten Struktur, verstanden werden müsste. b) Aber wirklich kann sie aus zwei Gründen nicht maschinell verstanden werden; zur Erkenntnis des zweiten Grundes half die eben (in a) ausgesprochene Einsicht. Zwei Reihen!) von Metamorphosen sind es also, die, wiederholt ineinandergreifend, den Entwicklungsgang unserer Wissenschaft aus- machen. Es ist klar, dass die eine derselben weit bedeutsamer ist als die andere. Was man „hätte thun müssen“ wird bedeutungslos, wenn man überhaupt nicht „thun muss“. Gleichwohl erforderte die historische Gerechtigkeitdie ausführliche Darlegung dieser, an sich unbedeutsameren Metamorphose, wie sie hier geboten wurde, umsomehr, als jene andere, der Uebergang von der statischen zur dynamischen Teleologie, wieder- holt von mir ausdrücklich betont ward, so dass wohl nur die größte Oberflächlichkeit ihn hat übersehen können. Beide von uns dargestellte Metamorphosenreihen drücken sach- logische Notwendigkeiten aus. Bei der einen, hier von uns vorzugsweise besprochenen, erkannte das Denken in erster Phase die eine Seite der Probleme richtig — das Komplikative — in zweiter die andere — die Formativreize; beide 1) Die erste dargestellt durch 1, 2, 4a; die zweite durch 1+2, 3+4b. 158 Driesch, Kritisches und Polemisches. Phasen aber hatten neben der Erkenntnis des Richtigen ihre Fehler. In der dritten Phase wird das Richtige beider, Komplikation — Formativ- reize, vereint, die Fehler, Zerlegung — Komplikationsmangel, ab- gestreift. Eine vierte Phase auf dieser Bahn ist undenkbar. Be- achtenswert dürfte es sein, dass die richtige Erkenntnis der zweiten Phase nicht aus dem gegebenen Objekte an sich, sondern erst nach dessen experimenteller Behandlung möglich wurde. Die der ersten Phase ist von vornherein eine sachlogische Notwendigkeit, die der zweiten Phase wird es mit dem ersten Schritt wissenschaftlichen Vor- gehens. Die sachlich wichtigere zweite Metamorphosenreihe hat nur zwei Phasen, der Uebergang zur zweiten Phase wird durch die Experimental- resultate ermöglicht. Zwingend wird hier der Uebergang, werden also meine beiden Beweise für die Autonomie der Lebensvorgänge, durch stete Fühlung mit den sachlogischen Notwendigkeiten der ersten Meta- morphosenreihe. In dieser zweiten Reihe erscheint eine dritte Phase auf dieser Bahn unmöglich, ebenso wie in der ersten eine vierte Phase auf der Bahn, die doch „diese“ hieß, unmöglich ge- wesen war. Hier wird uns eine wichtige Frage nahe gelegt: Wenn die erste Reihe auf ihrer Bahn zwar keine neue Phase zuließ, wenn aber ihr gegenüber eine neue Bahn möglich war, so möchte man als möglich in Erwägung ziehen, ob nicht auch zwar der Uebergang von der statischen zur dynamischen Teleologie auf seiner Bahn ein Abschluss, ob aber nicht auch diesen Betrachtungen gegenüber eine andere, neue „Bahn“ möglich sei, ein neuer Gesichtspunkt, unter dem die Gegen- sätze der zweiten Metamorphosenreihe als unwesentlich verschwinden, ebenso wie die der ersten Reihe dem „Vitalismus“ gegenüber als sach- lich belanglos verschwunden sind. Was alle Phasen beider Verwandlungsreihen bindet, ist der Be- griff der Notwendigkeit, im Sinne der notwendigen, kausalen Verknüpfung. Als ich, am Endpunkt meiner statisch-teleologischen Periode, die „Maschinentheorie des Lebens“ !) bis ganz zu Ende durchgedacht hatte, schloss ich meine Ausführungen mit Zweifeln an allem dem, was da ausgeführt war. In der That war mir zur Zeit, als ich das schrieb, schon die Haltlosigkeit des statisch-teleologischen Standpunktes auf- gegangen, und ich wollte eigentlich nur anderen gegenüber noch ein- mal fixieren, was ich eigentlich früher gesagt hatte. „Hat etwa die strikte Durchführung der Maschinentheorie sie selbst aufgehoben?“ So schloss ich meine Betrachtungen. Dürfen wir etwa jetzt ähnlich fragen? Dürfen wir fragen, „Hat 1) Biol. Centralbl. XVI, 1896. Stölzle, A. v. Kölliker’s Stellung zur Descendenzlehre, 159 etwa das strikte Durchdenken aller mit dem Begriff der notwendigen Verknüpfung des Geschehens rechnenden Möglichkeiten diesen Begriff selbst aufgehoben ?“ Ist vielleicht dieser Aufsatz auch nur ein „Fixieren“ von früher Gesagtem meinerseits, das ich selbst nur halb noch glaube? Was mich betrifft, so kannich demLeser versichern, dass er das nieht ist. Aber es dürfte vielleicht gefragt werden: Könnte er es sen? Wäre es möglich, dass einst eine Einsicht gewonnen würde, die unsere Ausführungen als nur provisorisch erscheinen ließe, eine neue „Bahn“, die, mit dem Kausalitätsbegriff brechend, alle Phasen unserer beiden Metamorphosenreihen illusorisch machte ? Dass nie, weder jetzt noch später, so gefragt werden darf, ja gefragt werden kann, dass eine neue „Bahn“ hier unmöglich ist, das ist ausgesprochen in der Erkenntnis von der Denknotwendigkeit („Apriorität“) des Begriffes der notwendigen Verknüpfung. Diese Erkenntnis ist nicht nur der eine Grundpfeiler der Philo- sophie, sondern macht Wissenschaft überhaupt erst möglich. Napoli, den 8. Januar 1902. Dr. Remigius Stölzle. A. von Kölliker’s Stellung zur Descendenzlehre. Ein Beitrag zur Geschichte moderner Naturphilosophie. Münster i. W. 1901. Aschendorf’sche Buchhandlung, 8°, 172 S. (Selbstanzeige des Herrn Verfassers.) Die Schrift zerfällt iu zwei Teile. Der erste Teil orientiert über Kölliker's Stellung zur theistischen Schöpfungsgeschichte, die Kölliker ab- lehnt und an deren Stelle er eine natürliche Schöpfungsgeschichte vertritt. Der zweite Teil legt in zwei Abschnitten Kölliker’s natürliche Schöpfungs- geschichte dar. Im ersten Abschnitt werden „allgemeine Grundsätze über die Entwicklung der Organismen“ dargelegt. In Kap. 1: Die Theorie der Schöpfung durch generatio spontanea; in Kap. 2: Die Theorie der Schöpfung durch generatio secundaria; in Kap. 3 wird die Frage behandelt, ob mono- phyletischer oder polyphyletischer Ursprung der Organismen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit den „Entwicklungsvorgängen im einzelnen“. Kap. 4 bringt Kölliker’s Bekämpfung der Darwinischen Theorie, Kap. 5 legt Kölliker’s Theorie der Entwicklung der Organismen dar: I. Begriff und Be- gründung der Theorie der Entwicklung der Organismen aus inneren Ursachen, I. Innere und äußere Momente der Entwicklung der Organismen, III. Die Art und Weise, wie die Schöpfung des Tierreiches und des Menschen vor sich ge- gangen ist: [A) Unvermittelte (sprungweise) Umbildung der Organismen, B) Langsame Umbildungen geringeren Grades, C) Anwendung der Theorie der Entwicklung der Organismen aus inneren Ursachen auf den Menschen oder die Stellung des Menschen zur Tierwelt (1. Mensch und Tier, 2. Die Abstammung des Menschen, 3. Der einheiliche oder vielheitliche Ursprung des Menschen- geschlechtes, 4. Der Urmensch)]. IV. Wert der 'Theorie der Entwicklung der 160 Blumenbach’sches Stipendium. Organismen aus inneren Ursachen: [A) Vorzüge dieser Hypothese nach Köl- liker, B) Einwände gegen die Hypothese von der Entwicklung der Organis- men aus inneren Ursachen, 1. Spekulative Kritik der Annahme einer Entwick- lung aus inneren Ursachen, a) Methodologische Gründe verbieten die Annahme einer inneren Entwicklungskraft, b) Die mechanische Naturauffassung schließt eine phyletische Lebenskraft aus, ec) Die Annahme einer phyletischen Lebens- kraft ist so hinfällig wie die der ontogenetischen Lebenskraft, 2. Natur- historische Kritik der Annahme einer phyletischen Lebenskraft, a) die Hypo- these einer phyletischen Lebenskraft entbehrt der thatsächlichen Grundlage, b) Die Hypothese einer phyletischen Lebenskraft erklärt die Thatsachen nicht, a) Die phyletische Lebenskraft erklärt die Zweckmäßigkeit der Organismen nicht, %) Die Annahme einer phyletischen Lebenskraft macht die Art existenz- unfähig, e) Der Hypothese einer sprungweisen Entwicklung stehen Thatsachen direkt entgegeu, ©) Abwägung der Gründe für und wider Kölliker’s Theorie einer Entwicklung der Organismen aus inneren Ursachen: 1. Die Ursachen der Descendenz, 2. Die Form der Descendenz, 3. Die Wirkungsweise des Kölliker’- schen Entwicklungsgesetzes, a) Der Begriff des Kölliker’schen Entwicklungs- gesetzes, b) Die Unzulänglichkeit des K. Entwicklungsgesetzes, 4. Der Er- kenntniswert des K. Entwicklungsgesetzes.] Kap. 6: Zur Theorie der Ver- erbung. Schluss. [119] Bei der Redaktion eingegangene Werke. ; Mangel an Raum hat es bisher meistens verhindert, über neu er- schienene Schriften regelmäßig Bericht zu erstatten. Es soll daher in Zukunft ein Verzeichnis solcher Schriften, welche die im Biologischen Centralblatt vertretenen Wissensgebiete berühren, soweit sie der Re- daktion bekannt geworden sind, mitgeteilt werden, während die Be- sprechung einzelner, soweit es der Raum gestattet, nach wie vor er- folgen wird. Blumenbach'sches Stipendium. Zufolge eines vom K. Universitäts- Kuratorium ergangenen Reskripts ist der verfügbare Fonds des Blumenbach’schen Stipendiums auf 1980 Mk. ange- wachsen, so dass dasselbe wiederum einem jungen, durch vorzügliche Geistesgaben sich auszeichnenden, aber unbemittelten Doctor medicinae als Reisestipendium zuerkannt werden kann. Kompetenten haben sich vor Ablauf eines halben Jahres an die medizinische Fakultät zu Göttingen, welcher dieses Mal die Verteilung zukommt, zu wenden, derselben Zeugnisse über ihr Betragen und über ihren Mangel an Vermögen, sowie ihre Inaugural-Dissertation und was sie sonst etwa haben drucken lassen, portofrei einzusenden, dabei den Umfang und Zweck ihrer wissenschaftlichen Reise zu entwickeln. Wer das Stipendium erhält, muss be- stimmt dafür ein Jahr auf Reisen sein. Göttingen, den 15. Januar 1902. H. Braun, d. Z. Dekan. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr, von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXL. Band. 16. März 1902. Nr. 6. Inhalt: Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. — Eseherich, er den sogen, „Mittelstrang* der Insekten. — Drieseh, Kritisches und Pole- misches (II.). — Bei der Redaktion eingegangene Werke. Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. Von L. Jost. Obwohl seit langer Zeit Erscheinungen im Pflanzenreich bekannt sind, die man im Hinblick auf ähnliche Vorkommnisse im Tierreich nicht gut anders denn als Reizerscheinungen bezeiehnen kann, so hat sich doch der Begriff „Reizbarkeit“ in der Botanik nur langsam ein- gebürgert. Das Widerstreben gegen ihn war auch nicht unberechtigt, solange eine klare Definition fehlte. Es ist das Verdienst Pfeffer’s erkannt zu haben, dass allgemein bei den Reizerscheinungen der äußere Faktor nur auslösend wirkt, so dass also die bei einer Reiz- bewegung geleistete Arbeit nicht von diesem äußeren Faktor, sondern von den Kräften des Organismus geleistet wird. Mit der Definition der Reizvorgänge als Auslösungsvorgänge war dann dem Worte „Reiz“ das Mystische genommen, das ihm zuvor angehaftet hatte. Ein zweites Verdienst Pfeffer’s ist es, gezeigt zu haben, dass solche Auslösungen keine seltene Erscheinung sind, dass sie vielmehr im Leben aller Pflanzen in größter Verbreitung vorkommen. Wir wissen jetzt, dass zahllose äußere und offenbar auch innere Einflüsse nicht direkt, son- dern auslösend wirken, und wir wissen ferner, dass in dieser Art zu _ reagieren, eine der charakteristischsten Eigentümlichkeiten des Organis- mus aufgedeckt worden ist. — Auch in experimenteller Ansicht hat dieser Teil der Physiologie durch Pfeffer einen mächtigen Anstoß erhalten, es sei nur an dessen Arbeiten über die Mimose, die nykti- tropischen Bewegungen, Kontaktreize und Chemotaxis erinnert. Vom größten Einfluss auf die moderne Entwicklung der Reiz- physiologie waren aber auch die Forschungen Darwin’s, die man XXU. 11 162 Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. darum nicht geringer schätzen wird, weil der strenge Beweis für seine Schlussfolgerungen zum Teil erst später erbracht worden ist. Die von Darwin angeregten Untersuchungen haben uns eine wesentlich tiefere Einsicht in den Verlauf der Reizvorgänge verschafft, sie haben vor allem gezeigt, dass zwischen der Einwirkung des äußeren Faktors (der Reizursache) und der endlichen Reaktion mancherlei Prozesse liegen. Zur Einführung sei an einen Versuch Rothert’s erinnert. Er zeigt, dass die Keimlinge der Paniceen (Panicum, Setaria) auf einseitige Beleuchtung eine heliotropische Krümmung im Hypokotyl ausführen, während der Kotyledon, wenigstens von einem gewissen Entwicklungs- zustand an, gerade bleibt und nur passiv in eine andere Lage zum Licht gebracht wird. Die heliotropische Krümmung des Hypokotyls bleibt aber trotz einseitiger Beleuchtung vollständig aus, wenn der Kotyledon verdunkelt wird, andererseits erfolgt sie in typischer Weise, wenn bei einseitigem Lichteinfall auf den Kotyledo das Hypokotyl verdunkelt ist. Auf Grund dieses Versuches führt Rothert die Ter- mini „Empfindlichkeit“ und „Reizbarkeit“ ein, die sich von selbst ver- stehen, wenn wir sagen: 1. Nur der Kotyledo ist heliotropisch empfindlich, das Hypokotyl ist nicht im stande, einseitigen Lichteinfall zu empfinden. 2. Dagegen kann das Hypokotyl durch Impulse, die von Kotyledo kommen, reagieren, es ist also heliotropisch reizbar. Eine heliotropische Reizerscheinung setzt sich also 1. aus dem Akte der Empfindung des Reizmittels (der Perception), 2. der Reizung (besser Erregung), 3. der Bewegung und eventuell noch zwischen 2und 3 der Reizleitung (Leitung der Erregung) zusammen. Diese Akte basieren auf verschiedenen Eigenschaften des Protoplasmas, und wenn zwei ver- schiedene Reize an einem Organ die gleiche Krümmung bewirken, so liegt die Möglichkeit vor, dass nur die Empfindung different ausfällt, Erregung, Leitung der Erregung und Reaktion gleich sind; es wäre aber auch möglich, dass die Achnlichkeit bloß auf die Reaktion be- schränkt bliebe, alle anderen Vorgänge different wären. — Gegenstand der folgenden Zeilen ist nun lediglich der erste Akt einer Reizempfin- dung, die „Perception“. AufGrund von Ueberlegungen kann man be- haupten, dass jedes äußere Reizmittel im Perceptionsorgan zunächst einmal eine physikalische oder chemische Veränderung hervorbringen muss, die wir mit Rothert als Reizanlass bezeichnen können. Diese Veränderung kann ebensogut das Protoplasma selbst treffen, als auch lebende und tote Einschlüsse desselben, oder die Zellhaut. Auf die erste kann sehr wohl eine zweite und dritte Veränderung ein- treten, und die eine oder die andere kann auch den Charakter einer Auslösung besitzen. Es ist möglich, dass diese physikalisch-chemischen Veränderungen in solchen Zellen, die durch anästhetische oder durch andere ungünstige Verhältnisse an der Empfindung vollständig gehindert Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. 163 sind, in ganz derselben Weise sich vollziehen wie an einem normalen Organismus. Wenn in der Litteratur von Untersuchungen über die Art und Weise der Reizperception die Rede ist, so sind damit immer die rein physikalischen oder chemischen Folgen des Reizmittels ge- meint; wie diese dann weiter im Protoplasma wirken, bis die „Em- pfindung“ zu stande kommt und worin die Empfindung eigentlich be- steht, diese Fragen sind der Forschung bisher überhaupt nicht zu- gänglich gewesen. Aber auch die Frage nach dem Reizanlass ist bis vor kurzem wenig bearbeitet worden, und auch in neuerer Zeit sind noch nicht alle Reizerscheinungen in Bezug auf sie durchgearbeitet worden. Die äußeren Faktoren, auf die die Pflanze mit Reizerscheinungen reagiert, sind: 1. Mechanische Einwirkungen (unter diesen besonders die Schwerkraft), 2. Licht, 3. Wärme, 4. Elektrizität, 5. Chemische Sub- stanzen; man kann also der Pflanze einen Sinn für Licht, Wärme ete. beilegen, man kann auch mit Czapek den Ausdruck Aesthesie in Zusammensetzungen wie Mechano-, Geo-, Photo-, Thermo-, Chemo- Aesthesie verwenden. Bei allen diesen Reizerscheinungen kann man die Frage nach dem Reizanlass aufwerfen. Im Interesse einer inten- siveren Behandlung wollen wir aber unsere Besprechung auf den Schwerereiz beschränken und auch bei ihm vorzugsweise die Frage „wie pereipiert die Pflanze?“ in Angriff nehmen; die Frage „wo pereipiert sie?“ wird nur, soweit als nötig, gestreift werden. Der Zweck der folgenden Zeilen soll im übrigen ein doppelter sein: einmal soll Biologen, denen die Pflanzenphysiologie ferner steht, ein Ueberblick über den gegenwärtigen Standpunkt der Frage gegeben werden, sodann sollen die Forscher, welche an ihrer Lösung thätigen Anteil genommen haben, durch Hervorhebung der Meinungsverschiedenheiten und durch kritische Beobachtungen von neuem zur Diskussion der strittigen Punkte veranlasst werden. Die Geoästhesie, die uns also hier beschäftigen soll, nimmt eine Sonderstellung schon dadurch ein, dass sie dem Menschen voll- kommen fehlt, während alle anderen Aesthesien dem Pflanzen- und Tierreich gemeinsam sind. Vermehrt wird das hierdurch schon erweckte Interesse einmal dadurch, dass die Schwerkraftempfindung gerade ganz besonders verbreitet in der Pflanze ist, und die größte Wichtigkeit namentlich für ihre Orientierungsbewegungen besitzt, andererseits auch noch dadurch, dass der Physiker selbst der Schwerkraft noch ziemlich ohne Verständnis gegenüber steht und sie am liebsten verschwinden lassen möchte. Dabei ist rein physikalisch nur eine einzige Wirkung der Schwerkraft bekannt: die Massenanziehung, deren nächste Folge das Gewicht des Körpers ist. Nachdem durch Knight gezeigt war, dass man die Schwerkraft in ihrer Wirkung auf die Pflanze durch die Centrifugalkraft ersetzen kann, war klar, dass wir es mit einer Ge- 11? 164 Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. wiehtswirkung zu thun haben, und es hat bis zum heutigen Tage an Erklärungsversuchen für die Schwerkraftwirkung nicht gefehlt. Aber es hat lange gedauert, bis der Standpunkt erreicht war, der uns jetzt schon selbstverständlich erscheint, dass die Schwerkraft nur aus- lösend wirkt. In allen früheren Theorien wurde immer der Versuch gemacht, mit Hilfe direkter Schwerewirkung die geotropischen Krüm- mungen zu verstehen, und dieser Versuch hatte seine Schwierigkeiten, da Stamm und Wurzel in gerade entgegengesetzter Richtung sich zu krümmen pflegen. Mit der Erkenntnis, dass vielfach die Perception der Schwerkraft an anderem Ort erfolgt als die Krümmung, sind übrigens alle Annahmen einer direkten Wirkung derselben abgethan. Ein Eingehen auf die interessereiche geschichtliche Entwicklung der Lehre von Geotropismus, die die Geschichte der Erkenntnis der Reiz- bewegungen bedeutet, ist hier nicht geboten, sie jst um so unnötiger, als wir Schober eine vortreffliche Darstellung dieses Gegenstandes verdanken. Hervorgehoben sei nur, dass zwar schon vom Dutrochet in klarer Weise die auslösende Wirkung der Schwerkraft erkannt worden war, dass aber trotzdem diese Erkenntnis erst sehr viel später durch Pfeffer und Sachs allgemeine Anerkennung fand. In der ersten Auflage der Pflanzenphysiologie hat dann Pfeffer auch verschiedene Möglichkeiten über den Reizanlass bei der Geoästhesie diskutiert. Und diese Stelle muss, da sie für uns von größter Wichtigkeit ist, hier ausführlicher wiedergegeben werden (Physiol. II, 330), wobei zu be- merken ist, dass sie von allen Auslösungsvorgängen handelt. „Im näheren sind die zur Auslösung führenden und mit dieser verknüpften Modalitäten noch nicht aufgestellt, und u. a. sind auch die Zellen, resp. die Teile der Zelle noch nicht bestimmt, welche zunächst affıeiert werden. Voraussichtlich wird die Sensibilität im Inneren des lebendigen Protoplasmaorganismus zu suchen sein, und wenn das in diesen eindringende Licht vielleicht direkter wirkt, dürfte der empfind- same Teil da, wo ein Kontakt die auslösende Ursache ist, durch Ueber- mittelung eines Druckes etwa in analoger Weise gereizt werden, wie ein Nerv durch Berührung der Fingerspitze eines Menschen. Möglich wäre es immerhin, dass auch die Schwerkraft auslösend wirkt, indem sie einen Druckunterschied in der Ober- und Unterseite eines horizontal gelegten Pflanzenteiles herstellt. Gegen eine solche, freilich durchaus problematische Annahme kann wenigstens die Geringfügigkeit des etwa einer Wassersäule von der Höhe eines Wurzelquerschnittes entsprechen- den Druckes nicht als Argument angesehen werden“, da thatsächlich, wie die Kontaktreize zeigen, sehr leichte Körper reizauslösend wirken könnten. Diese „durchaus problematische“ Annahme hat Czapek neuer- dings zur Grundlage seiner Theorie der geotropischen Perception ge- Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze, 165 macht. Er folgert aus Knight’s Centrifugalversuchen, dass die geo- tropische Wahrnehmung eine Wahrnehmung der Richtung der Massen- beschleunigung sei; die physikalische Reizursache sei demnach ein bestimmtes Gewicht, das weiterhin mit dem Druck, den die sensiblen Elemente aufeinander üben, identifiziert wird, obwohl doch Druck noch in anderer Weise zu stande kommen kann, als durch Gewicht. Czapek kommt dann zu der Vorstellung, dass eine bestimmte Verteilung dieses Druckes als ausgelöste Aktion die Beibehaltung der Gleichgewichtslage nach sich zieht, eine Abweichung von dieser Druckverteilung aber eine Reizung mit entsprechender Reaktion veranlasse. Die Pflanze ist im stande, die Druckverteilung an verschiedenen Punkten der sensiblen Teile zu vergleichen, und orthotrope Pflanzenteile sind in der Ruhe- lage, wenn zwei Längshälften des sensiblen Organs unter gleichem Druck stehen, plagiotrope Organe sind dagegen gerade auf eine Druck- differenz zwischen den beiden Hälften abgestimmt. Wir wollen die Czapek’sche Hypothese, die von ihrem Autor in ausführlicher Weise für die verschiedensten Pflanzenteile ausgemalt wird, des Beispiels wegen durch das Verhalten der Hauptwurzel etwas näher illustrieren. Nachdem festgestellt ist, dass die Sensibilität auf eine 2 mm lange Zone der Wurzelspitze beschränkt ist, dass aber in dieser Zone alle Gewebe sensibel sind, sucht Czapek zu entscheiden, ob jede einzelne Zelle in ihrem Plasma einen geotropischen sensiblen Apparat besitzt, oder ob ein solcher erst durch bestimmte Anordnung aller zu stande kommt. Er hält beides für möglich, neigt aber ent- schieden mehr der zweiten Ansicht zu und erblickt in der Anordnung der Zellen in Längsreihen und der Zusammenordnung der Längsreihen zu konzentrischen Schalen eine solche „geotropische Struktur“. Unter dem Einfluss der Schwere soll eine ganze Zellreihe eine Ausbiegung erfahren, die als Druck auf die unterliegenden Reihen einwirkt, — Die orthotrope Wurzel ist in Ruhelage, wenn die Druckrichtung mit ihrer Längsaxe zusammenfällt, einerlei, ob sie senkrecht aufwärts oder abwärts gekehrt ist. Jeder Druck, der in einem Winkel zur Längsachse erfolgt, der also auf die Tangentialwände wirkt — nur der Radialdruck soll in Betracht kommen —, führt zu einer geo- tropischen Krümmung. Der Druck wächst nun mit der Neigung, die wir der Wurzel erteilen und erreicht in der Horizontallage sein Maxi- mum. Thatsächlich wird aber eine unter 135° nach oben gerichtete Wurzel stärker gereizt als eine horizontal liegende, obwohl der Druck nicht größer ist als bei 45°. Die Differenz zwischen der Lage 45° und 135° kann nach Czapek nur darauf beruhen, dass die ungleiche Ver- teilung des seitlichen Druckes innerhalb der Zellen einer sensiblen Längsreihe empfunden wird. Vergleichen wir nun mit der orthotropen Hauptwurzel eine plagio- trope Seitenwurzel. Sie befindet sich z. B. in einem Winkel von 70° 166 Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. mit der Lotlinie in Ruhe. In dieser Lage ist aber der Seitendruck nicht wie bei der Ruhelage der Hauptwurzel Null, sondern er hat eine ganz bestimmte Größe. Aufdiese bestimmte Größe ist die Seitenwurzel nach Czapek abgestimmt und sie reagiert auf jede an- dere Größe des Seitendruckes mit einer Krümmung, die sie in die Ruhelage zurückführt; den größten Impuls zur Krümmung bekommt sie bei einer Lage von ca. 90° oberhalb des Grenzwinkels; eine labile Ruhelage hat sie außerdem bei einem Seitendruck —=Null, d. h. in Vertikalstellung (mit der Spitze aufwärts oder abwärts). Da aber der anatomische Bau der Spitze von Haupt- und Seitenwurzel identisch ist, so folgt, dass auch die physikalische Wirkung der Schwere bei beiden in gleicher Weise zum Ausdruck kommen muss. Die Differenz zwischen beiden liegt erst in der Relation zwischen Per- ception und Aktion, und diese Relation kann man als „Reiz- stimmung“ bezeichnen. Wir müssen es Czapek als großes Verdienst anrechnen, dass er durch eine konsequente Durchdenkung der Druckhypothese für ortho- trope, plagiotrope und dorsiventrale Gebilde (wir können ihm im ein- zelnen hier nicht folgen), uns ein Urteil über dieselbe erleichtert hat. Aber bei reiflicher Prüfung fällt dieses Urteil entschieden derartig aus, dass wir diese Hypothese verwerfen müssen. Diese Einsicht hatte mich seiner Zeit bewogen, zu behaupten, die ganze Fragestellung sei noch nicht zeitgemäß. Gerne gestehe ich, dass ich diesen Standpunkt, der mehr eine Stimmungs- als Ueberlegungsfolge war, verlassen habe und dass ich derartigen Hypothesen einen großen, zumal heuristischen Wert zuerkenne. Sehen wir nun zu, worin die verwundbaren Punkte der Czapek’- schen Hypothese liegen. Ganz allgemein können wir wohl sagen, dass der Versuch, die „geotropisch“ wirksame Struktur in anatomischen Ver- hältnissen zu suchen, kein glücklicher war, denn es gehört die Er- kenntnis gleicher Reizbarkeit bei einzelligen und vielzelligen Pflanzen zweifellos zu den wichtigsten Errungenschaften der Physiologie. Im speziellen scheint uns dann bei orthotropen Wurzeln die maximale Wirkung einer Lage von 135° nicht für Czapek zu sprechen. Wie bemerkt, sucht Czapek die Differenz zwischen der Lage 45° und 135° dadurch zu erklären, dass die ungleiche Verteilung des Druckes in den Zellen einer sensiblen Längsreihe empfunden werde, und er verweist auf eine Figur (S. 240), welche beweisen soll, dass ent- sprechende Punkte in einer Längsreihe in beiden Lagen inversen Drucken unterworfen sind. Wenn wir Czapek recht verstehen, soll das heißen, dass bei 135° der größte Druck an der Basis, bei 45° da- gegen an der Spitze der sensiblen Längsreihe liegt. Wenn aber wirk- lich ein gegen die Wurzelbasis zu gerichteter Druck mehr empfunden wird als ein gegen die Spitze gerichteter, dann ist nicht einzusehen, Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. 167 weshalb gerade bei 135° die maximale Wirkung eintritt, denn dieser Druck nimmt ja bis zur Stellung senkrecht nach oben immer zu. In- des will es uns so scheinen, als ob die Thatsache der verschie- denen Wirkung der beiden zur Horizontalen symmetrischen Lagen 45° und 135° noch nicht genügend sicher gestellt sei. Zu abweichenden Resultaten ist nach einer kurzen Notiz in der Botanical Gazette 1900 Stone gelangt und nach gelegentlichen Beobachtungen muss auch ich die Richtigkeit der Czapek’schen Ergebnisse bezweifeln. Noch mehr Schwierigkeiten als die orthotropen dürften aber jeden- falls die plagiotropen Pflanzenteile der Czapek’schen Hypothese be- reiten. Namentlich von Noll ist ein schwerwiegender diesbezüglicher Einwand gegen sie erhoben worden. Wenn wir auf diesen hier nicht näher eingehen, so geschieht das nur aus dem Grunde, weil neuer- dings Baranetzki gezeigt hat, dass die Ruhelage plagiotroper Zweige von Bäumen nicht durch Geotropismus allein zu stande kommt, sondern eine Resultante zwischen Geo- und Autotropismus ist. Ein Versuch von Nemec mit invers gestellter Hauptwurzel macht auch für die Wurzeln ein gleiches Verhalten wahrscheinlich. Bevor also über plagiotrope Seitenzweige und Seitenwurzeln die Diskussion fortgesetzt werden kann, müsste erst der Nachweis erbracht sein, dass deren Ruhelagen wirklich rein geotropische sind. Ob für die plagiotropen, „horizontal-geotropischen“ Rhizome dieser Nachweis als geliefert zu betrachten ist, kann hier nicht untersucht werden. Kann man also aus dem bisher Besprochenen beim gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse ein entscheidendes Argument für oder gegen die Theorie Czapek’s nicht entnehmen, so sprechen doch gewisse Versuche Noll’s entschieden gegen dieselbe. Noll hat nämlich ge- zeigt, dass ein dem Organgewicht entsprechender künstlicher Druck durchaus keine Krümmungen bewirkt. Für Czapek muss es aber offenbar gleichgültig sein, wie der Druck zu stande kommt. Das geht aufs klarste aus einer Stelle seiner Arbeit hervor, wo es heißt: „Wenn es möglich wäre, eine Wurzelspitze mit einer hinreichend paramagne- tischen Lösung zu tränken, so dass ein starker Elektromagnet an- ziehend auf die Zellen der sensiblen Spitze wirken könnte, so müsste ein Reizvorgang zu stande kommen, welcher direkt vergleichbar wäre dem Geotropismus.“ Zwischen dem Zug des Magneten und dem Zug in Noll’s Versuchen vermag ich aber keinen Unterschied zu sehen. Es sähe eben überhaupt schlimm um die Orientierung der Pflanze im Raum aus, wenn jeder Zug und Druck von ihr in gleicher Weise em- pfunden würde wie geotropische Reizung‘). Schon mehrere Jahre vor Czapek hatte Noll eine Hypothese 4) Man denke vor allen Dingen daran, dass benachbarte Zellen oft recht beträchtliche Differenzen in ihrem osmotischen Druck aufweisen! 168 Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. über die Schwereempfindung aufgestellt, die sich insofern auf einen anderen Boden stellt, als sie vom Gewicht von Organen, Zellreihen, Zellen ganz absieht und eine Struktur im Plasma voraussetzt, die für Gewichtswirkung reizbar ist. Die Noll’sche Theorie war von Pfeffer abgewiesen worden, auch Czapek wendet sich verschiedent- lich gegen sie, ohne sie im Detail zu widerlegen. Nach dem Scheitern des Czapek’schen Versuches sind die Noll’schen Ausführungen von erneutem Interesse. Wir wollen sie in Kürze skizzieren, gehen dabei aber nicht, wie das Noll ursprünglich gethan hat, von einem Modell der Pflanze, einer komplizierten geotropischen Maschine jaus, sondern von den Otoeysten gewisser niederer Tiere, die nicht, wie man früher geglaubt hatte, Gehörorgane, sondern Apparate zur Erkennung der Richtung der Schwerkraft sind und deshalb zweckmäßiger als Stato- cysten zu bezeichnen sind. Bei schematischer Vereinfachung handelt es sich da um einen Hohlraum, der von einem Sinnesepithel ausge- kleidet ist und im Inneren einen schweren Körper, den sogen. Stato- lithen, enthält. Ist das Tier in seiner Normallage, so drückt dieser Statolith auf eine ganz bestimmte Stelle des Sinnesepithels — und unter diesen Umständen bleibt das Tier, wie es war; kommt aber der Druck des Statolithen auf eine andere Stelle des Sinnesepithels, wenn man das Tier aus der Ruhelage gebracht hat, so wird das als Reiz em- pfunden und der Organismus dreht sich so lange, bis der Statolith in Normalstellung ist. Nehmen wir nun an, die Pflanze besäße ähnliche Apparate, so könnten wir uns diese bei einem orthotropen Stengel, z.B. im Hautplasma der Rindenzellen fixiertdenken. Nun ist bekannt, dass ein orthotroper Stengel zwei Ruhelagen hat, nämlich wenn er senkrecht aufwärts oder abwärts gekehrt ist. In diesen Lagen würde also der „Statolith“ auf eine Zone der Hohlkugel drücken, die entweder nicht sensibel ist oder bei der sich jedenfalls nach der Perception keine Reaktion einstellt. Im nebenstehenden Schema (Fig. 1) sind diese Stellen durch dünne Striche ausgezeichnet worden. — Neigen wir den Stengel etwa bis zur Horizontalen (Fig. 2), so drücken die Statolithen der Stengeloberseite auf die nach innen zu schauenden Hälften des sensiblen Plasmas und die Statolithen auf der Unterseite wirken auf die äußeren Hälften. Da nun die Unterseite eine Wachstumsförderung, die Oberseite eine Wachstumshemmung erfährt und sich dieses Schauspiel bei Drehung des Stengels um seine Längsaxe immer wiederholt, so können wir sagen: Wachstumsförderung wird durch Druck des Statolithen auf die Außenbälfte der Hohlkugel (Kreise im Schema), Hemmung durch Druck auf die Innenseite erzeugt. Da Hemmung und Förderung des Wachstums immer antagonistisch verlaufen, brauchen wir stets nur eine der beiden Erscheinungen zu verfolgen; wir wählen die Förderung und markieren deren Lage durch starke Linien in den schematischen Figuren 2 bis4. Betrachten wir nun den Querschnitt des orthotropen Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze, 169 Stengels in Horizontallage (Fig. 3), so finden wir von der Statoeyste « ab seitlich Abnahme der Reizung, bis sie schließlich in der Flanke (bei ce u.c‘) Null wird. Das stimmt mit den beobachteten Thatsachen überein: „Die Flanken werden nicht geotropisch gereizt.“ Im Gegensatz zum orthotropen Spross wollen wir jetzt ein hori- zontal verlaufendes, plagiotropes, aber radiäres Rhizom betrachten. Dieses ist in horizontaler, sowie in beiden Vertikallagen in Ruhe. Danach können wir in unserem Schema die Stellen der Statocysten einzeichnen, die auf Druck des Statolithen mit Wachstumsförderung Br reagieren (Fig. 4). In ähnlicher Weise finden sich bei Noll auch für schräg plagiotrope und für dorsiventrale Organe Schemata. Nach Noll’s Hypothese ist also der Reizanlass bei geotropischer Reizung das Gewicht eines spezifisch schwereren Körpers, der auf sen- sibles Plasma einen Druck ausübt, es ist also ein Kontaktreiz — aber nur ein Druck an ganz bestimmter Stelle im sensiblen Plasma ist wirkend. Wie man sich die Statoeysten vorstellen soll, darüber hat sich Noll in seiner ersten Arbeit überhaupt nicht ausgesprochen; neuerdings hebt er hervor, dass man etwa an centrosomenähnliche 170 Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. Dinge denken könne, wobei dem Centrosom die Rolle des spezifisch schweren Körpers, der Wandung der Centrosphäre die Sensibilität zu- käme. Sichtbar brauchen diese Gebilde aber nicht zu sein! Soweit ich sehe, ist von den Einwänden, die gegen Noll zuerst von Pfeffer und dann von Ozapek geltend gemacht wurden, einer besonders wichtig. Man hat nämlich einen Fehler in den Noll’schen Schemen gesehen, weil sie z.B. die Differenz zwischen orthotropen und plagiotropen Organen schon in den Empfangsapparat legen, während ja nach Czapek die Perception in beiden die gleiche sein soll, die Differenz nur in der „Reizstimmung“ liegt. Czapek beruft sich da auf die Aenderung der Reaktion, welche das Licht auf Seitenwurzeln ausübt; diese ändern ihren Grenzwinkel, wenn sie beleuchtet sind, reagieren mehr wie orthotrope Wurzeln. Diesen Wechsel in der Reaktion nennt Czapek ein treffendes Beispiel für die Thatsache, dass ohne Aenderung im Perceptionsapparat von demselben physikalischen Reiz unter verschiedenen Versuchsbedingungen ein differenter Reiz- erfolg resultiert. Dass aber hier nur ein Wechsel in der Stimmung und nicht ein solcher im Perceptionsapparat sich vollzogen hat, diesen Beweis ist Czapek schuldig geblieben; vermutlich wird er auf die unveränderte anatomische Struktur der Wurzelspitze hinweisen. Ganz gewiss kann man im allgemeinen bei veränderter Reaktion nichts bestimmtes wissen, ob die Empfindlichkeit, die Reizbarkeit oder die Re- aktionsfähigkeit verändert worden ist; im vorliegenden Spezialfall aber ist eine Entscheidung wohl möglich, und sie fällt, wie Noll neuerdings nachdrücklich hervorgehoben hat, zu Gunsten der Annahme einer Aenderung der Perception aus. Wie soll denn — sagt Noll — z.B. eine Wurzel, deren Perceptionsapparat auf plagiotrope Ruhelage ab- gestimmt ist, die orthotrope Ruhelage unterscheiden und innehalten? Eine bestimmte Beziehung zur Außenwelt kann nicht durch Verschie- bungen in der inneren Verkettung hergestellt werden, sie muss durch die mit der Außenwelt direkt verkehrende reizbare Struktur erreicht werden. Ein weiteres Eingehen auf die zwischen Noll einerseits, Pfeffer- Czapek andererseits bestehenden Kontroversen ist hier nicht geboten, obwohl die Fragen nach der reizlosen Ruhelage, nach der Klinostaten- theorie, nach der „heterogenen Induktion“ Interesse genug darbieten. Im ganzen scheint mir kein ernsthaftes Bedenken mehr gegen die Noll’sche Annahme vorzuliesen. Doch könnte man wohl sagen, der- artig komplizierte Organe jenseits der Sichtbarkeitsgrenze anzunehmen, ist bequem, denn widerlegen kann man sie doch nicht. Da sind nun aber in der letzten Zeit Dinge bekannt geworden, die man wohl für „sichtbare“ Statocysten halten möchte. Nemec und Haberlandt haben sie gleichzeitig beschrieben. Sie sind unabhängig voneinander zu der gleichen Auffassung gelangt. Sie erblicken in Stärke- Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. 471 körnern, event. auch in Krystallen oder anderen Körpern, die spezifisch schwerer als das Protoplasma sind, die Analoga der Statolithen, und betrachten die ganze Hautschicht des Protoplasmas als empfindlich für den Druck dieser Körper: mit anderen Worten, der ganze Zellinhalt geotropisch reizbarer Gewebe entspricht einer Statocyste. Haberlandt hat negativgeotropische Organe, Stengel, untersucht und verlegt die Empfindung für den Schwerkraftreiz in die Stärkescheide. In der That ist für diese ja die Existenz von Stärkekörnern, die sich an der physikalisch unteren Zellwand sammeln (wir wollen sie be- wegliche Stärke nennen), längst bekannt, ohne dass es gelungen wäre, eine plausible Funktion für diese Stärkescheide aufzufinden. Für ihre Funktion als Perceptionsorgan der Schwerkraft führt Haber- landt folgendes an: 1. Die Stärke verschwindet aus der Stärkescheide ungefähr zur Zeit, wenn der Stengel ausgewachsen ist und die Fähigkeit zur geo- tropischen Krümmung verliert. 2. In der Krümmungszone findet sich Stärke in der Scheide selbst bei solchen Pflanzen, die wie manche Liliaceen nicht einmal in den Spaltöffnungen Stärke zu produzieren pflegen. 3. Bei Gelenkpflanzen bleibt die bewegliche Stärke auf die krümmungsfähige Zone beschränkt und tritt da in der „Stärkescheide“ oder — z. B. bei den Gramineen — in den „Stärkesicheln“ (auf der Innen- seite des Gefäßbündels) auf. Rinde und Mark sind stärkefrei, oder führen unbewegliche Stärke. 4. Die Stärkekörner füllen die betreffenden Zellen nie ganz aus und sind, sei es nun, dass das Plasma besonders dünnflüssig ist oder die Stärke etwa durch mineralische Einlagerung besonders schwer ist, außerordentlich leicht beweglich. In den Knoten von Tradescantia z. B. sind nach 15—25 Minuten nach Horizontallegen alle Stärke- körner auf der jetzigen physikalisch unteren Wand angelangt; diese Zeit entspricht ungefähr der von Czapek gemessenen Präsentations- zeit für geotropische Reizung, d. h. so lange mindestens muss eine Pflanze in eine schiefe Lage zur Schwererichtung gebracht worden sein, wenn als Nachwirkung eine Reizbewegung sichtbar werden soll!). Sind das alles „Stützen“ für seine Ansicht, so hat sich Haber- landt doch auch nach wirklichen experimentellen Beweisen um- gesehen. Solche Experimente hat er an Tradescantia ausgeführt. 1) Haberlandt findet in seiner Hypothese auch eine Erklärung für den sogen. Wundshock; der Mangel an Perception nach einer Verwundung soll mit den Plasmaströmungen zusammenhängen, die nach einer Verwundung auftreten und, indem sie die Stärkekömer mitreißen, die physikalischen Bedingungen einer geotrop. Reizung aufheben. Da wir auf diesen Punkt später nicht zurück- kommen, mag gleich an dieser Stelle bemerkt sein, dass die Existenz eines heliotropischen Wundshockes gegen diese Deutung spricht. 172 Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. Man kann bei dieser Pflanze leicht die Rinde so abschälen, dass nur noch 1—2 Parenchymlagen außerhalb der Stärkescheide erhalten bleiben. So operierte Knoten reagieren ebenso wie intakte. Es genügt nun aber, den Rest der Rinde mit der Stärkescheide zu entfernen, um jede geotropische Krümmung auszuschließen. Entfernt man aber das Mark und lässt die Rinde intakt, so erfolgt ebenfalls keine Krümmung, weil das Mark hier das Bewegungsorgan ist, dem aber im allgemeinen die Perception abgeht. Nur in einzelnen Fällen konnte Perception auch am isolierten Mark konstatiert werden, dann waren auch in ihm be- wegliche Stärkekörner nachzuweisen. So wäre also das Mark von Tradescantia zwar stets mit sensiblem Plasma versehen, es fehlt ihm aber für gewöhnlich der „Statolith“. Haberlandt stellt sich dann weiter vor, dass die Tangentialwände und auch die Radialwände — womit er sich in Gegensatz zu Czapek stellt — für einen Druck von innen sensibel sind, die Querwände aber nicht. Wie bei stärkefreien und einzelligen Organen die Geoperception zu stande kommt, lässt Haberlandt unentschieden, doch weist er darauf hin, dass auch Krystalle und Mikrosomen als Statolithen in Betracht kommen könnten. Ne&emec hat schon vor Haberlandt gelegentlich seiner Studie über Reizleitung (Biol. Centralbl., Bd. XX) die gleiche Hypothese auf- gestellt, die er dann in einer vorläufigen Mitteilung (im gleichen Heft der Berichte der D. bot. Gesellschaft, das auch Haberlandt’s Arbeit enthält) und in einer ausführlichen Arbeit näher begründet hat. Er hat namentlich die Wurzeln studiert und wir wollen uns hier auf seine an diesen gewonnenen Resultate beschränken. Die als Statolithen fungierenden Stärkekörner finden sich hier in der Haube und zwar ganz besonders in einer centralen Säule von Zellen, der sogen. Columella. Fast alle untersuchten Wurzeln hatten an dieser Stelle die beweglichen Stärkekörner, nur ganz wenige wiesen solche auch oder nur im Periblem des Vegetationspunktes auf. Sie reagieren auf eine Verlagerung der Wurzelspitze sehr rasch und sind schon 15 Minuten nach Inversstellung der Wurzel auf den morphologisch oberen Querwänden angelangt. Die Hauptbeweise für den Zu- sammenhang dieser Stärkekörner mit der geotropischen Reaktion sind kurz folgende: 1. Nach Entfernung der Wurzelhaube ist die Wurzel für 11, bis 2 Tage nicht fähig, geotropisch zu reagieren; der Wiederbeginn der Reaktion fällt zeitlich zusammen mit dem Auftreten beweglicher Stärke in dem inzwischen zur Ausbildung gelangten Callus. 2. Dureh längeres Eingipsen verlieren die Wurzeln die Stärke in der Haube; werden sie nun aus dem Gipsverbande befreit, so sind sie trotz stattfindenden Wachstums nicht geotropisch krümmungsfähig, auch hier tritt geotropische Krümmung erst nach Wiederauftreten der beweglichen Stärke auf. Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. 173 3. An jungen Keimwurzeln fällt der Beginn der geotropischen Krümmungsfähigkeit mit dem Auftreten der Stärke zusammen; im Samen enthalten die Wurzeln im allgemeinen keine Stärke in der Haube. Erst nachträglich habe ich bemerkt, dass schon Berthold (Proto- plasmamechanik 1886, S. 73) die Stärkekörner der Stärkescheide mit der Geoperception in Verbindung brachte. Wie sollen wir nun die Haberlandt- Nömec’schen Hypothese beurteilen? Zunächst ist hervorzuheben, dass vom physiologisch-ana- tomischen Standpunkt aus sehr viel für dieselbe spricht. Die Stärke- körner finden sich thatsächlich an den angegebenen Orten mit großer Regelmäßigkeit, sie sind gegen äußere Einflüsse sehr resistent, bleiben also auch im hungernden Gewebe lange erhalten und eine andere bio- logische Deutung für sie liegt nicht vor. Ob sie aber bei allen Pflanzen vorkommen, erscheint zweifelhaft. Die Stärkescheide ist zwar nach neueren Untersuchungen (H. Fischer, Jahrb. f. wiss. Bot. 35, 1) weit, aber nicht allgemein verbreitet, und Wurzeln, die bewegliche Stärkekörner nicht in der Haube, oder nicht nur in der Haube führen, hat schon N&mec augeführt. Fordern wir also für die Stengel weitere ana- tomische Untersuchungen, mit Rücksicht auf die Frage: „wo liegen be- wegliche Stärkekörner, wenn eine Stärkescheide nicht entwickelt ist, oder welcher andere spezifisch schwere Körper könnte ihre Funktion ausüben ?“, so müssen wir bei Wurzeln vor allen Dingen den experi- mentellen Nachweis verlangen, dass in den Fällen, wo auch oder nur im Vegetationspunkt bewegliche Stärke vorkommt, eine Entfernung der Haube nicht den gleichen Erfolg nach sich zieht wie bei typischen Wurzeln. Doch auch bei der Wurzel dürften noch weitere anatomische Untersuchungen angebracht sein. Solche haben mir z. B. gezeigt, dass Seitenwurzeln zweiten oder dritten Grades, die nieht mehr geo- tropisch empfindlich sind, genau eben solche bewegliche Stärke führen, wie Hauptwurzeln. Auch bei negativ heliotropischen Luftwurzeln, die anscheinend gar nicht geotropisch waren, fanden sich dieselben Stärke- körner. Dass neben der Stärke auch andere Körper in Betracht kommen können, darauf haben Haberlandt und Nömee mit Rücksicht auf die Einzelligen hingewiesen. Ich war zuerst geneigt, die geotropische Reizbarkeit der Einzelligen überhaupt als entscheidendes Argument gegen die Hypothese zu betrachten, in der Meinung, alle Körper, die spezifisch schwerer sind als das Plasma, und doch nicht so leicht, dass sie von den Plasmaströmen mitgerissen werden können, müssten sich bei einem Mucor z. B. in den Rhizoiden ansammeln, könnten also nicht für eine Reizung in dem negativ geotropischen Fruchtträger in Betracht kommen. Da beobachtete Giesenhagen eine Erscheinung, die schon früher Zacharias aufgefallen war. An geotropisch sich krümmen- Ta Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. den Wurzelhaaren von Chara liegen nahe der Spitze glänzende Körperehen von unbekannter chemischer Beschaffenheit. Sie liegen immer der physikalisch unteren Seite der Zelle an, können aber von der Spitze selbst sich auch bei Inversstellung des Haares nicht ent- fernen, vielleicht weil das ältere Protoplasma zähflüssiger ist. Es könnten also auch in negativ geotropischen Zellen an der Stelle der Perception „Statolithen“ liegen. Sehen wir uns nach diesen allgemeinen anatomisch-physiologischen Bemerkungen die rein physiologische Seite der Frage an. Stimmen die Orte des Stärkevorkommens mit der anderweitig bekannt gewor- denen Lokalisation der geotropischen Perception überein? Da finden wir denn z. B. bei Czapek die Angabe, dass die Entfernung der äußeren Hälfte der Rinde schon die Perception des Schwerereizes verhindert; das wäre also ein Ergebnis, das mit Haberlandt’s Ver- suchen im Widerspruch steht. Nur durch neue und ausgedehnte Ver- suche kann hier Klarheit geschaffen werden. Noch unsicherer ist die Lokalisation der Schwereperception in der Wurzelhaube, sie steht in direktem Widerspruch mit den Angaben Czapek’s, nach denen die sensible Zone der Wurzelspitze 1,5 mm lang ist! Wenden wir uns nun zu den eigentlichen Beweisen, die unsere Autoren für ihre Auffassung gegeben haben, so scheinen ja die Haber- landt’schen auf den ersten Blick einwandfrei. Nur zu oft aber haben Resektionsversuche zu Irrtümern geführt, besonders wenn es sich um Reizerscheinungen handelte; auch würde man gerne die Versuche nicht nur auf Tradescentia beschränkt, vielmehr auf eine größere Zahl von Pflanzen ausgedehnt sehen. Von den Experimenten Nemee’s ist das erste ebenfalls ein Resektionsversuch, und eine Betrachtung der Litte- ratur über geköpfte Wurzeln spricht eine beredte Sprache — vertrauen- erweckend sind sie nicht. Schlimmer noch steht es mit dem Ein- gipsungsversuch; N&mec hat seine Wurzeln acht Tage in Gips- verband gelassen; Czapek hat aber gezeigt, dass schon nach zwei Tagen das Eingipsen eine schwere Schädigung, nach drei Tagen eine völlige Sistierung der Perception herbeiführt — wäre aber nach drei Tagen stets alle Stärke verschwunden gewesen, so hätte NeEmec wohl nicht nötig gehabt, die Wurzeln acht Tage lang zu quälen. Blicken wir zurück, so müssen wir sagen, die Nemec-Haber- landt’sche Hypothese hat auf den ersten Blick manches Be- stechende; ein überzeugender Beweis für ihre Richtigkeit liegt aber nicht vor. Das wünschenswerteste wäre, dass es gelänge, Wurzelhauben oder Stärkescheiden stärkefrei zu machen, ohne sie gleichzeitig wie beim Gipsversuch schwer zu schädigen. Dazu scheint wenig Aussicht zu sein. Aber auch gewisse Versuche mit intakten Wurzeln und Sprossen mit Stärkegehalt schienen uns geeignet, eine Entscheidung pro oder Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. 175 kontra herbeizuführen. Ich meine Versuche mit intermittierender Rei- zung und Centrifugalversuche. Haberlandt und Nömec haben beide darauf aufmerksam ge- macht, dass in der Dauer der Umlagerung der Stärkekörner von 15—25 Minuten eine gute Uebereinstimmung und eine Erklärung für die Ozapek’sche Präsentationszeit liege. Sie denken also, die lange Dauer der Präsentationszeit erkläre sich aus dem Umstand der langsamen Wanderung der Stärkekörner. Nun ist aber bekannt, dass die Präsentationszeit keine ein für allemal gegebene Größe ist, dass man durch mehrfache, kürzer währende Exposition genau das Gleiche erreichen kann, wie durch andauernde Reizung bis zur Vollendung der Präsentationszeit. Die letzten Versuche mit intermittierender Rei- zung rühren von Noll her, der mit Senfkeimlingen nach 2—3 Stunden geotropische Krümmungen erzielte, wenn sie abwechselnd 10’ in Hori- zontallage, 30° in Vertikallage verharrten; in einem anderen Versuch war das Tempo: 5‘ Reizung, 25° Ruhe. In beiden Fällen blieb die einzelne Reizung unter der Präsentationszeit Czapek’s und der Nömeec- Haberlandt’schen „Wanderzeit“ zurück. Auch ich habe mich durch mehrere Versuche überzeugen können, dass man bei intermittierender Reizung kürzer als die Präsentationszeit reizen kann. Positiven Er- folg erzielte ich z. B. bei Reizung Ruhe Pflanze 3 30" 3° 30 Linsenwurzel; Kresse-Keimstengel 6‘ 424 Linsenwurzel 5° 15° Avena, Kotyledonen 2' 6 Linsenwurzel 90% 280% Linsenwurzel Der Umstand, dass der zuletzt angeführte Versuch nicht immer gelang und nach noch kürzerer Exposition immer ohne Erfolg blieb, zeigt, dass eine experimentell festzustellende unter Grenze der „Präsen- tationszeit bei intermittierender Reizung“ existieren muss. In einer vor kurzem erschienenen Abhandlung hat auch Noll auf die Bedeutung solcher Versuche für die Beurteilung der N&meec- Haberlandt’schen Hypothese hingewiesen. Die Thatsachen der inter- mittierenden Reizung erfordern nach Noll einen leichter beweglichen Statolithen oder kleinere von diesem zu durchlaufende Dimensionen. Als ich die angeführten Experimente machte, that ich das von demselben Ge- sichtspunkte aus. Und in der That können ja die Stärkekörner — dazu bedarf es keiner mikroskopischen Untersuchung — bei intermittierender Reizung nicht auf eine Seitenwand überrollen und sich auf dieser an- sammeln. Eine kleine Verlagerung können sie aber doch erfahren, und die mehrfach wiederholten Anstöße eines und desselben Stärke- kornes, das der Seitenwand am nächsten liegt, können schließlich den- selben Erfolg haben, wie die bei normaler Reizung auch in Pausen 176 Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. sich wiederholenden Stöße mehrerer Stärkekörner!). Linsenwurzeln, die nach längerer intermittierender Reizung (6‘ Reizung, 12‘ Ruhe) unter- sucht wurden, zeigten nicht mehr alle Stärkekörner in der Ruhelage, sondern zahlreiche auch unregelmäßig in der Zelle zerstreut, eine irgendwie hervortretende Ansammlung auf der Konkavseite der Krüm- mung war nicht zu bemerken. So wird man also dem Erfolg intermittierender Reizung wenigstens z. Z. eine entscheidende Bedeutung in unserer Frage nicht zuschreiben können. Anders steht die Sache mit den Centrifugalversuchen. Wir verdanken Czapek Untersuchungen darüber, wie kleine Centrifugal- kräfte noch percipiert werden. Er fand so, dass der tausendste Teil der Größe der Schwerkraft noch genügen würde, um geotropische Bewegungen bei Pflanzen möglich zu machen. Es fragt sich nun, ob auch die Stärkekörner auf so geringe Kräfte noch reagieren! Ich stellte mit Linsenwurzeln und Panicumkotyledonen, die horizontal liegend um eine horizontale Axe sich drehten, mehrere Versuche an und bekam bei Verwendung einer Fliehkraft von 0,02 bis 0,05 g die schönsten Krümmungen, obwohl die mikroskopische Untersuchung aus- nahmslos die Stärke in solchen Objekten gleichmäßig in der ganzen Zelle verteilt zeigte, nicht anders, als wenn die Pflanzen am Klinostat gedreht worden wären. Zur Kontrole machte ich Versuche mit Stärke- körnern, die in einer Flüssigkeit aufgeschwemmi waren; z. B. Kartoffel- stärke, durch Jod blau gefärbt, in Wasser aufgeschwemmt. Das Reagenzglas von ca. 12 mm Durchmesser wurde nach gründlichem Schütteln horizontal gelegt. Im Laufe von einer Minute war ein blauer Streifen an der unteren Flanke des Glases entstanden, darüber stand völlig klares Wasser. Da die Stärke hier viel großkörniger als in den angeblich geotropisch sensiblen Zellen ist, und da statt des zähflüssigen Protoplasmas Wasser genommen wurde, so begreift man wohl, wie in unserem Versuch die Geschwindigkeit der Stärkewanderung so sehr viel größer sein musste alsin den Zellen der Wurzelspitzen (ca. tausend- mal so groß!). Wurde nun ein mit in Wasser aufgeschwemmter Stärke gefülltes Reagenzglas in horizontaler Lage um eine horizontale Axe rotiert, so konnte bei einer Fliehkraft von 0,6 g nach mehreren Minuten eine Ansammlung der Stärke auf der äußeren Flanke des Gefäßes nicht wahrgenommen werden; dass sie auch bei längerer Dauer der Centrifugierung nicht eingetreten wäre, ergiebt sich daraus, dass eine durch Schwerewirkung gebildete Ansammlung beim Centri- 1) Czapek hatte bei jeder geotropischen Reizung eine Summierung von Einzelstößen gefordert — eben um den Erfolg der intermittierenden Reizung zu erklären. Bei einer Vielzahl von Statolithen wären solche Einzelanstöße ge- geben. Haberlandt dagegen sagt ganz neuerdings (Sinnesorgane im Pflanzen- reich, L. 1901, S. 143 Anm.), dass die Stärkekörner nicht durch Stöße, sondern durch statischen Druck wirken sollen. Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. 477 fugieren binnen kürzester Zeit sich wieder auflöste. Bei Verwendung einer Schleuderkraft von gleicher Größe wie die Schwerkraft, vollzog sich natürlich die Ansammlung ebenso prompt wie durch die Schwer- kraft selbst. Es lag nicht in meiner Absicht, genauer die Größe der Fliehkraft festzustellen, die eine Stärkeansammlung bewirkt; es genügt uns zu wissen, sie muss etwas größer als 0,6g sein; in dem sehr viel zäheren Plasma also, so können wir schließen, muss die Schwer- kraft ungefähr mit ihrer vollen Größe einwirken, wenn sie Stärkekörner bewegen soll, und die Stärkekörner dürfen nicht allzu klein sein. Damit stimmt, dass eben nur vereinzelte Zellen auf die Erdschwere reagierende Stärke besitzen; in der Mehrzahl der Fälle dürfte die Zähflüssigkeit des Plasmas so groß sein, dass sie solche Be- wegungen verhindert. In dem Ergebnis der Centrifugalversuche liegt unseres Erachtens der überzeugende Nachweis, dass die Stärkekörner nicht als Stato- lithen funktionieren können. Dieses Resultat ist eigentlich bedauerlich — denn die Nömec-Haberlandt’sche Hypothese hätte der Geo- ästhesie vieles genommen, was an ihr unverständlich war, und hätte sie den von Pfeffer so gründlich studierten Kontaktreizen an die Seite zu stellen erlaubt. Die Möglichkeit, dass es sich doch um Kon- taktreiz bei der Geoästhesie handelt, wird freilich mit; der Wider- legung dieser Hypothese nicht hinfällig. Nur muss eben dann, etwa so wie Noll es sich vorstellt, die Reizung in unsichtbaren Strukturen des Plasmas erfolgen, und damit ist sie einer weiteren Forschung, wenigstens nicht direkt zugänglich. Andererseits dürfen wir auch eine andere Möglichkeit nicht aus dem Auge lassen. Dass nämlich auf die unbekannten physikalischen Veränderungen, die zunächst von der Schwerkraft herbeigeführt werden, sekundär andere Prozesse folgen, die dann erst zur Perception führen. So könnten z.B. sekundär che- mische Veränderungen eintreten, die zur Perception führen und die Geoästhesie wäre dann der Chemoästhesie anzureihen. Die Umlagerung der Stärkekörner sind nicht die einzigen, mikro- skopisch nachweisbaren Aenderungen in geotropisch gereizten Geweben. Czapek hat gezeigt, dass in geotropisch gereizten Wurzelspitzen die Reaktion auf sogen. „Oxydationsfermente“ schwächer wird, dass umgekehrt in gereizten Spitzen eine verstärkte Reduktion von ammoniakal. Silberlösung stattfindet. Eine Hypothese der geotropischen Perception lässt sich auf solche Beobachtungen um so weniger gründen, als es überhaupt nicht sicher ist, ob diese Vorgänge in direkter Be- ziehung zur Geoperception stehen. Eine weitere Beobachtung rührt von N&ömec her. An horizontal liegenden Wurzeln fand er in den „sensiblen“ Zellen der Wurzelhaube an den Stellen, in der normaler Lage die Stärke gelegen hatte, Plasmaansammlungen, die so lange bleiben, bis die Amylum- XXI. [2 178 Jost, Die Perception des Schwerereizes in der Pflanze. körnchen wieder zurückgekehrt sind. Auffallenderweise bilden sich dann Ansammlungen von Protoplasma auch in den Zellen des Wurzel- vegetationspunktes oder in schon etwasälteren Pleromzellen aus, deren Entstehung Verf. auf Reizleitung zurückführen möchte. Sie können aber auch eine direkte Folge der Reizung sein, wenn überhaupt die Plasmaansammlungen eine solche Rolle spielen. Dies ist aber noch keineswegs bewiesen. Im Gegenteil, Nömec hat eine Beobachtung gemacht, die direkt dagegen spricht: er fand, dass auch an invers fixierten Wurzeln dieselben Ansammlungen auftreten — und diese sind doch in einer labilen Ruhelage. Auch hat er bemerkt, dass durch Druck solehe Ansammlungen zu stande kommen können. Kurz, wir haben es mit einer zwar sehr interessanten, aber noch nicht genügend aufgeklärten Erscheinung zu thun. Und mit der rein physikalischen Wirkung der Erdschwere, also mit dem Perceptionsakte hat dieselbe selbstverständlich nichts zu thun, da sie schon eine zweifellos kom- plizierte Reaktion des Organismus vorstellt. Bekanntlich hat man schon früher Wanderungen des Plasmas innerhalb der Zellen, oder sogar von Zelle zu Zelle eine Rolle bei den Reizbewegungen zuschreiben wollen, Nemec’s Beobachtungen machen es wahrscheinlich, dass diese Vermutungen nicht ganz ohne Untergrund sind. Blicken wir zurück, so müssen wir gestehen, dass die positiven Resultate zahlreicher Untersuchungen noch recht gering sind; wir können am kürzesten unsere Uebersicht resumieren, wenn wir sagen, über die primären, rein physikalischen Vorgänge bei der Geoperception wissen wir noch nichts. Und wenn wir dann Umschau halten, wie weit wir in die Perception anderer Reize eingedrungen sind, so zeigt es sich, dass da fast noch weniger Positives vorliegt. Wie das Licht, wie die Wärme, wie endlich gar „chemische“ Substanzen wirken, das wissen wir nicht. Für die Elek- trizität ist wenigstens wahrscheinlich gemacht worden, dass bei ihr sekundäre Prozesse, nämlich chemische Prozesse zur Perception führen. Nur bei gewissen Berührungsreizen sind wir über den rein physikalischen Reizanlass durch Pfeffer’s Studien aufgeklärt. [115] Litteraturverzeichnis. Baranetzki, 1901. Ueber die Ursachen, welche die Richtung der Aeste der Baum- und Straucharten bedingen (Flora 89, 138). Czapek, 1895. Untersuchungen über Geotropismus (Jahrb f. wiss. Bot. 27, 269). — 1898. Weitere Beiträge zur Kenntnis der geotropischen Reizbewegungen (ibid. 32, 175). Giesenhagen, 1901. Ueber innere Vorgänge bei der geotropischen Krümmung der Wurzeln von Chara (Ber. d. D. bot. Ges. 19, 277). Haberlandt, 1900. Ueber die Perception des geotropischen Reizes (Ber. d. D. bot. Ges. 18, 261). Escherich, Ueber den sogen. „Mittelstrang“ der Insekten, 479 Haberlandt, 1901. Sinnesorgane im Pflanzenreich zur Perception mechanischer Reize. Leipzig, Engelmann. Nemec, 1900, a. Die reizleitenden Strukturen bei den Pflanzen (Biol. Central- blatt 20, Nr. 11). — 1900, b. Ueber die Art der Wahrnehmung des Schwerkraftreizes bei den Pflanzen (Ber. d. D. bot. Ges. 18, 241). — 1901. Ueber die Wahrnehmung des Schwerkraftreizes bei den Pflanzen (Jahrb. wiss. Bot. 36, 80). Noll, 1892. Ueber heterogene Induktion. Leipzig, Engelmann. — 1896. Das Sinnesleben der Pflanzen (Ber. d. Senkenberger Ges. 1896). — 1900. Ueber Geotropismus (Jahrb. wiss. Bot. 34, 457). — 1901. Zur Keimungsphysiologie der Cucurbitaceen (Landw. Jahrb, 1901, Erg.-Bd. ]). Pfeffer, 1873. Physiologische Untersuchungen. Leipzig, Engelmann. — 1875. Die periodischen Bewegungen. Leipzig, Engelmann. — 1881. Pflanzenphysiologie, Bd. II. Leipzig, Engelmann. — 1884. Lokomotorische Richtungsbewegungen durch chemische Reize (Unters. Tübingen I, 363). — 1885. Zur Kenntnis der Kontaktreize (ibid. I, 483). — 1888. Chemotaktische Bewegungen von Bakterien ete. (ibid. II, 582, 2). — 1893. Die Reizbarkeit der Pflanzen (Verhandl. d. Naturf. Gesellschaft. Leipzig 1893). Rothert, 1894. Ueber Heliotropismus (Beitr. z. Biologie, 7, 1). — 1901. Beobachtungen und Betrachtungen über taktische Reizerscheinungen (Flora 88, 371). Schober, 1899. Die Anschauungen über den Geotropismus der Pflanzen seit Knight (Beilage zum Bericht der Realschule in Eilbeck). Ham- burg 1879. Zacharias, 1891. Ueber das Wachstum der Zellhaut bei Wurzelhaaren (Flora 1891, 466). Ueber den sogen. „Mittelstrang‘‘ der Insekten. Von Dr. K. Escherich, Straßburg i/Els. Meine Untersuchungen über die Entwicklung des Nervensystemes von Lueilia führten mich bezüglich des „Mittelstranges“ zu Resultaten, die von den früheren Angaben nicht wenig abweichen. Da der Mittel- Strang infolge seiner allgemeinen Verbreitung bei den Anthropoden und auch bei den Anneliden stets einiges Interesse bei den Embryologen gefunden hat, so sei es mir gestattet, in dieser vorläufigen Mitteilung die hauptsächlichsten Ergebnisse kurz zusammenzufassen. Als erste Anlage sehen wir den Mittelstrang bei Zucilia den Boden der Primitivrinne bilden (Fig. 1), seine Elemente lassen schon in diesem frühen Stadium, der Segmentierung gemäß, eine verschiedene Anord- nung erkennen und unterscheiden sich auch in Form und Struktur schon ganz deutlich sowohl von den seitlichen Neuroblasten als auch von den benachbarten Ektodermzellen. Der Unterschied von diesen letzteren 12° 480 Escherich, Ueber den sogen. „Mittelstrang“ der Insekten. wird im nächsten Stadium noch bedeutend auffallender, da das Ekto- derm jetzt, nachdem sich die beiden Seitenstränge von ihm losgelöst, aus relativ niederen Zellen besteht, während die Zellen des Mittel- stranges noch merklich größer geworden sind (s. Fig. 2). Wird infolgedessen die Verbindung des Mittelstranges mit der Epider- mis schon viel lockerer, so erfolgt weiter dadurch, dass die Ränder der Primitivrinne sich einander nähern und schließlich in der Medianlinie sich vereinigen, die vollständige Trennung und Ausstoßung aus dem Verbande der Epidermis. Es findet also bei Lucilia im Bereiche des Mittelstranges keine Sonderung in eine dermatogene und neurogene Schichte statt, sondern die gesamte Mittelstranganlage rückt nach innen, und kommt nun zwischen die beiden Seitenstränge zu liegen, hier einen unpaaren Strang bildend (s. Fig. 3). Derselbe zeigt jetzt eine noch viel deutlicher ausgeprägte Segmentierung als vorher, indem an ihm stark angeschwollene Partien abwechseln mit dünnen, strangartigen Abschnitten (s. Fig. 4). Von den Anschwellungen des Mittelstranges gehen je ein Paar feiner Queräste ab (s. Fig. 3 u. 4), die dorsal über die Seitenstränge hinweg zu der Leibeswand ziehen und dort wahrschein- lich mit den Tracheeneinstülpungen in Verbindung treten. Wenn wir die Lage des unpaaren Stranges und die segmental von ihm abgehen- Driesch, Kritisches und Polemisches. 481 den Queräste berücksichtigen, so unterliegt es keinem Zweifel, dass der aus dem „Mittelstrang“ hervorgegangene unpaare Strang dem von F. Leydig eingehend beschriebenen „eigentlichen Sympathicus“ oder den von Newport an der Raupe von Sphinz ligustri entdeckten Nervi respiratorii oder transversi entspricht. — Da die Bezeichnung „Sympathieus“ zu Missverständnissen Anlass geben könnte, so will ich den unpaaren Strang einfach als „neutralen Mediannerv“ be- zeichnen. Während nun dieser in früheren Stadien in seinem ganzen Ver- lauf vom Mund bis zum After vollkommen unabhängig von den Seiten- strängen geblieben war, tritt er jetzt mit diesen letzteren in Verbin- dung, und zwar in der Weise, dass einige seiner Zellen feine plasma- tische Fortsätze in die hintere Querkommissur jedes Ganglions ein- schicken. Außerdem beteiligt sich der Mittelstrang durch teilweisen Zellzerfall auch noch am Aufbau der beiden Querkommissuren jedes Ganglions. Aus diesen Befunden geht also hervor, dass das Bauchmark aus zwei genetisch ganz verschiedenen Nervensystemen zu- sammengesetzt ist: nämlich den paarigen Lateralnerven und dem unpaaren Mediannerv. Beide entstehen ganz unabhängig voneinander und treten erst sekundär miteinander in Verbindung. Während nun bei ZLueilia und überhaupt bei den Museiden infolge der extremen Konzentration ihres Bauchmarks die beiden ebengenann- ten heterogenen Systeme in späteren Stadien so innig miteinander verschmelzen, dass eine Unterscheidung derselben schwierig wird, so scheint sich dagegen bei den meisten anderen Insekten (nach Leydig u. a.) im larvalen und selbst im imaginalen Zustande der unpaare neutrale Mediannerv oft noch in seiner ursprünglichen Gestalt, wie wir ihn bei den Fliegenembryonen angetroffen haben, zu erhalten. Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung des Bauchmarks wird in der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie erscheinen. [17] Kritisches und Polemisches. II. Zur „Mutationstheorie“. Von Hans Driesch. Die Bedeutung der „Mutationstheorie“ von de Vries'!) kann kaum hoch genug veranschlagt werden: es liegt in diesem Werke nichts ge- ringeres vor als die wissenschaftliche Begründung einer organischen Umbildungslehre. Die sogenannte „Descendenz“ der organischen Formen gilt seit 1) I. Bd. Leipzig, 1900-1901. 182 Driesch, Kritisches und Polemisches. langem schon als ein Ergebnis von höchster Wahrscheinlichkeit!); schade nur, dass mit der Aussage der Abstammung aller Lebensformen von anderen in ihrer Allgemeinheit nicht viel anzufangen ist, dass aber der sichere Boden unter den Füßen sogleich verloren geht, wenn man auf Grund der Formenvergleichung hier zu spekulieren anfängt. Wie, d. h. nach welchem Gesetz, die Abstammung vor sich geht, müsste man wissen, soll die Aussage Wert bekommen. An Versuchen, über dieses „Wie“ etwas auszumachen, hat es nicht gefehlt, und einer dieser Versuche, der sogenannte Darwinismus, hat sich lange genug unverdienter Bewunderung erfreut, obwohl Einsichtige gleich im Anfang (Wigand) und später wiederholt erkannten, dass er sachlich unzureichend und logisch verworren war. Es faseinierte dieser unzulängliche Versuch nicht nur die Forscher, sondern auch weitere Kreise aus Gründen, die weniger wissenschaftlicher - Befrie- digung als vielmehr einem recht unbestimmten und unfassbaren „Liberalismus“, einer unklaren „Aufklärungsfreude“, um es so zu be- zeichnen, entsprangen, und diese faseinierende Wirkung hat es dann wieder mit sich gebracht, dass der „Darwinismus“ mehr als eine Art neuer Religion denn als wissenschaftliche These behandelt ward, dass er alle Bedenklichkeiten?) einer Neustiftung dieser Art im Gefolge hatte und Streiter hat erstehen lassen, die einem Mohammed Ehre gemacht haben würden — zum Glück war ihnen keine andere Waffe gegeben als Tinte und Papier. Für Einsichtige ist der Darwinismus lange tot, was zuletzt noch für ihn vorgebracht ward, ist nicht viel mehr als eine Leichenrede, ausgeführt nach dem Grundsatze „de mortuis nihil nisi bene“ und mit dem inneren Eingeständnis der Unzulänglichkeit des Verteidigten?). 1) Da man aus mir gern einen „Gegner“ der Descendenztheorie macht, benutze ich diese Gelegenheit, um den Leser auf folgende Stellen meiner früheren Schriften hinzuweisen: Auf p. 46 meiner „Mathematisch-mech. Betrachtung ete.* Jena 1891 wird die Wahrscheinlichkeit der Descendenztheorie „unabweisbar“ genannt. Im Teil VI meiner „Entwicklungsmech. Studien“ (Zeitschr. wiss. Zool. 55, 1892) finden sich lange Erörterungen über die „Wahrscheinlichkeit“ derselben (p. 43—48). Der gesamte $ 5 meiner „Biologie“ (1893) handelt von der „Descendenzhypothese“; auf p. 359 ff. der „Maschinentheorie“* (Biol. Central- blatt XVI, 1896) wird geradezu auf Basis jener Theorie hypothetisch vor- gegangen u.8.w. u.8.w. — Aber es ist freilich bequemer, anstatt kritische Ausführungen kritisch zu prüfen, ihren Autor in Form eines „Gegners“ einer „modernen“ Ansicht dem Publikum als Kuriosum vorzuführen. 2) Als ärgste dieser „Bedenklichkeiten“ möchte ich es ansehen, dass — noch jetzt bisweilen! — jeder, der gegen den Darwinismus schreibt, als „pie- tätlos“ bezeichnet wird. Und wie benehmen sich die Herren selbst, wenn sie auf einen wirklich Großen, z. B. auf einen Kant, zu sprechen kommen ? — Uebrigens hat Darwin persönlich zu diesem ganzen Unfug keine Veranlassung gegeben; als Menschen und Einzelforscher wird man ihn immer hochschätzen. 3) Plate, Die Bedeutung und Tragweite des Darwin’schen Selektions- Driesch, Kritisches und Polemisches. 183 Aber nun er tot war, fehlte etwas. Man hatte nur niedergerissen, nicht aufgebaut; eben darum vielleicht haben die vielen zum Teil mit einem der Sache gar nicht entsprechenden Scharfsinn ausgeführten Widerlegungen der Darwin’schen Lehre nie den ganz verdienten Er- jolg gehabt. Aber jetzt ist ein wahrer Neubau an Stelle jenes zertrümmerten Gebäudes errichtet worden. Ihn eben schuf de Vries, und dadurch, dass er ibn schuf, ist er trotz seiner wiederholten Hochachtungs- bezeugungen!) vor Darwin nicht nur, sondern auch vor seiner Lehre, ein viel gefährlicherer Gegner dieser geworden, als es die im Negativen verharrenden Feinde zu sein vermochten. Der Zweck dieser Zeilen ist, zu einigen Punkten der Ansichten von de Vries kurze Bemerkungen zu machen, die, wie mir scheint, die neue Lehre gleich anfangs vor Einseitigkeit, vielleicht auch vor Irrtümern bewahren können. Ehe aber damit begonnen wird, möge man es mir gestatten, diejenigen Ergebnisse der de Vries’schen Forschungen kurz aufzuzählen, die so recht als die Grundsteine der wissenschaftlichen Artbildungslehre zu bezeichnen sind: 1. Neue Formbildung geschieht plötzlich, ohne Uebergänge, durch „Mutation“; das ist experimentell erwiesen. 2. Selektion im Sinne Darwin’s kann nur Negatives leisten, näm- lich solche durch Mutation entstandene Formen, die nicht erhaltungs- fähig sind, vernichten (Nägeli!). 3. Die „fluktuierende Variabilität“ hat mit Mutation nichts zu thun; sie betrifft nur quantitative oder meristische Eigenschaften und ist in letzter Linie durch die Ernährung der variierenden Individuen selbst oder ihrer Eltern bedingt. „Die fluktuierende Variabilität ist eine Erscheinung der Ernährungsphysiologie“* (de Vries, p. 411). 4. Kulturrassen, nichts weiter, können aus Variationen durch künst- liche Selektion gewonnen werden; mit der „Art“bildung steht sie in gar keiner Beziehung, daher auch die an sich schätzbaren statischen Variationsarbeiten (Quetelet, Galton, Weldon, Bateson, Lud- wig, Heincke, Duncker, Davenport u.a.) nicht als Grundlage prinzips. Verh. D. Zool. Ges., 1899. Es überschreitet zwar unseres Erachtens den im Text genannten „Grundsatz“, wenn der allerschlagendste Gegenbeweis des Darwinismus, dass nämlich das Regulationsvermögen absolut nicht auf seinen Grundlagen zu verstehen sei, wie das in meiner „Analytischen Theorie“, p. 135 ff., ausgeführt ward, wenn dieses Hauptgegenargument tot- geschwiegen und mit der Bemerkung abgefertigt wird, dass es „maß- und taktlos“ sei. 4) Auch de Vries scheint noch unter Dar win’s „Bann“ zu stehen, wie so viele sonst. Viel weiter geht hier noch sein Referent Moll (Biol. Central- blatt XXI, 1901), der jeden Gegensatz zwischen Darwin und de Vries ver- wischen will, Warum das? Aus „Pietät“ ?. 184 Driesch, Kritisches und Polemisches. der Umwandlungslehre zu bezeichnen sind. Neues kann mittelst der fluktuierenden Variabilität nie auftreten. „Die erste Bedingung, eine Neuheit hervorzubringen, ist, sie bereits zu besitzen“ (p. 413), nämlich ‘als Mutation. 5. Mutation und Variation greifen ineinander; die Mutationen vari- ieren, und zwar treten sie sehr häufig zuerst als Minus-Varianten auf, aus denen Zuchtwahl dann das entsprechende Mittel erzielen kann. 6. Die Hauptirrtümer der früheren waren: a) Die Annahme einer beliebigen Steigerbarkeit der Variabilität. b) Die Annahme ihrer endlichen Fixierbarkeit. ec) Die Annahme der sehr langen Dauer des Züchtungsprozesses. Vielmehr ist das mittelst Selektion erzielbare Maximum schon nach 5 Generationen erreicht und wird nur durch stete Andauer der Selektion vor Rückschlägen bewahrt; diese Gedanken finden sich schon bei Wigand'). Gehen wir nunmehr dazu über, einige Punkte des de Vries’schen Gebäudes einer näheren Prüfung zu unterziehen. 1. Er nennt seine Mutationen „riehtungslos“ (p. 365), und zwar deshalb, weil auch Nichterhaltungsfähiges durch sie entstehen könne, das dann die Selektion ausmerze. Dieser Ausdruck scheint mir irre- leitend zu sein. Das Wort „richtungslos“ verleitet nämlich gar zu leicht zu dem Nebengedanken des Zufälligen, des durchaus von außen, nicht in sich selbst bestimmten. Dann hätten wir wieder die alte Darwin’sche „Richtungslosigkeit“, welche seine Variabilität haben sollte. Gerade diese aber hat de Vries beseitigt; seine Mu- tationen sind ganz bestimmte Vorgänge, deren innerer Gesetzlich- keit er hofft auf die Spur zu kommen. Was er sagen will und, wie es scheint, mit Recht annimmt, ist nur dieses, dass die Mutationen an und für sich keine Adaptionscharaktere haben, dass sie in keiner Beziehung zur Erhaltungsgemäßheit unter den jeweilig ge- gebenen Bedingungen stehen. Mir scheint das durch Verwendung des (rein deseriptiven) Wortes teleologisch oder final am besten wieder- gegeben zu werden. Man kann also in de Vries’ Sinne sagen: Die Mutationen verlaufen zwar nach bestimmterRichtung und unter bestimmtem (noch unbekanntem) Gesetz, aber sie sind nicht final. 2. Unser erster Einwand gegen de Vries’ Ausführungen war rein formaler Natur; der zweite ist sachlich. Er schließt sich eng an das Gesagte an: Wenn die Mutationen nicht final sind, wie kommt dann der durchgängige adaptive Charakter in die Tier- und Pflanzen- formen; Selektion kann doch nur ausmerzen, nicht schaffen ? i) Der Darwinismus und die Naturforschung Newton’s und Cuvier's. Braunschweig, 1874/7. Driesch, Kritisches und Polemisches, 185 Mir scheint, dass de Vries sich den Weg zum Verständnis der durchgängigen Adaption der Organismen selbst abgeschnitten hat und zwar durch gewisse Erörterungen über Standortsvarietäten. Seine wichtige Einsicht, dass die fluktuierende quantitative und meristische Variabilität, das Objekt der statistischen Forschung, eine Folge von Ernährungsdifferenzen sei, übertrug er irrtümlich auf Gebiete, wo zwar auch „Variabilität“, d. h. Verschiedenheit, aber keine nur quantitative, sondern adaptive Verschiedenheit herrscht. Er erörtert (p. 101) die Forschungen Bonnier’s über Alpen- pflanzen, die keine eigentlich analytisch-experimentellen, sondern mehr kollektivistische Untersuchungen sind. Hätte er die Arbeit Kohl’s über den Einfluss der Transpiration auf die Histogenese, hätte er Hegler’s Ar- beit über die histologischen Folgen starken Zuges herangezogen !), so wäre das Ergebnis seiner Ueberlegungen vielleicht ein anderes ge- worden. Hier eben sehen wir das Adaptive, das „Finale“ unmittelbar vor uns; die Rückführung auf differente Ernährungsquantitäten nützt hier gar nichts. Etwas finales aber muss zu der nicht-finalen Mutation dazu kommen; die Organismen sind nun einmal „final“, im besonderen adaptiert. Freilich ist unumwunden zuzugeben, dass wir mit der Adaption, wie wir sie in Kohl’s, Hegler’s und anderen Versuchen vor unseren Augen geschehen sehen, ohne weiteres im Sinne einer Descendenz- theorie noch nicht viel anfangen können: Die bei weitem meisten adap- tiven Eigenschaften der Organismen sind ja vor allem Funktionieren da, sind im ontogenetischen Verlauf entstanden. Können wir denn hier überhaupt weiter? Wir können es wohl zur Zeit nur mittelst einer Hypothese, indem wir nämlich annehmen, dass die Adaptivbildungen, welehe, wie wir wissen, von den Organismen als Reaktionen auf äußere Reize geleistet werden, dann, wenn solche Reize viele Generationen lang stets gleichartig wirken, endlich auch ohne den Reiz, „ontogenetisch“ auftreten. Das wäre also eine wahre „Vererbung erworbener Eigen- schaften“. Leider wissen wir darüber nichts sicheres; wir kennen höchstens einige Ansatzbeobachtungen in dieser Richtung. So wies ich schon vor Jahren?) auf den von Sadebeck beschriebenen Fall hin, dass die Serpentinmodifikation von Adiantum zu ihrer völligen Umwandlung in 1) Des näheren finden sich diese und ähnliche Arbeiten analytisch dis- kutiert bei Herbst, Bedeutung der Reizphysiologie ete. II. Biol. Central- blatt XV, 1895, p. 739ff., 756 ff. und in meinen „Organischen Regulationen® p. 27. 2) Entw. Mech. Stud. VI, Zeitschr. wiss. Zool. LV, 1892, p. 45. 186 Driesch, Kritisches und Polemisches. die auf gewöhnlichem Boden normalen Form mehrerer (fünf) Gene- rationen bedürfe, und derartiger Indizien für die Bedeutung von Generationsfolgen giebt es noch einige mehr!); auch gewisser Ermitte- lungen an Pilzen und Bakterien?) mag hier gedacht sein, bei denen freilich eine eigentliche „Fortpflanzung“, sei sie sexual oder bestehe sie nur in Sporenbildung, entweder überhaupt fehlt oder gerade durch den Versuch unterdrückt ist, so dass das eigentlich Problematische der Sache nicht in Frage kommt. Denn dass wahre „Vererbung erworbener Eigenschaften“ im Wege der Fortpflanzung, d. h. der Keimbildung, nicht auf Grund bloßer Teilung, etwas ungeheuer Problematisches wäre, hat Weismann nicht mit Unrecht oft betont. Existieren kann sie darum natürlich doch?). Ich meine also, dass die „Mutationslehre“ von de Vries uns zwar für das „Organisatorische“ an den Lebensformen den ersten Anfang einer Grundlage geschaffen hat, dass wir aber für das Verständnis des „Adaptiven“, des „Regulatorischen“ an ihnen, soweit es sich nicht in direkten Reaktionen äußert, andere Ermittelungen als Grundlage be- nötigen, die wohl auch der experimentellen Behandlung nicht unzu- gänglich sind. Erst mit diesen beiden Mitteln hätten wir einen vollständigen Unterbau der rationellen Umwandlungslehre der Formen. 3. Auf einen Einwand möge ein Ausblick folgen. Wenn Selektion erhaltungsunfähige Mutationen ausmerzt, so sind also mehr Mutationen, also allgemein gesprochen mehr „Formen“ möglich, als wirklich sind; und nicht nur unmittelbar ausgemerzte Formen sind „möglich, aber unwirklich“, sondern auch alle, welche aus diesen durch Mutation hätten entstehen können. Dieser Gedanke ist zwar nicht gegenwärtig, nicht aktuell, von 4) Manches findet sich, nicht immer ganz kritisch behandelt, in Haacke’s Grundriss der Entwieklungsmechanik (z. B. p. 308ff.). — Dass Kirschbäume in Ceylon im Laufe der Generationen immergrün werden, beruht übrigens nach Pfeffer (Pflanzenphysiol. II, p. 270) nur darauf, dass wegen Fehlens des Winters die Ruheperiode unregelmäßig auf die Knospen verteilt wird, ist also eine ziemlich äußerliche Sache. 2) Siehe hierüber Pfeffer, Pflanzenphysiologie I, p. 500, II. p. 242ff. auch Klebs, Zur Physiologie der Fortpflanzung einiger Pilze. III. Jahrb. wiss. Bot., p. 32f. — Es handelt sich um Verlust der Sporenbildung, Veränderung der Farbstoffbildung oder der Virulenz im Laufe verschiedener, durch Tei- lung aufeinanderfolgender Generationen. 3) Man vergleiche hierzu auch gewisse, freilich noch recht wenig ent- schiedene Versuche von Standfuss. Ein kleiner Ansatz zu einer Vererbung des „Erworbenen“ zeigte sich, bei sehr zahlreichen Versuchen, nur an den Nach- kommen eines einzigen aberrativen Weibchens seiner Schmetterlinge. S. außer den Originalarbeiten die Referate des Biol. Centralblattes 1896 und Arch, Entw. Mech. XIII. Driesch, Kritisches und Polemisches. 487 Bedeutung, er ist es aber für eine Idealwissenschaft der Zukunft, welche man die rationelle Systematik oder Organisatorik nennen wird. Wie ich wiederholt ausführte!), kann eine Systematik, d.h. eine Wissenschaft von nebeneinander bestehenden Verschiedenheiten, nur insofern rationell sein, als sie nachweist, dass die Gesamtheit der Ver- schiedenheiten nur so, nicht anders existieren, dass es keine Species außer dieser Gesamtheit geben könne. Die Geometrie leistet das für die fünf regulären Körper, die Krystallographie bypothetisch für die Krystallsysteme; Hegel’s naturphilosophische Absichten bewegten sich in dieser Richtung, was wohl im Gedächtnis zu bewahren ist, mag man von der Ausführung der Absicht denken wie man will?). Wenn nun in diesem Sinne eine rationelle Systematik der Lebens- formen einmal möglich sein soll, so darf, und das zu betonen ist der Zweck dieses Abschnittes, die Betrachtung nicht stehen bleiben bei den Mutationsformen, welche zufällig — hier passt das Wort — von der Selektion nicht ausgemerzt wurden. Es wäre das geradeso, als wollte der Chemiker alle diejenigen Stoffe außerhalb des Kreises der Betrachtung lassen, welche bei der gewöhn- liehen Temperatur auf der Erde nicht existenzfähig sind. Die Naturwissenschaft aber, im Gegensatz zur Historie, inter- essieren, um oft Gesagtes?) einmal zu wiederholen, nicht die zufällig hier auf der Erde jetzt existierenden Formen oder Stoffe, sondern das Form- und Stoffgesetz, das unabhängig von bestimmtem Raum, be- stimmter Zeit und von Zufall ist. 1) Entw. Mech. Studien VI, Zeitschrift wissensch. Zool. LV, p. 56ff. Biologie $ 6 und Methode der Morphologie. Biol. Centralbl. XIX, 1899, An- hang II. 2) Bei einer früheren Gelegenheit (diese Zeitschr., Bd. XVI, p. 355, Anm. 2) habe ich die Hegel’sche Philosophie und den Darwinismus als die beiden Curiosa des verflossenen Jahrhunderts bezeichnet. Die Anfrage eines be- geisterten Hegelfreundes, ob ich denn wohl Hegel selbst gelesen oder meine Ansichten über ihn von Schopenhauer, Riehl u. a. entnommen habe, musste ich mit dem Zugeständnis beantworten, dass allerdings, wie wohl bei der Mehrzahl der Zeitgenossen, letzteres der Fall sei. Ich kenne jetzt Hegel, wenigstens zum Teil, und gebe gern zu, dass ich Schopenhauer gar zu willig geglaubt habe. Dass die eigentliche Naturphilosophie Hegel’s und noch mehr seiner Nachfolger (z. B. Planck) ein Kuriosum in ihrer Ausführung ist, bestreite ich auch heute nicht. Aber erstens bedeutet sie nicht den ganzen Hegel, sondern dieser ist in erster Linie der große Logiker, und zweitens bekenne ich offen, dass mir die Grundabsicht der „Naturphilosophie“ von einer solchen Bedeutung erscheint, dass ich es ohne Bedenken aussprechen möchte: ein wirk- licher Fortschritt der Philosophie kann nur hier und nirgends sonst an- knüpfen. — Man soll nicht für „Naturphilosophie“ ausgeben, was keine ist. 3) Vergl. z. B. meine „Biologie als selbständige Grundwissenschaft“, Leipzig, 1893, p. 28. 188 Driesch, Kritisches und Polemisches. Eine rationelle Bio-Systematik kann also nur gedacht werden als der Nachweis, dass es andere Formen als „diese“ nicht geben kann, dass aber eben „diese“, weil sie bestimmte Gesetzesbedingungen erfüllen, möglich sind. Das setzt aber voraus, dass „diese“ Formen vollständig bekannt sind. Wir sind von einer Idealsystematik im großen so weit entfernt, dass wir uns nicht einmal ein Bild von ihr machen können; aber de Vries’ Forschungen haben uns die Perspektive eröffnet, wenigstens Idealsystematik im kleinen einst zu treiben. Wäre es nicht möglich, dass wir einst die Einsicht gewinnen könnten: diese Form kann nur in diesen Weisen, ABCDEF, aber in keinen anderen mutieren? Das wäre eine sehr wichtige Einsicht; aber sie würde unmöglich werden, wenn etwa BundF, weil sie nicht existenzfähig und daher von der Selektion ausgemerzt sind, von der Betrachtung ausgeschlossen blieben. Also kurz gesagt: Die „wirklichen“ Mutationsformen sind der Idealwissenschaft gleichgültig: die möglichen Formen allein, die in einem höheren Sinne die wirklichen sind, sind für sie wichtig, und zwar in ihrer Vollzähligkeit. Anlässlich der Bastardierungslehre könnte man zu ähnlichen Betrachtungen kommen, wie sie hier gepflogen sind, es soll aber dem II. Band des de Vries’schen Werkes nicht vorgegriffen werden. 4. Aus demselben Grunde sollen auch einige Bemerkungen über die Frage nach den „Einheiten“, d. h. Elementareigenschaften, aus denen sich die Organismen aufbauen, ganz aphoristisch gehalten werden, da de Vries in dieser Sache wohl selbst das Wort ergreifen wird. Er betont bereits im I. Bande seines Werkes die Möglichkeit, dass Mutationen, welche mehrere Merkmale des Organismus betreffen, wohl von der Veränderung eines einzigen ihren Ausgang genommen haben möchten, indem 'nämlich die anderen von diesem einen veränderten abhängig seien. Das ist ganz im Sinne der von Herbst, mir u. a. entwickelten Formativreiztheorie gedacht. De Vries arbeitet hier mit dem Gedanken kausaler Abhängigkeit. Das, was sich in der gleichzeitigen Mutation mehrerer Merkmale äußert, ist andererseits das, was man seit! langem schon (Cuvier, Geoffroy St. Hilaire u. a.) Korrelation genannt hat. Rädl!) hat in dieser Frage kürzlich einen, wie mir scheint, nicht unwichtigen Ge- danken geäußert: er bemerkt, dass die älteren Forscher, welche den Begriff Korrelation schufen, ihn wohl als „notwendige Ver- knüpfung“, aber nicht als Kausalität gedacht haben. Dürfen wir solche Art „notwendiger Verknüpfung“, bei welcher die Zeit keine Rolle spielt, in der Naturwissenschaft zulassen in tieferem 2) Biol. Centralbl. XXI, 1901, p. 401. Driesch, Kritisches und Polemisches. 189 als bloß deskriptivem Sinne? Wenn so, dann brauchten vielleicht die mehrfache Merkmale betreffenden Mutationen nicht nach dem Kausal- schema, nicht nach der Formativreiztheorie aufgefasst zu werden. Ich möchte hier jetzt keinen Entscheid treffen; bemerken will ich nur dieses: In der Geometrie spielt die nicht kausale notwendige Verknüpfung eine große Rolle; Schopenhauer abstrahiert seinen „Satz vom Grunde des Seins“ von diesem Phänomen. Aber auch in der Chemie, also in einer empirischen Wissenschaft, rechnen wir fortwährend mit einer nicht kausalen notwendigen Verknüpfungsart: die Eigenschaften der verschiedenen Stoffe sind es, die wir als „notwendig verknüpft“ hinnehmen, ohne dass etwa die eine die „Ursache“ der anderen wäre. Wir sagen meist, wir „verstünden“ dieses notwendige Beieinandersein nicht und nähmen es als gegeben hin. Sollten wir hier mehr sagen können ? Nun sind die verschiedenen Eigenschaften eines Stoffes gleichsam ineinander, nicht nebeneinander, ihre Vereinigung ist intensiv. Die Eigen- schaften eines Organismus dagegen sind nebeneinander, wenigstens zum großen Teil. Wer aber meine theoretischen Erörterungen über die Autono- mie der Lebensvorgänge kennt, der weiß, dass ich für die geistige Er- fassung der Formbildung, der Ontogenese, aus dem Nebeneinander ein Ineinander, ein Intensives, gemacht habe; „Potenzen für Komplexes“ nämlich, wie wir sie als in sich untrennbare Größen den Teilen des sich entwickelnden oder regulierenden Organismus zuschreiben müssen, sind „Intensive Mannigfaltigkeiten“'). Wäre etwa mit, der Schöpfung dieser „Intensiven Mannigfaltig- keiten“, der Entelechien, gleichzeitig eine nicht kausale Auffassung des Korrelationsbegriffes zugelassen? — Die Mutationslehre von de Vries ist die Grundlage einer wissen- schaftlichen Organisatorik, als ihre Ergänzung forderten wir zur Schöpfung einer rationellen Umwandlungslehre die Anwendung von Ergebnissen der Regulatorik. Wie hier begrifflich beide Wissen- schaften, so greifen real im Einzelfall nach unserer Ansicht Mutation und Adaption ineinander, die letztere wahrscheinlich verbunden mit einer „Vererbung“ des „Erworbenen“. Die Mutation schafft den Typus und die Organisationshöhe der Formen, die Adaption die funktionelle Ausprägung. Beide scheinen ohne Beziehung aufeinander zu arbeiten, beide unterliegen gewissen Beschränkungen, daher kann es auch ge- schehen, dass die eine, die Mutation, der anderen, der Adaption, ent- gegenarbeitet, indem sie Gebilde schafft, die unter den jeweiligen Um- ständen von der Adaption nieht mehr gerettet werden können. Solche Gebilde sind dann existenzunfähig, sie werden eliminiert. Diese durch- 1) Die Organischen Regulationen, 1901, p. 202 f. 190 Bei der Redaktion eingegangene Werke. aus negative „Selektion“ ist das einzige, was von dem Dar win’schen Theoriengebäude übrig geblieben ist. [24] Napoli, 9. Januar 1902. Bei der Redaktion eingegangene Werke. (Nähere Besprechung einzelner vorbehalten.) F. Zschocke. Die Tierwelt der Schweiz und ihre Beziehungen zur Eiszeit. 8. 71 S. Basel, Benno Schwabe, 1901. H. Charlton Bastian. Studies in Heterogenesis. First Part. Mit 210 photo- mikrographischen Abbildungen auf 5 Tafeln. Gr. 8 61 undXS. London, Williams und Norgate, 1901. Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften. Kl. 8. Leipzig. Wilhelm Engelmann. — Nr. 114. Alessandro Volta. Briefe über tierische Elektrizität (1792). Herausgeg. von A. J. von Oet- tingen. 162 S. — Nr. 120. Marcellus Malpighi. Die Ana- tomie der Pflanzen (1675 und 1679). Bearbeitet von M. Möbius, Mit 50 Abbildungen. 163 S. (Inhaltsangaben und wörtliche Ueber- setzung der wichtigsten Stellen, — Gregor Mendel. Versuche über Pflanzenhybriden (1865 und 1869). Herausgegeben von Erich Tschermak. 62 8. Philosophische Bibliothek. 8. Leipzig, Dürr’sche Buchhandlung. Bd. XX. Berkeley’s Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Er- kenntnis. Uebersetzt und mit erläuternden und prüfenden An- merkungen versehen von Friedr. Ueberweg. 3. Aufl. XIV u. 149 S. — Bd. LXXVI, John Locke’s Versuch über den mensch- lichen Verstand. Uebersetzt und erläutert von J.H. vonKirch- mann, Zweite Aufl. bearbeit von C. Th. Siegert. 2 Bände und 2 Hefte Erläuterungen. — Bd. LXXX. Plato’s Staat. Uebersetzt von Friedrich Schleiermacher, erläutert von J. H. v.Kirch- mann. 2. Aufl. bearbeitet von C. Th.Siegert. — Bd. CII. Ber- keley’s Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous. Uebersetzt und mit einer Einleitung versehen vonRaoulRichter. [Bei dem lebhaften Interesse, welches neuerdings philosophischen, besonders aber erkenntnistheoretischen Fragen von den Biologen entgegen- gebracht wird, werden die handlichen, gutgedruckten Bände dieser Bibliothek gewiss vielen willkommen sein.] Max Scheler. Das Transcendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik. Gr. 8. 181 S. Leipzig, Dürr’sche Buchhandlung, 1900. Heinrich v. Schoeler. Probleme. Kritische Studien über den Monismus. 8. VIII und 107 S. Leipzig, Wilh. Engelmann, 1900. Sammlung Goeschen. (Eine Sammlung kleiner Lehrbücher in 16, Leipzig, G. J. Göschen’sche Buchhandlung.) Nr. 127. W.Migula. Pflanzen- biologie. 134 S., 1900. — H. Simroth, Abriss der Biologie der Tiere. Teil I. Entstehung und Weiterbildung der Tierwelt. Beziehungen zur anorganischen Natur. Mit 33 Abbildungen. 163 8. Teil II. Beziehungen der Tiere zur organischen Natur. Mit 35 Ab- bildungen. 157 S. 1901. Bei der Redaktion eingegangene Werke, 191 Gemeinverständliche Darwinistische Vorträge und Abhand- lungen. Herausgegeben von Dr. Wilhelm Breitenbach. 8. Oden- kirchen. Verlag von Dr. W. Breitenbach, 1901. H.1. L. Plate, Die Abstammungslehre. Mit 8 Abbildungen, einem Briefe Ernst Haeckel’s als Vorwort, und einem Glossarium von Heinrich Schmidt. 518. — Heft2. Wilh. Breitenbach. Die Biologie im 19. Jahrhundert. Vortrag gehalten im naturwissenschaftl. Verein zu Krefeld. 31 8. E. Overton. Studien über die Narkose, zugleich ein Beitrag zur allgemeinen Pharmakologie. Gr. 8. X und 1958. Jena, Gustav Fischer, 1901. Franz Doflein. Von den Antillen zum fernen Westen. Reiseskizzen eines Naturforschers. Mit 83 Abbildungen im Text. Gr. 8. 180 8. Jena, Gustav Fischer, 1900. Curt Herbst. Formative Reize in der tierischen Ontogenese. Ein Beitrag zum Verständnis der tierischen Embryonalentwicklung. Gr. ®&. VIH u. 125 S. Berlin, Arthur Georgi, 1901. Adolf Wagner. Beiträge zu einer empiriokritischen Grundlegung der Bio- logie. I.H. 8. 91 S. Leipzig, Gebrüder Bornträger, 1901. Atlas für Bienenzucht. Anatomie. Histologie. Pathologie. Bienenfeind- liche Tiere. — 30 kolorierte Tafeln, gezeichnet vom Ingenieur F.Cleriei nach mikroskopischen Präparaten des Grafen Gaetano Barbö. Herausgegeben vom Centralverein für Hebung und Ver- breitung der Bienenzucht in Italien. Erklärender Text von A. v. Rauschenfels. Autorisierte deutsche Ausgabe. Gr. 8. Berlin, C. A. Schwetschke u. Sohn, 1901. J.Reighard and H.S. Jennings. Anatomie of the cat. With 173 originell figures drawn by Louise Burridge Jennings. Gr. 8. XX u.498 $, New-York, Henry Holt u. Co. London, George Bell u. Sons, 1901. A. Koelliker. Die Medulla oblongata und die Vierhügelgegend von Ornitho- rynebus und Echidna. Mit 27 zum Teil farbigen Abbildungen im Text. 4 VI u. 100 S. Leipzig, Wilh. Engelmann, 1901. C. Ritter u. H.Rübsamen. Die Reblaus und ihre Lebensweise. Dargestellt auf 17 Tafeln [in 4] nebst erläuterndem Text [Gr. 8. 318.]. Berlin, R. Friedländer u. Sohn, 1900. Botanik und Zoologie in Oesterreich in den Jahren 1850 bis 1900. Festschrift, herausgegeben von der k. k. zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien anlässlich der Feier ihres 50jährigen Bestandes. Mit 38 Tafeln und 9 Abbildungen im Texte. Gr. 8. IX u. 620 8. Wien, Alfred Hölder, 1901. Otto Zacharias. Forschungsberichte aus der Biologischen Station zu Plön. T. 8. Mit 6 Abbildungen im Text. 8. 130 8. Stuttgart, Erwin Nägele, 1901. G. v. Bunge. Lehrbuch der Physiologie des Menschengeschlechtes. I. Bd. Sinne, Nerven, Muskeln, Fortpflanzung. In 28 Vorträgen. Mit 67 Abbildungen und 2 Tafeln. Gr. 8, VIII und 381 S. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1901. Rudolf Leuckart. Die Parasiten des Menschen. Ein Hand- und Lehrbuch für Naturforscher und Aerzte. Zweite, völlig umgearbeitete Auf- lage. Nach dem Tode des Verfassers bearbeitet von Gustav 192 Bei der Redaktion eingegangene Werke. Brandes. Bd.I. 8. XXXI und 897 S. Leipzig, C.F. Winter’sche Verlagsbuchhandlung 1901. Franz Hofmeister. Die chemische Organisation der Zelle. Ein Vortrag. 8. 29 S. Braunschweig, Friedr. Vieweg u. Sohn, 1901. Beiträge zur chemischen Physiologie und Pathologie. Zeitschrift für die gesamte Biochemie, unter Mitwirkung von Fachgenossen herausgegeben von Franz Hofmeister. Bd. I (6 Hefte). Gr. 8. Braunschweig, Friedrich Vieweg u. Sohn, 1901. Chemische und medizinische Untersuchungen, Festschrift zur Feier des sechzigsten Geburtstages von Max Jaffe. Mit Beiträgen von M. Askanazy, P. Baumgarten, M. Bernhardt, R. Cohn, Th. Cohn, W. Eliassow, A. Ellinger, J. Frohmann, P. Hilbert, Lassar- Cohn, D. Lawrow, E. v. Leyden, W. Lindemann, W. Lossen, H. Meyer, E. Neumann, H, Nothnagel, E. Salkowski, W. Scheele, L. Schreiber, A. Seelig, S. Stern, O. Weiss, R. Zander. Gr. 8. 4728. 1 Text- abbild. und 7 Tafeln. Braunschweig, Friedr. Vieweg u. Sohn, 1901. XII. Congr&s international de medicine. Paris 1900. Comptes rendus. Section d’anatomie pathologique, C. r. publies par M. Maurice Letulle. — Section de Bacterologie et parasitologie. C. r. publies par M. R. Blanchard. Gr. 8. 370 und 2048. Paris, Masson u.Co. P. Bachmetjew. Experimentelle entomologische Studien vom physikalisch- chemischen Standpunkt aus. Mit einem Vorwort von Aug. Weis- mann. Bd. I. Temperaturverhältnisse bei Insekten. Mit 7 Fig. im Text. Gr. 8. 160 8. Leipzig, Wilh. Engelmann, 1901 (vergl. Biol. Centralbl., XXL, S. 672). Hans Driesch. Die organischen Regulationen. Vorbereitungen zu einer Theorie des Lebens. Mit 1 Fig. im Text. Gr. 8. 228 S. Leipzig, Wilh. Engelmann 1901. August Forel. Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen und einiger an- derer Insekten; mit einem Anhang über die Eigentümlichkeiten des Geruchsinnes bei jenen Tieren. Vorträge, gehalten den 13. Aug. 1901 am V. internationalen Zoologen-Kongress in Berlin. Gr. 8. 578. 1 Tafel. München, Ernst Reinhardt, 1901. G. H. Theodor Eimer. Vergleichend - anatomisch - physiologische Unter- suchungen über das Skelett der Wirbeltiere. Die Entstehung der Arten. III. Teil. Nach seinem Tode herausgeg. von C. Fickert und Gräfin M. v. Linden. Mit 66 Abb. im Text. Gr. 8. 263 8. Leipzig, Wilh. Engelmann, 1901. G. Haberlandt. Sinnesorgane im Pflanzenreich zur Perception mechanischer Reize. Mit 6 lithograph. Doppeltafeln und 1 Fig. im Text. Gr. 8. 164 S. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1901 (vergl. Jost in dieser Nummer). Basile Danilewsky. Die physiologischen Fernwirkungen der Elektrizität. Mit zahlreichen Abbildungen. 8 XVI und 228 S. Leipzig, Veit u. Komp., 1902. Jules Cotte. Notes biologiques sur le Suborites domuncula (spongiaires). 8. 128 S. Paris, L. Boyer, 1901. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Üentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXI Band. "Nr. 7. Inhalt: Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. — Zacharias, Ueber die Sehwebborsten des Stephanodiscus hantzschianus Grun. — Zacharias, Ueber die Einwirkung der arsenigen Säure auf den Infusorien- körper. — Ziegler, Ueber den derzeitigen Stand der Descendenzlehre in der Zoologie. — Arbeiten aus der biologischen Abteilung für Land- und Forst- wirtschaft am kaiserlichen Gesundheitsamt, 1. April 1902. Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen zum Teil nach neuen Versuchen. EineErwiderung auf dieAngriffe vonv.Buttel-Reepen und von Forel. Von Albrecht Bethe. Aus dem physiologischen Institut zu Straßburg i/Els. Seit ich auf Wasmann’s [1] Angriff gegen meine Arbeit über Ameisen und Bienen |2] geantwortet habe [3], sind wieder eine große Anzahl neuer wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Publi- kationen erschienen, die sich mit meiner Arbeit in meist sehr ab- lehnender Weise beschäftigen. Ich könnte mit diesem Resultat ganz zufrieden sein, wenn es bei Abfassung der Arbeit lediglich meine Ab- sicht gewesen wäre, auf irgend eine Weise Aufsehen zu erregen. Da ich aber die Absicht und den Wunsch gehabt hatte, wenigstens einige Leute für meine Ansichten zu gewinnen, so bin ich genötigt, noch ein- mal zur Frage das Wort zu ergreifen, damit nicht die wenigen, die mit mir übereinstimmten, durch mein Schweigen stutzig gemacht und die Widersacher des erhofften Triumphes froh werden. Wollte ich auf alle Angriffe mit einem gleichen Aufwand von Papier und „Scharfsinn“ antworten, so müsste ich Bücher füllen und würde mein bischen Ver- stand und Logik, das so vielfach angezweifelt worden ist, ganz verlieren. Ich will deswegen nur zwei Arbeiten, die von v.Buttel-Reepen [4] und die von Forel[5], zur kurzen Besprechung auswählen; die erstere, weil sie neue Thatsachen enthält, die letztere, weil sie von einem Manne ge- XXIL 13 194 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. schrieben ist, der auf Grund einiger älterer Arbeiten meine volle Verehrung besaß und trotz der wenig liebenswürdigen Behandlung meiner Person noch heute besitzt. Ich werde wohl auf Gegenliebe kaum noch bei ihm rechnen können. Zwar spricht er an einer Stelle von meinen Experi- menten als „aussi ingenieuses que patientes“, an anderer Stelle schreibt er mir aber „une forte dose de suffisance“!) zu, lässt mich einen Schluss aus einer „observation superfieielle“ ziehen und behauptet, dass ich einen „absolutisme absolument contraire & la logique et a V’esprit seientifique“ besäße 2). An derartige Expectorationen ist ja jeder ge- wöhnt, der einige Jahre wissenschaftlich publieiert; sie haben mich daher auch nicht weiter tangiert. Gar nicht hübsch habe ich es aber von Forel gefunden, dass er die Exaktheit meiner Versuche im all- gemeinen und des Ganglienzellversuches bei Carcinus Maenas im beson- deren — das er übrigens ohne ersichtlichen Grund in den Kreis seiner Betrachtungen zieht — anzweifelt, denn es ist dies doch so ziemlich der härteste Vorwurf, den man einem wissenschaftlichen Arbeiter machen kann. Dieses Kampfesmittel, das leider auch andere in Bezug auf denselben Punkt mir gegenüber angewandt haben, ist sehr billig, aber jedenfalls der Sache, die wir betreiben, nicht gerade würdig. Dass es wissenschaftliche Betrüger und unordentliche Kerle giebt, denen die bewiesene Idee mehr wert ist als das reine Gewissen, das weiß ich leider zu gut; ich bin mir aber nicht bewusst, jemals in meinem Ehr- geiz soweit gegangen zu sein, dass die Sorgfalt meiner Untersuchungs- 4) Ich habe die mangelhafte Orientierung der von Forel geblendeten Formica auf Hemmung zurückgeführt. Ich übersah nämlich, dass Forel aus- drücklich bemerkt, sie hätten sich in ihren Schachteln gewandt bewegen können. Hierzu schreibt Forel: „Il faut vraiment une forte dose de suffisance pour porter de pareils jugements ä propos d’inseetes qu’on connait ä peine.“ Zwar kenne ich Formica pratensis vom Ansehen und habe auch einige Experi- mente an ihr gemacht, aber studiert habe ich sie in der That nicht. Darf man denn aber nur über Dinge schreiben, die man aus dem Grunde studiert hat? Giebt doch auch Forel in derselben Arbeit ein Urteil über den „Direktionssinn“ der höheren Tiere und seine Beziehungen zum Labyrinth ab, das sowohl eine ungenügende Kenntnis der Litteratur als auch einen ent- schiedenen Mangel an eigener praktischer Erfahrung zeigt. Es würde mir nie im Traume einfallen, dies Urteil suffisant zu nennen. Aber: .. 2) Auch Wasmann hält von meiner Logik nichts. Ich habe mich des- wegen an einen bekannten Philosophen vom Fach gewandt, von dem ich zu- fällig wusste, dass er die „Ameisen und Bienen“ gelesen hätte. Er antwortete mir, dass ich mich durchaus beruhigen dürfte; die Arbeit enthielte nirgends Schlüsse, welche philosophisch als logisch unrichtig bezeichnet werden könnten, Nur über die eine Voraussetzung (dass der Nachweis von Modifikationsvorgängen einen Schluss auf Psyche zulasse) ließe sich streiten. Diese Voraussetzung habe ich aber inzwischen fallen lassen. Wasmann und Forel werden sich aus diesem Urteil eines Ungenannten nichts machen. Mir war es eine, wenn auch nicht sehr notwendige, Beruhigung meines Gewissens. Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 195 methoden und meiner Beobachtungen darunter gelitten hätte. Jedem steht es frei, meine Versuche zu wiederholen, und nur demjenigen kann ich eine moralische Berechtigung zuerkennen, meine Resultate anzuzweifeln, der nach gewissenhafter Wiederholung Widerstreitendes gefunden hat. Zwar behauptet Fo'rel, dass die Kontrole meiner Bienen- und Ameisen- Experimente durch ihn und von v. Buttel-Reepen die mangelnde Exaktheit meiner Beobachtungen erwiese; er soll doch aber auch nur eine einzige Beobachtung von mir nennen, die nicht richtig ist. Dass sie beide alles anders deuten als ich und meinen Beobachtungen einige andere gegenüberstellen, daraus geht nach meinem Dafürhalten nicht hervor, dass ich die Dinge schlecht beobachtet hätte. Aber unsere Logik ist verschieden !?) Auf eine ganze Anzahl von Angriffen von v. Buttel-Reepen und besonders von Forel brauche ich nicht einzugehen, weil sie sich gegen meine Stellung zur Psychologie richten, die ich seit meiner Ameisen- und Bienen-Arbeit längst verändert habe. Beiden war, als sie ihre Publikationen verfassten, mein veränderter Standpunkt bekannt, denn sie eitieren meine diesbezügliche Arbeit. Sie kämpfen da also gegen einen Gegner, den es gar nicht mehr giebt, denn der Bethe, der glaubte, dass man einen Analogieschluss auf Psyche machen könne und dass wenigstens in einer gewissen Beziehung eine vergleichende Psychologie wissenschaftlich betrieben werden könne, existiert nicht mehr. Forel hält mich und mit mir Beer u. v. Uexküll [7] für inkonsequent, weil wir die vergleichende Psychologie als Unding bezeichnen, wohl aber von Psychologie sprechen. Ich kann Forel versichern, dass diese Inkonsequenz nicht besteht, denn wir verstanden unter Psychologie etwas ganz anderes als er sich darunter denkt. Ich wenigstens für meinen Teil halte eine exakte Psychologie (des Menschen) für etwas ebenso unmögliches wie die vergleichende Psychologie, denn 2) Hier gleich noch einige andere Punkte: Forel belehrt mich beim Careinusexperiment darüber, dass ein abgeschnittenes Spinnenbein Zuckungen ausführt, dass es periphere Ganglienzellen giebt und dass ein Muskel sich kontrahiert, wenn man seinen Nerven reizt. Wenn er hieraus Einwände gegen die Stichhaltigkeit meiner Folgerungen zieht, so zeigt er damit nur, dass er das Experiment nicht genügend überlegt hat. Ich habe das Experiment be- schrieben für Physiologen, und deshalb diese und einige andere Einwände, die auf der Hand liegen, gar nicht besprochen, weil sie ohne weiteres durch das Experiment und seine Folgen von selber widerlegt werden. — Dass Yer- sin vortreffliche Arbeiten über das Nervensystem der Grillen gemacht hat, war mir bekannt und ist genügend in meiner diesbezüglichen Arbeiten [6] gewürdigt. Es ist mir daher unverständlich, weshalb Forel mit Nachdruck behauptet, Yersin habe schon einen großen Teil meiner Versuche gemacht. — Ich habe nie, wie Forel angiebt, Apäthy die Entdeckung der Neurofibrillen zuge- schrieben. Dass Apäthy aber die größten Verdienste in der Fibrillenfrage zukommen, wird hoffentlich auch Forel nicht bestreiten wollen. 138 196 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. Psychologie kann immer nur spekulativ sein. Wenn es eine Wissen- schaft giebt, die exakte Psychologie oder Psychophysiologie genannt wird, so ist dies ein Missbrauch des Wortes Psyche. Was hier exakt behandelt wird, hat nichts mit der Psyche, dem Subjektiven, zu thun, denn als exakt bezeichnet man die Wissenschaften, welche sich messen- der und wägender Methoden bedienen; das Subjektive ist aber der- artigen Methoden nicht zugänglich!). Die sogenannte „exakte Psychologie“ ist weiter nichts als ein Spezialzweig der Physiologie. Wenn dies in der gemeinsamen Publi- kation nicht ausgesprochen wurde, so geschah es zum Teil aus prak- tischer Höflichkeit. Ich halte es aber der Klarheit wegen für ange- bracht, die Höflichkeit fallen zu lassen. — Dualist braucht man bei diesem Standpunkt noch lange nicht zu sein, wenngleich ich dies Wort gar nicht für ein so schlimmes Schimpfwort ansehe, für das es manche halten. Ich finde es nur müßig, über den Zusammenhang der objektiven und subjektiven Erscheinungswelt nachzudenken, so lange auch nicht die geringste Möglichkeit ersichtlich ist, eine Brücke zwischen beiden zu konstruieren. Vorläufig halte ich es für praktisch, das Subjektive lediglich als Mittel zu betrachten, dasObjektive und Messbarerscheinende zu untersuchen. Was wollen wir denn überhaupt? Zunächst doch nur alle Er- scheinungen der Welt möglichst genau kennen lernen. Dazu ist es nötig, einfache Voraussetzungen zu machen und vom Wege der klaren Beschreibung, der simplen Konstatierung nach Kräften nicht abzu- weichen. Dem Physiker fällt es nicht ein, die Pendelschwingungen von einer Pendelseele abzuleiten. Er konstatiert die Gesetzmäßigkeit und sucht die Zusammengehörigkeit mit anderen Erscheinungen. Von diesem Prinzip der Einfachheit sollen wir nun da abweichen, wo es sich um Materie in lebender Form handelt, nur weil der Beobachter, das Subjekt, sich diesem Objektiven verwandt fühlt? In einer Wissenschaft, welche das Objektive untersucht, hat die Frage nach dem Subjektiven keinen Platz! Das ist kein Zurückgreifen auf eine alte philosophische Ansicht, wie Forel zu meinen scheint, son- dern eine neue, außerordentlich einfache Erkenntnis, zu der man sich aber erst hindurcharbeiten muss, weil unser naives Gefühl ihr wider- streitet. Ebensowenig wie jemand von heute auf morgen vom frommen Christen zum absoluten Zweifler wird, ebenso wird niemandem in einer halben Stunde klar werden, dass Physiologie und Psychologie zur Zeit und wohl für immer unvereinbar sind. 4) Wenn Forel mehrfach uns gegenüber behauptet, nur die Mathematik sei exakt, so wendet er das Wort exakt in einem ganz eigentümlichen Sinne an, bei dessen Zugrundelegung übrigens’auch die Mathematik nur sehr teilweise exakt ist. Was er meint, wissen wir ganz gut selber. Er traut uns etwas zu viel Unbildung zu. Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 197 Auch auf eine Anzahl anderer Punkte, die Forel berührt hat, brauche ich hier nicht einzugehen, weil ich sie bereits (in der ihm be- kannten) Antwort auf Wasmann’s Entgegnung abgemacht habe. So habe ich z. B. dort bereits zugegeben, dass ich eine willkürliche Ueber- treibung beging, als ich vom Gehen- und Fressenlernen der höheren Tiere im Gegensatz zur Fähigkeit der Ameisen, gleich bei der Geburt gehen zu können, sprach. Dass es bei diesem Gegensatz nicht allein oder auch nur in der Hauptsache auf die Ausbildung des Nerven- systemes ankommt, mit der ein Tier geboren wird (wie Forel meint), sondern auch auf andere Dinge, das soll hier nur kurz Forel gegen- über angedeutet sein. Forel reklamiert mir gegenüber die Entdeckung der Polarisation der Ameisenspur. (Meine Bezeichnung Polarisation findet er sehr über- flüssig. Nach meiner Meinung giebt sie ganz den Thatbestand wieder; doch das ist Nebensache.) Er veröffentlichte nämlich im Jahre 1886 folgenden Versuch: Er nahm von einer Ameisenstraße (Formica pra- tensis), welche zu einer Blattlauskolonie auf einen Strauch führte, heimkehrende Tiere auf und setzte sie ungefähr einen Meter von der Aufhebestelle entfernt auf die Straße zurück. Sie schlugen dann immer den richtigen Weg, nämlich heimwärts, ein. Forel schließt hieraus ganz richtig, dass die Ameisen „unterscheiden“ können, in welcher Richtung es zum Nest geht und in welcher Richtung die Peripherie liegt. Die nächstliegende Erklärung, dass die Tiere der Fährte folgen, lässt er fallen, weil ebensoviel Spuren hin wie zurück gehen und weil der einfachen Spur nicht anzumerken sein könne, in welcher Richtung sie führe. Er stellt daher folgende Hypothese auf: Die Ameisen nehmen mit ihren Fühlern den Geruch der Umgebung nicht wie wir diffus, sondern lokalisiert wahr. Sie empfangen beim Betrillern des Weges ein Geruchsbild, indem sie rechts und links, hinten und vorn, unterscheiden. Diese Geruchsbilder behalten sie im Gedächtnis und orientieren sich nach ihnen auf allen Wegen, die sie begangen haben. Forel’s Versuch war mir bekannt und ist auf S.52 meiner Arbeit erwähnt. Eine Polarisation in meinem Sinne geht daraus nicht ganz klar hervor, aber ich gestehe die große Bedeutung des Versuches gerne zu und bedaure nur, dass Forel die Sache nicht experimentell weiter untersucht hat, sonst würde er gefunden haben, dass seine Hypothese höchst unbefriedigend ist. Es ist nämlich gänzlich unnötig, dass die Ameise einen Weg schon begangen hat, um sich auf ihm zu „orientieren“. 1. Ist ein neuer Vorrat durch ein Tier gefunden, so betreten andere Ameisen selbständig die neue Fährte und verfolgen sie ohne zu zaudern. 2. Man unterbricht eine scharf begrenzte Ameisenstraße durch ein Hindernis (z. B. einen Stein) und sperrt vorher einige heimkehrende und einige ausgehende 198 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. Ameisen in eine Schachtel. Wenn der neue Weg durch das ganz „un- bekannte“ Gebiet eingelaufen ist, setzt man die eingesperrten Tiere auf den neuen Weg zurück. Sie schlagen nach einigem Betrillern des Weges immer die richtige Richtung ein. Aus derartigen Beispielen, die ich verzehnfachen könnte, zusammen mit den bereits von mir mitgeteilten Versuchen geht mit Sicherheit hervor, dass es sich um eine ganz elementare Reaktion auf die Fuß- spuren des betreffenden Ameisenvolkes handelt und nicht um einen „Erinnerungsprozess“ oder die Rückverfolgung der eigenen Spur. Die Spur kann nun nur dadurch orientierend wirken, dass sie polarisiert ist, d. h. die Spur muss in der einen Richtung qualitativ oder quantitativ anders sein als in der anderen. Polarisiert ist z. B. die Fußspur eines Menschen und so sieht man deutlich, dass in beistehender Abbildung der Mensch mit den karierten Fußsohlen in der Richtung des dicken Pfeils gegangen ist. Dies sei die Richtung seines Hauses. Führt eine Spur desselben Menschen in umgekehrter Richtung, so ist bei gleicher Fußbekleidung nicht mehr aus der Spur zu sehen, wo es zu seinem Hause hingeht. Hat er aber mit seinen Freunden verab- redet, beim Wege nach Hause immer karierte Sohlen, beim Wege von Hause fort einfach gestreifte Sohlen zu tragen, so können sie immer, wo sie auch auf seine Spur treffen, leicht den Weg zu seinem Hause finden. Aus diesem etwas trivialen Beispiel, zu dem ich leider habe greifen müssen, um allseitig verstanden zu werden, geht unmittelbar hervor, dass es für die Ameisen unmöglich wäre, den Weg nach Hause und von Hause fort immer mit Sicherheit zu finden, wenn sie nur eine polarisierte (in diesem Fall chemische) Spur zurückließen. (Es wäre höchstens noch an ein Intensitätsgefälle zu denken, das ich aber aus anderen Gründen für ausgeschlossen halte.) — In einem Fall habe ich nun vor Abfassung meiner ersten Arbeit die räumliche Trennung beider Spuren beobachten können. Diese Beobachtung nennt Forel „oberflächlich“. Was ihm die Berechtigung zu dieser Bezeichnung ge- geben hat, weißich nicht. Ich kann ihm dagegen nur versichern, dass sie sorgfältig ist. Zuweilen habe ich gesehen, dass beilangen Ameisen- straßen diese räumliche Trennung auf kurze Strecken gar nichts sehr seltenes ist. Man trifft Strecken von 1—1!/, cm, auf denen die kommen- den Tiere nur auf der einen, die gehenden nur auf der anderen Seite Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 199 der Straße marschieren. Später konfluieren beide Wege wieder. — Es scheint mir jetzt auch ein Mittel gefunden, willkürlich beide Wege voneinander zu trennen, und ich werde im nächsten Sommer ausgiebige Versuche nach dieser Richtung hin anstellen. Wenn bei Polyergus- raubzügen die ganze Truppe auf dem einseitig polarisierten Wege zurückfindet, so widerspricht das nicht den Versuchen an Lasiusarten. Wenn Forel dies gegen die doppelte Polarisation ins Feld führt, so verallgemeinert er in noch ungerechtfertigterer Weise als ich es gethan. Da eine schwache Hinspur bei Lasius als Rückspur dienen kann, so ist es sehr wohl möglich, dass bei Polyergus im Zustande der Raub- zugserregung auch die starke Hinspur als Rückspur dienen kann. Ich hoffe, dass Forel nach eingehender Ueberlegung der Verhältnisse sich davon überzeugen wird, dass meine Versuche nicht eine Bestätigung seiner Hypothese sind und dass meine Behauptung, es existiere eine doppelte, polarisierteSpur, nichts mystischesan sich hat, sondern nur ein Ausdruck für die Thatsachen ist. Möglich wäre, dass bei anderen Ameisenarten als den von mir unter- suchten noch andere Mittel der Wegfindung zu diesem einen hinzu- kommen. Ich mussesMyrmicologen überlassen, dies zu untersuchen, möchte aber vorschlagen, den Drehbrückenversuch dabei nie zu unter- lassen. Unklar ist mir, warum Forel bei einer Anzahl von alten Versuchen, die ich wiederholt habe und in konsequenterer Weise durchgeführt habe, als dies bisher der Fall war (z.B. Fortwischen der chemischen Spuren bei Ameisen, Verstellen des Bienenstockes u. s. w., Experimente, die ich wesentlich ins Detail verfolgt habe), immer mit Emphase behauptet, sie seien alt. Ich habe nirgends von diesen Versuchen gesagt, sie seien an sich neu, mehrfach sogar ausdrücklich erwähnt, dass es sich um alte Erfahrungen handelt. Ich gehe nun zu den Bienen über und habe mich hier in der Hauptsache mit v. Buttel-Reepen zu befassen. v. Buttel-Reepen ist wie ich der Ansicht, dass eine bestimmte Mischung flüchtiger chemischer Stoffe den Bewohnern eines Bienen- stockes (Neststoff) gemeinsam ist und dass das Fehlen dieses spezifischen Stoffes bei Nestfremden die feindliche Reaktion gegen dieselben in der Hauptsache auslöst. Sein eingehendes Studium des Bienenlebens giebt ihm die Möglichkeit, die verschiedenen Anteile des Gesamtkomplexes „Neststoff“ näher zu analysieren. Ich bin mit seinen Ausführungen in diesem Punkt sehr einverstanden, denn ich bin nie, wie er meint, der _ Ansicht gewesen, dass der Neststoff ein einheitlicher und einfacher chemischer Körper sei. Dass die Königin ebenfalls einen erheblichen Anteil abgiebt, habe ich nie in Zweifel gezogen. Ich glaube aber kaum, dass hierbei das spezifisch Individuelle der Königin in erster Linie in Betracht kommt, sondern nur oder wenigstens in der Haupt- 200 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. sache das allgemein weibliche ihrer Ausdünstung. Jeder mit gutem Geruchssinn begabte Mensch wird mit Leichtigkeit im stande sein, einen Mann von einer Frau dem Geruch nach zu unterscheiden. Wenn die Sekrete des Geschlechtsapparates in den Bereich der Nase kommen, so kann es sogar jeder, der nicht gerade das Geruchsvermögen völlig verloren hat. Diese allgemeinen Unterschiede sind sehr bedeutend und hinter ihnen treten die individuellen Unterschiede — zwischen Personen desselben Geschlechtes — ganz erheblich zurück. Es ist kein Grund vorhanden, anzunehmen, dass dies bei Bienen anders ist. Daher wird das Individuelle der Königin gegenüber dem ziemlich gleichartig Indi- viduellen der tausende von übrigen Bewohnern ganz zurücktreten und nur ihr allgemein weiblicher (K. gegenüber D. u. A.) Charakter aus- schlaggebend hervortreten. Auf das Vorhandensein des allgemein weiblichen Charakters in der Zusammensetzung des Neststoffes sind die Arbeiterinnen, wie ich meine ab ovo, angepasst, fehlt es im Bienen- stock (durch Fortnehmen der Königin), so werden sie unruhig. Sehr instruktiv ist hierfür der Befund Buttel’s, dass die zerquetschte, tote Königin noch genug Königinnenstoff abgiebt, um die Weiselunruhe am Ausbruch zu verhindern. Wenn ich nicht auf die Verhältnisse der Weisellosigkeit, des Schwärmens u. 8. w. eingegangen bin (worüber sich B. wundert), so liegt das daran, dass ich gar nicht beabsichtigte, alle Fragen des Bienenlebens zu behandeln. Die Beispiele, welche B. bei dieser Gelegenheit für das Modifikationsvermögen der Bienen anführt, halte ich allerdings für sehr wenig beweisend. Geradezu komisch finde ich es, die Erhöhung der feindlichen Reaktion gegen Eindringlinge durch aufregende Mittel als Modifikation im psychischen Sinne aufzufassen. In einem anderen Kapitel, „Mitteillungsvermögen der Bienen“ über- schrieben, spricht v. Buttel die Meinung aus, dass die Bienen sich durch eine „Lautsprache“ zu verständigen im stande seien. Dass die Bienen verschiedenartige Geräusche je nach dem Zustande des Stockes hervorbringen und dass besonders die Königin charakteristische Laute von sich giebt, ist ja an sich eine alte Thatsache, und sie wird viel- fach von den Imkern ausgenutzt, um sich von den Zuständen im Stock ohne Ocularinspektion zu unterrichten. Hieraus geht nun aber noch nicht hervor, dass diese Geräusche, die wir vernehmen, auf die Bienen selber von Einfluss sind. Mehr oder weniger setzt jede Be- wegung fester Körper und besonders jede rythmische Bewegung die Luft in schwingende Bewegung, d. h. es entstehen Schallwellen. So entstehen durch die schwingenden Bewegungen der Flügel, welche die Bienen beim Fliegen und häufig auch beim Sitzen ausführen, „Töne“ von verschiedener Höhe. Ebensowenig wie die Geräusche unserer Herzbewegung und unserer Atmung, die ja auch in verschie- denen Zuständen des Körpers verschieden sind, den Zweck haben, von Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 201 anderen „gehört“ zu werden, ebensowenig ist das notwendigerweise bei den Bienengeräuschen der Fall. Es kann sich um rein accessorische Geräusche handeln. Auch das beweist noch nichts, dass z.B. der Ton der Weiselunruhe und die Weiselunruhe selbst sehr schnell auch an den entferntesten Stellen des Stockes verschwindet, wenn die Königin zurückgesetzt wird, und umgekehrt die Weiselunruhe sich schnell von Individuum zu Individuum ausbreitet. Es ist kein zwingender Schluss, dass das Aufhören des „Heulens“ in der Nähe der Königin von den entfernteren recipiert worden ist und sie zum Einstellen der Unruhe veranlasst hat, sondern die Ursache, der auslösende Reiz, kann eine andere sein. Ein Beispiel wird dies klarer zeigen: Man nehme an, das Herz des Menschen schlüge so laut, dass es deutlich hörbar sei. Es ist eine Truppenvorstellung. Der General fängt an einem Ende an, die Front abzuschreiten. Ein Beobachter, der blind sein möge, hört hier die Herzen schneller schlagen. Die beschleunigte Herzaktion breitet sich von Mann zu Mann über die ganze Front aus und der Beobachter zieht nun den gewiss nicht richtigen Schluss, dass ein Soldat immer den vermehrten Herzschlag der anderen gehört und nun auch vermehrte Herzaktion bekommen habe. Ich habe die Vorstellung, dass alle Geräusche der Bienen acces- sorischer Natur seien, mit vielen bewährten Imkern geteilt, aus dem Grunde, weil es bisher niemand unzweideutig gelungen war, die Bienen auf künstlich erzeugte Geräusche hin reagieren zu sehen. Wenn dies einmal gelingen sollte (die Arbeit Weld’s beweist doch für Bienen nichts, da sie an Ameisen gemacht ist), dann kann man der Frage näher treten. Es würde sich aber dann jedenfalls wohl nur um ein ganz elementares Reaktionsvermögen auf Schallbewegungen handeln, das meinen früher geäußerten Anschauungen jedenfalls nicht prinzipiell widerspräche, und nicht, wie v. Buttel möchte, um ein „Mitteilungs- vermögen“. Er treibt da mit diesem Wort einen entschiedenen Miss- brauch, den ich bereits in meiner Entgegnung [3] auf Wasmann’s Angriff — wie ich leider sehen muss, vergebens — bekämpft habe. v. Buttel bezeichnet selber auf Seite 27 den Vorgang der Ueber- tragung sehr viel richtiger als „Ansteckung“. Einen Beweis gegen meine Ableugnung des Mitteilungsvermögens der Bienen kann ich also in diesen schr interessanten Versuchen v. Buttel’s nicht erblicken. Ich komme nun zur Heimkehrfähigkeit der Bienen, dem Punkt, der Forel, wie v. Buttel am meisten Gelegenheit gegeben hat, Spitz- findigkeiten gegen mich ins Feld zu führen und mir eine Menge kleiner Einwände!) zu machen, die wohl einem Studenten gegenüber ange- 1) Da ich nicht Berufsimker bin, so sind mir einige Fehler unter- gelaufen, die ein guter Kenner der Litteratur und alter Bienenbeobachter vielleicht vermieden hätte. Ich habe schon an anderer Stelle hervor- gehoben, dass ich mir schmeichle, dafür andere Qualitäten zur Bearbeitung 202 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. bracht wären, aber nicht gegenüber einem Menschen, der in einer Reihe experimenteller Arbeiten gelernt hat, wenigstens die nächstliegenden Vorsichtsmaßregeln bei seinen Versuchen und Schlüssen zu treffen. Es wäre zweckmäßiger gewesen, statt dessen meine Versuche nachzu- machen und neue anzustellen. Sehr merkwürdig sind die Vorstellungen, welche sich meine Gegner von der „unbekannten Kraft“ machen, welche nach meiner Meinung die Bienen zum Stock zurückleitet. Sie haben mich anscheinend so verstanden, als solle es sich um eine Kraft handeln, welche die Bienen ganz physikalisch zum Stock oder dem Aufflugsort zurückziehe. Auf diese Idee sind sie dadurch gekommen, dass ich den Vergleich mit dem Magneten ziehe. Dass ich hierbei aber nur einen äußerlichen Ver- gleich ziehe und über die Aehnlichkeit des Vorganges nichts sagen wollte, konnten sie daraus ersehen, dass ich ihn auch für die Ameisen gebrauchte, wo doch die wirkende Kraft eine ganz bekannte ist, näm- lich die chemische Energie der Fährte. Auch bei den Bienen habe ich mir gedacht, dass die „unbekannte Kraft“ nur als Reiz wirkt und durch das Nervensystem auf die Bewegungen beeinflussend, riechtend, wirkt. Nie hätte ich geglaubt, hierin missverstanden werden zu können. (Uebrigens ist auch der Magnetvergleich von mehreren Au- toren in Bezug auf die Tropismen gebraucht worden.) So sehen denn v.B. und FF. bei mir einen Hang zum Mysticismus, weil ich nach Aus- schließung aller bekannten Reize, die ein Tier zur Heimat zurück- führen können, den Schluss ziehe, es handle sich um ein uns unbe- kanntes Agens. Ich sehe darin nichts Unerlaubtes, nichts Unwissen- schaftliches, nichts Mystisches, denn auf Grund ähnlicher Ausschließungs- verfahren ist man in der Physik zur Feststellung des Galvanismus, in der Chemie zur Entdeckung neuer Körper und neuer Elemente gelangt. Es ist aber gewiss nicht ausgemacht, dass wir schon alle Reize kennen, die auf ein Tier einwirken können. Der Satz Weismann’s, man solle keine neuen Kräfte annehmen, wo man mit den alten auskommt, ist der vorliegenden Fragen mitgebracht zu haben, die den meisten früheren Au- toren fehlten. Im übrigen beziehen sich diese Fehler ausschließlich auf Kleinigkeiten, die ganz irrelevant sind. So habe ich z. B. aus der Rich- tung der Bienenstraßen gar keine Schlüsse von irgendwelcher Tragweite gezogen. Bemerken muss ich dabei, dass zwei größere elsässische Bienen- züchter, sowie ein Imker aus der Lüneburger Haide mir übereinstimmend an- gaben, dass es vorteilhaft sei, die Bienenstöcke nach Süden oder Osten zu richten und dass die meisten Bienenstraßen zunächst in dieser Richtung gingen. Wenn v. B. bestreitet, dass die Bienenstraßen Schwankungen im Winkel des Aufsteigens unterworfen sind, so muss ich dem widersprechen. Ich habe diese Schwankungen des Winkels wieder verschiedentlich beobachtet, will aber nicht mehr mit Bestimmtheit angeben, wie mir dies von einem der oben erwähnten, erfahrenen Imker als bekannte Thatsache hingestellt wurde, dass der Winkel von der Witterung abhängig sei. Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. - 203 gewiss durchaus anerkennenswert, aber in diesem Fall schien es mir eben, dass wir mit den alten nicht auskommen können. v. Buttel und Forel sind anderer Ansicht; sie halten andere Reize nicht für ausgeschlossen, beschuldigen vielmehr den photischen Reiz als den- jenigen, der im Verein mit einem „Erinnerungsvermögen“ die Tiere zum Stock zurückführt. Sie leugnen die negative Beweiskraft meiner Versuche (ohne sie wiederholt zu haben), behaupten, dass sie gerade das Gegenteil beweisen, und stützen sich auf einige ältere Beobach- tungen, die teilweise nichtssagend sind, teilweise anders ausgelegt werden können und schon anders ausgelegt worden sind. Nach Forel ist die Frage dadurch erledigt, dass Bienen mit ge- schwärzten Corneae nicht nach Hause fliegen, sondern senkrecht in die Luft aufsteigen. Sie fliegen nicht nach Hause, weil sie nicht ihre Augen gebrauchen können und weil sie den Weg nach Hause mit den Augen finden. Ersteren Schluss ziehe ich auch, letzteren nicht. Ich sagte, das Licht sei der Reiz zum Fliegen und reguliere das Fliegen, deshalb flögen sie nicht nach Hause, wenn die Augen geschwärzt sind. Ich verstehe hier unter „regulieren“, dass das Auge die Vermeidung von Hindernissen vermittelt, den Flug bald vorwärts, bald seitwärts, bald nach oben, bald nach unten richtet. Diesem Zweck dient es in sehr hohem Maße bei vielen photorecipierenden Tieren. — Die Wirkung der Blendung ist bei den verschiedenen Tieren verschieden. Der Mensch streckt die Hände vor, wenn ihm ein Tuch vor die Augen gebunden wird, der Hund weigert sich, den Platz zu verlassen (wenigstens zu- erst), die Biene fliegt in die Höhe. Einen Schluss auf die Verwertung des Organs beim Wegfinden lassen derartige Blendungsreaktionen nicht zu, besonders deswegen nicht, weil sie in ganz gleicher Weise auch bei Tieren auftreten, die überhaupt keine Heimkehrfähigkeiten besitzen, weil sie kein Heim haben. So steigen z. B. auch die Libellen gerade in dieHöhe, wenn ihre Augen geschwärzt sind. Ich kann also Forel nicht zugeben, dass dies Experiment auch nur das Geringste dafür beweist, dass das Auge die Bienen zum Stock zurückführt. Ich habe meine Behauptung, dass das Heimfinden der Bienen nicht auf Remanenz optischer Bilder beruhen kann, dass vielmehr ein anderer Reiz als der Lichtreiz als Leiter oder wenigstens als haupt- sächlicher Leiter angenommen werden muss, auf folgende Punkte ge- stützt: 1. Die Bienen kehren zu derStelle im Raum zurück, wo sich der Stock (resp. dasFlugloch) vorher befand. Verrückt man den Bienenstock in der Richtung des normalen Abflugs nach rückwärts (oder auch ohne Drehung seitwärts) um 1—2 m, so dass er deutlich sichtbar wie zuvor dasteht, so gehen die Bienen nicht in den Stock, sondern kreisen um die Stelle, an der sich früher das Flugloch befand. ‚Der Versuch fand statt auf einem gleichmäßig grünen 204 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. Rasenplatz von 8 m Breite und 23 m Länge. Der Platz war einge- fasst von zwei Reihen sehr gleichartig aussehender Platanen. Das einzig auffallende auf dem Platz war der Tisch mit dem hellgelben Bienenkasten. Unter einer der Platanen befand sich im Schatten ein zweiter Bienenstock von ganz anderem Aussehen. Von besonderen optischen Lokalzeichen war aber keine Rede. Das einzige Hervor- leuchtende, der Bienenkasten mit Tisch, wurde verschoben, trotzdem gingen die Bienen nicht hinein. Forel sagt: Die Bienen „sehen“ den Stock sehr wohl, gehen aber nicht hinein, weil ihre Aufmerksamkeit ausgefüllt ist mit der Erinnerung des Ortes, wo der Stock vorher war. Wo sind die optischen Anhaltspunkte? Wenn diese „Ortserinnerung“ so stark ist, warum legen die Bienen dann so wenig Wert auf das Aussehen ihrer Behausung? Setzt man nämlich bei dem Versuch (dass dies im Prinzip alt ist, weiß ich selber), nachdem sich viele Bienen in der Luft angesammelt haben, eine ganz anders aussehende Kiste, die ein Loch hat, an die Stelle, wo der Stock gestanden, so gehen die Bienen sofort hinein. Noch mehr! Einmal hielt ich den Bienen einen Kistendeckel hin, der an Fläche neunmal so groß war wie der Bienen- stock und ein Loch mit horizontalen Brettehen an jeder Seite besaß, und auch hier schlüpften sie zu hunderten hinein, um sich auf dem Brettehen der anderen Seite niederzulassen. Von dort flogen sie häufig wieder auf, um nach vorne zu fliegen und wieder ins Loch zu gehen. Diese Beobachtung enthält zum Teil schon meine zweite Stütze: 2. Es ist für dieHeimkehr der Bienen gleichgültig, ob sich das Aussehen des Stockes und seiner näheren und ferneren Umgebung verändert hat oder nicht. Ich habe einen Stock, der auf einem Tisch stand, mitsamt dem Tisch ganz mit grünen Zweigen bedeckt und die Vorderwand, die vorher braun war, blau verkleidet. Nur das Flugloch blieb frei. Vor dem sonst aus Bäumen gebildeten Hintergrund wurde ein Schirm von mehr als 13 qm Fläche aus weißen und gelben geblümten Tüchern aufgestellt. Die Bienen flogen ohne Zaudern geradlinig wie sonst ins Flugloch. Stockungen traten nur ein, wenn sich die Bekleidung des Stockes bewegte oder grelle Farben’) (rot, weiß) in der Nähe angebracht waren (und nicht immer, wie Forel referiert). (v. Buttel behauptet, jede Veränderung am Stock rufe Stockung des Anfluges hervor. Ich bestreite die Notwendig- keit auf Grund mehrfacher genauer Beobachtungen.) Es kommt hier nur darauf an, dass der Anflug bei Maskierung normal sein kann! 1) Dass die Farbe von Einfluss ist und dass besonders grelles Licht (reflektierender Spiegel) die Tiere irritiert, wird Forel erst dann leugnen dürfen, wenn er Versuche am Stock ausgeführt hat. Dass Bienen draußen auch von grellbeschienenen weißen und roten Flächen ausgelegten Honig nehmen, habe ich selber gesehen und nie bestritten; das hat aber hiermit gar nichts zu thun. Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 905 Wenn das Auge für das Heimfinden das malsgebende wäre, so müsste es entweder auf den Zustand des Stockes selber (dass er äußer- lich unverändert ist) oder auf den Zustand der näheren Umgebung ankommen. Da man beides verändern kann, und die Bienen doch auf das relativ sehr kleine Flugloch zusteuern, so kann es nach mensch- lichem Schlussvermögen nicht das Auge sein, das beim Heimfinden leitet. Jedem, der unbefangen an die Sache herantritt, muss es sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass der so genau gerichtete Anflug von der unveränderten Lage vieler Meter weit entfernter Punkte abhängig ist, denn die Bienen würden dann mit einer Genauigkeit den alten Ort aus der relativen Lage weit entfernter Punkte bestimmen, die uns nur mit der Hilfe trigonometrischer Berechnung möglich ist. Ich halte an der Beweiskraft des Maskierungsversuches fest. Wer sie auf Grund gelegentlicher Beobachtungen, die zum Teil von metho- disch gänzlich ungeschulten Leuten herstammen, leugnet, begeht einen wissenschaftlichen Fehler. Irgendwo mussdoch dasvonLubbock,Forel und v. Buttel-Reepen supponierte Vermögen der Bienen, die Lage des Eingangs zum Bienenstock aus der relativen Lage zu Punkten der Um- sebung zu bestimmen, eine Grenze haben. Wenn sie meinen, dass die Veränderung der Umgebung in der von mir ausgeführten Weise nicht genügt, so sollen sie sie weiter treiben!) und beweisen, dass schließlich die Bienen nicht mehr in den maskierten Stock mit weithin maskierter Umgebung hineinfinden. Ich werde mich dann gerne beugen. So mutet mich ihre Deduktion wie ein Versteckspielen mit den That- sachen an. Wie die Maskierung die Bienen nicht irritiert, so zeigen sie sich auch nicht beunruhigt, wenn man sehr bedeutende, gewohnte Lokal- zeichen fortnimmt. Das Eklatanteste, was ich in dieser Beziehung ge- sehen habe, ist der bereits auf Seite 85 und 86 meiner Arbeit [2] be- schriebene Versuch, bei welchem eine 7 m hohe, direkt vor dem Bienenhäuschen stehende Platane fortgehauen wurde, ohne dass die heimkehrenden Bienen sich irgendwie irritiert zeigten?). Forel be- 4) Man sollte einen Bienenstock auf einer großen gleichförmigen Fläche oder etwa 100 m vom Lande in einem größeren Landsee aufstellen, also an einem Ort, der auch gar keine Lokalzeichen außer dem Stock hat, und ihn mit Umgebung dann maskieren. Ich glaube nicht, dass sich die Bienen dann irri- tieren lassen. Noch besser würde es vielleicht sein, dauernd große Lokal- zeichen aufzustellen und diese eines Tages samt der Maske des Stockes fort- zunehmen, 2) Ich beschrieb, dass die heimkehrenden Bienen sofort durch den nach Fällung des Baumes entstandenen freien Raum hindurchflogen, während die Ausfliegenden nach wie vor am Häuschen direkt in die Höhe stiegen. v. Buttel glaubt annehmen zu dürfen, dass die heimkehrenden Bienen vor der Fällung unter der Krone des Baumes durchgeflogen seien, dass ich sie nur nicht be- merkt hätte; es sei diese Art des Anfluges sehr häufig, wenn kein weiteres 206 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. merkt hierzu, dass die Bienen „ohne Zweifel“ das Verschwinden der Platane bemerkt hätten, dass ihnen diese Platane aber vollkommen gleichgültig gewesen sei, dass sie keine Zeit zu verlieren hätten und deshalb direkt hineingegangen seien. Dies sagt er auf derselben Seite, wo er schreibt, dass die Bienen den fortgerückten Bienenstock wohl sähen, aber durch seine falsche Stellung präoceupiert seien und deshalb nicht hineingingen. Merkwürdig, dass sie dort so viel Zeit zu verlieren hatten und durch das Verschwinden der klotzig großen Platane sich nicht im geringsten präoceupieren ließen! Sehr, sehr merkwürdig! Der dritte Punkt, auf den ich mich stützte, war folgender: Bienen finden aus „unbekannter“ Gegend ebensogut heim wie aus bekannter. Ich habe nämlich angenommen, dass das Innere einer größeren und fast baumlosen Stadt den Bienen unbekannt sei. Dies bestreitet von Buttel-Reepen auf S. 33 seiner Schrift, indem er an- giebt, dass die Bienen in den Städten auch an Zuckerwaren, an dem süßen Eingemachten der Hausfrauen u. s. w. naschen, besonders zur Zeit, wo es auf den Wiesen keine Tracht gäbe; außerdem orientierten sich die Bienen beim Orientierungsausflug „naturgemäß“ nach allen Seiten!). Auf der Seite vorher führt er dagegen die Lage meines Bienenstandes im Süden der Stadt Straßburg dafür an, dass meine Flughindernis da sei, und nach meiner Beschreibung müsse man den Mangel eines solchen annehmen. (Auf Seite 61 nimmt v. Buttel aber selber das Vor- handensein anderer Flughindernisse als unzweifelhaft an!) Ich habe dazu zu bemerken: 1. Aus keiner Stelle meiner Beschreibung geht hervor, dass keine anderen Flughindernisse vorhanden waren. Thatsächlich schließen sich an die eine Platane eine Reihe anderer an. 2. Ich habe natürlich vor Fällung des Baumes den An- und Abflug genauestens und lange beobachtet. Die heim- kehrenden Bienen kamen alle zwischen Baum und Häuschen herunter. 3. Nach Fällung des Baumes flogen die kommenden Bienen durch den Raum, der vorher von der überaus dichten Krone des Baumes eingenommen wurde, nicht flach am Boden. Damit fallen alle Einwände v. Buttel’s, bis auf den einen, dass die Fortdauer des Unterschiedes im An- und Abflug wohl anders aufzufassen ist, als ich angenommen habe; denn er versichert, dass die Sommerbienen höchstens 6—7 Wochen leben. Es ist dies übrigens von keiner wesentlichen Bedeutung. Die Hauptsache ist, dass die Bienen durch diese ganz enorme Veränderung nicht irritiert wurden. Das hat er ja auch in einem analogen Versuch gesehen. Aber natürlich: Er beweist nichts gegen seine Anschauung, dass das Auge die Bienen zum Stock zurückleitet. Bei seinem Versuch durch- flogen die Bienen nicht (oder nur wenige) den nach Fällung des Baumes frei- gewordenen Raum, sondern der Flug blieb gabelförmig. Ist nicht auch gerade dies ein Beweis gegen seine Anschauung? Für ein Tier, das durch einen „Gesichtssinn“ geleitet wird, wäre es nach Fall eines Hindernisses, besonders für ein fliegendes Tier, natürlich, den kürzeren Weg durch den freigewordenen Raum zu benutzen, wenn das Ziel so gut vor Augen liegt. Nicht wahr? 4) Das ist durchaus nicht „naturgemäß“, sondern in der Allgemeinheit unrichtig. Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 207 Bienen nach Süden und Osten flogen!), weil im Norden „nichts für seine“ (meine) „Bienen zu holen war“. Wie reimt sich das zusammen? Es wird hier wie mehrmals in den Arbeiten von v. Buttel derselbe Grund, das eine Mal für diese, das andere Mal für die entgegen- gesetzte Ansicht ins Feld geführt. Thatsächlich ist es ja richtig, dass einzelne Bienen auch die Stadt besuchen, besonders im Herbst; meine Versuche wurden aber zum großen Teil im Frühjahr ausgeführt, zu einer Zeit, wo die Wiesen und Gärten reichlich Tracht boten. Nun folgen die Bienen, die auf Tracht ausgehen, wie mir ziemlich sicher zu sein scheint, und wie mir auch ein ausgezeichneter und vor- urteilsfreier Beobachter des Bienenlebens, Herr Ferd. Dickel in Darmstadt (Redakteur der Bienenzeitung) schreibt, chemischen Reizen, d. h. sie fliegen dorthin, von wo die stärksten Reize kommen. So lange die Wiesen nicht geschnitten sind und viele Bäume blühen, fällt es den Bienen nicht ein, sich in der Stadt zu „orientieren“; die Reize, die von dort ausgehen, sind zu gering. Erst in den Zeiten schlechter Tracht kommen die aus der Stadt kommenden Reize in Be- tracht, erst dann findet man auch dort häufiger Bienen bei Zucker- bäckern u. s. w. Jedenfalls ist aber dies auch immer nur ein kleiner Prozentsatz, denn ich habe bei sorgfäliiger Beobachtung des Abfluges meiner Bienen zur Zeit schlechter Tracht immer den weitaus größten Teil nicht der Stadt zufliegen sehen. Jedenfalls wird auch v.Buttel mir zugeben, dass nicht jeder Biene jede Straße und jeder Hof in der Stadt „bekannt“ ist. Ich habe nun angegeben, dass fast immer bei Beobachtung der in Straßen und auf Höfen freigelassenen Bienen be- obaehtet werden konnte, dass sie die richtige Richtung zum Bienen- stande einschlugen, sehr häufig eher, als sie den Rand der Dächer erreichten. v. Buttel schiebt dies letztere Ergebnis darauf, dass der Bienenstand im Süden der Stadt lag. Die Bienen fliegen bekanntlich in einem ungleich erhellten Raum immer dem Licht zu, z. B. in einem Zimmer immer ans Fenster. (Ich habe selber oft davon Gebrauch gemacht, um die mit dem Netz vor dem Flugbrett eingefangenen, heim- kehrenden Bienen bequem signieren zu können, indem ich sie im Zimmer fliegen ließ und mit der Pinzette vom Fenster abnahm. Der v.Buttel’sche Versuch mit dem Reagenzglas ist alt und schon mehr- fach beschrieben.) Es sei sehr leicht einzusehen, meint v. B., dass die Bienen in der Richtung des Bienenstandes abgeflogen wären, weil dort die Sonne stand. Da mir, wie gesagt, der Heliotropismus der Bienen nicht unbekannt war, so habe ich natürlich meine Abflugplätze so ausgewählt, dass die Bienen, wenn sie sich richtig orientierten, nicht der Stelle der größten Helligkeit zufliegen durften. Außerdem ver- 4) Ich habe schon oben bemerkt, dass ich auch auf anderen Ständen, 2. B. bei einem, der im Norden der Stadt lag, beobachtet habe, dass die Bienen zunächst in südlicher oder östlicher Richtung abflogen. 208 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. bietet es bereits der erste praktische Versuch (den v. Buttel wohl nie angestellt hat), die Bienen so fliegen zu lassen, dass die Sonne in der Richtung des Ziels steht, denn man kann in dem Fall die Bienen nicht beobachten, weil die Sonne zu sehr blendet. Bei allen Versuchen betrug der Winkel zwischen der Sonne und dem Abflug- platz einerseits und dem Ziel und dem Abflugplatz andererseits 50—120°. Trotzdem schlugen die Bienen die richtige Richtung ein. Dieser Einwand v. Buttel’s ist also wohl nicht stichhaltig. Als zweiten Einwand bringt er den, dass die Bienen viel zu spät in meinen Versuchen beim Stock angekommen seien. Wären sie direkt geflogen, so sagt er, dann hätten sie die zu durchfliegenden Strecken in 36, 48 und 78 Sekunden zurücklegen müssen, statt in 1", 4!/, Minuten und noch mehr, da die Biene in der Minute mindestens 500 m fliege!). Nun: Buttel’s Angaben für die Geschwindigkeit der Bienen beruhen auf meist sehr, sehr fragwürdigen Untersuchungen, z. B. den Wettflug zwischen Tauben und Bienen hält er doch wohl hoffentlich selber für ein Märchen. Das Buch von Cowan, der eine Geschwindigkeit von 500 m direkt beobachtet haben soll, habe ich nicht einsehen können, kann also nicht beurteilen, ob diese „direkte Beobachtung“ beweisend ist. Auf die Kenntnis der maximalen Fluggeschwindigkeit kommt es aber nach meiner Meinung gar nicht an. Was die Bienen in der Luft thun, ob sie immer gleich schnell fliegen, inwieweit das Einfangen, die Signierung, der Transport u. s. w. die normale Geschwindigkeit beein- trächtigt, alles das sind Fragen, die nicht entschieden sind und die entschieden sein müssten, damit v.Buttel mit seiner Kritik einsetzen könnte. Hier handelt es sich nur darum, ob Bienen, die ganz gleich behandelt sind, von Orten aus, die als sicher schon mal besucht an- genommen werden können, schneller zum Stock zurückgelangen als von gleich weit entfernten, noch nie oder jedenfalls sehr selten be- suchten. Es hat sich ergeben, dass die Bienen aus der Stadt min- destens ebenso schnell heimkommen, als die von den Wiesen und Gärten aufgelassenen. Und ich meine, dass dieser Befund positiv beweisend ist. Dass es sich hier um einen Vergleich zwischen zwei Größen (sie mögen Unbekannte enthalten soviel sie wollen) handelt, hat v. Buttel entweder nicht verstanden oder nicht verstehen wollen, sonst hätte er nicht diese Einwände gemacht. Ich glaubte und glaube auch heute noch, dass diese Befunde ein Gegengewicht gegen den „bekannten“ Versuch von Romanes bilden. (In meiner Arbeit ist ein Druckfehler unberichtigt geblieben. Es steht 1) Die Verschiedenheiten in den Ankunftszeiten innerhalb ein und des- selben Versuches erklären sich daraus, dass nicht alle Bienen gleichzeitig auf- flogen. Manche flogen erst 1—2 Minuten nach Oeffnung der Schachtel. ‘Es wurde die Zeit immer vom Aufflug der ersten Biene an gerechnet. a Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 209 dort als Angabe für die Arbeit von Roma’nes: Nature 1886, statt 1885. v. Buttel-Reepen druckt auch 1886!) v. Buttel zieht dies in Zweifel. Ich muss also den Versuch von Romanes etwas näher be- leuchten. Sein Bienenstock war in einem Hause an der Seeküste auf- gestellt, „mehrere hundert Meter“ vom Ufer entfernt. Landeinwärts dehnte sich ein großer Blumengarten aus, während den Raum zwischen Haus und See ein Rasenplatz (lawn) einnahm. Romanes ließ nun Bienen von der See (Entfernung nicht jangegeben), der Küste (Ent- fernung nur ungefähr als „several hundred yards“ angegeben), dem „lawn“ in einer Entfernung von 200 Yards (vom Hause) und von ver- schiedenen Punkten des Blumengartens fliegen, von denen einige mehr als 200 Yards (1 Yard = 0,914 m) vom Hause entfernt waren. Nur die Bienen, welche vom Garten ausflogen, kamen heim und zwar oft (also nicht immer!) früher als R. zu Fuß rennend zum Stock zurück- kehren konnte. (Das ist also jedenfalls auch eine Geschwindigkeit von weniger als 500 m in der Minute.) Alle anderen gingen verloren. R. hat also eigentlich keine Konkurrenz zwischen der unbekannten See und dem Blumengarten, sondern zwischen dem „Lawn“ und dem Blumengarten aufgestellt. Dass es auf einem Lawn gar nichts zu finden giebt, muss ich nach eigener Anschauung bestreiten. Auf allen auch gut gehaltenen englischen Lawn’s Nabe ich zu verschiedenen Jahreszeiten Bellis perennis und andere Pflanzen blühend gefunden. Nun sieht man aber aus einer Entfernung von 200 Yards beinahe eine Biene, also erst recht ein englisches Wohnhaus. Wenn sich also die Bienen mit den Augen orientierten (wie v. Buttel meint), gut sähen (wie v. Buttel meint) und ihren Orientierungsflug nach allen Seiten richteten (wie v. Buttel meint), dann sollte man wirklich annehmen, dass sie aus der verschwindend kleinen Entfernung von noch nicht 200 m nach Hause finden müssten, auch wenn sie noch nie an dem betreffenden Platz gewesen sind. Mir ist es unerfindlich, wie man in diesem Versuch einen klaren Beweis für ein „optisches Ortsgedächtnis“ hat sehen können. Ich habe Anfang September dieses Jahres in Portiei bei Neapel Gelegenheit gehabt, unter ähnlichen Bedingungen Versuche anzustellen, zu denen mir Herr Dr. Leonardi die Bienen der R. Sceuola superiore di agrieultura freundlichst zur Verfügung stellte. Die Häuser von Portiei dehnen sich, mit vielen Gärten untermischt, direkt an der Küste des Golfes von Neapel aus. Hinter dem Ort steigt der weithin erkennbare Vesuv auf. DerBienenstand der Agrikulturschule liegt etwa 1200— 1500 m vom Meere entfernt, am Fuße des Vesuvs, vom Ort selber durch einen Weingarten und einen großen Park getrennt und in seiner Lage auf 5—6 km deutlich erkennbar durch eine Anzahl mächtiger und isoliert stehender Pinien. Zur Verwendung kamen nur heimkehrende Tiere (große Italiener). Sie wurden gezeichnet und in gutgelüfteten Schachteln XXU. 14 210 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. bei klarem, ruhigem Wetter auf die See hinaus genommen. Entfernung von der Küste etwa 500 m (vom Stock 1700—2000 m). Vom Augen- blick des Auffliegens an wurde am Stock beobachtet. Es flogen das eine Mal 4 Bienen, das zweite Mal 26. Beidemal kam in °/, Stunden keine zurück. (Nach dem Auffliegen kreisten sie und setzten sich dann zum Teil dem Befreier auf den Hut, gingen aber dann wieder in die Höhe.) Auch am ganzen Tage wurde keine der sehr deutlich und dauerhaft mit Zinnober gezeichneten Bienen am Stock gesehen. Natürlich, die See ist ihnen unbekannt! werden meine Gegner sagen. Und das mächtige Lokalzeichen des Vesuv und die weithin sichtbaren Pinien, warum steuerten nicht die Bienen auf sie zu? Ich habe nun den Kontrolversuch von Romanes wiederholt, den er allerdings nicht als solchen angesehen hat. Es wurden 25 Bienen direkt von der Küste in einer Entfernung von 1800 m (circa) vom Bienenstock fliegen gelassen. Auch von diesen kehrte keine einzige zurück. (Beobachtungsdauer 2 Stunden. Auch bei häufiger Inspektion am Tage selbst und am nächsten Tage wurde keine gesehen.) Diese Beobachtungen lehren, dass trotz auffallender Lokalzeichen die Bienen von der See und von der Nähe der See nicht zum Stock zurückfinden bei einer Entfernung, die ihren gewöhnlichen Flugkreis unterschreitet. Offenbar liegen an der See besondere Bedingungen vor; die Bienen meiden die See und ihre unmittelbare Nähe. Das Er- gebnis würde meiner Annahme von einer „unbekannten Kraft“, die auf etwa 3 km wirken sollte, widersprechen, wenn ich mir wirklich das unter ihr vorgestellt hätte, was mir Forel und v. Buttel unterschieben wollen, eine Kraft, dieganz physikalisch nach der Art des Magneten wirkt. So widersprechen sie nur der Annahme eines optischen „Ortsgedächt- nisses“. Ich habe mich über die Art der Wirkung der Kraft gar nicht ausgesprochen und werde mich auch hüten, die Gedanken, die ich mir üiber sie gemacht habe, zu publizieren, weil sie zu viel Aergernis er- regen würden. Nur das will ich sagen, dass sie schwerlich vom Ort des Auffluges (d. h. in diesem Fall des Stockes) oder wenigstens nicht von ihm allein ausgeht, sondern dass vielmehr vielerlei dafür spricht, dass sie — wie soll ich sagen, ohne wieder missverstanden zu werden — von den Bienen auf ihrem Wege zurückgelassen wird, ähn- lich wie die chemische Spur der Ameisen auf dem Boden. Im Augen- blick wenigstens scheint mir dies das Wahrscheinlichste. Dadurch wird es erklärlich, dass die Biene aus Gegenden, die weit von Stellen entfernt sind, in die normaliter der Flug geht (wie die Seeküste), schlecht oder nicht heimfinden, wenn sie auch relativ nahe am Stock liegen und dass andererseits, wenn die Trachtplätze sehr weit vom Stock entfernt sind, der Wirkungskreis sich vergrößert. (Wie weit man sich von häufiger beflogenen Gegenden entfernen kann, damit Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 211 die Bienen noch heim finden, müssen besonders auf diese Frage ge- richtete Versuche entscheiden.) Eine Anzahl von Experimenten, die v. B. meiner Anschauung, dass nicht das Auge die Biene zum Stock zurückführt, entgegenstellt, beweisen demnach nichts: Ist ein Bienenstock weit forttransportiert und lässt man nun die Bienen vor dem „Orientierungsausflug“* (so S. 44. Auf S. 56 sagt v. B. aber, dass solche Bienen überhaupt keinen Orientierungsausflug machen!) 30—40 m vom Stock fliegen, so finden sie nicht heim. Das gewisse Etwas, das sie zurückführt, ist eben noch nicht da. — Brutammen (junge Bienen, die noch nicht ausgeflogen sind) finden nicht heim. Ich sehe hierin nichts Sonderliches, denn wer sagt v.Buttel, dass sie bereits alle Qualitäten der Erwachsenen haben. Hätten sie die gleichen Qualitäten wie die alten, so würden sie nicht zu Hause bleiben und die Brut pflegen, sondern ausfliegen. — Ist ein Stock nur wenige Kilometer vom alten Standort forttransportiert, "so fliegen sehr viel Bienen zum alten Stand zurück. „Ihr Orts- gedächtnis führte sie zurück“, sagt v. B. Was soll denn das heißen ? Das ist ein vager, ganz unklarer Ausdruck, eine Behauptung, um deren Beweis es sich lediglich handelt! — Wenn v. B. so und soviele Au- toritäten aufzählt, die auch an dies „Ortsgedächtnis“ glauben, so beweist das natürlich gar nichts, und wenn ihm 100000 Bienenzüchter geschrieben hätten, dass dies „offenbar“ so sei. Das Ortsgedächtnis, d. h. weiter nichts als die Fähigkeit der Bienen, zu gewissen Orten zurückzukehren, eine Fähigkeit, deren Ur- sachen gefunden werden sollen und nicht durch ein unklares Wort präsumiert werden können, kann unter gewissen Umständen ver- schwinden, so z. B. beim Schwarmdusel. Das ist natürlich auch mir bekannt gewesen. Wie das zu stande kommt, weiß ich nicht, stelle auch keine Vermutungen darüber auf, muss aber v. Buttel durchaus widersprechen, wenn er meint, dies für die Annahme eines psychischen Gedächtnisses ausschlachten zu können. Das kann so und anders sein. Ja, wenn man immer wieder auf die Analogie mit menschlichen Ver- hältnissen zurückgreifen will, so spricht diese Thatsache eher gegen ein Gedächtnis in unserem Sinne. Menschen, bei denen ein schwerer Gedächtnisdefekt auftritt, sind durchaus anormal und sind in der Regel nicht im stande, sich, solange die Krankheit dauert, ein neues Ge- dächtnis anzulegen; die Bienen, die geschwärmt haben, orientieren sich aber gleich wieder richtig. Ist der krankhafte Prozess beim Menschen überwunden, so treten in der Regel alle früheren Erinnerungen wieder zu Tage; bei der Biene ist dies anders. — Es sollen nun auch Nar- cotica die Eigenschaft haben, Bienen der Heimkehrfähigkeit zu be- rauben, z. B. Aether, Chloroform, Salpeterdämpfe u. s. w. Ich be- streite wenigstens für Aether und Chloroform die Richtigkeit dieser Beobachtung. Ich habe je 7 gezeichnete Bienen mit Aether und Chloro- 14* 919 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. form bis zur vollständigen Reaktionslosigkeit!), die 5—10 Minuten dauerte, narkotisiert. Nach 1!/, Stunden wurden sie 40m vom Stock, der durch Haus und Bäume vom Aufflugsort getrennt war, fliegen ge- lassen. Sie kehrten alle bis auf eine, die nicht mehr fliegen konnte, in 15-60 Sekunden zum Stock zurück (wurden hier aber den ganzen Tag über nicht von den Thürhütern hineingelassen). Wenn nun aber wirklich die Heimkehrfähigkeit der Bienen in der Narkose verloren ginge, so wüsste ich in der That nicht, was dies gegen eine als einfachen Reiz wirkende Kraft und für ein Heimfinden mit Hilfe eines „Gedächtnisses“ beweisen sollte. Ich muss annehmen, dass v. Buttel niemals einen Rausch gehabt und nie Menschen und höhere Tiere nach der Narkose beobachtet hat, sonst würde er wissen, dass derartige Vergiftungen Gott sei Dank von vorübergehender Wir- kung sind?). Ich habe hier noch einige Worte in betreff der Augen der Bienen hinzuzufügen. Dass die Augen den Bienen nützlich sind, halte ich für ebenso gewiss wie v. Buttel, nur kann ich in ihrer hohen Ausbildung keinen Beweis dafür erblicken, dass sie zur Orientierung dienen und dass die Eindrücke, die das Tier durch sie empfängt, als mehr oder weniger dauerndes Gut in seinem Nervensystem zurückbleiben. Jeder Mensch, der über die Physiologie des Nervensystemes einen kleinen Ueberblick hat, weiß, dass Augen sehr hoch entwickelt sein können, ohne dass ihr Besitzer auch nur im geringsten im stande wäre, die photischen Ein- drücke zur Modifikation seiner Handlung zu verwerten; so ist es z.B. bei den Fischen. Hier hat das Auge lediglich den Wert, das Tier Hinder- nissen ausweichen und kleine oder große bewegte Gegenstände erfassen zu lassen. Auch für diese Zwecke ist ein gut ausgebildetes Auge nötig und nach meiner Meinung genügen derartige Dienste, um den vollkommenen Bau der Bienenaugen zu erklären. Ohne Auge würde es einer Biene wohl schwer fallen, sich auf einer kleinen Blume mit Sicherheit nieder- zusetzen. Da giebt es Funktion fürs Auge genug, die aber nur in un- mittelbarer Reaktion auf Form und Farbe der Objekte besteht oder wenigstens nur darin zu bestehen braucht. — Dass mein Schirmexperi- ment die „Kurzsichtigkeit“ der Bienen nicht zur Genüge beweist, gebe ich gerne zu. ‚Das ist aber belanglos, denn ich habe gar keine wesent- lichen Schlüsse daraus gezogen. Einen Gegenbeweis sehe ich aber nicht erbracht, auch nicht darin, dass zur Zeit der Buchweizentracht die erregten Bienen 10--15 Schritt weit vom Stock vorübergehende Menschen stechen. Es besteht, wie jedem Physiologen bekannt ist, 1) Nach einer halben Stunde krabbelten sie, taumelten aber noch und zeigten erst nach 2 Stunden wieder normale Bewegungsfähigkeit. 2) Die Wirkung von Bovist, Salpeterdämpfen u. s. w.mag eine andere sein. Ich habe dies nicht nachgeprüft, da ich derartige Versuche in der vorliegen- den Frage weder für positiv noch negativ beweisend ansehen kann. Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 13 für alle Augen ein ganz gewaltiger Unterschied in dem Reiz, welchen ein bewegtes und ein unbewegtes Objekt ausübt. Außerdem kann die Reception in diesem Fall ebensogut eine chemische wie eine photische sein, denn soweit mir bekannt ist, riechen alle Menschen. — Es wird wohl auch kein Physiologe v. Buttel glauben, wenn er von den kümmerlichen Stemmata meint, sie dienten „anscheinend zum Sehen in der Nähe“. Weshalb, will ich nicht weiter auseinandersetzen, denn ich sehe mich nicht genötigt, die Elemente der Physiologie hier ab- zuhandeln, auf die ich so wie so schon zu sehr eingegangen bin. Auch das Vorspiel der Bienen — ich kenne es und habe es be- achtet — halte ich für durchaus nicht beweiskräftig für die optische Orientierung der Bienen, schon aus dem einfachen Grunde, weil durch- aus nicht nur junge, erstfliegende Bienen vorspielen, sondern sehr häufig auch alte, längst eingeflogene Bienen, besonders gegen Abend an heißen Sommertagen. (So habe ich unter den Vorspielenden wiederholt Bienen gesehen, die ich zu anderen Versuchen gezeichnet hatte und deren „Orientiertsein“ mir bekannt war. Um gleich einem nabeliegenden Einwurf zu begegnen, setze ich hinzu, dass ich Raubbienen von den zum Stock gehörigen sehr wohl zu unterscheiden weiß.) Außerdem finden, wie v. Buttel selbst zugiebt, Bienen auch ohne stattgehabtes Vorspiel wieder zum Stock zurück. Ich lasse seine eigenen Worte folgen: (S. 56) „Lässt man sich ein Volk aus einem anderen Flug- kreis kommen und öffnet nach der Aufstellung den Fluglochschieber, so werden die abfliegenden Bienen ohne weitere Orientierung davoneilen, da sie natürlich von der Veränderung ihres Standortes nichts wissen können und sich in bekannter Gegend wähnen. In einem solchen Falle sieht man die Abfliegenden entweder geraden Fluges abstreifen, oder in den bekannten Schraubenlinien aufsteigen, ohne die Augen dem Stock zuzuwenden, wie es beim eben geschilderten Orientierungsausflug stets derFall ist. Nach meinen Beobachtungen finden auch solehe ohne Orientierung Abgeflogene oft in überraschend kurzer Zeit wieder zurück, da jedenfalls auf dem Fortfluge infolge Fehlens der gewohnten Merkmale eine suchende Orientierung ein- tritt.“ Dass „jedenfalls eine suchende Orientierung“ eintritt, ist freie Erfindung v. Buttel’s, beobachtet ist es nicht!). Die Hauptsache ist, 4) Hiermit harmoniert im großen ganzen ein Versuch, den ich selber nach dieser Richtung angestellt. v. Buttel hat viel an ihm auszusetzen und ich gebe gerne zu, dass er hätte günstiger ausfallen können. Mir scheint nach v. Buttel’s Angaben, dass die Bienen beim Transport (es war sehr heiß) stark gelitten hatten; möglich, dass die meisten, die früh flogen, verloren gegangen sind. Das beeinträchtigt das Resultat nicht, dass nämlich die Abfliegenden sich nicht orientierten und wenigstens die späteren gut heimfanden, denn von 3 Uhr an kamen hunderte von Bienen mit Tracht heim, Da ich bis zu dieser Zeit fast dauernd vor dem Stock stand, so kann ich behaupten, dass 244 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. dass es für die Biene gänzlich unnötig ist, sich beim Vor- spiel ihr Heim anzusehen, dass sie auch ohnedem ihren in ganz „unbekannter“ Gegend stehenden Stock findet. Meinetwegen mag dabei zum Schluss ein „Einfinden vermittelst des Geruches“, wie v. Buttel will, statthaben; bei meiner eigenen Beobachtung eines solchen Stockes war davon aber keine Rede, denn die Tiere flogen mit derselben Sicherheit ins Flugloch hinein, als wie Wochen und Monate später. Es ist also auch dies kein absolutes Erfordernis. Ich verstehe nicht, wie sich v. Buttel mit dem gar nichts sagenden Satze, es träte jedenfalls eine „suchende Orientierung“ ein, um die aus der vorliegenden Thatsache zu ziehenden Konsequenzen herumdrücken will. Auch die Beobachtung Dathe’s, auf welche v. Buttel und beson- ders Forel einen großen Wert legen, setzt mich nicht sonderlich in Ver- legenheit. Eine Anzahl Bienenstöcke standen ineiner Reihe und zwar immer abwechselnd mit den Fluglöchern nach vorne und nach der Seite ge- richtet. Vor Gewittern, wo die Bienen sehr eilig heimkehren, konnte nun Dathe beobachten, dass Bienen, deren Haus den Eingang seitlich hatte, an fremden Stöcken, wo er vorne war, vergeblich an der Seite den Eingang suchten, und umgekehrt. Ich habe nun be- schrieben, dass man in der Richtung der Flugrichtung einen Bienenstock sehr wesentlich nach vorwärts verschieben kann, ohne dass eine Stockung eintritt. Der Eingang wird nicht am alten Platz gesucht, wie dann, wenn der Stock zurückgezogen wird. Etwas ähnliches mag hier im Spiel sein, nur, dass nicht der Stock verschoben wurde, sondern die Bienen selber durch den vor Gewittern wohl immer vorhandenen Wind aus ihrer Flugbahn abgelenkt und vor einen falschen Stock getrieben wurden. Es ist mir dies um so wahrscheinlicher, weil ich an einem einzelnstehenden Stock bei starkem Südwind beobachten konnte, dass die Bienen nicht wie sonst geradlinig auf den Stock lossteuerten, sondern auf eine Stelle, die etwa 50 cm vom Flugloch nach Norden zu lag, um erst dann nach Süden umzubiegen. Ich komme nun am Schluss auf die „Schachtelexperimente“, wie v. Buttel sie nennt, zurück. Ich hatte gezeigt, dass Bienen, die man in einiger Entfernung vom Stock fliegen lässt, durchaus nicht immer zum Stock zurückfliegen, sondern sehr häufig zu dem Ort zurückkehren, von dem sie aufgeflogen sind. Es kann dies die Stelle sein, an der die Schachtel, in der sie transportiert werden, stand, es kann eine Stelle in der Luft sein, wenn man die Schachtel beim Fliegenlassen in die Luft hält. Da die Stellen, von denen ich die Bienen fliegen ließ, meist weniger als 3 km vom Stock entfernt waren, so fragt v. Buttel, warum „die unbekannte Kraft“ die Bienen nicht zum Stock diese Heimkehrenden ohne Orientierungsflug nach Hause fanden, und zwar geradlinig ins Flugloch gingen. v. Buttel’s Kritik betrifft nur Nebensäch- lichkeiten und giebt das Wesentliche zu. Zacharias, Ueber Schwebborsten des Stephanodiscus hantzschianus Grun. 215 zurückgeführt hätte, wenn andere doch nach Hause flögen. Ich ver- suche nicht einmal eine Erklärung. Ja, muss man denn immer jede Beobachtung erklären? — Nach v. B. liegt nun die Erklärung sehr einfach: Die Bienen, die naclı Hause flogen, waren alte Bienen, denen die Gegend bekannt war, die anderen waren junge, die den Orientierungs- flug noch nicht gemacht hatten oder solche Alten, die an der be- treffenden Stelle noch nicht gewesen waren. Die erstere Erklärung ist trotz ihrer verblüffenden Einfachheit falsch, denn ich habe meist alte Bienen benutzt und das gleiche an ihnen gefunden. Die zweite Erklärung halte ich für einen reinen Notbehelf. Wer annimmt, dass sich die Biene mit dem Auge orientiert und gut „sieht“, der darf nicht annehmen, dass ein Ort (NB. der besten Trachtgegend), der nur 600, 1000 oder auch 2000 m vom Stock entfernt ist, den Bienen so „unbe- kannt“ ist, dass sie nicht heimfliegen können, denn ein Tier, das sich so hoch in der Luft bewegt, dass es die ganze Gegend überblicken kann, muss bei so kleinen Strecken immer „bekannte“ Punkte sehen, wenn es überhaupt im stande ist, das Photorecipierte nach dieser Rich- tung hin zu benutzen. (Schluss folgt.) Ueber die Schwebborsten des Stephanodiscus hantzschianus Grun. Von Dr. Otto Zacharias (Plön), Leiter der Biol. Station. In mehreren der bei Plön gelegenen Seen kommt eine kleine Species von Stephanodiscus als Mitglied der planktonischen Diatomeenflora vor, welche durch den Besitz langer und zahlreicher Schwebborsten ausgezeichnet ist. Dieselbe ist sicher mit einer schon früher von Grunow beschriebenen Art (hantzschianus) identisch, da sie in allen wesentlichen Merkmalen mit dieser übereinstimmt und sich lediglich durch den Besitz von feinen Kieselstrahlen, die von den Schalenrändern ausgehen, von ihr unterscheidet. Die Form der hier vorliegenden Diatomee ist die einer winzigen Trommel, deren Durchmesser 10—18 u (Schalenseite) und deren Länge 14—16 u (Gürtelbandseite) beträgt. Doch kann man auch Abweichungen von diesen Durebschnittsabmessungen konstatieren. Im Umkreise der beiden Ränder der Trommel stehen zahlreiche schräg nach außen gerichtete zahnartige Fortsätze, von denen jeder 4 u lang ist. Diese Fortsätze verjüngen sich nach oben zu und sind an ihrem distalen Ende abgerundet; ihre Anzahl dürfte 36—40 für den ganzen Umkreis nicht übersteigen. Viele davon sind mit je einer Kieselborste versehen, welche 50—70 u lang ist. Lässt man Wasser mit solchen Stephanodisken auf einem Objektträger eintrocknen, so fallen die Schwebborsten gewöhnlich ab oder zerbrechen, und dadurch erklärt es sich, dass sie von manchen Beobachtern bisher überhaupt noch nicht gesehen worden sind. Nur wenn die Eintrocknung sehr allmählich erfolgt, bleiben jene zarten Gebilde erhalten. Bei dieser Art der Präparation kommt es dann auch vor, dass eine Borste von dem Zapfen, resp. Fort- satze, auf dem sie sonst festsitzt, losgelöst wird, aber dennoch in dessen Nähe liegen bleibt. Unter solchen Umständen gewahrt man, dass sich 946 Zacharias, Ueb. d. Einwirk. der arsenigen Säure auf den Infusorienkörper. am unteren Ende der abgetrennten Borste ein hülsenartiger, resp. finger- hutförmiger Basalteil befindet, dessen Höhlung genau zu dem Zapfen passt, dem die Borste vorher aufsaß. Ich habe seinerzeit dergl. Trockenpräparate an den bekannten Diatomeen-Spezialforscher Dr. Otto Müller in Tempel- hof gesandt, damit dieser ausgezeichnete Beobachter sich von der eigen- tümlichen Art der Schwebborstenangliederung bei dem vorliegenden Stephanodiscus überzeugen möchte. Herr Dr. Müller hat dann später die Güte gehabt, mir mitzuteilen, dass er die Hülse am unteren Ende der Borste auch gesehen habe und dass er deshalb gleichfalls geneigt sei, in ihr eine Vorkehrung zur Befestigung der letzteren auf ihrem Träger zu erblicken. Grunow hat in seiner Charakteristik des Stephanodiscus hantzschianus das Vorhandensein von Schwebborsten gar nicht erwähnt, und höchst- wahrscheinlich sind an den von ihm untersuchten Exemplaren auch keine vorhanden gewesen: sei es, dass dieselben bei der üblichen Präparation des Materials mittels Säuren sich loslösten, oder dass letzteres zur Herbst- zeit eingesammelt wurde, wo die Borsten regelmäßig von selbst abfallen !), bevor die Stephanodiscuszellen auf den Grund der Gewässer hinabsinken. Was den Anstoß zum Abfall der Borsten giebt, wenn die kältere Jahreszeit eintritt, ist vorläufig nicht befriedigend zu erklären; wir wissen aber doch wenigstens, dass diese Gebilde nicht einfach abbrechen, sondern dass sie sich in der Weise von den Frusteln loslösen, dass die an der Borstenbasis befindliche Hülse von dem Fortsatze, dem sie bis dahin aufsaß, abgleitet. Diese Hülse löst sich also von ihrem Träger in ähnlicher Weise ab, wie etwa die locker gewordene Zwinge vom Ende eines Stockes. [34] Ueber die Einwirkung der arsenigen Säure auf den Infusorienkörper. Dr. med. Ren& Sand hat vor kurzem (Ende 1901) eine Abhandlung publiziert, welche den Titel trägt: Action th&rapeutique de l’Arsenic, de la Quinine, du Fer et de l’Alcohol sur les Infusoires cili&s?). In dieser Schrift wird auf Grund einer größeren Anzahl von Versuchen geschildert, wie sich Stylo- nychia pustulata hinsichtlich ihrer Lebensäußerungen und ihrer Fortpflanzung verhält, wenn sie in stark verdünnte Lösungen von Arsenikanhydrid, Chinin- sulfat, Eisenchlorid und Alkohol gebracht wird. Von besonderem Interesse sind namentlich die Experimente mit der arsenigen Säure, über die wir im 4) Im Klinkerteich zu Plön, wo Stephanodiscus im April und Mai häufig ist, habe ich allerdings auch schon im Monat Juli borstenlose Exemplare an- getroffen, wogegen der Algenforscher Dr. Bruno Schröder in einer Abhand- lung über das Plankton der Oder (Ber. d. Deutsch. Bot. Ges. Jahrg. 1897) ausdrück- lichbemerkt, dass „die Stachelnadeln bei Stephanodiscus, var. pusilla nur im Herbste auftreten“. Hiernach wäre also das Fehlen oder die Anwesenheit der Kiesel- nadeln bei der genannten Diatomeengattung an keine bestimmte Jahreszeit ge- bunden, sondern es verhielte sich damit, je nach der Natur der einzelnen Ge- wässer, ganz verschieden. Vielleicht erfahren wir im Fortgange der Unter- suchungen einmal, welche äußeren Faktoren es sind, die das Abfallen der Nadeln begünstigen. 2) Arbeiten aus dem Therapeutischen Laboratorium der Universität Brüssel. Ziegler, Ueber den Stand der Descendenzlehre in der Zoologie, 247 nachstehenden einige Mitteilungen machen wollen. Betreffs der anderen Ver- suche verweisen wir auf die Originalabhandlung, welche durch die medizinische Buchhandlung von Henri Lamertin (Brüssel) zu beziehen ist. Dr. Sand kultivierte sein Versuchsinfusorium (Stylonychia) in Stärke- wasser (eau amidonnee), worin sich dasselbe reichlich vermehrte. Für jeden Versuch wurde immer nur ein einziges Exemplar verwendet und zwar in folgender Weise. Man setzte das Tier in einen Tropfen Stärkewasser und wartete die erste Teilung ab. Von den so erhaltenen zwei Tochterindividuen wurde das eine in der stärkehaltigen Nährlösung (auf dem Objektträger) weiter kultiviert und als Kontrollpräparat benützt, wogegen das andere Exemplar der Einwirkung einer verdünnten Lösung von arseniger Säure unterworfen wurde. Dieses geschah so, dass man die Säure in der entsprechenden Ver- dünnung (mit destilliertem Wasser) einem Tropfen Stärkewasser beimischte, Die Ergebnisse dieser Prozedur waren folgende. Enthielt der Tropfen !/,ooo Arsenikanhydrid, so starb das Infusorium inner- halb weniger Minuten. Bei einem Gehalt von !/,o00 erfolgte das Absterben in zwei Tagen. In einer Lösung von 1: 100000 pflanzte sich die Stylonychia zu- erst noch langsam fort, ging aber nach fünf Tagen ebenfalls zu Grunde. Er- reichte die Verdünnung das Verhältnis von 1:1000000, so blieben die Ver- suchsobjekte am Leben, vervielfältigten sich aber etwas weniger schnell als im reinen Stärkewasser. In letzterem hatte sich eine Stylonychia binnen acht Tagen durch Teilung auf 55 Stück vermehrt; wogegen an dem mit arseniger Säure versetzten Parallelpräparate nur 45 Stück erzielt wurden. Steigerte man die Verdünnung auf 1:5000000, so trat eine nur etwas stärkere Vermehrung ein als in dem Stärkewasser, aber bei 1: 10000000 wurde die Fortpflanzung der Infusorien bedeutend lebhafter, so dass aus einem einzigen Exemplar inner- halb acht Tagen 100 Stück (im Vergleich zu 50 in dem Stärkewasserpräparät) hervorgingen. Gehen wir noch weiter und treiben die Verdünnung auf 1:20000000, so verändert sich die Wirkung wieder und es zeigt sich nur noch ein unerheblicher Unterschied in der Schnelligkeit der Fortpflanzung bei den mit Arsenik behandelten und den nur in Stärkewasser befindlichen Stylonychien. Bei diesem Grade der Verdünnung ist also die beschleunigende Wirkung des Arsenikanhydrids als erloschen zu betrachten, wie ja die Menge des letzteren in einer solchen Lösung überhaupt als nahezu gleich Null erachtet werden muss, da sie nicht einmal mehr durch die umständlichsten chemischen Proze- duren nachgewiesen werden kann. Es ist hiernach jedenfalls von hohem Interesse, zu wissen, dass die Ein- wirkung der arsenigen Säure auf den Teilungsvorgang der Infusorien noch in einer Verdünnung von 1:10000000 spürbar ist, wie die Sand’schen Ver- suche gezeigt haben. Und zwar tritt gerade das Optimum der Einwirkung auf die Fortpflanzung infolge dieser überaus schwachen Lösung ein, wie die mit- geteilten Vermehrungszahlen beweisen. Dr. 0. Z. [30] Ziegler, Heinrich Ernst. Ueber den derzeitigen Stand der Descendenzlehre in der Zoologie. Verlag von Gustav Fischer in Jena. 1902. In der vorliegenden Abhandlung veröffentlicht Ziegler den von ihm auf der letzten (73.) Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in 248 Arbeiten aus der biologischen Abteilung für Land- und Forstwirtschaft. Hamburg (1901) über das im Titel bezeichnete, gegenwärtig zweifellos aktuelle Thema gehaltenen Vortrag und ermöglicht dadurch in dankens- werter Weise einem weiteren Kreise die Kenntnisnahme seiner Aus- führungen. Indem der Autor überdies seinen durch zeitliche Schranken naturgemäß beengten mündlichen Vortrag für die Publikation durch sechs Zusätze und zahlreiche Anmerkungen wesentlich erweitert hat (52. S.), hat er ein Werkchen geschaffen, das in bündiger Form ein klares und zudem objektives Bild von der gegenwärtigen Lage der Descendenz- theorie (im weitesten Sinne) innerhalb der wissenschaftlichen Tierkunde iebt. 5 Der Inhalt gliedert sich in vier Teile. Im ersten behandelt der Verf. die eigentliche Abstammungslehre und zeigt, dass die in den letzten Decennien gemachten außerordentlichen Fortschritte auf allen Gebieten der Zoologie die Richtigkeit der descendenztheoretischen Auffassung durch- aus bestätigt haben. Im folgenden Abschnitt wird der spezifische Dar- winismus — die Zuchtwahllehre — mit wohlthuender Ruhe und Sachlich- keit erörtert. Der Verf. konstatiert, dass „fast alle Zoologen eine gewisse Be- rechtigung des Selektionsprinzipes anerkennen, dass man aber über die Trag- weite desselben verschiedener Meinung ist“ und legt sodann seinen eigenen Standpunkt dar, der sich in gleichem Maße von kritikloser Ueberschwäng- lichkeit wie von unfruchtbarer Krittelei fernhält. Der dritte Teil ist der Vererbungslehre gewidmet, hinsichtlich welcher unser Autor zu dem Ergebnis kommt, dass die Abstammungslehre auf das Thatsächliche der Verer- bung gestützt werden könne und deshalb von einer bestimmten Vererbungs- theorie nicht notwendig abhängig erscheine. Im letzten Abschnitt endlich legt der Verf. dar, dass die Descendenztheorie dem Menschen eine Sonder- stellung nicht einräumen könne, auch nicht in der geistigen Sphäre, der Schluss auf den Menschen vielmehr eine selbstverständliche, weil notwendige Konsequenz der gewonnenen Erkenntnis sei; in diesem Zusammenhang betrachtet Ziegler auch — wohl mit Recht — den vielberufenen Pithe- canthropus als ein Bindeglied zwischen den Anthropoiden und dem Menschen. Ref. empfiehlt das Schriftchen verdienter Beachtung. [32] F. v. Wagner (Gießen). Arbeiten aus der biologischen Abteilung für Land- und Forstwirtschaft am kaiserlichen Gesundheitsamt. Berlin 1900. Paul Parey und Julius Springer. Aehnlich den „Arbeiten aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte“ er- scheinen in zwanglosen Heften auch die größeren wissenschaftlichen Unter- suchungen aus der biologischen Abteilung. Die beiden zur Ausgabe ge- langten Hefte des ersten Bandes enthalten nachstehende Arbeiten. HeftI: Rörig, Magenuntersuchungen land- und forstwirtschaftlich wichtiger Vögel. Frank, Der Erbsenkäfer, seine wirtschaftliche Bedeutung und seine Bekämpfung. Frank, Beeinflussung von Weizenschädlingen durch Bestellzeit und Chilisalpeterdüngung. Heft II: Frank, Bekämpfung des Unkrautes durch Metallsalze.e Hiltner, Ueber die Wurzelknöllchen Arbeiten aus der biologischen Abteilung für Land- und Forstwirtschaft. 249 der Leguminosen. Jacobi, Die Aufnahme von Steinen durch Vögel. Rörig, Ein neues Verfahren zur Bekämpfung des Schwammspinners. Kleine Mitteilungen. Von den vorliegenden Arbeiten seien die nachfolgenden zwei beson- ders herausgehoben wegen ihres allgemein biologischen Inhaltes. L. Hiltner: Ueber die Ursachen, welche die Größe, Zahl, Stellung und Wir- kung der Wurzelknöllchen der Leguminosen bedingen. Arbeiten a. d. biol. Abt. f. Land- und Eorstwirtschaft am kais. Gesund- heitsamte. I. Bd. Heft 2. 1900. Seit einer großen Reihe von Jahren hat sich Hiltner zum großen Teile gemeinsam mit Nobbe mit dem Studium der Wurzelknöllchen der Leguminosen beschäftigt. Die vorliegende Arbeit, welche vielfach auf bereits früher Veröffentlichtes zurückgreift, verdient unsere Aufmerksam- keit nicht nur wegen der speziellen Ergebnisse über die Knöllchenbakterien, sondern auch wegen der Bedeutung dieser Ergebnisse für die allgemeine Biologie und Pathologie, welche ihnen Referent zuzuerkennen geneigt ist. Die Infektion der Pflanzen erfolgt auf der Bahn der Wurzelhaare., Die Bakterien werden wahrscheinlich durch die Wurzelausscheidungen chemotaktisch angelockt und dringen dann durch die Wurzelhaare in die Wurzel ein. Dabei scheint ein von den Bakterien ausgeschiedener Stoff von besonderer Wichtigkeit zu sein, welcher die Zellen der Wurzelhaare derart verändert, dass sie für die Bakterien durchgängig werden. Da auch die Wurzelausscheidungen von Nicht-Leguminosen auf die Knöllchen- bakterien anlockend wirken, ohne dass eine Infektion zu stande kommt, so ist Hiltner anzunehmen geneigt, dass der von den Bakterien pro- duzierte Stoff, welcher in Form einer schleimig gallertigen Hülle sie um- giebt, einen spezifischen Angriffsstoff auf die Leguminosenwurzel darstellt. Da nun viele für Mensch und Tier pathogene Arten von Mikroorganismen gleichfalls von einer Kapsel (schleimigen Hülle) umschlossen sind, so fragt es sich, welche Rolle diese Kapsel bei der Infektion spielt, ob ihr durch entsprechende Versuche nicht auch eine ähnlich wichtige Be- deutung zugesprochen werden kann, wie den Schleimhüllen der Knöllchen- bakterien. Es gelang Hiltner, aus Erbsenknöllchen einen Stoff (zellfrei) darzustellen, der im stande war, an den Wurzelhaaren dieselbe typische Veränderung (hirtenstabähnliche Aufrollung) hervorzurufen, wie sie bei der Infektion mit virulenten Kulturen der Knöllchenbakterien beobachtet wird, ohne aber Knöllchen zu erzeugen. Die nach der Infektion gebil- deten Wurzelhaare zeigen keine Infektionserscheinungen, sie sind also gegen den gewonnenen Stoff bereits immun. Der wasserlösliche, von Hiltner nicht näher untersuchte Stoff scheint nach der Beschreibung der von ihm bewirkten Veränderungen ein der Gruppe der Cytase nahe- stehendes zellwandlösendes Enzym zu sein, denn die Quellung der Zellwände deutet vielleicht auf Pektinsäurebildung hin. Auf junge Pflänzchen von Lathyrus silvestris wirkt ein solches Filtrat aus Erbsen- knöllehen erst, wenn die Pflanze in einem gewissen Zustande des Stick- stoffhungers sich befindet, also nicht mehr vollkommen normale Resistenz besitzt; gegen Robinia ist das Filtrat noch weniger wirksam. Die Bedeutung dieser Beobachtungen für das Zustandekommen der In- 990 Arbeiten aus der biologischen Abteilung für Land- und Forstwirtschaft. fektion und für die Veränderung der Immunität im allgemeinen liegt klar auf der Hand. Die Infektionsversuche an verschiedenen Leguminosenarten könnten natürlich dahin gedeutet werden, dass es sich um verschiedene Bak- terienarten handelte, für die die verschiedenen Leguminosen eine verschieden starke natürliche Immunität besitzen. So wäre z. B. die Erbse nur für die Knöllchenbakterien der Erbse, nicht aber für jene der Bohne empfäng- lich und umgekehrt. Beyerinck hat sich aber bereits im Jahre 1888 dahin ausgesprochen, dass die Knöllchen sämtlicher Leguminosen durch ein und dieselbe Bakterienart erzeugt werden; die gefundenen Unter- schiede der Bakterien aus den verschiedenen Knöllchen scheinen durch die Nährpflanze bedingt zu sein. Auch Frank spricht sich für die Artein- heit aus, wenn es auch verschiedene Kulturrassen des Erregers der Wurzelknöllchen gebe. Zu Gunsten der einheitlichen Auffassung sprechen auch die Versuche, in denen es gelang, an ausländischen Leguminosen Knöllchen zu erzeugen, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Bakterien mit dem Samen übertragen worden sind. Immerhin zeigen sich bei den aus verschiedenen Leguminosenknöllchen isolierten Bakterien ziemlich er- hebliche biologische Verschiedenheiten. Die Bakterien der Pisum- und Vieia-Arten können sich in ihrer Wirkung fast vollständig vertreten, während ein solches Verhalten innerhalb der Gruppe der Trifolieen weniger leicht möglich ist; ja selbst innerhalb einer Gattung kann die gegenseitige Vertretbarkeit der Bakterien eine sehr geringe sein, z. B. bei Lupinus. Sehr exklusiv erscheint Robinia Pseudoacacia. Hiltner glaubt, dass die gegenseitige Vertretbarkeit der Bakterien bei einjährigen Pflanzen leichter sei als bei solchen, die aus zwei und mehrjährigen Knöllchen stammen. Leider fehlen bis jetzt Angaben darüber, ob unter den zwei- jährigen respektive mehrjährigen eine gegenseitige leichtere Vertretbarkeit untereinander besteht, was zu wissen nicht uninteressant wäre, denn man könnte so erfahren, ob durch das Perennieren die Vertretbarkeit abnimmt. Vielleicht könnte man durch entsprechende Untersuchungen einen bio- logisch wichtigen Faktor näher bestimmen, der in den Struktur- verschiedenheiten und den damit verknüpften physiologischen Be- sonderheiten der ein- und mehrjährigen Pflanzen sich ausprägt. Andererseits wäre es nicht unwahrscheinlich, dass das Ueberwintern infolge der T’em- peratur und Feuchtigkeitsverhältnisse die Vertretbarkeit schädigend beeinflusst. Jedenfalls scheinen spezielle derartige Versuche nicht nutzlos zu sein. Nobbe und Hiltner gelang es, Erbsenbakterien in Bohnenbakterien überzuführen, sowohl bezüglich ihrer Wirksamkeit auf beide Pflanzen, als auch in Bezug auf die charakteristischen Bakteroidenformen. Die Erbsen- bakterien erzeugen bei der Bohne leicht Knöllchen und umgekehrt, aber diese Knöllchen sind bezüglich der Stickstoffassimilation meist unwirksam. Mit den aus den unwirksamen Knöllchen rein gezüchteten Bakterien wurden im nächsten Jahre wieder Erbsen- und Bohnenpflanzen geimpft mit dem Erfolge, dass diejenigen Erbsenbakterien, die während einer Vegetationsperiode in unwirksam gebliebenen Bohnenknöllchen gelebt hatten, im nächsten Jahre bei der Bohne wirksame Knöllchen hervorbrachten, während sie an der Erbse im Vergleich zu normalen Erbsenbakterien an Wirksamkeit eingebüßt hatten. Sollten die von Hiltner gegen seinen Arbeiten aus der biologischen Abteilung für Land- und Forstwirtschaft. 221 Versuch erhobenen Einwände, so wie Hiltner erwartet, nichts an dem Ergebnisse dieses Versuches ändern, so wäre allerdings für die beiden Arten eine Umwandlung bewiesen. Die Frage, ob dieser Versuch aber als Beweis für die Binheitlichkeit sämtlicher Leguminosenknöllchen- bakterien anzusehen ist, muss so lange offen bleiben, als nicht über eine größere Anzahl gelungener Umwandlungsversuche anderer Knöllchen- bakterien berichtet wird. Mag die Verwertbarkeit des vorliegenden Ver- suches nach der angedeuteten Richtung auch nicht in aller Strenge be- wiesen erscheinen, so bietet der Versuch doch einen wertvollen Beleg für die funktionelle Anpassung mit Ausbildung typischer Struktur- änderungen (Bakteroiden), aber auch darum erscheint dieser Ver- such sehr bemerkenswert, weil er zeigt, dass sich die Anpassung ganz allmählich vollzieht (unwirksame Knöllchen). Gerade die Mikroorganis- men scheinen sehr wertvolle Objekte für das Studium der funktionellen Anpassung zu sein. So muss es unter anderem unser besonderes Interesse erwecken, dass ein und derselbe Mikroorganismus je nach dem Nährmedium, in dem er gezüchtet wird, verschiedene Enzyme zu produzieren ver- mag. Ferner zeigen neugeborene Tiere und Embryonen nicht unwesent- liche Verschiedenheiten in der Produktion der verschiedenen Verdauungs- Enzyme gegenüber den Erwachsenen, welches Verhalten einen Zusammenhang mit der Verschiedenartigkeit der Nahrung in den einzelnen Bildungsperioden nahelegt, somit auch als funktionelle Anpassung erscheint. Man muss nach dem geschilderten Anpassungsversuch zugeben, dass Zahl, Größe und Wirkung der Knöllchen in demselben Boden bei ein und derselben Leguminosenart sehr verschieden sein kann je nach dem Grade der Anpassung, welchen die knöllchenerzeugenden Bakterien zu der betreffenden Pflanze besitzen. Da aber die Größe und Zahl der Knöllchen mit der Virulenz der verimpften Bakterien zunimmt, so kann man auch hier mit der fortschreitenden Anpassung eine Steigerung der Virulenz an- nehmen, somit stünde die Virulenz in innigem Zusammenhang mit der funktionellen Anpassung der Mikroorganismen an ihren Wirt, wofür auch viele Beispiele der Pathologie sprechen. Uebrigens hat Wilhelm Roux bereits in seiner grundlegenden Schrift „Der Kampf der Teile im Organismus“ darauf hingewiesen, wie eng die Lehre von der Infektion und Immunität mit der funktionellen Anpassung der beteiligten Organismen verknüpft ist. Während der Grad der Anpassung sich als bedeutungsvoll erweist, scheint die Zahl der verimpften Bakterien von keinem besonderen Einfluss zu sein. Hiltner ist geneigt, der Pflanze selbst den regulierenden Einfluss zuzuerkennen und spricht von einem Gleichgewicht, welches zwischen dem Wachstum der Pflanze und dem der Bakterien besteht, wonach die Pflanze die Knöllchenbildung auf das richtige Maß zurückführen soll. Nachträgliche Impfung bereits infizierter Pflanzen mit gleich virulenten Bakterien bleibt erfolglos, dagegen wird die Größe und Gesamtwirkung der Knöllchen bedeutend gesteigert, wenn zur zweiten Impfung höher virulente Bakterien verwendet werden. „Thätige Knöllchen verleihen der Pflanze Immunität gegen Bakterien von gleichem oder niedrigerem Virulenzgrade, als ihn die in den Knöllchen bereits ent- haltenen Bakterien besitzen; nur Bakterien von höherer Virulenz vermögen noch in die Wurzeln einzudringen.*“ Diese Annahme wird auch durch Impfversuche an Erlenpflänzchen bestätigt. Knöllchentragende Pflanzen 999 Arbeiten aus der biologischen Abteilung für Land- und Forstwirtschaft. zeigen an neugebildeten Wurzeln trotz wiederholter Impfungen niemals Knöllchenbildung, während knöllchenfreie Pflanzen sofort mit Knöllchen- bildung reagieren. Erst im Herbste (mit dem Gelbwerden der Blätter), wo die vorhandenen Knöllchen ihre Thätigkeit mehr und mehr einstellen, zeigen sich plötzlich an den Wurzeln zahlreiche neue knöllchenartige Wucherungen, die erst im nächsten Jahre eine bedeutende Größe erreichen. Ein ähnlich zu deutender Versuch ist von Hiltner und Nobbe mit Robinia-Pflanzen in Wasserkultur angestellt worden. Auch die eigentüm- liche Anordnung der Wurzelknöllchen spricht für Immunität nach einmal erfolgter Infektion. Die Knöllchen finden sich immer möglichst nahe der Bodenoberfläche und nehmen gegen die tieferen Schichten hin ab. Diese Anordnung kann aber nicht auf das Sauerstoffbedürfnis der Mikroorganismen bezogen werden, sie erklärt sich daraus, dass die ersten eindringenden Wurzeln sofort infiziert werden und eine Neuinfektion bei den später sich bildenden tiefer eindringenden Wurzeln durch die in- zwischen erworbene Immunität vereitelt wird. Dagegen gelingt es sofort, tiefsitzende Knöllchen zu erzeugen, wenn keine hochstehenden vorhanden sind, oder etwa vorhandene in ihrer Wirksamkeit zerstört werden. Die den Abwehrstoffen der Pflanze gewidmeten Erörterungen weisen darauf hin, dass bei einem gewissen Stickstoffhunger leichter eine Infektion eintritt, während die normal ernährte Pflanze nur für ent- sprechend virulente, d.h. angepasste Bakterien empfänglich ist. Für die Umwandlung der Bakterien in die Bakteroiden innerhalb der Knöllchen scheint die Lösung der die Bakterien umgebenden Schleimhülle von Be- deutung zu sein. Salpeter scheint einen direkt schädlichen Einfluss auf die Knöllchenbakterien zu haben. Als Träger der immunisierenden Eigen- schaften wird ein von den in den Knöllchen lebenden Bakteroiden pro- duzierter Stoff angesehen, der von der Pflanze aufgenommen wird. Denn nach Entfernung der Knöllchen nimmt die stickstoffsammelnde Thätigkeit der Pflanze ab und es bilden sich durch Neuinfektion wieder neue Knöllchen. Es würde sich also nach der einmal stattgehabten Infektion keine dauernde Immunität ausbilden, sie ist nur eine temporäre, welche so lange anhält, als noch wirksame Substanz der thätigen Knöllchen vorhanden ist. Eine größere Aufspeicherung der immunisierenden Substanz scheint demgemäß nicht vorzukommen. Einen Einfluss auf die Wirkung der Knöllchen üben auch die Witterungsverhältnisse aus, wobei alle Faktoren, welche die Verdunstung der Pflanzen beeinflussen, gleichfalls einen Einfluss auf die stickstoffsammelnde Thätigkeit der Knöllchen haben. Was die Zahl und Größe der Knöllchen bei verschiedenen Leguminosen anbelangt, so steht dieselbe nach Hiltner’s Meinung in keiner Beziehung zur Fähig- keit der Pflanzen eine mehr oder minder große Menge Stickstoff zu assi- milieren, sie wird vielmehr durch die Schnelligkeit und Kraft beeinflusst, mit welcher die Pflanze die in ihre Wurzeln eingedrungenen Bakterien in Bakteroiden umzuwandeln vermag. Im allgemeinen finden sich beim Ver- gleich der verschiedenen Leguminosen bei jeuen Arten die größten und zahlreichsten Knöllchen, welche durch ihre Wurzelsäfte die Gestalt und Größe der Knöllchenbakterien am wenigsten verändern. Vielfach wurde die Anschauung vertreten, das Zusammenleben der Knöllchenbakterien mit den Leguminosen sei eine einfache Symbiose, wie z. B. zwischen Algen und Pilzen in den Flechten, welche ohne den Arbeiten aus der biologischen Abteilung für Land- und Forstwirtschaft. 293 geringsten Kampf sich vollziehe. Ueberblicken wir aber die gesamten sich abspielenden biologischen Erscheinungen, Art der Infektion, die Schutzvorrichtungen der Pflanze gegen eine solche, so müssen wir mit Hiltner die ganzen Erscheinungen als einen Kampf der Pflanze gegen die Mikroorganismen ansehen, wo bald die einen, bald die anderen den Sieg behaupten. In diesem Sinne ist auch nach Hiltner die Entleerung der Knöllehen zu verstehen, welche bei einjährigen Pflanzen zur Zeit der Fruchtreife, bei den mehrjährigen im Herbste ein- tritt. Man glaubt vielfach, dass der Inhalt der Knöllchen von der Pflanze resorbiert werde und will auf diese Resorption die günstige Wirkung der Knöllchen zurückführen. Nach Hiltner und Nobbe kann eine solche Anschauung nicht als zutreffend bezeichnet werden, es ist vielmehr anzu- nehmen, dass zur Zeit der Fruchtreife der Wurzelsaft die Fähigkeit verliert, die Bakterien in Bakteroiden umzuwandeln. Die noch lebenskräftigen Bakteroiden wandeln sich nach Wegfall der wirksamen Substanz wieder in normale Bakterien um, welche aus den Knöllchen in den Boden zurückwandern. Leider lässt sich aus der Darstellung nicht erkennen, ob die Autoren ihre diesbezügliche Meinung durch exakte Ver- suche belegen können, oder ob sie eine bloße Hypothese ist. Vor allem müsste der experimentelle Beweis erbracht werden, dass der Wurzel- saft im Herbste keine Bakteroiden zu bilden vermag, während er es zu anderer Zeit thut. Die von Hiltner vertretene Anschauung würde aller- dings mit anderen Beobachtungsthatsachen aus dem Gebiete der Immunitäts- lehre eine unverkennbare Aehnlichkeit zeigen, weshalb sie auch ohne einen strikten Beweis diskutabel erscheint. Sie erinnert an das Ag- glutinationsphänomen. Die beweglichen Bakterien werden durch eigenartige Stoffe der Wirtspflanze in unbewegliche, auch sonst morpho- logisch veränderte Formen, die Bakteroiden, umgewandelt. Mit der Ab- nahme der Vegetationskraft der Pflanze werden natürlich weniger solche, den Agglutininen ähnlich wirkende Stoffe gebildet. Da man aber auch annehmen muss, dass die Bakteroiden im Kampfe mit Agglutininen durch Anpassung gewisse, den sogenannten Antiagglutininen vergleichbare Ab- wehrstoffe produzieren, so würde es verständlich erscheinen, dass mit der Abnahme der agglutininähnlichen Stoffe die Bakteroiden, zufolge ihrer unterdessen erlangten Resistenz gegen dieselben, im stande sind, sich in normale bewegliche Bakterien umzuwandeln. Ließen sich diese hypo- thetisch geäußerten Anschauungen durch exakte Versuche stützen, in- dem man Extrakte infizierter Wurzeln und Pflanzen auf ihre Fähigkeit hin untersucht, Bakteroiden zu bilden, so fänden wir eine bisher nur am Tier beobachtete Erscheinung auch im Pflanzenreiche wieder, welche beim weiteren Studium wertvolle Aufschlüsse zur Immunitätslehre zu geben geeignet erscheint. Arnold Jacobi: Die Aufnahme von Steinen durch Vögel. Bd. I. Heft2. Der Autor hat eine große Reihe von Vögelmagen auf ihren Inhalt an Steinen untersucht, indem er sowohl die aufgenommenen Mengen der Steine als auch ihre Art und Größe in Betracht zog. Ferner wurde an der Nebelkrähe, Saatkrähe, Taube und Wachtel die Steinaufnahme und -Abscheidung unter verschiedenen Fütterungsbedingungen experimentell studiert. Es ergab sich unter anderem, dass die einheimischen Krähen- 994 Arbeiten aus der biologischen Abteilung für Land- und Forstwirtschaft. arten bei pflanzlicher Kost ganz bedeutend mehr Steine aufnehmen als bei tierischer; ferner ist die Steinaufnahme während der kalten Jahreszeit eine weit größere als während der Vegetationsperiode. Da die meisten pflanz- lichen Nahrungsmittel, namentlich die Gramineensamen harte Körper sind, welehe in unzermahlenem Zustande den Verdauungssäften schwer zugäng- lich sind, während die tierische Nahrung relativ weich ist und von den Verdauungssäften leichter durchtränkt wird, so fügen die Vögel durch die Steinaufnahme ein mechanisches Hilfsmittel hinzu, das dem Magen die Arbeit erleichtert und den Kauakt der anderen Tiere ersetzt. In der That zeigen auch die Körner- und Gesämefresser die bedeutendste Stein- aufnahme. Dagegen scheint die andauernde Unmöglichkeit, Steinnahrung aufzunehmen, schwere Störungen im Gesamtbefinden des Tieres hervorzu- rufen. Da während des Winters die Steinaufnahme im allgemeinen ohne Rücksicht auf die Art der Nahrung zunimmt, so scheint der Nahrungs- mangel ein zweites Moment zu sein, das die Vögel veranlasst, ihr Hunger- gefühl durch die Aufnahme massiger, unverdaulicher Stoffe zu beschwich- tigen. Nach Jaco bi’s Versuchen konnten bestimmte Gesetzmäßigkeiten nicht in dem Sinne aufgefunden werden, dass etwa täglich oder bei jeder Mahlzeit ein bestimmtes Steinguantum verzehrt werde. Die Versuche er- gaben vielmehr, dass ohne neuerliche Aufnahme die Steine oft sehr lange im Magen zurückbehalten werden. Die Ausscheidung der Steine erfolgt entweder durch den Schnabel oder durch den After, oft auf beiden Wegen zugleich. Referent möchte sich erlauben, im Anschluss auf eine von ihm und anderen Autoren wiederholt gemachte Beobachtung an Tauben aufmerksam zu machen, welche wahrscheinlich mit dem Fehlen der Steinnahrung in Zusammenhang steht. Entgroßhirnte Tauben, welche die Operation gut überstanden haben, bleiben oft sehr lange Zeit, sogar Monate am Leben, ohne die geringsten Verdauungsstörungen zu zeigen. Die Tiere müssen, da eine spontane Nahrungsaufnahme nieht stattfindet, täglich gefüttert werden, wozu gewöhnlich gequollene Erbsen oder Mais ete. verwendet werden. Nach einiger Zeit zeigen die Tiere aber auffällige Verdauungs- störungen, sie magern ab und gehen allmählich zu Grunde, ohne dass die Operation als solche für diesen späten T'od verantwortlich gemacht werden könnte. Da nun bei der künstlichen Fütterung eine Zufuhr von Stein- nahrung unterbleibt, so erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass das Fehlen derselben mit dem Tode der Tiere in kausalem Zusammenhange steht. Einmal fehlt die mechanische Wirkung der im Magen bewegten Steine. Diese braucht sich nicht bloß auf die Zerkleinerung der Nahrung zu beziehen, denn sie wäre beim gequollenen Futter nicht so unumgänglich notwendig. Wahrscheinlich bewirkt der mechanische Reiz der Magen- schleimhaut durch die harten, oft scharfkantigen, fortwährend bewegten Fremdkörper eine stärkere Absonderung von Magensaft. Weiter kommt noch besonders in Betracht, dass mit den Steinen auch lösliche Salze auf- genommen werden, wie z. B. im Mörtel, so dass beim völligen Fehlen der Steinnahrung auch eine gewisse Salzarmut des Körpers eintritt, welche für die Tiere verhängnisvoll werden kann. [102] R. F. Fuchs (Erlangen). Verlag von Georg 'Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2, — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. @oebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Zee Vierundzwanzig Nummern bilden e einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. xZI. Band. 15. April 1902. Mm 8 Pre Rene, der en insbesondere der Archegoniaten und der Samenpflanzen. — Zykoff, Wo sollen wir den Zwischenwirt des Uystoopsts acipenseri N. Wagn. suchen? — Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen (Schluss). — Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens und über die Entstehung der Gastropoden. Dr. K. Goebel, Organographie der Pflanzen, insbesondere der Archegoniaten und der Samenpflanzen. Zweiter Teil, Schlussheft, Verlag von G. Fischer, Jena 1901. Den bisher erschienenen drei Heften des umfassenden Werkes, welche in früheren Jahrgängen dieser Zeitschrift besprochen worden sind!), reiht sich nunmehr ein viertes als Schlussheft an. Von dem- selben gilt im gleichen Maße das, was über die prinzipielle Stellung des Autors, über die Originalität und Reichhaltigkeit der Darstellung in den früheren Besprechungen gesagt worden ist. Es ist nicht etwa eine übersichtliche Zusammenstellung des Bekannten, sondern es schafft wie seine Vorläufer für die behandelten Fragen neue Grundlagen und zeigt neue Wege. Das im Jahr 1900 erschienene vorletzte Heft hatte mit der Be- handlung der Vegetationsorgane der Gefäßpflanzen den Anfang ge- macht. Auf die Besprechung der morphologischen Verhältnisse der Wurzel folgte die umfängliche Darstellung der Blattbildung des vege- tativen Sprosses und ein Kapitel über die Verzweigung und Arbeits- teilung bei dem letzteren. Das neue Heft beginnt mit der Betrachtung des Sprosses im Dienste der Fortpflanzung. In der Einleitung zu diesem Abschnitt wird nach einem kurzen Hinweis auf die bereits in einem früheren Abschnitt gemachten Angaben über die Ausbildung vegetativer Vermehrungssprosse der Zusammen- hang zwischen Gestalt und Funktion an einigen Beispielen von Brut- 4) Jahrg. XVIIL p.273, XIX p. 236, XXI p. 156. XXI. 15 9965 Goebel, Organographie der Pflanzen. knospenbildung, nämlich bei Lycopodium Selago und Remusatia vivi- para nachgewiesen. Den Organen der vegetativen Vermehrung steht die Blüte gegenüber, welche als ein mit Sporophyllen besetzter Spross definiert wird. Neben den Sporophyllen als wesentlichen Blütenteilen können an der Blütenachse auch noch unwesentliche Blätter auftreten, welche die Blütenhülle bilden. Die Sporophylle können Mikro- oder Makrosporophylle sein. Da in den Blüten der heterosporen Gefäß- kryptogamen, welche für den Vergleich mit den höheren Pflanzen hauptsächlich in Betracht kommen (Lycopodinen und Isoäteen) stets Mikro- und Makrosporophylle vereint auftreten, so erscheint die Zwitter- blüte als der primitivere Typus. Für die verschiedene Anordnung der männlichen und weiblichen Blüten bei Pinus, Juglans, Fagus, Quercus, Corylus u. a. giebt der Verfasser die Erklärung, dass die weiblichen Blüten in derjenigen Sprossregion auftreten, welche auch sonst die ge- förderte, d. h. besser ernährte ist. Bei der speziellen Besprechung machen die Blüten und Sporo- phylle der Pteridophyten den Anfang. Die organographische Be- trachtung derselben hat es hauptsächlich mit den zwei Fragen zu thun: in welcher genetischen Beziehung stehen die Sporophylle zu den Laubblättern und in welcher Beziehung steht ihre Gestalt zur Funktion. Bezüglich der ersteren Frage vertritt der Verfasser die An- schauung, dass wohl phylogenetisch die Sporophylle die primäre, die Laubblätter die abgeleitete Bildung sein mögen; in der Entwicklung des Individuums aber sehen wir immer zuerst die Laubblätter auftreten und die Sporophylle entstehen dann aus einer mehr oder minder früh- zeitigen Umbildung von Laubblattanlagen. Die Umwandlungen, welche das Blatt durch das Auftreten der Sporangien erfährt, sind als Korre- lationserscheinungen aufzufassen. Ihre biologische Bedeutung, welcher die zweite Frage gilt, liegt darin, dass die Blätter die Sporangien in ihrer Jugend schützen und bei Erreichung der Sporenreife die Sporen- ausstreuung begünstigen. Bei den meisten Pteridophyten sind die Sporophylle in Stellung und Ursprung von den Laubblättern nicht verschieden, so dass leicht die Homologie ihre Teile bestimmt und die veränderte Form des Sporophylis mit dem normalen Laubblatt direkt verglichen werden kann. Bei Schizaea, den Marsiliaceen und Opbhio- glosseen stellen die Sporophylle dem sterilen Blatt gegenüber Neu- bildungen dar. Sie werden an auffälligen Beispielen eingehend be- sprochen. In einer an interessantem Detail außerordentlich reichen Einzel- betrachtung folgt dann auf Grund der oben skizzierten prinzipiellen Anschauungen die Diskussion der Entwicklung und der Gestaltungs- verhältnisse von Sporophyli und Blüte in den einzelnen Abteilungen der Farne, der Equiseten und der Lycopodinen, an deren Aufklärung Ja der Verfasser seit Jahren mit zahlreichen Spezialarbeiten in her- . Goebel, Organographie der Pflanzen. 997 DZ vorragender Weise beteiligt war. Die geschlossene, abgerundete Dar- stellung dieses Abschnittes gestattet nicht, Einzelheiten hervorzuheben, ohne dass dadurch von der Reichhaltigkeit und dem Zusammenhange des Ganzen eine falsche Vorstellung erweckt würde. Die Blütenbildung der Gymnospermen schließt sich in ihren einfachsten Fällen an die- jenigen der heterosporen Lykopodinen an. Die morphologischen Be- ziehungen zwischen den Sporophyllen und den Laubblättern lassen sich besonders leicht bei den Fruchtblättern (Makrosporophyllien) der Cycadeen übersehen. Bei Ö'ycas sind die Fruchtblätter in ihrem sterilen Teil noch laubblattartig verbreitert und gefiedert. Auch bei Dioon tragen die flachen Fruchtblätter noch eine Spreitenanlage und je ein oder zwei rudimentäre Fiedern an der Basis. Dann schließt sich Ceratozamia an, das an den schildförmigen Makrosporophyllen zwei hornförmige aus der Schildfläche aufragende Fiederrudimente zeigt, und endlich die übrigen Gattungen mit schildförmigen Fruchtblättern, denen jede Andeutung der Fiederbildung völlig fehlt. Bei der Be- sprechung der Ginkgoaceen und Coniferen werden die achsenständigen Samenanlagen der ersteren und der Taxineen durch Rudimentärwerden resp. gänzliches Verschwinden der sie tragenden Sporophylle erklärt, eine Anschauung, die eine starke Stütze gewinnt durch den Nachweis, dass an der Spitze der männlichen Blüte von Juniperus die Sporangien gleichfalls durch allmähliches Verkümmern des sterilen Sporophyll- teiles achsenständig werden. Hinsichtlich der so vielfachen Deutungen unterworfenen weiblichen Zapfen der Abietineen hält der Verfasser seine Auffassung fest, dass die Deekschuppe ein Sporophyll ist, wäh- rend die Samenschuppe eine Neubildung darstellt, die in ihrem ersten Auftreten als eine Placentarwucherung des Sporophylis betrachtet werden kann. Bei der Besprechung der Angiospermenblüte beschränkt sich der Verfasser auf die Behandlung der allgemeinen Bauverhältnisse. Die Grundlage der Darstellung bildet auch hier die Anschauung, dass die Blüte ein metamorphosierter Laubspross ist. Die abweichende Aus- bildung derselben, besonders bezüglich der Anordnung der Glieder, steht vielfach mit den durch das begrenzte Wachstum und die Unter- drückung der Internodien bedingten Raumverhältnisse in Beziehung, und mit dem Umstande, dass der Vegetationspunkt bei der Bildung der letzten Blattgebilde vollkommen aufgebraucht wird. Auch die relativen Größenverhältnisse der Organe und der Achsenteile sowie die Verschmelzung ursprünglich getrennter Anlagen in ein Organ spielen häufig eine Rolle, indem sie zu Veränderungen der Zahlen- verhältnisse in den Blatteyklen der Blüte führen. Die Blütenhülle, welche bei den Gymnospermen nur erst in primitiven Anlagen erscheint, erlangt bei den Angiospermen eine weitere Gliederung, indem ihr die Aufgaben zufallen, die Blüte im Knospenstadium zu schützen und die 15* 228 Goebel, Organographie der Pflanzen. Bestäubung zu sichern. An dem Beispiele der Ranunculaceen wird gezeigt, dass dieselbe phylogenetisch verstanden entweder aus be- nachbarten Hochblättern hervorgegangen ist oder wenigstens teilweise einer Umbildung der äußeren Sporophylle ihren Ursprung verdankt. Die bedeutenden Formverschiedenheiten, welche besonders die Blumen- krone aufweist, können zum Teil auf geringfügige Verschiedenheiten in der Wachstumsverteilung zurückgeführt werden. Die Gestalt der Staubblätter ist in der ganzen Reihe der Angiospermen verhältnismäßig einförmig. Das Herabsinken der Zahl der Pollensäcke unter die nor- male Vierzahl ist entweder wie bei den Malvaceen und Salvia durch Teilung der Anthere zu erklären, oder es hat eine Verkümmerung von Pollensackanlagen stattgefunden (Asklepiadeen) oder ein Zusammen- fließen mehrerer Anlagen in eine. Eine Vermehrung der Pollensäcke entsteht dadurch, dass zwischen die fertilen Zellkomplexe sterile Ge- webeplatten eingeschaltet werden, welche ähnlich wie die Trabeculae in den Isoötessporangien die Ernährung der sporogenen Elemente er- leichtern. Bei der Besprechung der Fruchtknotenbildung werden zunächst die oberständigen Fruchtknoten behandelt, unter denen der Verfasser apokarpe, synkarpe und parakarpe Formen unterscheidet, wobei als parakarp diejenigen bisher zu den synkarpen gestellten mehrteilig einfächerigen Fruchtknoten bezeichnet werden, deren Frucht- blätter nur mit den Blatträndern verwachsen sind. Die Samenanlagen stehen bei den parakarpen Gynaeceen entweder wie bei Dionaea auf einer ringförmigen Zone im Grunde des Fruchtknotens, welche als eine Vereinigung der Karpellsohlen angesehen werden kann, oder es entsteht wie bei Primula, Utricularia u. a. eine freie Centralplacenta, die der Verfasser als eine der Blüte eigentümliche Neubildung be- zeichnet, indem er den Streit darüber, ob und wieweit Achsenteile und Karpellteile an dem Zustandekommen dieser Bildung beteiligt sind, für gegenstandslos erklärt. Mit einer Darstellung der Bauverhältnisse und der morphologischen Deutung des unterständigen Fruchtknotens, und mit einem kurzen Hinweis auf metamorphosierte Blüten, die unter Uebernahme anderer Funktionen der Aufgabe, normale Sporophylle zu bilden, entfremdet worden sind, schließt der Abschnitt über den Spross im Dienste der Fortpflanzung. Der folgende und letzte Abschnitt des Werkes behandelt die Fortpflanzungsorgane. Den Anfang machen natargemäß die Sporangien der Gefäßkryptogamen. In einer an interessantem Detail reichen Dar- stellung weist der Verfasser nach, dass überall bei den sich öffnenden Sporangien die Aufsprungstelle ein vorgebildetes Stomium ist und dass gewisse Zellen der Sporangienwand an der Eröffnung aktiv beteiligt sind: Die aktiven Zellen gehören bei den Pteridophyten und auch bei den Gymnospermen stets der äußersten Zellschicht an, während bei den Mikrosporangien der Angiospermen die aktiven Zellen stets einer Zykoff, Wo sollen wir den Zwischenwirt des CO. acipenseri N. W. suchen? 229 inneren Gewebeschicht angehören. Der Annulus der Farnsporangien ist so geordnet, dass er freien Spielraum hat. Die Aufsprungstelle sieht stets nach der Seite hin, wo die Sporenverbreitung ungehindert vor sich gehen kann. Bei der Schilderung der Sporangienentwicklung betont der Verfasser, dass der Begriff der Tapetenzellen nieht morpho- logisch, d. h. ausschließlich durch die Lage in der Umgebung des sporogenen Zellkomplexes definiert werden kann, sondern nur durch die Funktion. Er unterscheidet Plasmodialtapeten und Sekretions- tapeten. Die Zellen der ersteren wandern unter Auflösung der Wände zwischen die Sporenmutterzellen ein, die der letzteren behalten ihre peripherische Lage bei und vermitteln die Nahrungszufuhr zu den sich bildenden Sporen durch Sekretion. Bei den heterosporen Pterido- phyten lassen sich die Makrosporangien in einer fortschreitenden Reihe von den Mikrosporangien ableiten und der Verfasser legt Wert darauf, zu zeigen, dass sich die Entwicklung der Makrosporangien bei den heterosporen Pteridophyten schrittweise an die der Samenpflanzen an- nähert. Nach einem Exkurs über phylogenetische Hypothesen zur Sporangien- bildung und einem Ausblick auf die Erscheinung der Aposporie schließt sich dann die Besprechung der Mikrosporangien und Makrosporangien der Samenpflanzen an. Speziell der Keimung der Mikrosporen, der Integumentbildung, dem Vorkommen nackter Samenanlagen, der Chalazogamie, der Entwicklung des Nucellus und der Makrospore wird eine eingehende Darstellung gewidmet und ebenso den besonderen Ein- richtungen, welche beim heranreifenden Samen die Ernährung der Makrospore und des in ihr enthaltenen Endosperms ermöglichen. Ein mehr als 50 Druckspalten langes, sorgfältig bearbeitetes Re- gister für alle Teile des Werkes nimmt die Sehlussseiten des Heftes ein und giebt, indem es die Auffindung aller Einzelheiten erleichtert, eine bequeme Handhabe für die Benutzung des schönen Buches als Nachschlagswerk bei der Arbeit. K. Giesenhagen. |27] Wo sollen wir den Zwischenwirt des COystoopsis acipenseri N. Wagn. suchen? Von W. Zykoft, Privatdozent an der Universität zu Moskau. Im Jahre 1867 teilte N. P. Wagner, damals Professor an der Kasaner Universität, im ersten Kongress der russischen Naturforscher mit, dass er einen subdermalen Parasit beim Sterlet ( Acipenser ruthenus), welchen er Cystoopsis acipenseri nannte!), gefunden hatte; diese Mit- 1) Arbeiten des ersten Kongresses der russischen Naturforscher. Sitzungs- protokolle der zoologischen Sektion. Sitzung vom 31. Dezember 1867, p. 6. (Russisch.) 930 Zykoff, Wo sollen wir den Zwischenwirt des Ü. acipenseri N. W. suchen? teilung, welche in das Protokoll aufgenommen worden ist, besteht aus einigen Zeilen und wird von keinen Abbildungen begleitet. Im Jahre 1872 machte der Professor der Kasaner Universität N. M. Melnikoff in einer Sitzung der Naturforschergesellschaft zu Kasan eine Mitteilung über den Bau des Cystoopsis acipenserit); diese Mitteilung, welche im Sitzungsprotokoll gedruckt ist, hat ebenfalls keine Abbildungen; die Gesellschaft der Naturforscher beschloss die Abhandlung Melnikoff's in ihren „Arbeiten“ zu drucken, doch ist diese Abhandlung bis jetzt 1) Protokolle der Gesellschaft der Naturforscher an der Kaiserl. Kasaner Universität. Viertes 1872/73 Jahr. Kasan 1875. Protokoll der 42. Sitzung am 27. November 1872, p. 6. (Russisch.) Zykoff, Wo sollen wir den Zwischenwirt des 0. acipenseri N. W. suchen? 231 nicht erschienen. Im Jahre 1837 gab Prof. N. P. Wagner in seinem Lehrbuch der Zoologie!) eine kurze Beschreibung mit Abbildung des von ihm entdeckten Oystoopsis acipenseri. Damit ist die ganze diesen originellen Parasit betreffende Litteratur erschöpft. In Europa ist der Cystoopsis acipenseri sogar litterarisch fast garnicht bekannt, da über denselben nur ein "äußerst kurzer Hinweis im Bericht von Rudolf Leuckart im Archiv f. Naturgesch., 33. Jahrg., 1867, p. 263 vor- handen ist. An der biologischen Station in Saratow noch im vorigen Jahre ar- beitend, erhielt ich einige Sterlet’s aus der Wolga, welche von diesem Parasit infieiert waren. Da derselbe den westeuropäischen Zoologen unbekannt ist, so werde ich mir erlauben, diesen eigenartigen Parasit mit den Worten des Professors Wagner?) zu beschreiben: „Das reife geschlechtliche Stadium des Cystoopsis acipenseri kommt unter den ven- tralen Knochenschildern der Sterlete vor?) (Fig. 1)*). Der Wurm gelangt dahin wahrscheinlich aus dem Schlamm. Mit der Gruppe der Filaridae verbindet ihn die unvollständige Entwicklung des Darmes, die schwache Differenzierung der Geschlechtsorgane und der subdermale Parasitismus. Es ist merkwürdig, dass das Männchen und das Weibchen paarweise vor- kommen, in einer gemeinsamen Blase, welche aus der Haut des Fisches ge- bildet wird. Das Männchen stellt ein winziges Würmehen vor mit kurzem Leib, welcher noch nicht ein Drittel der Länge des Weibchens erreicht. Im Körper des Männchens finden wir einen kurzen Oesophagus, welcher mit einer ellipsoidalen Blase, — dem Magen, endigt (Fig. 2, 2,v)°). Beim Weibchen liegt diese viel mehr aufgetriebene Blase im Anfang des blasenförmigen Teils des Körpers (Fig. 2, 1,0). Beim Männchen stellen die Geschlechtsorgane einen langen, röhrigen, in der Hälfte zusammengebogenen Sack vor (Fig.2, 2,2), welcher sich am hinteren Körperende in ein chitinöses hervorschiebbares Röhrehen öffnet (Fig. 2, 2, tu). Beim Weibchen erfüllt die lange Geschlechtsröhre mit Schlingen und Windungen den ganzen Raum in der blasenförmigen Leibeshälfte, um den Magen herum. Sie mündet vorne, unweit von der Mundöffnung (Fig.2, 4,9). Eine solche Röhre wird durch enge 1) N. Wagner. Entwickelungsgesch. des Tierreichs. 2. Aufl., Bd. I, 1887, p. 429—430, Fig. 362. (Russisch.) 2) 1. e. p. 429—430. 3) Ich fand diese Parasiten auch zwischen den ventralen Schildern der Sterlete, an der Basis der Brustflossen, sogar am Rückenende nahe vom Schwanz. Die Anwesenheit des Parasits sieht man deutlich durch die am Körper sich erhebenden Höckerchen (Fig. 1). 4) Fig.1 ist eine Kopie der originalen Photographie, welche nach meiner Bitte in Saratow von H. B. Choromanski gemacht worden ist. 5) Fig. 2 ist die Kopie von der Abbildung des Prof. Wagner in seinem Lehrbuch der Zoologie (l. c. F. 362). 239 Zykoff, Wo sollen wir den Zwischenwirt des C. acipenseri N. W. suchen? Einsehnürungen in drei Teile eingeteilt. Der hintere Teil entwickelt aus epithelialen Zellen Eier mit relativ sroßen Keimbläschen, Kernen, und kann deshalb Glandula germinativa genannt werden. Im mittleren Teil vergrößert sich, wächst die Masse des Dotters und hier auch, wahrscheinlich, vollzieht sich die Befruchtung und beginnt die Seg- mentation. Diesen Teil kann man Glandula vitelina oder Ovarium nennen. Endlich der letzte Teil enthält vollkommen reife Eier, in welchen schon zum Ausschlüpfen fertige Larven liegen!). Solche Eier werden von einer dieken Chitinschale umgeben. Sie haben eine längliche ovale Form und zwei kleine zylindrische Anhänge an den Enden“ (Fig. 2, 6). Ich werde einige von mir gefundene Facta, welche unsere Kennt- nisse über die Organisation dieses interessanten Parasits ergänzen, bei- seite lassen, und gehe direkt zu der im Titel dieser Abhandlung auf- gestellten Frage über. Ich bemerkte, dass bei den Sterlets die durch die Anwesenheit des Cystoopsis acipenseri hervorgerufenen Höckerchen nach einer gewissen Zeit sich wie Geschwüre am Gipfel öffnen und aus denselben der fadenförmige mit geformten und in eine Hülle eingeschlossenen Embryonen erfüllte Uterus hervortritt und in das Wasser gelangt. Daraus erhellt, dass auf solche Weise die Embryonen in das Wasser geraten; doch welches ist ihr ferneres Schicksal ? \ Es ist unzweifelbar, dass nach seiner Lebensweise, von der bio- logischen Seite, der Cystoopsis acipenseri der Filaria medinensis Velsch. sehr nahe steht. Nach den Untersuchungen von Fedschenko?) ist es bekannt, dass als Zwischenwirte der Filaria medinensis Cyelopiden erscheinen; der Mensch erhält die Filaria medinensis, indem er zu- sammen mit dem Trinkwasser Cyclopiden verschluckt. Ferner ist hin- sichtlich der Filaria rytipleurites Deslongch. nach den Untersuchungen von Galeb?) bekannt, dass dieser Parasit der Ratte (Mus decumanus) zum Zwischenwirt die gemeine Küchenschabe (Periplaneta orientalis) hat, in deren Fettkörper sie als ineystierte Larve erscheint. Die Ratten infieieren sich mit der Filaria rytipleurites, indem sie die Küchenschaben 1) Mit einem Wort, die weiblichen Geschlechtsorgane des C'ystoopsis acipenseri bestehen aus den gewöhnlichen drei Teilen: dem Ovarium, dem Eileiter und dem Uterus. 2) A.P.Fedschenko. Ueber den Bau und die Fortpflanzung der Filaria medinensis (Nachrichten der Kaiserlichen Gesellschaft der Liebhaber der Natur- wissenschaft, Anthropologie und Ethnographie). Bd. VIH (I), 1870, p. 71, 1 Taf. (Russisch.) 3) Osman Galeb. Observations et exp6riences sur les migrations du Filaria rytipleurites, parasite des Blattes et des Rats. (Compt. rend. Ac. Se. Paris. T. LXXXVII, Nr. 2 [8 Juillet 1878], p. 75—77). Zykoff, Wo sollen wir den Zwischenwirt des (©. acipenseri N. W. suchen? 933 verzehren. Diese Facta zusammenstellend und die Analogie sowohl in der Organisation, wie auch insbesondere in dem subdermalen Parasitis- mus der Filaria medinensis und des Oystoopsis aciy enseri im Auge habend, kam ich zu dem Schluss, dass die in das Wasser geratenen ineystierten Larven von Oystoopsis in den Darmkanal desjenigen wirbellosen Tieres gelangen müssen, welches die Hauptnahrung der Sterlete ausmacht. Der Sterlet ist infolge der Lage der Mundöffnung und seiner ganzen Organisation ein sich am Boden aufhaltender Fisch, auf welchem er auch seine Nahrung, welche aus Larven von Dipteren, Würmern u. s. w. besteht, findet. Es gelang, durch Aufschneiden des Magens und des Darms der Sterlete ihre Lieblingsspeise zu finden. Nach den Unter- suchungen von J. D. Kusnetzoff'), welche von Dr. OÖ. Grimm?) be- stätigt wurden, bilden die Hauptnahrung der Sterlete in der Wolga Simulialarven, wahrschemlich Larven der Art Simulia reptans L. Deswegen denke ich, dass wir in der Simulialarve den Zwischenwirt des Oystoopsis acipenseri sehen müssen. Nachdem der mit ineystierten Larven dicht erfüllte Uterus des Cystoopsis ins Wasser geraten ist, lässt derselbe infolge der schnellen Zerstörung seiner äußerst dünnen Wand diese Larven frei, deren Cyste ihnen als vortrefflicher Schutz gegen die Einwirkung des Wassers dient; und diese ineystierten Larven, nachdem sie auf den Boden gefallen sind, werden zur Nahrung der Simulia. Diese Voraussetzung findet ihre Bestätigung darin, dass die Larven der Simulia, wie bekannt, am Boden in fließendem Wasser leben und an den Kopfseiten mit besonderen fächerförmigen Fortsätzen versehen sind, welche einen Wasserwirbel erzeugen, durch welchen die Nahrungsteilchen in die Mundhöhle hineingerissen werden. Planchon?) fand im Oesophagus der Larven von Simulia lebendige kleine Tiere; er sagt: „en dissequant le tube intestinal d’une larve, j’ai fait sortir de son oesophage une prodigieuse quantite d’animalecules, les uns morts, les autres vivants“®). Indem ich meine Voraussetzung ausspreche, hoffe ich und behalte mir das Recht vor, im Frühling des künftigen Jahres bei meinen zoologischen Arbeiten an der Wolga dieselbe durch Thatsachen zu bestätigen. [19] Moskau, 7. Dezember 1901. . W. Zykoff. 4) J. D. Kusnetzoff. Zur Biologie des Sterlets (Arb. d. St. Petersb. naturforschenden Ges. Bd. XXIII, 1892, p. 7-8). (Russisch.) 2) O0. A. Grimm. Kaspisch-wolgasche Fischerei. 1896, p. 72. (Russisch.) 3) J. E. Planehon. Histoire de la larve aquatique d’un Simulium (Flore des Serres et des Jardins d’Europe. T. VI, 1850—51). 4) 1. c. p. 188. 234 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen zum Teil nach neuen Versuchen. EineErwiderung auf dieAngriffe vonv.Buttel-Reepen und von Forel. Von Albrecht Bethe. Aus dem physiologischen Institut zu Straßburg i/Els. (Schluss.) Ich habe nun neuerdings bei Wiederholung meiner Experimente gefunden, dass das Nachhausefliegen oder das Zurückfliegen zum Auf- flugsort wesentlich von der Tageszeit abhängt (— vielleicht auch außer- dem von der Jahreszeit). Wenn man immer nur alte Tiere auswählt, so kehrt nie ein Tier zum Aufflugsort zurück, wenn man sie am Vor- mittag fliegen lässt; alle gehen heim. Nachmittags dagegen kehren die meisten zum Aufflugsort zurück und in den Abendstunden, d.h. 2—3 Stunden vor Untergang der Sonne alle (soweit meine Beobach- tungen reichen). Junge Tiere kehren leichter zum Aufflugsort zurück. Die Ursachen dieser Verschiedenheit festzustellen ist ein Ding für sich. Es scheint mir, als seien die Resultate der „Schachtelversuche“, die v. Buttel z. T. selber bestätigen konnte, ihm unbehaglich, und er hält sie für „wenig beweiskräftig“, weil die Versuche für die Bienen „unter so völlig anormalen Verhältnissen“ vor sich gehen. Ich halte es für gänzlich gleichgültig, ob die Bedingungen normal oder abnorm sind, denn sowie sie zeigen, dass die Biene im stande ist, ohne optische Merkmale einen Punkt im Raum wiederzufinden, so ist dies ein Finger- zeig, dass sie auch zur Wiederfindung des Stockes optischer Merk- zeichen nicht bedarf. Ich habe nun angegeben, dass bei meinen Versuchen (wenigstens bei manchen) keine optischen Merkmale vorhanden gewesen seien, welche den Bienen als Anhaltspankt für die Lage des Aufflugsortes hätten dienen können. v. Buttel sagt dagegen, dass, „wenn die Wiese für Menschenaugen vielleicht auch keine Gegenstände enthielt, nach denen man sich optisch hätte orientieren können, für die Bienen dennoch zahllose Orientierungsmerkmale vorhanden gewesen sein mögen. Wer da weiß, mit welcher bewunderungswürdigen, mensch- liches Vermögen weit übertreffenden Sicherheit die Biene unter Hun- derten dicht zusammenstehender Bienenwohnungen von verwirrender Gleichartigkeit ihr Heim in pfeilsebnellem Fluge auffindet, der wird hieran nicht zweifeln“. Bei dem ganzen Streit handelt es sich darum, ob es optische Merkmale sind, die es bewirken, dass die Bienen im „pfeilschnellen Fluge“ „unter Hunderten dicht zusammenstehender 3ienenwohnungen“ ihr Heim auffindet, und hier setzt er den ganzen strittigen Punkt als bewiesen voraus, d. h. er benutzt die Behaup- tungals Voraussetzung in einer Hilfsrechnung des ganzen Exempels. Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 2335 Die Unzulässigkeit dieses Verfahrens, das noch au anderen Stellen hervortritt, lernt man bereits in der Schulmathematik. Da v. Buttel die Möglichkeit, es seien doch photische Reize, die die Bienen zurückführten, nicht für ausgeschlossen hält, so habe ich meine Versuchsanordnung noch verändert. Als Aufflugsort wurde ein gepflügtes Feld (brauner Boden) von 74 und 40 m Ausdehnung ge- wählt, etwa 1500 m vom Stock. An dasselbe stießen gleichmälige, geschnittene Kornfelder von großer Ausdehnung. Bis zu den nächsten Bäumen und Häusern waren nach allen Seiten Entfernungen von mindestens 300 m. Etwa in die Mitte des Feldes (Punkt a) wurde die Bienen- schachtel auf eine mit einem Brett versehene Stange von 1,80 m Höhe gestellt. (Mehrere Versuche. Alle im Juli und Anfang August 1900 und 1901. Zeit 4—5!), Nachmittags. Fast windstill. Sonne.) Die Schachtel wurde geöffnet; alle Bienen kreisten einigemal um die Stange und flogen dann hoch, so dass sie nicht mehr sichtbar waren. Dann wurde die Stange (das Lokalzeichen) ohne die Schachtel nach einem 8-10 m entfernten Punkt gestellt (b) und ich selber (c) lege mich, was ich auch schon früher gethan, an die Spitze des gleichseitigen Dreiecks (ab ec). Bei dieser Versuchsanordnung kehrten alle Bienen, die überhaupt zurückkehrten, nach a zurück, kreisten dort, oder schlugen genau (d. h. mit Abweichungen von höchstens 30—40 cm) über a (in der Höhe von 1—2 m) scharfe ‚Haken und flogen immer wieder weit fort. So habe ich z. B. einmal bei 8 Bienen in 10 Minuten 30 Besuche von a gezählt. Manchmal machten sie große Kreise, die bis über b fortgingen, sie um- kreisten aber nie b. Gelegentlich umkreisten sie mich auf kurze Zeit; niemals kamen aber bei mir die kleinen Kreise und scharfen Haken vor, die sie über a machten. Wurde die Stange nach a zurück- gestellt, so kreisten die Bienen länger und in kleineren Kreisen über a, setzen sich aber fast nie. Wenn ich jetzt die Schachtel heraufsetzte, so stürzten sich die Bienen sofort nach kurzem Vorspiel hinein. (Im Deckel war nur eine kleine Thür geöffnet.) Ich habe dann einmal die Schachtel auf den Boden bei a gesetzt. Die Bienen flogen heraus und kreisten über dem Brett (also etwa 2 m hoch, setzten sich aber erst wieder, als ich die Schachtel heraufsetzte. Wurden die Bienen wieder aufgejagt und der Stock wieder nach b gesetzt, so kreisten sie bei der Rückkehr wieder nur über a. In anderen Versuchen habe ich nun das Lokalzeichen wesentlich verstärkt, d. h. ich habe am Aufflugsort ein 6 qm großes hellgraues Papier, das mit großen blauen Flecken beklebt war, ausgebreitet und die Stange mit der Schachtel in die Mitte gesetzt. Nach dem Auf- fliegen wurde Stange und Papier nach b gerückt. Hierbei kam folgen- des zur Beobachtung: Schwebten beim Verrücken einige Bienen noch über dem Papier, so folgten sie dem Papier. Andere, die hochgeflogen 336 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. waren, kehrten nach a zurück, kreisten dort in 1—2m Höhe, dehnten ihre Kreise bis b aus, kreisten auch dort in sehr viel größeren Kreisen und kehrten immer wieder nach a zurück. Sie setzten sich bei b auch dann nicht, wenn ich die Schachtel aufsetzte. Die Kreise wurden bei b etwas kleiner. Wurde Papier und Stange nach a ge- bracht, so kreisten die zurückkehrenden Bienen ganz klein bei a über dem Brett, setzten sich aber meist nur, wenn ich die Schachtel auf- setzte. Rutschte ich Papier mit Stange und Schachtel wieder nach b, so flogen die Bienen hoch auf und dann wieder nach a und besuchten b nur gelegentlich, wie vorher. Sitzen blieben sie nie. Flogen sie aber nur wenig hoch, so folgten sie dem sich bewegenden Gestell in Kreisen, setzten sich aber nie auf die Schachtel und kehrten immer wieder nach a zurück. Zu bemerken ist hier noch, dass die Bienen, welche nach a zurück- kehrten, manchmal erst tiefe Kreise in ungefährer Höhe des heimat- lichen Flugloches (60 em vom Boden) machten und sich dann zur Höhe des ursprünglichen Aufflugsortes (1,50—2 m) hinaufschraubten. Auch dann, wenn die Stange mit Schachtel bei a war, wurde dies einigemal beobachtet und einmal sogar beim ersten Abflug; in diesem Fall schwebten sie erst in kleinen Kreisen über der Schachtel, dann senkten sie sich tiefer und tiefer (bis etwa 20 cm über dem Boden) und nach einigem Verweilen in dieser Höhe stiegen sie schnell hoch und ent- schwanden dem Auge. v. Buttel bringt dies Verhalten damit in Zu- sammenhang, dass die Bienen immer den Aufflugsort in der Höhe des heimatlichen Flugortes suchten. Ich kann dem gegenüberstellen, dass bei plötzlicher Erhöhung des Bodens am Stock die Bienen mit der- selben Sicherheit wie sonst ins Flugloch hineinflogen. Ich brachte zu dem Zweck an einem guten Flugtag vor meinem Bienenhäuschen, dessen Fluglöcher 60 em vom Boden entfernt sind, ein großes Brett von 3 m Länge und 2 m Breite so an, dass die Entfernung der Flug- löcher vom Brett nur 10 cm betrug. Die Bienen gingen ungestört hinein; nur diejenigen, welche beim Anflug einen Bogen nach unten machten, stockten etwas, weil das Brett ihre Flugbahn schnitt. Ich habe auch noch eine ganze Anzahl „Schachtelversuche“ auf ebener Erde gemacht. Bei diesen konnte nie beobachtet werden, dass die Bienen den Aufflugsort in der gewöhn- lichen Höhe des Flugloches suchten. Alle, die zurückkehrten (nachdem sie vorher sehr hoch gestiegen waren und manchmal 4—6Minuten fortgeblieben waren), gingen immer direkt zum Boden. Ich glaube daher, dass das vorher erwähnte Verhalten mit der Höhe des Flugloches kaum etwas zu thun hat. Diese Versuche zur ebenen Erde wurden auf einem mehrere hundert Quadratmeter großen, gleich- förmigen Kiesplatz (Straßburger Hafengebiet) angestellt und bei ihnen konnte wieder beobachtet werden, mit welcher frappierenden Genauig- Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. 237 keit die Bienen zur Aufflugsstelle zurückkehren können. Die Schachtel wurde auf den Boden gestellt, nachdem vorher an dieser Stelle in der Mitte ein Kieselstein umgedreht war, so dass seine feuchte Seite nach oben gerichtet war und so die Stelle gut erkennbar machte. Die Bienen in der Schachtel konnten dies Merkzeichen natürlich nicht sehen. Wenn die Bienen ganz hoch geflogen waren, wurde die Schachtel verrückt und zwar immer nur um ein kleines Stück (10—25 em). Bei mehreren Einzelbeobachtungen (und etwa 12 verschiedenen zurück- kehrenden Bienen) habe ich nie gesehen, dass eine Biene sich auf die verschobene Schachtel setzte. Immer setzten sie sich an die Stelle, wo die Schachtel vorher gestanden hatte, „suchten“ dort häufig emsig herum, gruben sich sogar zwischen die Steinchen, nahmen aber von der dieht danebenstehenden Schachtel keine Notiz. Auch um mich kümmerten sich die Bienen bei dieser Versuchsserie nicht. Wurde die Schachtel nach Aufjagen der Bienen wieder an die alte Stelle gestellt, so gingen sie natürlich sofort Linein. Trotz der sehr großen, sgleiehförmigen Fläche, auf der die Schachtel und ich die einzigen Merkzeichen waren, trotzdem ich die Schachtel verstellte und selbst den Platz oft wechselte, wird v. Buttel und Forel wohl auch jetzt noch behaupten, dass solche Versuche nur ein Beweis für das außerordentlich gute Auge und für das hervorragende Gedächtnis der Bienen seien, die sich natürlich in diesem Fall irgend ein Glimmerstäubchen auf einem Kieselstein als Lokal- zeichen gemerkt hatten. Ich vermag diesen Schluss nicht zu ziehen, sondern muss wiederholen, dass eine uns unbe- kannteKraft- oder Energieform, ein uns fremderReiz den wesentlichsten Faktor beim Heimfinden der Bienen aus- macht. Neben diesem unbekannten Reiz habe ich schon immer dem chemischen Reiz (welcher vom Neststoff ausgeht, den die Bienen im Stock und auch in den Schachteln zurücklassen) eine gewisse Rolle zugeschrieben. Dies leuchtet auch aus den neuen hier mitgeteilten Versuchen hervor, denn meistens setzt sich die Biene nur dann bei hohem Abflugsort, wenn die Schachtel auf der Stange steht. Doch ist der andere Reiz stärker, da sie bei Fortnahme der Schachtel nicht in derselben bleibt, sondern zum Aufflugsort zurückkehrt. Sind sehr auffallende Lokalzeichen vorhanden (Papierteppich), so spielen auch diese eine Rolle — das gebe ich jetzt zu—; sieist aber minimal und ist experimentell bisher nicht erwiesen gewesen. Auf die logischen Inkonsequenzen, die mir v. Buttel vorwirft, brauche ich nur kurz einzugehen. Er sieht einen Widerspruch darin, dass ich dieselbe „unbekannte Kraft“, d. h. denselben Reiz, die Bienen einmal zum Stock, ein andermal zu bestimmten Trachtstellen, ein 238 Bethe, Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen. drittes Mal zur Schachtel hinführen lasse. Hätte v. Buttel auch den Teil der Arbeit genauer gelesen, der den Ameisen gewidmet ist, so müsste er dort die Erklärung gefunden haben: Ob ein Tier zum Nest (resp. Stock) hingeht oder sich von ihm entfernt, hängt nach meiner Meinung von dem physiologischen Zustand des Tieres ab. Es treten zum leitenden Reiz andere Reize hinzu. Die trachtbeladene Biene ver- anlasst dieser Zustand, dem Reiz in der Richtung zum Stock zu folgen und umgekehrt. Es kommen überhaupt für viele Verrichtungen dieser wie anderer Tiere sehr häufig mehrere Reize zu gleicher Zeit in Be- tracht; sind sie nicht vereinigt, so treten andere Reaktionen auf (Notwendigkeit der Koexistenz gewisser Reize). Damit z. B. die heim- gekehrte Biene ihre Tracht ablädt, ist Dunkelreiz notwendig (neben verschiedenen anderen, besonders chemischen Reizen). Oeffnet man den Stock, so dass es drinnen hell wird, so lädt sie nicht ab, sondern kehrt zum Flugloch zurück u. s. f. Eine sehr hübsche Beobachtung über die notwendige Gleichzeitigkeit gewisser Reize zu gewissen Ver- richtungen teilt mir Herr F. Diekel in Darmstadt freundlichst mit: Man öffnet vorsichtig eine Kastenwohnung mit Fenster. „Die Bienen bewegen sich ruhig auf der Honig enthaltenden Wabe. Nicht lange aber braucht das Tageslichteinzufallen und sie werden bemerken, wie sich immer mehr Bienen über die gefüllten Zellen hermachen und sich vollsaugen“. Es wirkt eben hier der Reiz des Honigs zusammen mit dem Reiz des Lichtes anders als ohne Licht, und der Honig wird anscheinend behandelt als befände er sich draußen im Freien. Ich habe nie die Absicht gehabt, das Bienenleben erschöpfend zu behandeln, sondern bin mir wohl bewusst gewesen, dass noch viel un- befangenes Studium dazu gehört, um zu einiger Klarheit zu gelangen. Aber an der Unbefangenheit, dem vorurteilslosen, methodischen Vor- gehen fehlt es den meisten. Fast alle stecken bis über die Ohren in Vorurteilen und nehmen leichtfertige Erklärungen als Beweise hin. Die in vielen Punkten so anregende Arbeit von v. Buttel-Reepen hat mich nur noch mehr davon überzeugt, wie sehr Imker und imkernde Zoologen in alten Vorurteilen drinstecken, selbst wenn sie mit dem besten Willen und viel Talent an die Sache herantreten. [16] Litteratur. [1] Wasmann: Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. Stuttgart, Erwin Nägele, 1899. [2] Bethe: Pflüger’s Archiv, Bd. LXX. [3] Bethe: Pflüger’s Archiv, Bd. LXXIX. [4] v. Buttel-Reepen: Sind die Bienen Reflexmaschinen. Leipzig 1900. (Auch im „Biologischen Centralblatt“, Bd. XX.) [5] Forel: Sensations des Insectes. Rivista di Biologia generale. Vol. II. Como 1901. [6] Bethe: Pflüger’s Archiv, Bd. LXVII. [7] Beer, Bethe und v. Uexküll: Biologisches Centralblatt, Bd. XIX. Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 939 Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens und über die Entstehung der Gastropoden. Von Dr. Heinrich Simroth (Leipzig). Die Asymmetrie und Aufwindung des Schneckenhauses hat in unserer Zeit der entwicklungsmechanischen Studien, — mag man sie als einen neuen Wissenschaftszweig auf das ontogenetische, meist teratologische Experiment beschränken wollen, oder wie es das Archiv für Entwicklungsmechanik längst thut, in die bereits bewährte zoologische Methode physiologisch-mechaniseher Erklärung auslaufen lassen —, den Scharfsinn der Zoologen oft herausgefordert. Spengel hat die Umlagerung der sogen. Mantelorgane zuerst klargelegt, Bütschli hat sie auf ungleiches Wachstum der Mantelrandhälften zurückgeführt; ich habe dann eine biologische Erklärung gesucht in der einseitigen Aus- bildung der Geschlechtswerkzeuge, da bei dem breiten Saugfuß des Prorbipidoglossums die Begattung nur einseitig erfolgen konnte, wie denn in der That bei den Schnecken das einzige unpaare Organ, von denen, die sonst paarig vorkommen bei den Weichtieren, die Gonade ist mit ihren Ausführgängen. Man hat sich, ohne mich direkt anzu- greifen, doch allgemein gescheut, meiner Auffassung beizupflichten, und zwar wohl aus doppeltem Grunde. Einmal gelang mirs wohl nicht zur Genüge, bei der verschiedenen, oft weit nach vorn gerückten Lage der Geschlechtsöffnung den überzeugenden morphologischen Nachweis zu führen, dass dieser Porus ursprünglich am Mantelrande gelegen habe, dass also in der That meine Erklärung zu dem erwähnten, von Bütschli aufgestellten Wachstumsgesetze den Schlüssel gäbe; dann aber fiel der Gedanke, dass die Schnecken sich ursprünglich begattet hätten, auf um so weniger vorbereiteten Boden, als gerade die meisten der altertümlichsten Gastropoden, der Diotocardien, der Begattungs- werkzeuge zu entbehren und ihr Sperma frei ins Meerwasser zu ent- leeren scheinen, nach Art der Muscheln, der Chitonen und Scapho- poden. So sah man sich nach anderen Erklärungen um, vor allem brachte Lang in bekannter Weise neue Momente vor, die Einengung und kegelförmige Erhebung der anfangs flachen Rückenschale zum Zwecke leichterer Beweglichkeit, die Nötigung, diese Schale wegen des Wasserwiderstandes nach hinten überzulegen, die weitere Nötigung, während des dadurch bewirkten Verschlusses der hinten gelegenen'Atem- höhle die Schale asymmetrisch schräg nach hinten zu richten, dadurch gesetzte ungleiche Druckverhältnisse in der Atemhöhle und am Mantel- rande, die schließlich zu dessen Asymmetrie führten. Manche Forscher sind von dieser Ableitung nicht ganz befriedigt worden, sie haben teils andereMomente verantwortlich gemacht, teils den Weg der Umbildung mo- difiziert; soPlate, Goette, Pelseneer, Haller, Grobben, Thiele. Auch das Ausland, namentlich die Franzosen, haben sich an der De- 240 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. batte beteiligt. Doch hat Lang’s Anschauung, wie mir scheint, mit Recht so viel Uebergewicht behalten, dass sie Hescheler in der neuen Auflage und Bearbeitung von Lang’s vergleichender Anatomie in erster Linie wieder berücksichtigt. Ich selbst bin allerdings, wie- wehl ich der Theorie als einem Hilfsmittel bei der Erklärung der Um- bildung einen hohen sekundären Wert zuschreibe, von meiner mor- phologischen Anschauung nicht abgegangen, und bei der Bronnbearbeitung habe ich darauf hinweisen können, dass weit-mehr Vorderkiemer noch im Besitze eines Penis sind, als man bisher anzunehmen geneigt war, ja dass selbst so altertümliche Formen, wie Docoglossen, das Organ noch haben, allerdings nicht in der Gezeitenzone, wo sie zu halber Sesshaftigkeit verurteilt sind, sondern in der Tiefe. Es lag nahe ge- nug, ein solches Vorkommnis keineswegs als Neuerwerbung, sondern, wie bei so vielen abyssicolen Formen, als ein in der ruhigen Umgebung der Tiefsee aufbewahrtes Relikt zu deuten. Wenn ich es inzwischen vermieden habe, auf das Kapitel abermals ausführlich mich einzulassen, so geschah es aus dem zweifellos nur zu berechtigten Grunde, dass ich wesentlich neue Argumente bisher nicht vorzubringen hatte. Es hieß abwarten, bis oder ob neue Thatsachen auftauchen würden, die neues Licht auf die Frage zu werfen schienen. Jetzt scheint mir der Augenblick gekommen zu sein, wo die Kombination verschiedener in- zwischen zu Tage getretener Untersuchungen und Gesichtspunkte ge- eignet sein dürfte, der Diskussion ein ganz verändertes und sicherlich interessantes Aussehen zu geben. Die Thatsachen liegen teils auf morphologischem, teils auf zoogeo- graphischem Gebiet. Ich wende mich zunächst den letzteren zu, die, wenn sie richtig sind, der Geographie so gut wie der Geologie und Paläontologie auf lange Zeit hin eine Fülle von Anregung geben dürften. A. Gebiete kontinuierlichen Lebens. Die Geologie spricht seit langem von der Verlegung des Nordpols, von Schwankungen und Verschiebungen der Erdaxe; nur ist es bisher nicht möglich gewesen, das Problem genauer zu fassen. Nun hat sich mein Freund, der Techniker Paul Reibisch, der auch mit einigen malakologischen Arbeiten (über den Kaukasus, über die Galapagos) hervorgetreten ist, vom mechanischen Standpunkte aus mit der Frage beschäftigt und ist zu einer bestimmten Anschauung gekommen. Da- nach handelt es sich bei der Schwankung der Erdaxe um eine Ge- setzmäßigkeit, so zwar, dass zwei Punkte des Aequators, die er Schwingpole nennt, gewissermaßen fest bleiben, also immer ihre äquatoriale Lage inne halten, während die Erdaxe in einer dazu senkrechten Ebene um etwa 40° periodisch hin und her schwankt. Die geologische Begründung, die zur Zeit meiner Ansicht nach noch Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. Al auf relativ wenige, wenn auch gute Daten zurückgreift, wolle man in seiner Arbeit nachlesen !). Ich führe nur einiges an. Die beiden Schwingpole, die natürlich die Endpunkte eines Erddurchmessers bilden müssen, liegen in Sumatra und Eeuador. Einige allgemeine Gründe für diese Auffassung. Nimmt man als Ursache für die Einbrüche des Festlandes oder der Erdkruste, von allen lokalen Konstellationen ganz abgesehen, die verschiedene Druckverteilung, — wobei man in üblicher Weise die durch die allmähliche Abkühlung gegebene Schrumpfung und Faltung der Oberfläche mit heranziehen oder nach Belieben darauf verzichten kann —, dann ergiebt die Centrifugalkraft zusammen mit der polaren Abplattung, wie allbekannt, den höchsten Druck an den Polen, den geringsten am Aequator, woraus eben die Form des Geoids mit der polaren Abplattung folgt. Demgemäß müssen die Schwingpole, die immer unter dem Aequator blieben, am weitesten vom Erdmittelpunkte entfernt sein, da sie von allen Punkten der Erdoberfläche dauernd unter dem geringsten Druck standen. In der That ist der durch Ecuador und Sumatra gelegte Durchmesser der Erde, worauf mich Herr Reibisch mündlich auf- merksam machte, der größte, der existiert, zufolge des gebirgigen Charakters beider Pole. Dass dabei der westliche Pol, Ecuador, be- trächtlich höher ansteigt, wird unten seine Verwendung finden. Im Gegensatz dazu muss die Ebene jenes zu diesem Durchmesser senkrechten Umkreises, in welchem die Erdaxe ihre Schwingungen aus- führt, am meisten eingebrochen sein, da alle ihre Punkte zeitweilig vom Aequator weg, und ein großer Kreisbogen ebenso zeitweilig unter den Nord- und Südpol zu liegen kam. Dieser Schwingungskreis wird aber durch den Meridian bezeichnet, der gerade durch die Behringsstraße geht. Das Bild des Pacifics entspricht also ohne weiteres mit seinen Bruchrändern der theoretischen Forderung. Die andere Hemisphäre mit dem Atlantic und Indie widerstrebt dagegen dem konstruierten Bild; und die Ursache ist darin zu suchen, dass sich Afrika, als: ein uralter Horst, dem Einbruch widersetzte. Wie mir scheint, ist das alte Hochland von Dekhan ebenso zu beurteilen. Die Störung scheint sich sogar bis Madagaskar zu erstrecken, also den ganzen nördlichen Teil des Indices zu umfassen, das bekannte Lemurien, den hypothetischen Schöpfungsherd der höheren Säuger- ordnungen oder Primaten. Denkt man sich diese Horste weg, bezw. untergetaucht, dann würde unsere Hemisphäre einen Ozean darstellen von annähernd demselben Umriss wie der pacifische. Europa ‘würde ‚zum größeren Teil wegfallen. Skandinavien würde die Parallele dar- 1) Paul Reibisch. Ein Gestaltungsprivzip der Erde. 27. Jahresber. des Ver. für Erdkunde zu Dresden, 1901. S. 105—124. XX1l. 16 242 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. stellen zu Alaska; und ich mache darauf aufmerksam, dass jener Unterschied, den Süß in der Tektonik der paeifischen und atlantischen Küsten aufstellte, am Paeific die Gebirge parallel zur Küste, am At- ES IE BE Einige identische Punkte um den westlichen Schwingpol. OD) Schwingpol. Riesenequisetum. Tapir. 1. Dipnoer: Lepidosiren. 2. Alligator. Scaphirhynchus. Spatularia. 3. Riesensalamander: Menopoma. 4. Maximum der Landdeckelschnecken. 5. Limulus; der südliche Flügel auch Pleurotomaria. lantie mehr weniger senkrecht zu ihr und an ihr abgebrochen, auf Skandinavien keine Anwendung zu finden scheint, da dieses viel mehr unter den pacifischen Typus fallen würde, eben weil sich bis hier herauf die Störung durch den afrikanischen Horst weniger bemerk- barımacht. Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 343 Das Gesetz würde sich also darauf zuspitzen, dass an den beiden Schwingpolen konstant tropische Wärme geherrscht hat, dass aber von hier aus die klimatischen Schwankungen um so mehr zuge- 2 Be Einige Punkte um den östlichen Schwingpol. O Schwingpol. Baumartiges Lycopodium. Tapir. 1. Dipnoer: Ceratodus. 2. Alligator. Scaphirhynchus. Spatularia. 3. Riesensalamander: Uryptobranchus. 4. Maximum der Landdeckelschnecken. 5. Limulus ; der nördliche Flügel auch Pleurotomaria, nommen haben, je mehr man sich der dazu senkrechten Schwingungs- ebene, dem Schwingungskreis nähert. Einige Folgerungen ergeben sich ohne weiteres: Nordeuropa, das gerade in den Schwingungsmeridian fällt, hatte die stärkste Eiszeit; Ostsibirien dagegen, gerade über dem Schwingpol, hatte nach neueren 16* 5) 44 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen . Lebens. Forschungen’ überhaupt "keine vollständige Bedeckung mit Inlandeis. Reibisch macht darauf aufmerksam, dass nach amerikanischen Unter- suchungen die Glacialzeit nicht gleichzeitig einsetzte, sondern von Osten nach Westen vordrang, also ganz im Sinne der Theorie. Besonders klar werden, wie mir scheint, die Anwendungen auf die frühere Wasserbedeckung. Man wird zunächst und vorläufig die feste Erdoberfläche oder Lithosphäre, um schwierigen Verwickelungen zu entgehen, als unver- änderlich betrachten und als solche um m Schwingpole schwanken lassen müssen, die weiteren Folgerungen für Bruch und Einsturz künf- tiger Erörterung überlassend. Das Meer dagegen, die Hydrosphäre, wird bei ihrer Beweglichkeit jedesmal die Form las Geoids annehmen müssen, — von den durch die Massenanziehung der Kontinente ge- setzten Unregelmäßigkeiten abgesehen. Da nun aber der kurze Erdradius von dem längsten um 21—22 km übertroffen wird, so folgt, dass ein Punkt der Meeresküste im Schwingungs- meridian, wenn er vom Pol bis unter den Aequator rückte, 22000 ım Wasserbedeckung über sich haben würde. Es ergiebt sich also ohne weiteres, dass selbst geringere Schwankungen, wie sie oben angenommen werden, vollkommen hinreichend sind, um einen Punkt von 5000 m Tiefe über das Meeresniveau emporzuheben, oder ihn ebenso wieder unterzutauchen. Damit haben wir aber ein Ausmals, welches genügt, sämtliche hypothetische frühere Landzusammenhänge, wie sie durch submarine Brücken angedeutet und von der Zoogeographie so vielfach in Rech- nung gestellt sind, jetzt wirklich nachzurechnen und konstruktiv auf ihren Wert und ihre Folge zu prüfen, die Landbrücken zwischen Nord- amerika und Europa, zwischen Nordamerika und Asien, zwischen Süd- amerika und Afrika, die Ausdehnung des südamerikanischen Fest- landes nach Westen, den Zusammenhang zwischen den Südspitzen der Kontinente, die Antarktisfrage also, die unbedeutenderen, aber wichtigen Brücken im malaischen Archipel, zwischen Ostasien und Japan u. S. w. Auf alle diese Fragen verzichte ich heute‘); ich weise nur daraufhin, dass Reibisch eraik die nach Süden nerranlen Strandlinien der südamerikanischen Cordillere in befriedigender Weise durch eine solche Schwankung, welche die Nordsüdriehtung der Küste schräg legen und die Südspitze dem Aequator nähern musste, erklärt hat. - Alle diese Fragen sollen, als vorläufig zu unbestimmt, aus der nachstehenden Er- örterung zuhächst ausgeschlossen bleiben. 4) Ich habe Herrn Reibisch um die große Mühe Ben die Erde in Mercatorprojektion zu zeichnen in den verschiedenen maximalen und mittleren Schwankungen, mit den jetzigen Festlandsumrissen und mit den aus dem Re- lief der Lithosphäre sich ergebenden jeweiligen Landbrücken und Transgressionen. Die Sache erfordert naturgemäß sehr viel Arbeit. Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 945: Für die folgenden Betrachtungen ist es nur nötig, darauf hinzu- weisen, dass schon eine mäßige Schwankung nach dem Aequator zu die relativ niedrige Landenge von Panama unter Wasser setzen und die vielgenannte Verbindung des Pacifies mit dem Atlantic zu wege bringen würde. Sie ist hier nötig, um den Zusammenhang zwischen Ecuador und Westindien naturgemäß zu begründen. Die erweiterten Gebiete der Schwingpole. Es kommt hier viel weniger auf die beiden Schwingpole selbst an, als auf das Gebiet ihres Umkreises, welches beständig tropisches Klima hatte. Es würde wohl auf einen Kreis um jeden Pol hinaus- laufen, mit dem Radius von ca. 23°, d. h. von der halben Breite der Tropenzone. Allerdings würde ein solcher Kreis bloß dann heraus- kommen, wenn die Schwankungen der Erdaxe im Schwingungskreis volle 90° oder 180° betrügen, d. h. wenn die Pole einmal ach der einen, das andere Mal nach der anderen Seite bis zum jetzigen Aequator pendelten. Da der Ausschlag nur etwa 40° betragen mag, so wird das Gebiet der kontinuierlichen Tropen vielmehr um jeden Schwingpol eine langgestreckte Ellipse bilden, deren große Axe in den Aequator, deren kurze in den Meridian fällt. Doch dürften die Temperatur- srenzen für die verschiedenen Organismen von hohem Wärmebedürfnis immer noch mehr schwanken, als wir bisher wissen. Zudem aber sind andere Faktoren in Rechnung zu ziehen, die Umrisse des Landes und die Meeresströmungen. Man braucht nur die Karte anzusehen, um zu finden, dass der Umkreis im Ostgebiet bei der ganz anderen insularen Zerklüftung ein ganz anderer wird als in dem gebirgigen Westen, an den- sich östlich das flache Amazonien anschließt. Ebenso setzen Dekhan und Afrika als Horste beim Ostgebiet ganz andere westliche en, als bei Ecuador. Eine Paralle möchte ich nur noch betonen, d. i. die Ausdehnung beider Gebiete nach Nordosten, — die Landenge von Panama submers gedacht (s. 0.). Es entspricht also einigermaßen Westindien dem malaiischen Archipel, der sich freilich wieder in viel weiterer Weise in der ostasiatischen Inselwelt bis Japan fortsetzt, unter dem Einfluss des warmen Kuro-Siwo. Wir haben also im allgemeinen im Ostgebiet die reichere Ausbeute zu erwarten'). 4) Ich gestehe, dass die überraschende Klarheit, welche die hier vorge- tragenen Ansichten in zoogeographischer Hinsicht verbreiten, mir es fast un- möglich machte, zu glauben, dass noch niemand auf die einfache Lösung ver- fallen wäre. Doch ist mir aus der Litteratur nichts bekannt. Auch macht die Skizze, die hier gegeben wird, keinen Anspruch, etwaige Prioritäts- rechte in Frage zu stellen. Die nachstehenden Folgerungen dürften bis jetzt nicht: gezogen sein. Am nächsten ist wohl Peschel in seinen „Neuen Pro- blemen zur vergleichenden Erdkunde“ gekommen. Aus dem Umstande, dass die gew öhnliche Erdkarte die Atlanten in Mercatorprojektion mit der Behrings- 246 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. Wie dem auch sei, die folgende Zusammenstellung wird einen Beitrag liefern zum Beweis der Sätze: 1. dass die Bildung der ältesten lebenden Tierformen nur im Tropenklima möglich war, 2. dass ihre Erhaltung ebenso beständig tropisches Klima erforderte, 3. dass die Ausarbeitung feinster gegenseitiger An- passung nur in äußerstlangsamer Naturzüchtung im kon- stanten Tropenklima zu erreichen war, 4. dass die Ausbreitung zunächst von den Tropen aus erfolgte in den jeweilig wärmsten Erdstrichen, je nach der Stellung der Erdaxe, 5. dass infolge des vorigen Satzes tropische Formen sich in der Ebene des Schwingungskreises am weitesten vom Aequator entfernen, 6. dass auf diesem Schwingungskreise entweder die stärkste Ausrottung der stenothermen und wärmebedürf- tigen Formen statt hatte oder umgekehrt die stärkste sekundäre Anpassung und Umwandlung. Im einzelnen werden wir Belege finden. Altertümliche Pflanzen an den Schwingpolen. Reibisceh macht darauf aufmerksam, dass allein in Ecuador baum- artige Schachtelhalme!), allein auf Sumatra eine baumartige Lyco- podiacee vorkommt, d. h. also Pflanzen, die in direkter Beziehung stehen zur alten Carbonflora, nicht mehr die alten Gattungen zwar, aber doch die einzigen ebenbürtigen und nächstverwandten Nach- kommen. Herr Stephani, wohl jetzt der beste Kenner der Hepaticae, er- zählt mir, dass ihm das Vorkommen besonders altertümlicher Formen auf Sumatra längst aufgefallen sei, ohne dass er eine Erklärung dafür gefunden habe. Nun überlege man die Stellung der Lebermoose. Die Thallophyten sind, wenn wir von den schmarotzenden Pilzen absehen, mit Ausnahme weniger Algen aufs Wasser angewiesen. Zum mindesten scheint es, als ob die terrestrischen morphologisch nicht wesentlich straße beginnt, glaubte ich schließen zu müssen, dass die richtige Anschauung selbstverständlich durchginge; ein Blick auf die ebenso verbreitete Karte der westlichen und östlichen Hemisphäre erweist indessen, dass die Anschauung doch unklar blieb, denn man scheidet einfach die Halbkugel mit der größten Landmasse von der mit der größten Wassermasse, was jedoch keinen tieferen Sinn hat. 1) 8. Leunis-Frank, Synopsis der Pflanzenkunde, Bd. III. Zquisetum giganteum, 11 m hoch, zwischen Bäumen kletternd, „im tropischen Südamerika“, Ecuador ist Hauptheimat. Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 247 von aquatilen abgewichen wären. Die erste höhere Stufe, die ledig- lich durch die Anpassung ans Land erreicht wurde (denn die ganze höhere Pflanzenwelt über den Thallophyten ist ein Produkt des Landes), bilden die Moose. Unter ihnen stehen die Hepaticae, welche noch in vielen Formen so viel Aehnliehkeit mit einem Thallus haben, als die ursprünglichsten da. Das heisst also nichts anderes, als dass die ur- sprünglichsten und niedrigsten Vertreter aller Land- pflanzen noch jetzt am östlichen Sehwingpol zu finden sind. Altertümliche Tiere Wenn ich mit Lingula beginne, so nehme ich mit dem wahr- scheinlich ältesten Bewohner unserer Erde allerdings zugleich einen, der nicht ganz ohne Ausnahme ist. Die Verbreitung stellt sich nach Oehlert (in Fischer’s Manuel de Conchyliologie) so, dass dem Westen das Subgenus Glottidea, dem Osten Lingula s.s. angehört. Die Arten verteilen sich folgendermaßen: Lingula Rewe . . . . 22.2... Sandwichsinseln R jaspidea, L. el N Japan = Adams Ru BT 23 Korea ” smaragdina) a. an» rn tiaa.elıdr Chinasse = ans ea ee ern st sp China), Amloına E Bine ah na enn Philippinen = anatina . . Bay Philippinen, Molukken Bi hirundo, at ep Mn Australien DarDa em. me AWestatrika, Guinea Glottidea myramidata. 2 2..°.0..% 2 Florida, Karolma e Entllarum IDEE ER. 202 Martinique = Audebardi... 2ER 21a Er ala Guatemala a SEmenE a: N ar, ars amama,., Peru 5 albida, Es ee uch. Kaliforsien Die Konzentration dieser ehrwürdigen, aus dem Cambrium herein- ' ragenden Form nach den Schwingpolen zu ist klar genug; die einzige Ausnahme, noch dazu kümmerlich genug, bildet Z. parva von der äquatorialen Küste Westafrikas, sie kann aber die Regel bestätigen. Zu betonen ist, dass die Form sich im flachen Wasser hält, also steno- therm ist. Dabei ist ihre geringe Ausbreitung über die Schwingpol- gebiete hinaus um so merkwürdiger, als wir durch Brooks die für eine Brachiopodenlarve langwierige planktonische Lebensweise der Larven kennen gelernt haben. Limulus, jene zweifelhafte Form zwischen Krebsen und Spinnen, für die ich terrestrische Entstehung in Anspruch nahm (Entstehung der Landtiere), ist doch der einzige überlebende Vertreter der Palaeo- straca, deren übrige, einst reich entwickelte Glieder bereits im Carbon ausstarben. Die Trilobiten reichen vom Cambrium bis zum Carbon, die Gigantostraca vom Silur bis zum Carbon, und die zwischen beiden 248 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. stehenden Xiphosuren vom Silur bis zur Gegenwart. Die beiden Arten aber, Limulus moluccanus und polyphemus sind auf die Mo- lukken einerseits und auf Westindien und Florida andererseits be- schränkt. Von den Spinnen liefern die am stärksten gegliederten Skorpione die ältesten sicheren Versteinerungen aus dem Silur. Ihre recente Verbreitung erstreckt sich jetzt wohl auf alle tropischen und sub- tropischen Länder und lässt keine weitere Gesetzmäßigkeit erkennen. Die Solpugen scheinen anderen Regeln zu folgen, sie haben sich so weit von der Tropenwärme emanzipiert, dass sie jetzt außer Australien in allen Erdteilen vorkommen und sogar im Kapland ihr Centrum zu haben scheinen. Die anderen Gliederspinnen dagegen, diePedipalpen, kaum weniger alt als die Skorpione, sind mit ihren beiden Familien, den geschwänzten Telyphoniden und den ungeschwänzten Phryniden wiederum in klassischer Weise auf die beiden Schwingpolgebiete ein- geengt, so zwar, dass das östliche außer dem malaiischen Archipel noch Ostindien mit einschließt. Von besonderem Interesse ist es dabei, dass sowohl östlich als im tropischen Amerika Vertreter beider Familien auftreten. Warum fehlen sie in Afrika? Hier, tritt Pfeffer’s An- schauung in ihr Recht, wonach die Tiere ursprünglich kosmopolitisch verbreitet waren, durch die äußeren Umstände jedoch auf ihre jetzigen Wohnsitze eingeengt wurden. Nur dass diese Anschauung bloß für bestimmte Tiere gilt und für diese wieder bloß für gewisse, durch die Wärmeverhältnisse geregelte Bezirke. Dass die Pedipalpen einst durch den ganzen jeweiligen Tropengürtel verbreitet waren, wird bezeugt durch die Entdeckung der Mierotelyphoniden oder Palpigraden auf Sizilien. Sie stellen, beinahe im Schwingungskreis, einen verkümmerten Rest dar aus einer Zeit, wo dieser Punkt unter den Aequator fiel; ähnlich wie sich von den großen paläozoischen Chernetiden jetzt nur die kleinen Bücherskorpione mehr oder weniger kosmopolitisch gehalten haben. Die kleine palpigrade Koenenia ist jetzt nicht nur aus den Mittelmeerländern bekannt, sondern auch vom weiteren Um- kreis des westlichen Schwingpols: Südliche Vereinigte Staaten, Mexiko, Centralamerika, nördliche Staaten von Südamerika, Chile, Argentinien. Die großen Pedipalpen sind bei den Schwankungen der Erdaxe überall ausgelöscht, außer im Umkreis der Schwingpole. Die Säuger liefern mehrere überzeugende Beispiele. Zunächst das oft erwähnte Fehlen der Marsupialien in Afrika, so sehr sie auch, einst weiter verbreitet, der südlichen Erdhälfte zu- streben. Man mag ja wohl, wie ich es namentlich im Anschluss an Haacke früher auch that, an ein Zurückweichen vor den höher diffe- renzierten Placentalien denken, wobei namentlich das Auftreten von Didelphys in Kalifornien und Florida charakteristisch ist, die ein Paar Sackgassen darstellen; sicherlich kommen die klimatischen Verhältnisse Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 249 noch mehr in Betracht; solche tiefstehende Formen sind unter den Homöothermen doch noch nicht anpassungsfähig genug, wie etwa unter den höheren Tiger, Wolf oder Mensch. Zudem entbehren die Beutler durchweg jenes Mittels, mit dem andere altertümliche Säuger kälteres Klima überwinden, die Fähigkeit des Winterschlafes nämlich. Und da ist es besonders bemerkenswert, dass von den drei ameri- kanischen Gattungen Didelphys, Chironectes und Caenolestes die letzt- genannte, die am seltensten ist, am spätesten entdeckt wurde und eine eigene Familie ausmacht, sich auf das Gebiet von Peru bis Bogota zu be- schränken scheint. Die späte Entdeckung weist auf die relativ kümmer- liche Durchforschung von Eeuador hin, daher wir von dort noch manche Ueberraschung erwarten dürfen. Geradezu klassisch sind die Tapire, die ja bloß noch an den beiden Sehwingpolen leben, klassisch wegen der weiteren Folgerungen. Die generische Indentität beweist, dass sie früher allgemein in den Tropen verbreitet waren. Sie sind aber die Ueberreste jener alten Huftiere, auf welche der Stammbaum der Pferde zurückgeht. Damit rückt auch deren Phylogenie in ein neues Licht. Die Frage nach dem Ort ihrer Entstehung, ob in der alten oder in der neuen Welt, scheint noch nieht endgültig gelöst zu sein. Das dürfte auch überflüssig werden, da vermutlich jene Vorfahren, die sich an den Tapir an- schlossen, mit diesem weithin verbreitet waren, so dass von einer engeren Lokalisation nicht gesprochen werden kann. Unter den Vögeln möchte ich die Megapodiden vom Ost- gebiet nennen. Diese malaiischen Großfußhühner oder Wallnister lassen bekanntlich ihre Eier entweder in einem zusammengescharrten Haufen faulenden Laubes oder, wie das philippinische Hammerhuhn, in heißem vulkanischen Sande ausbrüten. Das Junge ist beim Auskriechen weder nackt, noch mit Daunen bekleidet, sondern bereits flügge und vermag sein fertiges Federkleid sogleich zum Fliegen zu benutzen. Man kann die wunderliche Thatsache verschieden deuten. Endweder man konstruiert die Folge Nesthocker — Nestflüchter, wobei dann die Mega- podiden die dritte und höchste Stufe darstellen, oder man geht um- gekehrtv on den Nestflüchtern aus, erinnert an die Abstammung von den Reptilien, welehe auch fertig aus dem Ei kriechen, und nimmt dann die Großfußhühner als unterste Staffel, oder endlich, man ver- ziehtet bei dem manchfachen systematischen Durcheinander von Nest- hockern und Nestflüchtern auf die Fortpflanzung als Einteilungsgrund und betrachtet das gewissermaßen künstliche Ausbrüten der Wall- nister als eine Erwerbung sui generis. Man mag sich stellen wie man will, auf keinen Fall wird man um die Annahme herum kommen, dass die Anpassung nur in ganz allmählicher, langsamer Folge möglich war und nur in einem Gebiete, das zu keiner Zeit der tropischen Wärme entbehrte. 250 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. Erscheinungen intensiver Mimiery. Soviel ich weiß, hat Bates zuerst den Begriff der Mimiery ent- wickelt nach den Erfahrungen seiner Reise auf dem Amazonenstrom. Zweifellos kommen mimetische Anpassungen überall vor, am spär- lichsten jedenfalls in der arktischen Region, wo mehr die Schutz- färbung sich an Boden und Schnee anschmiegt, als dass ein Organis- mus den anderen zu kopieren strebte. In Amazonien aber drängte sich die Mimicry ihrer Fülle wegen von selbst auf. VonFritz Müller rührt wohl der Ausspruch her, dass der Sammler in den Tropen wegen der intensiven Nachahmung zunächst fast gar keine Tiere bemerkt, später aber, nachdem das Auge geübt, desto mehr. Auch dieser Forscher fußt auf Erfahrungen im neotropischen Gebiet. Demgegen- über steht der gleiche Reichtum von der malaiischen Inselwelt, man denke nur an die alte Gruppe der Heuschrecken, die von der Natur bald in die Form eines grünen Blattes, eines bemoosten Zweiges, einer roten Orchideenblüte oder einer kurzovalen Coceinellide umgegossen werden. In Afrika wird es an verwandten Erscheinungen nicht ganz fehlen, aber man hört weit weniger; schwerlich wäre hier der Begriff herausgearbeitet. Das mag z. T. an der späten Erschließung dieses Erdteils liegen, noch mehr aber, wie mir scheint, an seiner Lage im Schwingungskreis und den daraus folgenden Schwankungen. Jene gegenseitigen Schutzanpassungen erreichten ihr Maximum nur während ungemessener Zeiträume in den beiden Gebieten kontinuierlichen Lebens. Auch verlohnt essich, darauf hinzuweisen, dass das Maximum ’mimetischer Anpassung wohl bei den Orthopteren erreicht wird, d. h. bei Formen, die nicht nur alt sind, sondern auch in kontinuierlicher Folge sich entwickeln, wohl mit der geringsten Umwandlung, jedenfalls ohne Puppe, d. h. ohne jenen Zwischenzustand, der namentlich nur durch schrofferen Klimawechsel erworben worden sein kann. Yang-tse-kiang und Mississippi. Längst ist die wunderliche Parallele zwischen dem amerikanischen und dem chinesischen Strom aufgefallen. So alte Formen, wie Ganoid- fische, sind beiden gemeinsam. Von den Spatelstören (Spatularia s. Polyodon) lebt die eine Art, Sp. gladius, im Yang-tse-kiang, die andere, Sp. polyodon, im Mississippi. Scaphorhynchus ist im Strom- gebiet des Mississippi durch eine Art, in den süßen Gewässern Central- asiens durch vier Arten vertreten!). Dazu die neuere Entdeckung, dass ein Alligator, A. sinensis, im chinesischen Strom haust, da doch die Gattung sonst nur in den warmen Teilen Amerikas vorkommt. Man hat natürlich an die Verbreitung über eine Landbrücke gedacht; und Marshall macht darauf aufmerksam, „dass der Yang-tse-kiang 1) Marshall. Die Tierwelt Chinas. Zeitschr. f. Naturw. 73. . 1900. Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens, 251 = der südlichste Strom der Erde ist, der Störformen dauernd oder vorüber- gehend beherbergt“. Nun sind aber die Störe sicherlich keine eigent- lichen Nordfische, und die Ganoiden, schon ihres Alters wegen, eine wärmeliebende Gruppe, von der eben nur die Störe relativ weit nach Norden vorgedrungen sind. Die Verbindungsbrücke müsste sicherlich weit nördlich gesucht werden, wenn man namentlich den Alligator be- rücksichtigt. Dazu kommt die Schwierigkeit, dass außer dem Pacific auch noch die Ostgebirge Nordamerikas zu überschreiten wären. Ich glaube, ein vergleichender Blick auf die Karte löst die Schwierigkeiten ohne weiteres. Der Unterlauf des Mississippi und des Yang-tse-kiang haben trotz ihrer verschiedenen Richtung genau die gleiche Lage zu den Schwingpolen. Die Uebereinstimmung beruht vermutlich darauf, dass die Tiere, ursprünglich weiter verbreitet, von irgend welchen Schöpfungsherden aus, sich bei einer gewissen Stel- lung der Erdaxe in die Nähe der Schwingpole zurückgezogen und von hier aus bei einer anderen Stellung in vollkommen paralleler Weise, d. h. denselben durch die astronomische Lage bedingten klimatischen Bahnen folgend, in streng paralleler Riehtung in ihre heutigen Wohn- sitze gelangten, wo sie blieben. Wenn hier über die Zeit nichts aus- gesagt wird, so ist doch die Rechnung sicherlich exakter, als die mit jener Verbindungsbrücke. Die Urodelen. Ohne allzuweit auf allgemeine Fragen der Zoogeographie mich einzulassen, liegt es doch für mich nahe, hier auf die ähnliche Parallele zwischen der alten und neuen Welt hinzuweisen, welche sich in der Verbreitung der Molche kundgiebt. Auf der südlichen Hemisphäre fehlend, gehen sie wohl überhaupt nirgends so weit südlich, als in der Nähe der Schwingpole, am weitesten im Westen, weil der Aufent- halt auf dem Gebirge den an gemäßigteres Klima angepassten Tieren hier zu statten kommt. Dass die alten Geschöpfe einst auf der nörd- liehen Halbkugel allgemeiner verbreitet waren, z. T. wenigstens, wird bezeugt durch die Gattungen, die der alten und neuen Welt gemein- sam sind, Hemidactylium mit einer Art in Nordchina, einer zweiten in Südkalifornien, und einer dritten in den östlichen Vereinigten Staaten. Für eine parallele morphologische, biologische und geographische Aus- bildung bei der Wiederausbreitung (nach der Eiszeit?) zeugen die Riesensalamander, Oryptoßranchus von Ostasien, Koko-Nor und Japan (Marshall l.e.), Menopoma von den entsprechenden Teilen der Union, beide wohl durch den ständigen Aufenthalt im Wasser zu gleich- mäßigem, langanhaltendem Wachstum befähigt. Einige Fische. Der Unterschied des westlichen und östlichen Schwingpoles in Bezug auf die Höhe und entsprechende Feuchtigkeit scheint an den 252 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens, Fischen, welche das Land betreten, einen klaren Ausdruck zu finden. An dem höheren und trockeneren westlichen sind es hauptsächlich die durch einen stärkeren Hautschutz befähigten Panzerwelse, welche beim Versiechen ihrer Tümpel über Land wandern sollen, um neues Wasser aufzusuchen oder sich im Notfall in feuchte Erde zu bergen; am feuchteren Ostpol betreten modernere, weniger geschützte Kletterfische freiwillig das Land. Mir sind aus Afrika ähnliche Schilderungen nicht bekannt, von dem weiter verbreiteten Periophthalmus abgesehen. Es versteht sich von selbst, dass ich auch die verschiedene Stärke der Hautbedeckung mit der Verschiedenheit des Ortes in Verbindung bringe, wie denn die neuen Gesichtspunkte in mehr als einer Hinsicht mit den Ideen und Ausführungen, die ich früher (Entstehung der Land- tiere) versuchte, vielfach zusammentreffen. Westchina und die sonorische Region. ‘ Die neueren tiergeographischen Arbeiten (Blanford, Kobelt, auch Marshall) betonen das reiche Schöpfungscentrum im westlichen China, Tibet und Mupin oder Muping, trotz anscheinend wenig günstigen klimatischen Bedingungen, und trotzdem es an irgendwelchem Abschluss nach den verschiedenen Himmelsriehtungen fehlt. „Die Säugetierfauna des eigentlichen Tibet und die des Han-hai und des Tarimbeckens zeigen einen ganz erheblich selbständigen Charakter, so dass sie trotz der gemeinsamen Gattungen und Arten zum mindesten als eine selbst- ständige Provinz des paläarktischen Gebietes angesehen werden müssen. Ich erinnere nur an die Wildarten, durch welche unsere Haustiere hier vertreten sind oder waren, den Kulan, die beiden Kameele, den Yak, an die merkwürdige Fauna, diePereDavid am Ostabhang des Hochplateaus gegen Mu-ping hin fand“ (Kobelt, Studien zur Zoogeo- graphie I). Wir haben hier den Macacus tibetanus und Rhinopithecus Roxellana als merkwürdige Hochgebirgsaffen, den Arluropus, Ailurus, die Heimat der Wildschafe, die Antilopen Dudorcas, Pantholops, von Insecetivoren Nectogale, Anurosorex, die Heimat der Spitzmäuse, Des- mane und Maulwürfe, der echten Mäuse, Feldmäuse, Hamster, Murmel- tiere ete. (Marshall). Von den 46 Arten, welche das Blanford’sche Verzeichnis aus Tibet im engeren Sinne anführt, sind mindestens 50 (und fünf Gattungen) eigentümlich, und zahlreiche andere haben be- sondere Varietäten entwickelt. Das ist ein Verhältnis, wie wir es nur bei wenigen Inseln finden, deren Abtrennung schon in eine sehr frühe Zeit fällt und an deren zoogeographischer Selbständigkeit zu zweifeln niemand einfällt.“ | Die Lösung des auffallenden Problems fällt wahrscheinlich wieder unter den Gesichtspunkt, dass dieses Gebiet, gerade nördlich vom östlichen Schwingpol, nur wenig Veränderungen durchmachte, es ist teils ein Herd konstanter Bildung unter gleicher klimatischer Lage, Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 253 teils ein Refugium für die westlichen und östlichen Formen, die, zu- nächst unter gleichen Bedingungen entstanden, bei veränderter Stellung der Erdaxe sich hierher zurückzogen und hier weiter umformten. Die geographische Trennung gegen die Nachbargebiete liest in diesen Schwankungen, nicht in irgendwelchen Bodenhindernissen. Die westliche Parallele zu diesem merkwürdigen Gebiet scheint die centrale oder sonorische Region Nordamerikas zu sein, die, relativ reich an altertümlichen Schneckenformen, sich doch mit dem Osten nicht messen kann, weil der entsprechende Zuzug von Osten und Westen fehlte. Unter denselben Gesichtspunkt mit Westchinafällt wohl auch diemerk- würdige Uebereinstimmung vieler europäischen Tiere mit japanischen, Makaken, Vögeln, Schnecken (Eulota, Cyclophorus) u. v.a. Der gemein: same Ausgangspunkt lag am östlichen Schwingpol oder etwas nörd- lich davon. Die Schwankungen des Nordpols brachten zeitweilig die westlichen und östlichen Orte mit dem Ausgangspunkt unter die gleiche Breite. Der Schwingungskreis. Alles, was im dem durch die Behringsstraße gehenden Meridian liegt, musste im Gegensatz zu den Schwingpolen ‘die stärksten Schwan- kungen durchmachen. Dafür, dass im Schwingungskreis tropische Formen am leich- testen ohne aktive Wanderung nach denPolen zu geschoben werden, nur einige Beispiele: Kolibris und Oneidium in Alaska, der riesige Cryptochiton Stelleri in Kamtschatka; auf atlantischer Seite unser Oneidium celticum an Europas westlichen Küsten. Für Oneidium fällt die Parallele auf, dass die beiden Nordpunkte an der Ostküste liegen, im Atlantie und Pacific. ‘Von Afrika fällt auf (von der Südspitze abgesehen) die häufig er- wähnte, so späte als starke Einwanderung hochentwickelter Huftiere, namentlich der Pferde und Antilopen, die nun auf dem neuen Boden ein Feld für überreiche Entwicklung finden. Kann man im allgemeinen die Tropen als den Sitz einer Reliktenfauna aus der Urzeit bezeichnen, so gilt das doch am wenigsten für Afrika, das im Schwingungkreis liegt. Wollte man etwa, um eine gewiss alte äthiopische Form zu nennen, auf die Dipnoer hinweisen, die hier so gut als im Südosten der Schwingpole hausen, dann fällt sofort wieder der Unterschied auf, dass ‚allein der Protopterus unter ihnen die Gewohnheit des Trocken- schlafs angenommen hat, als ob nicht der Ceratodus in Australien ebenso trockenes Klima zu überstehen hätte. Die Fähigkeit ist höchst ‚wahrscheinlich gewonnen, als Aethiopien unter andere Breiten verlegt war. (Nebenbei fällt es auf, dass Lepidosiren und Ceratodus in gleichem Ab- stande und gleicher Südostrichtung von den beiden Schwingpolen leben.) Der Schwingungskreis ist zweifellos verantwortlich zu machen für 254 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. die energische Weiterbildung der Homoeothermen, der Vögel und Säuger, wie ja Reichenow für die ersteren eine besondere arktische Region verlangt und Gustav Jäger namentlich für die letzteren den Nordpol als Sehöpfungscentrum bezeichnet hat. Die Tiere wurden passiv unter immer kältere Breiten gebracht und verstanden, sich ihnen zum Teil anzupassen, womit eben weitere Umbildung verbunden war. Leider leistet bis jetzt, wie mir scheint, der Schwingungskreis noch wenig für eine der wichtigsten Fragen, für die Erklärung der Landbrücken. Denn wenn es auch nach den eingangs gegebenen Er- klärungen keine Schwierigkeiten macht, einen unterseeischen Rücken durch die Polschwankungen emporheben und landfest werden zu lassen, so erfolgt doch dieses Auftauchen nach der Theorie immer nur dann, wenn sie nach dem Nord- oder Südpol zu verschoben werden. Die Landbrücken im arktischen Klima haben aber für die zoogeographischen Probleme nur untergeordneten Wert. Wahrscheinlich kommen hier sekundäre Aenderungen in Betracht, indem der erhöhte Druck an den Polen den sich hebenden Meeresboden vielmehr wieder zur Senkung brachte und dafür andere im Schwingungskreis gelegene Teile empor- presste. Doch fehlt mir hierfür das Verständnis. Eines tritt jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit hervor, dass näm- lich frühere Landbrücken kaum durch den Paeifie sich ausgespannt haben, sondern dass sie sich an den afrikanischen Klotz und Europa, gewissermaßen sein nördliches Anhängsel, anschlossen und durch den Atlantic nach der neuen Welt hinüberführten, wahrscheinlich südlich und nördlich vom Aequator. Wir kommen auch von dieser Seite auf die Anschauung, die nach vielen Erörterungen von den neuesten Au- toren, namentlich Hedley (A zoogeographie scheme for the mid. Paeifie. Proc. Linn. Soc. New South Wales 1899), vertreten wird, worüber ich neulich in der geographischen Zeitschrift ausführlich be- richtete. Die Mollusken. Bis jetzt habe ich die Weichtiere fast ganz vernachlässigt; und doch liefern sie, wie sie ja immer mehr in den Vordergrund tiergeo- graphischer Betrachtungen rücken, die allerbesten Argumente. Da ist zunächst der so oft seiner Altertümlichkeit wegen gerühmte Nautilus. Er hielt sich nur am östlichen Schwingpol, wo er, als echter Bewohner des Litorales, sich an der alten Kontinentallinie von Neuguinea über den Bismarckarchipel, die Salomonen, Neuen Hebriden und Neu-Kaledonien findet, ohne indes Neu-Kaledonien zu erreichen, d. h. nach Hedley, soweit die tropische Wärme reicht. In etwas weiterem Sinne hat man wohl darauf aufmerksam ge- macht, dass auch die letzten Ueberbleibsel der alten, in mesozoischer Zeit so stark entwickelten Lamellibranchiengattung Trigonia sich noch an der australischen Küste finden. Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 355 Betreffs der Scaphopoden habe ich früher (in den Bronn-Mol- lusken) darauf hingewiesen, dass die Färbung der Dentalien von der Wärme abhängig ist. Blass sind sie in den höheren Breiten und in der Tiefe der Ozeane; je mehr nach dem Aequator, um so mehr färben sie sich in der Reihenfolge der Spektralfarben von links nach rechts, gelbrot sind die Litoralformen etwa in der Breite des Mittelmeeres, grün werden sie in den Tropen, grün, weiß, rot und blau geringelt allein in der Sulu-See. Es hat sich auch kurz darauf ergeben, dass dieses tiefe, rings fast abgeschlossene Becken das wärmste Meer unserer Erde ist. Jetzt würde ich aber hinzufügen, dass diese gesetzmäßige Ausfärbung der uralten Tiere nicht nur eine Funktion der Wärme ist, sondern auch eine Funktion der Zeit. Es gehörte die ganze Kontinuität tropischen Klimas während der geologischen Epochen dazu. Höchst merkwürdig ist die Verbreitung der Pleurotomarien, jener ältesten Gastropoden, deren Auffindung unter der recenten Fauna zu den glanzvollsten Entdeckungen gehörte, daher ja auch die besten Kenner der Molluskenanatomie sich mit Eifer dieses Relikten bemäch- tigten. Sie finden sich bekanntermaßen nur an zwei Punkten, in Westindien und an der japanischen Küste, in leidlich tiefem Wasser, etwa gegen die untere Grenze der Litoralzone. So haben sie sich an beiden Orten, wohl den warmen Strömungen folgend, parallel von den Schwingpolen verschoben. Wie diese chorologische Verschiebung mit einer morphologischen und biologischen Hand in Hand geht, soll weiter unten zu zeigen versucht werden. Ich habe seinerzeit vom malaiischen Archipel einen Chiton be- schrieben, von dem ich behauptete, dass seine Haut an den Aufenthalt über der Gezeitenzone in der Luft angepasst sei. Die große Acantho- pleura hat, wie ich sagte, dieselbe Zerklüftung und Runzelung des Integuments, wie eine große Helix etwa, was nur, in Uebereinstimmung mit den Angaben meines Sammlers, auf solche Lebensweise bezogen werden könne. Kein Wunder, dass die Angabe auf Zweifel und Wider- spruch stieß. Thiele hat gemeint, dass es sich um zufällige Muskel- kontraktionen und Runzelungen des Integuments handelt, wie sie ge- legentlich, allerdings unregelmäßig, beim Alkoholtode vorkommen. Der beste Morpholog der Gruppe, Plate, hat sich Thiele’s Zweifeln durchaus angeschlossen in seiner großen Chitonarbeit. Und doch ent- nehme ich gerade dieser Arbeit die besten Beweisgründe für meine Auffassung. Plate zeigt, dass die ganze Steigerung und Differen- zierung im Bau der Chitonen auf der Anpassung an das Leben in der Brandung beruht. Gerade Acanthopleura steht im Zenith dieser An- passung, sie hält sich in der tollsten Brandung, am liebsten an Klippen, etwas vom Strande entfernt. Nun ist aber gerade bei meinem Sammler, Herrn Micholitz, nicht daran zu denken, dass er in der Brandung gesammelt habe. Für ein Londoner Orchideenhaus reisend, hat er 256 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. nebenbei u. a. für mich Landnacktschnecken gesammelt, und die großen Acanthopleuren, die in ihrer Runzelung vollständig miteinander und mit einem großen Stylommatophor übereinstimmen, behaglich in der Nähe des Strandes eben als Landnacktschnecken, aufgelesen, beiläufig das einzige Seetier, was er mir unter vielen Sendungen jemals geschickt hat. Von der chilenischen Küste aus waren Pla te’s Einwürfe vollaufberechtigt; um diese Landanpassung zu zeitigen, war die Kontinuitätdes Schwingpolsnötig. Hier ist aber darauf hinzuweisen, dass Plate selbst aus dem gleichen Ostgebiet eine parallele Anpassung bekannt gemacht hat. Während die Oncidien durchweg amphibiotisch an der Meeresküste leben, haust Onceis montana auf den Philippinen, hoch über der Küstenlinie unter Baumrinde (Studien über Opisthopneumone Lungen- schnecken. II. Die Oncidiiden. Zool. Jahrb. Abt. f. Anat. VII). An derselben Stelle, wo Plate die neue Art beschreibt, fügt er die Citate ein, wonach drei andere Species in Ostindien gleichfalls sich von der Meeresküste entfernen, wenn auch anscheinend nur in die unmittelbare Umgebung. Es mag darauf hingewiesen werden, dass Plate zu dem Schluss kommt, die Oneidien ständen als ältester Zweig der Stylomma- tophoren den Basommatophoren, ja den Teetibranchien, aus denen sie hervorgegangen wären, näher als den übrigen Stylommatophoren. Der Schöpfungsherd liegt nach der Menge der Arten am östlichen Schwingpol. Ein sehr auffallendes Beispiel bilden weiter die Hedyliden, d. b. die einzigen Hinterkiemer, welche in das Süßwasser eindringen, wenn auch nur in den Unterlauf der Flüsse. Zuerst fand Strubell zwei Formen, die er indes nicht genügend beschrieb. Nachher sah sich Bergh genötigt, auf das Weber’sche Material aus demselben malaiischen Archipel die neue, durchaus von allem Bekannten ab- weichende Familie zu kreieren. Die Schnecken haben einen hervor- tretenden Intestinalsack, wie eine Gehäuseschnecke, doch ohne Spur von Schale. Gerade die Abweichung zeigt, wie schwer esder Natur wurde, Opisthobranchien in das Süßwasser überzuführen. Es war eben nur unter ganzallmählicher und weitgehender morphologischer Umbildung möglich, und nur in einem Erdenwinkel mit ungestörten äußeren Bedingungen!). Wenn neuerdings ein zweites Gymnobranch aus dem Süßwasser bekannt geworden ist, nämlich Ancylodoris aus dem Baikalsee, so ist diese Form keineswegs so abweichend, denn es handelt sich um ein altes Relikt, das mit vielen anderen Seetieren in einem abgeschlossenen Becken suriekDlieb, nicht aber um die freiwillige Einwanderung der Hedyliden. 1) Leider kann ich auf eine höchst interessante, aber noch nicht ver- öffentlichte Entdeckung A. Kowalevski’s nicht eingehen. Ich erlaube mir nur, zu bemerken, dass es sich um eine chorologische und morphologische ‚Parallele zu den Bo yrnontden handelt. (Fortsetzung folgt.) Verlag von Georg Thieme in Leipzig, arramın 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. @oebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXI. Band. 1. Mai 1902. Hi Nr. 9. Inhalt: Wille, Ueber Gasvakuolen bei einer Bakterie. — Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens und über die Entstehung der Gastropoden (Schluss). — Boveri, Das Problem der Befruchtung. — Mares, Das Energieprinzip und die energetische Betrachtungsweise in der Physiologie, Ueber Gasvakuolen bei einer Bakterie. Vortrag, gehalten in der biologischen Gesellschaft zu Christiania 14, Nov. 1901. Von Dr. N. Wille. Die in schwefelwasserstoffhaltigem Wasser wachsenden, faden- förmigen Bakterien, die anfangs in der Gattung Beggiatoa vereint wurden, sind später von Winogradsky!) auf zwei Gattungen, näm- lich: Beggiatoa (Trev.) Winogr. und Ziothrix Winogr. zurück- geführt worden. Beggiatoa wird von Winogradsky (l. ce. p. 18) charakterisiert als: „farblose, scheidenlose, immer frei bewegliche, nie am Substrat befestigte Fäden sehr verschiedener Dicke, welche gleichmäßig inter- calar wachsen und keinen Gegensatz zwischen Basis und Spitze zeigen. Unter normalen Wachstunsverhältnissen enthalten sie immer Schwefel- körner in wechselnden Mengen“. Die Gattung Thiothrix wird von Winogradsky (l.c. p.39) auf folgende Art charakterisiert: „Fäden unbeweglich, gegliedert, mit einer zarten Scheide, einen deutlichen Gegensatz von Basis und Spitze zeigend, durch ein Gallertpolster an feste Gegenstände befestigt, unter normalen Wachstumsbedingungen dicht mit Schwefelkörnern gefüllt, Reproduktion durch Stäbehengonidien, welche auf festen Gegenständen kriechend sich langsam bewegen, nach kurzer Bewegungsdauer sich auf verschiedene Gegenstände fest- setzen und zu Fäden auswachsen.“ 1) S. Winogradsky, Beiträge zur Morphologie und Physiologie der Bakterien. H. 1. Leipzig 1888. XXI. air 258 Wille, Ueber Gasvakuolen bei einem Bakterium. Nach Winogradsky (l. c. p. 40) sollte seine Thiothrix tenuis Winogr. mit Beggiatoa alba var. uniserialis Engl. identisch sein, die von Engler!) aufdem sogen. „weißen oder toten Grunde“ in der Kieler Bucht gefunden wurde. Wenn dies wirklich der Fall wäre, müsste Thiothrix tenuis Winogr. infolge des Prioritätsprinzips Th. uniserialis (Engl.) genannt werden; indessen müssen es, wie ich aus den Ab- bildungen habe ersehen können, zwei verschiedene Arten sein; denn Beggiatoa alba, var. uniserialis Engl. hat sehr regelmäßige und nur in einer Reihe angeordnete, sogen. Schwefelkörner, die Fäden sind stärker und mehr gleichmäßig gebogen und endlich werden die Fäden von Engler (l.c. p.4) als „paullum moventibus* angegeben. Bei Thiothrix tenuis Winogr. treten die sogen. Schwefelkörner sehr unregel- mäßig auf, besonders viele gegen die Spitze der Fäden hin, wo sie nicht genau in einer einzelnen Reihe liegen, die Fäden sind steifer, und wenn sie gebogen sind, so ist dies mehr in Winkeln, außerdem sind sie unter allgemeinen Verhältnissen (wenn sie nicht Vermehrungs- Akineten bilden) ganz unbeweglich. Endlich ist es eben nicht so be- sonders wahrscheinlich, dass gerade dieselbe Art auf dem Meeres- grund und in Süßwassersümpfen vorkommen sollte. So lange bis man Kulturversuche vorgenommen hat, die das Entgegengesetzte beweisen, ist deshalb, nach allem zu urteilen, Th. tenuis Winogr. eine selbst- ständige Süßwasserart. Seit der Angabe Winogradsky’, dass die Thiothrix- Arten Schwefel enthalten können, scheint niemand diese Frage zur erneuerten Untersuchung aufgenommen zu haben. Klebahn?) wies zuerst nach, dass die vermuteten „Schwefelkörner“ bei verschiedenen blaugrünen Algen in der Wirklichkeit Protoplasmavakuolen waren, die eine nicht näher bestimmbare Gasart enthielten, aber in Betreff der sogen. Schwefel- haltigkeit der Bakterien hat er keine eigenen Untersuchungen ausge- führt. Er bezieht sich (l.e. p. 9) auf die Untersuchungen Wino- gradsky’s, spricht aber doch (l.c. p.9) als eine Vermutung aus: „Dagegen ist es ja möglich, dass in anderen Bakterien, deren Gedeihen nicht so unbedingt an das Vorhandensein von Schwefelwasserstoff ge- bunden ist, gelegentlich Gebilde für Schwefel gehalten worden sind, die nichts damit zu thun hatten.“ Soweit ich ersehen konnte, haben sämtliche spätere Verfasser, welche die Thiothrix-Arten besprechen, ohne weiteres angenommen, dass die in ihren Zellen eingeschlossenen 4) A. Engler, Ueber die Pilzvegetation des weißen oder toten Grundes in der Kieler Bucht (IV. Bericht der Kommission zur Untersuchung der deutschen Meere in Kiel. Kiel 1883, S. 4). 2) H. Klebahn, Gasvakuolen, ein Bestandteil der Zellen der wasser- blütebildenden Phycochromaceen (Flora oder Allg. Bot. Zeit, Bd. 80, 1895. Separatabdruck). Wille, Ueber Gasvakuolen bei einem Bakterium. 959 Gebilde Schwefelkörner seien. So werden von M. Miyoshi!), der doch wesentlich Schwefel bespricht, welcher sich außerhalb der Bakterien ablagert, in einem Falle Schwefelkörner inwendig in den Bakterienzellen selbst abgebildet (l. ec. p. 172, Fig. 24e): „Zwei Faden- stücke von T’hiothrix nivea: das eine mit dichten Schwefelkörnern, das andere schwefelfrei.“ A. Fischer?) führt den. Schwefelgehalt bei Thiothrix W inogr. als Gattungskennzeichen zum Unterschied von COrenothrix Cohn an, ebenso Migula°), welcher unter den Gattungscharakteren für Thio- thrix anführt: „mit Schwefelkörnchen im Inhalt“. Zu Anfang des Monats September 1901 sammelte ich eine filzartige Matte einer sterilen Vaucheria-Art, die in einem engen Glase mit Wasser im Laboratorium bis Anfang November stehen blieb. Alsichsie dann in Angen- schein nahm, fand ich, dass das Wasser einen ziemlich starken Schwefel- wasserstoffgeruch hatte, auf dem Boden des Glases lag ein schwarzer Schlamm und auf diesem fanden sich einige noch lebende Vuacheria- Schläuche samt einigen anderen lebenden Grünalgen, wie: Spirogyra sp. Closterium Leibleinii m. m. A. Die Hauptmasse der Vaucheria- Fädchen, die abgestorben waren, ragten ins Wasser hinauf und zeigten makroskopisch ein braunes Aussehen. Als ich nun diese untersuchte, fand ich, auf diesen befestigt, außer einer kleinen Characium-Art und einer ziemlich reichen Menge von COrenothrix dichotoma (Cohn) auch einzelne oder bündelartig ausstrahlende Fädchen einer Thiothrix-Art. Diese Art ist oder steht jedenfalls der Thiothrix tenuis Winogr. sehr nahe, da sie unbewegliche, gleich dicke Fädchen hat mit einer Breite von etwas über 1 u. Mit Schleim ist das abgerundete untere Ende an den Vaucheria-Schläuchen befestigt (conf. Winogradsky l.e. T.I, Fig. 12,13). Die Länge der Fädchen war sehr ungleich, die längsten. Achionen bis zu lmm erreichen zu können; im lebenden Zustande ließen sich hier keine Querwände an den Fädehen beob- achten. Ich kann die Angabe Winogradsky’s (l.c.) über die Ver- mehrung dieser Bakterien durch Vermehrungsakineten (Stäbchen- gonidien) durchaus bestätigen. Ich sah öfters, dass sie sich zwischen der Basis der Fädchen bewegten, und es beruht sicherlich auf dieser geringen Bewegung, dass die Thiothrix-Individuen so oft dazu kommen, Bündel zu bilden, indem die Vermehrungsakineten sich nahe der Basis des Mutterindividuums befestigen. Die sogen. Schwefelkörner traten oft reichlich auf, besonders, wie schon Winogradsky angiebt, in den äußersten Teilen der 4) Manabu Miyoshi, Studien über die Schwefelrasenbildung und die Schwefelbakterien der Thermen von Yumoto bei Nikko (Journal of the College of Science, Imperial University Tokyo 1897. Vol. X, Pt. I). 2) A. Fischer, Vorlesungen über Bakterien. Jena 1897. 8. 34, 69. 3) W. Migula, System der Bakterien. Bd. II. Jena 1900, S. 1039. ke 260 Wille, Ueber Gasvaküolen bei einem Bakterium. Fädchen. Wenn diese. „Körnchen“ sehr klein waren, konnte man finden, dass sie höchst unregelmäßig lagen und oft ein Paar neben- einander (Winogradsky T. I, Fig. 13, 14); wenn sie aber größer wurden, so war hier kein Platz dazu und sie ordneten sich alsdann entweder in einer einzelnen Reihe oder im Zickzack, oft größere und kleinere abwechselnd. Als ich diese vermeintlichen Schwefelkörnchen bei starker Ver- größerung untersuchte, wurde ich überrascht, dass sie in so hohem Grade mich an die Gasvakuolen erinnerten, die von Klebahn beschrieben und die mir so wohl bekannt sind bei den wasserblühenden Myxo- phyceen. Nach allem, was ich habe ausfindig machen können, sind in der Wirklichkeit diese Gebilde auch hier Gasvakuolen und keine Schwefelkörner, wie früher angenommen. Erstens und besonders stimmen die optischen Verhältnisse mit denen der Gasvakuolen überein. Bei den kleinen T’hiotrix-Vakuolen war dies schwierig zu beobachten, wenn man aber die größeren Vakuolen aufsuchte, erwies es sich, dass diese wie alle kleinen Gasbläschen in einem stark lichtbrechenden Medium einen dunklen Rand hatten und in der Mitte, bei durchfallendem weißen Licht, eine durch Interferenz hervorgerufene rote Farbe zeigten. Wenn man unter diesen Verhältnissen einen festen Stoff hätte, sowie amorph. Schwefel oder eine Art Oel, so müsste die Brechung der Liehtstrahlen eine andere sein und dadurch auch das Aussehen. Den Reagentien gegenüber waren diese Vakuolen bei Thiotrix oft sehr resistent. Durch Zusatz von verdünnter Kalilauge wurden die Wände und das Protoplasma der Bakterie mehr durchsichtig, aber die eingeschlossenen Vakuolen mehr scharf hervortretend, mit dunkleren Umrissen. Zwei oder mehrere Vakuolen schmolzen da oft zusammen, hierdurch können größere Gasvakuolen gebildet werden, welche doch durch ihre unregelmäßige Form und oft durch Einschnürung zeigen, dass sie durch Zusammenschmelzen von früher getrennten Vakuolen entstanden sind. Durch dieses Verhalten der Vakuolen zur Kalilauge ist auch zu gleicher Zeit nachgewiesen, dass diese Vakuolen keine Kohlensäure enthalten können, welche sonst absorbiert werden müsste. Da ich es mir als eine Möglichkeit dachte, dass die Gasvakuolen bei T’hiotrix Schwefelwasserstoff enthalten könnten, setzte ich unter dem Deckglase eine Auflösung von Bleiacetat hinzu, es konnte aber kein schwarzer Niederschlag von Schwefelblei beobachtet werden, was doch der Fall sein müsste, falls die Gasvakuolen Schwefelwasserstoff enthielten, wenn man nicht annimmt, dass der Niederschlag auf Grund der ge- ringen Gasmenge so unbedeutend ist, dass er jenseits der Grenze des Sichtbaren lag; jedenfalls aber müsste das Gas in solchem Fall ver- schwinden. Dies war dahingegen durchaus nicht der Fall, im Gegen- teil zeigte es sich, dass die Gasvakuolen nach dem Zusatz von Blei- Wille, Ueber Gasvakuolen bei einem Bakterium. 61 acetat deutlicher wurden, was vielleicht darauf beruht, dass die Wände und das Protoplasma der Bakterien viel undeutlicher wurden. Nach Zusatz einer konzentrierten wässerigen Auflösung von Pikrinsäure zeigte sich keine Spur von Schwefelkrystallen außerhalb der Fädchen; anderseits verschwanden sie auch nicht so momentan, wie Klebahn (I. c. p. 9) für die Gasvakuolen bei Gloeotrichia angiebt, sie schienen aber bei Thiotrix durchschnittlich etwas kleiner zu werden; einige, die ganz klein waren, verschwanden vollständig, und andere nebeneinanderliegende wurden zu etwas unregelmäßigen Vakuolen zu- sammengepresst, aber doch nicht so ausgeprägt wie bei Zusatz von » Kalilauge. Durch Zusatz von Jod-Jodkalium wurde keine Einwirkung hervorgerufen, durch jodhaltigen Alkohol aber, oder durch Alkohol allein verschwanden die Gasvakuolen überaus schnell und vollständig, ohne eine Spur zu hinterlassen; dahingegen wurden die Wände der Zellengewebe hierdurch deutlicher, und es zeigte sich, dass die ein- zelnen Zellen 1',—3 mal so lang waren wie breit. Bei der Erwärmung der Zellenfädehen auf dem Objektglase zeigte es sich auch, dass die Gasvakuolen sehr schnell vollständig ver- schwanden, während gleichzeitig der protoplasmatische Inhalt koaguliert wurde. Es war meine Absicht, die Einwirkung mehrerer Reagentien zu versuchen; nachdem aber das Glas mit den Vaucheria- und Thio- thrix-Fädehen durch einen Zufall ein bischen geschüttelt wurde, hörte der Schwefelwasserstoffgeruch auf und die Thiothrix-Fädehen starben schnell ab. Inzwischen scheint es mir doch, dass das bereits Mit- geteilte hinreichend sei, um meine Behauptung darauf zu begründen, dass Thiothrix Gasvakuolen und keine Schwefelkörner enthält. Dafür sprechen besonders: 1. die optischen Verhältnisse, welche mit Bestimmtheit auf Gas- bläschen hindeuten, 2. dass die Gasvakuolen, bei Erwärmung, bei einer Temperatur verschwinden, die bedeutend niedriger liegt als der Schmelzpunkt des Schwefels, 3. dass mehrere naheliegende Vakuolen unter gewissen Verhält- nissen (z. B. bei Zusatz von Kalilauge) zusammenschmelzen, 4. dass sie auffallend leicht löslich in Alkohol sind, während Schwefel schwer auflöslich ist. Soweit mir bekannt, sind bis jetzt Gasvakuolen bei Bakterien nicht nachgewiesen worden; da aber die fadenförmigen Bakterien ohne Zweifel im naher Verwandtschaft zu den Myxophyceen stehen, scheint es a priori nicht so unwahrscheinlich, dass die bei den Myxophyceen ziemlich oft auftretenden Gasvakuolen auch bei den höheren Formen der Bakterien auftreten können. Man wird vielleicht im Zweifel sein können über die Zweekmälig- keit des Auftretens der Gasvakuolen bei festsitzenden Formen wie 362 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. Thiothrix, da sie doch bei den Myxophyceen beinahe nur bei Plankton- formen nachgewiesen sind. Vermutlich lässt sich dies jedoch durch die eigentümlichen Lebensverhältnisse bei Thiothrix erklären. Winogradsky hat (l. e. p. 38) gezeigt, dass T7hiothrix „sich ebenso verhält wie Beggiatoa, d. h., dass sie nur mäßige Sauerstoff- spannungen aufsucht“. Dies fand ich vollständig bestätigt. Da die Thiothrix-Fädchen fest angewachsen sind und nicht wie Beggiatoa durch ihre Selbstbewegung die passende Sauerstoffispannung aufsuchen können, so erreichen sie dies dadurch, dass die Fädchen sich gegen . die Oberfläche hinauf biegen. Diese Biegung scheint dadurch hervor- gebracht zu werden, dass die Fädchen, wie schon Winogradsky angiebt, besonders in ihrer äußersten Spitze, reich an Gasvakuolen sind, welche die Fädchen in die Höhe heben, während sie, wenn die Gasvakuolen fehlen würden, auf Grund ihrer Steifheit, in Eigenrichtung hinaus nach allen Seiten und alsdann auch nach unten, gegen den Boden des Gefäßes wachsen würden, wo die Sauerstoffspannung sicher- lich (in Verbindung mit der Schwefelwasserstoffbildung), ziemlich niedrig sein würde. Es scheint also, als ob die Gasvakuolen für die fest- wachsenden Thiothrix-Arten gerade besonders zweckmäßig sind, um die Fäden mit ihrer Hilfe unter passende Lebensverhältnisse zu bringen. Künftig muss also sicherlich dem Gattungscharakter für Thiothrix hin- zugefügt werden (da die anderen Arten, nach den Abbildungen zu urteilen, sich wie 7. tenuis zu verhalten scheinen), dass sie Gasvakuolen hat, welches also ein weiteres Kennzeichen zur Unterscheidung von Beggiatoa abgiebt, die, wie als sicher angegeben wird, Schwefelkörner enthalten soll. [18] Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens und über die Entstehung der Gastropoden. Von Dr. Heinrich Simroth (Leipzig). (Schluss.) Ich komme zu den Landschnecken. Ich hoffe auf Beifall reehnen zu können, wenn ich ohne große Umschweife die Landdeckelschnecken, die früher sogen. Neuro- branchien, als die ältesten terrestrischen Gastropoden hinstelle. Wenn man die Diotocardien den Monotocardien ganz allgemein systematisch und zeitlich voraufgehen lässt, so gehören die Helieinen und Hydro- caenen in diese Gruppe, speziell in die Rhipidoglossen. Aber auch von den übrigen, die man den Monotocardien zuzählen wird, steht so gut wie fest, dass keine der jüngsten Familien darunter ist. Die große Sippe der Cyelophoriden stellte Haller auf Grund des ursprünglichen Nervensystemes, namentlich der pedalen Markstränge an Stelle um- schlossener Pedalganglien, zu seinen Architaenioglossen, und man Sirmroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens, 263 könnte ja wohl auch die speziellere Systematik rein auf das Nerven- system gründen, so gut wie man mit Ihering von Chiastoneuren, Ortho- neuren, Euthyneuren etc. spricht und darunter die größten Weichtier- gruppen versteht. Hätte man diesen Gesichtspunkt zuerst richtig durchgeführt, dann wären eben die Cyelophoriden noch mit in die archaistische Abteilung hineingerutscht. Die Cyclostomaceen endlich gehen wenigstens bis in die Kreide zurück. Ueber die vielen kleinen, so zierlich differenzierten Formen dieser ganzen Gruppe wird man freilich vorläufig nicht viel mehr aussagen können, als dass sie, wenn ihre feinste und lokale Ausprägung vielleicht bis in die jüngste Zeit dauerte und noch andauert, doch als Familie aus älterer Zeit stammen. Dieser systematischen Altertümlichkeit entsprieht das hohe Wärme- bedürfnis. Sie überwiegen in den Tropen und werden nach den Polen zu bald sehr spärlich; keine Art reicht meines Wissens auch nur an- nähernd bis an den Polarkreis. Das deutsche Reich hat noch drei Formen, wobei es fraglich ist, ob eine von ihnen die Nordgrenze über- schreitet. Die kleine, verborgen lebende Acme mag in modernden Baumstämmen noch genug Schutz und Wärme finden, Pomatias über- schreitet nur an einigen Punkten unsere Südgrenze, Oyclostoma elegans schiebt nur einzelne Kolonien in geeignet geschützter Lage nach Mittel- und Norddeutschland vor. Diesen drei Gattungen von Deckel- schnecken stehen etwa drei bis vier Dutzend Genera von Land- pulmonaten gegenüber, je nach der Schärfe der Gliederung, die man anwendet, und das Verhältnis verschiebt sich noch viel mehr zu Un- gunsten der Deckelschnecken. Demgegenüber ist nichts interessanter als die Zusammenstellungen, die Cooke von der allgemeinen Verbreitung gemacht und ziffernmäßig in eine Karte eingetragen hat (Cooke. Molluses. Cambridge Natural history vol. III. 1895). In Westindien, dem wahren und am besten durchgearbeiteten Eldorado der Neurobranchien, liegen die Verhältnisse so, dass bisweilen diese Formen an Zahl die Pulmonaten überwiegen. Artenzahl der Kuba Jamaika San Domingo Porto Rico Landpulmonaten 362 321 152 75 Landdeckelschnecken 252 242 100 23 Der Karte entnehme ich folgende Zahlen für die Deckelschnecken- arten: Südamerika: S. Paulo 7, Anden unter dem südlichen Wendekreis 3, Ecuador 32, Kolumbien 44, Venezuela 16, Guyana 3. Mittelamerika: Honduras 41, Mexiko 38. Westindien: Kuba 252, Jamaika 242, Haiti 100, Porto Rico 23. Nordamerika: Südstaaten der Union 2. Atlantic: Bermudas 1, Azoren 2, Madeira 4, Canaren 4. Europa: Irland 1, Schottland 1, England 2, Südschweden 1, Däne- mark 1, Pommern 1, Westrussland 1, Deutschland 4, Nordfrankreich 4, 264 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. Südfrankreich 10, Spanien 11, Italien 20, Balkanhalbinsel 30, Kau- kasus 3. Afrika: Marokko 10, Senegambien 1, Fernando Po 2, Angola 1, Kapland 10, Mozambique 2, Deutschostafrika 9, Witu 5, Somaliland 10, Sokotra 11. Asien: Kleinasien 3, Syrien 2, Hadramaut 5, Persien 3, Vorderindien 157, Ceylon 52, Birma 65, Malakka 47, Annam 98, Yang-tse-kiang-Thal 125, Hainan 10, Formosa 15, Liu-Kiu-Inseln 7, Japan 30. Indie: Madagaskar 69, Mauritius 8, Rodriguez 32, Seychellen 5, Nikobaren 25, Andamanen 10. Hinterindische Inselwelt: Sumatra 17, Java 18, Borneo 108, Ce- lebes 18, Philippinen 212, Halmahera 19, Ceram 29, Timor 5, Neu- Guinea 53. Australien: Halbinsel York 33, Westaustralien 3, Neu-Sudwales 1. Pacific: Salomonen 22, Neue Hebriden 20, Neu-Kaledonien 44, Neu- seeland 14, Fidschi 38, Karolinen 8, Marianen 29, Tongainseln 38, Samoa 15, Cookinseln 11, Tahiti 31, Marquesas 8, Sandwichinseln 7. Aus den Zahlen, die inzwischen sich unbedeutend geändert haben mögen, geht verschiedenes klar hervor. Einmal hat sich das Centrum von den Schwingpolen ein wenig verschoben, ähnlich wie bei Limulus und bei den Pleurotomarien. Westindien und die Philippinen sind am reichsten. Sodann tritt der Reichtum der Tropen und die Armut des Schwingungskreises klar hervor. In den Tropen fällt namentlich die außerordentliche Armut Afrikas auf, seine Maximalzahlen werden von Südamerika um das Vierfache, von Australien um das Dreifache, von den Centren um mehr als das Zwanzigfache übertroffen. Endlich macht sich die eingangs erwähnte Störung im Indie insofern geltend, als sich Ostindien und Madagaskar mit den kleineren Inseln in ziem- lichem Reichtum an den östlichen Schwingpol angliedern. Noch ist darauf hinzuweisen, dass die Osthälfte eine noch über den Ueberschuss der Artenzahl hinausgehende, erstaunliche reiche Gliederung in Gattungen aufzuweisen hat. Man sehe nur den neuen Katalog von Kobelt und v. Möllendorff im Nachrichtsblatt d. d. mal. Ges. der letzten Jahre. Wie ich auf diese Thatsachen unten zurückkommen muss, so auf die folgende, welche die Atmung betrifft. Obgleich die Oncidien ihre Lunge haben, scheinen sie doch nur auf die feuchte Luft des Meeresstrandes angewiesen zu sein, in der viele auch noch für Wasseratmung während der Flut sekundäre Rhückenkiemen ausbilden. Nur am östlichen Schwingpol kommt es vor, dass, wie erwähnt, die Meeresküste verlassen wird. Jener Chiton aber, der außerhalb des Wassers in derselben Region haust, treibt die Anpassung insofern viel weiter, als er die volle Kiemenausbildung bei- behält. Genau so machen es aber von den Rhipidoglossen die Neri- Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 965 tinen, die nach Semper’s Beobachtungen auf den Philippinen selbst Bäume zu besteigen vermögen und bei ihrer Langsamkeit selbstver- ständlich dort ihren dauernden Wohnsitz aufschlagen, ohne ihre Kieme oder überhaupt die Verhältnisse der Mantelhöhle irgendwie zu ändern. Neuerdings hat diese Thatsache ihre volle Bestätigung gefunden durch Hedley, der nach seinen Untersuchungen auf Funafuti (Ellice-Gruppe) bemerkt, dass sich die Grenze zwischen Wasser und Land, die wir sonst scharf ausgeprägt finden, völlig verwischt. Eine Anzahl Meeres- tiere gehen über die oberste Flutgrenze landeinwärts, namentlich wieder auch Neriten. Nun sind ja ähnliche Thatsachen genügend von anderen tropischen Meeresküsten bekannt, sie bilden eine Besonderheit der Mangrovefacies. Fritz Müller besonders verdanken wir die Auf- deckung der terrestrischen Atmungsanpassung bei Brachyuren; dazu die Kletterfische und ähnliches. Ich will nicht die ganze Frage von neuem aufrollen. Nur für die Mollusken wollte ich darauf hinweisen, dass das Betreten des Landes ohne Aenderung der Kieme und der Atemhöhle zuerst und am meisten (ob ausschließlich?) zur Beobachtung kam im Gebiete des östlichen Schwingpoles. So langsam und allmäh- lich, unter so gleichmäßig tropischen Bedingungen allein wars möglich. Von großem Werte für unsere Theorie sind endlich die Land- lungenschnecken, die Stylommatophoren. Beginnen wir mit den gestrecktschaligen Clausilien. Schwach in Südamerika vertreten, noch schwächer auf den atlantischen Inseln und in Westeuropa, zu einem Maximum gesteigert an den Küsten der Adria, schließen sie in Ostasien mit einer ähnlichen Anschwellung. Man würde nicht viel aus dieser Verbreitung entnehmen können, wenn man nicht in die einzelnen Gruppen einträte. In dieser Hinsicht wird eine Sektion von hervorragender Wichtigkeit. Ganz unabhängig von diesen Betrachtungen ist in jüngster Zeit Ehrmann, wie er eben in den Sitzungsberichten der naturf. Gesellschaft zu Leipzig publiziert, zu folgendem Schlusse gelangt. Er sieht sich gezwungen, verschiedene Gattungen zu einer zusammenzufassen, die er für die allerursprüng- lichste hält; zunächst Garnieria, die besonders in Hinterindien und im südlichen China verbreitet ist, sodann Nenia, welche die Anden von Kolumbien bis Chile bewohnt und in Peru ihr Maximum erreicht. Sie umfasst sämtliche amerikanische Clausilien. Ebendahin rechnet er aber auch die Laminifera, die von einem einzigen Punkte der West- pyrenäen bei Bayonne bekannt ist, sowie endlich die ebenso verein- zelte Boettgeria von Madeira. Alle diese fasst Ehrmann als Apo- strophia zusammen. Es ist also klar, dass diese Gattung einst weiter in den Tropen verbreitet war; einzelne Relikte haben sich in der Nähe des Scehwingungskreises außerhalb der Tropen gehalten, und zwar um so nördlicher, je näher dem Kreise; die jetzigen Haupteentren liegen an den Schwingpolen. Im Westen sind die Apostrophien die 266 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. einzigen Vertreter der Clausilien, der ganze Reichtum in der alten Welt hat sich vom östlichen aus vermutlich gebildet. Dass die Clau- silien alte Formen sind, wird durch ihre Lebensweise bezeugt, sie scheinen noch jetzt durchweg auf Flechtengenuss beschränkt. Die Apostrophien müssen also sehr alt sein. Ich selbst habe früher ge- glaubt, dass die Gruppe der Clausilien ihren Ursprung in der südost- europäischen Xerophytenregion hätte. Daran ist nicht mehr zu denken; der Gesichtskreis ist viel weiter zu nehmen, wie sich überhaupt immer mehr zeigt, dass wir bei den Weichtieren namentlich mit ganz an- deren Zeiten zu rechnen haben als bei den Säugern etwa. Die früher ausgesprochene Ansicht, dass für den einen Zweig der Stylommatophoren auf so langgestreckte Formen wie die Clausilien zurückgegangen werden müsse, ist dagegen wohl aufrecht zu erhalten. Pfeffer’s Schlüsse bewegen sich in der gleichen Richtung, wenn er den Eucalodien eine besonders primitive Stellung anweist. Das führt uns einen Schritt weiter in der Bewertung der Schwingpole. Der Hauptunterschied zwischen dem westlichen und östlichen liegt darin, dass der erstere viel gebirgiger ist, der östliche löst sich un- mittelbar in einen Archipel von hoher tropischer Feuchtigkeit auf. Damit hängt es zusammen, dass am westlichen sich jene lang- gestreckten ursprünglichen Formen besonders gut gehalten und ausgebildet haben, während der östliche vielmehr die Nackt- schneekenbildung begünstigte. Vom westlichen sind also zu melden: Clausilia inder Apostrophien- form, Eucalodium, Holospira, Megaspira, Strophia, die Cylindrelliden Oylindrella, Lia, Macroceramus, Pineria, dazu Berendtia und Rhodea; ihnen stehen in der alten Welt die vielen Clausilien gegenüber, und vom östlichen Schwingpol etwa noch Coeliaxis von den Salomonen und Australien. Betreffs der Nacktschneceken, welche die allerbesten Auf- schlüsse geben, sind erst ein Paar allgemeine systematische Bemer- kungen vorauszuschicken. Ich habe früher die Gruppe der Vaginuliden von den Stylom- matophoren ausgeschieden und sie wegen der quergerieften Sohle als Soleolifera den übrigen gegenübergestellt. Ich habe dahin gerechnet Vaginula, Atopos und vielleicht die Oncidien. Letztere können aus der Diskussion ausscheiden, da sie oben schon behandelt sind. Auch ist die Sohle auf keinen Fall ganz charakteristisch ausgebildet und schon deshalb die Verwandtschaft sicherlich weniger eng. Auf die Bedenken der Sarasin’s, welche Atopos ganz abtrennen und als Familie der Rathouisiiden weit weg zu den Testacelliden stellen wollen, werden wir gleich zurückkommen (P. und F. Sarasin. Celebes). Sicherlich als ein sehr alter Seitenzweig der Ordnung stehen die Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 267 Janelliden da; ich wollte sie früher auch in die Nähe der Vaginu- liden stellen, und sie mit ihnen als Mesommatophoren vereinigen. Jetzt klärt sich die Sache so, dass sie zwar auch einen alten Seiten- zweig darstellen, aber doch weniger abweichend und jünger als die Vaginuliden. Plate, der die Gruppe genauer untersucht hat, ist frei- lich anderer Meinung (Beiträge zur Anatomie und Systematik der Janelliden. Zool. Jahrb. Abt. f. Anat. 11. 1898). Er hat die büschel- förmige Verzweigung der Lunge näher untersucht und hat nachge- wiesen, dass ihre Enden als blindgeschlossene Kanäle frei in den venösen Sinus hineinragen, der das aus dem Körper zusammengeströmte Blut aufnimmt. Er trennt sie daher als Tracheopulmonaten ab und stellt sie allen übrigen als den Vasopulmonata gegenüber. Auch dieser Punkt ist kurz zu erörtern. Atopos zunächst ist eine Raublungenschnecke und in dem daraus für den Darm und die Radula folgenden Eigentümlichkeiten von den Vaginuliden verschieden. Das ergiebt aber keinen wesentlichen Unter- schied. Denn es lässt sich zeigen, wie ich eben in der Naturwissen- schaftlichen Wochenschrift versucht habe, dass sich von allen verschie- denen Stylommatophorenfamilien frühzeitig Raublungenschnecken ab- gezweigt haben; das ging um so leichter, als alle Stylommatophoren ursprünglich Pilz- und Flechtenfresser waren, und der Weg von hier aus zur Carnivorie viel näher liegt als zur Herbivorie. Im übrigen liegen die Differenzen so: Atopos hat die männliche Geschlechtsöffnung, wie Vaginula, weit vorn rechts neben dem Fühler, die weibliche liegt ein Stück weiter zurück und neben ihr das Pneumostom mit der Lungen- und Afteröffnung. Bei Vaginula liegt die weibliche Oeffnung weiter zurück, etwa in der Mitte der rechten Seite, das Pneumostom aber als Lungen-After-Kloake ganz hinten rechts. Man hat letztere Lage zweifellos als die abgeleitete zu betrachten. Die Vorfahren von Vaginula hatten ihr Pneumostom an der gleichen Stelle wie Atopos, da diese der normalen Lage innerhalb der Ordnung entspricht. Sie glichen also in diesem Punkte Atopos, in den übrigen inneren Merk- malen aber den heutigen Vaginulae. Dieses Stadium ist, soviel wir wissen, ausgestorben. Atopos steht ihm am nächsten. Die Verbreitung entspricht diesen Folgerungen. Atopos bewohnt den malaiischen Archipel bis Südehina. Babor hat neuerdings gezeigt, dass die Form von Sumatra in mehreren Punkten, namentlich in der geringeren Entfaltung der wunderlichen Simroth’schen Drüsen, die ursprünglichsten Charaktere zeigt und als Padangia abzutrennen ist. Hier haust also die primitivste lebende Form der ganzen Familie noch unmittelbar am östlichen Schwingpol. Anders die weiter abgeleitete Vaginula. Ihre zahlreichen Arten sind über alle Tropenländer zer- streut, am zahlreichsten am östlichen Sehwingpol, wo sie in der Aus- bildung des Penis, der mit einem wunderlichen Aufsatz versehen ist, 268 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. auf Sumatra eine besondere Steigerung erfahren haben; am anderen Schwingpol leben besonders große Arten, welche ich wegen des den Penis umfassenden Blattes als Phyllocaulier abgetrennt habe. Die Janelliden oder Tracheopulmonaten sind zunächst in Bezug auf die Sohlenbildung wie die Lage der Oeffnungen näher an den Hauptstamm der Stylommatophoren anzuschließen, die Sohle ist glatt, ein einheitlicher Genitalporus liegt rechts vorn. Während Oncidium, Atopos und Vaginula die einzigen Pulmonaten sind, die wirklich ihre Schale ganz eingebüßt, bezw. während der Entwicklung auf ein Conchinhäutehen reduziert und abgeworfen haben, besteht bei den Janelliden ein anderes, abweichendes Verhältnis. Ein oder mehrere Kalkplättchen, die in ein Päckchen eng aneinandergedrückter Kalk- stückchen zerfallen sein können, liegen in engen Hauttaschen. Man kann nicht einmal mehr von einer Schalentasche reden, da bei manchen Formen mehrere Päckchen getrennt voneinander in der Cutis verteilt sind. Die Lunge zeigt die erwähnte Umbildung. Endlich ist es, wie ich glaube, gelungen, auch diese merkwürdigen Formen auf Gehäuseschnecken zurückzuführen, durch die Auffindung eines auffallenden Tieres, das ich eben im Zoologischen Anzeiger in vorläufiger Mitteilung als Ostracolethe beschrieben und in einer besonderen Familie der Ostracolethidae untergebracht habe. Hier haben wir eine Nacktschnecke von dem Habitus einer Gehäuseschnecke, d.h. mit frei vorspringendem großen Intestinalsack auf dem Rücken. Dieser ist aber vollkommen in einen darüber weggewachsenen Mantel einge- schlossen. Unter dem Mantel sitzt eine Schale, die den Eingeweide- sack einhüllt. Diese Schale ist aber insofern ganz abweichend, als sie vorn aus einer kleinen, dieken Kalkplatte besteht, an die sich ein weites Gehäuse anschließt, das nur von einem äußerst dünnen Periostracum gebildet wird. Die völlige Wertlosigkeit und ökonomische Vernachlässigung dieses Conchinhäutchens wird dadurch erhärtet, dass ein Zipfel frei hinten aus einem minutiösen Mantelporus heraushängt. Das Verhältnis der Conchinschale zur Kalkplatte ist insofern besonders bemerkenswert, als die Platte nicht tangential zum Intestinalsack steht, sondern fast senkrecht zur Oberfläche in ihn eingedrückt ist, während das Conchinhäutchen mit den darunter liegenden Weichteilen sich vorn weit ausbreitet und von oben her auf die Kalkplatte hinweglegt, wie bei Mützen, dienach vorn auf den Schirm überfallen. Denkt man sich das Conchinhäutehen resorbiert, dann hat die Kalkplatte die innere Lage mancher Janelliden, z. B. Triboniophorus. Wollte man von Ostracolethe weiterhin die Janelliden ableiten, dann müsste man den Intestinalsack allmählich in den Fnß hinunterdrücken. Das ist aber der Weg, auf dem alle Nacktschnecken von Gehäuseschnecken aus entstanden sind. Für die Wirksamkeit dieses Zusammenhanges spricht weiter sehr beredt die Form der Radulascheide, die bei Ostra- Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 269 mw colethe und bei Janelliden in gleicher und unter den Pulmonaten einzig dastehender Weise hinten in der Odontoblastenlinie verbreitet und mit beiden Seiten nach oben aufgewickelt ist, wie die Voluten einer ionischen Säule. Endlich erklärt sich von Ostracolethe aus auch die Tracheopulmonie; denn die Kalkplatte drückt sich gerade über Lunge und Niere in den Intestinalsack ein. Dadurch wird die Lunge sehr verengertt. Um bei dem eingeengten Verhältnisse die nötige Atem- fläche zu gewinnen, erheben sich, wie hypothetisch leicht zu kon- struieren ist, die sonst niedrigen Waben der Lunge, d. h. die vor- springenden, netzförmigen Leisten der Atemgefäße mehr und mehr in den schmalen Raum, in den die Atemluft eindringt; aus flachen Maschen- feldern werden enge Blindzipfel. Da das ganze Lungengefäßnetz der Pulmonaten weiter nichts ist als ein reich verästelter Sinus, ohne eigene Wandungen, so erweitern sich die einzelnen Gefäßräume zwischen den Blindzipfeln, so dass diese nunmehr in einen gemeinsamen Sinus hineintauchen. Gelingt es somit, die abweichendste Gruppe nackter Stylommato- phoren auf normale Gehäuseschnecken durch die Uebergangsform zurückzuführen, dann klärt sich die ganze Entwicklung wiederum auch geographisch; Ostracolethe, dem Stamm zunächst, lebt in Tonkin und kommt auch dem Schwingpol am nächsten, die Janelliden reichen von Neu-Guinea bis Australien und Neuseeland. Vaginuliden und Janelliden lassen sich mit wieder anderen Nackt- schnecken unter einem anderen Gesichtspunkt vereinigen. Plate hat zuerst, was dann Pfeiffer bei Triboniophorus bestätigte (Die Gattung Triboniophorus. Zool. Jahrb. Abt. f. Anat. 13. 1900), die eigen- tümlichen Nieren- und Harnleiterverhältnisse aufgedeckt. Der Ureter hat einen komplizierten Verlauf in einer Anzahl von Knicken und Schenkeln, die das Gemeinsame haben, dass sie sich unmittelbar aneinanderlegen, ohne Lungenteile zwischen sich zu nehmen, wie es bei den Helieiden, Limaciden u. v. a. der Fall ist. Bei diesen schiebt sich der rechte Lungenflügel zwischen die beiden Ureterschenkel ein, bei jenen liegen die Schenkel dicht aneinander, die Lunge ist entweder der erweiterte Endabschnitt des Harnleiters, wie bei Vayinula, oder sie bedeutet eine vollständige Einstülpung neben, bezw. außerhalb des Ureters. Man könnte diese Tiere nach dem Vorgange Pilsbry’s, der neuerdings den Ureter zum Einteilungsgrunde der Stylommatophoren genommen und sie in eine Anzahl von Gruppen geschieden hat (Orthurethra, Sigmurethra ete.), als Klasturethra zusammenfassen, d. h. als solche mit geknicktem Harnleiter. Dann hätte man zu den Vaginuliden und Janelliden noch die Philomyeiden und Arioniden zu stellen, welche ich beinahe in eine Familie vereinigen möchte. Es sind Formen mit Schalentasche und Resten einer in dieser gelegenen Kalkplatte, die allerdings den Philomyciden verloren ge- 270 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. gangen ist. Diese stellen überhaupt die abweichendere und altertüm- lichere Gruppe dar. Da ist nun wieder die Verbreitung eigenartig genug. Die asiatischen Formen finden sich nach den jetzigen Kenntnissen von Java bis zum Amurlande, die einzelnen Etappen sind, wie ich hiermit in vorläufiger Mitteilung einfügen will: Celebes, Tonkin, China, Formosa, Tsu-shima in der Koreastraße, Japan, Amurland. Und ich will ebenso vorläufig bemerken, dass die Entwicklungsreihe nach Größe, Zeichnung und Morphologie sich von Java aus bis Japan steigert. Die amerikanischen Formen des Genus leben, von einer noch etwas unsicheren chilenischen Form abgesehen, keineswegs auf der pacifischen Seite Nordamerikas, sondern auf der atlantischen, in Karolina ete. Wieder hätten wir hier die große Schwierigkeit, auf Umwegen einen Zusammenhang zu schaffen. Die Lösung liegt wieder in der parallelen Lage zu den beiden Schwing- polen. Bei den Arioniden herrscht mancherlei Unklarheit. Während ich die europäischen Formen von den amerikanischen, über eine alte Landbrücke, also von Westen her, sich ausbreiten lasse, will Pils- bry, nachdem es ihm gelungen, in der neuen Welt noch die beschalten Vorfahren nachzuweisen und sie auf die Entodontiten zurückzuführen, den europäischen Zweig über das mittlere oder nördliche Asien von Osten her gekommen sein lassen. Dem widerspreche ich, und ich glaube, dass über den landfesten Zusammenhang, der einst auch die Glandiniden herüber- oder hinüberführte, nicht wegzukommen ist. Wohl aber bleibt im Südosten als ein merkwürdig umgebildeter und isolierter Zweig Anadenus, von Westchina bis Kashmir. Man wird wahrscheinlich doch auf die beiden Schwingpole zurückzugreifen haben. Der westliche ist am besten erhalten und die beschalten Urformen sind in der That tropisch, vom östlichen scheint nur Anadenus erhalten. Diese Form führt schließlich auf die Verbreitungswege der mo- dernen Nacktschnecken, die noch alt genug sein mögen, vom östlichen Schwingpol aus. Zunächst ist festzustellen, dass am Schwingpol selbst, bezw. auf den Sundainseln, noch jetzt die reichste Uebergangsfauna zwischen beschalten und nackten Zonitiden erhalten ist, mit weitem Mantelloch, halb hervorstehendem, halb in den Fuß eingelassenen In- testinalsack: die Gruppe von Parmarion, Microparmarion ete. Nach Australien zu hat sich eine Nacktschnecke gebildet mit noch ganz hervorragendem, aber vom Mantel bedeckten Intestinalsack: Parmacochlea. Nach Westen bat sich ebenfalls der Intestinalsack mehr in den Fuß eingedrückt und das Mantelloch geschlossen: die Gruppe der Girasien und Austenien in Indien. Nun aber machen sich die Schwankungen im Schwingungskreise geltend, und wir erhalten zwei Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens, 71 Zweige, einen südlichen, der nach Madagaskar und Afrika führt, und einen nördlicheren, der sich an die Gebirge anlehnt und in Europa endet. Der südlichere Zweig ist anatomisch weniger abgewichen und wohl der ältere. Doch umfasst er lauter echte Nacktschneckenformen, die Uroceyeliden, die namentlich in Ostafrika einen auffallenden Reich- tum unter starker Differenzierung der sekundären morphologischen Merkmale, namentlich in den Genitalien, entwickelt haben: Tricho- toxon, Atoxon, Urocyelus etc. Der nördliche Zweig, durch die Uebergangsnacktschnecke Parmacella vermittelt, hat von Afghanistan an, namentlich aber im Kaukasus, sich aufs reichste entfaltet und das ganze Heer der Lima- eiden und kaukasichen Raublungenschnecken geliefert. Ich schließe diesen Teil der Betrachtungen ab, um mich nicht von dem mir vertrautesten Boden auf weniger sicheren zu begeben. Ich hoffe, dass eine nicht allzu geringe Menge zoogeographischer Auf- fälligkeiten durch die Theorie von den Schwingpolen als Gebiete kon- tinuierliehen Lebens ihre ungezwungene und naturgemäße Deutung ge- funden hat, der Reichtum beider Gebiete an denselben altertümlichen Formen, die Afrika fehlen, die Parallele zwischen Westindien und den Philippinen, zwischen Südchina und den Floridastaaten, zwischen dem Mississippi und dem Yang-tse-kiang, die Ausbreitung nach dem Schwingungskreise zu, die Besiedelung Europas und Afrikas u. dergl. m. Die Herausarbeitung der einzelnen Gebiete muss zunächst der Zukunft überlassen bleiben. Als eine wesentliche Frucht der vorstehenden Betrachtungsweise nehme ich die nachfolgende Begründung der Gastropodenentstehung. Zunächst fasse ich die allgemeine Gesetzmäßigkeit noch in einige Sätze zusammen, zur Ergänzung der oben aufgestellten. Die Verbreitung der Poekilothermen wird bestimmt durch ein Wärmeoptimum, das bestimmte Grenzen nach oben und unten nicht überschreiten kann. Ihr Verbrei- tungsgebiet ist eine Funktion der astronomischen, bezw. planetaren Stellung der Erde. Jede Ueberschreitung der Temperaturgrenze löschte das Tier aus, oder zwang es zur Umbildung. Poekilothermen, die außerhalb der reinen Tropenzone entstanden, konnten die Tropen niemals überschreiten (außer vielleicht auf den Gebirgen innerhalb der dauern- den Tropengebiete um die Schwingpole, oder unter der besonderen Anpassung des Sommerschlafes), Urodelen auf der nördlichen, Dipnoer auf der südlichen Erdhälfte, vielleicht auch die Monotremen. Dem Sommerschlaf des Protopterus schließt sich die Verpuppung, also die vollkommene Metamorphose der Insekten an. Erst die höheren Formen, die Homoeothermen haben 973 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. im wesentlichen die Schwankungen des Schwingungs- kreises überwunden und hier die stärkste Anregung zur Weiterbildung erhalten. Die stärkeren morphologischen Um- wandlungen der Tiere scheinen in direkter Proportion zu stehen zu der zunehmenden Entfernung von den Schwingpolen. Ohne den störenden Horst von Afrika (und Lemurien) würden wahrscheinlich die östliche und die westliche Halbkugel, von den Schwingpolen aus gerechnet, die gleiche Konfiguration zeigen, zum mindesten die pa- rallele Verbreitung ihrer Organismen. Schon jetzt treten viele Tiergruppen an gleichliegenden Gebieten auf, die man als identische Punkte bezeichnen kann. Vermutlich hat auch das Abweichen so vieler primitiver und alter- tümlicher, oder sonst tropisch charakteristischer Tiere nach der auf- gehenden Sonne zu (es sei außer den mancherlei genannten etwa noch an die Paradiesvögel erinnert oder an die schönsten Tagfalter) seine kosmische Ursache, worauf jetzt, wie auf so viele andere Folgerungen, nicht eingegangen werden kann. B. Die Entstehung der Gastropoden. Die anatomische Untersuchung der Pleurotomarien hat merk- würdige Resultate gezeitigt, über die Hescheler in dieser Zeitschrift kürzlich berichtet hat, das altertümliche Nervensystem, die merk- würdigen Verhältnisse in der Lungenhöhle, die fortlaufende Folge der Radulazähne u. s. w. Auf die Radula habe ich kürzlich (im Bronn) besonderes Gewicht gelegt und die Pleurotomarien als Hystrichoglossen allen übrigen auf dasselbe Merkmal begründeten Gruppen gegenüber- gestellt. Die Thatsache, dass eine Anzahl von Zähnen distal mit einer Bürste oder einem Pinsel von Borsten besetzt ist, lässt sich zu- sammen mit der Feststellung, dass jeder Zahn von einer Anzahl von Odontoblasten gebildet wird, am einfachsten so deuten, dass man ur- sprünglich jede Borste von je einer einzelnen Zelle abscheiden lässt und den Zahn als ein nachträgliches zu verstärkter Leistung ent- standenes Verschmelzungsprodukt auffasst. Dann hat man aber die Parallele zu den Aplacophoren, als den Weichtieren, die mindestens im Darm den höchsten Atavismus bewahrt haben. Wie bei ihnen jeder Hautstachel von einer einzelnen Zelle secerniert wird, so würden wir im Stomodaeum anfangs dieselbe Bildung gehabt haben. So sind also in der That die Pleurotomarien in dieser Hinsicht die altertüm- lichsten Mollusken. Damit stimmt der Bau der paarigen Kiemen. Sie entbehren noch der hinteren Verlängerung und entsprechen bloß den freien distalen Kiemenhälften der Rhipidoglossen, also jenem Zustand, den man all- gemein nach theoretischer Konstruktion den Prorhipidoglossen zuge- Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 273 schrieben hat, nur natürlich in der durch die Aufwindung gegebenen, nach vorn verschobenen Lage. Um so auffallender sind daher die widersprechenden Angaben von Bouvier und Fischer einerseits, von Martin Woodward anderer- seits über die übrige Ausbildung des Mantelhöhlendaches bei den ver- schiedenen Arten. Woodward fand bei der von ihm untersuchten Species den Bau einer gewöhnlichen Schleimdrüse. Bouvier und Fischer dagegen hatten eine Fläche vor sich mit einem Gefäßnetz, das sich in niehts von dem Gefäßbaum in einer Helixlunge unterschied. Das venöse Blut wird teils in diesen Gefäßen, teils in den Kiemen oxydiert und zusammen den Herzvorkammern zugeleitet. Hescheler geht über diesen Punkt leicht hinweg, indem er einfach an eine ge- wisse Aehnlichkeit in dem Relief eines Lungengefäßbaumes mit dem mancher Hypobranchialdrüsen erinnert; er nimmt also die Beschreibung von Bouvier und Fischer schlechtweg als die einer Hypobranchial- drüse. Wenn man aber an die große Vertrautheit Bouvier’s mit der Gastropodenanatomie, an seine Abbildungen der Mantelorgane von Prosobranchien denkt, dann wird man glauben müssen, dass die be- sondere Betonung des Unterschiedes, die genaue Beschreibung des Gefäßverlaufes und die accentuierte Vergleichung mit einer Pulmonaten- lunge ganz scharf dem wahren Sachverhalt entspricht. Die natur- gemäße Deutung kann daher nur die sein: Pleurotomaria hat auf dem Lande gelebt, sie hat eine Lunge gehabt, und sie hat diese Lunge bei der Rückwanderung ins Wasser mitge- nommen und bewahrt; nicht alle Arten, aber die eine, die Bouvier beschrieb. Bei der anderen ist eine Hypobranchialdrüse aus ihr ge- worden. Ich glaube, es ist nicht schwer, die scheinbare Anomalie, die darin liegt, dass diese ursprünglichsten Schnecken ihre paarigen, noch kurzen Kiemen, die Prorhipidoglossen-Ötenidien, sich bewahrten, zu erklären. Die Baumneritinen, welche in der feuchten Tropenluft mit ihrer Kieme auf dem Lande atmen, liefern den Schlüssel. Man hat nur anzunehmen, dass die Pleurotomarien noch länger in solchen Verhältnissen lebten, um die Ausbildung des Gefäßnetzes zu verstehen. Es entspricht dem gleichen an der Decke der Kiemenhöhle von Landkrabben, das Semper betonte. Den ältesten Formen genügten bei ihrer terrestrischen Lebens- weise die -kleinen Kiemen nicht. Um aber die Rekonstruktion der ältesten Vorfahren auf dem Lande zu verstehen, muss noch weiter ausgeholt werden. Ich habe seinerzeit darauf hingewiesen, dass nur die altertümlichste Gruppe der Chito- niden, die Lepidopleuriden, im Laufe der Zeit den Schöpfungsherd der Gruppe verlassen hat und bis in die Tiefsee hinabgewandert ist. Plate hat diesen Gedanken vortrefflich weiter ausgeführt. Der Grund- zug seiner Arbeit liegt in dem Nachweis, dass die ganze Differen- XXL. 18 274 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. zierung der Polyplacophoren ein Produkt der Gezeitenzone ist. Die alten Lepidopleuriden finden sich gar nicht mehr in diesem Gürtel, sondern mindestens in etwas tieferem Wasser, und von da bis in die abyssischen Regionen. Ihre Nachkommen in der Gezeitenzone sind eben immer weiter und höher differenziert und keine Lepidopleuriden mehr geblieben. Nur in der Thatsache, dass die Tepidopleuriden ihr anfängliches Gebiet verließen und mehr in die Tiefe gingen, lag die Möglichkeit, ihre Organisation auf dem anfänglichen Stadium zu er- halten. Es ist derselbe Grund, der uns so manche altertümliche Tier- form, wenn sie nur die Temperaturerniedrigung zu ertragen gelernt hatte, in der Tiefe des Ozeans aufbewahrt hat. Uebertragen wir den Schluss auf die Pleurotomarien! Ursprüng- lich vermutlich über die ganze Tropenzone verbreitet, hielten sie sich bei den Schwankungen der Erdaxe zunächst nur noch an den Schwing- polen. Hier wurden sie entweder auf dem Lande allmählich umge- modelt und blieben keine Pleurotomarien mehr, oder sie wanderten ins Meer zurück und verfolgten diesen Zug immer weiter, sich im Ge- folge warmer Strömungen, wie oben gezeigt, von den Schwingpolen entfernend und immer tiefer ins Meer geratend, wo wir sie jetzt an- treffen, bathymetrisch und chorologisch genommen. Der respiratorische Gebrauch eines Gefäßnetzes macht dem Verständnis ebensowenig Schwierigkeiten, als die gleiche Verwendung der Neritinenkieme auf dem Lande. Damit scheint mir endlich auch ein Problem gelöst, welches den Zoologen von jeher viel Kopfzerbrechen gemacht hat, die Atmung der Ampullarien, mit ihrer wunderlichen Mantelhöhle, die aus zwei Stockwerken besteht, mit einem Loch in der Scheidewand, das untere mit einer Kieme und mit Wasser gefüllt, das obere lufthaltig als Lunge. Ich habe mich in meiner „Entstehung der Landtiere* einfach einer Inkonsequenz schuldig gemacht, als ich dieses Respirationsorgan, das freie Luft atmet, im Wasser entstehen ließ, anstatt wie die übrigen, die Wirbeltierlunge, die Schwimmblase der Fische, die Tracheen der Gliedertiere, auf dem Lande; daher blieb hier immer eine Unklarheit. Die Ampullarien haben ihre Mantelhöhle auf dem Lande ausgebildet, mit einer Kieme, die von aquatilen Vorfahren stammte und mit einem respiratorischen Lungengefäßnetz. Der Unterschied von den Pleuroto- marien ist — von der anderen Wurzel, aus der sie entsprossen, ab- gesehen (Monotocardien statt Diotocardien) — nur der, dass sie ins Süßwasser zurückwanderten und nicht, wie die Pleurotomarien, ins Meer. Im‘Meer war keine Gelegenheit, Luft in die Atemhöhle einzu- führen, und die ganze Atemhöhle wurde dem Wasser dargeboten; im Süßwasser blieb immer Gelegenheit, entweder für gewöhnlich an der ruhigen Oberfläche, oder namentlich in trockeneren Zeiten, wenn nur noch ein feuchter Schlamm vorhanden war, auch Luft einzunehmen. Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. 2375 Sie sammelte sich an der Decke der Kiemenhöhle; um sie besser aus- zunutzen, wurde die Stelle abgegrenzt, indem rings eine Scheidewand vorsprang. Man kann auch sagen, dass sich die seitliche Wand rings vordrängte, um auch die Unterseite der Luftblase auszunutzen. Wem die Luftmenge zu wenig scheint, um eine solche Wirkung zu veran- lassen, der bedenke einmal, dass alle Lungenvorsprünge in ähnlicher Weise entstanden, der nehme zweitens den außerordentlich geringen Luftverbrauch, den Künkel bei Limax variegatus nachwies, nämlich nur 0,36 em? Luft pro 1 cm? Körpermasse und Stunde. Schwerlich wird die Atemhöhle der Ampullarien nach dem jetzigen Stand unserer Kenntnisse eine naturgemäßere Lösung finden. An die gleiche Stelle gehören jene von P. und F. Sarasin (I. e.) entdeckten Basommatophoren von Celebes. Für die Gruppe habe ich früher die Ansicht aufgestellt, dass auch diese Wasserlungen- schnecken ihre Lunge einst auf dem Lande erworben haben und ins Wasser zurückgewandert sind. Jetzt lässt sich behaupten, dass auch diese von den Tectibranchien aus zunächst nach Art der Baumneritinen ihre Kieme mit auf das Land nahmen; lediglich in den Tropen, wo die Kontinuität des Lebens nicht nur zeitlich, sondern auch örtlich zu nehmen ist zwischen Wasser und Land. Die schärfere Zurückweichung ins Wasser erfolgte wohl mehr nach dem Schwingungskreis zu. Aber jene Urformen, die noch die Kieme neben der Lunge wohl entwickelt haben, finden sich nur noch an einem Schwingungspole und zwar an dem niedrigeren östlichen. Die Entdecker haben auf dieses anatomische Verhältnis mit Recht besonderen Wert gelegt und die eine Form Miratesta, die andere Protancylus genannt. Doch zurück zu den Pleurotomarien! Es ist wohl fast aus- geschlossen, dass die Formen, die wir im Palaeozoienm so reichlich überliefert finden, von den terrestrischen Vorfahren stammen, wiewohl eine Entscheidung zunächst kaum zu treffen ist. Um den Urformen näher zu kommen, ist noch ein Moment zu beachten, das ist die Größe. Die jetzigen Pleurotomarien sind stattliche Schnecken. Es ist weder anzunehmen, dass die Vorfahren, noch dass das Prorhipidoglossum solchen Umfang hatten. Plate ist bei den Chitoniden zu dem Schluss gekommen, dass die kleineren Formen die primitiveren sind, er kon- struiert einen Prochiton, der etwa 2cm maß. Mir scheint der Schluss um so mehr berechtigt, als wir damit ungefähr auf die Körper- größe der Aplacophoren, speziell der Neomenien kommen, von denen ich kürzlich, auf dem internationalen Zoologenkongress in Berlin, wie ich hoffe, mit Erfolg zeigen konnte, dass ihr Darm allen Anforde- rungen entspricht, um die sämtlichen, so reichen Modifikationen des Tractus bei den verschiedenen Molluskenklassen daraus abzuleiten. Wir werden für die terrestrischen Vorfahren der Pleurotomarien einen ähnlichen Leibesumfang anzunehmen haben, vermutlich noch etwas L82 976 Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. u kleiner, da es sich um Landtiere handelte. Damit sind wir aber bei der ganzen großen, oben besprochenen Gruppe der Landdeckelschnecken angelangt, sagen wir etwa, um die altertümlichsten, die Rhipidoglossen herauszugreifen, bei den Helieinen, die etwa einer Neomenia an Volum gleichen mögen. Man versteht, dass ich wieder auf deren Verbreitung hinaus will. Man nehme deren jetzige reichste Ausbildung auf den Philippinen und Westindien, man nehme ihre systematisch niedrige Stellung, wobei ich darauf hinweise, dass auch Ampullaria zu den Architaenioglossen Haller’s gehört, man nehme das Vorkommen der Pleurotomarien in Japan und Westindien, und man wird im Lichte der hier vorgetragenen Theorie auf Landdeckelschnecken an den Schwingpolen als gemeinsamen Ausgangspunkt zurückkommen. Bisher hat man fast immer, ihrer Größe und bequemen Beschaffung wegen, bei der Untersuchung auf die marinen Rhipidoglossen zurück- gegriffen, von den meisten terrestrischen Formen kennen wir nur die Sehale und höchstens die Radula,; eine genauere anatomische Durch- arbeitung fehlt fast vollständig. Das ganze System, unsere gesamten Anschauungen von der Entwicklung des Herzens, des Nervensystemes, kurz der ganzen Morphologie ist auf das marine Material gegründet unter Vernachlässigung der anderen Hälfte. Und doch ist diese, den Schalendifferenzen nach, mindestens ebenso reich gegliedert. Hier ist, wenn man auch die Kiemen kaum noch irgendwo anders als bei Land- neritinen, antreffen wird, noch viel Aufschluss von künftiger Beacke- rung des brachliegenden Bodens zu erhoffen. Wenn ich nach diesem allen vor der Annahme nicht zurückschrecke, die Gastropodenentstehung auf das Land zu verlegen, ihre Ursache in einer Anpassung an das veränderte Medium zu suchen, so bin ich nur folgerecht in dem Schluss, dass die stärksten morphologischen Ver- änderungen, wozu die Aufwindung des Schneckenleibes zweifellos ge- hört, auf der stärksten Veränderung der äußeren Bedingungen beruht, — ein Schluss, der sich bei meinen Ableitungen oft genug bestä- tigt hat. Nun aber versteht sich bei dieser Folgerung eins von selbst, dass nämlich die ältesten Gastropoden ihr Sperma nicht frei entleerten, sondern dass sie sich begatteten. Alle Landschnecken haben, so viel wir wissen, einen Penis. Mag dieser, was beim Mangel der Unter- suchungen noch unsicher ist, bei den Landformen auf eine gemeinsame morphologische Wurzel zurückgehen oder, wie es bei den sehr ver- schiedenen Penes der Wasserschnecken der’Fall ist, aus verschiedenen Körperteilen hervorgegangen sein (dem rechten Fühler, wie bei Palu- dina, dem Mantelrand, wie bei Ampullarien u. dergl. m.), mag dem sein wie ihm wolle, immer wird man bei Kopula auf einseitige Aus- bildung der Genitalorgane schließen müssen, und damit bin ich bei meiner Theorie, dass die Aufwindung des Eingeweidesackes auf die - Simroth, Ueber Gebiete kontinuierlichen Lebens. DT. w einseitige Anlage der Genitalien zurückgehe, wieder angelangt. Ich bin zunächst noch weit entfernt, die Ausführungen von anderer Seite, namentlich die von Lang, die ich in der Einleitung erwähnte, als Hilfshypothesen zurückzuweisen. Sie mochten den Vorgang der Auf- windung unterstützen und beschleunigen; die erste Ursache aber war die notwendig werdende Begattung auf dem Lande. Beiläufig mag darauf hingewiesen werden, dass die Neriten ein treffliches Beispiel liefern für die Erwerbung des Kopulationsorganes. Jetzt ist diese Gruppe derber Meeresschnecken die einzige Familie marimer Rhipidoglossen mit einem typischen, wohl entwickelten Penis. Jetzt ergiebt sich der früher schon von mir angedeutete Zusammen- hang, dass dieser Penis zuerst von den Neritinen erworben sein möchte, da auch alle Gastropoden des süßen Wassers das Sperma direkt in das andere Individuum übertragen. Jetzt geht die Schlusskette weiter. Das Organ stammt von den landbewohnenden Vorfahren, und die Baumneritinen zeigen den Zusammenhang noch an. Nun aber haben die Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt, dass auch die weib- lichen Wege der Neritinen eine sonst bei den Prosobranchien unerhörte Komplikation aufweisen, insofern als die Vagina eine besondere Er- werbung neben dem Eileiter darstellt, die mit ihr erst durch einen sekundären Gang in Verbindung steht. Das deutet wahrlich nicht auf eine ursprüngliche Benutzung der einen Niere als Geschlechtsweg. Vielmehr ist dieser Weg nur als der sich zunächst darbietende Not- behelf betreten worden, wenn beim Rückwandern ins Meer in der Ge- zeitenbewegung die Lokomotion erschwert war und die strotzende Gonade auf chemotaktischen Reiz für ihre Produkte einen Ausweg suchte. Es erübrigt schließlich nur noch, eine Konsequenz zu ziehen und von dem gewonnenen Gesichtspunkte aus ein letztes, viel umstrittenes, stets aber dunkel gebliebenes Problem zu lösen: Auch der Deckel, das Operculum der Schnecken ist eine Erwerbung der ur- sprünglichen Landanpassung. Er ist gewonnen als ein Trocken- schutz. Dass der Fuß unter Umständen, auch bei Meeresschnecken, an der Schalenbildung sich beteiligt, dass er sekretorisch wirken kann, entspricht der allgemeinen Anschauung. Was Wunder, wenn diese Fähigkeit zuerst entwickelt und in Anspruch genommen wurde da, wo es am nötigsten war. Das der Schalenmündung angepasste Blättehen geriet beim Wachstum in die entgegengesetzte Aufwindung wie die Schale. Darin bleiben die Ansichten unverändert. Wohl aber ist darauf hinzuweisen, dass der Formenreichtum des Deckels bei den Landdeckelschnecken, namentlich wenn man die Neritinen mit in diesen Kreis einbezieht, mindestens ebenso groß ist als bei den marinen, die Verschiedenheit der Spirale, Einbuchtung und Verwölbung, Besatz mit vorstehenden Knöpfen, zarte, weit vorspringende Kalklamellen, ein 278 Boveri, Das Problem der Befruchtung. komplizierter Muskelfortsatz u. dergl.m. Auch der Verlust des Deckels fehlt so wenig wie bei marinen Formen, er ist bei den Helieinen ein- getreten, die somit in gewissem Sinne bereits eine höhere Stufe des Landlebens erreicht haben. Sie haben dafür einen anderen Trocken- schutz erworben, die Verengerung der Mündung durch ein System kräftig vorspringender Lamellen, wie wir es bei den vielleicht alter- tümlichsten Stylommatophoren, den Eutodontiden, in ähnlicher Weise reich entwickelt finden. Es liegt wohl kaum Veranlassung für mich vor, mich mit dem Einwande zu befassen, dass die Erwerbung des Deckels unnötig ge- wesen wäre, weil die Pulmonaten keinen haben. Er wäre nicht höher zu bewerten, als wenn man der Schale ihre Bedeutung als Schutz- organ absprechen wolle, weil es auch Nacktschnecken giebt. Eines schickt sich nicht für alle; und eine Nacktschnecke ist nicht aus dem Meere aufs Land gekommen. Zudem hat eine der ältesten Gruppen, die Clausilien, in ihrem vom Fußrücken abgesonderten Schließknöchelchen eine konvergente, analoge Bildung erworben. Habe ich nötig, zum Schluss auf die Konsequenz hinzuweisen, dass ich, im ganzen Zusaınmenhang dieser Arbeit, mit den Pleuro- tomarien auch die den Spinnen so nahestehenden Xiphosuren vom Lande zurückgewandert sein lasse, mit ihnen die Palaeostraca, ja die Krebse schlechthin? Früher folgerte ich es aus morphologischen Gründen, jetzt kommen erfreulicherweise die zoogeographischen dazu. Uebrigens hoffeich, mit diesen Blättern, die bei dem weitschichtigen Material und den verschlungenen Pfaden der Tierverbreitung schwer- lich schon jeden Nagel in die richtige Stelle eingetrieben haben, zur Diskussion anzuregen, die zur Klärung einer der interessantesten Seiten der Biologie beitragen möge. [120] Theodor Boveri, Das Problem der Befruchtung. Jena, Gustav Fischer. Der Begriff der Befruchtung hat sich nicht aus Forscherarbeit, son- dern aus den Vorstellungen, die sich mit dem Wort Befruchtung ver- binden, entwickelt. Dieselben sind so alt, als Menschen über sich nach- denken. Die wissenschaftliche Arbeit fügte die Erkenntnis zu, dass das Zusammenwirken zweier Geschlechter bei der Erzeugung eines neuen Indi- viduums, das man ursprünglich als eine Eigentümlichkeit des Menschen und der höchsten Tiere ansah, durch die ganze organische Natur ver- wirklicht ist. OÖ. Hertwig vermochte zuerst im Jahre 1875, nach manchen wichtigen Vorarbeiten anderer Forscher, festzustellen, was beim Zusammentreffen des Samens mit den Eiern vorgeht. Wie fast im ganzen Tierreich, so wurden auch die Samenelemente der Seeigel für parasitische Organismen gehalten. Nach Schilderung der bekannten Befruchtungsvorgänge bei Zutritt eines Boveri, Das Problem der Befruchtung. 379 „Spermatozoen“ zum Ei gelangt Boveri aus der 'Thatsache, dass das Ei eine Zelle ist, der fertige Organismus ein Komplex zahlloser Zellen, zu dem Ergebnis, dass die Grundlage der Embryonalentwicklung eine Zellen- vermehrung sein muss. Die fortgesetzte Zellteilung liefert nicht einen regellosen Haufen gleichartiger Zellen, sondern das Ei einer jeden Tierart ist so beschaffen, dass die von ihm abstammenden Zellen auf jedem Stadium ganz bestimmte, untereinander verschiedene Qualitäten und eine ent- sprechende Stellung zueinander haben. Der fertige Organismus ist nicht etwa das umgewandelte und gewachsene Ei, sondern ein geordneter Komplex zahlloser Nachkommen des Eies, von denen wieder einzelne als Eier und Samenfäden den Kreislauf von neuem beginnen. Der Vorgang der Befruchtung besteht in der Vereinigung zweier höchst ungleicher Zellen, einer weiblichen und einer männlichen zu einer Zelle, die den Ausgangspunkt für ein neues Individuum darstellt. Die verschiedenen Autoren fassten den Vorgang der Befruchtung immer als eine Bewirkung auf. Boveri fässt diese Auffassung in den Satz zusammen: „Was bringt die Samenzelle in die Eizelle hinein, um die Entwicklungsfähigkeit herzustellen ?“ Die Zahl der Möglichkeiten zur Beantwortung der Frage ist groß, die Erfahrungen schränken jedoch diese Fülle auf einen ganz kleinen Kreis ein. Die sich bei Insekten und verwandten Gliederfüßlern ohne Befruchtung, d. h. parthenogenetisch entwickelnden Eier beweisen, dass es nicht notwendig zur Natur des Eies, zum Zwecke der Entwicklung einer Ergänzung bedarf. Zweitens giebt es Eier, die befruchtet werden, die aber, wenn nicht befruchtet, sich doch entwickeln, wie das bei der Biene seit langem bekannt ist, mithin fehlt denselben ohne Befruchtung nichts Essentielles. Drittens bewies Loeb vor zwei Jahren, dass Seeigel- eier künstlich zu parthenogenetischer Entwicklung gebracht werden können. Aus allen diesen 'Thatsachen geht hervor, dass das Wesen der Tier- und Pflanzenspecies in dem Ei allein vollkommen enthalten ist. Nach Erläuterung der wichtigsten Vorgänge bei der Kernteilung gelangt der Autor zu der Ansicht, dass die minutiöse Verteilung des Chromatins, auf die sich nach dem Gesagten die Kernteilung reduziert, durch einen Apparat bewirkt wird, dessen fertiger Zustand mit seiner fast mathematischen Regelmäßigkeit schon den ersten Beobachtern auffiel, dessen Entstehung und Wirkungsweise aber erst seit dem Jahre 1877 bekannt ist. Bis vor kurzem erschien es, als ob die Centrosomen Bil- dungen wären, die nur durch Erbschaft von einer Zellengeneration auf die andere übergehen können. Die neuesten Untersuchungen lassen jedoch kaum einen Zweifel, dass sich Centrosomen unter gewissen Umständen neu im Protoplasma bilden können, wobei es allerdings noch fraglich ist, ob eine solche Neubildung auch im normalen Verlauf irgendwo vorkommt. Durch Teilung des Centrosoms werden zwei Centren geschaffen, deren jedes die eine Hälfte eines jeden Kernelements um sich abgrenzt. Das Centrosoma ist demnach als das Teilungs- oder Fortpflanzungsorgan der Zelle zu bezeichnen. Die Frage nach der Herkunft der beiden Centrosome lässt sich nach Boveri dahin beantworten, dass sie durch Zweiteilung eines Centrosoms entstehen, welches an dem eingedrungenen Spermatozoon in der Region des Mittelstücks auftritt. Aus den Erscheinungen der Ueberfruchtung, aus welchen hervorgeht, dass, wenn bei geschwächtem Ei 280 Boveri, Das Problem der Befruchtung. mehrere Spermatozoen eingedrungen sind, sich jedes davon so verhält, als wenn es das einzige wäre, lässt sich aufs klarste beweisen, dass die Konfiguration des Teilungsapparats ausschließlich eine Funktion des Spermatozoon ist, während das Ei auf seine Konstitution gar keinen Ein- fluss hat. Aus Eiern, in denen infolge des Eintritts zweier oder mehrerer Spermatozoen mehrpolige Figuren entstehen, wird niemals ein normaler Organismus, sondern es führt die Teilung zur Bildung eines Zellenhaufens oder einer Zellenblase, ohne dass die Entwicklung weiter geht. Dagegen entsteht im umgekehrten Fall, wo unter gewissen abnormen Bedingungen zwei Eier miteinander verschmolzen sind und ein Spermatozoon hinzutritt, eine typische zweipolige Teeilungsfigur und schließlich ein normaler Bienen- embryo. Es ist demnach unzweifelhaft, dass es die gleichzeitige Wirkung von mehr als zwei Polen ist, worauf bei der Ueberfruchtung die schäd- liche Wirkung beruht. Boveri stellte im Jahre 1887 eine Theorie der Befruchtung auf, welche lautet: „Das reife Ei besitzt alle zur Entwicklung notwendigen Organe und Qualitäten, nur sein Öentrosoma, welches die Teilung einleiten könnte, ist rückgebildet oder in einen Zustand von In- "aktivität verfallen. Das Spermatozoon umgekehrt ist mit einem solchen Gebilde ausgestaltet, ihm fehlt aber das Protoplasma, in welchem dieses Teilungsorgan seine Thätigkeit zu entfalten im stande wäre. Durch die Verschmelzung beider Zellen im Befruchtungsakt werden alle für die Ent- wicklung nötigen Zellenorgane zusammengeführt; das Ei erhält ein Centro- soma, das nun durch seine Teilung die Embryonalentwicklung einleitet.“ Boveri sieht das uralte physiologische Problem der Befruchtung im wesent- lichen als gelöst an. Die Unfähigkeit des Eies, sich selbständig zu ent- wickeln, beruht auf einer Unfähigkeit zur Teilung, während das Sperma- tozoon diesen Mangel durch Einpflanzung eines neuen Teilungscentrums behebt. Die Befruchtung ist damit auf die Physiologie der Zellteilung zurückgeführt und damit im Prinzip erklärt. Es lässt sich diese Erkenntnis aber nicht verallgemeinern, da sie für die Tierwelt, wenn auch vielleicht hier nicht ganz allgemein, Gültigkeit hat, für die überwiegende Zahl der Pflanzen aber nicht, da ihnen Centrosomen fehlen. Die Thatsache, dass der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Keimzelle gar nicht in der ganzen Organismenwelt der gleiche ist, führt zur Frage: Warum ist überhaupt ein solcher Gegensatz vorhanden, was bedeutet er? Dieses lässt sich am besten auf dem Wege der Vergleichung klar- stellen: Schon lange kennt man bei einzelligen Tieren und Pflanzen Paarungsvorgänge, die man als Konjugation bezeichnet. Die gleichmäßige Vermehrung derselben durch Zweiteilung wird in gewissen Intervallen durch eine Konjugationsperiode unterbrochen. Die vorhandenen Individuen, die alle gleich sind, legen sich paarweise aneinander, und jedes Paar ver- schmilzt zu einem Individuum, d. i. zu einer Zelle. Diese durch die Konjugation gebildeten Individuen vermehren sich dann wieder durch Teilung. Die Konjugation bietet also ganz Aehnliches wie die Befruch- tung. Dass eg sich hier wirklich um die gleichen Vorgänge wie bei der Befruchtung handelt, wird durch ganz allmähliche Uebergärge zwischen beiden Arten von Zellenvereinigung bewiesen, wie z. B. die Vermehrung von Pandorina morum und von Endorina elegans zeigen. Bei dem letzteren repräsentiert jedes Individuum der weiblichen Kolonie ein Ei, jedes der männlichen ein Spermatozoon. Bei Volvox tritt aber schon Boveri, Das Problem der Befruchtung. 281 als höhere Stufe der Gegensatz zwischen den allein konjugationsfähigen Keimzellen und den reinen Körperzellen auf. Die Konjugation einzelliger Wesen lehrt, dass der geschlechtliche Gegensatz nichts Prinzipielles sein kann und dass der Vereinigung zweier Zellen hier die Beziehung zu dem Anfang einer „Entwicklung“ fehlt. Die Bedeutung dieser Paarung führt man vielfach auf eine Verjüngung zurück, doch hält diese Ansicht bei genauerer Prüfung nicht stand. Nach Boveri ist folgende Ansicht hier ebenfalls berechtigt: „Die zu einem regulären Gebrauch gewordene Konjugation kann, ähnlich wie wir dies bei der Befruchtung finden, zu einer besonderen Umbildung der nach einer bestimmten Generationenzahl auftretenden Individuen geführt haben, wodurch dieselben gewissermaßen zu Hälften gemacht werden, welche erst durch Verschmelzung mit einer ähnlichen Hälfte wieder ein reguläres Ganze werden.“ Da es Organismen giebt, bei denen unbegrenzte Vermehrung ohne Paarung möglich ist, so ist die letztere demnach nicht eine unumgängliche Notwendigkeit zum Bestand des organischen Lebens, womit die Ver- jüngungstheorie hinfällig wird. Es bleibt nur die Annahme übrig, dass die Verbindung individueller Eigenschaften, die durch die Verschmelzung zweier Zellen erreicht wird, irgendwie einen Nutzen gewährt, wenn wir auch einstweilen dahingestellt sein lassen, welchen. Das Ziel der Paarung muss in der Vereinigung der Eigenschaften zweier Individuen in einem Individuum, also ganz allgemein in einer Qualitätenwirkung gesehen werden. Es entsteht hieraus die Frage, ob die Besonderheiten der geschlecht- lichen Fortpflanzung: „der Gegensatz männlicher und weiblicher Keimzellen und die Beziehung zur Entstehung eines neuen Individuums, aus den Be- dürfnissen der Qualitätenmischung erklärbar sind“. Sollen zwei einzellige Organismen ihre Eigenschaften mischen, so brauchen sie einfach zu verschmelzen, sollen zwei vielzellige Organismen ihre Eigenschaften mischen, so geht das nicht so einfach. Mischen kann sich Organisches nurimZustand der Zelle. Daher ist bei allen höheren Organismen die Mischung an die Fortpflanzung geknüpft. Folgende Bedingungen sind nötig, damit zwei Keimzellen von zwei verschiedenen Individuen einem neuen Organismus Entstehung geben: 1. „Es muss verhindert sein, dass die einzelne Keimzelle sich spontan entwickelt, sie muss eine Hemmung besitzen, die erst durch den anderen Teil gehoben wird; 2. die beiderlei Keimzellen müssen zusammentreffen, sie müssen sich finden; 3. sie müssen miteinander eine gewisse Menge von Protoplasma und Nährsubstanz aufbringen, die zum ersten Aufbau des Embryo dienen.“ Das Spermatozoon ist ohne weiteres durch seinen Mangel an Proto- plasma gehemmt; die Eizelle besitzt mit dem Protoplasma und seinen Ein- lagerungen alle Entwicklungsqualitäten, ihr fehlt nur der Antrieb, das Centrosoma. Dieser beiderseitiger Mangel ist kein prinzipieller, keine senile Entartung, sondern ein Verzicht. Die Keimzellen wollen sich nicht allein entwickeln. Die Samenzelle ist auch eine Fortpflanzungszelle, ihrem innersten Wesen nach der Eizelle gleichwertig. Wie diese durch das Spermatozoon, so wird auch das Spermatozoon durch das Ei zur Ent- 282 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. wicklungsfähigkeit ergänzt. So verschieden die männlichen und weib- lichen Keimzellen sind, in einem sind sie doch gleich, in ihrer Kern- substanz. In diesen väterlichen und mütterlichen Kernelementen müssen wohl die dirigierenden Kräfte liegen, welche dem neuen Organismus neben den Merkmalen der Species die individuellen Eigenschaften der beiden Eltern kombiniert aufprägen. Und diese Kombination der Kernsubstanzen als der Qualitätenträger wäre also das Ziel aller Paarung vom Infusions- tierchen bis zum Menschen. Nach Boveri ist die Beantwortung der Frage: Was soll die Mischung? so gut wie ausgeschlossen, da er nicht glaubt, dass sie je gelingen wird. Die exakte Lösung wäre nur auf experimentellem Wege möglich. Alles, was wir von den organischen Wesen wissen, führt zu der Ueberzeugung, dass die höheren aus niederen durch allmähliche Umbildung entstanden sind, und die ganze organische Welt erscheint uns durch langsame Fort- schritte aus primitivstem Urzustand zu höchster Komplikation aufgestiegen. Ungelöst ist nur die Frage, welche Kräfte dies bewirken konnten. Einer dieser Faktoren beim Fortschritt des Organischen scheint, darin stimmt Boveri mit Weismann überein, in den Folgen der Individuenmischung gegeben zu sein. Und wenn dies richtig ist, so wäre hier eine Wirkung erkannt, die wohl im Verhältnis steht zu der unermesslichen Rolle, welche die Zellenpaarung in der Welt spielt. — Der Aufsatz giebt im wesentlichen den Inhalt eines Vortrages wieder, den der Verfasser am 23. September des vorigen Jahres in der ersten allgemeinen Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Hamburg gehalten hat. Boveri giebt dadurch eine dankenswerte klare Zusammenstellung der wissenschaftlichen Ergebnisse über das Problem der Befruchtung, welche die Forschung bis dahin gesammelt hat. Da dieser Gegenstand von anderen Seiten wiederholt von verschiedenen Gesichtspunkten aus behandelt wurde, ist es von um so größerem Interesse, wenn ein erfahrener Zoologe sich mit der bezeichneten Aufgabe beschäftigt. Boveri fügt seiner Abhandlung noch einen Anhang bei, welcher sich die Klarstellung der Bedeutung der Loeb’schen Ergebnisse für das Befruchtungs- problem zum Ziel gesetzt hat. [87] Dr. Alexander Sokolowsky (Charlottenburg). Das Energieprinzip und die energetische Betrachtungsweise in der Physiologie. Von Dr. F. Mares, Professor der Physiologie an der böhmischen Universität zu Prag. 1. Robert Mayer ging bei der Begründung des energetischen Erhaltungsprinzips von physiologischen Betrachtungen aus, beschränkte sich jedoch in seiner ersten Abhandlung auf den Nachweis dieses Prinzips in der unbelebten Natur. Das Anorganische ist ihm zur Hauptsache geworden, er suchte vom Terrain der physikalischen Wissenschaft aus im Gebiete der Physiologie festen Fuß zu fassen. Denn wäre die Sache, sagt er, von physikalischer Seite nicht haltbar, so wären die plausibelsten physiologischen Ideen, die man darauf Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i.d. Physiologie. 283 gründen wollte, nur Seifenblasen (Die Mechanik der Wärme; herausgeg. v. Weyrauch, 1893, S. 35, 42). Mayer’s Begründung des Prinzips beruht in der ersten Abhand- lung auf den Begriffen der Substanz und der Kausalität (e nihilo nil fit, causa aequat effeetum). Auch in der zweiten Abhandlung steht die logische Begründung im Vordergrunde; Mayer beruft sich auf das Gesetz des logischen Grundes, welches den Naturforscher nötigt, die Leistung mit dem Aufwande in Kausalzusammenhang zu bringen. Hier aber sucht er das logisch entwickelte Prinzip auch empirisch nachzu- weisen; er beruft sich auf die Denkgesetze und auf die Erfahrung. Dieser Nachweis ist ihm im Gebiete der Physik durch die Berechnung des mechanischen Wärmeäquivalents auf Grund der Experimente von Gay-Lussaec vollkommen geglückt. Und da er auf diese Weise in der Physik festen Fuß gefasst hat, so wagte er den Schritt in das Gebiet der Physiologie. Hier versucht er es zuerst, die Gültigkeit und Bedeutung des energetischen Erhaltungsprinzips im großen und ganzen nachzuweisen. Die Sonne ist die Quelle eines Stromes von Energie, welcher sich über unsere Erde ergießt. Die Pflanzenwelt bildet ein Reservoir, in welchem die flüchtigen Sonnenstrahlen fixiert und zur Nutznießung niedergelegt werden. So wie die Pflanzen Materie nicht erzeugen, sondern nur um- wandeln, so vermögen sie auch eine Kraft nur zu umwandeln, nicht aber zu erschaffen. Diese Wahrheit ist mehr a priori einleuchtend, als durch Versuche, welche überall keine Einrede zulassen würden, in den einzelnen Fällen zu erweisen. Mayer unterlegt also seinen folgenden Untersuchungen als axiomatische Wahrheit den Satz: dass während des Lebensprozesses nur eine Umwandlung, so wie der Materie, so der Kraft, niemals aber eine Erschaffung der einen oder anderen vor sich gehe. Die folgenden Untersuchungen Mayer’s, durch welche er die Gültigkeit des Energieprinzips in den einzelnen Fällen zu erweisen suchte, sind nun in der That unzulänglich. Sie gründen sich auf Lavoisier's Verbrennungstheorie, von welcher ja Mayer überhaupt ausgegangen ist. Im tierischen Organismus, sagt Mayer, wird fort- während eine Summe von chemischen Kräften aufgewendet. Ternäre und quaternäre Verbindungen werden als verbrannte Stoffe ausgeschieden. Die Wärmemenge, welche durch diese Prozesse geliefert werden kann, ist auf experimentellem Wege keineswegs genügend eruiert; es kann jedoch hier, wo es sich hauptsächlich um Feststellung eines Prinzips handelt, genügen, die Verbrennungswärme des reinen Kohlenstoffs den Rechnungen zu unterlegen. Sammelt man die in einer gewissen Zeit von einem Tiere gelieferten Kraftäußerungen, so wird man genau die Wärmemenge erhalten, welche dem stattgehabten chemischen Prozesse an und für sich entspricht. Auf der einen oder anderen Seite ein 284 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. Plus oder Minus anzunehmen, verbietet das Gesetz des logischen Grundes. E nihilo nil fit, nil fit ad nihilum. Die einzige Ursache der tierischen Wärme ist ein chemischer Prozess, in specie ein Oxydationsprozess. Mayer versucht es zu zeigen, dass die höchst wertvollen Ver- suche von Dulong und Despretz, weit entfernt, eine Widerlegung des Grundsatzes: e nihilo nil fit zu enthalten, vielmehr die angefochtene Wahrheit auf dem Erfahrungswege bestätigen. Diese Wahrheit wurde nämlich damals von den Vitalisten verkannt, welche eine Lebenskraft als unerschöpfliche und erbliche Quelle der tierischen Wärme und Arbeit angenommen haben. Es ist zweifelsohne, dass Mayer diese Vorstellung einer Lebenskraft durch sein Energieprinzip vollständig und für immer überwunden hat, aber nicht durch den Nachweis seiner Gültigkeit in den einzelnen Fällen, wie es die Versuche von Dulong und Despretz wären, sondern durch die allgemeine Fassung jenes Prinzips als axiomatischer Wahrheit. Große wissenschaftliche Vor- sicht führte Mayer dazu, sich zuerst in der Physik eine bombenfeste Citadelle zu schaffen; denn durch den empirischen Nachweis des Energieerhaltungsprinzips in der Physik war auch das Gebiet der Physiologie dafür erobert. Dieses Prinzip ist denn auch bis heute in der Biologie eine axio- matische Wahrheit geblieben, sein empirischer Nachweis in den ein- zelnen Fällen ist trotz mühsamer und scheinbar gelungener Ver- suche bis jetzt nicht erbracht worden. Denn ein solcher Nachweis ist hier, namentlich auf dem von Lavoisier angezeigten Wege, gar nicht zu erbringen. 2. Seit Lavoisier bemüht man sich, die Gleichung zwischen der vom Tiere in einer gewissen Zeit abgegebenen Wärme und der zu gleicher Zeit in seinem Körper durch exothermale Stoffumwandlungen freigewordenen experimentell festzustellen. Diese Stoffumwandlungen bezeichnet man als Oxydation, in Hinsicht auf den Sauerstoffverbrauch und die Kohlen- säurebildung im Tierkörper. In der ersten Periode dieser Versuche stellte man sich auf den von der Chemie entwickelten Elemente- standpunkt und nahm die Verbrennung des Kohlenstoffs und Wasser- stoffs im Tierkörper als Quelle der entwickelten Wärme an. Die Menge des verbrannten Kohlenstoffs entnahm man direkt aus der aus- geschiedenen Kohlensäure, die des Wasserstoffs berechnete man aus dem verbrauchten Sauerstoff, nach Abzug der zur Kohlensäurebildung verwendeten Menge desselben. In dieser Weise sind die Bilanzen von Dulong und Despretz angestellt worden. Der Elementestandpunkt wurde von Liebig als verfehlt er- kannt und in der Weise korrigiert, dass im Tierkörper nieht Kohlen- stoff und Wasserstoff, sondern Nahrungsstoffe, Kohlenhydrate und Fette, verbrannt werden; demgemäß wurden nun in den energetischen Bilanzen die Verbrennungswärmen der Nahrungsstoffe verrechnet. Nichts- Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i.d. Physiologie. 285 destoweniger, der Elementestandpunkt wurde dadurch nicht voll- ständig beseitigt. Der Elementestandpunkt wird noch immer in Betreff des ver- brauchten Sauerstoffs eingenommen; man nimmt an, dass sich der Sauerstoff mit den Nahrungsstoffen direkt zu Kohlensäure und Wasser verbindet. Es hat schon R. Mayer selbst den Versuchen von Dulong und Despretz gegenüber hervorgehoben, dass der Elementestand- punkt auch in Betreff des Sauerstoffs irreführend sein kann. Du- long und Despretz, sagt er, bestimmten bei ihren Versuchen den verzehrten atmosphärischen Sauerstoff und die Menge der gebildeten Kohlensäure, und berechneten hiernach die zur Wasser- bildung verbrauchte Sauerstoffmenge; sie gingen also von der Voraus- setzung aus, dass der aktiv verbrennende Sauerstoff einzig von der Atmosphäre herrühre. Da nun aber der Stoffwechsel der Tiere nicht in einem Umsatze von Kohlenstoff und Wasserstoff in unorganischer Form, sondern in einer Zersetzung ternärer und quaternärer Sauerstofi- verbindungen besteht, so liegt hierin eine mögliche Quelle von Fehlern. Organische Stoffe können ohne Sauerstoffaufnahıne durch chemische Veränderungen Wärme entbinden; dies beweist der Prozess der geistigen Gärung (1. e. S. 82). Der Stoffwechsel der Tiere besteht danach nicht in einem Um- satze von Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff in unorganischer, d.i. elementarer Form, sondern in der Umwandlung sehr komplizierter organischer Stoffe. Der Sauerstoffverbrauch und die Kohlensäurebildung hängen nicht direkt zusammen. Es wäre möglich, dass der eingeatmete Sauerstoff zunächst zur Bildung dieser komplizierten „Sauerstoff- verbindungen“ verwendet wird, welche dann unabhängig von der gleichzeitigen Sauerstoffaufnahme unter Kohlensäurebildung zerfallen würden. Diese Möglichkeit wird durch viele Thatsachen wahrschein- lich gemacht. Die Sauerstoffaufnahme und die Kohlensäurebildung sind als Endglieder einer ganzen Kette von Prozessen zu betrachten, so dass sie nicht direkt zusammenhängen und in weiten Grenzen von- einander unabhängig sind. Es kann vermehrte Sauerstoffaufnahme ohne gleichzeitige Vermehrung der Kohlensäurebildung, oder umgekehrt, stattfinden. Diese Verschiebungen werden im respiratorischen Quotienten ihren Ausdruck finden. Es kommen Zustände vor, wo der respiratorische Quotient unge- mein niedrig gefunden wird; bei keimenden Pflanzensamen, bei winter- schlafenden Säugetieren; auch im Schlafe und nach größeren Muskel- anstrengungen wird der Quotient niedriger. In den in meinem Labora- torium ausgeführten respirometrisch-kalorimetrischen Versuchen an neugeborenen Kindern sind, namentlich im Winter, auffallend niedrige Quotienten in einer großen Zahl von Beobachtungen regelmäßig ge- funden worden. 386 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i.d. Physiologie. Athanasiu (Pflüger’s Arch. 79, 400) hat bei Fröschen im Sommer niedrigere, im Winter höhere respiratorische Quotienten beobachtet; dieser Unterschied ist von der Temperatur und von der Ernährungs- weise unabhängig; denn die Frösche verbrauchen im Sommer mehr Kohlenhydrate, im Winter mehr Fette, was auf den Quotienten einen gerade umgekehrten Einfluss haben müsste, bei der Annahme, dass der Sauerstoff direkt zur Verbrennung der Nahrungsstoffe dient. Athanasiu nimmt also an, dass die Frösche im Sommer mehr Sauer- stoff aufnehmen, als sie dessen bedürftig sind, so dass sich Sauerstoff- reserven in ihren Geweben bilden, von welchen sie im Winter zehren. J. Gaule (Pflgr.’s. Arch. 87, 536) bemängelt die Versuche Atha- nasiu’s, deren Resultat er etwas ungenau wiedergiebt, mit den Worten: Leider hat er bei seinen Versuchen keine Bestimmungen des aus- geschiedenen Wassers gemacht; der O dient ja nicht bloß, um den C, sondern auch um den H zu oxydieren; und vielleicht kann in dem Maße, wie die Oxydation des C sich vermindert, die des H sich steigern. Der Elementestandpunkt von Dulong und Despretz tritt hier in seiner ganzen Ursprünglichkeit hervor. Diese Forscher setzten voraus, dass der überschüssig verbrauchte Sauerstoff zur Verbrennung des Wasserstoffs dient und berechneten hieraus das im Tierkörper ge- bildete Wasser. Jetzt handelt es sich aber um die Richtigkeit jener Voraussetzung; dazu müsste das im Tierkörper durch Verbrennung des Wasserstoffs entstandene Wasser direkt bestimmt werden. Und das verlangt Gaule offenbar, wenn er die Bestimmung des aus- geschiedenen Wassers fordert. Auffallend niedrige respiratorische Quotienten findet man im Winterschlafe der Säugetiere. Pembrey (The Journal of Physiology, vol. 27, p. 66) erwartet von der Bestimmung des respiratorischen Quotienten und des ausgeschiedenen Wassers eine Beleuchtung des Metabolismus der Kohlenhydrate und Fette in diesem Zustande. Indem er auch meine respirometrischen Versuche am winterschlafenden Ziesel anführt, bemerkt er, dass hier leider die Bestimmung des aus- geschiedenen Wassers unterlassen wurde. Pembrey bestimmte also in seinen Versuchen an winterschlafenden Murmeltieren das aus- geschiedene Wasser. Leider konnte er diese Größe zur Beleuchtung des Metabolismus nicht verwenden. Im Zustande des Erwachens zeigte sich die Sauerstoffaufnahme und die Kohlensäureabgabe vermehrt, nicht aber die Wasserausscheidung. Pembrey bemerkt dazu, dass man es vom teleologischen Gesichtspunkte aus so erklären kann, dass das Murmeltier, welches im Verlaufe des Schlafes kein Wasser eingenommen und doch fortwährend ausgeschieden hatte, das beim Erwachen durch gesteigerte Verbrennung gebildete Wasser in seinem Körper zurück- behält. Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtingsweise i.d. Physiologie. 987 Die Forderung, das im Tierkörper durch Verbrennung gebildete Wasser direkt aus dem ausgeschiedenen Wasser zu bestimmen, wird sehr häufig mit der Miene wissenschaftlicher Exaktheit aus- gesprochen; und doch zeigt eine einfache Ueberlegung, dass diese Forderung vollkommen illusorisch ist. Die Gründe sind so handgreif- lich, dass ich es unterlasse, dieselben auseinander zu setzen. Es hat schon Cl. Bernard (Legons sur les phen. de la vie ete., p. 169) her- vorgehoben, dass man niemals die Wasserbildung bei den angeblichen Verbrennungen im Tierkörper hat direkt konstatieren können, ja er leugnete sogar aus guten Gründen jede Wasserbildung im Tierkörper! Die Bestimmung des ausgeschiedenen Wassers zum Zwecke der Beleuchtung des tierischen Metabolismus ist völlig unnütz. Würde an Stelle des Wassers in der Tierkörperökonomie Sodawasser treten, so würde auch die ausgeschiedene Kohlensäure allen Wert für die Be- leuchtung des tierischen Metabolismus verlieren, der schon auch so gering ist, weil sich im Tierkörper unkontrollierbare Kohlensäure- mengen vorfinden, so dass die ausgeschiedene Kohlensäure ein sehr unsicheres Maß der gleichzeitig gebildeten ist. Will man also die Erniedrigung des respiratorischen Quotienten darauf zurückführen, dass in solchen Fällen die Wasserbildung, d. h. die Verbrennung des H vermehrt ist, so macht man eine unbeweisbare Hypothese, welche überhaupt undiskutierbar ist. Der Elemente- standpunkt wird freilich in so unverhüllter Weise nicht mehr ver- treten; man sagt, dass in solchen Fällen wasserstoffreichere Nahrungs- stoffe, z. B. Fette verbrannt werden. Auf diese Weise wollte man auch die in unseren Versuchen beobachteten niedrigen Quotienten bei neugeborenen Kindern erklärt haben. Quotienten bis zu 0.7 betrachtete man einfach für ein Zeichen, dass hauptsächlich Fett und in geringerem Grade Eiweiß oxydiert werden; für die abnorm niedrigen Quotienten von 0.6 und darunter ein Verständnis zu gewinnen, sagte man, dürfte außerordentlich schwer sein; vielleicht werden hier Kohlenhydrate aus Eiweiß und Fett gebildet (Centralblatt f. Physiol. 1897, S. 191; Arch. f. Physiol. Suppl. 1899, S. 357). Auch Pembrey nimmt zur Erklä- rung der ungemein niedrigen respiratorischen Quotienten im Winter- schlafe an, dass hier Kohlenhydrat aus Fett gebildet wird, und stellt diese Stoffumwandlung durch eine glatte chemische Formelgleichung dar, bei welcher ein Verhältnis der gebildeten Kohlensäure zum ver- brauchten Sauerstoff von 0.281 sich ergiebt (l. ec. p. 71). Die Art und Weise der Verwendung des Sauerstoffs und der Nahrungsstoffe im Organismus ist so gut wie unbekannt. Nimmt man nur auf die Anfangs- und Endstoffe Rücksicht, so könnte man die Hypothese aufstellen, dass sich der Sauerstoff mit den Nahrungsstoffen direkt verbindet, wobei Kohlensäure und Wasser entstehen. Diese Hypothese über die Art und Weise der Stoffumwandlung aus dem An- 288 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. fangs- in den Endzustand, die Hypothese der direkten Oxydation, ist sehr einfach, und sie wird deshalb als der Wahrheit entsprechend ziemlich allgemein angenommen; ja man begegnet Behauptungen, welche sie als Thatsache hinstellen. Solche Behauptungen zeugen von vielem chemischen, aber sehr wenig physiologischem Sinne. Nebstdem wird dabei vergessen, dass durch die Anfangs- und Endstoffe der Verlauf und die Art und Weise der Stoffumwandlung gar nicht charakterisiert ist. Man sollte doch nieht mehr behaupten, als man überhaupt wissen kann. Durch die Betrachtung der Anfangs- und Endzustände gewinnt man keine Einsicht in den Verlauf und die Art und Weise der Stoff- umwandlung. Will man diese dennoch kennzeichnen, so wäre es nur durch ein Bild oder ein Gleichnis möglich, welches man nicht als Ausdruck des Thatsächlichen nehmen darf, namentlich dann nicht, wenn dieses Gleichnis durch chemische Formelgleichungen dargestellt wird, welche keinen bekannten chemischen Stoffumwandlungen ent- nommen sind. Die Thatsache des ungewöhnlich niedrigen respiratorischen Quo- tienten in manchen Zuständen des Organismus ist durch die Hypothese der direkten Oxydation der Nahrungsstoffe sehr schwer zu erklären, auch wenn man zu der Hilfshypothese einer direkten Bildung von Kohlenhydrat aus Fett Zuflucht nimmt; denn diese bedeutet eigentlich nicht mehr, als dass im Organismus sauerstoffreichere Verbindungen gebildet werden können, welche im Körper zurückgehalten werden. Das Thatsächliche kann ohne jede Hypothese so ausgedrückt werden, dass in solchen Zuständen, wo der Sauerstoffverbrauch die Kohlen- säureausscheidung bedeutend überwiegt, Sauerstoffaufspeicherung im Tierkörper in irgend einer Form stattfindet, da die Annahme der Ver- wendung des überschüssig verbrauchten Sauerstoffs zur Wasserbildung problematisch und unkontrollierbar ist. Man kann von einer Verbrennung der Nahrungsstoffe im Organis- mus und ebenso von einer Bildung von Kohlenhydrat aus Fett, oder umgekehrt, sprechen, wenn man nur den Anfangs- und den End- zustand der beteiligten Stoffisysteme im Auge hat, von der Art und Weise und dem Verlaufe der Stofiumwandlung aber vollständig ab- sieht, Diese Betrachtungsweise ist auch bei den energetischen Stoff- wechselbilanzen zulässig, weil der energetische Wert einer Stoff- umwandlung auch nur durch den Anfangs- und Endzustand bestimmt ist, unabhängig von der Art und Weise ihres Verlaufes. Wollte man aber durch jene Ausdrucksweise gerade diesen Verlauf und die che- mische Art der Stoffumwandlung kennzeichnen, wie es durch die üb- lichen Verbrennungsformelgleichungen geschieht, so würde man leicht zu Missverständnissen Anlass geben. (Fortsetzung folgt.) Verlag. von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Oentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der on in ee Vierundzwanzig Nummern. bilden einen Band, Preis des. Bandes 20 Mark. Zu beziehen dureh alle Buchhandlungen und Postanstalten. XZI. Band. 15. Mai 1900. Nr. 19: Inhalt: an Die Züchtung der landwirtschaftlichen Kulkurpfanzene - Nus- baum, Zur Kenntnis der Regenerationserscheinungen bei den Enchytraeiden. — Walkhofi, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen in seiner funktionellen Entwicklung und Gestalt. — Mares, Das Energieprinzip "und die energetische Betrachtungsweise in der Physiologie (Fortsetzung). — Küken- thal, Leitfaden für das zoologische Praktikum, — Berichtigung, C. Fruwirth. Die Züchtung der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen, Berlin, Paul Parey, 1901. Das vorliegende Werk enthält eine zusammenfassende Behandlung der Technik der landwirtschaftlichen Pllanzenzüchtung und deren theoretischer Grundlage. Der durch eigene Arbeiten auf diesem Gebiete bekannte Ver- fasser wendet sich in erster Linie an diejenigen, welche sich mit Züch- tung selbst befassen, aber auch an jene, welche nur einen Einblick in das Wesen der landwirtschaftlichen Pflanzenzüchtung erhalten wollen. Das Buch kann daher auch dem Botaniker zum Lesen sehr empfohlen werden. Der Ausspruch: il faut juger les &erits d’apres leur date braucht im allgemeinen beim Referieren über kürzlich erschienene wissenschaftliche Werke nicht angewendet zu werden. Hier aber liegt zufälligerweise ein Ausnahmsfall vor. Denn als im Januar 1901 Fruwirth’s Buch er- schien, war eben im November des vorigen Jahres die erste Lieferung der Mutationstheorie von de Vries veröffentlicht worden, welcher jetzt schon zwei weitere Lieferungen gefolgt sind. Es war dem Verfasser also nicht mehr möglich, die in der Mutationstheorie niedergelegten neuen Thatsachen und Ansichten zu verwerten, und ich glaube, dass dies nie- mand mehr als der Verfasser selbst bedauern wird. Denn es zeigt sich in seinem Werke eine große Objektivität, und die Mutationstheorie ent- hält Neues über fast jeden Teil der hier gegebenen Darstellung. Auch selbst, wenn Fruwirth manchen Ansichten von de Vries nicht bei- pflichten sollte, darf man also annehmen, dass der Einfluss der Mutations- theorie auf seine Darstellung bedeutend gewesen sein würde, wenn er zu- fälligerweise sein Buch zum Beispiel um ein Jahr später veröffentlicht hätte, XXIl. 19 290 Fruwirth, Die Züchtung der landwirtschaftl. Kulturpflanzen. Dem muss man also beim Lesen und bei der Beurteilung des vorliegen- den Werkes Rechnung tragen, und wenn man das thut, so wird man sich nur darüber freuen können, dass Fruwirth und de Vries durch Litteraturstudien und eigene Beobachtungen in mancher Hinsicht zu der Hauptsache nach übereinstimmenden Ansichten gekommen sind. Bei de Vries wird eine neue Theorie vorgetragen, und ist alles darauf gerichtet derselben Eingang zu verschaffen. Bei Fruwirth hingegen wird eine objektive Darstellung der 'Thatsachen und Ansichten angestrebt und er- reicht. Es berührt wohlthuend, zu sehen, wie der Verfasser sich von jeder Einseitigkeit fernhält, und auch den Wert verschiedener, jetzt weniger geläufiger oder beliebter Ansichten deutlich hervorhebt. Selbstverständ- lich zeigt es sich auch, dass manche Frage, deren Beantwortung für die botanische Wissenschaft von außerordentlichem Wert sein würde, für die praktische Züchtung nur geringe Bedeutung hat. Es kann selbstverständlich nicht die Aufgabe eines Referates an dieser Stelle sein, eine ausführliche Uebersicht über den Inhalt des als Lehr- buch eingerichteten Werkes zu geben. Nur einige Hauptzüge mögen hier hervorgehoben werden. Das ganze Buch zerfällt in zwei Abschnitte: die theoretischen Grund- lagen der Züchtung und die Durchführung der Züchtung. In dem sehr ausführlichen, theoretischen Teile werden alle Fragen besprochen, welche für die auf wissenschaftlicher Grundlage getriebene Züchtung von Bedeu- tung sein können. Es wird dabei allererst der scharfe Gegensatz zwischen Veredlung durch Abänderung vorhandener Eigenschaften und Neuzüchtung durch das Aufsuchen und Fixieren neuer, erblicher, Merkmale hervor- gehoben. Den Formenreichtum bei Kulturpflanzen besprechend, stellt Verf. in absteigender Reihe die nachfolgenden Stufen fest: Kulturart, Kulturvarietät, Sorte (Rasse), Zucht, Familie, Individuum. In der Landwirtschaft sind die Sorten jene Gruppen, welche in der Praxis die größte Bedeutung haben. Es werden ferner noch mit Nägeli die nicht erblichen Standorts- modifikationen unterschieden und der Unterschied zwischen Original- Saatgut und Nachbarn wird hervorgehoben. Selbstverständlich wird das Wesen der Fortpflanzung ausführlich erörtert, wobei die ungeschlechtliche Fortpflanzung als Vermehrung und als eigentliche Fortpflanzung nur die geschlechtliche bezeichnet wird. Es werden die verschiedenen Ansichten über die nachteilige Wirkung fortgesetzter Vermehrung behandelt, und ge- zeigt, dass jedenfalls der Züchter darüber nicht zu sehr besorgt zu sein braucht, ebensowenig als über Inzucht und selbst gelegentlicher Inzestzucht. Bei der Darstellung unserer Kenntnisse über Fortpflanzung werden besprochen: Bastardierung; die Beziehungen zwischen Selbstbefruchtung, Kreuzung und Bastardierung:; Inzucht und Xenien, und auch den Pfropfmischlingen wird eine kritische Besprechung gewidmet, aus welcher hervorgeht, dass diese für die praktische Pflanzenzüchtung jedenfalls nichts Bedeutendes versprechen. In einem sehr ausführlichen Abschnitte über die Vererbung, sichtbare sowohl wie unsichtbare, werden die verschiedenen Vererbungstheorien be- leuchtet, und hier wird der hervorragenden Rolle des Zellkernes bei der Befruchtung gedacht, aber auch Raum gelassen für die Vorstellung, dass das Cytoplasma der Geschlechtszellen dabei nicht ganz zu vernachlässigen Fruwirth, Die Züchtung der landwirtschaftl. Kulturpflanzen. 291 sei. Es folgt die Besprechung der Erscheinungen der Vererbung bei Selbstbefruchtung, bei Kreuzung innerhalb einer Sorte und bei Bastardierung. In dem letzteren Abschnitte findet man eine ausführliche Darstellung auch der neueren Untersuchungen und Ansichten über die Bastardierung. Dem Abschnitte über Vererbung folgt ein solcher über die Varia- bilität, wobei Verf. unterscheidet: die fluktuierende oder individuelle, kleine Variabilität; die größere, individuelle Variabilität, welche Sprungvariationen, erbliche Missbildungen, aber auch die Variationen durch Bastardierung enthält; die adaptive oder allgemeine Variabilität, welche vielleicht die Landsortenbildung verursacht, und viertens die Modifizierbarkeit, welche Standortsmodifikationen hervorruft. Die Besprechung der inneren und äußeren Ursachen der Variabilität führt auch zur Frage nach der Erb- lichkeit erworbener Eigenschaften. Verf. ist der Meinung, dass zwar den Ernährungsmodifikationen etwas Beständiges und Erbliches beigemengt sein kann, aber dass jedenfalls keine allgemeine und schnelle Vererbung erworbener Eigenschaften vorkommt, so dass diese Frage ebenfalls für den praktischen Pflanzenzüchter nicht von hervorragender Bedeutung ist. Den Einfluss der geschlechtlichen Mischung auf die Variabilität ist Verf. geneigt, für Kulturpflanzen ziemlich hoch anzuschlagen, und die von verschiedenen bekannten Forschern gebildeten Theorien über die Ursachen der Variabilität werden in diesem Zusammenhange beleuchtet; ebenso wie die Ursachen des stärkeren Variierens der Kulturpflanzen. Selbstverständlich weist Verf. auch hin auf die große Bedeutung der korrelativen Variabilität, wobei man die parallelen Korrelationen zwischen vereinbaren Eigenschaften und die divergierenden zwischen unvereinbaren Eigenschaften zu unter- scheiden hat. Für das wissenschaftliche Studium sind in erster Linie die unerwarteten Korrelationen von Bedeutung, weil sie die Aufmerksamkeit auf Zusammenhänge lenken, welche man sonst nicht vermutet haben würde. Für den Pflanzenzüchter kann die Erkenntnis jeder korrelativen Varia- bilität von Nutzen sein, weil sie ihm oft bequemere Merkmale (Selektions- indices) liefert bei der Beurteilung seiner Zucht, oder gestattet, verschiedene gewünschte Vorteile in seinen Pflanzen zu vereinigen, während die Kenntnis der korrelativen Variabilität, so wie sie sich bei verschiedenen ver- wandten Sorten zeigt, ihm oft anzeigen kann, was er als erreichbar be- trachten darf und was nicht. Besondere Abschnitte sind der Bedeutung der Missbildungen und Knospenvariationen für die Variabilität gewidmet. Der theoretische Teil des Buches schließt mit einer Besprechung der Auslese, wobei die Ansichten Romanes’ hervorgehoben werden. Es werden hier auch die Quetelet-Galton’schen Kurven ziemlich eingehend behan- delt, aber es scheint mir doch, dass hier eine schwache Seite des Buches zu Tage tritt. Die statistische Methode ist das Rückenmark aller zu- künftigen Forschungen über Erblichkeit und Variabilität, und wird auch für die wissenschaftliche Pflanzenzüchtung von unberechenbarem Nutzen sein, wenn auch zugegeben werden muss, dass sie bis jetzt nur verhältnismäßig wenig auf diesem Gebiete angewendet worden ist. Aber ich glaube nicht, dass dem Leser des vorliegenden Buches die hohe Bedeutung dieser Me- thode genügend klar gelegt wird. Während in dem theoretischen Teile des Buches die schwierigsten und zum größten Teil noch ungelösten Probleme der Wissenschaft behan- delt werden, gestaltet sich der technische Teil über die Durchführung der 19* 999 Nusbaum, Regenerationserscheinungen bei den Enchytraeiden. Züchtung selbstverständlich viel einfacher und klarer, denn die Praxis hat sich auch ohne verwickelte Theorien zu helfen gewusst. Züchtung durch Auswahl und durch Bastardierung werden hier so- gleich voneinander geschieden. Es stellt der Verf. an den Begriff der be- wussten Auswahl sehr hohe Anforderungen, und er weist darauf hin, dass es sich in der Landwirtschaft im allgemeinen mehr um die Auslese physio- logischer Verschiedenheiten, im Gartenbau mehr um Formalismus handelt. Die Veredlung durch Auswahl findet meistens unter Benutzung der korrelativen Variabilität und unter Beachtung der verschiedenen Erbkraft verschiedener Individuen statt. Man wendet bei der Veredlung haupt- sächlich drei verschiedene Verfahren an: 1. die Massenauslese, wobei man von Anfang an, und weiter jährlich, von vielen Individuen ausgeht. Werden die Nachkommen der einzelnen Individuen isoliert, so wird das Familienzüchtung genannt; 2. die Individualzüchtung oder einfache Stamm- baumzüchtung, wobei man zuerst von einer einzigen Pflanze ausgeht, aber die folgenden Generationen der Elite aus mehreren oder vielen Individuen bestehen; 3. die strenge Stammbaum- oder Pedigreezüchtung, wobei jähr- lich nur eine einzige Pflanze zur Fortsetzung des Stammbaumes benutzt wird. Bei der Neuzüchtung durch Auswahl benutzt man entweder schon vorhandene oder eben entstandene spontane Variationen, und oft ist eine einmalige Auslese dabei genügend, um den angestrebten Zweck zu erreichen. Gewöhnlich benutzt man in solchen Fällen die Individualzüchtung. Die Technik der Züchtung durch Bastardierung umfasst die Wahl, Vorbereitung und Kastration der Eltern, die Sammlung des Pollens, die Bestäubung und den Schutz gegen Fremdbestäubung. Es ist nicht möglich, das alles hier ausführlich zu besprechen, aber zumal das Studium des technischen Teiles kann jüngeren Botanikern bestens empfohlen werden, wie das ganze Buch auch allen denen, für welche der Verf. es eigentlich schrieb. Es sei schließlich nur erwähnt, dass die letzten Abschnitte von der Einrichtung des Zuchtgartens und einigen daselbst benutzten Apparaten handeln, sowie von den verschiedenen Formen des Zuchtbetriebes und von der Geschichte der landwirtschaftlichen Pflanzenzüchtung. Das Buch wird ohne Zweifel seinen Weg finden, und so dürfen wir vielleicht bald eine zweite Auflage erwarten, in welcher es dem Verf. er- möglicht wird, auch den neuesten Ansichten Rechnung zu tragen. [29] Groningen, am 28. Januar 1902. Moll. Zur Kenntnis der Regenerationserscheinungen bei den Enchytraeiden !). Von Prof. Dr. Jozef Nusbaum in Lemberg. (Vorläufige Mitteilung.) Da die Ansichten über die Regenerationserscheinungen bei Anne- liden in sehr vielen Hinsichten auseinandergehen, habe ich eine Reihe 4) Ausführliche Arbeit mit Abbildungen wird nächstens in den „Archives polonaises des sciences biologiques et medicales“ Bd. I H. 2 in Lemberg er- scheinen. Nusbaum, Regenerationserscheinungen bei den Enchytraeiden. 293 Untersuchungen über die Regeneration dieser Gruppe angestellt. An dieser Stelle werde ich zuerst die Resultate meiner Beobachtungen über die kaudale Regeneration der Enchytraeiden und zwar von Fridericia Ratzelüi (Eisen) und Enchytraeus Buchholzii (Vejd.) mitteilen. Alle Litteraturangaben werde ich in meiner demnächst folgenden, aus- führlichen Arbeit näher besprechen. Bei einer sehr großen Anzahl gesunder, kräftiger Exemplare von oben erwähnten Arten habe ich die hintere Hälfte des Körpers wo- möglich durch einen ganz glatten und queren Schnitt abgetrennt. Die Regeneration des kaudalen Körperabschnittes hat bei allen operierten Exemplaren stattgefunden, während ich die Regeneration des vorderen Körperabschnittes bei jenen Stücken, welche die hinteren Hälften der entzwei geschnittenen Würmer darstellten, nur in sehr seltenen Fällen beobachtet habe. Hier werde ich nur die kaudale Regeneration be- sprechen. Von den 12 bis 15 abgeschnittenen, hinteren Segmenten regenerierten sich bei Enchytraeus 10 bis 12; bei Fridericia war die Zahl der neugebildeten Körpersegmente immer eine verhältnismäßig etwas geringere als bei Enchytraeus. Nach 4 bis 5 Wochen war der gesamte Regenerationsprozess vollendet. Die provisorische Vernarbung des durchschnittenen Körpers und einige Involutionsprozesse. Bei der provi- sorischen Vernarbung der Wunde spielen die großen ovalen Lympbzellen, die bekanntlich in großer Anzahl in der Leibeshöhlenflüssigkeit der Enchytraeiden sich vorfinden, eine wichtige Rolle. Sie sammeln sich nämlich in sehr großer Anzahl in der Region der Wunde an und be- dingen eine provisorische Ausbuchtung der Wundfläche, wo sie einem interessanten Involutionsprozesse unterliegen. Die Zellen verlieren näm- lich ihre sonst gut entwickelte Membran, ihr Inhalt unterliegt einer Quellung und fließt allmählich nach außen heraus, so dass der Kern ganz frei bleibt. Der Inhalt besteht aus hellem Plasma, welches sehr zahlreiche, größere und feinere Körnchen enthält, es bildet sich also aus den zugrundgehenden Zellen eine sehr körnchenreiche plasmatische Masse mit den darin zerstreuten Kernen — eine Art Granulations- gewebe, welches eine provisorische Kappe für die Wunde bildet, wo- mit ich zum Teil mit O. Rabes im Einklang bin. Zu diesen Lymphzellen gesellen sich auch andere und zwar vor allem meso- dermale Elemente des somatischen und splanchnischen Peritonaeun- blattes, besonders aber dieses letzteren. Endlich schließen sich den Elementen der Ausbuchtung und überhaupt den in der Umgebung der Wunde degenerierenden Elementen Teile von zufällig durchschnittenen Nephridien, welche in einzelne Stücke zerfallen, die aus feinkörnigem Plasma mit Kernen und feinen intracellulären Kanälchen bestehen und sehr reich vacuolisiert sind. Außerdem findet man in der Nähe der Wunde amoeboide Zellen, welche wahrscheinlich vom Peritonaeum, 294 Nusbaum, Regenerationserscheinungen bei den Enchytraeiden. möglicherweise aber auch von den Lymphzellen der Leibeshöhle her- stammen. Viele der durehscehnittenen Mnskelfasern, sowohl in der zirkulären wie auch in der longitudinalen Hautmuskelschicht und auch die durehschnittenen Septenmuskelfasern und Muskeln der Borstensäcke in der nächsten Wundumgebung unterliegen einer Degeneration, welche unter Mitwirkung von Iymphatischen, wandernden, amoeboiden Elementen zu stande kommt und zwar auf dem Wege einer intracellu- laren Ernährung. Die Degeneration von Muskelfasern kann beim Färben mit Haemotoxylineosin sehr schön beobachtet werden, da dabei die Zerfall- produkte der Muskelfasern durch ihre charakteristische kupferrote Farbe im Plasma der sie aufnehmenden Amoebocyten klar hervor- treten. Die Muskelsubstanz zerfällt in größere und kleinere Schollen und Körnchen, die im Innern der Amoebocyten liegen und dort all- mählich verdaut werden. Ueber die weitere Rolle der zur Degene- ration der durchschnittenen Muskelfaserreste beitragenden Amoebocyten kann ich leider nichts Bestimmtes sagen. Es scheint mir aber sehr wahrscheinlich, dass auch diese endlich einer Körnchendegeneration unterliegen, ebenso wie die obengenannten Lymphzellen. Bildung des bleibenden Ektoderms und des Hinter- darmes nebst Afteröffnung. Am dritten Regenerationstage findet man eine vollständige epitheliale Decke an der Wundfläche, welche aus dem alten Epithel stammt und welche durch eine Vermehrung der Epithelzellen in der Umgebung des Wundrandes zu stande kommt. Unter der neugebildeten Epitheldecke, die aus einer Schicht kubischer, oft mit pseudopodienartigen Ausläufern versehener Zellen besteht, findet man noch während einer längeren Zeit eine weite Höhle, in welcher die körnigen Residua der oben erwähnten Elemente, die den provisorischen Wundverschluss veranlassten, liegen bleiben und nach welcher während einer gewissen Zeit noch neue Lymphzellen und Amoebocyten aus den mehr vorderen Teilen der Leibeshöhle einwandern. Was die Neubildung des Hinterdarmes anbelangt, so geht diese einzig und allein auf Kosten des Ektoderms vor sich. Der durch- schnittene alte Darm zieht sich bedeutend nach vorn zurück, wobei diese Verkürzung des Darmes oft eine Bildung reichlicher Falten im Epithel desselben bedingt. Die durchschnittenen Darmränder ziehen sich stark zusammen, was die Schließung des Darmes zur Folge hat. Diese Schließung ist jedoch noch längere Zeit eine unvollständige, und es kommt auch hier, wie bei der Schließung der Körperwand, gewöhn- lich zuerst eine provisorische Abgrenzung des Darmlumens zu stande und zwar mit Hilfe der peritonealen Zellen des splanchnischen Blattes, die eine zusammenhängende Masse, eine Art Pfropf bilden, welcher die noch hinten offene Darmhöhle während einer gewissen Zeit provi- Nusbaum, Regenerationserscheinungen bei den Enchytraeiden. 295 sorisch schließt. Der erwähnte Pfropf geht am Ende des dritten oder am Anfange des vierten Tages nach der Operation gänzlich zu Grunde, in dem Maße, als gleichzeitig seitens des Ektoderms eine anfangs solide Zellenanhäufung sich bildet, mit welcher das blinde Ende der in- zwischen gewöhnlich schon gänzlich geschlossenen Darmepithelwand zusammenwächst. In der nächsten Umgebung der Durchschnittsfläche der Darmwand {rennen sich außerdem einzelne viscerale Peritonaeal- zellen von den benachbarten ganz ab, werden frei und wandern gegen die Regenerationsknospe, wo sie samt den Lymphzellen untergehen, wabr- scheinlich aber auch in die oben erwähnten Amoebocyten teilweise sich verwandeln. In der nächsten Umgebung der Durchsehnittsfläche des Darmes unterliegt auch die Darmmuskulatur einer Degeneration, wie auch das Endothel des den Darm umgebenden Blutsinus, und zwar zerfallen alle diese Elemente in feine Körnchen, die allmählich re- sorbiert werden. Wie erwähnt, verbindet sich später die sich schließende, epi- theliale Wand des alten Darmes mit einer soliden, ektodermalen Zellen- anhäufung. In dieser letzteren entsteht etwas später eine Höhle und so bildet sich eine Kommunikation des Darmes mit der Außenwelt. Nachdem aber diese Kommunikation zu stande gekommen ist, teilen sich an der Uebergangsstelle des neugebildeten ektodermalen Hinter- darmes oder des Proktodaeums in die umgebende Epidermis die Zellen viel energischer, als an anderen Stellen der neugebildeten ektodermalen Decke und es kommt infolgedessen zu einer sekundären Ektoderm- einstülpung, wodurch der Hinterdarm sich bedeutend verlängert und die Afteröffnung viel größer wird. Der sekundär sich einstülpende Teil des Hinterdarms hat einen viel größeren Durchmesser als der ur- sprünglich angelegte, durch die Aushöhlung des anfangs soliden Ekto- dermzellenstranges gebildete Abschnitt desselben. Der After liegt anfangs nicht ganz in der Mitte der hinteren Wand der Regenerationsknospe, sondern mehr auf der Rückenseite; erst später ändert sich seine Lage. Die Zeit, in welcher er seine definitive Lage bekommt, lässt sich nicht genau bestimmen, in manchen Fällen liegt er schon am achten Tage terminal, in anderen behält er seine dorsale oder dorso-terminale Lage viel länger, z. B. noch am 24. Re- generationstage. Unsere Beobachtungen über die Neubildung des Darmes stehen denjenigen Hepke’s über Naiden am nächsten. Denn hier wie dort bildet sich zuerst eine solide Ektodermknospe, welche den durch- schnittenen Darm mit der Leibeswand vereinigt und erst etwas später, also sekundär, erfolgt eine Einstülpung. Aber nach Hepke entsteht der erwähnte solide, primäre Verbindungsstrang nicht nur aus Ekto- derm, sondern teilweise auch durch Vermehrung des alten Darm- epithels; in unserem Falle dagegen nimmt der alte Darm gar keinen 296 Nusbaum, Regenerationserscheinungen bei den Enchytraeiden. Anteil an der Bildung des primären Verbindungsstranges; der letztere ist eine rein ektodermale Bildung. Die Regeneration des Nervensystems und der Körper- muskulatur. Das neue Bauchmark regeneriert sich durch eine lokale Proliferation des neugebildeten Ektoderns. Diese letztere findet anfangs nur in einem kleinen, begrenzten Bezirke statt, in dem Maße aber, als die Regenerationsknospe sich verlängert, vergrößert sich auch der Proliferationsbezirk und erscheint als ein Streifen, der an der Bauchseite der Regenerationsknospe median verläuft, wobei jedoch die weitere Neubildung des Bauchmarks am hinteren Ende dieses Streifens, da, wo die erste Anlage desselben sich vorfand, vor sich geht. Das alte durchschnittene Bauchmark rundet sich an seinem hinteren Ende ab und wird hier teilweise von den hie und da ihm anliegenden, wandernden Mesodermelementen provisorisch bedeckt; gegen den siebenten oder achten Regenerationstag wächst das alte Bauchmark mit dem, eine solide Zellenknospe bildenden neuen Bauchmark gänz- lich zusammen, in welchem längere Zeit nur Zellen, d. i. Ganglien- zellen und vielleicht auch Neurogliazellen sich vorfinden, während in dem alten Bauchmarke eine periphere Zellenschicht und eine centrale Nervenfaserschicht sich findet, wodurch die Grenze zwischen dem alten und neugebildeten Teile längere Zeit sichtbar ist, obwohl dieselben schon gänzlich zusammenhängen. Mit Hilfe der Golgi’schen Chrom- silbermethode habe ich mich dann überzeugt, dass, obwohl alle Ganglienzellen des neuen Bauchmarkes vom Ektoderm stammen und nicht durch die Vermehrung derjenigen des alten Bauchmarkes ent- stehen, dennoch viele, alte durchschnittene Nervenfasern und besonders die riesigen Nervenfasern, die auf sehr großen Strecken durch das Bauchmark verlaufen, in das sich neubildende Bauchmark eindringen. Die Bildung des neuen Bauchmarkes erfolgt durch eine Immigration einzelner Ektodermzellen oder kleiner Gruppen solcher Zellen in die Tiefe, in der Richtung gegen das alte Bauchmark. Was die Muskelfaserregeneration anbetrifft, so sind meine Beobachtungen mit denjenigen von Hepke, Michel und Schulz größtenteils im Einklange. Das ganze neue Muskelsystem verdankt seine Entstehung dem neugebildeten Ektoderm. Ein Teil der Muskel- fasern und zwar derjenige, von welchem die ventro-laterale Längs- muskulatur der Leibeswand und die der Septa entsteht, entwickelt sich im innigen Zusammenhange mit der Bauchmarkanlage, so dass man hier etwa von einer gemeinsamen Neuromuskelanlage sprechen möchte in einem solchen Sinne, wie es Kleinenberg für Lopodorhynchus angenommen hat. Ein anderer Teil, und zwar die dorsale Längs- muskulatur verdankt ihre Entstehung einzelnen Zellengruppen, welche vom Ektoderm sich ablösen und gegen die Leibeshöhle migrieren. Das zivkuläre Muskelfasersystem der Leibeswand, welches bekanntlich dem Nusbaum, Regenerationserscheinungen bei den Enchytraeiden. 297 Ektoderm sehr dicht anliegt, entsteht im Ektoderm selbst, so dass eine jede Epidermiszelle, die hoch eylindrisch wird, in ihrem ba- salen, gegen die Leibeshöhle gerichteten Abschnitte Muskelfibrillen produziert und somit den Epithelmuskelzellen der Coelenteraten ähnlich wird, was ich für eine höchst interessante Erscheinung halte. Ueber die histologischen Einzelheiten siehe die nächstens erscheinende ausführliche Arbeit. Was die Bildung der zirkulären Muskelfasern anbelangt, über welche schon Michel sich geäußert hat, dass „ils sont en connexion avec les cellules epidermiques“, so werde ich hier nur folgendes mit- teilen. Da die cylindrischen Epidermiszellen nebeneinander stehen und jede aus ihrem basalen Abschnitte ein fibrillenführendes Element produziert, so entstehen durch Zusammenfließen soleher Elemente in einer zur Längsachse queren Richtung lange, zirkulär verlaufende Muskelfasern, deren jede eine große Anzahl von Fibrillen enthält. Auf solche Weise entsteht der größte Teil der Ringmuskelfasern. In etwas späteren Stadien, etwa am 20. bis 24. Regenerationstage, manch- mal jedoch früher, werden viele dieser Muskelfasern von speziellen Ektodermzellen erzeugt, die gruppenweise in die Tiefe eindringen und der Lage nach den Seitenlinienzellen (Hesse, Dr. Bock) entsprechen. Die ersten Zellen, welche zur Bildung der muskulösen Scheide- wände dienen, entwickeln sich ebenfalls in einem gewissen Zusammen- hange mit der Bauchmarkanlage, und zwar entstehen sie im Ektoderm, an der Uebergangsstelle des hinteren Teiles der Bauchmarkanlage in die hintere, mehrschichtige Ektodermwand der Regenerationsknospe, wobei jede neue Septenanlage zwischen die unmittelbar vorher ge- bildete und die Hinterwand der Knospe sich einschiebt; die ventralen Anlagen der Septen werden dorsal von Zellengruppen ergänzt, welche in metamerer Anordnung vom Ektoderm an der Dorsalseite der Re- generationsknospe sich abtrennen und gegen die Leibeshöhle wandern. Die Regeneration der Borstenfollikel und ihrer Mus- keln. Sowohl die Borstenfollikel wie auch die Muskeln derselben sind Ektodermprodukte. Ander Stelle, wo der künftige Borstenfollikel auf- treten soll, vertiefen sich einige Ektodermzellen, vermehren sich und bilden unter der Ektodermschicht einen soliden Zellenhaufen, in welchem die Grenzen einzelner Zellen nicht sichtbar sind; im Innern, und zwar in der Mitte dieser Bildungen erscheint nun eine zuerst sehr kleine konische Borstenanlage, welche dann fortwährend wächst, bis sie nach außen hervortritt. Die Muskeln der Borstenfollikeln verdanken ihre Entstehung einzelnen Ektodermzellen, welche dem Borstenfollikel direkt anliegen und unter die Epidermisschicht sich vertiefen. Die Regeneration des Peritonaeums und der Darm- muskulatur. Die Peritonaealzellenschicht, sowohl die viscerale wie auch die parietale, regeneriert sich größtenteils aus dem alten Peritonaeum, 298 Walkhoff, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. zum Teil aber auch aus Ektodermzellen, welche samt denjenigen, welche zur Bildung der Muskulatur dienen, in die Leibeshöhle ein- wandern. Die longitudinale (äußere) Muskulatur des Darmes entsteht sehr wahrscheinlich aus derselben Quelle wie die longitudinale Mus- kulatur der Leibeswand, und zwar aus Zellen, die vom Ektoderm sich ablösen und in die Leibeshöhle migrieren. Die zirkuläre (innere) Mus- kulatur des neugebildeten Darmes entsteht dagegen auf eine ganz andere Weise, und zwar bilden sich die zirkulären Muskelfasern des Darmes aus den Epithelzellen des Darmes auf eine ähnliche Weise, wie die zirkuläre Muskulatur der Leibeswand aus den Epidermiszellen, was ganz verständlich ist, weil der neugebildete Hinterdarm eine ekto- dermale Bildung darstellt. Diese Muskelfaserschicht bildet sich also aus den basalen Abschnitten der hohen eylindrischen Epithelzellen des Darmes. Wir sehen also, dass alle diejenigen Gebilde, welche wir als meso- dermal betrachten, und zwar die gesamte Muskulatur und das Peri- tonaeum der Regenerationsknospe gänzlich (Muskulatur) oder wenigstens teilweise (Peritonaeum) vom neugebildeten Ektoderm der Regenerations- knospe stammen, und dass also eine besondere Mesodermanlage nicht gebildet wird, worin ich mit v. Wagner (1900) im Einklange bin. DieNephridien entstehen aus dem Peritonaeum der neugebildeten Scheidewände, wobei die Anteseptalia (Triehter) und die Postseptalia aus getrennten Anlagen und zwar aus je einer großen Mutterzelle sich entwickeln. Die Regenerationsprozesse verlaufen also in dem von mir be- schriebenen Falle zum Teil in einer ähnlichen Weise, wie die be- treffenden ontogenetischen Prozesse (z. B. Bildung des Proctodaeums), zum Teil aber in einer vereinfachten, abgekürzten Weise, indem sie dann an phylogenetisch ältere und einfachere histogenetische Prozesse erinnern (z. B. die ektodermale Bildung der Muskulatur, besonders der zirkulären). [25] Dr. Otto Walkhoff: Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen in seiner funktionellen Entwicklung und Gestalt. Menschenaffen (Anthropomorphae). Studien über Entwicklung und Schädelbau; herausgeg. von E. Selenka. Vierte Lieferung. Der Gedanke, dass die Gestalt, die Morphe eines Organes, der ge- treue Ausdruck, ja ganz eigentlich das Produkt der ihm eigenen Funktion, also eine notwendige Folge aus dem Maß der Intensität der letzteren und der Richtung, in der sie erfolgt, sei, ist nicht etwa eine Erkenntnis der Neuzeit; nein, zu allen Zeiten wurden denkende Geister, Naturforscher wie Philosophen, sich des wahren Verhältnisses zwischen Funktion und Walkhoff, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. 299 Morphe bewusst und suchten ihrer Erkenntnis, wo sie immer Gelegenheit hatten, klaren Ausdruck zu verleihen. Aber es blieb im allgemeinen immer nur bei rein spekulativen Erwägungen, exakte Begründung wurde nur so nebenbei hie und da versucht. Und bier eben setzt das große Verdienst ein, das sich Roux, der Begründer der modernen Entwicklungsmechanik, um die wissenschaftliche Ergründung dieses Problems für alle Zeiten er- worben hat. — Das Wesentliche eines Organes (eines Knochens oder eines Muskels z. B.), das, was die Garantie für die vorgezeichnete Funktion bietet, ist die histiologische Struktur desselben; die äußere Gestalt hängt aufs Innigste von der Beschaffenheit der konstruktiven Teile, der Struktur, ab; sie ist eben nur die Folge, gewissermaßen der Abschluss derselben. Die Struktur hinwiederum ist nicht gegeben; sie wird erst durch die Funktion geschaffen. Die vorgezeichnete, oder — wie der Naturforscher sagt — die vererbte Funktion zwingt die Elementarteilchen, und zwar des aktiv thätigen Organes wie auch aller, von diesem etwa passiv beein- flussten Organe, in ganz bestimmte, gesetzmäßige Bahnen ihrer strukturellen Entfaltung und Entwicklung, sie zeichnet die Richtung der Lagerung und die Anordnung vor, sie bestimmt das Verhältnis der Dimensionen der Teilchen. Wir müssen uns vorstellen, dass allen "Teilen und Organen eines Embryos auf solche Weise ihre spezielle, eigene Struktur und Ge- stalt wird. Ist auf diese Weise ein Organ entstanden, so ist es noch nicht für immer fertig; der Einfluss der Funktion ist nicht erloschen, nein, für unsere Erfahrung beginnt er vielmehr erst jetzt. Jedes Organ stellt, bei der Geburt, gewissermaßen erst einen Grundriss dar, der nun- mehr, im Laufe des Lebens, entweder zum völligen Gebäude ausgearbeitet wird, oder, vernachlässigt, der Rückbildung anheimfällt. Es wird also von jedem Organ nur ein allgemeiner Grundplan vererbt, während die speziellen Formen und die Gestalt erst indi- viduell im Leben erworben werden müssen. Das züchtende, schaffende Prinzip ist die Beanspruchung, der Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, die Art und das Intensitätsmaß der Funktion, vornehmlich, wenn letztere an eine oft wieder- holte Konstanz der Richtung ihrer Wirkung geknüpft ist. Die Funktion übt dann einen „trophischen“ Reiz aus, der veranlasst, dass besonders stark in Anspruch genommene Teile, unter dem Einfluss erhöhter Nahrungsaufnahme, wachsen und sich mächtiger entfalten, d. h. hypertrophieren. Im Gegensatz hierzu bleiben minder thätige Teile in der Entwicklung zurück, erfahren teilweise Rückbildung, ja sie können unter Umständen, als völlig überflüssig, vollstäindigem Schwunde verfallen. Es leuchtet von selbst ein, dass der Prozess der Hypertrophie und der Atrophie sich nach den gleichen Regeln abspielen muss, wie sie oben an- gedeutet sind. Die Entfaltung findet nur in denjenigen Dimen- sionen statt, die Lagerung der Teilchen erfolgt nur in der- jenigen Richtung, welche eben, in Hinsicht auf die Intensität der Funktion, das Maximum an Leistung bei möglichster Er- sparung an Material und Raum garantieren. Genügen solche Teilchen, vermöge ihrer Richtung und Lagerung, allein voll und ganz der erstrebten Funktion, so bleiben sie allein erhalten, alle anderen verfallen dem Abbau, der Inaktivitätsatrophie; sie verschwinden mit der Zeit ganz. Alle diese Vorgänge spielen sich zunächst natürlich nur an der Struktur 300 Walkhoff, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. eines Organes ab; erst sekundär wird die äußere Gestalt davon betroffen. So entstehen, durch Selektion, neue Formen, neue Charaktere, und selbst neue Organe mögen auf diese Weise geschaffen werden, während bereits vorhandene, als allmählich unnütz und überflüssig geworden, mitunter gar als schädlich, oft allerdings nur teilweise, verschwinden können. Es ist somit ein jegliches Organ aufs Genaueste seiner vorgezeich- neten Funktion angepasst, es ist ein getreues Spiegelbild seiner funktionellen Leistung. Daher kommt es, dass uns, die wir den Zweckmäßigkeitsbegriff erst in die Natur hinaus- tragen, im großen und ganzen ein jedes Organ, in Rücksicht auf seine Funktion, überaus zweckmäßig erscheinen muss; dass wir nichts finden, was überflüssig wäre und nicht das Geringste vermissen, was irgend einen Vorteil zu garantieren geeignet erscheint. Gehen wir einen Schritt weiter und fragen wir uns, wovon hängt die Funktion ab, so müssen wir, allgemein gesagt, auf die äußeren Lebensbedingungen, auf das Milieu, in dem eine Gattung, eine Art oder ein Individuum lebt, rekurrieren. Sie sind das für die Funktion, was diese für die Morphe; ihnen ist die Funktion ebenso angepasst, wie die Gestalt der Funktion, und nicht etwa umgekehrt. Ist dies zugegeben — und es kann füg- lich nicht bestritten werden — so finden wir manches hervorragende bio- logische Problem in ein äußerst interessantes Licht gerückt. — Betrachten wir — um zunächst ein konkretes Beispiel, das ich Schopenhauer ent- lehne, zur anschaulichen Erläuterung heranzuziehen — den Stamm der Vertebraten, so finden wir einen Faktor, welcher der Organisation sämt- licher Klassen, Gattungen und Arten dieses Stammes zu Grunde liegt und ihr das charakteristische Gepräge giebt, die Wirbelsäule. So ver- schieden auch ihre Gestalt, die Form der sie zusammen- setzenden einzelnen Teile sein mag, so sehr auch die Größen- und z. T. auch die Zahlenverhältnisse der Teile schwanken mögen, immerhin bewahrt sie, als Ganzes, ihren Grund- charakter, aus dem ihre physiologische Bedeutung entspringt, sie ist und bleibt allenthalben das für den Bau und die Ver- richtungen aller Vertebraten notwendige und charakte- ristische Stützorgan. Die einzelnen Teile dieses Grundgerüstes sind dabei, wie schon an- gedeutet, allen möglichen Schwankungen, teils der Zahl, teils der Form, auch beider zusammen, unterworfen. Z.B. die Halswirbelsäule der Säuger! Ueberall, in der ganzen Gruppe der Säuger, die gleiche Zahl ihrer Teile, nämlich sieben, beibehaltend, bietet sie uns, bezüglich der Größe und teilweise auch der Gestalt, ein ausgezeichnetes Bild unendlicher Variationen, von den riesigen Wirbeln der Giraffe bis zu den auf ein Minimum zu- sammengedrängten Halswirbeln des Maulwurfes. Berücksichtigen wir die Bedingungen, unter denen diese Tiere zu leben gezwungen sind, so wird uns das anfangs wunderlich Erscheinende sofort verständlich, ja eigentlich selbstverständlich und erscheint als notwendig bedingt, nämlich in Hin- sicht auf die gewordene Aufgabe, Nahrung zum Unterhalte des Lebens aufzusuchen. Die Giraffe, „im trockenen sandigen Afrika, aufs Laub der Bäume angewiesen, bedarf des langen Halses“, kann ohne ihn nicht leben, während dem Maulwurf nur aus der größtmöglichen Reduktion ein Walkhoff, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. 301 Vorteil erwachsen kann. Der schaffende Faktor ist in beiden Fällen die vom Zwang der Verhältnisse vorgezeichnete Funktion. Wir müssen demnach in jedem Tierstamm ein anatomisches Element, wie Geoffroy-St. Hilaire sich ausdrückt (principes de philosophie zoologique 1830), als „konstante Größe“ auffinden, wie die Wirbelsäule der Vertebraten. An der Form und Gestalt und — wie uns die Gesetze der Entwicklungsmechanik jetzt lehren —- vornehmlich auch an der Struktur der Teile dieses anatomischen Elementes aber müssen wir die Spuren der verschiedenen Lebensbedingungen und somit der verschiedenen Verrichtungen der einzelnen Gattungen, der einzelnen Species, ja des ein- zelnen Individuums wieder erkennen. Denn nicht nur generell, nein, auch individuell muss der züchtende Einfluss der Funktion in Gestalt und Struktur sich wiederspiegeln. Wir würden also, wenn alle Fragen und Rätsel des bio- logischen Hauptproblems, vom Verhältnis von Funktion und Morphe, uns bekannt wären, aus der genauesten Kenntnis aller Organe eines Tieres mit Sicherheit die Bedingungen erkennen und angeben können, unter denen eine Species oder das ein- zelne Individuum seinLeben zubrachte, wie wir andererseits aus der Kenntnis aller Lebensbedingungen Rückschlüsse auf die Organisation ganzer Tierklassen und auf die Beschaffen- heit der Organe des einzelnen Individuums machen könnten. Davon sind wir natürlich noch ungeheuer weit entfernt. — Uebertragen wir diese theoretischen Erwägungen in die Praxis, so werden wir Wege finden, welche für das Studium weiterer biologischer Probleme, wie z. B. der phyletischen Verwandtschaft nahestehender Tiergruppen, äußerst fruchtbringend und lohnend sind. Wir werden das Gemeinsame der Organisation zweier Species ebenso verstehen lernen, wie die ver- schiedenen artlichen Besonderheiten; auch die individuellen Eigentümlich- keiten werden verständlich; denn nirgends auf der Welt lebt ein Indi- viduum genau so wie ein zweites. Wir werden ferner, bei vergleichender Betrachtung des so gewonnenen Materials, an die Wurzeln der verschie- denen Organisationsstufen geführt, an den gemeinsamen Stamm, von dem die einzelnen Gruppen und Gattungen ausgingen und auseinandersprossten. Gehen wir nunmehr an die Betrachtung des oben angegebenen Werkes von Walkhoff heran. Auch Walkhoff ließ sich bei seinen ver- gleichend-anatomischen Untersuchungen über den Unterkiefer der Primaten teilweise von ähnlichen Erwägungen leiten, wie ich sie soeben auseinander- setzte. Er sagte sich, dass wir, gemäß der in vieler Hinsicht gleichen oder wenigstens ähnlichen Lebensbedingungen und somit Verrichtungen der Primaten, einen allgemeinen, für den Kiefer aller Species der Primaten- gattung charakteristischen Grundzug der Struktur und Gestalt auffinden müssen; dass wir andererseits aber, in Rücksicht auf das verschiedenartige Milieu, in dem die einzelnen Species leben, auch Unterschiede zwischen dem Kiefer der einzelnen Arten zu erwarten haben, ja dass wir in diesen Unterschieden jeweilige Artcharakteristika zu erblicken haben; wobei wir speziell für den Unterkiefer des Menschen zu bedenken haben, dass er, vor allen anderen Primatenkiefern, durch die Entwicklung von Strukturen und Formen ausgezeichnet ist, in denen wir die sichtbaren Spuren der 302 Walkhoft, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. zum Sprechen nötigen Leistungen erkennen. Ziehen wir dann nochin den Kreis unserer Betrachtungen die Verhältnisse der aufgefundenen, so äußerst wichtigen diluvialen Menschenkiefer, und sollten wir bei diesen etwa eine allmähliche stufenweise Entwicklung jener, dem Menschenunterkiefer allein eigenen Strukturen, wie sie das Sprechen bedingt, nachweisen können — was wir von vornherein als wahrscheinlich annehmen dürfen, da, wie die Geologie lehrt, das Alter des Kiefers von Schipka, des aus der Krapina- höhle in Kroatien und aus la Naulette, sowie des von Prödmost ein sehr verschiedenes ist, — so werden wir, in unseren Betrachtungen rückwärts blickend, auf die gemeinsame Wurzel hingeleitet, von der die Anthropo- morphen und der Mensch ausgingen. Der Unterkiefer nimmt eine gewisse Sonderstellung ein. Für die meisten Knochen, besonders die Röhrenknochen, deren Aufbau man, im Hinblick auf die Gesetze der funktionellen Anpassung und Selbstgestaltung, genau studiert hat, kommen in erster Linie die Gesetze der Statik und Dynamik in Betracht. Allein es wäre verkehrt und einseitig, wollte man alles mit Statik erklären, da es z. B. eine ganze Anzahl von Knochenfortsätzen giebt, welche sicher nicht unter statischen Einflüssen stehen und doch eine bestimmte Struktur erkennen lassen. Diese Knochen- fortsätze sind meistens Ursprungsstellen von Muskeln, und man muss annehmen, dass ihre Form und innere Architektur eine Folge der Muskelwirkung sei. Es ist zu beachten dass, — wie Herr Kollege R. F. Fuchs bereits vor einem Jahre in einem Vortrage hervorhob — der Oberkiefer und besonders der Unterkiefer statischen Mo- menten absolut entrückt ist und nur unter dem Einflusse der Wirkung zahlreicher Muskeln steht. Der Unterkiefer wirkt wie ein Hebel; den Angriffspunkt an den zu überwindenden Wider- ständen bilden die Zähne. Aus alledem ergiebt sich, dass „aus der ver- erbten Anlage die spätere Kieferform jedes Individuums allein durch die Funktion der Muskeln erwächst“. ° Und so müssen wir denn auch, wenn anders die Lehren der Entwicklungsmechanik richtig sind, für alle Formen und Strukturen des Unterkiefers, sowie für alle Unterschiede, welche wir, bei einem Vergleiche, zwischen den Unterkiefern der einzelnen Primatenspecies etwa antreffen, die Begründung in der jeweiligen Bean- spruchung durch Muskelwirkung auffinden. Bei einem Vergleiche der äußeren Formen der einzelnen Primaten- unterkiefer imponiert uns bei allen Anthropomorphen, im Gegensatze zurm Menschen, vor allem die mächtige Entwicklung des Unterkiefers, zunächst im ganzen, dann aber auch in seinen einzelnen Teilen: die Größe der Zähne und des Alveolarfortsatzes, der auffallende Prognathismus des gewaltigen Vorderkiefers, die enorme Ausbildung des äußeren Kieferwinkels und des ganzen Kieferastes, speziell auch des processus condyloideus und seiner Gelenkfläche; der äußere und innere Kieferwinkel nähert sich sehr 1R, speziell beim Orang trifft man ihn von 93°. Das Kinn fehlt vollständig. Wie verhältnismäßig gracil ist dagegen der Unterkiefer des recenten Menschen! Die äußere Fläche des Kieferastes ist bei allen Anthropomorphen, im Gegensatz zum menschlichen Unterkiefer, an dem wir im Bereiche des Masseter Leistenbildungen wahrnehmen, nahezu glatt, zum Beweise, dass selbst eine sehr starke Muskelfunktion nicht immer die Bildung von Walkhoff, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. 303 Knochenleisten erheischt. Der äußere Kieferwinkel ist bei den Anthropo- morphen, mit Ausnahme des Schimpanse, gerade oder sogar nach innen gebogen, speziell stark beim Gibbon, während er beim Menschen und Schimpanse meist nach außen gebogen ist. Die linea obliqua externa, beim Menschen eine richtige Leiste, die sich im Bereiche des foramen mentale verliert, imponiert bei den Anthropomorphen mehr als ein starker Wulst und setzt sich, über das foramen mentale hinaus, zuletzt in der Richtung nach oben, bis zum Eckzahn hin fort. Auch die linea obliqua int. bildet bei den Affen einen Wulst. Einen Basalteil zeigt auch der Vorderkiefer der Affen, aber eine wirkliche Basalfläche, die die vordere Kieferplatte mit der hinteren verbindet, ist nur dem menschlichen Unter- kiefer eigen; allen Anthropomorphen fehlt diese, nur beim Gorilla ist sie manchmal angedeutet. Bei den Anthropomorphen ist die vordere Kiefer- platte stark nach rückwärts gebogen und bildet so eine scharfe Leiste. Das Wichtigste aber ist, dass sämtliche Anthropomorphen an Stelle jener Spina mentalis int., welche beim Menschen dem M. genioglossus zum Ursprunge dient, eine tiefe Grube haben. Die geschilderten Verhältnisse treffen im großen und ganzen für alle Anthropomorphen zu, wenn wir auch im einzelnen einige kleine Abweichungen davon vorfinden. So haben junge Gorillas, wie Selenka beobachtete, mitunter ein kleines Kinn; später geht dieses verloren. Ferner treffen wir, wie schon bemerkt, beim Gorilla den Anfang einer Basalfläche, au der der Digastrieus ansetzt. Beim Schimpanse, dessen Unterkiefer am meisten dem des Menschen ähnelt, ist die Grube für den Genioglossus durch eine scharfe Leiste, welche sich bis zum Kieferrand fortsetzt, geteilt; der äußere Kieferwinkel ist deutlich nach außen gebogen. Beim Gibbon treffen wir eine, wenn auch nur kleine, Spina mentalis int. Die linea obliqua int., zwar immer noch sehr mächtig, nähert sich in ihrer Form doch einer Leiste; die Um- biegung des äußeren Kieferwinkels nach innen ist so stark, dass der M. pterygoideus int. fast in einer förmlichen Höhle liegt. Während wir also bei den Anthropomorphen im großen und ganzen nur wenige und unbedeutende Variationen in den äußeren Kieferformen beobachten, ist dies bei den verschiedenen Menschenrassen ganz anders. Bei den tiefer stehenden Rassen ist die Kieferform noch weit voller und massiger, die Leisten ähneln mehr Wülsten, speziell die Breite des Kiefer- astes ist auffallend groß (bis 15 mm breiter als beim Europäer), während bei den eivilisierten Völkern an Material allenthalben gespart ist. Sehen wir uns. „die innere Architektur des Unterkiefers“ an und verfolgen wir die „Bildung und Verwendung der Substantia compacta und spongiosa beim Aufbau des Kieferknochens“, so können wir konstatieren, wie bereits während der Embryonalentwicklung die innere Konstruktion des Knochens und mit ihr die äußere Gestalt ganz von dem wechselnden Maß der Beanspruchung abhängt und beein- flusst, ja von ihr erst hervorgebracht wird. Bereits im Embryonalleben sehen wir die anfangs regellos gelagerte Substantia spongiosa an einer Stelle in eine bestimmt geordnete Bahn, ein sogenanntes Trajektorium, hineingezwungen, das sich während des ganzen postembryonalen Lebens erhält und das, vom processus condyloideus an den ganzen Kieferkörper, zunächst in gerader Richtung, durchziehend, als „der Ausdruck des indi- rekten Rückstoßes der Mandibula in longitudinaler Richtung“ aufzufassen 304 Walkhoff, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. ist. Es gewährleistet die „rückwirkende Festigkeit gegen das Gelenk“, deren der Knochen bei Ausübung der Funktion bedarf. Durch die Ent- wicklung und das Wachsen der Zähne und des Alveolarfortsatzes erfährt es alsbald eine Knickung, die mit der Zeit immer vollständiger wird. Sehr bald nach der Geburt beginnen, infolge der Wirkung der einzelnen Muskeln, weitere Trajektorien sich anzulegen. So eines von der Spitze des processus coronoideus zum inneren, und eines vom proc. condyloideus zum äußeren Kieferwinkel, während gleichzeitig Teile der vom Periost, besonders im Bereiche des äußeren Kieferwinkels, massenhaft gebildeten Substantia compacta in Spongiosa umgewandelt wird. Durch die Ent- wicklung der Zähne wird speziell das vom proc. coronoideus zum inneren Kieferwinkel ziehende Trajektorium immer wieder zerstört, der innere Kieferwinkel resorbiert; aber immer wieder wird das Trajektorium, ent- sprechend der veränderten Beanspruchung, neu gebildet, bis es, nach dem Durchbruch des letzten Molaren, endgültig zu dauernder Form angelegt und entwickelt wird. Nach Vollendung des Zahnwechsels ist dann die Möglichkeit, ja Notwendigkeit für die Spongiosa gegeben, ihre aus der jetzt mehr in konstanten Richtungen erfolgenden Beanspruchung resul- tierende funktionelle Anpassung dauernd zu vollziehen; es bilden sich jetzt ganz bestimmte Bahnen der Trajektorien fürs Leben aus, während das bisher zarte und feine Maschenwerk der Spongiosa gröber und recht- winkelig wird. Besonders lehrreich, vor allem für die Bedingungen der Umbildung von Substantia spongiosa in compacta und umgekehrt, sind die Vorgänge bei der Zahnentwicklung. Wenn der Zweck und Vorteil der Spongiosa- bildung darin zu erblicken ist, dass durch sie eine möglichst vollkommene Leistungsfähigkeit bei geringster Verwendung von Material erzielt werde, so dürfen wir auf der anderen Seite die Aufgabe der Substantia com- paeta darin suchen, einem plötzlich auftretenden, sehr großem Drucke den nötigen Widerstand zu bieten, sowie ferner, bei einer etwaigen Hebelwirkung, wie sie beim Unterkiefer wohl die Hauptfunktion ist, die hierzu erforderliche Starrheit des Knochens zu garantieren. Es ist nun frappant, zu sehen, wie, je nach Bedarf, die Spongiosa verdichtet, ja sogar zu richtiger Compacta umgewandelt werden kann. So be- wirkt der durch den wachsenden Zahnkeim hervorgerufene Druck eine derartige Verdichtung der Alveolenspongiosa, dass die Alveolenwand als- bald von einer richtigen „Lade“ aus kompakter Substanz gebildet wird. Entlang dieser festen Lade, die also einem sehr starken Drucke gewachsen ist, erfolgt das Hinaufschieben des fertigen Zahnteiles durch den wuchern- den Pulpawulst, und sie erscheint somit gerade als ein notwendiges Hilfs- mittel für den Durchbruch eines Zahnes, der nach der Seite des geringsten Widerstandes, also nach oben, erfolgen muss. Ist die Krone aus dem Kiefer herausgetreten, dann lässt der bisher enorm gesteigerte Druck nach; die Lade beginnt zu schwinden, wird resorbiert, zunächst in ihrem oberen Teile; und wir sehen das Knochengewebe sich allmählich zu der dauern- den Alveole umbilden; nur ein Rest der Lade bleibt zurück als sogenannte Wurzelscheide. — Aber es wird nicht nur der Kiefer vom wachsenden Zahnkeim beeinflusst, sondern es hat auch das Umgekehrte statt. Die Wurzeln der Molaren z.B., in senkrechter Richtung nach abwärts wachsend, liegen in dem Trajektorium, welches — wie wir sahen —, als der Aus- Walkhoff, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. 305 druck der rückwirkenden Festigkeit gegen das Gelenk hin, die ganze Länge des Unterkiefers durchzieht. Und die Einwirkung dieses Trajek- toriums auf die Wurzeln der Molaren erkennen wir an der Rückwärts- krümmung dieser Wurzeln. Noch häufiger ist die Umwandlung von kompakter Substanz in spon- giöse. Besonders an den Seitenflächen des Unterkiefers können wir eine fortwährende „Aufblätterung“, ein fortwährendes Sichumwandeln neu ge- lieferter Compacta in Spongiosa konstatieren; dies geht so lange so fort, bis die definitive Größe erreicht ist. — Ueberall sehen wir, dass dort, wo es auf unverhältnismäßig starke Festigkeit ankommt, die Substantia compacta vorherrscht; so an Knochenvorsprüngen und Stützleisten. Ein Beispiel dafür sind die beiden lineae obliquae, welche, als „Trajektorien- verdichtungen“, uns die Richtung der Wirkung des M. temporalis an- zeigen. Die spezielle Besprechung „der großen Trajektorien des fertigen Kieferknochens und ihrer Bedeutung“ muss ich mir im Referate versagen, da eine knappe Darstellung hier zum Verständnis wohl nicht ausreicht. Ich hebe nur hervor, dass jedem Kaumuskel eine derartige Kraftbahn zukommt und dass die Gestalt und Form des Unterkiefers, speziell des Astes und des äußeren Kieferwinkels völlig und allein von der Ausbildung dieser Kraftbahnen, mithin der Funktion der Kaumuskeln, abhängt und geschaffen wird. Am interessantesten ist entschieden das vergleichend- anatomische Studium des vorderen Unterkieferss, Hier begegnen wir den größten Unterschieden zwischen Mensch und Anthropomorphen; Unterschieden, so groß, dass wir auf den ersten Blick sagen können, ob ein fraglicher Kiefer vom Menschen oder von irgend einem Anthropoiden stamme. Aber hier werden wir auch, an der Hand der überaus wichtigen diluvialen Menschenkiefer, auf die gemeinsame Wurzel, an den Ursprung des Primaten- geschlechtes hingeleitet. Das gänzliche Fehlen eines Kinnes, einer Spina mentalis interna, dafür an deren Stelle eine tiefe Grube, das Mangeln einer Basalfläche bei allen Anthropomorphen bilden so tiefgreifende Unter- schiede gegenüber dem menschlichen Unterkiefer, dass eine Ueberbrückung dieser Kluft zunächst zum mindesten überaus schwierig, wenn nicht un- möglich erscheint. Mit Messungen des Kinnwinkels, wie es Topinard that — er fand, dass der Kinnwinkel bei niederen Rassen bedeutend größer ist als beim Europäer (beim Australier oft über IR gegen 71° beim Europäer) —, ist nichts zu erreichen, da eben die Anthropomorphen kein Kinn haben; und auch durch das Heranziehen der diluvialen Menschen- kiefer kommen wir nicht weiter. Es geht eben nicht an, allein aus der Berücksichtigung der äußeren Form des Unterkiefers, wie bisher geschehen, Aufschlüsse über die allmähliche Entstehung des Kinnes während der Diluvialzeit zu suchen, und dann die starke Entwicklung desselben beim recenten Menschen verstehen zu wollen. Es müssen unbedingt die Ge- setze der Entwicklungsmechanik herangezogen werden, und wir werden sehen, dass das schier Unmögliche, die Aufdeckung der allmählichen, stufenweisen Entwicklung des Kinnes, gelingt. Wie die äußere Form, so ist auch die innere Struktur des äffischen Vorderkiefers total verschieden von dem des Menschen. Während wir bei letzterem drei mächtige Trajektorien (eins dem M. genioglossus, eins XXI. 20 306 Walkhoff, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. dem digastrieus und eins dem geniohyoideus angehörig), in ganz be- stimmter Stellung zueinander, antreffen, würden wir bei allen Affen ver- gebens danach suchen; bei diesen nur hie und da geringe Andeutung der- selben. Hier liegt sicher ein für die Kinnbildung wichtiger Faktor vor und die Bedingungen zum Zustandekommen dieser Trajektorien müssen ganz eigene sein. Offenbar ist dabei die Stellung der Muskeln, speziell des Digastrieus zum Kiefer nicht irrelevant. Ist dieselbe, wie bei den Affen, eine senkrechte zu beiden Kieferplatten, so wird, als Ausdruck eines stärkeren Zuges, eine stärkere Entwicklung der Substantia compacta und somit eine Verbreiterung des Basalteiles (im sagittalen Durchmesser) erfolgen, aber zu einer Vorwölbung des Kiefers nach innen oder außen, d. h. zur Kinnbildung liegt kein Anlass vor; denn eine Trajektorien- bildung findet nur in so geringem Maße, und zwar in der Längsachse der Schneidezähne statt, dass die äußere Form hierdurch kaum berührt wird. Weicht hingegen die Stellung des Digastrieus zu den Unterkieferplatten von der senkrechten ab, so finden wir, proportional der Abnahme dieses Winkels, zwar eine geringere Ausbildung der Basalfläche, dafür aber eine entsprechend mächtigere Entfaltung des Digastricustrajektoriums und die Anfänge einer Kinnbildung. Vergleichen wir daraufhin die diluvialen Menschenkiefer, so finden wir dies bestätigt. Beim Schipkakiefer, mit seiner rechtwinkligen Stellung des Digastricus zu den Kieferplatten, kon- statieren wir eine überaus mächtige Basalflächenentwicklung, bei absolutem Fehlen einer auch nur geringen Kinnbildung; der Kiefer von la Naulette zeigt dagegen, bei etwas geringerer, aber immer noch auffallender Mächtig- keit des Basalteiles, bereits die Andeutung eines Kinnes, und am Pred- mostkiefer korrespondiert ein bereits stärkeres Zurückbleiben der Basal- fläche mit deutlicherer Kinnentwicklung. — Beim heutigen Menschen kommt nun noch ein hervorragender Faktor hinzu: das 'Trajektorium des Genioglossus. W. konnte an verschiedenen Beispielen (z. B. am Unter- kiefer eines Angehörigen des Stammes der Massais, welche, nach altem Brauche, die mittleren unteren Schneidezähne im jugendlichen Alter ent- fernen und ferner, bei achtzigjährigen Leuten, welche sämtliche Zähne verloren hatten) nachweisen, dass speziell das Trajektorium des Genio- glossus für die Kinnbildung verantwortlich zu machen ist. An der all- gemeinen Atrophie des zahnlosen Unterkiefers alter Leute beteiligt sich der vordere Unterkiefer nicht, wenigstens nicht in seinem Basalteile, wäh- rend der Alveolarfortsatz ebenfalls schwindet; und gerade hierdurch kommt der Basalteil um so mehr zur Geltung, und das spitze, stark hervor- springende Kinn des Greises ist allen bekannt. Das Trajektorium des Genioglossus und des Digastrieus ist noch ebensogut erhalten wie im Kiefer eines Jünglings. Dies erklären kann man sicherlich nicht durch die Funktion der Kaumuskeln; denn auch an deren Ansatzstellen macht die Atrophie nicht Halt. Hier müssen wir nach einem anderen Faktor suchen; und den finden wir in der für das Sprechen erforder- lichen Funktion des Digastrieus, Geniohyoideus und vor allem des Genioglossus. Die Sprache also ist es, welche dem Menschen- geschlecht hier ihren Stempel aufdrückt, ihr sichtbares Zeichen ist das Kinn mit samt der Spina mentalis. — Bei keinem Anthropoiden finden wir ein Trajektorium des Genioglossus wie beim Menschen, das ist nach dem Gesagten nicht zu verwundern. Zum Walkhoff, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. 307 Zustandekommen eines Trajektoriums bedarf es nicht nur einer gewissen Stärke eines Muskelzuges oder -Druckes; auch eine gewisse Konstanz der Richtung, in der die Beanspruchung erfolgt, ist erforderlich. Und diese eben vermissen wir bei der Funktion des Genioglossus der Anthropo- morphen, indem hier der Muskel nur zur allgemeinen Unterstützung der sehr wechselnden Zungenfunktion beim Kauakte benützt wird, während beim Menschen zur Hervorbringung der Zahnlaute (Schaaffhausen) die Benützung in immer gleichen Bahnen statt hat. Wollen wir die Entwicklung der Spina mentalis int. beim Menschen verstehen, so thun wir gut, uns die Ausführungen Tornier’s (Archiv für Entwicklungsmechanik 1895) ins Gedächtnis zurückzurufen. „Nicht jede an einem Knochen inserierende Sehne, sagt Tornier, bildet auf ihre Kosten einen Knochenvorsprung aus, sondern nur die, welche bei Vorwiegen einer speziellen Örganfunktion zu besonders energischer Arbeitsleistung gezwungen werden.“ Demgemäß haben die Anthropoiden, bei der wechselnden und verhältnismäßig ge- ringen Beanspruchung ihres Genioglossus, keine Spina mentalis interna, während sie beim Menschen, als Folge der beträchtlichen, mehr in konstanter Richtung erfolgenden Arbeitsleistung des Genioglossus, aus- nahmslos kräftig entwickelt ist. Dabei ist aber zu bedenken, dass letztere nicht einfach die Insertionsstelle des Genioglossus, also nur der Ausdruck der höchsten Arbeitsleistung dieses Muskels ist, sondern dass einzelne Teile der Spina sogenannte „Umwallungen“ im Sinne Tornier’s und Gebhard’s sind, hervorgerufen durch die Funktion auch beider Digastriei und Geniohyoidei; die Spina ist mithin „der Ausdruck einer kombinierten direkten und indirekten Muskelwirkung an der Stelle, wo Kieferkörper und Basalstück ineinander übergehen“. Hieraus erklären sich denn auch die unendlichen Varia- tionen in der Form der Spina, als welche alle durch funktionelle Ein- flüsse bedingt sein müssen. — Vergleicht man die verschiedenen dilu- vialen Menschenkiefer unter sich und mit dem Kiefer eines recenten Menschen, so stellt man bezüglich der Spina int. — wenn auch bei ihr nicht so auffallend ausgesprochen, weil sie bei den diluvialen Kiefern fast durchgängig nur angedeutet ist — wie besonders bezüg- lich des Trajektoriums des Genioglossus eine allmähliche stufenweise Entwicklung fest, vom ersten Anfang — beim Schipkakiefer — bis zur höchsten Vollendung beim heutigen Menschen. Und höchst interessant ist dabei, dass, in Hinsicht auf das Alter der einzelnen Kiefer, die Reihenfolge, welche uns die Untersuchung nach den Regeln der Entwicklungsmechanik aufdrängt, genau mit der übereinstimmt, die uns die geologischen Schichten, in denen die Kiefer gefunden wurden, lehren, nämlich: als ältester der Kiefer von Schipka, dann folgen, gleichalterig, die Kiefer aus der Krapinahöhle und von la Naulette, und als jüngster der von Pr&dmost. Wir müssen mithin in Anbetracht der stufenweise er- folgten Entwicklung besonders des Genioglossustrajektoriums während der Diluvialzeit annehmen, dass in jener Zeit die Entwicklung einer artikulierten Sprache „in größerem Um- fange* statt hatte, Aus dem Gesagten geht endlich noch hervor, dass das Fehlen einer 20* 308 Walkhoft, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen. Spina mentalis int. nicht, wie Mortillet meinte, ohne weiteres beweist, dass das fragliche Individuum des Sprechens absolut baar war. Die Menschen der Diluvialzeit, deren Kiefer wir heute untersuchen, waren sicher zum Sprechen befähigt, wie das sich immer stärker entwickelnde Trajektorium des Genioglossus deutlich erkennen lässt; eine Spina ment. int. aber hatten sie zum Teil gar nicht, zum Teil nur in geringer An- deutung. Nach allem bisher Vorgebrachten können wir sagen, dass die Formveränderungen des Primatenkiefers, vornehmlich des Vorderkiefers, nach den Gesetzen der funktionellen An- passung und Selbstgestaltung erfolgt sind und noch erfolgen. Aber nicht allein die Thätigkeit der Muskeln ist es, welche Form und Gestalt des Kiefers des heutigen Menschen beeinflusst, es kommt nach W. noch ein sehr wichtiges Moment hinzu: die fortschreitende Reduktion des Kiefers und der Zähne an Größe. Dabei kommt es oft zu einem Zwiespalt zwischen Kiefer und Zähnen wegen des gegebenen Raumes. Passen sich beide letzterem nicht genau an, ist z. B. die Reduktion des Kiefers der der Zähne um ein Beträchtliches vorausgeeilt, so resultieren — wie wir dies so häufig finden — daraus Stellungsanomalien der Zähne. Bei eivilisierten Völkerschaften ist die Reduktion stärker ausgesprochen als bei wilden. Bonwill fand, dass der Abstand der beiden Gelenk- köpfe — gleich 100 mm — gleich dem Abstand des Gelenkkopfes von dem Berührungspunkte der mittleren Schneidezähne ist. Dies gilt aber nur für die eivilisierten Völkerschaften. Denn Branko wies nach, dass bei Negern z. B. der Abstand vom Gelenkfortsatz bis zu den mittleren Schneidezähnen 120 mm und mehr beträgt. Es ist also die Gesamtgröße des Kiefers höherer Rassen reduziert. Bei den Zähnen deutet das Fehlen eines fünften Höckers an der Kaufläche des dritten unteren Molaren und die verhältnismäßig geringe Gesamtgröße dieses Zahnes auf eine Reduktion hin; das Gleiche ergiebt die Betrachtung des oberen kleinen Schneide- zahns und des oberen zweiten Prämolaren. Alle diese Zähne zeigen auch am häufigsten Stellungsanomalien. Letztere sind bei niederen Völkern, bei denen, wie erwähnt, die Reduktion viel weniger ausgesprochen ist, allergrößte Seltenheiten. Die Zähne der diluvialen Kiefer sind, wie der ganze Knochen, insgesamt auffallend groß, viel größer, als die Zähne eines heutigen Menschen, und ihre Größe veranlasste bekanntlich Virchow zu der allerdings total falschen Annahme, dass wir es hier mit patho- logischen Excessbildungen zu thun hätten, weshalb man denn, gestützt auf Virchow’s Autorität, das so höchst wichtige Material, als zum Studium allmählicher Entwicklung völlig unbrauchbar, Jahrzehnte lang un- benützt beiseite schob. Neben der riesigen Gesamtgröße dieser diluvialen Zähne fällt eine „vermehrte Cuspidation“ an der Kaufläche der Prämolaren und die Rückwärtsbiegung der Schneidezähne besonders auf. Diese Rückwärtsbiegung ist als Rasseeigentümlichkeit des dilu- vialen Menschen aufzufassen. Das Studium der Struktur und inneren Architektur zeigt uns, dass diese diluvialen Kiefer und Zähne mit nichten Excessbildungen, sondern völlig normale Bildungen sind, aufs Genaueste angepasst der funktionellen Leistung; Kiefer und Zähne stehen, sogar besser als beim heutigen Menschen, in proportionalem Größenverhältuisse zueinander. Und so erlaubt uns denn auch ein Vergleich dieser Kiefer mit einem Walkhoff, Der Unterkiefer der Anthropomorphen und des Menschen, 309 recenten Kiefer den Schluss, dass Zähne und Kiefer des re- centen Menschen einen KReduktionsprozess durchgemacht haben und noch durchmachen. Die Reduktion der Zähne und des Kiefers erfolgte vornehmlich in der Sagittalebene, wodurch der ur- sprüngliche Prognathismus allmählich verdrängt wurde und an seine Stelle eine Orthognathie trat, wie wir sie heute bei fast allen Völkern als Rasseeigentümlichkeit vorfinden. Wenden wir zum Schlusse unseren Blick einmal rückwärts, so dürfen wir, wie ich glaube, wohl mit ruhigem Gewissen behaupten, dass unsere _ im anfang gesetzten Erwartungen nicht getäuscht, vielmehr aufs Schönste befriedigt wurden. Oder führt uns eine nochmalige rekapitulierende ver- gleichende Betrachtung der Anthropomorphen- und des Menschenkiefers etwa nicht an die gemeinsame Wurzel, von der, wie zwei Zweige eines Astes, die zwei großen Gruppen der Primaten, auf der einen Seite die Anthropomorphen, auf der anderen der Mensch, ihren Ausgang nehmen, um, einem verschiedenen Ziele zueilend, nun in divergierender Richtung sich weiter zu entwickeln? Der Kiefer der Anthropomorphen, ganz dem Streben, nur dem Akte des Kauens und Fressens zu dienen, unterworfen, entfaltete jene mächtigen Formen, des ganzen Knochens wie der einzelnen Teile, auch der Zähne, welche ganz allein das Erstrebte garantieren können, während die Entwicklung des Menschengeschlechtes, mit seiner allmählich sich heranbildenden Sprache, jene allenthalben gracilen Formen hervorrief, welche neben dem Akte des Kauens noch zu Verrichtungen befähigen, die nun in den Dienst höherer Intelligenz zu treten geeignet sind, zur Sprache. Ist nicht, hier wie dort, alles aufs Genaueste der Funktion angepasst, so genau, dass uns die vollendetste Zweckmäßigkeit sofort offenbar wird? Und die Kiefer des diluvialen Menschengeschlechtes! Muss uns ihre noch auffallende Größe nicht ebenso zweckmäßig, d. h. den funktionellen Verrichtungen aufs Genaueste angepasst, erscheinen, wie Form und Gestalt eines recenten Menschen- oder Anthropomorphenkiefers? Kaum fähig, die ersten Silben oder Worte zu stammeln, wird der dilu- viale Mensch die Hauptfunktion seines Kiefers noch im Fressakte erblickt haben. Die Entwicklung der Sprache war, das dürfen wir wohl annehmen, eine ganz allmähliche, und so konnte die damit einhergehende Reduktion an Kiefer und Zähnen ebenfalls nur langsam fortschreiten, immer gleichen Schritt haltend mit der langsam sich verändernden Funktion. Wir wundern uns also nicht mehr über die auffallenden Dimensionen und können uns mit Virchow’s Ansicht, der diese Kiefer als pathologische Excessbildungeu beiseite schob und von einer „Duplieität“ pathologischer diluvialer Kiefer sprach, nicht mehr befreunden. Die aufgefundenen Kiefer des diluvialen Menschen sind normale Kiefer, ihrer Funktion ge- nau angepasst, und, in der Entwicklung des Menschen- geschlechtes, als Vorstufen zum Kiefer des recenten Menschen anzusehen! Kollmann’s Ausspruch: „Der Mensch ist ein Dauertypus, er hat sich seit dem Diluvium körperlich nicht verändert“, verliert hier- mit, wenigstens für den Kiefer und die Zähne, vollkommen seine Gültig- keit. Von der allgemeinen Entwicklung und Transformation, welche das ganze Weltall unter ihre Gesetze beugt, bleibt auch der Mensch nicht ausgeschlossen. Als ein Glied in der unendlichen Reihe der Erscheinungen ist auch er dem Wechsel unterworfen! 340 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. Man darf erwarten, dass in Zukunft der Descendenzlehre, neben der Ontologie, Palaeontologie und vergleichenden Anatomie, auch die Lehren einer vergleichenden Entwicklungsmechanik neue Stützen zu- führen werden. Hugo Fuchs, Erlangen. [27] Das Energieprinzip und die energetische Betrachtungsweise in der Physiologie. Von Dr. F. Mares, Professor der Physiologie an der böhmischen Universität zu Prag. (Fortsetzung.) 3. Der Elementestandpunkt wird auch in physiologisch- energetischen Betrachtungen vielfach für den eigentlichen Wirklichkeits- standpunkt angesehen. Die Thermochemie geht, dem allgemeinen Plane der Chemie gemäß, bei der Formulierung ihrer Sätze von den Elementen aus. So ist nach Berthelot die Verbrennungswärme eines Nahrungsstoffes gleich der Differenz zwischen der Verbrennungs- wärme seiner Elemente, und der Bildungswärme dieses Stoffes aus den Elementen. Nimmt man diesen Standpunkt auch bei physio- logischen Betrachtungen ein, so bereitet man sich unnötige und leicht irreführende Schwierigkeiten. Man kann z.B. folgendes lesen: Die Bildungswärme der Nahrungs- stoffe ist negativ, d. h. bei ihrer Bildung wird Wärme verbraucht, anstatt entwickelt zu werden. Die pflanzliche Synthese, welche die äußerlichen inerten Elemente zusammenbringt, um einen Nahrungsstoff zu bilden, verbraucht dazu die Sonnenenergie, welche sie in ihrem chemischen Produkte anhäuft. Daraus folgt, dass die Nahrungsstoffe im Momente ihrer Verbrennung alle die Energie frei lassen, welche sie von der Sonne haben, und zugleich die Verbrennungswärme ihrer Ele- mente entwickeln. Das Berthelot’sche Theorem, auf die Nahrungs- stoffe angewendet, formuliert also nicht mehr eine Differenz, sondern eine Summe, und man kann es in diese Worte fassen: die Verbrennungs- wärme eines Nahrungsstoffes ist gleich der Summe der Verbrennungs- wärmen seiner Elemente und der bei ihrer Bildung aus diesen Ele- menten verbrauchten Wärme (Traite de physique biologique, p. 900). Ueber die Verbrennungswärme irgend eines Stoffes entscheidet allein ihre direkte experimentelle Bestimmung. So ist thatsächlich die Verbrennungswärme z. B. der Glykose (765Ka für 1 Grammol.) kleiner, als die Verbrennungswärme ihrer Elemente (993 Ka); sie gleicht also thatsächlich einer Differenz und nicht einer Summe, wenn man von den Elementen ausgeht. Der Irrtum ist durch den Elementestand- punkt verschuldet und bedroht jeden, der sich auf diesen Standpunkt stell. Man kann von Chemikern, welche sich viel mit Elementen und Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 311 Atomgleichungen, aber wenig mit der Energetik befasst haben, hören, dass die Nahrungsstoffe, wenn sie endothermisch entstehen, die Energie ihrer Elemente und die bei ihrer Bildung verbrauchte Energie ent- halten müssen. Die Auflösung dieses Irrtums ist ziemlich einfach. Die natür- liche Synthese der Nahrungsstoffe geschieht endothermisch, aber ihre Ausgangsstoffe sind nicht Elemente, sondern Kohlensäure und Wasser. Die künstliche chemische Synthese würde ihrem Prinzipe gemäß von den Elementen ausgehen, und exothermisch vor sich gehen. Der Irrtum besteht darin, dass man die Synthese der Glykose naturgemäß als endothermisch annimmt, dabei jedoch den künstlichen Standpunkt einnimmt, als geschehe sie aus Elementen. Der energetische Wert einer Stoffumwandlung ist durch den energetischen Zustand der Ausgangs- und der Endstofie bestimmt, un- abhängig vom Verlaufe der Umwandlung. Bei der pflanzlichen Syn- these der Glykose ist der energetische Zustand der Ausgangsstoffe CO, und H,O = 0; der energetische Zustand des Endstoffes Glykose ist— 765 Ka. Dabei ist es ganz gleichgültig, welchen Verlauf diese Umwandlung genommen hat. Man nimmt gewöhnlich den Blemente- standpunkt der Chemie ein und stellt sich vor, dass bei dieser Synthese die CO; und das H,O zunächst in ihre Elemente zerlegt werden, so dass dann die Synthese aus diesen Elementen stattfände. Diese Vor- stellung ist allerdings nicht genau zu nehmen, weil mit der Ausschei- dung des C die weitere Thätigkeit der Pflanze verstopft wäre; man muss hier den realen Elementen, wie wir sie kennen, ideale oder besser imaginäre Elemente substituieren. Nun ist es energetisch ganz gleich- gültig, wie man sich den Verlauf der Stoffumwandlung vorstellt; ob man sich denkt, dass der Stoff vom energetischen Nullpunkt des Wassers und der Kohlensäure direkt auf das Niveau der Glykose (765 Ka) gehoben wird, oder ob zuerst durch Spaltung der Ausgangs- stoffe in ihre Elemente die Erhebung auf das Niveau von 993 Ka und dann eine Senkung zum Niveau von 765 Ka erfolgt. Findet bei der pflanzlichen Synthese der Glykose thatsächlich zuerst eine Spaltung der Ausgangsstoffe in ihre Elemente statt, so wird dazu Sonnenenergie verbraucht, welche bei der weiteren Synthese aus diesen Elementen zum Teil wieder frei wird. Bei der „Verbrennung“ der Glykose im Organismus in Kohlensäure und Wasser wird nur die Energie frei, welche bei ihrer Synthese aus Kohlensäure und Wasser verbraucht wurde. Auch hier ist es gleich- gültig, auf welchen Umwegen diese Stoffumwandlung vor sich gegangen ist. Nimmt man an, dass die Glykose dabei zuerst in ihre Elemente zerlegt wird, welche dann verbrennen, so ist der energetische Effekt dennoch derselbe, als wenn die Glykose direkt verbrennen würde, weil der größere Effekt der Verbrennung der Elemente durch den Auf- 349 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. wand von Energie zur Zerlegung der Glykose in diese Elemente auf- gewogen wird. Durch den Elementestandpunkt wird hier nichts ge- wonnen, weil man in den Vorgang der Stoffumwandlung im Organis- mus dadurch keine Einsicht bekommt; energetisch kann aber dieser Standpunkt irreführend sein in ähnlicher Weise, als wenn jemand beim Abwägen einer Masse beide Arme der Wage mit gleichen Ballasten belasten würde. 4. Die energetische Betrachtungsweise der Ernährung und des Stoffwechsels der Tiere, welche nach R. Mayer wieder durch die rein stofflich-chemische verdrängt worden ist, tritt in neuerer Zeit wieder in den Vordergrund, wozu namentlich die von D’Arsonval veranlasste Vervollkommnung der tierischen Kalorimetrie beigetragen hat. Während nun z.B. Rosenthal bemüht war, zunächst für die Vergleiehung des Energiewechsels mit dem Stoffwechsel durch zahlreiche statistisch bearbeitete respirometrische und kalorimetrische Versuche eine feste Grundlage zu schaffen, glaubten andere sofort an eine exakte Berechnung des Energiewechsels aus dem Stoffwechsel herantreten zu können. Das wissenschaftliche Ziel solcher Berech- nungen war in erster Linie die Feststellung des Prinzips der Energie- erhaltung in der Physiologie, wie es R. Mayer vorgeschwebt, und dieses Ziel sollte durch den Nachweis erreicht werden, dass die von einem Tiere in einer gewissen Zeit gelieferte Wärmemenge genau gleich ist derjenigen, welche dem stattgehabten chemischen Prozesse an und für sich entspricht. Hier sind an erster Stelle die Arbeiten M. Rubner’s zu nennen, welche mit der Abhandlung „Die Quellen der tierischen Wärme“ (Zeitschr. f. Biol., Bd. 30, S. 73) ihren Höhepunkt erreicht haben. Nimmt man an, dass bei einem bestimmten Ernährungszustande ein Tier Nahrungsstoffe von bestimmter chemischer Zusammensetzung und won bestimmtem kalorischem Werte zersetzt, so kann man, nach Rubner, aus den stickstoff- und kohlenstoffhaltigen Zersetzungs- produkten, welche das Tier während einer bestimmten Zeit ausgeschieden hat, die Qualität und Quantität der zersetzten Nahrungsstoffe be- stimmen; durch Einrechnung ihrer bekannten Verbrennungswärme be- kommt man die durch diese Zersetzung im Tierkörper freigewordene Wärme; und diese soll der vom Tiere zu gleicher Zeit abgegebenen Wärme gleich sein. Rubner hat nun durch seine Versuche diese Gleichung thatsäch- lich nachgewiesen. Daraus schließt er, dass die einzige ausschließliche Wärmequelle des Warmblüters in der Auslösung der Kräfte aus dem Energievorrate der Nahrungsstoffe zu suchen ist. „Was der Nahrungs- stoff an Energievorrat in den Körper hineinbringt, das schickt der Körper in genau gemessenen Quantitäten nach außen; es giebt in diesem Haushalt kein Manko und keinen Ueberschuss. Einfach und Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 313 glatt verläuft die Rechnung, und doch liegt in dem Wechsel der aus den Nahrungsstoffen austretenden Energie zu jener Energieform, die wir als Wärme messen, das was man Leben nennt. Das tierische Leben ist also ein Verbrennungsprozess, und die Lehre von der Er- haltung der Kraft, welche Mayer (und Helmholtz) begründet hat, kann auch den in meinen Versuchen erbrachten Beweis — den vielen anderen auf rein physikalischem Gebiete — anreihen. Die Lehre von der Erhaltung der Kraft bedarf zwar dieses Beweises ihrer Geltung auch auf biologischem Gebiete nicht. Das Misslingen würde uns nur zu dem Ausspruch des Bedauerns, dass die tierischen Vorgänge noch immer nicht genau sich beherrschen lassen, um exakte Re- sultate zu gewinnen, Veranlassung gegeben haben. Nunmehr die Experimente glücken, schöpfen wir daraus die frohe Zuversicht, in anderen, schwierigeren Problemen gleichfalls zum Ziele zu gelangen.“ (l. ec. S. 136—137). Also das, was Mayer seinen Untersuchungen als axiomatische Wahrheit unterlegt hat, welche mehr a priori einleuchtend als durch Versuche in den einzelnen Fällen zu erweisen ist, das hat hier Rubner experimentell nachgewiesen. Das Gesetz des logischen Grundes, welches verbietet, auf der einen oder anderen Seite ein Plus oder Minus anzu- nehmen, ist hier zur Thatsache geworden: es giebt im tierischen Haus- halte kein Manko und keinen Ueberschuss. Wir nehmen hier das thatsächliche Ergebnis der Versuche Rubner’s als gegeben hin: in diesen Versuchen war die aus dem Stoffwechsel berechnete Wärme gleich der vom Tiere zu gleicher Zeit abgegebenen; die Rechnung ist hier vollkommen glatt aufgegangen. Wir wollen aber Rubner’s Schlussfolgerungen aus diesem thatsächlichen Ergebnis näher betrachten, als welche sind: das tierische Leben ist ein Ver- brennungsprozess, die Geltung der Lehre von der Erhaltung der Kraft ist hier auf biologischem Gebiete experimentell erwiesen. 5. Was den ersten Satz, das Leben sei ein Verbrennungsprozess, anbelangt, so ist ein solcher Satz durch eine energetische Bilanz gar nicht nachweisbar; denn diese Bilanz wird nur durch die Ausgangs- und Endstoffe einer Stoffumwandlung bestimmt, und sagt gar nichts über die Art und Weise und den zeitlichen Verlauf dieser Stoffumwand- lung aus. In der That berücksichtigt auch Rubner nur den Aus- gangs- und den Endzustand — zwischen denen das liegt, was man Leben nennt —; er kann also über diesen Zwischenzustand gar nichts aussagen. Rubner’s Berechnungen sind auf die Voit’sche Theorie des tierischen Stoffwechsels und der Ernährung gegründet, durch welche uns, nach Rubner, nicht mehr nur Bruchstücke des tierischen Stoff- verbrauchs bekannt sind, sondern wir wissen genau, wie der Körper seinen Bedürfnissen gerecht wird (Zeitschr. f. Biol., Bd. 30, 8. 87). 314 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. Man könnte also meinen, dass diese Theorie des tierischen Stoffwechsels dadurch erprobt ist, wenn die auf ihr gegründeten energetischen Rech- nungen vollkommen aufgehen. Nun hat Chauveau eine ganz andere Theorie der Umwandlung und Verwertung der Nahrungstoffe im Tier- körper angegeben, nach welcher die verschiedenen Oxydationsstufen der Nahrungsstoffe durch glatte chemische Gleichungen dargestellt werden können. Auf Grund dieser Theorie hat namentlich Laulanie energetische Bilanzen aufgestellt, welche ebensogut stimmen wie die Rubner’s. Laulanie erklärt demgemäß seine Theorie für veri- fiziert. Wir hätten hier also zwei verschiedene gleich exakt verifizierte Theorien der Stoffumwandlung im Tierkörper. Der Widerspruch löst sich auf, wenn wir bedenken, dass die energetische Bilanz gar nichts über die Art und den Verlauf einer Stoffumwandlung aussagt, weil sie nur durch den Ausgangs- und Endzustand dieser Umwandlung be- stimmt ist. Durch energetische Betrachtungen kann die Art und Weise der Verwendung und Umwandlung der Nahrungsstoffe im Tierkörper nicht aufgeklärt werden. Man kann über diese Umwandlung verschiedene Hypothesen aufstellen, welche im allgemeinen von indifferenter Natur sein werden, so lange man sie nicht für den Ausdruck der Wirklich- keit halten wird. Solche Veranschaulichungen der Stoffumwandlung im Organismus durch glatte chemische Gleichungen, welche den je- weiligen physikalisch-chemischen Kenntnissen entsprechen, sind nur als Bilder zu nehmen, welche dem thatsächlichen physiologischen Vor- gange wahrscheinlich sehr wenig ähnlich sind. Es ist und bleibt eine generell zu rügende methodische Verirrung, sagt Pfeffer (Pflanzenphysiol. I, 339), wenn dem in seiner Weise wirtschaftenden Organismus schlechthin vorgeschrieben und zugemutet wird, einen Weg zu gehen und eine Methode zu benutzen, die dem Menschen unter dem Eindruck des derzeitigen chemischen und physikalischen Wissens plau- sibel erscheint. 6. Wir kommen nun zur Hauptfrage: ob durch die genannten Ver- suche die Geltung des Energieerhaltungsprinzips in der Biologie er- wiesen ist. Es sind von verschiedenen Seiten Einwände gegen die Berechnung des Energiewechsels aus dem Stoffwechsel und gegen die auf dieser Grundlage aufgestellten Bilanzen laut geworden. Cl. Ber- nard (Lecons sur les phenomenes de la vie, ete., p. 152) hat darauf hingewiesen, dass solche Bilanzen nur dann möglich wären, wenn die organische Verbrennung eine direkte wäre; die Physiologie lehre aber, dass die Verwendung der Nahrungsstoffe eine indirekte wäre. Deswegen hielten auch Regnault und Reiset die Versuche von Dulong und Despretz für verfehlt und die Uebereinstimmung ihrer Berechnungen für zufällig. Man vereinfacht allzusehr das Pro- Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 315 blem; man macht hypothetische Erklärungen nur auf Grund des ein- tretenden und austretenden Materials, ohne die intermediären Probleme der Ernährung zu berücksichtigen. Hier kann man sehen, wie ver- schieden die Betrachtungsweise eines Physiologen und eines Chemikers sein kann, wenn sie die Erscheinungen am lebenden Organismus be- obachten. d’Arsonval äußerte sich im Sinne Cl. Bernard’s, dass wir in diesen Sachen davon weit entfernt sind, um mit thermodynamischen Formeln jonglieren zu können. Pflüger erschütterte stark die Grund- lagen der Voit’schen Stoffwechseltheorie und erklärte es für verfehlt, die großartige Mannigfaltigkeit der Lebensvorgänge in die starre Zwangsjacke einiger weniger Zahlen („Kalorien“) einzuzwängen (Pfigr.’s Arch. Bd. 51, 229; 52, 239; 54, 333). Sehr bemerkenswert sind namentlich die energetischen Studien Pfeffer’s (Leipzig 1892), welche die Unzulänglichkeit der direkten Bezugnahme des Energiewechsels auf den Stoffwechsel und namentlich bloß auf den Atmungswechsel hervorheben. Diese Einwände sind vor der Veröffentlichung der entscheidenden Versuche Rubner’s (1894) gemacht worden. Nun scheint es, als ob sie eben durch diese Versuche für widerlegt erachtet wären. Man liest wenigstens, dass Rubner neulich den Nachweis erbracht habe, dass die einzige Ursache der tierischen Wärme die Verbrennung der Nahrungs- stoffe durch den eingeatmeten Sauerstoff ist, in Uebereinstimmung mit dem Gesetze der Energieerhaltung; Rubner’s Werk hätte gezeigt, dass der lebende Tierkörper als ein Kalorimeter betrachtet werden kann, und dass man sich desselben zur Bestimmung der Verbrennungs- wärme der Nahrungsstofie bedienen kann (Text-book 'of Physiology, ed. by Schäfer, 1898, S. 833, 836). Demgegenüber bezweifelt, wie es scheint, Rubner selbst, ob die Beweiskräftigkeit seiner Versuche nicht etwas einzuschränken sei. In seiner letzten Abhandlung (Der Energiewert der Kost des Menschen. Zeitschr. f. Biol., Jubelband 42, S. 261) hebt er vor allem den prak- tischen Wert solcher Versuche und Berechnungen hervor, welchen sie ohne Zweifel haben. Aber der theoretisch-wissenschaftliche Wert dieser Berechnungen, durch welche mit physikalisch-chemischer Exakt- heit die Geltung des Energieerhaltungsprinzips in der Biologie erwiesen werden sollte, kommt in Frage. Rubner besteht auf der Exaktheit seiner Berechnungen beim Hunde, für den Menschen aber bleibt es ihm vorläufig unbestimmt, ob die Berechnungen einen entsprechenden Grad von Genauigkeit besitzen. Es zeigte sich, dass „der Mensch als Kalori- meter gedacht, die Nahrungsmittel in wesentlich verschiedener Weise vom physikalischen Experiment zerlegt“. Die Einwände, welche gegen die Berechnung des Energiewechsels aus dem Stoffwechsel erhoben worden sind, berührt Rubner mit folgenden Worten: „Was nun die Berechnung des Kraftwechsels an- 316 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. langt, so begegnet man in der Litteratur mehrfach Anschauungen, die es als zweifelhaft hinstellen, ob man auf dem genannten Wege mehr als eine ganz rohe Annäherung der Energiebestimmung erzielen könne. Da aber solche Anschauungen meist ohne alle eingehende Kritik ge- geben werden, vielfach auch von Autoren herrühren, denen eine eigene experimentelle Erfahrung auf diesem Gebiete mangelt, so lässt sich zu- nächst der Wert oder Unwert solcher Behauptungen überhaupt nicht diskutieren“ (Z. f. Biol. Bd. 42, S. 264). Man könnte diese Worte auf die Beurteilung der Versuche Rub- ner’s, welche Kassowitz in seiner „Allgemeinen Biologie“ gegeben hat, beziehen. Jedoch habe ich selbst gelegentlich der unter meiner Leitung ausgeführten respirometrischen und kalorimetrischen Versuche an neugeborenen Kindern Anlass genommen, die Sicherheit solcher Berechnungen zu bezweifeln, als Rubner an diese Versuche die An- forderung stellte, sie sollten eine völlige Stoffwechselbilanz auf- stellen, wenn sie als Maßstab für den allgemeinen Verbrauch an Nahrungsstoffen dienen sollen (Ueber die Versuche Scherer’s Z. £. Biol. Bd.36, S.1; E. Babäk, Pflgr.s. Arch., Bd. 89, S.1..; Bulletin de l’Acad&emie de Prague 1901). Ich will also die von Rubner bisher vermisste eingehende Kritik hier geben. 7. Die Berechnung des Energiewechsels aus dem Stoffwechsel gründet sich auf eine Reihe unbewiesener, unbeweisbarer, teilweise sogar unwahrscheinlicher Voraussetzungen. Die erste und all- gemeinste Voraussetzung ist die, dass die einzige Quelle aller vom Tiere geleisteten Energie in der Zersetzung seiner Nahrungsstoffe zu suchen ist. Diese Voraussetzung erscheint durch die gelungenen energetischen Stoffwechselbilanzen als erwiesen und figuriert dann als erste Schlussfolgerung aus solchen Versuchen. Man kann diesen Satz in der allgemeinen Fassung R.Mayer’s wenigstens für Tiere als richtig anerkennen: alle vom Tiere aufgewendete Energie wird ihm in letzter Linie in der Form der chemischen Energie seiner Nahrungsstoffe zu- geführt. Zur Berechnung des Energiewechsels aus dem Stoffwechsel muss aber die viel engere und bestimmtere Voraussetzung gemacht werden, dass die vom Tiere abgegebene Energie unmittelbar aus der Zer- setzung seiner Nahrungsstoffe herrührt. Diese Voraussetzung einer direkten Verwendung der Nahrungsstoffe zu tierischen Energie- leistungen, welche seit Lavoisier als Grundlage energetischer Be- rechnungen angenommen wird, ist ziemlich unwahrscheinlich, ja sogar unphysiologisch; es hat namentlich Cl.Bernard dieser Voraussetzung gegenüber geltend gemacht, dass die Verwendung der Nahrungsstoffe im Tierkörper eine indirekte ist, so dass hier intermediäre Prozesse eingeschaltet sind. Rubner selbst sagt ja, dass in dem Wechsel der aus den Nahrungsstoffen austretenden Energie zu jener Form, die wir Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 317 als Wärme messen, das liegt, was man Leben nennt. Er meint aber, dass der Wandel der Kräfte von dem Momente des Entstehens bis zum definitiven Austritt als Wärme aus dem Organismus an den That- sachen nichts ändert. Die ursprüngliche Spannkraft kann als Lebens- bewegung sich äußern, sie kann die Zuckung der Muskelzelle, die elektrischen Strömungen erzeugen; endet die Bewegung in Wärme, so ist ihre Quantität der Spannkraft der ursprünglichen Kraftquelle ent- sprechend (Z. f. Biol. 30, 84). Das alles ist zweifelsohne richtig, wenn man von zeitlichen Ver- bältnissen ganz absieht; es ist unzweifelhaft so, wenn man den Orga- nismus als ein abgeschlossenes System betrachtet. Die Frage ist aber, ob sich dies alles auch so verhält, wenn man einen willkürlich ab- gegrenzten Zeitabschnitt aus dem Leben des Organismus in Betrach- tung zieht. Hier kann eben das, was zwischen dem Austritt der Energie aus den Nahrungsstoffen und der vom Körper abgegebenen Wärme liegt, solche zeitliche Verschiebungen verursachen, welche die Berechnungen illusorisch machen können. Um dennoch solche Be- rechnungen der Energieausgabe aus dem Stoffumsatze vornehmen zu können, abstrahiert man eben von dem, was dazwischen liegt, d. i. vom Leben selbst, und dann erscheint allerdings ein Organismus als wie ein Kalorimeter, in welchem der Stoffumsatz mit der Wärmeabgabe zeitlich zusammenfällt. Doch kann man jene möglichen Zeitverschiebungen in der Ver- wendung der aus den Nahrungsstoffen frei gemachten Energie auf die Weise zu eliminieren suchen, dass man möglichst lange dauernde Ver- suche anstellt. Wir wollen also annehmen, dass durch lange dauernde Versuche der gemachte Einwand behoben werden könnte, und wenden uns zu den nächstfolgenden Voraussetzungen der Berechnung des Energiewechsels aus dem Stoffwechsel. Zu dieser Berechnung ist es nötig, die im Tierkörper während des Versuches zersetzten Nahrungsstoffe qualitativ und quantitativ zu be- stimmen und ihre Verbrennungswärme einzurechnen. Nun findet Rubner selbst (Z. f. Biol. Bd. 42, 262), dass in der Gruppe der Ei- weißstoffe eine Vielheit differenter Substanzen von nicht unerheblichen Schwankungen der Wärmewerte vereinigt ist, dass das, was man schlechthin Fett nennt, nicht unerhebliche Differenzen im Verbrennungs- werte aufwies, und dass selbst die homogenere Gruppe der Kohlen- hydrate doch noch Differenzen von Bedeutung in sich schloss. Nicht nur die chemische Natur, auch die physikalischen Eigenschaften dieser Substanzen schienen großen Schwankungen zu unterliegen. Es müssen also für jede Art und Weise der Ernährung erst die richtigen Standardzahlen bestimmt werden, und wir wollen an- nehmen, dass es gelingen wird, diese Aufgabe zu lösen. Die funda- mentale Voraussetzung für die Zulässigkeit der Berechnung des Ge- 348 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. samtstoffwechsels wird stets sein müssen, sagt Rubner (Z. f. Biol. 30,86), dass einerseits die einzige Quelle der tierischen Wärme in der Zer- setzung der Stoffe liege und andererseits die jetzt geübte Methode der Feststellung des Stoffverbrauchs ein untrügliches Bild des wirklich Zersetzten gebe. Dazu genügt, nach Rubner, die Kenntnis des aus- geschiedenen Stickstoffs und Kohlenstoffs und der Relation zwischen Stickstoff und Kohlenstoff in dem zersetzten eiweißartigen Material (Z. f. B. 3,367). Sein Versuchsplan ging also dahin, unter genau be- kannten Bedingungen der Stoffzersetzung, die man einzig und allein aus der Stickstoff- und Kohlenstoffausscheidung entnehmen kann, genauestens die von einem Tiere erzeugte Wärme zu messen (].e. 30, 116). Das Schwergewicht aller von Rubner ausgeführten Untersuchungen ist, wie er sagt, darin zu suchen, dass zur nämlichen Zeit alle bio- logischen Faktoren erhoben wurden: die Stoffzersetzung und die Wärmebildung und Wasserverdampfung; und nicht zum Geringsten in dem Umstande, dass nicht Teilstücke des tierischen Stoffumsatzes, sondern alle für die Erkenntnis der Stofizersetzung notwendigen Werte festgestellt wurden (ibid. S. 117). Rubner macht die Voraussetzung, dass im Hungerzustande Eiweißstoffe und Fette des Tierkörpers selbst zersetzt werden, und bestimmt diese Zersetzung aus dem ausgeschiedenen Stickstoff und Kohlenstoff. Er lässt die Kohlenhydrate, welche auch im Hunger- zustande an dem Stoffwechsel beteiligt sind, unberücksichtigt. Rubner giebt zu, dass es unmöglich ist, zu entscheiden, wie viel von dem auf die N-freien Stoffe treffenden C auf Fett oder Kohlenhydrat zu rechnen wäre. Theoretisch möglich zu lösen wäre die Aufgabe, sagt er, wenn man die Menge des zersetzten Kohlenstoffs wüsste. Rubner unter- lässt es aber, den Sauerstoffverbrauch zu bestimmen und verzichtet auf die Feststellung des Anteils der Kohlenhydrate an der Stofizersetzung. Demnach hat Rubner nicht alle biologischen Faktoren erhoben und seine Erkenntnis der Stoffzersetzung ist lückenhaft. Er meint aber, dass diese Lücke ohne großen Fehler vernachlässigt werden kann, weil sich der kalorimetrische Versuch mit den Berechnungen voll- kommen deckt. Die Berechnungen Laulanies gründen sich nun gerade auf dieje- nigen Faktoren, welche Rubner vernachlässigt hat: auf der Verbrennung von Kohlenhydraten und auf dem Sauerstofiverbrauche; und diese Berechnungen decken sich auch vollkommen mit dem kalorimetrischen Versuche. Sollte man da nicht meinen, dass gerade die Faktoren Rubner’s, auf welche er seine Rechnungen gründet, ohne großen Fehler vernachlässigt werden könnten? Ich will jedoch diese Prin- zipienfragen nicht weiter ausführen und annehmen, dass thatsächlich aus dem ausgeschiedenen Stickstoff und Kohlenstoff die Stoffzersetzung ohne erheblichen Fehler bestimmt werden kann. Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i.d. Physiologie. 319 8. Alle diese Berechnungen gründen sich in erster Linie auf dem Atmungsgaswechsel; bei Rubner ist es die ausgeschiedene Kohlensäure, bei Laulanie der eingeatmete Sauerstoff, welche die für die Rech- nung wichtigsten Größen abgeben. Dabei wird die Voraussetzung gemacht, dass der Atmungswechsel in direkter Beziehung zu den Stoff- umwandlungen steht, durch welche Wärme frei wird. Nun sind aber die Beziehungen zwischen dem Atmungswechsel und der Wärmeproduktion ziemlich unbestimmt. Weder die Kohlen- säureausscheidung noch der Sauerstoffverbrauch zeigen ein bestimmtes Verhältnis zur Wärmeabgabe; man kann im allgemeinen ein Sinken und Steigen des Atmungsgasaustausches mit der Wärmeproduktion konstatieren, was zu vergleichenden Betrachtungen genügen kann, was aber zu exakten Berechnungen nicht hinreicht. Rosenthal (Biol. Centralbl. 1891, S. 492, 566; 1892, 468) hat eingehende Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Wärme- abgabe und Kohlensäureausscheidung angestellt und gezeigt, dass zwar zwischen beiden Größen bei ganz bestimmter Ernährung in gewissen Grenzen ein nicht streng paralleles Verhältnis sich zeigt, dass man aber aus der Kohlensäureausscheidung auf die Wärmeausgabe nicht schließen darf. Die Veränderungen des N und C im Harn, auf welche Rubner so viel Gewicht legt, sind viel zu gering, um einen sicheren Schluss darauf zu gestatten, wie viel von diesen Ausgaben auf die Zersetzung der einzelnen Substanzen zu rechnen sei. Die Berechnung der Wärmeausgaben aus den respiratorischen Ausscheidungen könnte nur dann möglich sein, wenn die oxydierte Substanz eine nahezu kon- stante Zusammensetzung, und zwar diejenige der Nahrung hätte. Dies könnte man vielleicht bei Tieren erreichen, welche durch mehrere Wochen mit gleichförmiger und ausreichender Nahrung gefüttert worden sind und sich demnach im vollkommenen Ernährungsgleichgewicht befinden. Diese Forderung bedeutet, dass man zu solchen Berechnungen aus dem Tiere ein konstantes chemisches Gebildemachen müsste, was es eigent- lich, d. h. physiologisch nicht ist. Die physiko-chemische Vorstellung, dass der Stoffwechsel in der direkten Verbrennung der Nahrungsstoffe be- steht, erschöpft eben die großartige Mannigfaltigkeit der Lebensvorgänge nicht. Es ist ja möglich, dass die Kohlensäurebildung im Tierkörper bei thermisch indifferenten, ja sogar bei endothermischen Stoffumwand- lungen erfolgen könnte. Man stelle sich z. B. vor, dass die Bildung von Fett aus Kohlenhydraten im Tierkörper unter Abspaltung von Kohlensäure und Wasser ohne gleichzeitige Sauerstoffaufnahme vor sich geht. Andererseits ist es möglich, dass im Tierkörper Wärme- entwicklung ohne Kohlensäure stattfinden kann. (Schluss folgt.) 320 Kükenthal, Leitfaden für das zoologische Praktikum. W. Kükenthal, Leitfaden für das zoologische Praktikum (Preis brosch. 6 Mk., Verlag von G. Fischer, Jena 1902) ist soeben in zweiter Autlage erschienen. Der Zweck des Buches, Lehrern und Studierenden einen zootomischen Arbeitsplan für ein Semester in wöchent- lich 4—6 Stunden zu entwerfen, ist unverändert geblieben; die Mannigfaltig- keit der herangezogenen Typen, von den Protozoen bis zu den Säugern, lässt nach wie vor für den Unterricht eine Auswahl zu, die sich im einzelnen den Mitteln und Traditionen der verschiedenen Institute leicht anpassen lässt. Die Mediziner werden die neuen Abbildungen der Proglottiden und Köpfe der drei im Darm des Menschen lebenden Bandwürmer willkommen heißen; die Nematoden sind mit Ascaris megalocephala und einigen knappen Notizen zur Untersuchung der Trichinen ebenfalls neu hinzugekommen. In den allgemeinen Uebersichten, die jedem speziellen Kurs vorangehen, sind mancherlei Kür- zungen vorgenommen worden, so dass der, Leitfaden trotz zahlreicher kleiner Ergänzungen im übrigen Text und trotz des Austausches bisher entlehnter Abbildungen gegen größere, dem praktischen Zweck besser dienende Original- zeichnungen, nur um etwas über einen Bogen stärker geworden ist (304 Seiten, 169 Text-Abbildungen). Im übrigen sei auf eine Besprechung der ersten Auf- lage in Bd. XIX (1899), S. 32 dieser Zeitschrift verwiesen. L. Schultze. [30] Berichtigung. Zu dem Referate über das Standfuß’sche Vererbungsexperiment mit einer Urticae-Aberration, welches Frl. Dr. v. Linden in Nr. 2, 1902, als Ent- gegnung auf das Referat von Herrn Dr. HugoFuchs über meinen Vererbungs- versuch mit Caja brachte, muss ich vorläufig folgendes bemerken: Das Referat über meine Arbeit erfolgte ohne mein Wissen und ohne dass ich den Herrn Referenten persönlich oder dem Namen nach kannte; auch blieb mir selbst das Referat, das am 15. September 1901 erschien, unbekannt, bis ich von an- derer Seite darauf aufmerksam gemacht wurde. Ich erhielt das Centralblatt erst am 3. Dezember 1901 durch den Buchhändler. Herr Dr. Fuchs scheint der Meinung gewesen zu sein, dass mein Bericht in der Allg. Zeitschr. f. Entom. abgeschlossen sei; in Wirklichkeit folgte aber, wenn auch erst 10 Monate später, noch eine lange Fortsetzung, die auch jetzt noch nicht zu Ende ist. Frl. v. Linden wird daraus ersehen haben, dass ich des Standfuß’schen Experimentes an geeigneter Stelle gebührend Erwähnung that; ein Ausschweigen darüber wäre denn doch zu einfältig gewesen. Uebrigens wäre der von Weismann angestellte Versuch mit P. phlaeas var, eleus noch vor dem Standfuß’schen zu nennen; denn er beweist an sich doch wohl ebensoviel wie dieser, wenn ihm Weismann auch nicht so viel Gewicht beilegte. Dass Standfuß mein ehemaliger Lehrer für Temperaturexperimente ge- wesen sein soll, was Frl. Dr. v. Linden offenbar auch nur vom Hörensagen weiß, glauben heute erfahrungsgemäß nur noch wenige. Es wird mir angenehm sein, wenn mit weiteren Referaten zugewartet wird, bis meine Arbeit ganz zu Ende geführt ist. [35] Dr. med. E. Fischer (Zürich). Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Üentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr.J. Rosenthal Prof. der Ehyselbps in Pe Vierundzwanzig Nummern bilden einen "Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen dureh alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXIL Band. 1. Juni 1902. Nr. 1. nee Be, a and the a of the germ-cells, — Mar es, Das Energie- prinzip "und die energetische Betrachtungsweise in der Physiologie (Schluss). Schaffer, Eine Sperrvorrichtung an den Zehen des Sperlings. Heredity and the epicycle of the germ-cells by J. Beard, D. Sec., University Leeturer in Comparative Embryology, Edinburgh. Owing mainly to the writings of Brooks, de Vries, O. Hert- wig, Nägeli, Herbert Spencer, and above all others, Galton and Weismann, the problems of heredity have oceupied a prominent position in the scientific diseussions of recent years. The progress of research into the life-history of the cell, the strue- ture and funetions of the nueleus, the phenomena of cell-division, more especially those of the „ripening“ of the „sexual products“, have naturally played important parts in these. Indeed, so much has this been the case, that H. F.Osborn might well say „the study of here- dity will ultimately centre around the structure and funetions of the germ-cells“, It is not my intention to attempt the task of writing a history of these discussions and theories: what is proposed is merely to indicate tbe broad and obvious bearings of eertain of my results, relating to the history of the germ-cells, on the general problem of heredity. In order to obtain a clear insight into the process or processes, by which in a wide sense germinal continuity, resulting in the phe- nomena of heredity, is brought to pass, it is a requisite postulate, that an uninterrupted and continuous panorama of the whole course of deve- lopment from one generation to the next should be seeured. Heredity must be dependent on some sort of germinal eontinuity ; whether of a special germ-plasm in Weismann’s sense, or a consequence of an uninterrupted sequence of germ- cells, or a result of an intracellular pangenesis, or something else. XXI. 21 322 Beard, Heredity and the epicycle of the germ-cells. In this way it comes to be a problem of embryology and deve- lopment, and as such it falls within the province of the embryologist. This being so, is it not remarkable, that the chain of germinal con- tinuity should hitherto not have been completely grasped in any single case? From my researches on the germ-cells!) it is clear, that hitherto no complete survey of the development from one generation to the next has really been made. One phenomenon in the Metazoan life- eyele has entirely eluded the observation of embryologists; or, if they have noted and recorded it, they have failed to realise its full signi- fieance. This is the formation of the primary germ-cells with the epoch, at which these appear upon the scene. Their very early origin — before any trace of an embryo had been laid down — was long ago recorded in certain cases, among others by Weismann, Bütschli, Grobben, Ritter, Metschnikoff and OÖ. Hertwig. But these very instances only serve to strengthen my contention; for in them the few primary germ-cells — from 2 to 8 in number — were apparently so insignificant, that their formation at a particular time seemed to be an ineident of no moment; and its dis- covery, like many other important finds, was passed over; because no estimate could be set upon its value. Long ago Nussbaum concluded, that the germ-cells must diffe- rentiate themselves at a very early period, before there was any trace of histological differentiation in the embryonie foundation. But Weis- mann?), carrying with him practically all other zoologists?), has deci- dedly rejected this view; „because, as a matter of fact, the sexual cells of all plants and those of most animals do not separate them- selves from the beginning from the somatie cells“. And this is just the question at issue. To allow the statement to pass unchallenged might be taken as a tacit admission of its accuracy, although every page of the present writing asserts its incorreetness. The passage was written more than fifteen years ago, much has hap- pened in the meantime, and it may no longer represent Weismann’s views. But the objection is recorded in the literature of embryology, and it requires refutation. The argument contains two fallacies, and these rob it of all force. Taking these in {he order of their occurrence, the first is, that the sexual cells of all plants do not separate themselves from the beginning 4) J. Beard, The Morphological Continuity of the germ-cells in Raja batis.. Anat. Anz. V. 18, p. 465—485, 1900. 2) A. Weismann, Die Kontinuität des Keimplasmas, Jena 1885, p. 44. 3) Thus, for example, Oskar Hertwig (Zeit- und Streitfragen der Biologie, Heft I, p. 76, 1894). Here it is written „Zweitens gehören die Ge- schlechtszellen ebensogut zum Körper eines Organismus, von welchem sie sogar oft den beträchtlichsten Teil, wie z. B. bei vielen Parasiten, ausmachen, wie jedes andere Gewebe etc.“ Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. 393 from the somatie cells. Probably all the higher plants, the Metaphyta, are here referred to; for in many of the lower plants all the cells might be regarded as potentially reproductive, or „sexual“. In the higher plants the „sexual cells“ do appear at a very early period in the sexual generation. The higher one ascends the earlier is this epoch; for in the flowering plants, for instance, the life-span of the sexual generation, the gametophyte, is exceedingly short, and it is concerned solely with the differentiation of, and the provision for, the sexual cells. These latter certainly do not appear as such in the asexual generation or sporophyte, nor is it fo be expected, that they should. Were they to do so, the sporophyte would lose this character, and become a gametophyte. Moreover, even in the asexual generation, the sporophyte, the morphological continuity is unbroken, for in this the future germ-cells are represented by their direet ancestors, the one or more cells forming the apex'). What Nussbaum rightly insisted upon was, the early appearance of the germ-cells in the sexual generation of animals, i. e., in the em- 1) Compare Noll’s eloquent testimony in the following: „The con- tinuity ofthe embryonic substance. — The vital capacity of the cells of the funetioning permanent tissue is always limited in time, mostly, indeed, very closely so. Without limit, on the contrary, and never finding a natural close the vital power of the embryonic substance is preserved. This it is, which forms the growing points of the perennial plants, and from this, as Sachs first demonstrated, the growing points of the sexual progeny are di- rectly derived through the substance of the germ-cells. This embryonic sub- stance does not age, it produces new passing individuals, but it is permanently preserved in their progeny: it is always productive, always growing young and inereasing. Thousands upon thousands of generations, which have arisen in the course of millions of years, were its products, but it lives on in the youngest generations with the power of giving origin to coming millions. The indi- vidual organism is transient, but its embryonie substance, which produces the mortal tissues, preserves itself imperishable, everlasting, and constant. Regarded from this standpoint, the differences in the duration of life between short and long-lived plants, between annual herbs and the thousands of years old giants of the plant-race appear in another light. Out of the embryonie substance of that lime tree of Neustadt every year new leaves and buds form, but these remain in connection with the dying remains of structures of earlier years. In the annual plant, on the contrary, the embryonice substance sepa- rates itself every year in the embryo from the mortal remains, and forming new branches, leaves, and roots, becomes a completely new individual. At the basis of the old and well-known dietum of Harvey, omne vivum ex ovo’ there thus already lay the continuity of the embryonie substance. This is, at the same time, in eternal youth and organie immortality the substance of the unicellular organisms, which reprodueing by fission, are used up in one another without residue.“ F.Noll, in Strasburger’s Lehrbuch der Botanik, zweite Auflage, 1895, p- 208—209. 21° 024 3eard, Heredity and the epicycle of the germ-cells. bryo, before this had undergone histological differentiation. In urging this Nussbaum really took up a very moderate attitude. To refute his argument from the botanical side, it is necessary to compare the conditions in the corresponding generations in the two kingdoms, that is, to place the embryo and the prothallus together, not the embryo and the sporophyte. It should also be pointed out, that even now the early history of the germ-cells of „most animals“ has as yet been very inadequately investigated. Where it has been traced back to the farthest possible point, there a very early origin has been invariably made out. This is now so in Moina, Cyclops, Ascaris, Strongylus, Cecidomyia, Chironomus, Sagitta, Phalangium, Lernaea, Mierometrus, Scorpions (Brauer), several insects(Heymons), some sponges (Maas), and Cephalopoda (V. Faussek), and, lastly, in Pristiurus (Rab|), Seyllium, and Raja. Hitherto the apparent phenomena in the Vertebrata stood in the way. Here even a segmental origin of the „sexual cells“ had been recorded in relatively late stages. This is, however, only one of the ever recurring instances of the earliest observed appearance ofa thing being taken to represent its first origin. This is only permissible in embryological research, when an earlier originisabsolutely out of question. From a fair acquaintance with the embryological literature treating of the germ-cells and their origin the writer must !maintain, that there is really no reliable evidence, pointing to the very late appearauce of the germ-cells in any single case. On the other hand, there is a steadily accumulating body of strong testimony in favour of their carly separation off in many different divisions of the animal kingdom. Even the case of the Hydroid polypes cannot be cited in disproof, for Weismann’s own great researches reveal not so much the origin of the germ-cells in these as their remarkable migrations. In saying the foregoing in face of the known facts concerning Moina, the Dipterous insects, ete, Weismann defined not only his own standpoint towards the question, but also that of most other zoologists. The exception meets with no favour, until it ceases to be such, and adapts itself to the rule. But „die Natur geht ihren Gang, und was uns als Ausnahme erscheint, ist in der Regel“. And this is so, simply because what we regard as the rule is often false, the real law being that, with which the apparent exception conforms. While only from 2to 8 primary germ-cells were found very early in the development of this or the other form; while, as in the higher animals, one could study the early development without seeing any germ-cells — their „segmental origin“ even being witnessed at later periods — the good old rule, in plain language, the superstition, that the offspring was formed by the union of a small portion of each of its parents, seemed to be the only logical conclusion. Thus is hap- Beard, Heredity and the epieycele of the germ-cells. 325 pened, that so great an investigator and thinker as Darwin could set up his provisional hypothesis of pangenesis. When in one of the higher animals, the skate, the formation ofa whole battalion of germ-cells is found to take place prior to the ap- pearance of any trace of the embryo, a change comes over the scene: the apparent law and its exceptions exchange positions, with the con- sequent disappearance of the former. In the life-eyele of the skate (including in this all that happens from the union of egg and sperm, until new eggs and sperms are formed) the origin of the germ-cells fills in so large a space as to overshadow completely everything else. For this reason the formation of an embryo may be described as a mere ineident in the life-eyele. Two primary germ-cells and five hundred and twelve are very different numbers. If the full significance of this should not be ap- parent, a glance at the diagrammatie representation of the life-eyele of the skate may serve to make it so. The diagram is, however, in- correct! In the portion showing the origin of the primary germ-cells these have only been drawn to six divisions, giving 64. To exactly embrace the full significance of the discovery the drawing ought to include three further divisions, yielding 512 germ-cells at P.G. C. That is to say, to aceurately represent the conditions in embryo no. 454, for example, the diagram ought to be at P. G. C. eight times as wide as it is at present! When I see in this diagram some of the results of twelve years of work, the reader will, perhaps, pardon me, if I linger to say something more concerning it and its origin. Some parts of it will be familiar to every embryologist, thanks to the work of Boveri, O0. Hertwig, and others: the other and unfamiliar portions are my own. Following out the full history of the diagram I am carried back more than twelve years. As long ago as 1883 my researches on lar- val structures in fishes commenced. Their results in course of time carried the investigator in the direetion of the recognition of an anti- thetie alternation of generations. Since that standpoint was attained, no facts adverse to it have been encountered. The doctrine has never been seriously attacked: it has been simply ignored. It has not as yet won many adherents: the truth never does at first. For myself I have been content to follow out the inquiry, and from time to time, as op- portunity offered, to glean a few more facts, supporting this theory of development. During part of this period a watch has been kept for something equivalent to the formation of spore-mother-cells in the higher plants or Metaphyta, but in vain. Hitherto, as at length elearly re- cognised, the search had not been made in the right place. The investigator is often the ereature of eireumstances. These in 326 Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. the present case brought about an investigation of the early history of the germ-cells without associating with this inquiry any ideas con- cerning spore-mother-cell formation or alternation of generations. Only when the work was practically ready for publication, and Pie. 1% A S o VAYY 30 NOOZONOHd ZUNn DÖGENESIS. 1 # Mwst Mm U I ne SPERMATOGENESIS.E.G. PALUDINA. when a proper survey of the results had been obtained, by drawing them up in diagrammatie form, as shown in the table, the full force of the discovery became apparent. The formation of the primary germ-cells in the skate — and in all probability in every other Meta- zoon — corresponds broadly to the genesis of spore-mother-cells on the asexual generation of a plant, the sporophyte. Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. 327 With this recognition it becomes possible to compare together, so as to show their essential similarity, the phenomena of the life-eycles of the Metazoa and Metaphyta. In the same way the discovery of the formation of the primary germ-cells and of the epoch of their coming-into-being throw new and unexpected light on the course and nature of heredity. These are the chief results of my work on the germ-cells: and, though other and doubtless important finds have been made, the latter sink into insignificance, when placed beside the former. Certain parts of the diagram have been adopted, as already sta- ted, from the writings of other embryologists. This, however, has not been done without important modifications, for which the writer is alone responsible. Originally towards the close of last year (1900) Boveri’s dia- grams of oögenesis and spermatogenesis formed and filled in portions of the life-eyele. Doubts however, arose as to their completeness, and the working out of the probable course of oögenesis in the skate finally resulted in the modifications here depieted. The first part of the figure, from the zygote Z, formed by the union of egg and sperm, to the primitive germ-cell U.K.Z. (the „Urkeimzelle“ of German au- thors) is from Boveris and Weismann’s figures. In their diagrams, however, from Z to U.K. Z. marks what Weismann terms the „ger- minal track“ (Keimbahn), and the products to the left of it are as- sumed to be cells of the embryo. As in the skate there is no possi- bility of the existence ofany part ofthe embryo prior to the formation of U.K.Z., it is out of question, that the said cells can be part of this. Itisan assumption, that they are parts of the embryo; for in As- caris megalocephala, for instance, the form to which Boveri’s identical diagram refers, it has never been established, that direetly from the cleavage of the fertilised egg the sexual generation or embryo takes its origin. The later history is here unknown. Indeed, it may be safely predicted, that, when the facts become known, of the two pri- mary germ-cells of Ascaris, formed by division of the cell U.K. Z,, the one will be seen to form the embryo or sexual generation, while the other will furnish its sexual produets!). 1) In Ascaris megalocephala it is at least possible, that the primitive germ-cell is separated off at the fourth cleavage instead of at the fifth. The latter cleavage would then divide the primitive germ-cell into two primary germ-cells, of which the one would go to form the embryo and the other would represent the „sexual produets“. If this be the correct interpretation of the conditions in Ascaris — a point upon which I do not venture to express an opinion — the subsequent division of the cell, regarded by Boveri and others as the primitive germ-cell, would correspond to the formation of secondary germ- cells in Raja, that is, the parent cell would be a primary germ-cell. Regarding tke life-history of such a Nematode as Ascaris megalocephala, 325 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. It will doubtless be urged, that on my part also itisan assumption, that the cells to the left of the line Z — U. K.Z. give origin to the larva. In a sense this is true, but the one assumption is prima facie as good as the other; and on the further evidences to be adduced it is a good deal better. (Schluss folgt.) Das Energieprinzip und die energetische Betrachtungsweise in der Physiologie. Von Dr. F. Mares, Professor der Physiologie an der böhmischen Universität zu Prag. (Schluss.) Fast alle im Tierkörper frei werdende Wärme entwickelt sich bei der Muskelthätigkeit. Man nimmt an, dass dabei Verbrennungen namentlich der Kohlenhydrate im Muskel stattfinden. Seitdem Her- mann und namentlich Pflüger gezeigt haben, dass die Muskelthätig- keit vom gleichzeitigen Sauerstoffverbrauch unabhängig ist, stellt man sich auch vor, dass es sich dabei um exothermale Stoffumwandlungen mit Kohlensäureabspaltung handelt. So wird also die Kohlensäure- bildung als direkter Ausdruck des Stoffumsatzes bei der Muskelthätig- keit angenommen. Nun zeigen aber die Untersuchungen von Fletcher (The Journal of Physiol. vol. 23, S. 79), dass die Thätigkeit eines aus- geschnittenen Froschmuskels von keiner Vermehrung der Kohlensäure- ausscheidung begleitet ist, wenn Muskelstarre sich nicht einmischt. Es zeigt sich zwar während der Muskelthätigkeit eine bedeutende Ver- mehrung der ausgeatmeten Kohlensäure, auch zeigt das aus dem thätigen Muskel kommende Blut vermehrten Kohlensäuregehalt, welche Vermehrung aber ausblejbt, wenn bloß Blutserum durch den Muskel geleitet wird. Schon Minot glaubte dieser Beobachtung entnehmen zu müssen, dass die Kohlensäure zu den im thätigen Muskel entstehen- den Stoffwechselprodukten nicht gehört. Nun zeigt Fleteher, dass im ausgeschnittenen Muskel keine Kohlensäurevermehrung während der Thätigkeit stattfindet. Es ist also eine offene Frage, wo und wie die Kohlensäure entsteht, welche im Blute und den Atmungsausschei- dungen während der Muskelthätigkeit konstant vermehrt erscheint. Daraus ist nun so viel zu entnehmen, dass die Muskelthätigkeit an sich mit der Kohlensäurebildung nicht unmittelbar verbunden zu what is written above concerning the part unknown needs no justification. 3ut if it be imagined possible, that here directly from the fertilised egg the sexual form as it oceurs in the horse can arise, a reference to the account of Maupas’ results of investigations into the life-histories of a number of Nematoda will dissolve the illusion. (Vide: Arch, Zool. Exper. V. 8, p. 463—624, 11 pl., 1900.) Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 329 sein braucht, und dass somit auch die Wärmebildung bei dieser Thätig- keit nicht notwendig mit Kohlensäurebildung verbunden ist. Demnach wäre die Konlensäureausscheidung kein sicheres Maß der gleichzeitigen Kohlensäurebildung, und diese wäre in keinem unmittelbaren Zu- sammenhang mit der Wärmebildung. Somit wäre die ausgeatmete Kohlensäure, welche die Hauptmasse des ausgeschiedenen Kohlenstoffs bildet, ein sehr unsicheres Datum für die Berechnung der im Tier- körper entwickelten Wärme. In den Arbeiten der Schule Pflüger’s wurde beim Vergleichen der Wärmeproduktion mit dem Atmungsgasaustausche mehr Gewicht auf den Sauerstoffverbrauch als auf die Kohlensäureausscheidung ge- legt. Eine Vergleiehung ist aber noch keine Berechnung. Der Sauerstofiverbrauch wird nun von Laulanie der Berechnung der Wärmeproduktion im Tierkörper zu Grunde gelegt, wobei der respira- torische Quotient zur Bestimmung der thermogenen Wirksamkeit des verbrauchten Sauerstoffs dient. Die Bestimmung der ausgeatmeten Kohlensäure hat bier also eine untergeordnete Bedeutung. Es hat schon R. Mayer den Versuchen von Dulong und Despretz gegen- über den Einwand erhoben, dass der Sauerstoffverbrauch mit der Wärmeentwicklung nicht parallel zu gehen braucht; auch Cl. Bernard hat darauf hingewiesen, dass der eingeatmete Sauerstoff nieht direkt zu Verbrennungen verwendet wird; nach Hermann und Pflüger ist die Wärme entwickelnde Muskelthätigkeit von gleichzeitiger Sauerstoff- aufnahme in weiten Grenzen unabhängig. Es kann also Wärme- produktion ohne gleichzeitigen Sauerstoffverbrauch, und umgekehrt, erböhter Sauerstoffverbrauch ohne gleichzeitige Steigerung der Wärme- produktion stattfinden. Im allgemeinen steigt und sinkt wohl der Atmungsaustausch mit der Wärmeproduktion, so dass beide Größen im großen und ganzen verglichen werden können; aber das Verhältnis zwischen ihnen ist kein streng paralleles, niebt nur in quantitativer, sondern auch in zeit- licher Hinsicht, so dass eine Berechnung der Wärmeproduktion auf Grund des Atmungsgaswechsels nur einen komparativen Wert haben kann, zu exakten thermochemischen Gleichungen aber unzulänglich ist. 9. Die bisher angeführten Voraussetzungen zur Berechnung des Energiewechsels aus dem Stoffwechsel sind als den Stoffwechsel allein betreffend für das eigentliche energetische Ziel von untergeordneter Bedeutung. Wir wollen sie also gelten lassen und über die Gründe, welche für ihre Richtigkeit angeführt werden könnten, nicht streiten. Denn dieser Streit wäre belanglos gegenüber der Grundvoraus- setzung solcher Berechnungen, welche energetischer Natur ist. Rubner hält es für eine notwendige Folge des Gesetzes von der Er- haltung der Kraft, dass sich die Berechnung der von einem Organis- mus frei gemachten Spannkräfte aus den zersetzten Nahrungsstoffen 350 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. mit der direkten kalorimetrischen Methode decke (Z. f. B. 3, 365). Kraft und Stoff können sich auf physiologischem Gebiete nicht anders verhalten wie in der unbelebten Natur. Wenn sich die Nahrungsstoffe im Tierkörper spalten, so können sie keine größere oder geringere Wärmemenge liefern, als wenn sie den gleichen Prozess außerhalb des Körpers vollenden. Wenn ein Stoff in einem Kalorimeter und im Tier- körper in gleiche Produkte zerfällt, so muss die produzierte Wärme- menge dieselbe sein (Z. f. B. 30, 81). Das alles ist im allgemeinen zweifelsohne richtig, aber unter der Voraussetzung, dass ein lebender Organismus sich ebenso verhält wie ein physikalisches Kalorimeter; d. h., dass der Stoffwechsel mit dem Energiewechsel im Organismus zeitlich vollkommen zusammenfällt. Nun ist aber diese Voraussetzung sehr zweifelhaft, ja geradezu anti- physiologisch. In dem Wechsel der aus den Nahrungsstoffen aus- tretenden Energie bis zur Form der aus dem Körper austretenden Wärme liegt ja das, was man Leben nennt; und das gerade wird hier eliminiert. Wenn man nur auf die Ausgangs- und Endstoffe, welche den lebenden Körper passieren, Gewicht legt, den Körper selbst aber außer Acht lässt, so kann man sich denken, dass man ein physikalisches Kalorimeter vor sich hat; durch dieses eigenmächtige Verkennen des eigentlichen physiologischen Problemes wird man aber dennoch aus der Physiologie keine Physik machen können. Vom physikalischen Gesichtspunkte aus betrachtet erscheint der lebende Körper vielmehr einer Kraftmaschine ähnlich als einem Kalori- meter. Man kann ihn als ein System betrachten, in welchem zeitlich unbestimmte Energiepotentiale autoregulatorisch bestimmten Bedürf- nissen entsprechend ausgelöst werden. Denken wir uns eine in un- unterbrochenem Gange begriffene Kraftmaschine, welche die durch Verbrennung von Kohle frei werdende Energie zunächst in ihr eigenes Arbeitspotential, z. B. in elastische Spannung, vollkommen umwandeln würde; aus diesem eigenen Energiepotentiale würde die Maschine Ar- beit und Wärme leisten, und zwar autoregulatorisch bestimmten Be- dürfnissen gemäß, also zeitlich unbestimmt. In dem Maße, als das Energiepotential dieser Maschine verbraucht werden würde, würde durch weitere Verbrennung von Kohle seine Erneuerung erfolgen, so dass die Maschine in ununterbrochenem Gange erhalten werden könnte. Eine beliebige mit irgend einem Energieakkumulator arbeitende Ma- schine würde sich so verhalten. Ein Organismus wird durch das Bild einer solchen Maschine viel zu- treffender charakterisiert als durch ein Kalorimeter. Das Muskelsystem repräsentiert das eigentliche Energiepotential des tierischen Organismus; die vom Tiere geleistete Arbeit und ziemlich alle von ihm entwickelte Wärme entsteht durch die Muskelthätigkeit; diese Thätigkeit ist aber kein einfacher chemischer Verbrennungsprozess, sondern eine Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 331 physiologische Verrichtung, welche durch das Nervensystem ent- sprechend den Bedürfnissen des Organismus geregelt wird. Von welcher Art das im Muskelsystem aufgespeicherte Energiepotential sein möchte, ist unbekannt, und es giebt zur Zeit auch kein Maß, seine Größe zu bestimmen. Man nimmt gewöhnlich an, dass das Muskelpotential chemischer Natur sei, und dass es durch Zersetzung der den Muskel zusammen- setzenden Stoffe ausgelöst werde. Namentlich sieht man in der Ver- brennung des im Muskel während der Ruhe aufgespeicherten Glykogens die eigentliche Energiequelle der Muskelthätigkeit, weil dasselbe in- folge dieser Thätigkeit aus dem Muskel verschwindet. Diese Ansichten sind jedoch nur indirekt erschlossen, und sind sogar mit einigen That- sachen nicht in Einklang zu bringen. Die Annahme einer Stoff- umwandlung als Quelle der Muskelenergie ist ziemlich problematisch; die Vermehrung des alkoholischen Extrakts aus dem thätig gewesenen Muskel nach Helmholtz, die Bildung der Milchsäure nach du Bois- Reymond sind ziemlich unbestimmte Anzeichen einer solchen Stoff- umwandlung. Durch die Untersuchungen von Fleteher ist auch die Kohlensäurebildung bei der Muskelthätigkeit zweifelhaft geworden. Und wenn sie auch stattfinden mag, so kann ihre Bedeutung auch eine andere sein als die eines bloßen Auswurfstoffes, welcher bei der Energie entwickelnden Stoffumsetzung entsteht. Die in meinem Labora- torium von Dr. Lhotäk v. Lhota ausgeführten Untersuchungen über die Einwirkung der Kohlensäure auf die Muskelfunktion (Arch. f. Physiol. 1902) haben gezeigt, dass die Kohlensäure die Auslösung des Muskelpotentials hemmt, so dass sie seine völlige Erschöpfung ver- hindert und die Arbeitsfähigkeit des Muskels konserviert. Demnach könnte man die Kohlensäurebildung bei der Muskelthätigkeit als eine zweckmäßige Sekretion auffassen, welche mit dem Prozesse der Energie- auslösung im Muskel nicht direkt zusammenzuhängen braucht, da sie denselben moderiert. Eine Umwandlung der die Hauptmasse des Muskels ausmachenden Proteinstoffe findet bei der Muskelthätigkeit nicht in dem Maße statt, dass man sie als Quelle der Muskelenergie ansprechen könnte. Es bleibt also nur die Annahme der Verbrennung des Glykogens übrig; nun ist aber die Muskelthätigkeit direkt an Sauerstoffverbrauch nicht gebunden, und sie ist auch noch dann möglich, wenn alles Glykogen aus dem Muskel verschwunden ist. Der Sauerstoff- und Glykogen- verbrauch im Muskel kann auch anders erklärt werden als dureh die Annahme, dass die Verbrennung des Glykogens die direkte Quelle der Muskelarbeit und Wärme ist. Es ist also kein unanfechtbarer Nachweis erbracht, dass die Energiequelle der Muskelthätigkeit in einem Stoffumsatze liegt; keine Thatsache zwingt dazu, anzunehmen, dass das Muskelpotential che- 352 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. mischer Natur ist. Diese Annahme empfiehlt sich auch aus Erklärungs- gründen nicht, weil die chemische Energie die am wenigsten bekannte Energieform ist, und ihre direkte Umwandlung in die mechanische Energie der Muskelthätigkeit ein ungelöstes Problem vorstellen würde. Damit soll nun nicht gesagt sein, dass das Muskelpotential thatsächlich nicht chemischer Natur ist, sondern nur so viel, dass dies eine An- nahme ist, neben welcher auch andere Annahmen Platz haben können. Es handelt sich nur um die Freiheit, sich vorstellen zu dürfen, dass das Muskelpotential nicht chemischer Natur ist, so dass es ohne Stoff- umwandlung ausgelöst werden kann. Es könnte die Form der mechanisch-elastischen, oder der kapillar-elektrischen, der osmotischen oder der Oberflächenenergie u. s. w. haben. Keine von den bis jetzt bekannten physikalisch-chemischen Energie- formen ist geeignet, das Muskelpotential vollkommen zu erklären; seine Charakteristik ist durchaus physiologischer Natur. Dieses Potential wird durch den Nervenreiz ausgelöst, und zwar im Verhältnisse der Quantität und vielleicht auch Qualität des Reizes; die ausgelöste Energie wird zugleich durch den Zustand des Muskels selbst, z. B. Spannung, mit bestimmt. Gifte, z. B. Veratrin, verändern die Aus- lösungsweise des Potentials; die Kohlensäure ändert den zeitlichen Verlauf der Auslösung, hemmt auch dieselbe, so dass sie die völlige Erschöpfung des Potentials verhindert. In der Ermüdung des Muskels zeigen sich ähnliche Aenderungen; die Auslösung wird gehemmt und vermindert. Die Erholung des Muskels stellt das Potential wieder her und erleichtert seine Auslösung; und dazu ist vor allem Ruhe, Zeit nötig. Uebung vergrößert das Muskelpotential und erleichtert zweck- mäßig seine Auslösung. Dies alles verschwindet mit dem Tode des Muskels. Wir können das Muskelpotential als eine eigentümliche Energie- form bezeichnen und sie physiologische Energie nennen. Die Mannigfaltigkeit der Energieformen ist durch die bis jetzt bekannten wahrscheinlich noch nicht erschöpft; es werden ja immer neue Formen entdeckt, z. B. Röntgen-, Beequerelstrahlen. Es wäre ein Vorurteil, wollte man die physiologische Energieform gewaltsam den bekannten physikalischen Energieformen unterordnen. Die derzeitigen physi- kalischen und chemischen Kenntnisse sind noch in vielem anderen ganz unzulänglich, um physiologische Verrichtungen zu erklären. Dadurch soll aber dem entgegengesetzten Vorurteil kein Vorschub geleistet werden, dass die physiologischen Verrichtungen sich niemals auf physi- kalisch-echemische Vorgänge werden zurückführen lassen. Die physiologische Energieform ist dem allgemeinen Energieprinzip untergeordnet; es darf mit diesem Begriff die alte Vorstellung der Lebenskraft nicht verwechselt werden. Das physiologische Muskel- potential wird durch die Muskelthätigkeit, Arbeit- und Wärmebildung, Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 333 im äquivalenten Verhältnisse vermindert; durch Erholung wird es wiederhergestellt. Nun kann man sich vorstellen, dass zu dieser Wiederherstellung des physiologischen Potentials die chemische Energie der Nahrungsstoffe aufgewendet wird, ebenso wie das Arbeitspotential des Akkumulators einer Kraftmaschine durch Verbrennung von Kohle erhalten wird. Die Nahrungsstoffe repräsentieren ein Vorratspotential, wozu sich gerade die chemische Energie durch ihre leichte Aufbewahr- barkeit und große Konzentration eignet. Diese Nahrungsstoffe selbst sind tote Stoffe, auch wenn sie sich innerhalb lebender Zellen befinden, d. h., ihre chemische Energie lässt sich durch Reize in verhältnis- mäßiger Weise nicht auslösen. Um physiologisch wirksam zu sein, müssen sie lebendig werden, sie müssen in die lebendige Substanz selbst aufgenommen oder assimiliert werden. Energetisch gesagt: die chemische Energie muss in die physiologische Form umgewandelt werden. Nun könnte eben diese Umwandlung mit der Stoffzersetzung ver- bunden sein, gerade so, wie die Umwandlung der chemischen Energie in das Arbeitspotential einer Kraftmaschine mit der Verbrennung der Kohle verbunden ist. Nach dieser Vorstellung würde der Stoffumsatz mit dem assimilatorischen oder anenergischen Prozesse ver- bunden sein, während die Auslösung des physiologischen Potentials oder der katenergische Prozess ohne Stoffumsatz vor sich gehen könnte. Auf diese Weise würde es begreiflich sein, dass die kat- energische Thätigkeit vom Sauerstoffverbrauch und vom Zufluss von Nahrungsstoffen in ziemlich weiten Grenzen unabhängig ist und dass thatsächlich dabei keine erhebliche Stoffzersetzung unzweifelhaft er- wiesen ist. Demgegenüber würde der anenergische Prozess mit Sauerstoff- verbrauch und Stoffzersetzung (Verschwinden des Glykogens) verbunden sein, wie ja thatsächlich die Erholung des Muskels nebst Ruhezeit Sauerstoff- und Nährstoffzufuhr braucht. Vielleicht könnte auch die Kohlensäurebildung dem anenergischen Prozesse zugeschrieben werden, da dieselbe, wie erwähnt, nur in mit Blutumlauf versehenen Muskeln infolge deren Thätigkeit vermehrt erscheint; auf diese Weise ließe sich auch der den katenergischen Prozess hemmende Einfluss der Kohlen- säure erklären. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Vorstellung der Wirklich- keit entspricht, sondern nur soviel, dass durch sie manche Thatsachen in Zusammenhang gebracht werden könnten; und weiter, dass die Vorstellung, als ob die katenergische Muskelthätigkeit unmittelbar mit einem Stoffumsatze zusammenhinge, nicht notwendig und ausschließ- lich durch Thatsachen geboten ist. Es scheint vielmehr, dass gerade diese Vorstellung sich nur auf das Aeußerliehe stützt und die intimen physiologischen Erscheinungen außer Acht lässt. Man nimmt an, dass 334 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. die vom Organismus geleistete Energie unmittelbar aus der Verbrennung der Nahrungsstoffe herrührt, weil ein Tier Sauerstoff und Nahrungs- stoffe einnimmt, und diese Einnahmen seine einzige Energiequelle dar- stellen. Würden dem Tiere auch andere vom Stoffe unabhängige Energiequellen offen sein, so würde sich vielleicht jenes chemische Vorurteil in der Physiologie nicht so tief eingewurzelt haben. Davon zeugt die in der Physiologie bisher wenig gewürdigte energetische Studie des Botanikers Pfeffer. Nach Pfeffer wird für verschie- dene physiologisch wichtige Verrichtungen die Betriebskraft nicht un- mittelbar durch chemischen Umsatz geliefert, sondern es treten andere als chemische Energiepotentiale als nächste Quelle der Betriebskraft in den Vordergrund, wie z. B. osmotische, Oberflächen-, Ausscheidungs- energie. So wird ein bestimmter chemischer Umsatz als Mittel und Zweck für Schaffung anderweitiger leistungsfähiger Energiepotentiale verständlich. Die immer wiederkehrende Tendenz, die in der Atmung disponibel werdende Energie direkt als Quelle aller Betriebskraft an- zusprechen, ist ein Zeugnis dafür, dass eine klarere Auffassung der obwaltenden Verhältnisse nicht Gemeingut geworden ist. Die sum- marische Bezugnahme auf die Atmung ist in kausaler Hinsicht ganz unbefriedigend, so lange jeder Aufschluss darüber fehlt, wie die Ueber- führung der disponibel werdenden chemischen Energie in mechanische Leistungen vermittelt wird. Das kausale Verständnis fordert in jedem Falle die Reduktion auf die nächsten Faktoren, und in diesem Sinne entspringt eben nicht alle Betriebskraft im Organismus aus chemischer Energie. Der Aufbau und die Erhaltung des Organismus sind ohne Zusammenwirken von Stofti- und Kraftwechsel unmöglich und alle Vor- gänge sind in irgend einer, wenn auch noch so indirekten Weise mit dem chemischen Umsatz verkettet. Aber es fehlt die genügende Ein- sicht in die Mechanik einzelner Funktionen, um das Verhältnis zwischen Stoff- und Kraftwechsel in jeder Hinsicht präzisieren zu können. Für ein Tier wird man wohl andere Energiequellen als die Zer- setzung seiner Nahrungsstoffe nicht annehmen wollen, obzwar auch hier ein wenigstens formales „bis auf weiteres“ nicht schaden würde, um ein Vorurteil zu vermeiden (Eibebrütung!). In letzter Linie ent- springt wohl alle vom Tiere geleistete Energie aus der chemischen Energie der Nahrungsstoffe; aber der Verlauf der Linie ist ziemlich in- direkt und ihre Krümmungen so gut wie unbekannt. Ebenso wie die che- mische Energie der Nahrungsstoffe aus der strahlenden Energie der Sonne entspringt, dieser Ursprung aber durch die organische Thätigkeit der grünen Pflanze vermittelt wird, ebenso kann diese chemische Energie nur durch organische Thätigkeit in Wärme und Arbeit des Tierkörpers umgewandelt werden. Das Verhältnis zwischen dem Stoffumsatze und den Energieleistungen ist hier ein sehr verwickelt vermitteltes, so dass darin beträchtliche zeitliche Verschiebungen vorkommen können. Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologle. 355 Zwischen der aus den Nahrungsstoffen austretenden Energie und der- vom Tiere geleisteten Arbeit und Wärme liegt ja eben das Leben, oder energetisch ausgedrückt, das zeitlich unbestimmte physiologische Potential, gerade so, wie in einer Kraftmaschine zwischen der durch Verbrennung von Kohle frei gewordenen Energie und der von der Maschine geleisteten Arbeit das zeitlich unbestimmte Arbeitspotential ihres Akkumulators liegt. 10. Betrachten wir von diesem Gesichtspunkte aus die Berechnungen des Energiewechsels aus dem Stoffwechsel. Nehmen wir an, ein Maschineningenieur wollte die energetische Bilanz einer im ununter- brochenen Gange begrifienen und mittelst eines Energieakkumulators arbeitenden Kraftmaschine in der Weise vornehmen, dass er aus der in einem willkürlich abgegrenzten Zeitabschnitt ausgeschiedenen Kohlen- säure die Menge der zu gleicher Zeit in der Maschine verbrannten Kohle bestimmen würde, daraus die der Maschine zugeführte Energie berechnete, um diese mit der von der Maschine zu gleicher Zeit ge- leisteten Energie zu vergleichen. Er wird die gesuchte Gleichung finden, unter der Bedingung, dass zu gleicher Zeit das Energiepotential der Maschine sich nicht geändert hat, oder anders gesagt, dass der energetische Zustand des Systems am Anfang und am Ende des Ver- suches gleich geblieben ist. Würde es nun aber dem Ingenieur un- möglich sein, den energetischen Zustand seines Systems zu bestimmen und zu kontrollieren, so würde er wahrscheinlich seine Bilanz auf diese Weise nicht vornehmen. In dieser Lage befindet sich ein Physiologe, welcher die energetische Bilanz des Tierkörpers auf Grund des Stoffwechsels berechnen will. In seiner Rechnung fehlt der Hauptfaktor, die lebendige Maschine selbst mit ihrem physiologischen Potential, welches er weder bestimmen noch kontrollieren kann. Will er seine Rechnung dennoch machen, so kann er es nur unter der unbewiesenen und unbeweisbaren Voraus- setzung, dass sich der energetische Zustand des Tierkörpers während des Versuches nicht geändert hat. Man begnügt sich gewöhnlich, dieser Voraussetzung in der Weise zu entsprechen, dass man die Forderung aufstellt, die Temperatur des Tierkörpers müsse am Anfang und am Ende des Versuches gleich sein. Durch die Temperatur, bezw. durch die im Tierkörper enthaltene freie Wärme ist aber sein energetischer Zustand nur ganz äußerlich bestimmt. Man hat bisher kein Mittel zur Bestimmung des energetischen Zustandes des lebenden Tierkörpers; man kann denselben am Anfang und am Ende des Versuches nicht verbrennen, um sein Energiepotential als Verbrennungswärme zu messen. Nebstdem wäre es möglich, dass gerade das physiologische, d. i. das durch einen Reiz auslösbare Energiepotential bei der Verbrennung gar nicht als Verbrennungs- wärme zum Vorschein kommen müsste; denn in einem materiellen 096 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. ‚Systeme sind Energiepotentiale denkbar, welche bei der Verbrennung des Systems nicht als Verbrennungswärme frei werden. Das physiologische Energiepotential wird namentlich durch das Muskelsystemrepräsentiert. Man könnte also der Voraussetzung des Gleich- gewichts im energetischen Zustande des Tierkörpers in der Weise zu ent- sprechen suchen, dass man die Muskelthätigkeit während des Versuches möglichst einschränkte. Diese Forderung wird auch bei den Energie- und Stoffwechselbilanzversuchen gestellt, sie ist aber bei einem Tiere nicht leicht zu erfüllen. Und wenn sie auch vollkommen erfüllt werden könnte, so würde vielleicht die vollkommene Muskelruhe das ener- getische Gleichgewicht wieder im entgegengesetzten Sinne stören, in- dem dabei die anenergetischen Prozesse Uebergewicht erhalten könnten. Man hat, um bei den Energie- und Stoffwechselversuchen das Muskel- system vollständig auszuschließen, zur Kurarisierung des Tieres ge- griffen (Z. f. B. Bd. 42, S. 309); dadurch aber wird nicht das Muskel- system selbst, sondern gerade der regulierende Einfluss des Nerven- systems auf die Muskelthätigkeit ausgeschlossen. Die Ausschließung des Muskelsystems aus dem Energiewechsel würde eine fast voll- ständige Aufhebung dieses Energiewechsels bedeuten. Wie alle organischen Verrichtungen, so ist auch die Thätigkeit des Muskelsystems durch zweckmäßige Selbstregulierung ausgezeichnet, so dass die Funktionsfähigkeit des Systems in gewissen Grenzen kon- stant erhalten wird. In dem Maße, als der Muskel durch die kat- energische Thätigkeit Arbeit und Wärme leistet, wird sein physio- logisches Potential durch die anenergische Thätigkeit wieder erneuert. Diese beiden Thätigkeiten bedingen sich gegenseitig, so dass ihr Zu- sammenwirken einen stationären Zustand hervorbringt. Das gegen- seitige Verhältnis zwischen der anenergischen und katenergischen Thätigkeit ist vom stofflichen Gesichtspunkte aus unter der Bezeich- nung des Assimilierungs- und Dissimilierungsprozesses von Claude Bernard nachdrücklich hervorgehoben worden, und es wurde nament- lich von Hering zu einer Theorie ausgearbeitet, welche die physio- logischen Erscheinungen der Muskelthätigkeit, insbesondere aber der Sinnesthätigkeit ausgezeichnet zu erklären im stande ist. Bei allen durch Selbstregulierung unterhaltenen stationären Zu- ständen entstehen aber periodische Schwankungen, um einen mittleren Zustand, weil die Regulierung immer zeitlich etwas verschoben ist, etwas nachhinkt. Diese zeitliche Verschiebung findet auch in dem Verhältnisse zwischen der katenergischen und anenergischen Thätig- keit statt, indem die letztere sich um so mehr verspätet, als die erstere intensiver und andauernder gewesen ist. Diese zeitliche Verschiebung offenbart sich namentlich in den Erscheinungen der Erholung des Muskels nach intensiver Arbeitsleistung, welche vor allem Zeit braucht. Die Perioden im stationären Zustande des Energiewechsels offen- Mares, Enerpieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i.d. Physiologie. 337 baren sich beim Organismus äußerlich durch das Wachen und Schlafen und finden ihren energetischen Ausdruck namentlich in der täglichen periodischen Schwankung der Körpertemperatur. Nebstdem können aber auch kürzere Perioden vorkommen, je nachdem der Organismus gleichmäßig thätig ist, oder aber größere und intensivere Arbeits- leistungen vornimmt, welche ihn dann zum längeren Ausruhen zwingen. Die energetische Betrachtungsweise in der Physiologie kann von der Erforschung der Ermüdungs- und Erholungserscheinungen namentlich des Muskelsystems eine Aufklärung und Sicherung ihrer Grundlagen erwarten. 11. Die energetischen Bilanzen, in welchen der Energiewechsel aus dem Stoffwechsel berechnet wird, sind nach den bis jetzt veröffent- lichten Versuchen als gelungen zu betrachten: die aus dem Stoffwechsel berechnete Wärme stimmt mit der vom Tiere thatsächlich abgegebenen vollkommen überein. Daraus wird aber geschlossen, dass sich ein Organismus ebenso wie ein physikalisches Kalorimeter verhält, so dass man den Tierkörper selbst als Kalorimeter zur Bestimmung der Ver- brennungswärme der Nahrungsstoffe benützen könnte (Z. f. Biol. Bd. 30, S. 140). Namentlich wird aber darauf Nachdruck gelegt, dass durch diese Versuche die Geltung des Gesetzes der Energieerhaltung im Organismus erwiesen ist. Diese Schlussfolgerungen sind meiner Meinung nach verkehrt. Denn sie gründen sich auf die unbewiesene Voraussetzung, dass im Verlaufe des Versuches der energetische Zustand des Tierkörpers gleich geblieben ist. Diese Voraussetzung ist aber viel zweifelhafter als die Geltung des Energieprinzips in der Physiologie. Man sollte also dieses Prinzip voraussetzen und aus der Uebereinstimmung der aus dem Stoffwechsel berechneten Wärme mit der vom Tiere that- sächlich abgegebenen schließen, dass der energetische Zustand des Tierkörpers sich im Verlaufe des Versuches nicht ge- ändert hat. Diese Schlussfolgerung hätte nicht nur eine logisch bessere Berechtigung, sondern auch eine physiologisch größere Bedeu- tung, weil man auf diese Weise die Bedingungen feststellen könnte, unter welchen der energetische Zustand des Tierkörpers auf gleichem Niveau erhalten, bezw. erhöht werden kann. Es würde auch niemand in dem Falle, wenn die Berechnungen nicht übereinstimmen würden, schließen, dass das Energieprinzip in der Physiologie keine Gültigkeit habe, sondern dass sich der energetische Zustand des Tierkörpers während des Versuches geändert hat. Das Bestreben nach dem Nachweis der Geltung des Energieerhaltungs- prinzips in der Physiologie entsprang dem Bedürfnisse, den Begriff der Lebenskraft als Quelle der tierischen Arbeit und Wärme zu über- winden. Zu diesem Behufe mussten Voraussetzungen gemacht werden, welche den Tierkörper als ein physikalisch-chemisches System dar- stellten, welches seinen Zustand im Verlaufe des Versuchs nicht än- XXI. 22 3538 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. dert. Diese Bedeutung haben die Forderungen eines Stoffwechsel- und Energiegleichgewichts bei solchen Versuchen, um den Tierkörper in der willkürlich abgegrenzten Versuchszeit als ein stofflich und ener- getisch vollkommenes System ansehen zu können. Denn das Energie- erhaltungsprinzip gilt nur für energetisch vollständige oder abge- schlossene Systeme. Nun ist aber der alte Begriff der Lebenskraft als Quelle der tierischen Arbeit und Wärme durch die allgemeinen Betrachtungen R. Mayer’s schon längst überwunden, und seine Wiederaufnahme ist ohne Verletzung des Gesetzes des logischen Grundes unmöglich ge- worden. Es wird auch dieser Begriff in jenem Sinne heute von nie- mand angenommen. Wenn man im Sinne des Neovitalismus von einer Lebenskraft spricht, so hat dieser Begriff nicht die Bedeutung einer Kraft als Energiequelle, sondern die Bedeutung einer richtenden oder gesetzgebenden Kraft, wie sie R. Mayer selbst im Sinne hatte, als er die Lebenserscheinungen mit einer wundervollen Musik verglich, bei welcher nurin dem Zusammenwirken aller Instrumente die Harmonie liegt: in der Harmonie nur liegt das Leben. Diesem Begriff ist aber vom physikalisch-chemischen oder energetischen Gesichtspunkte aus gar nicht beizukommen, weil er von einer ganz anderen Betrachtungsweise der Lebenserscheinungen ausgeht. Es ist also unzeitgemäß, sich um Beweise der Gültigkeit des Energieprinzips in der Physiologie zu bemühen; es wäre auch verlorene Mühe, weil ein solcher Beweis auf dem bisher eingeschlagenen Wege gar nicht zu erbringen ist. Der Beweis müsste an einem energetisch vollkommenen oder abgeschlossenen Systeme versucht werden. Ein Tierkörper in einem willkürlich abgegrenzten Zeitabschnitt seines Lebens ist aber kein solches System; man kann seinen energetischen Zustand vor und nach dem Versuche nicht bestimmen, man kann, wie Rosenthal sagt, keine Inventur aufnehmen. Der beweisende Ver- such müsste sich über das ganze Leben eines Individuums erstrecken, mit der Eifurchung beginnen und mit der Verbrennung der Leiche enden. Wäre ein solcher Versuch möglich, so könnte er zeigen, dass die Energiewandlung durch einen Organismus nach dem Aequi- valenzgesetze erfolgt. Und auch ein solcher Versuch wäre doch noch unvollständig, weil dabei das Energiepotential unbestimmt bliebe, mit welchem die Eifurchung beginnt, und es bliebe zweifelhaft, ob das ge- samte Energiepotential des Tierkörpers durch seine Verbrennung als Wärme frei wird. 12. Dagegen wäre es an der Zeit, jene Voraussetzungen einer Prüfung zu unterziehen, welche gemacht werden mussten, als es sich in der Physiologie um die Ueberwindung des Begriffes der Lebenskraft durch das Energieprinzip handelte. Diese Voraussetzungen stellen den Tierkörper dar als ein physikalisch-chemisches Objekt, als ein energetisch Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 339 und stofflich konstantes Gebilde. Da er aber kein solches ist, so wird die Forderung aufgestellt, aus ihm ein solches zu machen, d. i., den Tierkörper in Stoff- und Energiewechselgleichgewicht zu bringen. Diese Voraussetzungen und Forderungen sind offenbar antiphysio- logisch, sie rühren aus der Zeit her, als man die Physiologie in Physik und Chemie ohne Rest aufzulösen suchte, um dem Gespenst der Lebenskraft zu entgehen. Da nun dieses Gespenst gebannt ist, so kann die Physiologie wieder als selbständige Wissenschaft auftreten und antiphysiologische Voraussetzungen und Forderungen aus ihrem eigenen Gebiete verbannen. Die am meisten charakteristische Eigenschaft, durch welche sich ein Organismus bei objektiver Betrachtungsweise von den physikalisch- chemischen Körpern unterscheidet, ist seine stetige Veränderlichkeit und Anpassung. J.Gaule hebt bei Gelegenheit seiner Untersuchungen über die Veränderlichkeit des Froschorganismus hervor (Pflgr.’s Arch. Bd. 87, S. 473), dass die Physiologie von den Veränderungen des Organismus wenig Notiz genommen hat. Das rührt vielleicht daher, dass sie den Begriff des Normalen eingeführt hat. Aber giebt es nicht mehrere, verschiedene normale Organismen derselben Art? Das Be- streben, aus der Physiologie eine exakte Wissenschaft zu machen, scheint dem zu widerstreben; so gut wie der Physiker mit den Eigen- schaften bestimmter Aggregatzustände, der Chemiker mit denen be- stimmter Substanzen rechnet, so gut will auch der Physiologe ein ge- setzmäßiges Verhalten seiner Lebewesen konstatieren. Nun ist aber ein Organismus in stetiger Veränderung begriffen; und doch gehen alle davon aus, dass ein Organismus ein bestimmtes Ganzes sei, das be- stimmte Reaktionen erwarten lasse, gerade als ob wir es bei einem Tiere zu thun hätten mit einem physikalischen oder chemischen Körper oder einer Maschine. „Das Leben, sagt Gaule, ist nicht ein Vorgang, bei dem der Organismus ruhig bleibt, fortwährend wird in ihm eingerissen und wieder aufgebaut. Nur sind es morphologische Ge- bilde, die immer zum Opfer fallen und wieder erscheinen. Und darin besteht die Reform, die ich vorschlagen möchte. Geben sie das Bild, als sei der Organismus eine Maschine, welche die Umwandlung der Kräfte vollzieht, auf. Stellen sie sich das Leben vor als einen chemischen Prozess, der sich die Gefäße, in denen er sich vollzieht, selbst bildet.“ Der Reformgedanke Gaule’s verdient volle Anerkennung, insofern er verlangt, dass diejenigen antiphysiologischen Voraussetzungen, welche die Physiologie gemacht hat, um möglichst bald die Exaktheit der Physik und Chemie zu erreichen, aufgegeben werden sollen, weil ein Organismus kein konstantes physikalisch-chemisches Gebilde ist, sondern gerade durch seine stetige Veränderung und Anpassung cha- rakterisiert ist. Durch jene antiphysiologischen Voraussetzungen hat die Physiologie nichts mehr als eine Pseudoexaktheit De und 540 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. zwar um den Preis ihrer Stellung als selbständige Wissenschaft. Ja, jene Voraussetzungen sind zu förmlichen Vorurteilen geworden, welche den Fortschritt der Physiologie durch Vorspiegelung falscher Probleme hemmen. Keine Wissenschaft kann völlig voraussetzungslos vor- gehen, jede muss aber vorurteilslos sein und ihre Voraussetzungen sofort aufgeben oder korrigieren, wenn sie sich als unnötig, hinderlich, oder gar verfehlt gezeigt haben. Wenn aber Gaule an dem Bilde eines Organismus als Maschine Anstoß nimmt aus dem Grunde, weil die Organe einer Maschine un- veränderlich sind, während die Organe eines Tierkörpers in einer stetigen Veränderung begriffen sind, und wenn er verlangt, man solle dieses Bild aufgeben und dasLeben sich als einen chemischen Prozess vorstellen, der sich die Gefäße, in denen er sich vollzieht, selbst bildet, so meine ich demgegenüber, dass jedes Bild zulässig ist, welches zur Darstellung des Zusammenhanges der Erscheinungen nützlich ist, unter der Bedingung allerdings, dass das Bild nicht für die Wirklichkeit selbst gehalten werde. Das Bild eines Organismus als Maschine ist sehr nützlich zur Veranschaulichung des Energiewechsels und der zweckmälßigen Selbstregulierung seiner Verriehtungen; es wird dieses Bild auch von niemand für den Ausdruck der Wirklichkeit gehalten werden, weil anderweitige wesentliche Unterschiede zwischen einem Organismus und einer Maschine augenfällig sind. Demgegenüber scheint mir die Vorstellung des Lebens als eines chemischen Prozesses, der sich seine Gefäße selbst bildet, nicht viel Anschauliches zu enthalten. 13. Die chemische Betrachtungsweise ist in der Physiologie nicht neu, im Gegenteil, sie ist zu einem eingewurzelten Vorurteil geworden, welches die Physiologie viel mehr beeinträchtigt als die energetische oder Maschinenbetrachtungsweise. Die chemische Betrachtungsweise spiegelt der Physiologie falsche Probleme vor, indem man glaubt, dass man das organische Geschehen einmal auf einen chemischen Prozess wird zurückführen können. Nun haben sich aber die bisherigen Be- griffe und Kenntnisse der Chemie für die Erklärung der physiologischen Erscheinungen als unzulänglich erwiesen, und so macht sich jetzt eine Auffassung geltend, als „sei die Chemie und Physik überhaupt außer stande, zur Lösung des Rätsels vom Leben etwas Entscheidendes bei- zutragen“, wie Ostwald (Naturw. Rundschau 1901, S.546) sagt, indem er demgegenüber auf die möglichen Fortschritte der Chemie, namentlich der Enzyme hinweist und ihre Wichtigkeit für die Physiologie hervorhebt. Die Enzymwirkungen sind für die Physiologie keine neue Ent- deekung, und es ist auch keine neue Erkenntnis, dass durch die- selben das Rätsel vom Leben nicht gelöst werden kann. Die großen Hoffnungen, welche in dieser Beziehung in neuerer Zeit erweckt werden, rühren daher, dass die Chemiker den Enzymwirkungen größere Aufmerksamkeit widmen und ihre Analogie mit chemischen Katalysen Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 341 hervorheben. Namentlich aber hat dazu die Entdeckung der Zymase der alkoholischen Gärung beigetragen, durch welche ein bisher für vital gehaltener Prozess sich als ein enzymatischer gezeigthat. Und so wird in gläubigen Gemütern die Hoffnung rege, dass der Lebens- prozess überhaupt vielleicht einmal als ein enzymatischer wird er- klärt werden können. Hofmeister (Naturw. Rundschau 1901, S. 581) hat es versucht, ein Bild der zukünftigen Biochemie der Enzyme zu entwerfen, welches in der Annahme so vieler spezifischer Enzyme besteht, als es in einer Zelle verschiedene chemische Reaktionen giebt. Die Darstellung der gesamten im Protoplasma sich abspielenden Vorgänge durch eine zu- sammenhängende Kette chemischer und physikalischer Formeln zu geben, sagt Hofmeister, ist die mühsame Aufgabe der Zukunft. Aber schon heute darf man sagen, dass die Betrachtung der Zelle als einer mit chemischen und physikalischen Mitteln arbeitenden Ma- schine nirgends zu Problemen führt, welche die Annahme anderer als bekannter Kräfte unvermeidlich erscheinen ließen, und dass, soweit abzusehen, hier für jene Resignation, die sich einmal in einem „Ignora- bimus“, das andere Mal in vitalistischen Schlussfolgerungen äußert, kein Anlass vorliegt. Das Gespenst der Lebenskraft scheint noch immer die Ruhe wissen- schaftlicher Träume zu stören, und der bewährte Zauberspruch, dass im Leben keine anderen als die bekannten Kräfte wirken, wird noch immer wirkungsvoll dagegen gesprochen. Nun sind aber auch die Enzyme so ziemlich unbekannte Kräfte; es sind auch keine bekannten Stoffe; bekannt sind nur Wirkungen, exothermale Spaltungsprozesse, deren unbekannte Ursachen Enzyme genannt werden. Es ist die Frage, ob die energetische Betrachtungsweise diesen Zusammenhang nicht besser aufklären würde, als die stofflich-chemische. Oppenheimer (Die Fermente und ihre Wirkungen, Leipzig 1900) definiert den Be- griff „Ferment“ als das materielle Substrat einer eigenartigen Energie- form, die von lebenden Zellen erzeugt wird, und welche im stande ist, die Auslösung potentieller Energie chemischer Stoffe zu bewirken. Was nun die Lösung des Rätsels vom Leben durch die Erforschung der Enzyme anbelangt, so ist hier zu bedenken, dass die Enzyme Pro- dukte der Zellenthätigkeit sind, also das Leben voraussetzen und ihm dienstbar sind. Die lebenden Zellen machen und beherrschen be- stimmte Prozesse, wozu sie sich eigenartiger Agentien, der Enzyme, bedienen; das sind aber gerade nur die exothermalen Spaltungsprozesse. Die synthetischen endothermalen Aufbauprozesse dagegen sind die Prärogative der lebenden Substanz selbst und werden von derselben direkt verrichtet. Cl.Bernard bezeichnete diese schöpferischen orga- nischen Aufbauprozesse als das quod propriumvitae, und betrachtete die Prozesse der organischen Zerstörung nicht als direkte Oxydationen, 342 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. sondern als Fermentationen. Die Enzymtheorie der organischen Spaltungsprozesse ist also gar nicht neu, ebenso wie die Erkenntnis, dass durch dieselbe nicht das Leben selbst erklärt werden kann. Es wird vielleicht in der Zukunft gelingen, die chemische Natur und Wirkungsweise der Enzyme aufzuklären und dieselben den che- mischen Katalysatoren anzureihen; ja es kann möglicherweise auch gelingen, Enzyme künstlich herzustellen und die spezifischen organischen Spaltungsprozesse nachzuahmen. Aber eine Wissenschaft, welche ihre Hoffnungen auf zukünftige Kenntnisse stellt, dokumentiert sich dadurch als Glaube. Vielleicht wird die Zukunft solche Hoffnungen gar nicht erfüllen, vielleicht werden ihr solche Aufgaben, welche ihr unsere Un- wissenheit zu lösen auferlegt, als falsch gestellte Fragen erscheinen, deren Lösung vielmehr Erkenntnis als Kenntnisse erfordert hätte. Das Rätsel vom Leben wird durch keine Wissenschaft gelöst werden, weil es ein metaphysisches, alle menschliche Erfahrung über- steigendes Rätsel ist. Die Aufgabe der Wissenschaft besteht nicht darin, das Wesen des Lebens aufzuklären, oder überhaupt die wahre Wirklichkeit aufzudecken, sondern darin, die Objekte und Gescheh- nisse menschlicher Erfahrung gesetzmäßig zu ordnen. Die Lebens- erscheinungen bilden unter anderen Naturerscheinungen eine durch eigentümliche Gesetzmäßigkeiten wohl charakterisierte Gruppe von Objekten und Geschehnissen, und die Aufgabe der Physiologie ist es, diese Gesetzmäßigkeiten aufzustellen, nicht aber das Wesen der Lebens- erscheinungen zu erforschen. Das Bestreben, die Lebenserscheinungen auf physikalisch-chemisches Geschehen zurückzuführen, die Physiologie in Physik und Chemie aufzulösen, zielt dahin, nachzuweisen, dass das biologische Geschehen im Grunde identisch ist mit dem physiko-che- mischen Geschehen. Dieses Ziel ist metaphysisch und sein Verfolgen muss die Wissenschaft auf metaphysische Irrwege führen. 14. Die Mamnigfaltigkeit der Lebenserscheinungen ist bedeutend größer als die der anderen Naturerscheinungen. Zur gesetzmäßigen Ordnung der Lebenserscheinungen bedarf die Physiologie mehrerer Gesichtspunkte und Betrachtungsweisen, als deren in der Physik und Chemie üblich und zureichend sind. In erster Linie nimmt die Physiologie den Gesichtspunkt der Physik und Chemie ein und betrachtet die Organismen als bloße Naturobjekte oder Körper, deren Veränderungen ihren Bedingungen nach festgestellt und gesetzmäßig geordnet werden sollen. Von diesem Gesichtspunkte aus ergiebt sich der kausale Zusammenhang der Lebens- erscheinungen; eine mechanisch-kausale oder physikalisch-chemische Theorie der Lebenserscheinungen ist die Frucht dieser rein objektiven Betrachtungsweise. Es ist zweifellos, dass durch die rein objektive Betrachtungsweise ein großer Teil der physiologischen Aufgabe gelöst werden kann, ja Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 343 es ist zuzugeben, dass gewisse Gebiete der Physiologie keine andere Betrachtungsweise zulassen als die rein objektive. Ein Physiologe kann zu seinen Untersuchungen ein solches Gebiet wählen, wo außer dem rein objektiven kein anderer Gesichtspunkt anzuwenden ist. Nun wird aber leicht eine solche Abstraktion von anderen möglichen Ge- sichtspunkten als deren Negation aufgefasst, und die rein objektive Betrachtungsweise als die wissenschaftlich allein zulässige erklärt, durch welche die ganze Aufgabe der Physiologie vollständig gelöst werden kann. Diese Meinung führt nun allzu leicht dazu, dass man die rein objektive Betrachtungsweise für die rein objektive Existenzweise der Organismen hält und in der physikalisch-che- mischen Theorie der Lebenserscheinungen ihr eigentliches Wesen, die „objektive Wahrheit“ erblickt. Die Lebenserscheinungen zeigen Gesetzmäßigkeiten, welche durch die mechanisch-kausale Formel allein nicht ausgedrückt werden können. Die zweckmäßige Selbstregulierung physiologischer Verrichtungen ist durch das rein kausale Verhältnis des Erfolgens nur einseitig erklärt; denn dieses Erfolgen geschieht in einer ganz bestimmten Richtung, welche zur Erhaltung des Organismus hinzielt. Hier ist der teleo- logische Gesichtspunkt unumgänglich, und er wird unwillkürlich auch von denjenigen eingenommen, welche ihn aus dem Grunde verwerfen, dass er in der Physik und Chemie unzulässig, weil unnötig ist, obzwar in der Technologie und im Maschinenwesen der teleologische Gesichts- punkt üblich, ja in erster Linie maßgebend ist. Man wollte diesen Ge- sichtspunkt als irreführend und unwissenschaftlich aus der Biologie aus- schließen, in der Meinung, dass die rein kausale Erklärung der physio- logischen Verrichtungen, wenn sie einmal gegeben werden könnte, vollkommen ausreichend wäre und dass die teleologische Betrachtungs- weise nur unsere Unwissenheit in Betreff der kausalen Instrumentation der physiologischen Verrichtungen anthropomorphistisch verschleiere. Man stellte die kausale Betrachtungsweise in Widerspruch zu der teleologischen, als wenn die eine die andere ausschließen würde. Schon Lotze hatte gezeigt, dass beide Betrachtungsweisen koordiniert sind, indem sie sich gar nicht widersprechen, sondern einander gegen- seitig ergänzen; ihr gegenseitiges Verhältnis ist kein aut-aut, son- dern ein et-et. Die Organismen sind zunächst Objekte des beobachtenden Physio- logen, der ihre Veränderungen gesetzmäßig nach kausalen und teleo- logischen Gesichtspunkten zu ordnen hat. Nebstdem aber können die Organismen auch etwas für sich selbst sein, worauf schon die teleo- logische Gesetzmäßigkeit ihres Verhaltens hinweist. Der beobachtende Physiologe, welcher ja selbst ein lebender Organismus ist, kann seine Aufmerksamkeit auf diejenigen Lebenserscheinungen richten, welche er selbst unmittelbar erlebt und welche in ihm allein sich vollziehen. 344 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. Dadureh wird der psychologische Gesichtspunkt gewonnen. In neuerer Zeit macht sich in der Physiologie eine Richtung geltend, welche die vollständige Verbannung des psychologischen Gesichtspunktes aus der Physiologie verlangt. Die Physiologie soll danach die Lehre von den körperlichen Lebenserscheinungen sein, durch welche Definition alles Psychische aus dem Gebiete der Physiologie ausgeschlossen wird. Das Arbeitsgebiet der Physiologie solle nur soweit reichen, als es sich um objektiv an den Organismen wahrnehmbare Erscheinungen handelt. Die objektive Physiologie solle alle subjektiven Elemente aus ihrem Gebiete verbannen. Alle psychischen Dinge müssten der Physiologie fern und der Psychologie überlassen bleiben. Eine reinliche Scheidung von Physiologie und Psychologie müsse für die Zukunft unbedingt an- gestrebt werden (Verworn, Z. f. allg. Physiol. Einleit.). Es ist zweifelsohne, dass eine reinliche Scheidung zwischen der rein objektiven und der psychologischen Betrachtungsweise in der Physiologie dringend notwendig ist. Das soll aber nicht Aus- scheidung dieser und ausschließliche Anwendung der anderen be- deuten. Eine solche Definition oder vielmehr Grenzeneinengung auf die rein objektive Physiologie kann sich ein Physiologe oder eine physiologische Zeitschrift auferlegen, die Physiologie aber nicht. Es ist richtig, dass die psychologische Betrachtungsweise irreführend und verwirrend werden kann, wenn sie auf Gebieten angewendet wird, wo durch dieselbe gar nichts gewonnen, sondern eher alles verworren werden kann. Es wäre ein Missbrauch der psychologischen Betrach- tungsweise, wenn man das Seelenleben der Protisten, die Entwicklung des psychischen Lebens im Protistenreich, die Molekularpsychologie und ähnliches dadurch erforschen wollte. Es wäre unangemessen von Sinnesorganen, Empfindungen oder gar von Gefühlen der Pflanzen zu sprechen. In solchen Gebieten ist die rein objektive Betrachtungs- weise und auch eine rein objektive Nomenklatur unbedingt anzustreben. Das bedeutet aber nicht, dass die psychologische Betrachtungs- weise aus der Physiologie überhaupt verbannt werden muss; es soll nicht einmal das bedeuten, dass es bei Protisten und Pflanzen über- haupt keine psychischen Erscheinungen giebt. Es handelt sich um die reinliche Scheidung der physiologischen Betrachtungsweisen und die Absrenzung jener Gebiete, wo ihre Anwendung erforderlich und not- wendig, weil nützlich ist. Es ist nicht einmal möglich, alle psychischen Dinge aus dem Ge- biete der Physiologie zu verbannen und der Psychologie aufzubürden; diese würde die meisten an die Physiologie zurückbefördern, alle jene nämlich, wo es sich um die Feststellung der körperlichen Bedingungen dieser psychischen Erscheinungen handelt. Diese Feststellung erfordert eine psychologisch-subjektive und eine physikalisch-objektive Betrach- tungsweise, wie sie thatsächlich nebeneinander und sich gegenseitig Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 345 ergänzend in der Sinnesphysiologie angewendet werden. E.H. Weber, Purkyüe, Helmholtz, Hering, Goltz werden wohl niemals zu den reinen Psychologen gezählt werden, sie bleiben eine Zierde der Physiologie. Damit haben wir die in der Physiologie möglichen, üblichen und nützlichen Betrachtungsweisen noch nicht erschöpft. Ein physiologischer Beobachter erlebt bei dieser Thätigkeit Mannigfaltiges; neben den Em- pfindungen als Objekten erlebt er Neugier, Erwartung, Zweifel, Ge- wissheit, Lust — Unlust; er strengt seine Aufmerksamkeit an, schließt, wählt, entscheidet sich, handelt. Dies alles sind wirklich Lebens- erscheinungen, ja man könnte meinen, dass gerade in diesen Erleb- nissen das Leben selbst bestehe, und nicht in den Empfindungen — Objekten. Man könnte diese Betrachtungsweise die eigentlich vita- listische nennen. Nun ist esFrage, ob dieser spezifisch vitalistische, rein subjektive, d. i. auf das Subjekt selbst gerichtete Gesichtspunkt aus der Physiologie auszuschließen und der Psychologie allein zuge- wiesen werden solle, ja man könnte fragen, ob nicht ein seleher Ge- sichtspunkt vielleicht vollständig zu negieren sei. Wir lassen diese Fragen beiseite und wollen einfach zusehen, ob dieser vitalistische Gesichtspunkt thatsächlich in der Physiologie üblich und nützlich ist. Das ist er in der That; Lust- und Unlust-Gefühle und wählende Thätigkeiten werden den geringsten Lebewesen zugesprochen; die am meisten charakteristischen Begriffe der Physiologie sind gerade von diesem vitalistischen Gesichtspunkte aus gebildet: Thätigkeit, Aktivität; ja sogar die Hauptbegriffe der Naturwissenschaft überhaupt haben diesen Ursprung: Kraft, Energie. Alle genannten Gesichtspunkte und Betrachtungsweisen sind in der Physiologie üblich und nützlich; sie ergänzen sich gegenseitig zu einer Gesamtübersicht der großen Mannigfaltigkeit der Lebenserschei- nungen. Es ist unmöglich, die ganze Aufgabe der Physiologie von einem einzigen Gesichtspunkte aus unter strenger Ausschließung aller anderen zu lösen. Ja die ausschließliche Anwendung einer einzigen Betrachtungsweise, z. B. der rein objektiven, würde ein so verzerrtes Bild des Zusammenhanges der Lebenserscheinungen entwerfen, dass es einem wissenschaftlich unverdorbenen Menschen lächerlich erscheinen müsste. Man muss aber deutlich erkannt haben, dass es sich hier um Ge- sichtspunkte und Betrachtungsweisen des Beobachters handelt, nicht aber um Existenzweisen der wahren Wirklichkeit, wie sie an sich sein möchte. Ist man sich darüber nicht klar, so kann man leicht die Betrachtungsweise mit der Existenzweise verwechseln; so wurde namentlich die rein objektive Betrachtungsweise für die „objektive“, das ist an sich wahre Existenzweise eines Organismus angesehen, und die physikalisch-chemische oder kausal-mechanische Theorie der Lebens- erscheinungen für die „objektiv“ wahre Erkenntnis des eigentlichen 346 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. Wesens des Lebens gehalten. Da es nun nur eine wahre Wirklichkeit geben kann, so wurde der mechanisch-materialistische Wahn unver- meidlich; oder es mussten zwei grundverschiedene Wirklichkeiten, die rein objektive und die rein subjektive, angenommen werden, welche im Organismus unvereinbar und unbegreiflich nebeinander bestehen würden. Der Kampf zwischen Mechanismus und Vitalismus, der in neuerer Zeit wieder zu entbrennen droht, ist ein Kampf zwischen zwei meta- physischen Glaubensbekenntnissen. Denn die rein objektive mechanisch- kausale Betrachtungsweise kann neben der rein subjektiven oder vitalistischen geübt werden, beide stören sich nicht und schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. Streit entsteht, wenn Betrachtungsweisen mit Daseinsweisen verwechselt werden; ein Kampf zwischen zwei Alliierten, welehe sich gegenseitig wegen metaphysischer Nebel verkennen. Diese Nebel entspringen der Anmaßung, die an sich wahre Wirkliehkeit naturwissenschaftlich zu erkennen. Soll die Wissenschaft Wahrheit suchen ? Versteht man unter Wahrheit die an sich bestehende Wirklichkeit: Nein! Versteht man darunter die Uebereinstimmung des Denkens mit dem gesetzmäßigen Verhalten der Objekte menschlicher Erfahrung: Ja! Dieses ist die eigentliche mensch- liche Wahrheit, es giebt hier keine andere. Zur Erforschung dieser Wahrheit sind alle Betrachtungsweisen heranzuziehen, welche dazu beitragen können. Eine Wissenschaft von der wahren Wirklichkeit, Metaphysik genannt, kann noch heutzutage nicht und namentlich nicht als Naturwissenschaft auftreten. 15. R.Mayer’s neue Betrachtungsweise des Naturgeschehens tritt in neuerer Zeit in den Vordergrund. Die Energetik reiht sich der physikalisch-chemischen oder stofflich-mechanischen Betrachtungsweise an und wird dieselbe vielleicht einmal in Vielem ersetzen, da sie ge- eignet ist, die Beziehungen zwischen den Erscheinungen einfacher und ohne phantasiereiche Hypothesen darzustellen. Der Kampf um die energetische Auffassungsweise, welche nach Helm eine Methode ist, in einer bilderfreien Sprache von den Naturvorgängen reden zu können, dieser Kampf um eine vorurteilslose Naturauffassung würde vielleicht sofort geschlichtet werden, wenn man allgemein darüber im klaren wäre, dass es sich hier um eine Betrachtungsweise, und zwar eine sehr einfache und nützliche handelt, und nicht um eine neue meta- physische Lehre. In der Physiologie bilden mechanisch-stoffliche Hypothesen noch immer die Grundlage objektiver Betrachtungen, ja man ist sogar noch darüber in Zweifel, ob energetische Prinzipien hier Geltung haben, da man dafür mühsam Beweise zu erbringen sucht. Und doch ging die Anregung zur energetischen Auffassung von der Physiologie aus. In der Muskelphysiologie sind energetische Darstellungen von Fiek einge- Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 347 führt worden, namentlich zur Feststellung des Verbältnisses zwischen Arbeit und Wärme bei der Muskelthätigkeit. Wie vorteilhaft die ener- getische Darstellung der Muskelthätigkeit wäre, ersieht man an den bisher üblichen stofflichen Hypothesen, in welchen unbekannte chemische Doppelprozesse, variabel zu denkende Anziehungen der Atome u. ähnl. figurieren. Rollet (Pflgr.’s Arch. Bd. 64, S. 564) hat eine Uebersicht solcher Hypothesen gegeben und ein Verzeichnis stofflicher Aenderungen zusammengestellt, welche anzunehmen wären, wollte man die Erschei- nungen der Muskelthätigkeit, namentlich auch die Ermüdungserschei- nungen erklären. In energetischer Darstellung würde sich alles viel einfacher gestalten. Die stofflichen Hypothesen sind in der Physiologie deshalb so tief eingewurzelt, weil die zu den physiologischen Verrichtungen nötige Energie als chemische Energie der Nahrungsstoffe zugeführt wird; so glaubt man ohne stoffliche Hypothesen physiologisch gar nicht denken zu können, und kann sich keine physiologische Thätigkeit ohne Stoff- umwandlung vorstellen. Der Energiewechsel wird auf diese Weise zu einer Nebenerscheinung des Stoffwechsels. Die energetische Betrachtungsweise würde die Physiologie von manchen Vorurteilen befreien; aber sie könnte über sie dieselbe Ge- fahr bringen, welcher die mechanisch-materialistische Naturauffassung die Physiologie ausgesetzt hat. Diese Gefahr liegt auf metaphysischen Abwegen, auf welche die rein objektive Betrachtungsweise geraten kann, wenn man glaubt, aus der Betrachtung der Objekte die „objek- tive“, d. i. die an sich wahre Wirklichkeit erkennen zu können. In der Physik und Chemie ist diese Gefahr nicht so drohend wie in der Physiologie, wo sie zum Durchbruch kommen muss. Die mechanisch- materialistische Betrachtungsweise geriet auf metaphysische Abwege, als sie vorgab, die Bewegung der Materie als die wahre Wirklichkeit erkannt zu haben und dann in der Physiologie gezwungen wurde, bei der Erklärung der psychischen Erscheinungen aus der Bewegung der Materie durch ein „Ignorabimus“ ihren Bankerott zu erklären. Diese Gefahr hat die Energetik zu vermeiden. Der eifrigste Vorkämpfer der energetischen Naturauffassung, Ost- wald (Naturphilosophie, 1902), will den Physiologen Mut machen zur Bekämpfung des Neovitalismus, der pessimistisch die „Unerklärlich- keit“ der Lebenserscheinungen behauptet. Ostwald meint, dass die energetische Naturauffassung hinreicht, um die reiche Mannigfaltigkeit der Lebenserscheinungen vollständig darzustellen. Es sei eine physio- logische Thatsache, dass ein geistiger Vorgang niemals ohne Energie- aufwand stattfindet. Daraus könne man vermuten, dass es sich bei den geistigen Vorgängen um die Entstehung und Umwandlung einer besonderen Energieart handelt, nämlich der geistigen Energie. Man könne annehmen, dass die verbrauchte chemische Energie dazu ver- 548 Mares, Energieprinzip u. energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. wendet worden ist, um die geistige zu erzeugen. Im Verlaufe des Denkprozesses werde diese Energie wahrscheinlich in Wärme umge- wandelt. Für die schließliche Bilanz sei es gleichgültig, ob im Orga- nismus eine Zwischenform in Gestalt von geistiger Energie existiert oder nicht. Der Neovitalismus wird hier im metaphysischen Sinne aufgefasst, als handle es sich um die Erkenntnis des eigentlichen Wesens des Lebens, welche von der physikalisch-chemischen Forschung nicht er- reicht werden könne. Dagegen wird hier die Energetik angeführt, welche diese Aufgabe lösen und so den Neovitalismus überwinden kann. Die Energetik wird hier also auch im metaphysischen Sinne genommen und es wird ihr die vom überwundenen wissenschaftlichen Materialismus nicht gelöste Aufgabe zugewiesen. An Stelle der alten „Materie“ tritt die „Energie“, indem die Materie in einen Komplex räumlich geordneter Energien aufgelöst wird. Nun soll also die Energie die psychischen Erscheinungen erklären, das Rätsel der Sphinx lösen, welche den Materialismus verschlungen hat. Die energetische Lösung des Rätsels lautet nun: die Schwierigkeit des Parallelismus zwischen Geist und Materie rührt nur daher, dass man für die physische Welt die Annahme machte, sie bestehe aus nichts als bewegter Materie; in einer solchen Welt kann freilich der Gedanke keine Stelle haben. Wir, die wir die Energie als letzte Realität ansehen, empfinden von solchen Unmöglichkeiten nichts. Voltaire ergötzte sich an dem Gedanken Locke’s: denkende Ma- terie; dieselbe Freude würde er vielleicht auch an der denkenden Energie haben. Sieht man die Energie als letzte Realität an, so betritt man metaphysischen Boden, wo man sofort von der Sphinx angehalten wird, um ihre Rätsel zu lösen. Nun sind aber Rätsel meistens menschliche Artefakte, mit welchen sich die Naturwissenschaft nicht abgeben sollte. Ein solches Artefakt ist auch das Rätsel des psycho-physischen Parallelismus, das sich das menschliche Denken konstruiert, wenn es über die wahre Wirklichkeit nachgrübelt. Ostwald geht von der in neuerer Zeit auch in naturwissenschaft- lichen Kreisen mehr und mehr anerkannten Erkenntnis aus, dass die menschliche Erfahrung der Inbegriff aller Erlebnisse ist und dass diese Erlebnisse im wesentlichen Vorgänge in unserem Bewusstsein sind. Die übliche Unterscheidung einer Innen- und Außenwelt bedeutet ein Hinausgehen über die Erfahrung, da wir uns in erster Linie nur der inneren Erlebnisse bewusst sind und nur infolge gewisser Eigenschaften einen Teil dieser inneren Erlebnisse der Wirkung einer vorhandenen Außenwelt zuschreiben. Ist dem nun so, dann ist das Rätsel des psycho-physischen Parallelismus eine metaphysische Täuschung, welche entsteht, wenn man über die Erfahrung hinausgeht und zwei verschiedene Betrachtungs- Mares, Energieprinzip u, energetische Betrachtungsweise i. d. Physiologie. 349 weisen derselben Erfahrung für zwei verschiedene Wirklichkeiten an- sieht. Der Vitalismus bedeutet die subjektive oder innere Betrachtungs- weise unserer Erlebnisse, der Mechanismus die äußere. Ja man könnte behaupten, dass die vitalistische Betrachtungsweise die eigentlichere und ursprünglichere ist, weil sie sich auf die unmittelbaren Erlebnisse bezieht, während die objektive Betrachtungsweise von dieser ursprüng- lichen Wirklichkeit unserer Erfahrung abstrahiert, über dieselbe hinaus- geht und bestimmte Erlebnisse der Wirkung einer vorhandenen Außen- welt zuschreibt, welche sie sich als existierend denkt. Alle Wissenschaft ist durch die menschliche Erfahrung bedingt und beschränkt; was nicht erfahren, d.i. erlebt werden kann, entzieht sich jeder menschlichen Erkenntnis. Bestehen nun Erlebnisse wesent- lich in Vorgängen des Bewusstseins, dann ist eigentlich alle Wissen- schaft vom vitalistischen Gesichtspunkte aus aufzufassen, nämlich vom Gesichtspunkte des menschlichen Erlebens. Wir schreiben einen Teil unserer Erlebnisse der Wirkung einer Außenwelt zu, setzen diese als existierend und nennen sie Energie. Nun ist diese fremde Existenz für uns unerkennbar, weil wir sie nicht selbst erleben können. Auf diese Weise wird die Energie zu einem Symbol einer uns fremden Existenz, welche wir uns nach unserer eigenen Wirkungsfähigkeit, die wir unmittelbar erleben, nachbilden. Es ist also unmöglich, aus dem Begriff der Energie das Leben und Denken zu erklären, weil dieser Begriff das Leben und Denken voraussetzt, und wir das Leben und Denken unmittelbar erleben. Die Wissenschaft soll uns eine Weltanschauung geben. Diese Welt- anschauung, sagt Ostwald, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit und Einfachheit, und wir sollen sie so ausbilden, dass wir die thatsäch- lichen Erlebnisse in kürzester und übersichtlichster Gestalt darzustellen und zu ordnen vermögen. Dazu dienen uns Begriffe, Regeln, nach welchen wir bestimmte Eigentümlichkeiten der Erscheinungen be- achten. Nun ist die Energie und Energetik ein solcher Begriff und eine Regel zur Darstellung und Ordnung unserer Erlebnisse. Sie soll uns aber nicht das Erleben selbst erklären, weil dieses das unmittel- bar Erkannte ist, das durch nichts Fremdes und Unerlebbares erklärt werden kann. Die energetische Betrachtungsweise wird also den Vitalismus in diesem Sinne nicht überwinden. Der Kampf in metaphysischen Nebeln soll vermieden werden. Die Energetik wird aber zur ökonomischen und hypothesenfreien Darstellung des Zusammenhanges der Lebens- erscheinungen viel beitragen können. Durch das Pflegen der energetischen Betrachtungsweise sollen aber die anderen, sofern sie nützlich sein können, nicht ausgeschlossen werden. Wird man einmal allgemein darüber ins Klare kommen, dass es sich hier nicht um metaphysische Glaubensbekenntnisse, sondern um empirische Betrachtungsweisen 350 Schaffer, Eine Sperrvorrichtung an den Zehen des Sperlings. menschlicher Erfahrungsthatsachen handelt, dann wird auch in der Wissenschaft der Streit der Theorien aufhören und Freiheit und Ver- träglichkeit einkehren. Prag, im Januar 1902. Eine Sperrvorrichtung an den Zehen des Sperlings (Passer domesticus 1.). (Vorläufige Mitteilung.) Von Josef Schaffer in Wien. O. Thilo!) hat uns mit einer Reihe von wunderbaren Einrich- tungen bei verschiedenen Tieren bekannt gemacht, welche dazu dienen, einen Körperteil dauernd in einer und derselben Stellung zu erhalten, ohne dass diese Arbeit durch andauernden Muskelzug, der auch physio- logisch undenkbar wäre, geleistet wird. Sieherlich hat schon mancher Forscher und Laie darüber nach- gedacht, wie es den Vögeln möglich ist, stundenlang, oft nur auf einem Beine sitzend, einen Ast oder Zweig umklammert zu halten, ja in dieser Stellung ruhig zu schlafen. Es ist von vorneherein wahrscheinlich, dass auch da besondere mechanische Vorrichtungen getroffen sind, durch welche diese dauernde Griffstellung ohne Muskelkontraktion gesichert wird. In der That ist eine Einrichtung bereits bekannt, welche den Vogel geradezu zwingt, die Zehen zu beugen, wenn er sich auf einen Ast zum Sitzen niederlässt. Bergmann und Leuckart?) schreiben da- rüber: „Eine Einrichtung am Vogelschenkel hat nicht wenig Bewunde- rung erregt, welche dazu dient, ein festes Zugreifen der Klauen um einen Gegenstand, wie einen Baumzweig, ohne Anstrengung eines Muskels, durch das bloße Gewicht des sich setzenden Vogels zu be- wirken. Die Sehne eines die Zehen bewegenden und am Becken be- festieten Muskels läuft über die Vorderfläche des Kniegelenkes, so dass eine Krümmung des Kniees ohne weiteres die Sehne spannen und die Beugung der Zehen bewirken muss“. Diese automatische Beugung der Zehen allein setzt jedoch nieht, wie Stannius?) glaubt, die Vögel in den Stand, im Schlafe bei gebogenem Knie ohne weitere willkür- 4) Sperrvorrichtungen im Tierreiche. — Biol. Centralblatt, Bd. XIX, 1899, S. 503. — Bd. XX, 1900, S. 452. Kinematik im Tierreiche. — Ebenda, Bd. XXI, 41901, S. 513. 2) Anatomisch-physiologische Uebersicht des Tierreiches. Stuttgart 1852, S. 341. 3) Lehrbuch der vergl. Anatomie der Wirbeltiere. Berlin 1846, S. 276. Schaffer, Eine Sperrvorrichtung an den Zehen des Sperlings. 351 liche Intention an den Zweigen sich festzuhalten. Dazu ist noch die Thätigkeit der eigentlichen Zehenbeuger nötig, deren Sehnen an die einzelnen Phalangen ziehen. Diese Sehnen werden durch kurz dauern- den Muskelzug zurückgezogen, und sofort greift eine höchst merk- würdige Sperrvorrichtung ein, welche eine Rückkehr der Sehne ver- hindert, solange der Vogel sitzt. In dieser Stellung ist der Vogel also überhaupt nicht im stande, eine Zehe zu strecken. Diese Vorrichtung wird hergestellt durch besondere, gewebliche Differenzierungen an den einander zugekehrten Flächen der Beuge- sehnen und ihrer Scheiden. Betrachten wir zunächst die Sehne des flexor profundus s. per- forans, welche sich an die Endphalanx anseizt, so findet man dieselbe an ihrer plantaren Fläche, soweit sie bei gebeugten Zehen frei in ihre Sehnenscheide ragt, mit einem eigentümlichen Knorpelüberzug be- deckt, welcher aus halbkugelig vorragenden, ungemein diekwandigen Knorpelzellen, eigentlich Knorpelzellhöfen oder -bezirken von 20—36 wu Durchmesser besteht. Diese Zellterritorien sitzen der Sehne oberflächlich wie ein kubisches Epithel auf, jedoch nieht in festgeschlossenem Ver- bande, sondern seitlich voneinander größtenteils durch feine Spalten getrennt. Diese Spalten münden in die weiteren Furchen zwischen den gewölbten Kuppen der Zellterritorien, welche Kuppen sämtlich in der Richtung gegen die Kralle hin geneigt sind oder überhängen. Betrachtet man eine solche Sehne von der Fläche her, so bietet sie ein ungemein zierliches Ansehen, das flächenhaft gedacht an einen Schuppenpanzer erinnert oder mit einem sogenannten „Katzenkopf“- pflaster verglichen werden kann. Dieser Knorpelbelag ist sehr fest; fährt man mit einem Skalpell über diese Oberfläche der Sehne, so hat man ein ähnliches Gefühl, als ob man über eine Haifischhaut fahren würde. Bei der regelmäßigen Anordnung dieser halbkugeligen Vor- ragungen, welche auch die Seitenflächen der Sehne bedecken, ent- stehen parallele und quer zur Längsachse über die Sehnenoberfläche laufende Furchen, welche man an den Sehnen größerer Vögel, z. B. der Krähe bei schiefer Beleuchtung unter der Loupe sehen kann. Dieser eigentümliche Knorpelüberzug ist bereits von Ranvier!) beschrieben worden; er glaubte zuerst jedoch die Knorpelnatur des- selben in Abrede stellen zu müssen und bezeichnete die Zellterritorien als „organes cephaloides“, über deren physiologische Bedeutung er sich nicht klar werden konnte. Dies ist erst möglich, wenn man die Beschaffenheit der zur Sehne gehörigen Scheide in Betracht zieht. 1) Sur les tendons des doigts chez lez oiseaux. — Journ. de Micrographie. XIII, 1899, p. 167 und C. R. Acad. Se. Paris, T. 108, p. 480. 352 Schaffer, Eine Sperrvorrichtung an den Zehen des Sperlings. Diese bildet, nicht in ihrer ganzen Ausdehnung, sondern unter den Diaphysen der Phalangen eine dünne, knorpelige Halbrinne, welche sich an die Seitenränder der Phalangen ansetzt, so dass sie mit der ventralen Fläche der letzteren ein geschlossenes Rohr darstellt. Im Be- reiche der Gelenke selbst besteht sie aus fibrösem Gewebe. An der Innenfläche dieser Knorpelrinne springen aber in Gestalt quer und parallel gestellter, U-förmig gekrümmter Bogen, deren Scheitel proximal- wärts verschoben sind, rippenartige, ziemlich scharfe und in proxi- maler Richtung gleichmäßig geneigte Grate vor, welche am medialen Längsschnitte wie die Zähne einer Säge oder Zahnstange erscheinen. Ich bezeiehne diese Bildungen als Sperrschneiden, eine Bezeichnung, welche durch ihre physiologisch-mechanische Bedeutung gerechtfertigt erscheint. Letztere wird bei Betrachtung eines sagittalen Längsschnittes durch eine Zehe sofort klar. Die Furchen an der Oberfläche der Sehne und die Sperrschneiden greifen ineinander, wie Zahn und Trieb. In dem Momente, in dem sich der Vogel auf einen Ast setzt, wird die Beugesehne zurückgezogen und werden durch das Körpergewicht des Tieres die Sperrschneiden gegen die Furchen an der plantaren Cirkumferenz der Sehne gedrückt. Da die Sperrschneiden in die Richtung gegen den Ursprung der Sehne, die Höcker an der Sehnen- oberfläche entgegengesetzt gerichtet sind, findet eine Art von Verzahnung statt, welche eine Rückkehr der Sehne, solange der Vogel sitzt, un- möglich macht. Der Griff um den Ast ist gesperrt. Zur Lösung der Sperre ist ebenfalls eine automatisch wirkende Einrichtung getroffen, und zwar in Gestalt starker, elastischer Bänder, welche von der proximalen Umschlagstelle der Gelenkkapsel unter der vorletzten Phalanx beim Daumen, unter den zwei vorletzten Pha- langen bei den mehrgliedrigen Zehen entspringen und proximalwärts ziehend sich an der dorsalen Fläche der Beugesehne inserieren. Diese elastischen vineula tendinum werden beim Zurückziehen der Sehne, also bei der Beugung gedehnt. In dem Augenblicke, in dem der Vogel auffliegt, kehren die gespannten Bänder in ihre Ruhelage zurück und reißen auch die Zähne aus ihrer Verzahnung heraus. Auf weitere Einzelheiten dieser Sperrvorrichtung, auch bei anderen Vögeln, besonders auf den histologischen Bau der knorpeligen Diffe- renzierungen soll in einer ausführlichen, mit Tafeln ausgestatteten Mit- teilung eingegangen werden. Wien, 6. März 1902. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Oentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Ueber das Verhältnis der Regeneration zur Embryonalentwicklung und Knospung. — Lämmel, Ueber periodische Variationen in Organismen. — Marchand, Ueber das Hirngewicht des Menschen. — Wasmann, P. Petrus Heude }. — Zacharias, Zur Fauna der Umgebung von Buitenzorg. -— Bei der Redaktion eingegangene Werke. Heredity and the epicyele of the germ-cells by J. Beard, D. Sc., University Leeturer in Comparative Embrıyology, Edinburgh. (Fortsetzung.) From the existence of a transient nervous system, a blastoderm, and other evanescent structures the conclusion was long ago arrived at, that there was a larva or asexual generation in the life-cycle of the skate. From all the known facts of embryology such a larva cannot arise out of an embryo, it must precede an embıyo. There is no embryo by the time the period P. G. C. is reached, the formation of such commencing here. Therefore, the first products of the eleavage, apart from the line leading to U.K.Z., must be the larva. Evidence‘ from another side will be found in, for instance, E. B. Wilson’s published researches on the development of Nereis!). There was some hesitation in the writer’s mind as to the possibi- lity of using Wilson’s results in support of the view here presented as to the nature and destiny of the first eleavage-products. A perusal of the lecture, cited below, served to remove this. His work of 1892 and his more recent results must be taken together, for Wilson himself has seen reason to alter his earlier interpretation in some slight but important respects. These amendments are exactly of the kind required for my reading of his table of the cell-lineage. 1) E.B. Wilson, The Cell-Lineage of Nereis, Jour. of Morph., V. 6, p. 361—480, 1892. Cell-Lineage and Ancestral Reminiscencee.e. Wood’s Holl Biol. Leetures, p. ?1—42, 1898 (published 1899). XXI. 23 354 Beard, Heredity and the epieyele of the germ-cells. In fig. 2 Wilson’s table, so far as it concerns us, is reproduced, and in fig. 3 the same results are shown after the manner of Bo- veri’s figure, or the part of my diagram from Z to U. RK. 2. The main diffieulty to the writer in his reading of Wilson’s diagram has hitherto been the supposed destiny of the cell d2=x. From p30 of his recent lecture it may be gathered, that the author, following the finds of Lillie in Unio, now looks upon this cell x as representing a larval mesoderm-cell. This is exactly the fate it ought to have; for, as we have seen, everything to the left of the line Z — U.K. Z. must belong to the phorozoon or larva. The primitive germ-cell has not yet been identified in Annelida. From my interpretation of Wilson’s finds it would appear to arise in Nereis at the fifth cleavage as the cell in fig. 3 labelled D= U. K.Z. Fig. 2. This then divides into (two primary germ-cells) D and M. M is the primary mesoderm-cell or somatoblast of various authors. Its division initiates the period of bilateral eleavage. Its two products form the two „mesoderm-bands“. In contradistinetion to other authors the writer must maintain the opinion, that M is a primary germ-cell, and that it gives rise to the whole of the sexual generation, in this case the worm. In this connection it may be of interest to recall the eireumstance, that long ago Hatschek expressed the view, that the two products ofM, the well-known „pole-cells“ of Hatschek, were originally eggs'). This suggestion has been critieised by Kleinenberg. 4) Wilson approves of E. Meyer’s amendment of Hatschek’s view into correspondence of the mesodermal bands with paired gonads. In the sense indiecated above there is much to be said in favour of Hatschek’s inter- pretation: the other idea is wildly impossible. Beard, Heredity and the epieyele of the germ-cells, 355 If the pole-mesoderm-cells be not eggs, they at least arise by the division of the next thing to an egg, a primary germ-cell. In Nereis the remaining primary germ-cell D comes to form part of the hypoblast. There is no diffieulty about this. Even in the skate many of the primary germ-cells may for a time lie in the hypoblast, but they do not give rise to hypoblastie cells. As Wilson remarks, „the ultimate court of appeal — lies in the fate of the cells“ (loc. eit. 2 p. 41). Another apparent diffieulty, more especially to the view of the complete similarity and equivalence of the primary germ-cells, would be, that sometimes the embryonie cell may perhaps exceed (?) the pri- mary germ-cells in size. As an instance, that D and M mentioned above may be of different sizes (?). But this very difference in size may serve to explain why some particular primary germ-cell is chosen to form an embryo instead of some other. Position alone cannot always be at the bottom of this. In the skate, for example, the embryo does not invariably begin to arise at one certain spot upon the blastoderm. It may be, that the stimulus afforded by an extra amount of food-yolk may have much to do with the initiation of development. Very suggestive and significant in the light of my results in the skate are the following passages from E. B. Wilson’s memoir on „The Cell-Lineage of Nereis“. Statements equally pregnant with meaning will be found in various parts of Eisig’s work on the deve- lopment of Capitella (Mitteil. a. d. Zool. Stat. zu Neapel, V. 13, p. 1—292, 1898). On page 398 Wilson writes: „Transition to the Bilateral Period. As far as the development of the permanent organs is concerned, the transition from the spiral to the bilateral type of development is remark- ably abrupt.“ It may be mentioned, that at the close of the spiral period there are, according to Wilson, 38 blastomeres present. That is to say, the majority of them are products of the fifth eleavage. On page 444 he asks „what is the significance of the spiral and bilateral forms of eleavage, and where lie the causes that determine the transformation of the one into the other?“ Further on he writes: „The most striking feature in the cleavage, and the one on which the entire diseussion may be made to turn, is the sudden appearance of bilateral symmetry in the eleavage. The meaning of the bilateral eleavages in themselves is perfeetly obvious. They are the forerunners of the bilateral arrangement of parts in the adult; and, as such, their explanation belongs to the general problem of bilateral symmetry, which need not be considered here. The all-important point is that the bilaterality does not appear at the beginning of development). It 1) Spaced in the original. 23* 356 Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. appears only at a comparatively late stage, and by a change so abrupt and striking as to possess an absolutely dramatie interest').“ And so on. I refrain from further quotation, because Wilson’s work contains no real solution of the problem. To my mind the solution was lacking, because, on the one hand, it was not recognised, that the mode of development was by means of an alternation of generations; and, on the other, the history of the primary germ-cells in Nereis was, and is, unknown. If the reader will compare Wilson’s statements with the course of development depicted in my diagram — not forgetting, I trust, that the latter is a diagram, and nothing more — the meaning of the spiral cleavage and of the sudden and abrupt change, of which Wilson speaks, may become apparent. The apical mode of growth, so characteristic of the early for- mation of the asexual generation in both plants and animals, and which is retained for the whole life-span of the sporophyte of plants, might also be described as spiral. Indeed, it is so regarded and deseribed by botanists. Then with the cutting off of the connection between the primitive germ-cell and the asexual generation or phoro- zoon we witness the practical end?) of the spiral mode of cleavage, and the commencement of the bilateral period. With this the formation of the primary germ-cells is connected, following the genesis of these a start is made in the building up of the embryo. In this way my diagram gives a general interpretation of Wil- son’s finds, not to mention those of other observers. And thus, the phenomena observed in the development of Nereis are seen to be due to an antithetie alternation of generations, where the asexual generation arises in a spiral or apical manner, where the sexual generation is characterised by a bilateral mode of formation, and, lastly, where one may prediet the formation of a primitive germ-cell and of primary germ-cells from this between the two generations, that is to say, prior to the development of the sexual generation. In the course of more than twelve years, spent in the attempt to elucidate the mode of Metazoan development, at various times many things have seemed inexplicable; but, wherever their history has been discovered, they have been found to fit into an antithetie alternation of generations, and into nothing else. If Wilson’s finds be not based in such an alternation, but be in connection with a „direet“ mode of development, they seem to me to 1) Spaced by me. 2) The practical end but not the actual termination; for, as Wilson points out (p. 393), „it is only in the peculiar changes involved in the for- mation a larval organ, the prototroch, that the spiral form of division overlaps the bilateral period“. Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. 357 include facts, which will never be explicable, for such a roundabout kind of development can hardly be termed „direct“. Or shall we „explain“ and describe them as the development of the Scyphozoa is explained and deseribed in almost all the current text-books, by the omission of any reference to the main portion of the asexual generation, the stolon, discovered by Sars!)? Such a course may simplify matters, but it hardly makes for the discovery of the facts of Nature. Reverting to the diagram of the life-eyele of the skate, I con- sider it to be possible at present only by comparison and induction to show the fate of the cells to the left of the „germinal track“ as far as U. K.Z., the primitive germ-cell. The comparison with other cases only goes to show its correetness, and, I am convinced, the number of such will increase in the proportion as the study of cell- lineage, so ably established by Whitman, Mark, and E. B. Wil- son, replaces the pursuit of the three sacred layers of embrylogists. Up to the point U.K.Z. of my diagram the germinal track in Weismann’s sense lies apparently in the larva. It may be objeeted, that in making this substitution the embryo has been displaced, in order to establish a more or less problematical larva, and that the germinal track is here somatice. The reply to this is, tbat the cell U. K.Z. and its immediate ancestors never form part of the larva, and that the period?) from Z. to U.K.Z. — no matter how long it be, whether four generations or four thousand — is marked by a mode of growth and cell-division, conspieuous by absence in other parts of the diagram?). This statement requires both elueidation and emphasis. The mode of growth of the sporophyte in plants is essentially apical, tbat is to say, wherever there is an apex there are always one or more apical cells, which by their division give off produets towards the centre. In the sexual generation of a Metazoon the mode of growth dif- fers in toto from this; for here all the produets ultimately undergo differentiation, and embryonie or germ-material, corresponding to apical cells, has no existenee. The older embryologists, of the first half of 4) M. Sars. Ueber die Entwicklung der Medusa aurita und Cyanea capillata. Arch. f. Naturgesch. Vol. 7, 1841. 2) In the skate this period ineludes more than five mitoses, probably ten. 3) Spemann has already compared the mode of origin of the first cleavage products in Nematodes, more especially in Strongylus, to the apical mode of growth in the*sporophyte of a plant. He notes, that the cell along the line Z — U.K.Z. in my diagram acts as though it were an apical cell of a sporophyte (H. Spemann, Die Entwicklung von Strongylus paradoxus, Zool. Jahrb. Morph. Abteil. V. 8, p. 304, 1894—95. 358 Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cell. the nineteenth century, thought differently, and some pathologists still eling to their views, but these have no shadow of foundation in fact. The initial mode of growth and formation of the asexual generation or larva in animals — an organism never of a very high degree of organisation is entirely comparable to that of the sporophyte. As in simple cases of the latter, there is here one „apical cell“, which never itself forms part of the larva, but instead thereof gives off into the latter a greater or less number of products, while retaining its own unicellular or Protozoan character. Nor would the conditions be altered, if there were several growing points, as generally met with among the Hydrozoa!). It may be objected, that whereas the early eleavage of Nereis, Ascaris, ete., is spiral, in the Vertebrata, such as the skate, it is bi- lateral. The objeetion would not, I think, be a valid one. The meaning of such a bilateral cleavage in the early development — as- suming it to exist — would simply be, that there were two spirals instead of one, and, possibly, two primitive germ-cells. For various reasons I regard the actual larva or phorozoon of the skate as at the basis very like the tadpole larva of Aseidians. Indeed, I would go further; and, following the example of Roule with his classification of certain Invertebrate groups as „Trochozoa“ by their asexual generation or larva, so also in the tadpolelike larva of the Ascidians I would see — not the Vertebrate relation of many embryologists — but the like or even homologous asexual generation of Ascidians, Amphioxus, and the true Vertebrata. Returning to the diagram. Sooner or later upon the larva the primitive germ-cell enters into activity. It may divide before the larva or phorozoon is properly differentiated, as nowadays is certainly the case in many instances, or, theoretically, its divisions may happen at a later period. These divisions, however, must precede the formation of the embryo or sexual generation. In the skate the divisions of the primitive germ-cell, which give birth to the primary germ-cells, take place before the larva or phoro- 3) It should be mentioned that de Vries and Weismann have already noted the resemblance in mode of growth between the sporophyte and the colonial Hydrozoa. Many of the latter also possess the indefinite unrestricted power of growth, so characteristic of the sporophyte of the higher plants, As a rule the asexual generations of the higher Metazoa do not exhibit this faculty. They rarely obtain a chance of showing it, for it is their usual fate to undergo early suppression by the sexual generation. When, as happens sometimes in cases of abortion in the human subject, the embryo is got rid of prior to the eritical period, or at any rate before the asexual generation has here been sup- pressed, the latter may go on growing indefinitely, if left in the uterus. Irefer, of course, to the unrestricted and pernicious growth of the chorion, when left in the womb after an abortion. Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. 359 zoon is fully differentiated, and, of course, before there is any trace of the embryo. For reasons to be fully given in my memoir on the germ-cells the division of U.K.Z. the primitive germ-cell, is considered to go back to about the tenth eleavage products, and in the skate there are either eight or nine divisions. The publication of the present writing has been delayed for several months, in‘ order that time might be gained for the tabulation and counting of the primary germ-cells in a series of embryos. This has now (March, 1901) been done in 18 embryos of Raja batis and in 8 of Seyllium canicula. The number of primary germ-cells in the embryology of R. batis may be taken at 256 in the male and 512 in the female. It may be added, that the number appears to be much smaller in Rana eseulenta and in Petromyzon planeri. In the former 8 and in the latter 32 primary germ-cells would seem to arise. These latter numbers have not yet been confirmed on a material large enough to afford any certainty of their correctness. The division of the primitive germ-cell into primary germ-cellsis a well- marked epoch in the life-eyele, and one of the greatest possible moment. Hitherto its import has been overlooked by every embryologist, and the record of it is now made for the first time as the result of my work. From every point of view it is as important as the phenomena of maturation; and, probably, its essential necessity in development will not need to wait long for ample recognition. The number of the products of the primitive germ-cell is very large in the skate, as many as 512. But it must be pointed out, that this number furnishes no eriterion for other animals. There may be cases, in which it is larger; though, I imagine, the occurrence of many such is unlikely. Undoubtedly there are instances, in which it is much smaller: and, probably, these are well represented among the Inverte- brata. In short, it may be as low as two; but, as the sexual gener- ation or embryo must arise from one product, and as this ınust con- tain some sexual elements, it can never be lower than two. In other words, the primitive germ-cell must divide at least once, yielding two primary germ-cells, of which one will give rise to the embryo and the other will supply the „sexual products“. Apparently it divides once in Cyelops and Ascaris megalocephala, twice in Ceeidomyia, and thrice in Chironomus!). In other ehapters of my work the essential similarity, the equi- valence of all the primary germ-cells, whether their number be 2, 16, 128, 512, or anything else, has been insisted upon. The point is one of the utmost importance, and, therefore, it may be well to once more briefly indicate the grounds for the conelusion. 360 Schultz, Regeneration zur Embryonalentwicklung und Knospung. All the primary germ-cells have the same ancestry from the pri- mitive germ-cell. One of them forms the embryo, and there is nothing to show that this one differs in any respect from its sister-cellst). If two primary germ-cells undergo independent development on a blasto- derm, the result is, and must be, the production of like twins. The dermoid ceysts or embryomas of Wilms are, as this able investigator has established, rudimentary embryos. These abnormal embryos must have taken their origin from persistent primary germ-cells, and the development of an embryoma is embryologically the abnormal formation of a twin, identical with the embryo. The likeness of all the primary germ-cells is certain, or almost so: absolutely nothing suggests unlikeness among them. This essential identity or equivalence of all the primary germ-cells is immensely im- portant from the point of view of heredity. This will be quite obvious. (Schluss folgt.) Ueber das Verhältnis der Regeneration zur Embryonalentwicklung und Knospung. Von Eugen Schultz. (Vortrag gehalten auf dem XI. Kongresse russischer Naturforscher und Aerzte in St. Petersburg. Dezember 1901.) Eine ganze Reihe Arbeiten, die dem Wesen der Regeneration näher treten wollten, stießen auf so große Geheimnisse, dass sie sich gezwungen sahen, besondere, fast transcendentale Kräfte anzunehmen, die ordnend und richtend, stets zweckmäßig und regulatorisch, immer wieder aus einer Unzahl von Einzelfällen der Verletzung ausgehend, das konstante Ziel des normal funktionierenden Organismus erzielten. Ein solches Ergebnis, wenn es auch vollkommen der Wirklichkeit ent- spricht, gewinnt erst dann Wert, wenn die Begriffe der Regulation und Regeneration näher analysiert werden und mit uns bekannteren und geläufigeren Begriffen verglichen und zusammengestellt sind. Deswegen glaube ich doch, das Gesunde und Zeitgemäße eines Stand- punktes, wie ihn Driesch und Herbst phyletischer Betrachtungs- weise gegenüber einnehmen, vollkommen anerkennend, dass die experi- mentale Methode mit der historischen sich wird vereinigen müssen, und dass deswegen ein Vergleich regenerativen und embryonalen Geschehens und die Einordnung der neu entdeckten regenerativen Erscheinungen in schon bekannte Kategorien immerhin eine Erkenntnis ist, die tieferen Verallgemeinerungen vorhergehen muss. 1) In Strongylus Spemann has commented upon the equivalence of what he terms the primitive germ-cell and the primitive mesoderm-cell, indeed, he speaks of them as „Geschwisterkind“ or cousins (Zool. Jahrb. Morph. Abt. V.8, p. 313). His primitive germ-cell is, however, a primary germ-cell, and the true primitive germ-cell is that from which the two cells compared together took their birth. Schultz, Regeneration zur Embryonalentwicklung und Knospung. 361 Leider ist das Vergleichungsmaterial noch sehr gering. Bald fehlen Arbeiten über embryonale Entwicklung, um sie mit den regene- rativen Prozessen zu vergleichen. Oefter natürlich ist das umgekehrte der Fall. In der pathologischen Regeneration unterscheiden wir zwei sehr verschiedene Prozesse. Bei der Entfernung eines Körperteils entfernen wir einzelne Organe nur zum Teil, andere vollständig. Die fur zum Teil entfernten Organe werden meistenteils aus ihren übriggebliebenen Resten regeneriert, das Organ wird aus einem seiner Teile wieder- hergestellt. Diesen Prozess schlage ich vor, Anastase zu nennen. Er bietet nichts von der physiologischen Regeneration und also auch vom normalen Wachstum wesentlich verschiedenes dar und kann des- wegen kein direkt phylogenetisches Interesse erwecken. Diese Art von Regeneration. wird mithin von uns hier nicht näher beachtet werden. Andere Organe entfernen wir vollständig, so dass auch kein Rest dieses Organes mehr im Tiere übrig bleibt. Sollte dieses Organ neu regenerieren, so müsste es neu angelegt werden und von neuem einen Entwicklungsgang von der Anlage bis zum erwachsenen Zu- stande machen. Diese Art von Regeneration schlage ich vor, Neo- genie zu nennen. Sie hat ein bedeutendes morphologisch phyletisches Interesse, weil hier eine Organogenese vor uns liegt. Es wäre interessant, diesen Prozess der Neogenie mit dem embryonalen Geschehen und mit den Prozessen der Knospung zu vergleichen. Sem- per!) sagte seinerzeit, den Knospungsprozess bei Naiden untersuchend: „Ich ging von der Hypothese aus, welche Grundlage unserer modernen morphologischen Untersuchungen ist: dass kein Glied eines Tierkörpers auf zweierlei typisch verschiedene Weise innerhalb homologer Gruppen entstehen könne“. Ist nun wirklich überall der regeneratorische Vor- gang mit dem embryonalen übereinstimmend ? Der sensationelle Fall der Linsenregeneration bei Urodelen kommt einem sogleich ins Gedächtnis. Hier ist der regeneratorische Hergang dem embryonalen nicht homolog. Doch lassen sich noch viele andere Beispiele anführen. Vor allem wissen wir aus einer Reihe von Beobachtungen, dass oft das Endresultat der Regeneration, — also das Regenerat, nicht dem Endresultate der embryonalen Entwicklung entspricht. Die Beob- . achtungen Fritz Müller’s?), Barfurth’s?), Brindley’s®), Bor- 1) Semper,C. „Die Verwandtschaftsbeziehungen der gegliederten Tiere, — Die Knospung der Naiden.“ Arbeiten Zool. Inst. Würzburg, Bd. III, 1876—1877 2) Müller, Fritz. „Haeckel’s biogenetisches Grundgesetz bei der Neubildung verlorener Glieder.“ Kosmos Bd. VIII, 1830-81. 3) Barfurth. „Die experimentelle Regeneration überschüssiger Glied- massen (Polydactylie) bei den Amphibien. Arch. f. Entwieklungsmech., Bd. I, 1894. 4) Brindley. On the regeneration of the Legs in the Blattidae. Proc. Zool. Soc. London 1897. 362 Schultz, Regeneration zur Embryonalentwicklung und Knospung. dage’st), Przibram’s?) und meine eigenen?) beweisen, dass bei Regeneration oft abweichende Gebilde entstehen. Diese abweichenden Gebilde haben oft den Charakter eines zu wenig, als ob die Kraft der Regeneration nicht ausreichte, das Normalgebilde herzustellen; so werden bei Aydra durchschnittlich weniger Tentakel regeneriert als vor der Operation da waren (Rand)*); oft auch wird ein „zu viel“ er- zeugt. Dieses lässt sich manchmal, wie in der von Tornier?) be- obachteten Polydactylie, durch den Charakter der Wunde erklären. Diese Fälle abgerechnet, bleibt aber immerhin noch eine ziemlich be- deutende Reihe von Beobachtungen übrig, wo der abweichende Cha- rakter des Regenerates durch die oben angeführten Gründe nicht er- klärt werden kann. Seit Fritz Müller’s Untersuchungen haben sich Fälle der Regeneration angehäuft, wo das Regenerat atavistische Züge trägt. Diese Art der Regeneration ist von Giard®) „Regeneration hypotypique“ genannt worden. Tethys leporina regeneriert ihre Dorsal- anhänge in Form verzweigter Gebilde, wie sie die Vorfahren von Tethys — die Tritoneaden — haben, während die Normalform unver- zweigte Dorsalanhänge trägt (Parona”). Die Blattiden regenerieren einen viergliederigen tarsus statt eines fünfgliederigen (Brindley, Bordage), was auf die Tysanuren hinweist. Bei der Regeneration von Spinnenfüßen beobachtete ich, dass die Epeiriden an ihrem End- gliede oft nur zwei statt drei Klauen regenerieren, was ein Rückschlag auf die Drassiden und Lycosiden wäre. Przibram®) erzielte bei Portenus durch Regeneration statt Maxillipedes typische Schreitbeine. Im Museum des zoologischen Laboratoriums der Universität St. Petersburg wird ein von K. E. v. Baer gefundener Astacus pachypus aufbewahrt, dessen eine Scheere nach dem wohl älteren Typus des A. leptodactylus regeneriert ist. Barfurth beobachtete häufig beim Axolotl die Re- generation einer fünffingerigen Hand statt einer vierfingerigen, was auf einen Rückschlag auf die ursprünglich fünffingerige Hand der Amphibien deutet. Die Schuppen an regenerierten Eidechsenschwänzen 4) Bordage. 1897—1900. 2) Przibram. „Regeneration bei Crustaceen.* Arb. a. d. Zool. Inst. d. Univ. Wien. Bd. XIV, 1899. 3) Schultz, Eug. „Ueber die Regeneration von Spinnenfüßen.“ Tra- vaux de la Soc. Imp. Natur. St. Petersbourg, T. XXIX, 1898. 4) Rand, H. „Regeneration and Regulation in Hydra viridis“ Arch. f. Entwieklungsmech., Bd. VIII, 1899. 5) Tornier, Ueber experimentell erzeugte dreischwänzige Eidechsen und Doppelgliedmassen von Molchen. Zool. Anz., 1897. 6) Giard. Sur les regenerations hypotypiques. Comptes rendus des secances de la Soc. de Biol. 1897. 7) Parona, C. L’Autotomia e la rigenerazione delle appendieci dorsali nella Tethys leporina. Atli delle R. Universita Genova 1891. 8) Przibram. Arch. f. Entwicklungsmech., Bd. XIII, 1901. Schultz, Regeneration zur Embryonalentwieklung und Knospung. 363 weisen nach Boulanger und Werner!) häufig atavistische Züge auf, Die Zahl solcher Fälle atavistischer Regenerationen ließe sich leicht noch bedeutend vermehren. Also schon diese Facta weisen darauf hin, dass bei der Regene- ration Atavismen zum Vorschein kommen können, die sowohl in der Embryonalentwieklung als auch sonst verborgen geblieben wären, und so latent, in den Zellen schlummernd, ohne einen künstlichen Eingriff nie erschienen wären. Hier also scheint die Regeneration das Pri- märere festzuhalten. Aber nieht nur in den Endprodukten beobachten wir oft einen typischen Unterschied zwischen Regeneration und Embryonalentwick- lung, oft ist bei gleichen Endprodukten der Entwicklungsgang der Regeneration von demjenigen der Embryonalentwicklung typisch ver- schieden. Die meisten nicht nur auf äußere Formerscheinungen ge- richteten Arbeiten über Regeneration waren freilich bemüht, die re- generative Entwicklung mit der embryonalen in Einklang zu bringen, die abweichenden Resultate wurden, wo es anging, gar nicht beachtet; wo sie zu augenfällig waren, beruhigte man sich, wenn wenigstens die Ehre der Keimblätterlehre gerettet war (L. S. Schultze)?). Ich selbst hatte, von solchen Gesichtspunkten geleitet, meine ersten Ar- beiten über Regeneration unternommen. Dieser Standpunkt ist heute nicht mehr haltbar. Wie aber sollen wir diese Abweichungen vom sogenannten „normalen“ Gang der Organogenese deuten? Haben sie noch irgendwelchen morphologisch-phyletischen Wert? Jedenfalls müssen wir nicht aus den Augen verlieren, dass immer- hin meistenteils zwischen Regeneration und Embryonalentwicklung eine typische Uebereinstimmung herrscht, wie es z. B. bei Regeneration von Trieladen und Polyeladen klar zum Vorschein kommt °)*), und dass diese Uebereinstimmung sich gerade auf palingenetische Züge bezieht, während cenogenetische viel leichter eliminiert werden. Deswegen dürfen wir wohl auch der regenerativen Organogenese nicht phylo- genetischen Wert absprechen. Nun aber entsteht die Frage, ob die Regeneration diese phylo- genetischen Züge volllständiger, ebenso vollständig oder weniger voll- ständig wiedergiebt als die Embryonalentwicklung. Diese Frage ist nicht nur für unsere Forschungsmethode wichtig und entscheidet, ob 1) Werner, F. Ueber die Schuppenbekleidung des regenerierten Schwanzes bei Eidechsen. Sitzb. Akad. Wien, Bd. CV, 1896. 2) Sehultze, L. S. „Die Regeneration des Ganglions von Otiona vin- testinalis L.“ Jenaische Zeitschrift für Naturw., Bd. XXXIII, 1900. 3) Sehultz, Eug. „Ueber Regeneration bei Planarien“. Travaux de la Soc. Imp. Nat. St. Petersbourg, T. XXXI. 4) Schultz, Eug. „Ueber die Regeneration bei Polycladen*“ (vorl. Mit- teilung). Zool. Anz. 1901. 364 Schultz, Regeneration zur Embryonalentwicklung und Knospung. wir aus der Neogenie phylogenetische Schlüsse ziehen können, sie hat auch Wert für das Verständnis der Regenerationsprozesse selbst. Man ist gewöhnlich geneigt, zu erwarten, dass die Regeneration die Embryonalentwicklung wiederhole, obgleich es mir nicht ganz klar ist, wie man sich diese Beeinflussung der Regeneration durch die Em- bryonalentwicklung vorstellt. Sollte aber dennoch die Regeneration in strenger Abhängigkeit von der Embryonaientwicklung vor sich gehen, so dürften wir weder in den Endprodukten typische Differenzen zwischen auf dem Wege der Neogenie und auf dem Wege der em- bryonalen Entwieklung entstandenen Gebilden finden, wie wir es ge- funden haben, noch dürfte der Gang der Entwicklung selbst typisch verschieden verlaufen, wie es oftmals geschieht. Dann müssten end- lich auch cenogenetische Merkmale der Embryonalentwicklung ein Ab- bild in der Regeneration finden, was nirgends geschieht. Die Regeneration ist also keine typisch genaue Wiederholung der Embryonalentwicklung. Dennoch hält die Regeneration phylogenetische Merkmale fest. Thut sie dieses nun besser als die Embryonalentwick- lung? Die Regeneration bewahrt wirklich, soweit wir es aus einer ge- ringen Zahl von Experimenten ersehen, manchmal palingenetische Züge auf, die in der Embryonalentwicklung vollständig verloren gegangen sind. Als solche sehe ich die metamere Neogenie des Coeloms längs der ganzen Ventralfläiche bei den Polychaeten an, wie ich sie bei Harmathoe beobachtete!). Eine solche Entstehung entspricht wohl mehr dem phylogenetischen Hergange als die embryonale Bildung des Coeloms aus Teloblasten, die wohl als höchst cenogenetisch zu gelten hat, wenn sie auch, wie viele andere cenogenetische Merkmale, eine weite Verbreitung in der Gruppe der Würmer besitzt. Sind aber die Teloblasten Genitalzellen, wie es Ed. Meyer und Eisig glauben, so ist nicht gut einzusehen, wie sie als solche nachher aus dem Ektoderm her ersetzt werden können, wie es bei der Regeneration geschieht. Ridewood?) beobachtete, dass bei der Regeneration der Extremitäten von Alytes obstetricans die Finger in derselben Reihenfolge entstehen wie bei den Urodelen, während in der Embryonalentwicklung dieser palingenetische Zug verloren gegangen ist. — Die Urodelenlinse re- generiert aus dem Irisepithel, während sie in der Embryonalentwick- lung durch Invagination des äußeren Körperepithels entsteht. Mit Recht weist Schimkewitsch?) darauf bin, dass diese Linsenregeneration 4) Schultz, Eug. „Aus dem Gebiete der Regeneration“. I]. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. LXVI, 1899. 2) Ridewood, W. „On the Skeleton of Regenerated Limbs of the Midwife-Toad (Alytes obstetricans). Proc. Zool. Soc. London 1898. 3) Schimkewitsch, W. „Ueber den atavistische Charakter der Linsen- regeneration bei Amphibien“. Anat. Anz. Bd. XXI, Nr. 2, 1902. Schultz, Regeneration zur Embryonalentwieklung und Knospung. 365 sich gut atavistisch deuten ließe, wenn wir annehmen wollten, dass die heutigen paarigen Augen der Urodelen sich einst gleich dem wahr- scheinlich früher auch paarigen dritten Auge entwickelten, d. h. eine Linse hatten, welche von den Wänden der Augenblase selbst gebildet wurde. Bei der Bildung eines becherförmigen Auges aus dem blasen- förmigen, musste die frühere Linse am oberen Linsenrande zu liegen kommen, von wo aus die Regeneration der Linse bei den Amphibien auch vor sich geht. Aus diesen Beispielen, die gewiss mit der Zeit an Zahl wachsen werden, sehen wir, dass der Regenerationshergang ursprünglichere Wege einschlägt. Aber dieses ist nicht immer der Fall. Die von L. S. Schultze beschriebene Regeneration des Ganglion von Ciona intestinalis aus dem Peribranchialepithel una der Mangel jeglicher Rück- bildungen dieses Organs während der Regeneration ist gewiss nicht palingenetisch, während, wie bekannt, und wie es auch für dieselbe Form von Castle!) beschrieben wurde, sich in der embryonalen Ent- wicklung ein typisches Nervenrohr bildet, dem wir mit Recht so großen phylogenetischen Wert zuschreiben. Hier schlägt die Embryonal- entwicklung die ursprünglicheren Wege ein. So bewahrt bald die Regeneration, bald die Embryonalentwicklung die primitiveren Züge. Die Regeneration ist eine Grundeigenschaft aller lebenden Sub- stanz, und nicht nur der lebenden, wie es die Experimente Rauber’s an Krystallen nachgewiesen haben. Wirklich haben sich, entgegen den Ansichten, die Weismann?) noch in seiner letzten Arbeit ver- tritt, Angaben angehäuft, die zweifellos beweisen, dass die Regeneration auch dort stattfindet, wo die natürliche Zuchtwahl schwerlich einen Einfluss ausgeübt haben konnte. Schwer verständlich scheint es mir, wie die natürliche Zuchtwahl die Regeneration der hinteren Körper- hälfte bei der von mir daraufhin untersuchten Polyclade Leptoplana atomata mit Kopulationsorganen, Nervensystem und Genitalzellen her- vorrufen konnte, während sie der vorderen Körperhälfte die Regene- ration versagte. Dabei aber lebt unsere Art ebensogut und pflanzt sich fort wie jene ihr nahestehenden Arten, die eine Regenerations- fähigkeit der vorderen Körperhälfte besitzen. Mir gelang es, wahr- scheinlich zu machen, dass es in diesem Falle wohl nicht die Re- generationsfähigkeit an sich ist, die der genannten Art abgeht, sondern dass besondere Verhältnisse der Organisation hier der Regeneration hinderlich sind. Wenn aber diese Art, die in ganz ähnlichen Be- dingungen wie andere Polycladen lebt, trotz ihres Unvermögens, die vordere Körperhälfte zu regenerieren, nicht ausstirbt, so ist uns der 4) Castle, W. „Embryology of Ciona intestinalis“. Bull. Mus. Compar. Zool. Harward Coll. Vol. XXVII, 1896. 2) Weismann, Aug. Thatsachen und Auslegungen in Bezug auf Re- generation. Anat. Anz., Bd. XV, 1899. 366 Schultz, Regeneration zur Embryonalentwicklung und Knospung. Aufwand von Kraft und Anpassung vom Standpunkte des Darwinismus unverständlich, den die anderen Arten anwenden, ihre vordere Körper- hälfte zu regenerieren. — Mir gelang es, bei der Regeneration von Spinnenfüßen nachzuweisen, dass eine Regeneration auch dann eintritt, wenn wir das Bein in der Mitte der Tibia oder des Tarsus zwischen zwei Gelenken durchschneiden, das heißt an solehen Stellen, die un- möglich von der natürlichen Zuchtwahl zur Bildung neuer Extremi- täten prädistiniert werden könnten, da vor unserem Experimente wohl nie eine Epeiride in die Lage kam, ihr Bein zwischen zwei Gelenken zu verlieren. Aehnliches konnte Przibram für Crustaceen nach- weisen. Die Regenerationsfähigkeit solcher Formen, wie die einfachen Ascidien, die wohl höchst selten in der Lage waren, bedeutende Ver- letzungen zu erleiden, lässt sich nicht durch das Prinzip der Zucht- wahl verstehen. Die Regeneration innerer Organe, bei Wirbeltieren, die von Weismann geleugnet wurde, ist nun durch eine Reihe von Arbeiten außer Zweifel gestellt. Endlich ist vom Weismann’schen Standpunkte die Regeneration des Eies oder der Larve ganz unerklär- lich. Wenn man aber behaupten wollte, dass überhaupt die Regene- rationsfähigkeit einst durch natürliche Zuchtwahl allem Leben zu eigen gegeben wurde, so hieße das die natürliche Zuchtwahl zu einem meta- physischen Prinzipe erheben. Wir halten daran fest, dass die Regeneration eine primäre Eigen- schaft der Lebewesen ist, die in einem oder dem anderen Organe in- folge von Spezialisation der Gewebe sehr beschränkt werden kann, allerlei sekundäre Anpassungen zu erleiden im stande ist, aber po- tentiell immer vorhanden ist. So glaube ich auch, dass es gelingen wird, bei einigen Tieren, die im erwachsenen Zustande nicht regene- rieren, die Regenerationsfähigkeit durch Entfernung der dieselbe hin- dernden Einflüsse hervorzurufen, die manchesmal z. B. in dem Vorhanden- sein einer harten Kutikula oder Muskelschicht, die sich über der Wunde schließt, bestehen können. Da Hirudineen z.B. in jungem Zu- stande vollständig regenerationsfähig sind, so ist es schwer begreiflich, wie auf einmal diese Fähigkeit spurlos verloren gehen sollte, sobald das Tier seine definitive Größe erreicht hat. Auf der ursprünglichen Regenerationsfähigkeit beruht die Em- bryonalentwicklung und Knospung. Dass die Knospung auf der Grundlage der Regeneration sich ent- wickelt hat, wurde seinerzeit von Kennel!) überzeugend nachgewiesen. Ueberall wo Teilung normal auftritt, fällt sie mit den Erscheinungen der Regeneration am selben Tiere zusammen. Der Unterschied zwischen Teilung und Regeneration ist nur der, dass bei der Teilung der Ort der Neubildung konstant und prädestiniert ist, während sie bei der Regeneration an beliebiger Stelle ansetzen kann. gi 4) Kennel, Ueber Teilung und Knospung der Tiere. Dorpat 1882. Schultz, Regeneration zur Embryonalentwicklung und Knospung. 367 Dass Knospung und Embryonalentwieklung oft in prinzipiellen Zügen auseinanderweichen, haben wir in den letzten Jahren mit Ver- wunderung kennen gelernt. Abgesehen davon, dass der Begriff des Keimblattes hier in Schwanken gerät, ist der Prozess der Organo- genese hier ein anderer. Die Knospung hängt ebensowenig von der Embryonalentwieklung ab wie die Regeneration. Bewahrt nun die Knospung primärere Züge als die Embryonal- entwicklung? In vielen Fällen, wie bei der Entwicklung der Gemmen, Statoblasten und der Knospung der Tunicaten ist auch die letzte Spur der Phylogenese verschwunden. In den meisten Fällen überwiegen die cenogenetischen Eigentümlichkeiten. Da die Knospung meistenteils an bestimmte Stellen gebunden ist, so bildet sich die Knospe aus einem Komplexe besonderer Zellen, die auf atypische, keine phylogenetische Stadien wiederholende Art den normalen Organismus bilden. Je voll- kommener die Knospung ausgebildet ist und je mehr sie sich infolge- dessen von der Teilung und Regeneration entfernt hat, um so weniger Zellen des mütterlichen Organismus nehmen an ihr teil, bis endlich nur einige Zellen, vielleicht sogar nur eine die Knospe bilden, wie ich ähnliches an Loxosma sah. Eine solche Entwicklung hat fast den Charakter der Parthenogenese, oder kann auf die Idee führen, dass sie aus der Parthenogenese entstanden ist. Ein solcher Gedanke müsste aber sogleich infolge der untypischen Entwicklung einer solchen Knospe entfernt werden. Wir nahmen mit Kennel, Lang!) und Seeliger?) an, dass die Knospung sich aus dem Regenerationsvermögen entwickelt hat, unab- 'hängig aber von der Häufigkeit der Verletzungen, wie es die Knospung der Tunicaten, besonders der pelagischen beweist, die wohl kaum häufig Verletzungen an streng bestimmten Stellen erleiden konnten. Em- bryonalentwicklung und Knospung im weitesten Sinne sind, von der Regeneration stammend, im stande, phylogenetische Stadien zu wieder- holen. Bald treten atavistische Merkmale in der Regeneration zum Vorscheine, bald in der Embryonalentwicklung. Wenn die Embryonal- entwicklung infolge von Dotteranhäufung oder infolge andauernden Larvenlebens stark cenogenetisch verändert ist, so müssen wir in der Regeneration den phylogenetischen Entwicklungsgang aufzufinden sucheu. Die Knospung scheint seltener atavistische Züge aufzubewahren als die Embryonalentwicklung, nur wo sie sich noch sehr wenig von der Tei- lung und Regeneration entfernt hat, könnte man solche auffinden. Embryonalentwicklung, Knospung und Regeneration können nicht auf- einander einwirken, da sie selbst Ausflüsse einer regulatorischen Grund- 1) Lang. Ueber den Einfluss der festsitzenden Lebensweise auf die Tiere. 1888. 2) Seeliger, Osw. Natur und allgemeine Auffassung der Knospenfort- pflanzung der Metazoen. Verhandl. d. Deutsch. Zool. Gesellsch. VI, 1896, 368 Lämmel, Ueber periodische Variationen in Organismen. eigenschaft des Organismus sind. Deswegen sind die Wege oft so verschieden, auf welchen die sogenannte „typische“ und „atypische“ Entwicklung zur Erreichung desselben Zieles schreitet. Auf solche Weise kann ein und dasselbe Organ nicht nur auf zweierlei typisch verschiedene Weise gebildet werden, wie es noch Semper nicht für möglich hielt, sondern auch auf drei und mehr. Ein solches Resultat ist nicht wunderbar; fordert doch jeder spezielle Fall der Verwundung oder der Entfernung eines Organes eine besondere Art der Regene- ration und einen besonderen Prozess der Neogenie. [33] Ueber periodische Variationen in Organismen. (Vorläufige Mitteilung.) Von cand. phil. R. Lämmel. Die vorliegende Arbeit ist eine erste Mitteilung über eine Unter- suchung, die ich im Laufe des Jahres 1901 angestellt habe, um zu erfahren, in welcher Weise die siderische Periode des Jahres einen belebten Organismus beeinflusst. In dieser Form erscheint die Frage als eine Spezialisierung der allgemeineren Fassung: Welches sind die periodischen Erscheinungen in den Organismen, die den bekannten periodischen Vorgängen in unserer anorganischen Welt entsprechen ? — Ich nahm dabei a priori als feststehend an: 1. dass diese letzteren (Tag, Monat, Jahr) überhaupt Anlass geben zu Variationen, und 2. dass diese Folgeerscheinungen dieselben Perioden zeigen wie die primären Erscheinungen, indem ich einen von Laplace ausgesprochenen Ge- danken verwendete: wenn irgend eine Ursache Wirkungen hervor- bringt und die Ursache periodischen Schwankungen ausgesetzt ist, 80 zeigt die Wirkung Schwankungen von derselben Periode. Is bestes Hilfsmittel zur Erreichung meines Zweckes erschien mir die Statistik, und zwar sowohl die Statistik, die sich auf die Bewegung menschlicher Bevölkerungen bezieht, als auch die, aus welcher sich solche Variationen in irgend einer Tierspecies ergeben. Daher habe ich unter anderem umfangreiche bis in das 16. Jahrhundert zurück- gehende Untersuchungen von Kirchenbüchern in den Zürcher Archiven vorgenommen, um über Schwankungen in der Intensität von Geburt, Ehe, Tod, des Geschlechtsverhältnisses u. s. w. beim Menschen Auf- schluss zu erhalten. Ueber diese Arbeit werde ich in einiger Zeit Mitteilung machen. Es ergab sich neben mehreren bekannten Er- scheinungen u. a. eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass außer den be- kannten Tages-, Monats- und Jahresperioden noch eine größere Pe- riode von der ungefähren Dauer einer Generation (30—85 Jahre) vorhanden sei. Anderseits wurden von mir Untersuchungen darüber angestellt, in welcher Weise sich der Einfluss einer Jahresperiode auf einen Tier- Lämmel, Ueber periodische Variationen in Organismen. 369 organismus konstatieren lasse; hierzu verwendete ich zunächst Frösche, weil diese leichter in genügender Anzahl zu verschaffen sind als an- dere Tiere. II. Die Untersuchung, deren Ergebnisse ich hiermit veröffentliche, wurden im physiologischen Institut der Universität Zürich ausgeführt. Es wurden rana esc. und rana temp. in Bezug auf die Variation des Gewichtes von Haut, Knochen und Leber untersucht. Die Resultate erhielten die Form von Verhältniszahlen: Gewicht des Organes dividiert durch das Gewicht des ganzen Frosches. Alle Zahlen sind bis auf drei Stellen genau. Es ergaben sich 12 Kurven von der Art, wie Fig. 1 zwei zeigt. Um nun das Gewicht dieser Kurven zu erhöhen, nahm ich Monatsmittel, da ich von Schwankungen innerhalb eines Monates absehen wollte, und zwar, weil ich keinen anderen Einteilungs- grund zur Verfügung hatte, nach Kalendermonaten. Es ergaben sich nun die Tabellen 1, 2, 3, 4; deren Zahlen wurden in verschiedener Weise für die Kurven in Fig. 2—10 verwendet: 1. zum Vergleich von Männchen mit Weibchen, 2. zum Vergleich von esc. mit temp., 3. zum Vergleich der Organe untereinander. Tabelle I. Mittelwerte für Rana esc. M. Monat Haut Obersch. Untersch. Leber 1 144 461 476 2 132 634 567 3 140 480 507 4 132 555 RT 5 146 530 558 6 150 531 562 7 110 529 547 10 159 568 552 11 139 482 542 12 149 483 Da Jahresmittel: 132 ae mer Tabelle II. Mittelwerte für Rana temp. W. Monat Haut Obersch. Untersch. Leber 1 110 362 398 2 108 383 410 3 130 522 558 4 137 645 636 5 142 665 Toy, 6 144 456 449 7 103 540 593 10 105 387 465 11 107 484 522 12 101 351 402 XXII. 24 Organismen. ionen in at lische Var 100 Lämmel, Ueber per ale, Ol Olssmmma 2 S2- VE TOT: gap aunfp DU Ziudp ZLPN dPNA1Qa] LPNUDLP LOqWozaT LKoqWaaoN 1290740 | | I ! I ! ! Ba —y a A 597 =y “ N 06” se— N = == = =“ ; \ 0017 Pa \ A — “ LEER S 201 A E ' 3 17 17. Monat u 2m W a: x “ . Lämmel, Ueber periodische Variationen in Organismen. Monat fr S Monat Tabelle III. Mittelwerte für Rana temp. M. Haut Obersch. Untersch. 170 474 496 166 555 586 176 537 607 149 692 701 137 689 763 141 705 187 131 538 573 104 598 642 1 519 486 167 417 459 Tabelle IV. Mittelwerte für Rana esc. W. Haut Obersch. Untersch. 110 3 402 110 437 453 100 443 448 Alalal 448 449 431 551 519 128 575 615 110 551 a 142 546 554 133 468 494 145 593 628 Mittel: 122 499 520 Fig. 2. N- N. © S % N. N. N. en: Qu or, „ N N & Ss S Ss S S EEE Leber Leber 311 Seas de x Oberschenkel R ..ese. 372 Lämmel, Ueber periodische Variationen in Organismen. ) pP Da ich die physiologische Seite der Frage ganz unberücksichtigt ließ, erfolgten diese Gegenüberstellungen nur zu dem Zwecke, um Fig. 4. Sees v7 r : NS. & S x Sn 3 IS N 2 S = S ° S u N In IS > v S SQ S SQ Ss < © 1 + er 2 e 5 \ oO S D > IS} Q S 3 S S S 3 < %& Ss IS IN o RS) x Ep} Sn S ee N ee S. I 1 j N t m I | I k I m. x SM S- ” N: ' . ’ N ER \ R NS n N \ DR =. ey R ‚ S ( N SS v -. ” r 3 \ re x S > N N S Q N X S Ss Q x“ x DI — > s S = I = S S Ss S S N größere Deutlichkeit für die gesuchten Regularitäten zu erlangen. Die in Pflüger’s Archiv erschienene Arbeit von J. Gaule!), in welcher 1) J. Gaule, Die Veränderungen des Froschorganismus (R. esculenta) während des Jahres. Arch. f. d. ges. Phys. 87, p. 473. 200. R.temp Unterschenkel o re Oberschenkel R.temp er A Pe Lämmel, Ueber periodische Variationen in Organismen. 373 über eine analoge Untersuchung anderer Organe des Frosches berichtet wird, behandelt die physiologische Bedeutung solcher Untersuchungen. Fig. 8. I Br -Z Ro le a7 { x R | N 1 \ = z % \ S L \ SEN N \ N N EN = EN = IN ‚N N N N N EN \ I SL > Da Ah Sa e Zr 1? ge) I, . ı \ ’ m ‚ ID S _. Ss eg \ LE \ N a br x ” SE SEERRRSS N er NS xx Sa SI > S( N # \ / 2 \ 7 . \ S IS} S S SQ N EB A > ao) . EEE 4 8 KIR R Ss Q- SS [\ SET] S e° I. REN N ‚I IS) S S AS ”" Oben Ob s 600 400 300 600. 300 400 In der Rede, die J. Gaule auf dem Physiologenkongress in Turin 1901 hielt'), wird insbesondere die Bedeutung solcher periodischer Lebens- 1) J. Gaule, Ueber den periodischen Ablauf des Lebens. Arclı. f. d. ges. Phys. 87, p. 538. 374 Lämmel, Ueber periodische Variationen in Organismen. erscheinungen für die Physiologie festgestellt, und zwar, wie es scheint, zum erstenmal. IIl. Die Schwankungen äußern sich nun aber in einer Weise, die zunächst ganz unbekannt ist; sie können in einer Aenderung der che- mischen Zusammensetzung bestehen, ohne Schwankungen des Gewichtes, oder in Gewichtsschwankungen, ohne Aenderung der chemischen Zu- sammensetzung; drittens können Variationen in beiden Richtungen auf- treten. Bei meinen Untersuchungen nahm ich den letzten Fall als den allgemeinsten an. Da ich nun Schwankungen der Gewichte konstatiert habe, erhielt ich bloß eine Komponente des Totaleinflusses. Die Knochen sind nun aber aufbewahrt, und deren chemische Untersuchung, Fig. 10, o ı N en I Rs SI EN S SS S SS R SE SORER 5 SS SS N. 700. 200 00 700 , 200 v7 O0 . 400. 000 . über welche ich später zu berichten haben werde, wird für sie auch die andere Komponente liefern. Es ist klar, dass man, um zum angegebenen Ziele zu gelangen, noch irgendwie anders verfahren hätte können. Man hätte etwa die Variationen der spezifischen Gewichte der Organe untersuchen können, oder die Variationen in der Beschaffenheit des Blutes ete. Der eingeschlagene Weg, die Gewichte der Organe zu bestimmen, war einer von den möglichen, und zwar der einfachste. IV. Es war von vornherein sicher, dass die Schwankungen mit dem Fortpflanzungstrieb zusaminenhängen würden, da dieser erfahrungs- gemäß bei fast allen Tieren periodisch auftritt. Fig. 2, 3, 4 zeigen beim Weibchen ein ausgeprägtes Minimum in den Monaten I bis IV, Lämmel, Ueber periodische Variationen in Organismen. ZU in welche Zeit die Produktion der Geschlechtsprodukte fällt; analog Fig. 5, 6, 7 für die Monate XII, I bei temp. Diese Erscheinungen stimmen überein mit den Thatsachen, dass die Frösche alljährlich eine Hunger- und eine Fressperiode haben, dass sie alljährlich einmal laichen und dass diese Erscheinungen bei esc. und temp. zeitlich nicht zusammenfallen. Eine weitere Orientierung liefern die Fig. S, 9, 10. Ich will jedoch noch keinerlei Schlüsse aus den Kurven ziehen, sondern noch einige Teile der Untersuchung im Laufe dieses Jahres vervollständigen und kontrollieren. Die Schwierigkeiten, die bei einer korrekten Diskussion der Kurven auftreten, sind größer als ich zu- nächst vermutete. Vor allem ist die geringe Zahl von Fröschen (125 während des Jahres) gegenüber der Wichtigkeit der Frage ein wunder Punkt der Untersuchung, und dann kommt noch der Umstand dazu, dass in den Kurven Frösche von unbekanntem, jedenfalls ungleichem Alter verglichen werden. Wenn also in meinen Kurven ein isoliertes Maximum auftritt, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass es thatsächlich typisch sei, um so kleiner, je geringer das (mathematische) Gewicht dieses Maximums ist, d.h. je geringer die Zahl der Frösche ist, deren Untersuchung dieses Maximum ergab. Von diesem Standpunkt aus erscheint z. B. das Maximum für die Haut von R. temp. M. (Fig. 5) von XII bis III ziemlich evident, ebenso für W. von IV bis VI, dagegen in Fig. 3 das Maximum für R. ese. M. im Februar sehr problematisch. Ich glaube, dass es also gerechtfertigt erscheint, vorläufig von einer definitiven Diskussion der Kurven abzusehen. Es schien mir gut, die Resultate undiskutiert zu publizieren, weil ich dadurch vielleicht eine allgemeinere Aufmerksamkeit auf dieses bisher wenig durchsuchte Gebiet lenken kann. Nach einem berühmten Theorem von J. Bernoulli hat man es in der Hand, den Zufall bei solchen Untersuchungen fast zu eliminieren und Resultate von beliebig großer Genauigkeit zu erlangen: indem man eine entsprechend große Anzahl von Versuchen unternimmt. Würde man also etwa alle 5Min. einen Frosch töten und seine Organe untersuchen, so bekäme man einwandfreie Kurven, die sowohl die tägliche, monatliche und jährliche Periode, als auch irgend eine andere, den Fröschen vielleicht eigen- tümliche Sehwankung anzeigten (wie oben: Generationsschwankung). Was mich gehindert hat, das zu thun, war bloß der Umstand, dass ich die 100000 Frösche nicht auftreiben konnte, die dafür alljährlich nötig wären, und dass meine Arbeitskraft nieht ausreichte, die Auf- gabe zu lösen, wenn ich auch die Frösche hätte. Da also in diesen beiden Richtungen der Erfüllung jener Ber- noulli’schen Bedingungen große Hindernisse entgegenstehen, so liegt die Frage nahe, ob man die Untersuchung nicht an einem anderen Tiere anstellen sollte. Wenn wir verlangen, dass die Resultate eine 376 Marchand, Ueber das Hirngewicht des Menschen, sinngemäße Deutung für den Menschen zulassen sollen, so muss es wohl ein Wirbeltier sein; und in den erforderlichen Mengen ist nicht leicht eines aufzutreiben. Daher ergiebt sich die Notwendigkeit, die Zahl der Versuche durch die Dauer der Untersuchungszeit zu erhöhen; so dass also die vorliegenden Daten eine Untersuchungsperiode zwar abschließen, aber eine definitive Beurteilung derselben noch nicht ge- statten. Diese soll vielmehr erst erfolgen, wenn die zweite Untersuchung im Laufe dieses Jahres beendet sein wird. [38] Zürich, am 6. Februar 1902. Ueber das Hirngewicht des Menschen). Von F. Marchand. Wir besitzen bereits mehrere Untersuchungen über das Hirngewicht beim Menschen, die an einem größeren Material ausgeführt sind, dar- unter in erster Linie die von R. Boyd und von Th. v. Bischoff. Dennoch sind bei weitem nicht alle Fragen erledigt, die sich auf diesen Gegenstand beziehen, selbst wenn wir ganz von den noch in den An- fängen liegenden Erfahrungen über das Gehirngewicht bei den ver- schiedenen Menschenrassen absehen. — Die allerwichtigste Frage, wie sich das Gewicht des Gehirns zur Funktion, ganz besonders zu den eigentlich psychischen Funktionen verhält, harrt noch fast vollständig der Lösung. Hirngewichte von geistig hervorragenden Individuen sind trotz zahlreicher Einzelbeobachtungen aus den letzten Jahrzehnten immerhin noch zu spärlich, um ein bestimmtes Urteil zu gestatten. Bevor ein solches aber überhaupt möglich ist, müssen diejenigen Bedingungen festgestellt werden, durch die das Gehirngewicht beeinflusst wird. Dar- unter kommen in erster Linie die Veränderungen des Gehirngewichtes in den verschiedenen Lebensaltern in Betracht; zu welcher Zeit er- reicht das Gehirn seine maximale Entwicklung; wie verhält sich seine Abnahme im höheren Alter? Eine zweite, sehr wichtige und noch sehr verschieden beantwortete Frage betrifft die Beziehungen des Ge- hirngewichts zur Körpergröße; weniger wichtig erscheint das Ver- hältnis zum Körpergewicht, da dasselbe ein von Nebenumständen zu sehr abhängiger Faktor ist. Dagegen ist von besonderem Interesse das Verhältnis des Gehirngewichts bei den beiden Geschlechtern. Die Gehimwägungen, die der vorliegenden Zusammenstellung zu Grunde liegen, wurden in den Jahren 1885 —1900 im pathologischen Institut in Marburg, im wesentlichen an Individuen der hessischen 1) 8. d. Ausführliche Mitteilung nebst Tabellen in den Abhandlungen der K. S. Gesellschaft der Wissenschaften, math.-phys. Kl. XXVII 4. 1902. Marchand, Ueber das Hirngewicht des Menschen. 377 Bevölkerung ausgeführt. Die Gesamtzahl der Fälle betrug 1173, darunter 716 männlichen, 457 weiblichen Geschlechts. Unter diesen waren 707 Erwachsene (441 männlichen, 266 weiblichen Geschlechts von 20 bis über SO Jahren) und 466 Individuen unter 20 Jahren (275 männlichen, 191 weiblichen Geschlechts). Die Einzelgewichte wurden tabellarisch nach dem Lebensalter der Individuen, zweitens nach der Körpergröße geordnet. Das Körpergewicht wurde nicht mit berück- sichtigt. Die Gehirne wurden im frischen Zustande, mit den weichen Häuten gewogen. Unter den Fehlerquellen, welche die Gehirnwägungen beeinflussen, kommt in erster Linie der durch die vorausgegangene Krankheit (Todesursache) bedingte sehr wechselnde Blutgehalt in Betracht, ferner der sehr verschiedene Grad der Durchtränkung mit seröser Flüssigkeit, die besonders bei Kindern eine große Rolle spielt. Oedem der Hirnhäute, Wasseransammlung in den Ventrikeln lassen sich leichter beseitigen. Gehirne mit anderen pathologischen Veränderungen, größeren Blutergüssen, Geschwülsten u. dergl. werden am besten aus- geschieden. Immerhin sind die nicht zu beseitigenden Fehler doch erheblicher, als vielfach angenommen wird, und es ist daher durchaus unrichtig, aus einigen wenigen Fällen Schlüsse zu ziehen. Wir sind auf Mittelgewichte aus möglichst großen Zahlen angewiesen. Die uns vorliegenden Zahlenreihen sind nun noch bei weitem nicht für alle Altersklassen ausreichend, so dass ein Urteil über die Gewichtsverhält- nisse des wachsenden Gehirns nur mit großer Reserve abgegeben werden kann. Auch der Wert der Mittelgewichte an sich ist sehr verschieden, denn die gleichen Mittelgewichtszahlen können aus einer sehr ver- schiedenen Zusammensetzung von Einzelgewichten hervorgehen. Eine Anzahl sehr niedriger Einzelgewichte kann durch einige sehr hohe Gewichte ausgeglichen werden; andererseits kann das gleiche Mittel- gewicht aus ziemlich gleich großen Einzelgewichten zusammengesetzt sein. Werden nun solche Mittelgewichte wieder mit anderen Durch- schnittswerten, z. B. der mittleren Körpergröße einer gewissen Alters- klasse in Beziehung gebracht, und wird daraus ein bestimmtes Ver- hältnis zwischen beiden berechnet, so ergeben sich Zahlen, die zwar den Eindruck großer Exaktheit machen, thatsächlich aber fast ganz wertlos sind. Natürlich steigert sich der Fehler, je geringer die Zahl der Einzelfälle ist, aus denen die Mittelwerte berechnet sind. Die mangelhafte Berücksichtigung dieses Uebelstandes einer schematischen Behandlung der statistischen Berechnungen hat auch auf diesem Ge- biete viele Irrtümer zur Folge gehabt. Um die Mittelgewichte auf ihren wahren Wert zu prüfen, ist es daher unerlässlich, die ausführ- lichen Gewiehts- und Maßtabellen mitzuteilen. Bei den in sehr weiten Grenzen schwankenden Einzelgewichten bedeutet das „mittlere Ge- 378 Marchand, Ueber das Hirngewicht des Menschen. wicht“ thatsächlich nur für eine kleine Zahl der Fälle das wahre Ge- wicht des Gehirns. Zum genaueren Verständnis ist es erforderlich, das Prozentverhältnis der Einzelgewichte (wenigstens in Stufen von etwa 50 g) zu der Gesamtzahl der Fälle zu ermitteln. Auf kleine Abweichungen der Mittelgewichte, z. B. bei Ver- gleichung der Resultate verschiedener Autoren, ist kein großer Wert zu legen. Bei Mittelgewiehten von 1260-1500 g spielen Differenzen von 25 und 30g (2°/,) noch keine große Rolle; sie hängen vielfach von Zufälligkeiten ab, die auch bei Zahlenreihen von 100-200 Einzel- fällen noch keineswegs in Wegfall kommen, und bei kleineren Zahlen natürlich um so stärker ins Gewicht fallen. Wenn also nach der Zu- sammenstellung von Vierordt die Mittelzahlen für das Gehirn der europäischen Bevölkerung nach den einzelnen Autoren zwischen 1265 g (Weisbach, Gewicht ohne Hirnhäute) und 1460 (Krause) für die Männer, und zwischen 1112 (Weisbach) und 1341 (Krause) für die Weiber schwanken, so sind daraus doch nicht ohne weiteres Schlüsse auf die Verschiedenheiten des Gehirngewichts bei den einzelnen euro- päischen Völkern zulässig. Dazu kommt, dass bei Berechnung des durchschnittlichen Mittelgewichtes in der Regel nicht die Gewichts- abnahme im Alter berücksichtigt ist. Das „wahre Mittelgewicht“ ist das mittlere Gewicht des ausgebildeten Gehirns mit Ausschluss der senilen Verkleinerung. Als solches habe ich 1400 g für die Männer (von 15—50 Jahren), 12758 für die Weiber ermittelt. Mit Hinzu- rechnung der höheren Altersklassen vermindert sich das Mittelgewicht auf 1388 resp. 1252. Das Alter, in welchem das Gehirn seine definitive Ausbildung erreicht, ist nur schwer mit Sicherheit festzustellen. Die Angaben der Autoren gehen darüber in ziemlich weiten Grenzen aus- einander; nach Bischoff soll das Gehirn beim Manne zwischen dem 20. und 50. Jahre noch an Gewicht zunehmen, während es beim Weibe bereits vor dem 20. Jahre ausgewachsen sein soll. Andere setzen den Endtermin des Gehirnwachstums viel früher (auf das 15. und 16. Lebensjahr). Thatsächlich ist die Gewichtszunahme des Ge- hirns bei beiden Geschlechtern nach dem 15. Lebensjahre nur sehr gering. Die Mittelgewichte der einzelnen Jahrgänge genügen aber hier nicht zur genauen Feststellung, da selbst bei recht großen Zahlen doch noch erhebliche Schwankungen innerhalb der ein- zelnen Jahrgänge vorkommen. Wichtiger ist es, die prozentische Ver- teilung der hohen Gewichtszahlen in den einzelnen Lebensjahren zu berechnen, denn solange noch eine Zunahme hoher Hirngewichte statt- findet, ist wohl anzunehmen, dass das Wachstum noch nicht abge- schlossen ist. Es ergab sich dabei, dass ein Gehirngewicht von mehr als 1500 g in den einzelnen Decennien vom 19. bis zum 50. Lebensjahr ziemlich gleichmäßig in 23—24°/, aller Fälle vorkommt, dass demnach eine ri Marchand, Ueber das Hirngewicht des Menschen. 379 deutliche Zunahme des Gewichts über das 20. Jahr hinaus nicht sicher nachweisbar ist. Dennoch weisen einige abnorm hohe Zahlen in den zwanziger Jahren darauf hin, dass eine solehe Zunahme vielleicht bei einzelnen Individuen noch stattfindet. Um darüber möglichste Sicher- heit zu erhalten, bedürfte es einer großen Zahl von Gehirnwägungen der Altersklasse von 18—25 Jahren (Soldaten!) Beim weiblichen Ge- schlecht ergiebt sich, dass über das 16.—18. Jahr hinaus eine Zunahme der Prozentzahl der Gewichte von 13508 und mehr nicht mehr vorkommt. Im allgemeinen kann man daher wohl als Wachstumsgrenze für das männliche Geschlecht das 19.—20., für das weibliche Geschlecht das 16.—18. Lebensjahr, also ungefähr die gleiche Grenze, wie für das Skelett- wachstum festsetzen, doch ist nicht ausgeschlossen, dass bei einer Reihe von Individuen diese Grenze früher, bei anderen erst etwas später erreicht wird, wie ja auch die durchsehnittliehe Körpergröße (beim Manne) noch über das 20. Lebensjahr etwas zunimmt. Da die Zunahme des Hirngewichts nach dem 15. Lebensjahre nur noch sehr gering ist, kann man ohne großen Fehler bei der Berechnung des Mittelgewichts für beide Geschlechter dieses Jahr als die untere Grenze für das erwachsene Gehirn annehmen. Die Hälfte aller erwachsenen männlichen Individuen (von 15 bis über 80 Jahre) hat ein Gehirngewicht von 1300—1450 g, ca. 50%, haben ein solches über 1450 g, 20°, ein solches unter 13009. 84°, haben ein Gehirngewicht zwischen 1250 und 1550. Gehirne unter 1250 sind als abnorm klein, solehe über 1550 als abnorm groß zu bezeichnen. Wie weit die untere Grenze des Gehirngewichts herabgeht, ohne dass Bildungsfehler (Mikrencephalie mit Idiotie) oder erworbene patho- logische Veränderungen, senile Atrophie u. dergl. zu Grunde liegen, ist schwer zu sagen; im allgemeinen dürfte ein Gewicht von 1100 g als das Minimum zu bezeichnen sein. Auf der anderen Seite sind Ge- wichte über 1700 g als pathologisch zu bezeichnen. Unter den erwachsenen weiblichen Individuen haben 55°, ein Hirngewicht von 1200-1350 g, 20°, ein solches über 13508, 25°, ein solches unter 1200 g. 91%, aller weiblichen Individuen haben ein Gewicht zwischen 1100 und 1450 g. Ein Gewicht von 1050 g bildet ungefähr die untere, ein solehes von 1550 g die obere Grenze für das weibliche Geschlecht. Das Wachstum des Gehirns im kindlichen Alter ist schon mehr- fach Gegenstand besonderer Untersuchungen gewesen (R. Boyd, Parrot, Vierordt, Pfister, Mies), mit dem im ganzen überein- stimmenden Ergebnis, dass das Anfangsgewicht des Gehirns sich im Laufe der ersten drei Vierteljahre des Lebens ungefähr verdoppelt, und sich vor Ablauf des dritten Lebensjahres verdreifacht. Von diesem Zeitpunkt ab erfolgt die Zunahme des Gehirns immer langsamer; sie bleibt beim weiblichen Geschlechte hinter der beim männlichen zurück. 380 Marchand, Ueber das Hirngewicht des Menschen. Die Angaben über das Gehirngewicht bei Neugeborenen sind auf- fallenderweise bei den einzelnen Autoren recht verschieden. Nach unserer Zusammenstellung betrug dasselbe 371 g für die Knaben, 361g für die Mädchen, doch ist die Zahl der Einzelfälle noch viel zu gering. Was nun das Verhältnis des Gehirngewichts zur Körpergröße anlangt, so weichen die Ansichten der Autoren auch über diesen Punkt erheblich voneinander ab. Die Mehrzahl (besondersBoyd, Parchappe, Tigges, Marshall) nimmt aber eine Zunahme des Gehirngewichts mit der Körpergröße an. Doch soll diese Zunahme nicht gleichmäßig sein, so dass das relative Gehirngewicht (d. h. die Zahl der Gramme Gehirngewicht pro 1em Körperlänge) nach Bischoff und Marshall bei kleineren Individuen größer ist als bei größeren. Mit anderen Worten: Kleinere Individuen sollen ein relativ größeres Gehirn haben als große, aber ein absolut kleineres. Diese Sätze sind aber das Ergebnis einer nicht einwandfreien Kombination von ungleichartigen Mittelzahlen. Es giebt kleine Individuen mit ungewöhnlich großem, und solche mit sehr kleinem Gehirn, andererseits giebt es große In- dividuen mit kleinem, und solche mit hohem Gehirngewicht. Das einzige, was für eine gewisse Abhängigkeit des Gehirngewichts von der Körpergröße zu sprechen scheint, ist, dass das mittlere Gehirn- gewicht der Individuen unter Mittelgröße (männlichen und weib- lichen Geschlechts) etwas hinter dem der größeren Individuen zurück- bleibt. Dies beruht darauf, dass unter den ersteren eine größere Zahl von Individuen in der ganzen Entwicklung des Körpers zurückgeblieben ist, woran sich auch das Gehirn beteiligt. Es sind dies zum Teil wahrscheinlich solche Individuen, die von Geburt an schwächlich, viel- leicht auch zu früh geboren sind, während andererseits ererbte oder dureh nachträgliche Störung des Skelettwachstums erworbene Klein- heit, wie z. B. bei Rachitis oft mit emem hohen Hirngewichte verbunden ist. Außerdem kommt — bei alten Individuen — senile Verkleinerung des Gehirns mit gleichzeitiger seniler Abnahme der Körpergröße in Betracht. Werden aus diesen ihrem Wesen nach ganz verschiedenen Kom- binationen „Durchschnittswerte“ berechnet, so können solche keinen sroßen Wert haben. Eine auch nur annähernde Regelmäßigkeit in dem Verhältnis des mittleren Gehimmgewichts zur Körpergröße lässt sich für die Individuen männlichen Geschlechts zwischen 160 und 190 em Länge nicht nachweisen, ebensowenig für die weiblichen In- dividuen von 145—180 em. Indes ist sehr wohl möglich, dass bei der Vergleichung einzelner Rassen, oder selbst Nationen ein gewisser Pa- rallelismus zwischen durchschnittlicher Körpergröße und Gehirmgewieht besteht. Zur Beantwortung dieser Frage wäre die Sammlung einer größeren Zahl von Gehirngewichten verschiedener Völker (z. B. Japaner) Marchand, Ueber das Hirngewicht des Menschen. 381 von großer Wichtigkeit!). Auch unter den europäischen Nationen scheinen solche Unterschiede vorzukommen, indem z. B. die romanischen Völker bei etwas geringerer durchschnittlicher Körpergröße ein etwas geringeres durchsehnittliches Gehirngewicht haben als die germanischen Völker. Was endlich das viel besprochene Verhältnis des Gehirngewichts bei den beiden Geschlechtern anlangt, so geht aus unserer Zusammen- stellung mit Sicherheit hervor, dass das geringere Gehirngewicht des weiblichen Geschlechts nieht oder wenigstens nieht allein von der ge- ringeren Körpergröße des Weibes abhängt, denn das mittlere Gehirn- gewicht der Frauen ist ohne Ausnahme geringer als das der Männer von gleicher Körpergröße. Es müssen also noch andere Be- dingungen dabei eine Rolle spielen. Die geringere Körpermasse des weiblichen Körpers dürfte dabei nicht von Bedeutung sein, denn diese geht ja im allgemeinen mit der Körpergröße parallel. Das Körper- sewicht kann jedenfalls nicht als Maßstab dienen, da es je nach dem Ernährungszustand in weiten Grenzen wechselt. Es bleibt wohl nur die Annahme, dass das geringere Gehirngewicht des Weibes ein Ausdruck einer anderen Organisation des weiblichen Körpers über- haupt ist, an der auch das Gehirn seinen Anteil hat. In der Wachstumsperiode erfolgt die Zunahme des mittleren Ge- hirngewichts anfangs ziemlich entsprechend der Körpergröße, ungefähr bis zu einer Länge von 70 cm, unabhängig vom Alter und Geschlecht; später ist die Zunahme ungleichmäßiger; das weibliche Gehirn bleibt hinter dem männlichen immer deutlicher zurück. Welche anatomisch-histologischen Unterschiede der noch in der Breite der Norm liegenden Verschiedenheit des Gehirngewichts um 300—350 g zu Grunde liegen, wissen wir nicht. Handelt es sich um numerische Differenzen oder um Unterschiede in der Größe der einzelnen Elemente? Die ersteren sind jedenfalls für die Ganglienzellen ziemlich unwahr- scheinlich, solange es sich nicht um in der ersten Entwicklung zu- rückgebliebene, z. B. mikrocephale Gehirne, oder vielleicht auch um solche von vorzeitig geborenen Individuen handelt. Ein Ausfall von Ganglienzellen, der mit den von ihnen ausgehenden Fasern eine Ge- wichtsverminderung um mehrere hundert Gramme verursachen würde, wäre ohne schwere Funktionsstörungen kaum denkbar. Berücksichtigt man aber, dass die Marksubstanz bei weitem den größten Teil der Gehirnmasse darstellt, und dass die Länge, bis zu einem gewissen Grade wohl auch die Dieke der markhaltigen Fasern ohne großen Einfluss auf die Funktion sein dürfte, so ist mit Wahrscheinlichkeit einer verschiedenen Ausbildung der Markmasse der Hauptanteil des 1) Die allgemeine Durchführung der von Chiarugi (Archives ital. de Biologie, T. XXXV, 1901, p. 241) empfohlenen Gehirnwägungen wäre für diesen Zweck sehr wünschenswert. 389 Wasmann, P. Petrus Heude J. S. +. Gewichts- und Größenunterschiedes zuzuschreiben. Dazu kommt weiter- hin eine verschiedene Ausbildung der Neuroglia, welche indes ana- tomisch schwer nachweisbar ist. Vorübergehende und auch längere Zeit andauernde Vergrößerungen des Gehirns sind in erster Linie durch seröse Durchtränkung (Quellung) der Zwischensubstanz bedingt, ganz besonders beim kindlichen Gehirn. Bleibende Vergrößerungen über das normale Maß hinaus können durch Vermehrung der Zwischen- substanz, aber auch durch stärkere Markbildung bedingt sein. Sie stellen das dar, was man als wahre Hypertrophie des Gehirns be- zeichnet, also immer einen abnormen, pathologischen Zustand. Der- artige Gehirne können dabei gut, ja sogar sehr gut funktionieren (Cuvier, Turgenieff), ohne dass sie einen Schluss auf das Ver- hältnis zwischen Gehirngewicht und Geistesthätigkeit im allgemeinen zulassen, denn in anderen Fällen sind die Funktionen solcher übergroßen Gehirne keineswegs hervorragend. Von größerer Bedeutung dürfte die morphologische Ausbildung der Oberfläche sein, die bei großen, gut- entwickelten Gehirnen vollkommener zu sein pflegt als bei kleinen, in der ganzen Entwicklung zurückgebliebenen. Daher können wohl die über das durchschnittliche Mittelgewicht hinausgehenden Ge- hirne im allgemeinen den Vorrang vor den kleineren haben. [39] PAPetrus-Heude,J. >. 7. Am 3. Januar dieses Jahres starb zu Zi-ka-wei bei Chang-hai P. Petrus Heude S. J. im Alter von 66 Jahren. Da er sich durch seine Arbeiten dauernde Verdienste um die zoologische Kenntnis Chinas und der Nachbarländer erworben hat, dürfte es von Interesse sein, hier einen Ueberblick über dieselben zu geben, zumal sie in Deutschland wenig bekannt geworden sind. Das Material zu seinen Studien sammelte er auf den zahlreichen Forschungsreisen, die er von 1868 bis 1900 unternahm. Dieselben erstreckten sich nicht bloß auf die Provinzen des östlichen und des mittleren China, sondern auch auf die Philippinen, Japan, die Mo- lukken, die Sundainseln, Cochinchina und Tonkin, wo ihn im Juli 1900 das Fieber befiel, das zu seiner tötlichen Krankheit führte. Die hauptsächlichen Publikationen P. Heude’s sind die folgenden: La Conchiologie fluviatile de Chine, Paris 1875—1885. Me- moires concernant l’histoire naturelle de l’Empire Chinois, Chang-hai 1882 — 1901). Letzteres Werk umfasst 5 Foliobände mit zahlreichen lithographischen Tafeln: T. I (4 Hefte, 226 S. u. 41 Tafeln): Heft 1: Memoire sur le Trionyx; Etude sur le Öoceus p@&la.. Heft 2—4: Notes sur les Mollusques terrestres de la vall&e du Fleuve Bleu. T. IL (4 Hefte, 240 S. u. 56 .Taf.): Heft 1: Ftude comparee sur les Cervides et les Suides; Essai sur la classification des Cerfs des Phi- lippines et de l’Indo-Chine. Heft 2—4: Etude sur les systömes dentaires Zacharias, Zur Fauna der Umgebung von Buitenzorg. 383 des Herbivores. Ferner: Etude sur les Suides; sur les genres Capricornis et Kemas; Revision du catalogue des Sikas. T. III (4 Hefte, 198 8. u. 44 Taf.): Heft 1: La nomenclature osbornienne; Etudes odontologiques des Carnivores; Armure frontale. Heft 2: Fortsetzung der beiden vorigen Studien; Genre Hippephus; Oerfs Sika. Heft 3: Cerfs Sika; Etudes odontologiques: Carnivores, Insectivores, Marsupiaux; Capricornes du Tonkin. Heft 4: Fitudes odontologiques, Fortsetzung. Cheiropteres et Roussettes; Suilliens: Sangliers chinois; Capricornes de Se-tchouan. T. IV (4 Hefte, 211 S. u. 45 Taf.): Heft 1: Antilopes du Thibet; ÖOurs japonais et mandchous; Question sur l’Enhydris, ’Ours et l’Otarie; Apophyse angulaire des Carnivores; Talpides, &tude dentaire; T’halassaetus niger H. Heft 2: Dents des Doneenen, Monographie des Sikas de l’Archipel des Cing Des (Goto). Heft 3: Etude sur les Suilliens: sangliers chinois; Revision du genre Ussa; Ailuropus et Ursus. Heft 4: Mes sur I: Tarsiens, les Singes, ’Homme. T. V (1. Heft, 43 8. u. 11 Taf.): Notes sur quelques Ursides peu ou point connus; Essai sur les Bovides sauvages de l’Indo-Chine Francaise ; Remarque sur un article du Dr. Ameghino; Cranes de quelques Herbivores. Die reichen zoologischen Sammlungen Heude’s befinden sich mit seinen botanischen Sammlungen in dem von ihm gegründeten Museum des Jesuitenkollegs Zi-ka-wei bei Chang-hai. E. Wasmann. |45]| Zur Fauna der Umgebung von Buitenzorg. In dem soeben erschienenen Bulletin de l’Institut botanique de Buitenzorg (Nr. XIII) finden sich auch einige allgemeine Bemerkungen über die Fauna der dortigen Gegend, welche für manchen Zoologen und Biologen von Interesse sein werden. Die Säugetiere sind auf Java durch etwa 100 Arten vertreten, von denen 40 den Chiropteren angehören. Die Zahl der Individuen ist bei letzteren außerordentlich groß und für den Systematiker sowohl wie für den Embryo- logen bietet sich ein reiches Untersuchungsmaterial dar. Fast das ganze Jahr hindurch sind trächtige Tiere zu erlangen. Von kleineren Raubtieren sind sehr häufig: Paradoxurus hermaphroditus, Herpester javonicus, Viverricula malac- censis, Mydaus mediceps und Lutra leptonyx. Das javanische Stachelschwein (Hystrix javanica) ist leicht in beliebiger Anzahl zu erlangen. Von Edentaten lebt nur eine einzige Art auf Java: Manis javanica. Die Vogelfauna der Umgebung von Buitenzorg ist sehr reich, ins- besondere von Bienenfressern (Merops), Papageien, Bartvögeln und Nektariniden. Dasselbe gilt von denReptilien undSchlangen, die ein ganz massen- haftes Vorkommen zeigen. Material zu embryologischen Zwecken aus diesen beiden Gruppen ist daher immer zu erhalten. Von Cheloniern sind namentlich die Lippenschildkröten (Zryonycidae) zu erwähnen, welche in Bergflüssen leben. Die Frösche zeichnen sich durch besonderen Formenreichtum aus, wo- gegen die geschwänzten Amphibien eine ziemlich bescheidene Rolle spielen. 4) Zu beziehen bei M. H. Arvier, Eglise St. Josef, rue Montauban, Chang-hai. 384 Bei der Redaktion eingegangene Werke. Süßwasserfische giebt es ebenfalls in großer Anzahl, und darunter sind mehrere recht zierliche Formen. Eine ganz besonders reiche Ausbeute darf sich aber auf Java der Insekten- sammler versprechen. Coleopteren, Orthopteren und Lepidopteren sind in er- staunlicher Artenfülle vorhanden. Es ist damit auch eine vorzügliche Gelegen- heit zum Studium derjenigen Erscheinung, die man Mimikry nenut, gegeben. Von den Hautflüglern sind namentlich die Grab- und Gallwespen häufig, und wer Forschungen über Gallenbildungen anstellen wollte, fände in einem Wäld- chen nahe bei Buitenzorg ein recht ausgiebiges Material für diesen Zweck. Unter den übrigen Arthropoden fallen die Spinnentiere durch erheb- lichen Artenreichtum auf. Ebenso giebt es, was die Würmer anlangt, sehr viele Planarien (21 Arten), Oligochäten und Hirudineen. Im Gegensatz dazu sind die Mollusken in der Umgebung von Buitenzorg nur spärlich vertreten; um solche in größerer Arenzahl zu sammeln, müsste man sich schon in die Ge- birgswälder begeben. Hinsichtlich der Süßwasserfauna von Java ist zu bemerken, dass sie im allgemeinen dieselben Typen enthält, die auch in anderen Erdteilen vorkommen; doch dürften genauere Nachforschungen auch hier noch Neues zu Tage fördern. Im Anschluss an das Obige sei mitgeteilt, dass im Buitenzorger Botanischen Institut erfreulicherweise auch drei Arbeitsplätze für Zoologen vorhanden sind, welche unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden. Die Bewerbung um einen solchen Platz ist eventuell an den Direktor des Instituts, Dr. Treub, zu richten. Bisher sind diese Plätze u. a. bereits benützt worden von Ko- rotneff (1885), Max Weber (1888), Selenka (1889), Aurivillius (1891), Semon (1892, 1893) und E. Häckel (1900, 1901). 0. zZ. [49] Bei der Redaktion eingegangene Werke. (Nähere Besprechung einzelner vorbehalten.) Franz Carl Müller. Geschichte der organischen Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert. Medizin und deren Hilfswissenschaften, Zoologie und Botanik. (Bd. VI der Sammlung „Das neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung“, herausgegeben von Paul Schlenther.) Gr. 8. XVIu. 7148. Berlin, Georg Bondi, 1902. W. Schwarze. Beiträge zur Kenntnis der Symbiose im Tierreich (Beilage zum Schulbericht des Realgymnasiums des Johanneums zu Hamburg). Hamburg, Druck von Max Baumann, 1902. 8. 40 Stn. Beiträge zur Biologie derPflanzen. Begründet von Ferd. Cohn, heraus- gegeben von O, Brefeld. Breslau, J. U. Kern’s Verlag, Bd. 8, Heft 2, 1901. Inhalt: J. Erikson (Stockholm). Fortgesetzte Studien über Hexenbesenbildung bei der gewöhnlichen Berberitze (mit Tafel 6—8). — F.Rosen. Studien über das natürliche System der Pflanzen. I. — R. Falck. Die Bedingungen und die Bedeutung der Zygotenbildung bei Sporodinia grandis (mit Tafel 9—11). Gary N. Calkins. The Protozoa (Columbia University Biological Series. VI). Gr. 8. XVI u. 347 Stn. New-York, The Macmillan Company, 1901. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. ae Biologisches Centralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXI. Band. 1. Juli 1902. Nr. 13 Inhalt: Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. -— Beard, Heredity and the epieyele of the germ-cells (Schluss). — Sehmidt-Nielsen, Autolytische Vor- gänge in gesalzenen Heringen. — E. Korschelt und K. Heider, Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der wirbellosen Tiere. — Preisaus- schreibung. Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Von K. Goebel. In seinem neuerdings erschienenen Buche „Regeneration“!) be- spricht Th. H. Morgan auch die Regenerationserscheinungen bei Pflanzen. Da er aber — wenigstens teilweise — nicht auf die Original- arbeiten, sondern auf zusammenfassende Darstellungen sich stützt, so erhält der nichtbotanische Leser wohl kaum ein eimigermaßen voll- ständiges Bild des derzeitigen Standes der Frage auf botanischem Ge- biete. In meiner „Organographie der Pflanzen“ (weleheMorgan auch heran- zieht) musste der Gegenstand sehr kurz behandelt werden, weil er zu dem Hauptthema des Buches in keiner sehr engen Beziehung steht. Da sich aber viele allgemeine Fragen daran knüpfen, so ist es viel- leicht nicht unerwünscht, wenn ich hier eine ausführliehere Darlegung zu geben suche. Die schon a. a. O. besprochenen Thatsachen sollen dabei keine oder nur ganz kurze Erwähnung finden, andere nament- lich auch auf Grund eigener Untersuchungen ausführlicher mitgeteilt werden. Man hat das Wort Regeneration in verschiedenem Sinne gebraucht (vergl. die Ausführungen bei Driesch und Morgan), ich ‘werde es 4) New-York und London, Macmillan 1901. Auch das fast gleichzeitig erschienene Buch von Driesch „Die organischen Regulationen“, Leipzig 1901, berücksichtigt die botanischen Beobachtungen und giebt namentlich allgemeine Erörterungen. Vergl. auch Pfeffer, Pflanzenphysiologie, II. Bd., speziell $ 47, wo auch Litteratur angeführt ist. XXU. DD 5 386 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. auch hier wie a. a. O. in dem allgemeinen Sinne anwenden, dass darunter die an abgetrennten Pflanzenteilen oder verletzten Pflanzen auftrefende Neubildung von Organen („oder Geweben“) verstanden wird. Die anatomischen Regenerationen und die Vorgänge bei der Wundheilung sollen bier aber außer Betracht bleiben !). Ausgegangen sei im folgenden von einigen allgemeinen Sätzen, in welche sich meiner Ansicht nach die bis jetzt bekannten Thatsachen zusammenfassen lassen, von letzteren sollen als Belege für die Sätze die wichtigsten angeführt werden. Eine Theorie der Regeneration ist hier also nicht beabsichtigt, sondern nur eine Zusammenfassung beob- achteter Thatsachen unter allgemeinen Gesichtspunkten. Untersucht wurden dabei die Regenerationserscheinungen, die ein- treten nach Entfernung bestimmter Organe, dass Regeneration sich unter Umständen auch wird erzielen lassen, wenn ein Organ nicht entfernt, sondern funktionsunfähig wird, ist wahrscheinlich. Wenn man an einem aufrecht wachsenden (orthotropen) Spross mit annähernd horizontalen (plagiotropen) Seitenästen den Gipfel abschneidet, so richten sich ein oder mehrere Seitenäste zum Ersatz des Gipfels auf. Bei Circaea ließ sich dasselbe Ergebnis herbeiführen, wenn der Gipfel nicht abgeschnitten, sondern verfinstert, also seiner normalen Funktion ent- zogen wurde?). Aehnliches mag also auch sonst vorkommen. Sehen wir indes von den die Regeneration veranlassenden Eingriffen ab, so wäre folgendes hervorzuheben. 1. Bei den Regenerationserscheinungen handelt es sich um eine Entfaltung schlummernder (latenter) Anlagen. Sie lassen sich deshalb nicht scharf trennen von den Fällen, in welchen die Entfaltung normal angelegter Organe durch äußere oder innere Reize veranlasst wird, mit anderen Worten, die Regeneration ist bedingt durch „Korrelation“. 2. Bei verletzten’ Pflanzenteilen wird der entfernte Teil neu ge- bildet („restituiert“), im allgemeinen nur bei embryonalem Gewebe. Bei Pflanzenteilen, die in den Dauerzustand übergegangen sind, wirkt die Abtrennung und Verletzung dahin, dass ein Teil der Zellen wieder in den embryonalenZustand übergeht und dadurch zu Neubildungen befähigt wird. Es reagiert auch hier also nur das „Keimplasma“ ebenso wie im ersten Fall, nur nicht direkt, sondern indirekt, weil es in den Dauerzellen sozusagen in inkrustiertem Zustand vorhanden ist. Keimpflanzen sind in manchen Fällen durch ein besonderes Regenerations- vermögen ausgezeichnet. 3. Da bei den Pflanzen also gewöhnlich abgetrennte Teile nicht neugebildet werden (ein Spross z. B., der die Blätter verliert, ent- 4) Vergl. darüber J. Massart, la eicatrisation chez les vegetaux (Me- moires ete. publies per l’academie royale de Belgique 1898 (t. LVII). 2) Goebel, Organographie, p. 647, Anm. 2. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 387 wickelt nicht neue Blätter,sondern neue blattbildende Sprosse), so spielt bei ihnen eine besondere Rolle die Anordnung der neugebildeten oder zur Weiterentwicklung veranlassten Teile. Sie hängt nur in untergeordneter Weise ab von der Einwirkung äußerer Faktoren. Im wesentlichen ist sie bedingt durch die „Struktur“ (im weitesten Sinne) des betreffenden Pflanzenteils, namentlich durch die Bahnen, in welche sich die Bildungsstoffe in demselben bewegen und durch den Wundreiz. 4. Die Qualität der Neubildungen ist abhängig von dem Zustand, in welchem sich die ganze Pflanze befand zu der Zeit, wo die zur Regeneration führende Verletzung stattfand. Diese Leitsätze mögen zugleich, ohne dass sie wiederholt werden, als Ueberschrift über die folgenden vier Paragraphen dienen, wobei beim ersten gestattet sein mag, etwas weiter auszuholen. Es dürfte dies für der Botanik ferner stehende Leser nicht unerwünscht sein, da die hier zu erwähnenden Verhältnisse in den Lehrbüchern meist nicht berührt werden. sl. Dass Organanlagen bei Pflanzen sich nur unter ganz bestimmten, im gewöhnlichen Verlauf der Entwicklung nicht regelmäßig eintreten- den Bedingungen entfalten, ist außerordentlich häufig. Es braucht nur erinnert zu werden daran, dass jeder Baunı (namentlich im unteren Teile der Jahrestriebe) tausende von „schlummernden Knospen“ besitzt, die bei ungestörtem Verlaufe der Vegetation überhaupt nicht zur Ent- wieklung gelangen, aber kürzere oder längere Zeit hindurch entwick- lungsfähig bleiben und bei Verletzungen des Baumes auch wirklich austreiben; sie stellen gewissermaßen Organreserven dar, die nur unter bestimmten Umständen mobilisiert werden. Dies ist nur ein augen- fälliges Beispiel dafür, dass viele Anlagen schlummernd, latent bleiben, wie bei der ganzen Pflanze, so auch in der einzelnen Zelle. Hier wie dort wird das Latentbleiben durch die Beziehungen zu anderen Teilen des Organismus bedingt, es wird für die Zellen später auf die Bedeu- tung dieser Thatsache näher einzugehen sein. Aehnliche Fälle kennen wir bei Wurzelanlagen, indes weniger häufig, noch seltener sind sie bei Blattanlagen, erwähnt sei z. B., dass in den Blüten des Ritter- sporns (Delphinium Ajacis) Blumenblattanlagen regelmäßig verkümmern und nur als kleine Höcker noch wahrnehmbar sind, bei „gefüllten“ Blüten dagegen gelangen sie zur Entfaltung; hier ist eine Störung der Blütenorganisation eingetreten, welche die Entfaltung einer sonst regel- mäßig verkümmernden Anlage bedingt; von einer Organreserve kann man aber in diesem Falle nicht sprechen, die Entfaltung ist für die Pflanze auch nicht von Nutzen, sie zeigt uns nur, dass die Entwicklungs- fähigkeit der Anlage nicht erloschen ist, obwohl sie unter „normalen“ Verhältnissen nicht in die Erscheinung tritt. 95# 388 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Eingehender erörtert seien zwei Fälle, die sich an die Regenerations- vorgänge unmittelbar anschließen. Bekannt ist ja, dass viele abge- trennte Blätter die Fähigkeit haben, neue Sprosse und Wurzeln zu bilden, worauf später zurückzukommen sein wird. Bei einigen Pflanzen aber werden schon im normalen Verlauf der Vegetation auf Blättern Knospen angelegt, die zur Weiterentwieklung bestimmt sind. Man hat diese Knospen ebenso wie die aus dem Dauergewebe abgetrennter Blätter hervorgehenden als „adventive“!) bezeichnet. Indes wird dieser Begriff in verschiedenem Sinne angewandt. Einmal umfasst er Knospen und Wurzeln, die an anderen Stellen als den gewöhnlichen entstehen (bei den Knospen also die, die nicht in den Blattachseln stehen), sodann hat man ihn im engeren Sinne für die aus alten, nicht mehr im embryonalen Zustand befindlichen Pflanzenteilen entstehenden Neubildungen verwandt. Weder bei weiterer noch bei engerer Fassung lassen sich, wie gezeigt werden soll, „adventive“ Or gane scharf gegen normal entstehende abgrenzen; auch die eine zeit- lang verbreitete Meinung, dass adventive Knospen im Gegensatz zu den normalen meist endogen entständen, hat sich als unhaltbar er- wiesen. Im folgenden seien zunächst einige Einzelfälle erörtert. A. Farne. Eine große Anzahl von Farnkräutern hat die Fähig- keit auf ihren Blättern Sprosse anzulegen, es geschieht dies im em- bryonalen Zustand der Blattanlage und die Sprossbildung gehört in den normalen Entwicklungsgang dieser Pflanzen. Dass sie ein viel- fach recht ausgiebiges Mittel für die ungeschlechtliche Vermehrung ist, braucht kaum bemerkt zu werden. Zahl und Stellung dieser blatt- bürtigen Sprosse sind bei den einzelnen Formen im übrigen sehr ver- schieden. Für unsere Betrachtung können wir sie in zwei Gruppen einteilen: solche, die auf den Blättern selbst ohne weiteres austreiben, d. h. zu jungen Pflanzen sich entwiekeln, und solche, bei denen die Weiterentwicklung der blattbürtigen Knospen. an bestimmte Reize ge- bunden ist. Beispiele für die erstere Gruppe ergiebt jeder Gang durch ein Gewächshaus eines botanischen Gartens, auch in den Lehrbüchern findet man’ derartige Formen oft abgebildet, (z. B. Asplenium_ celti- difolium, viviparum u. a). Wie früher hervorgehoben?), handelt es sich dabei offenbar um Farne, welche ständig feuchte Standorte be- wohnen. Die jungen Pflänzchen sind ja mit dem Boden noch nicht in Berührung, ihre Wurzeln (die zunächst noch kurz bleiben) sind der Gefahr der Vertrocknung kaum ausgesetzt, sie können sich, wenn das 1) Dieser Ausdruck wird als Rumpelkammer benutzt, in der Dinge unter- gebracht werden, die in das sonstige Schema nicht passen. 2) Goebel, Pflanzenbiologische Schilderungen II, p. 229 u. 230. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 389 Blatt, auf dem sie entstanden, abbricht oder sich auf den Boden senkt, in dem feuchten Substrat leicht weiterentwickeln. Die Farne dagegen, deren blattbürtige Knospen auf den Blättern, solange sie mit dem Sub- strat nicht in Berührung sind, nicht austreiben, sind offenbar Bewohner trockenerer Standorte, für die es selbstverständlich zweckmäßig ist, dass die Knospen nur unter Bedingungen sich weiterentwickeln, die eine dauernde Vegetation den jungen Pflanzen ermöglichen. Dafür seien einige Beispiele angeführt. Ein besonderes Interesse nehmen die Farne in Anspruch, bei denen die Knospe aus der Spitze der Blätter hervorgeht. Dieser Vorgang ist genauer untersucht nur bei einer Adiantum-Art, dem Ad. Edgeworthüt), es ist aber wahrscheinlich, dass andere Farne sich ebenso verhalten, d. h., dass auch bei ihnen die Anlage zu einer neuen Farnpflanze wirklich aus der Blattspitze hervorgeht. Die Abbildung von Aneimia rotundifolia (Fig. 1) zeigt zugleich, wie hier der obere Teil des Blattes lang- gestreckt ist, etwa wie die Sprossachse bei dem „Ausläufer“ einer Erdbeere, nur dass dieser eben eine Sprossachse ist, während bier ein Teil des Blattes ausläuferartig entwickelt ist. Es wird dadurch die Knospe von der Mutterpflanze entfernt und in günstige Wachstums- bedingungen gebracht, mit Recht hat man deshalb in Amerika ein ähnlich sich verhaltendes Farnkraut (Camptosorus rhizophyllus) als „Blattwanderer“ bezeichnet (walking-leaf fern). Spricht sieh schon hierin eine deutliche Anpassung an eine den Blättern sonst meist ferne- liegende Funktion, die der asexuellen Reproduktion aus, so ist dies noch auffallender bei einigen anderen Farnen, bei welchen einige Blätter ihre Funktion als Assimilationsorgane ganz und gar verloren und die von Reproduktionsorganen angenommen haben, ein Verhalten, das so eigentümlich ist, dass es bis jetzt, wie die unten mitgeteilten Litteraturangaben zeigen werden, verkannt wurde. Es sei deshalb, obwohl diese morphologischen Thatsachen zu unserem Thema nicht eigentlich gehören, gestattet, kurz darauf einzugehen. Bei einem Besuche des berühmten Gartens des Herrn Barbey in Cham- bezy bei Genf tiel mir ein Farnkraut mit eigentümlichen, grünen, flachen Aus- läufern auf (Fig.2), das als Asplenium obtusilobum bestimmt wurde. Die Aus- läufer entsprangen einem anscheinend radiären Stamm und wurzelten an ihrer Spitze, wo sie dann neue Blätter und neue Ausläufer hervorbrachten. Diese der Asplenium-Sektion (oder Untergattung) Darea angehörige Art ist abgebildet beiHooker, Icones plantarum, Vol. VI, Pl. ICCC, wo sie beschrieben wird als versehen mit „radice fibrosa stolonifera“. Aehnlich verhalten sich andere Arten, z.B. das Aspl. Manni (Fig. 3)?), von welchem Hooker in seiner Second Cen- 4) Mehrfach so in „Kerner's Pflanzenleben* und bei Wettstein (Lehrb. d. syst. Botanik) irrig als Asplenium Edg. bezeichnet. Betreffend der Knospen- anlage siehe Goebel, Organographie, p. 448. 2) Diese stellt ein Stück einer in Kamerun gesammelten Pflanze dar. 390 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. tury of ferns (Tab. LV) sagt: „Evidently one of the Darea-group of 4s- plenium ... though allied to A. brachypterum of Kunze: yet it can hardly be a state of that; the caudex and pinnules and habit are so different. The former resembles a slender filiform stolon, forming dense copious intricated Kies. 2, Fig. 1. Aneimia rotundifolia. Ein Blatt (auf !/, verkleinert), an dessen Spitze sich eine Knospe entwickelt hat (infolge der Einwirkung von Feuchtigkeit). Fig. 2. Asplenium obtusilobum. 1. Pflänzchen mit 3 Ausläuferblättern, etwas verkleinert. II. Oberer Teil eines Ausläuferblattes ver- | größert. a Die Blattspindel, X Knospe, w Wurzel, | b erstes Blatt der Knospe, es gestaltet sich so- | fort wieder zum Ausläufer. III. Spitze der letzteren stärker vergrößert. K, Knospe an der Spitze von b (dazu die Wurzeln w, und w,), K, Knospe an der Spitze von ce (dies erstes Blatt von K,), d erstes Blatt der Knospe K,. masses, at distances throwing out tufted fibrous roots, on the undersides, and a few celustered fronds on the upper“, Hier werden also die Ausläufer für Sprosse erklärt, eine Auffassung, die ja eine naheliegende ist, da wir auch sonst Ausläufer kennen, welche, nach- dem sie nahe der Spitze Wurzeln gebildet haben, hier Blätter erzeugen. 'Trotz- dem schien mir schon dem Habitus nach hier ein anderer, viel merkwürdigerer Vorgang vorzuliegen, nämlich die Umwandlung eines Blattes in einen Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 391 Ausläufer. Das scheint zunächst eine morphologische Ketzerei. Aber es ist, wie die genauere Untersuchung gezeigt hat, trotzdem so, und bei ver- gleichender Betrachtung schwindet auch das Fremdartige, das dieser Auffassung zunächst anhaftet. Bei dem in unseren Warmhäusern häufig kultivierten Adiantum Kdge- worthi zeigte die entwicklungsgeschichtliche Untersuchung, dass die Knospe an der Spitze des ausläuferartig verlängerten (sonst aber normal mit Fieder- blättchen versehenen) Blattes thatsächlich aus der Blattspitze hervorgeht. Der Vorgang wurde a. a.0. in Parallele gestellt mit dem, dass aus der Spitze von Farnwurzeln Sprosse entspringen (so z. B. bei einigen Platycerium-Arten und Asplenium esculentum). In beiden Fällen wurde angenommen, es handle sich — ein Vergleich zu anderen Farnen — um ein „Hinaufrücken“ der Knospen- bildungen auf die Spitze. Unterhalb derselben sehen wir nämlich Knospen auftreten sowohl an den Wurzeln einer Anzahl von Farnen (z.B. Antrophyum plantagineum) als bei Blättern. Nehmen wir bei einem an der Spitze eine Knospe entwickelnden Blatte, wie z.B. dem in Fig. 1 abgebildeten an, dass die Blattfiedern unterdrückt werden, so erhalten wir dann ohne weiteres die „Sto- lonen“, wie sie bei den genannten Asplenium-Arten sich finden. Dass es sich bei den „Ausläufern“ von Aspl. obtusilobum um Blätter handelt, zeigt auch die Anatomie (sie stimmte ganz mit der eines Blattstiels derselben Pflanze überein), die Entwicklungsgeschichte und das gelegentliche Vorkommen von Uebergangsformen. Ein „Ausläufer“ ist, wie erwähnt, aus einem Blatte entstanden dadurch, dass die Bildung von Fiederblättchen unterbleibt, also nur die „Blattspindel* übrig bleibt, und diese an ihrer Spitze eine Knospe er- zeugt. Eine Uebergangsform wäre also dann gegeben, wenn ein Blatt sich fände, welches eine reduzierte Fiederbildung aufweist. Dies war nun in der That der Fall, es fand sich z.B. ein Blatt, das an seiner Basis noch zwei Blattfiedern trug, an der Spitze zum „Ausläufer“ geworden war. Diese „Aus- läufer* sind an der Spitze eingerollt wie die meisten Farnblätter, auch sonst erweisen sie sich entwicklungsgeschichtlich mit ihnen als gleichartig. Die Pflanze bringt hier zweierlei Blätter hervor.: Einmal gewöhnliche, doppelt ge- fiederte, die an ihrer Spitze keine Ausläufer produzieren (davon sind in Fig. 1 vier vorhanden), und Ausläuferblätter. Die beiden Blattformen bildeten sich an dem hier kultivierten Exemplare nicht durcheinander, sondern periodisch aus. Im Winter erschienen nur gewöhnliche Blätter, im Frühjahr und den Sommer über die Ausläuferblätter, es ist wohl anzunehmen, dass in der Hei- mat der Pflanze ihre Bildung in die nasse Jahreszeit fällt. Diese Arbeitstei- lung ist wohl abzuleiten von dem Verhalten, wie wir es bei anderen Farnen (z. B. Aneimia rotundifolia, Camptosorus rhizophyllus, Asplenium rutaefolium, Adiantum Edgewortkit) antreffen, bei denen sämtliche Blätter an ihrer Spitze Knospen hervorbringen. Die einen haben diese Fähigkeit verloren, die anderen sie in viel schärfer ausgeprägter Eigenart angenommen. Einen ganz ähnlichen Fall habe ich früher für die „Nischenblatt“bildung epiphytischer Farne nachzu- weisen versucht: bei einigen Polypodium-Arten (P. Heracleum und P. coronans) sind alle Blätter zugleich Laubblätter und Nischenblätter, bei anderen sind die einen Blätter nur Laubblätter, die anderen, die ihren Chlorophyligehalt früh- zeitig verlieren, nur Nischenblätter (z. B. P. quercifolium, propinguum u. a.). Die Keimpflanzen zeigen noch den ursprünglichen Charakter, und auch bei älteren Pflanzen kann man Mittelformen zwischen beiden, wie ich mich neuer- dings überzeugte, künstlich hervorrufen, d. h. also einen Rückschlag auf die 392 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich, 7 Jugend-Blattform, wenn man sie schlecht behandelt, z. B. an abgeschnittenen kleineren Stammstücken, die dann bei der Weiterentwicklung zunächst (statt Stück eines Pflänzchens von Asplenium Mannii verkl. Zwei Ausläufer (Blattsym- podien) sichtbar, bei a, Db, @,, db, e, Knospen sichtbar. der Nischenblätter) Mittelformen zwischen Nischen- und Laubblättern hervorbringen. Bei Asplenium obtusilobum war die oben erwähnte Mittelform das erste Blatt, das wieder zur Ausläuferbildung überging. Diese Ausläuferbildung ist nın nament- lich auch dadurch noch eine eigentümliche, dass das erste Blatt der an dem „Ausläufer“ entstandenen Knospe sofort wieder zur Ausläuferbildung über- geht und sich in die Verlängerung des ersten Aus- läufers stellt. Es kommt dadurch eine sehr eigen- tümliche, im Pflanzenreich sonst nicht bekannte Verkettung von „Ausläuferblättern* ein Blatt- sympodium zu stande. In Fig. 2, Il ist « die Spitze eines Ausläuferblattes, X die an seiner Spitze!) entstandene Knospe. Diese hat einige Wurzeln (w) angelegt und zunächst ein erstes Blatt b ent- wickelt (während die übrigen noch unentfaltet sind). Fig.2, III zeigt die Spitze eines ähnlichen Blattes wie db. Es ist hier schon eine zweite Knospe angelegt, die das Blatt e entfaltet hat, das eine Knospe X, als kleine Anschwellung zeigt und das Blättchen d in die Verlängerung des ganzen — Scheinbar ein einfaches, schnecken- förmig eingerolltes Blatt darstellenden Gebildes gestellt hat. Noch deutlicher wird der merk- würdige Vorgang wohl aus der Betrachtung der Abbildung von Aspl. Manni (Fig. 3) ersicht- lich sein. Die beiden, eben kurz geschilderten Farne gehören zu denjenigen, bei denen die auf den Blättern eingelegten Knospen sich sofort weiter entwickeln, was nach der oben ausgesprochenen (im Vaterland der Pflanzen näher zu prüfenden) Vermutung durch die Entwicklung der Ausläuferblätter in der nassen Jahreszeit begünstigt wird. Bei An- eimia rotundifolia u. a. aber verharren die mit den Blattspitzen angelegten Knospen in einem Ruhezustand, solange die Blattspitzen nicht den Boden erreichen. In Gewächs- häusern?), wo die Pflanzen in Töpfen kulti- 1) Ich habe nicht untersucht, ob die feineren Entwicklungsvorgänge hier mit denen von Adiantum Edgeworthii übereinstimmen, ob also die Knospe wirklich aus der Blattspitze hervorgeht oder etwa nahe derselben angelegt wird. 2) Es sei bemerkt, dass meine Pflanzen in einem sehr feucht gehaltenen, he Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 393 viert werden, werden die Knospen der frei herabhängenden Blättern schließlich braun und gehen zu Grunde, obwohl Wasseriropfen längs der ausläuferartigen Blattenden herunterlaufend oft auf den Knospen wahrnehmbar sind. Es fragt sich also, welche äußeren Einflüsse die Entwieklung der Knospen „auslösen“. Das Nächstliegende war, an die Einwirkung der Wasserzufuhr und an die Wirkung des Lichtes zu denken. Bekanntlich übt das Licht vielfach eine hemmende Einwir- kung auf die Wurzelentwieklung aus, die auch bei den Aneimiaknospen hervortritt, die einige Wurzelanlagen schon aufweisen. Zunächst ließ sich die Weiterentwieklung der Knospen leicht erzielen, wenn sie in mit Wasser gefüllte Reagenzröhren dauernd eintauchten. Die Wurzeln blieben dabei allerdings meist kurz, während sie bei Verfinsterung sich kräftig entwiekelten. Wasserzufuhr bewirkt hier also die „Auslösung“ der Weiterentwieklung. Eine solche fand auch statt in einem leeren, mit Staniol umwickelten Reagenzglas, in welchem offenbar sehr große Luft- feuchtigkeit vorhanden war, welche wohl auf die Entwicklung der Knospe günstige einwirkt, während die Wurzel- (vielleicht auch die Knospen-) Ent- wicklung durch Liehtmangel gefördert wurde. Wenn also die Knospen, die den Boden berühren, sich weiter entwickeln, so kommt dies offenbar zu stande dadurch, dass hier die Wurzeln Wasser aufnehmen und in dem dunklen Substrat keine Hemmung durch Lichtwirkung erfahren. Dass Aneimia rotundifolia eine Pflanze ist, deren — wenigstens zeitweilig — trockener Standort eine Weiterentwicklung der Knospen nur unter günstigen Umständen als vorteilhaft erscheinen lässt, darauf weist schon die derbe, lederartige Beschaffenheit der Blattfiedern hin; dass ferner in der That die Knospenentwicklung erst von besonderen, äußeren Bedingungen ab- hängig ist, ergiebt sich schon daraus, dass die Pflanzen von Anecmia rotundifolia und Asplenium rutaefolium, deren in der Luft befindliche Knospen nicht austreiben, sich in demselben Gewächshaus befanden wie die von Adiantum Edgeworthiü, A. caudatum, A. dolabraeforme, Asplenium obtusilobum, bei denen dies Austreiben auch ohne Berührung mit dem Substrate erfolgte. Es mag dahingestellt bleiben, ob es bei der ersten Kategorie noch andere Bedingungen für das Austreiben der Knospen als die genannten giebt, jedenfalls werden diese die sein, um die es sich in der freien Natur handelt; die Wurzeln bleiben übrigens auch bei der zweitgenannten Gruppe, solange die Knospen in der Luft sind, sehr kurz, ihre Entwicklung wird offenbar durch das Licht und Wassermangel gehemmt. Bei einem Exemplare von Ad. rotundi folium wurde die Stammspitze abgeschnitten. Nach einiger Zeit entwickelten sich an der Mehrzahl der frei herabhängenden Blätter die Knospen. zur Kultur von Nepenthes dienenden Hause standen. Nur einmal, als im Sommer bei hoher Temperatur dies Haus besonders feucht gehalten wurde, fand an einigen Blättern, die nicht mit dem Substrat in Berührung waren, Austreiben der Knospen statt. 394 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Da es sich nur um einen Versuch handelte und da, wie oben bemerkt, zuweilen auch an unverletzten Pflanzen ein Austreiben der Knospen stattfindet, so kann nicht mit aller Bestimmtheit behauptet werden, dass die Beseitigung der Sprossspitze das Austreiben der Blattknospen hervorruft. Indes ist mir eine solche Beziehung doch sehr wahrschein- lich, und bei der nächst zu besprechenden Pflanze ließ sie sich mit aller Sicherheit erweisen. B. Die Gattung Bryophyllum, eine Crassulacee mit fleischigen Blättern ist dadurch ausgezeichnet, dass an diesen schon in sehr jugendlichem, embryonalen Zustand in den Kerben des Blattrandes Anlagen von Sprossen gebildet werden. Seit lange ist für Dryophyllum calycinım bekannt, dass an von der Mutterpflanze abgelösten Blättern eine Weiterentwicklung der Sprossanlagen eintritt; diese ent- wickeln Blätter und Wurzeln und wachsen zu neuen Pflanzen heran. An der Pflanze selbst gelangen die Sprossanlagen nicht über die aller- ersten Entwicklungsstadien hinaus'), die kräftigeren lassen zwei Blatt- rudimente erkennen, die schwächeren zeigen sich nur als eine Zell- gruppe von embryonaler Beschaffenheit angedeutet. Wurzeln sind noch keine vorhanden, entwickeln sich aber bei dieser Art — nach Berge’s Angabe — bei abgeschnittenen Blättern, ehe die Weiterbildung der Sprossanlage beginnt. Meine Untersuchungen wurden an einer anderen, in den Gewächshäusern neuerdings viel gezogenen Art, dem Br. erena- tum angestellt, welches dem alten Dr. calycinum gegenüber einige Vorteile für derartige Untersuchungen gewähren dürfte. Es handelt sich dabei namentlich um die Frage, wie die „Aus- lösung“ der Entwicklung der blattbürtigen Sprossanlagen eigentlich zu stande kommt. Zunächst sei indes zweierlei bemerkt: einmal, dass die Pflanze in dem geschilderten Vorgang ein ausgiebiges Vermehrungsmittel besitzt. Namentlich ältere Pflanzen werfen die Blätter (besonders wenn eine Störung der Vegetation eintritt) leicht ab, auch solange diese noch frisch sind, jedes von ihnen giebt mehreren Sprossen den Ursprung. Sodann ist zu erwähnen, dass gelegentlich auch an der Pflanze selbst das Austreiben der blattbürtigen Sprossanlagen stattfindet, wir werden auf die Ursache dafür später zurückkommen. Für Bryophyllum calycinum liegt über die Bedingungen für die Entwicklung der Sprosse eine wertvolle Untersuchung von Wakker?) vor, dessen Schlussfolgerungen ich mich aber nicht anschließen kann, Betrachtet man eine Anzahl abgelöster Blätter, so sieht man, dass — im Gegensatz gegen die unten für die Blattregeneration anzuführen- I) Vergl. darüber: Berge, Beitrag zur Entwicklungsgeschichte von Bryo- phyllum calyeinum, Zürich 1879. 2) Wakker, onderzoekingen over adventieve Knoppen, Academisch Proef- schrift, Amsterdam 1885. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 39 den Thatsachen — eine bestimmte Reihenfolge in der Entwicklung der Sprossanlagen nieht eintritt (Fig. 4). Offenbar entwickeln sich die Knospen zuerst, die schon an der Mutterpflanze kräftiger waren, speziell die in den tieferen Kerben sitzenden. Man kann aber auch ganz schwache Anlagen zu kräftiger Entwicklung bringen, wenn man die anderen wegschneidet. Dass die Kräftigkeit der Pflänzchen von dem Zustand des Blattes, an dem sie entstanden, bedingt wird, ergiebt sich auch daraus, dass die aus den dem Blütenstand nahestehenden, kleinen Blättern entstandenen gegenüber den aus kräftigen Laub- blättern entstandenen zunächst zurückbleiben. Im Gegensatz zu Br. calycinum bilden die austreibenden Sprosse zuerst einige Blattpaare und dann erst Wurzeln. Von dem Bryophyllumblatt selbst wird von Bryophyllum calyeinum. I Blatt (abgetrennt) mit jungen Pflänzchen in den Blattkerben. II zeigt den Verlauf der diekeren Blattnerven (Gefäßbündel). Wakker ausdrücklich betont, dass es nicht im stande sei, sich zu bewurzeln. Wurzeln entstehen nur an den austreibenden Knospen, und „wie man die abgeschnittenen Blätter dieser Pflanze auch behandelt, nie bringen sie Wurzeln hervor, was man doch als eine, bei Blättern anderer Pflanzen sehr häufige („algemeene“) Eigenschaft bezeichnen kann (a. a. ©. p. 46) ..... und wir können so sagen, dass in den gut untersuchten Fällen die Blätter, welche Knospenmeristeme besitzen, die Fähigkeit entbehren, Wurzeln hervorzubringen“. Für Br. calycinum hielt auch ieh diesen Satz für riehtig, weil thatsächlich die abgeschnittenen Blätter, an denen Knospen sich ent- wickeln, sich nicht bewurzeln, wenigstens habe ich in meinen Kulturen keinen derartigen Fall beobachtet. Aber eine solche Bewurzelung trat ein an Blättern, denen ich die Knospenanlagen in den Blattxerben alle 396 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. ausgeschnitten hatte, allerdings fand die Bewurzelung statt meist erst einige Monate, nachdem die Blätter in feuchte Erde gesteckt worden waren, in einem Falle bewurzelte sich auch ein Blatt, das eine Knospe aus einer Kerbe entwickelt hatte. Dr. calycinum stand mir nicht zur Verfügung, ich möchte aber, trotz des negativen Ausfalls von Wakkeır’s Versuch vermuten, dass, wenn man mit einer größeren Anzahl „ent- knospter“ Blätter arbeitet, auch hier Bewurzeiung von einigen sich wird erzielen lassen. Die Thatsache ist aber von erheblichem Interesse, denn sie zeigt, dass 1. die Fähigkeit, aus abgeschnittenen Blättern Wurzeln zu bilden, auch den Bryophyllumblättern (wenigstens denen von Dr. calycinum) zukommt, aber gewöhnlich „latent“ bleibt, 2. dieses Latentbleiben ist offenbar dadurch bedingt, dass die blatt- bürtigen Knospen sich reichlich bewurzeln, es liegt hier also ein Fall von korrelativer Bedingtheit vor, für den sich (speziell für die Wurzel- bildung) nachher noch ein anderes Beispiel ergeben wird. Die Korrelation bezieht sich nicht nur auf die Wurzel-, sondern auch auf die Knospenbildung. Denn es trat (zunächst allerdings nur an einem der Blätter) ander Basis des entknospten Blattes die Bildung einer Knospe auf, wie dies bei den abgeschnittenen, nicht mit Spross- anlagen ausgerüsteten Blättern anderer Crassalaceen geschieht. Es gelang also, Dryophyllum durch Entfernung der blattbürtigen Knospen- anlagen (die den verwandten Formen gegenüber etwas „Neues“ sind) zu der Art der Blattregeneration zu nötigen, welche die übliche ist. Bemerkenswert dabei ist, wie dies auch bei anderen derartigen Fällen anzuführen sein wird, dass längere Zeit notwendig ist, bis diese „Umstimmung“ der Entwicklung erfolgt. Kehren wir zu dem Verhalten der unverletzten Bryophyllumblätter zurück, so sehen wir, dass normal die Abtrennung des Blattes not- wendig ist, um die Knospenentwicklung herbeizuführen. Wenn ein Blatt vom Spross abgetrennt wird, so ist dies eine Ver- änderung, die aus einer Anzahl von Einzelerscheinungen zusammen- gesetzt ist, es fragt sich, welcher derselben die Thatsache des Aus- treibens der Knospen zuzuschreiben ist. Es wurde beim Abschneiden der Zusammenhang mit dem Mutterorgane unterbrochen, dieser wird aber vermittelt durch Hautgewebe, parenchymatisches (Grund-) und Leit- bündelgewebe. Zunächst drängt sich also die Frage auf, ob der Reiz für das Austreiben durch die Durchschneidung einer dieser Gewebe- arten bedingt werden kann? Nun ist es allerdings kaum möglich, z.B. das Leitbündelgewebe allein zu durchschneiden, ohne Haut- und Grund- gewebe gleichfalls zu treffen, aber dies Bedenken fällt kaum in das Gewicht, wie aus dem Folgenden hervorgehen dürfte. Man erhält ein Austreiben der Knospen in kurzer Zeit an noch an der Pflanze befestigten Blättern, wenn man den Mittelnerven quer an der Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 397 Basis des Blattes durehschneidet (vergl. Fig. 5), der Sehnitt braucht nicht so breit zu sein wie in der Abbildung. Nach wenigen Tagen trieben an derartigen Blättern die Knospen aus, die Blätter selbst bleiben frisch und am Staınm. Sie waren, was Haut- und Grund- gewebe betrifft, mit letzterem noch in ausgedehntem Zusammenhang. Die Hauptunterbrechung fand statt im Leitbündelgewebe. Man kann dasselbe Resultat übrigens auch erhalten durch Anbringung tiefer gehender Ver- letzungen am Blattstiel.e. Dagegen war durch Längseinschnitte, auch solche, die nahe dem Blattrande unter den Kerben verliefen, eine Entwicklung der Knospen nicht herbeizu- führen, offenbar war die Unterbrechung der Leitbündel wegen der seitlichen Anastomosen derselben (vergl. Fig. 4, II) hier nicht tief- greifend genug. Bekanntlich verlaufen nun in den Leitbündeln einerseits die Bahnen für die Wasserleitung (in den Gefäßbündeln), andererseits die für den Transport von Ei- weißkörpern u. a. (in den Siebteilen). Es fragt sich, ob die Untersuchung der Gefäß- bahnen oder der Siebteile‘) den Anstoß zur Weiterentwicklung der Knospen giebt und wie diese Unterbrechung eigentlich wirkt. Wakker kam für BDryophyllum calycinum bei dem er das eben angeführte Experiment nicht vornahm) zu dem Schluss, dass die „adventiven“ Knospen zur Entwicklung ge- langen („loopen nit“), wenn die Wasser- bewegung im Blatt aufgehalten oder gestört marde (ana... 0. .p.99)en..Die Unterbrechung BE ee der Wasserbewegung sei aber nicht als di- gujge eines Querschnittes rekte, sondern als Reizursache für das Aus- durch den Mittelnerven die treiben der Knospen zu betrachten. Es Knospen entwickelt. handelt sich also bei der Prüfung der Wakker’schen Auffassung um zwei Fragen: ist es wirklich die Be- einflussung der Wasserbewegung, die in Betracht kommt, und wenn so, wodurch kann sie als Reiz wirken ? In ersterer Hinsicht sei zunächst bemerkt, dass eine Durchschnei- dung von Gefäßteil oder Siebteil allein kaum ausführbar erscheint, man muss also auf andere Weise versuchen, die aufgeworfene Frage zu entscheiden. (Fortsetzung folgt.) Sprossbildung von Bryo- phyllum erenatum. Andem 1) Auch die Stärkescheide könnte als reizleitendes Gewebe in Betracht kommen. 398 Beard, Heredity and the epieyele of the germ-cells. Heredity and the epieycle of the germ-cells by J. Beard, D, Sec., University Leeturer in Comparative Embryology, Edinburgh. (Schluss.) It is it, and it alone, which permits of the handing down of the characters of one generation to future generations. It is the very basis of heredity. The formation of like primary germ-cells and their essential similarity or equivalence show how in sexual reproduction the offspring resemble their „parents“, while differing from them. Tke likeness in the primary germ-cells leads to likeness in the offspring, and along with this unlikeness is bound to come in. For the primary germ-cells themselves give rise to secondary germ-cells, which have lost their powers of independent development. It is these, and these only asarule, which are present in the finished embryo. They and their progeny are never capable of normal independent development!); but it is their destiny to go through the process of reduction of chromosomes, with the ensuing formation of „sexual products“, or gametes, eggs and spermatozoa. Here, as is of course now generally recognised, unlikeness enters. Although the egg or spermtraces its long ancestry to one of a certain set of primary germ-cells, of which one also gave rise to the „embryo“ or form, whose „offspring“, according to social and commonly accepted ideas, the egg or sperm itself was, this said egg or sperm unites with another sperm or egg, the „offspring* of a different individual, which in its turn with its reproductive elements traces a similar origin and ancestry from another set of primary germ- cells. With the union the new cycle begins. It is thus that the formation of primary germ-cells underlies the fundamental facts of heredity and explains these. And it is thus without their knowing it, that the formation of primary germ-cells at a certain epoch of the development, prior to the production of the embryo, is the real basis of Weismann’s finds in heredity, and, to a still greater degree, of those, associated with the name of Galton. The application in detail of the results to the phenomena of here- dity is beyond the scope of my researches. To indicate the way may suffice. Galton has been led by his studies and researches on inheritance to what is known as Galton’s law?). Aceording to this law, „the two parents between them contribute on the average one-half of each inherited faculty, each of them contributing one-quarter of it. The 1) In the Vertebrata! 2) Franeis Galton, The average Contribution of each several Ancestor to the total Heritage of the Offspring. Proc. Roy. Soc. Lond. Vol. 61, p. 401—408, 1897. Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. 369 four grandparents contribute between them one-quarter, or each of them one-sixteenth; and so on, the sum of the series, "a + 'Iı ui let ed; ei being equal to 1, as it should be. It is a property of this infinite series that each term is equal to the sum of all those that follow: thus lee hacthsete. lat ecikerizete. and 50.00. The pre- potencies or subpotencies of particular ancestors, in any given pedigree, are eliminated by a law that deals only with average contributions, and the varying prepotenecies of sex in respect to different qualities are also presumably eliminated“. Assuming for the moment the correetness of this, its embryological basis is furnished by the formation ete. of the primary germ-cells. The germ-cells in any embryo, possessing from their mode of formation like qualities and having these and the like ancestry with that, which formed the embryo, these qualities are necessarily halved at the follow- ing determination of sex and reduction. At the close ‘of this halving the „parental“ qualities can embryologically under Galton’s law only be represented by at most 'J., or '/, for each „parent“, and so on for each preceding generation; for in these also primary germ-cells of like characters were formed, of which one gave rise to an embryo in every case. The line of ancestry is, of course, from and through these germ- cells, and never from the embryo or sexual generation of a proceding generation. But, as the germ-cells, associated withany given embryo, are all of like characters among themselves (ineluding that from which the embryo arises), on the production of eggs and sperms, and the sub- sequent union of these with other sexual products, the result is the same, as if the line of ancestry had been through the embryo; so far at any rate as the ancestral characters are concerned. According to Galton the an qualities are at most represented in their pro- geny by '| lo): In the Mei ee and because between offspring and grandparent there are two sets of germ-cells (in addition to those still immature in the offspring) and two reductions, the grandparental portions taken together can only be half of the parental portions taken together, that is to say, '/«, and so on through any number of generations. It will be quite unnecessary to carry out the examination further; for study of the diagram will make evident the light it throws from the em- bryological side on Galton’s law, and how it furnishes this law with its basis in the facts of development. In his book on the „Germplasm“ (English edition p. 257) Weis- mann has adversely eritieised Galton’s law. His objeetions would be valid in cases where in-breeding had taken-place. For, Galton’s law can only hold good, if no in-breeding oceur, and if none have 400 Beard, Heredity and the epieyele of the germ-cells. happened‘). This Jaw really demands, that there shall be no in- breeding. But there is another aspeet of Galton’s law, and this arises from the following embryological facts. The reduetion of ehromosomes was probably in its origin merely’an undoing of the previous union, and even now it is not the halving of a unit, but of two such. Therefore, it is not a reversion to half cells or half entities or individualities, but to whole ones (Strasburger). From this it follows, that at fertilisation we have to deal with the union oftwo individualities; Of two eomplete Jines of ancestry. The union of these is continued in the primary germ-cells, as evideneed by their duplieated nuclei, until the initiation at least of the ensuing determination of sex, and the united lines are broken up in two separate complete lines, not necessarily identical (like two strings of many coloured beads) with the original two, at the ensuing sex-determination and reduction. All along the line from the fertilised egg to that primary germ- cell, which unfolds as an embryo, this duplication is evident and, of course, it must at first be in this cell too. As I have recognised in lectures, there must be a competition between the two components of the duplicated nucleus, when development begins?). This will be such, that of the total nuelear eonstituents, which together make up the in- herited characters of the two lines, one half must be suppressed, or remain latent, in the development. If these characters be symbolised by the letters of the alphabet in such a way, that the first half of these represent the characters of the one line, the second half those of the other, in the development of the embryo only half of this total can be made use of. Where one letter drops out, its place is occupied 4) W.K.Brooks has already drawn attention to this matter. He points out that Galton’s theory demands absence of relationship among all the an- cestors. He then goes on to show, that in the case of three persons living on a small island their known ancestıy goes back 7—8 generations. The maximum nımber of distinet ancestors for all three persons together should be 1146, aceording to Brooks. Of these 452 are recorded, but these are not 452 distinet persons, being in faet only 149 (The Foundations of Zoology, 1599, p. 143—145). 2) Haeceker has quite recently referred to this in the following words: „Eine ähnliche Konkurrenz kommt vielleicht auch in den Bildern aus den Gonadanlagen von Diaptomus zum Ausdruck, und würde für das Verständnis mancher Vererbungserscheinungen (Dominieren des einen Elters) von Bedeutung sein“. Anat. Anz., V: 20, p. 451. I make no comment whatever upon the foregoing, but leave it to the reader to determine the extent of the agreement between Haecker’s brief and vague statement and the ideas and ceonelusions developed in the text of the present writing. | Beard, Heredity and the epieyele of the germ-cells. 401 by the corresponding letter of the other half of the alphabet!). In this way the phenomena of prepoteney of a parent or ancestor become somewhat more comprehensible. On p. 257 of the „Germplasm“ Weismann writes: „it is evi- dently more than inaceurate to fix the limit of the hereditary power — as is done by animal-breeders — of a parent at '), of a grand- parent at '/,, ete.*“ To the writer there would appear to be more correctness in doing this than in limiting it to half this amount, as is done by Galton. Owing to the nuclear duplication, referred to above, and the evidences afforded by it and others factors as to the union of two individualities and two complete lines of ancestry, it seems to the writer, that Galton’s formula should be represented by something different. Thetotal inheritance would be'/, (++ !lsete. +", + + ls +etc.). In the formula?), as thus written, the results obtained by breeders find their full recognition. Before leaving the subject let me briefly indicate, how the dia- gram elucidates the phenomena of in-breeding. In ordinary sexual reproduction in nature a set of primary germ-cells, exactly like those of a given case, even those of a given ancestor, can never reappear. This is clear from the law of reduction, which in succeeding gener- ations is always leading further away from the particular ancestor. But with in-breeding along two closely allied lines, and by their final union, it may ultimately be possible to approach the qualities of a given ancestor, though probably mathematically an exact result is unobtainable. The theory of heredity, outlined in preceding pages, has little or nothing in common with previous ones. Underlying it is something more than a mere morphological continuity of germ-cells. From its nature it might be termed „the understudy-theory of heredity. „Given in a certain life-history the period of formation of the primary germ- cells. Of these let there be for simplieity but two ‚A and A, On one of these falls the lot of developing into an embryo. To which of the two this happens is not of consequence for the argument. In all its essential characters the remaining primary germ-cell (whose im- mediate destiny it is to become the founder of the „sexual products“ of the said embryo), is the exact counterpart of the developing one. 4) A better simile would be two backs of cards, a red one and a blue one. In the formation of the „embryo“ only one pack can be employed, but it may be made up of red or blue cards in any proportion. Prepoteney is the preponderance of one or more suits of either red or blue colour. 2) Mathematically, dealing with abstract numbers only, this formula is at the basis identical with that of Galton; but, as the factors are characters, not abstract numbers, this is not the case, XXI. 26 402 Beard, Heredity and the epicyele of the germ-cells. So much so is this the case, that if both form embryos, these are like twins. In the ancestry neither of the primary germ-cells ‚A and A, had ever been a Metazoon: neither they nor their ancestorshad ever formed parts of a Metazoan body. But their ancestry is continuous with a long line of germ-cells, and at regular intervals these were exactly like certain sister-cells, which did develop and form embryos. Although the cell A does not itself give rise t0 an embryo, it retains for itself and for all its immediate progeny the properties of A, those characters which, were it or its progeny to develop, would make it or them like- twins with A. In the drama of heredity there are always understudies, which for a certain essential period are endowed with all the identical pro- perties of that germ-cell, from which the player arises. These under- studies, the primary germ-cells, are never employed upon the stage as such — except in instances of like-twins — but some of them, in new guises and after new conjugations, are the immediate ancestors of those, which become the acting characters in new scenes of the eyclical drama of life. We now pass to the consideration of the primary germ-cells as the equivalents of the spore-mother-cells of plants. The theory of an antithetic alternation of generations as the basis of Metazoan deve- lopment postulates something resembling the formation of spore-mother- cells in plants. It is clear, that the final reduction of chromosomes has been deferred to a later portion of the life-cycle in Metazoa as compared with plants, and this fact was insisted upon some years ago by J. A. Murray and myself‘). At that time we compared the two modes of development in tabular form, and we postulated the formation of the embryo upon the asexual generation or larva from a spore-mother-cell. Certain facts, supporting this view, were cited, including E. B. Wilson’s teloblasts of the carthworn, which must be derivable from one cell. Finally, the spore- mother-cells have appeared in the primary germ-cells of the present research, In the above table „n“ equals the number of chromosomes prior to the duplication („2 n“) at conjugation, that is, fertilisation. N.B. Although the primary germ-cells and the spores are shown in the table in the same line, they are not equivalent. The former correspond to the spore-mother-cells. In 1895 the writer was not sufficiently sanguine to believe it 4) J.Beard and J. A. Murray. On the phenomena of reproduetion in animals and plants. Anat. Anz. V. 11, p. 234—255, and also in Ann. of Bo- tany V. 9, p. 441—468, 1895. Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. 403 possible, that at present the embryo would be found to arise in any case from such a spore-mother-cell. Only its formation at some time in the past from a spore-mother-cell was spoken of, because the facts of development at that time known seemed to point to its origin from at least a few cells. And, moreover, everything then seemed to go to prove the pro- duction of the „sexual organs“, i. e., the germ-cells, by the embryo itself. Such was the belief of almost every embryologist, and there appeared little or no reason for doubting its correetness. Revised Comparison of Metazoan and Metaphytie Life-Cyeles. Metazoon. Metaphyte. zygote (2n) zygote (2 n) | 7 „larva“ or phorozoon (2? n) sporophyte (2 n) a 5 formation of primitive germ-cell(2n) formation of primitive spore-mother- og cell (2 n) 2 ® formation of primary germ-cells (2n) formation of spore-mother-cells (2 n), = probable determination of sex and =y reduction z | „apospory“ (reduction postponed) spore-formation primary germ-cells (2n) spores (1n) (Initiation of Determination of Sex) origin of gametophyte from one origin of embryo or gametozoon spore (1 n) un from one primary germ-cell, in- E clusion of rest in gametozoon (2n) » = End of determination of sex, and ripening of germ-colls, reduction S reduction of chromosomes, ri- previously effected ® pening of germ-cells N >) > male female spermatozoon (In) egg (In) Re zygote (2n) gamete (in) gamete (In) zygote (2n) The effect of these two factors was to bar further progress in that direction, at any rate for a time. In face of the apparent facts, I confess, that it was impossible to foresee how the formation of the spore-mother-cell was effeceted, with the natural result, that only its former existence, i.e., in past times, was suggested. Moreover, there was not the slightest suspieion in my mind or Murray's that the germ-cells had anything to do with the matter. It is possibly a humiliating confession to make, but it is quite true, that I was never able to conceive how Nature could carry out 26* 404 Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. this formation of a spore-mother-cell and of the embryo from the latter, until my researches had revealed how she actually accomplished it. No one could have been more astonished than the writer at the reve- lation. Never had it for a moment been imagined, that the germ-cells themselves would play the part they actually do in the life-drama of an antithetic alternation of generations. Only when the work was practically complete and ready for publication, was it seen, that the missing link in the alternation had been discovered in the primary germ-cells and in the epoch of their formation. I hardly feel called upon to prove that the primary germ-cells do represent spore-mother-cells. If each of them were to undergo a re- duction with the subsequent production of four „spores“; and, if then each animal spore were to develop into an organism, we should have the exact equivalent of the gametophyte of one of the higher plants. Instead thereof they remain together, and only one becomes steri- lised to form a sexual individual or gametozoon. Their remaining to- gether and the continued and progressive amplification of the gameto- zoon in course of ages have naturally deferred their ripenings, sSex- determinations, and reductions to later and later periods. It is obvious, that this could easily be effected by starving them, but this may not have been Nature’s method of delaying their ripenings. A potent factor has probably been delay in the period of the determination of sex. In the higher plants it is the spores, whose name is legion, while the „sexual cells“, eggs and sperms, are few and far between. In animals the „sexual cells“ exhibit the reverse condition, corresponding in their multitude {0 the spores of plants; while, as we at length know, the spore-mother-cells — there are no spores in the Metazoa — are not very numerous, being represented in some cases by but one cell, in addition to that which forms the sexual generation. Why this differenee!)? In the embryo-sae of Pinus, which is the gametophyte, there are only four germ-cells. In the corresponding structure in flowering plants there are perhaps three, or at most six or eight; while, as is well known, the male gametophyte of a flowering plant is represented by one or two vegetative cells and one or two germ- cells. No Metazoan sexual generation has so small and scant an endowment as these, while such an animal may contain and harbour a number of germ-cells thousands of times greater. 4) „Zu vielen Tausenden zählen die vegetativ erzeugten Sporen, welche ein einziges Farnblatt ausstreut. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung der folgenden Generation wird dagegen von einem Prothallium selten mehr als ein neues Einzelwesen gebildet ete.“ F. Noll in Strasburger’s „Lehrbuch der Botanik“, zweite Auflage, 1895, p. 255. Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. 405 The difference is solely due to the different procedure adopted at the formation of the primary germ-cells or spore-mother-cells. The plan carried outin animals has been such as to favour and foster the ever greater and greater amplification of the sexual generation. In plants, as elsewhere already insisted, the reverse is the case. Here the asexual generation has undergone increased amplification without ever being able to attain any very high degree of histological differen- tiation. The sexual generation of plants is at the best a miserable failure from the morphologieal point of view, and this must be set down to the factors already indicated. The higher one ascends the smaller it becomes, until in the highest flowering plants it has almost reached the vanishing point, without, however, being able to disappear entirely. In animals it is the larva, the phorozoon, or asexual generation, which makes the bravest show in the lower Metazoa; but even here it is always overshadowed in degree of morphological differentiation by the „embryo“ or sexual generation. In tbe higher forms it becomes reduced; but, like the rudimentary sexual generation of the higher plants, it cannot vanish, for it also has its assigned task in the repro- duetive round, and in the Metazoa „direct development“ is as much an impossibility as epigenesis or the formation of germ-cells from so- matie cells! The sexual generation or gametozoon, thanks to the importance of the precious cargo of germ-cells, which it carries, has received the kindly attentions of Nature, with consequent higher and higher evo- lution. From a variety of causes the larva or phorozoon, on the other hand, tends to simplification the higher one ascends. At the best its organisation is simple, but even this simplieity leans to meagreness in the Vertebrata as they now exist. With the formation of the primary germ-cells the next item in the life-eyele is the production of an embryo or sexual generation by the self-sacrifice of one for the good of the rest. This is indieated in the diagram as having fallen to the lot of the 37th germ-cell from the bottom. In the skate the embryo at first contains no germ-cells, and the primary germ-cells enter it as such: but, and this is another of the facts established by my work, by the time the embryo is completely laid down, the primary germ-cells divide and form secondary ones. So that, as a rule, by the time the evolution!) of the embryo is over 1) The word „epigenesis* is here deliberately avoided. After very pro- longed study of the mode of vertebrate development my conclusion is, that epigenesis has no existence. In the preface to his „Germ-plasm“ Weismann writes „I finally became convinced that an epigenetic development is an im- possibility. Moreover, I found an actual proof of the reality of evolution ete.“ 406 Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. and the critical period is reached, the embryo contains only secondary germ-cells, incapable of independent development. It may be of interest to record the further fact, that in the skate this formation of secondary germ-cells precedes the announcement of the sex of the embryo, and is possibly causally related to it. Aswe have already seen, the future sex is betrayed by the nature of the egg itself. It is announced by differentiation of ovary or testis. So far as the germ-cells themselves are concerned the union of the paternal and maternal nuelear portionsis one of no long duration; for a commencement of the undoing of it is made at the formation of the secondary germ-cells. That is to say, the union brought about by the conjugation only persists until the primary germ-cells cease to be such, and divide to form secondary ones. Moreover, the tendency of research goes to demonstrate a certain looseness in this union. As Rückert and Häcker independently showed a few years ago, the paternal and maternal chromosomes remain distinet during the eleavage of Cyelops, indeed, in such a manner as to suggest a duplex-nucleus in each of the cells along the germinal track (in Weismann’s sense). The like observation was subsequentliy made by the former in the cleavage-cells of Torpedo, without, however, suggesting any connection with germ-cells. The same duplication was recently noted by the writer in eleavage-cells of Raja, as well as in the primary germ-cells here, and the two were brought into connection. The interesting point about the matter appears to the writer to be, that if the reduetion of chromosomes at the determination of sex for the following generation be ever a mere undoing of the previous lax union, the resulting germ- cells may reproduce or mimie more or less exactly, if not indeed ab- solutely so, the corresponding germ-cells of a grandparent. After such a reduction and new conjugation the reduced halves of the nuclei have, of course, lost the previous loose union referred to above, in order to acquire a new one ofthe like nature. Therefore, they cannot so easily revert to a great-grandparent. It is, I take it, the looseness of this union of ehromosomes and the ease with which it may be un- Though there be no preformation, there is a predestination, and this is finally brought to pass by an evolution or unfolding. In my own work the facts of the development of the thymus, of the lateral sense organs, of the whole gut, ete. are only explicable and intelligible on this view. Evidence of the like kind is also afforded by the facts as to the developmental origin of identical twins. The very instance, chosen by Caspar Friedrich Wolff, that of the development of the alimentary canal, in reality demonstrates in the clearest fashion, that its history is one of an evolution. The detailed facts concerning this may be brought forward on an early occasion. With Weismann I must emphatically maintain epigenesis to be an im- possibility in Metazoan development. Beard, Heredity and the epieycle of the germ-cells. 407 done at the reduction and sex-determination, which explains why a child, for example, often bears more likeness to a grandparent than to a parent. As to the rest of the diagram, this relates to the determination of sex and to the final phases of oogenesis and spermatogenesis. With the exception of the portions relating to the determination of sex the data concerning oogenesis are taken, as will be recognised, from Bo- veri’s well known figures. Of course, the embryo is not supposed to be hermaphrodite; both sexes being included in one diagram merely for purposes of convenience. For fuller details concerning the determination of sex the reader may be referred to my recent communication on this subject. In the upper part of the diagram, attached to the 55th primary germ-cell, the probable course of oogenesis in the skate is shown. With the final division of the oogonium into two oocytes 0. c. the determination of sex is depicted as happening in the formation of male oocytes and a female ones. These enter the period of growth and then pass on to ripen. Lower down, for comparison, the spermatogenesis of Palu- dina, with its two kinds of spermatozoa, is represented after the state- ments of Meves. The portions of the diagram, appended to the 55th and 20th primary germ-cells, can naturally be applied to any of the remaining primary germ-cells, other than that, which goes to form the embryo. What Weismann has termed the „germinal track“ nowhere here touches the cells of the embryo. Neither, as we have seen, does it really lie within the asexual generation or phorozoon. It is along a line of unicellular organisms, which pass a portion of their life-eyele between one conjugation and the succeeding one within a sterilised individual, formed by the self-sacrifice of one for the good of the rest. As revealed by the diagram, throughout this line of unicellular organisms, which are ever such, until one or other of them gets into the cul-de-sac of embryo-formation, there is a direct morphological continuity of germ-cells. This is all Nature demands: this she accomplishes by the aid of unicellular organisms. All the observed phenomena of development, all those of heredity are possible in this way’). Notwithstanding apparent 4) Were proof wanting of the application of the results of the present research even to the highest animals, it might be found in Hubrecht’s re- markable researches into the early development of Tup. aja javanica. (A. A. W. Hubrecht, Die Phylogenese des Amnions und die Bedeutung des Trophoblastes, Amsterdam, 1895.) Here the first products of the egg-cleavage are a small number ofcells, forming a sac, the trophoblast, and containing one central cell, out of which the entire embryo arises. As is now well-known, Hubrecht homologises the trophoblast with the 408 Schmidt-Nielsen, Autolytische Vorgänge in gesalzenen Heringen. complexity, the process is simplieity itself, the simplest kind of con- tinuity conceivable. On the Circle of Life revolves the epieycle of the germ-cells. The eircumference of the former is filled in by an uninterrupted succession of such epieyeles. The constant sequence of these is the rhythm of reproduction, the gamut of Life. Fig. 1. Diagram of the life-cyele of the skate, Raja batis, illu- strating the union of egg and sperm, E and S, to form the zygote Z, the origin of the phorozoon, or larva, or asexual generation, the ger- minal track from Z to U.K.Z., which is the primitive germ-cell, The division of the primitive germ-cell is carried to six mitoses, giving 64 primary germ-cells, P.G. C., instead of the full number of nine divisions in a female skate, yielding512 primary germ-cells. Diagram- matically the evolution of one primary germ-cell, the 37th, is depieted as forming the embryo or gametozoon. To complete the track of heredity from generation to generation through the morphological con- tinuity of the germ-cells, to the 55th primary germ-cell a diagram of oogenesis with the formation of male-and female-eggs, and of sperma- togenesis (as in Paludina after Meves’ work) to the 20th germ-cell have been added. In the latter the formation of the ordinary spermatozoa H.S. and of the non-functional wormlike ones, W.S. are shown. Fig. 2. A portion ofE.B. Wilson’s diagram of the egg-cleavage of Nereis. Fig. 3. The egg-cleavage of Nereis, depieted in fig. 2, represented after the fashion of fig. 1. Autolytische Vorgänge in gesalzenen Heringen. Von Sigval Schmidt-Nielsen (Bergen). Vortrag gehalten in der biol. Gesellschaft zu Christiania am 18. Februar 1902. M. H. Bei einer früheren Gelegenheit habe ich ihnen mitteilen können, dass beim Reifen der gepökelten Heringe eine Reihe von Spaltungsprozessen enzymatischer Natur statthaben!). larval skin of an Amphibian: it is by no means a new idea to the writer, that the trophoblast represents the whole or the greater part of the asexual gene- ration in mammals. The single clear cell in the sac in Tupaja must be the primitive germ-cell, which must give rise not only to the embryo, but also to the sexual products, or it must become the primitive germ-cell after one or two additional mitoses. It may be regarded as eloquent testimony of the cor- rectness of my conclusions, that in Tupaja Hubrecht should have found the very things, which might have been postulated. 1) S. Schmidt-Nielsen: Beitrag zur Biologie der marinen Bakterien. Diese Zeitschrift Bd. XXI, Nr. 3, 1901. Schmidt-Nielsen, Autolytische Vorgänge in gesalzenen Heringen. 409 Damals bin ich nicht auf die Art dieser Prozesse näher einge- gangen. Ich erwähnte nur, dass ich durch meine im Jahre 1899 und früher ausgeführten Untersuchungen!) daran denken musste, ob man es hier mit eigentlichen, in den Zellen des Heringsfleisches aufgespeicherten Enzymen zu schaffen hat oder auch mit Bakterienwirkungen, und zwar solche, welche durch extra- oder intracelluläre Enzyme veranlasst werden. Bei meinen jüngsten Untersuchungen glaube ich nun die Frage entschieden zu haben und ich möchte deswegen die gefundenen Daten kurz referieren?). Außer einer veränderten quantitativen Zusammensetzung zeigt sich es durch Analyse von frischen und gepökelten Heringen, respektive Extrakten von frischen Heringen und Heringslake, dass die gepökelten Heringe in physiologisch-chemischer Hinsicht qualitative Verschieden- heiten darbieten. Man findet in den letzteren eine Reihe von Substanzen, die nicht in den frischen Heringen vorhanden waren. So sind unter anderen stickstoffhaltige Verbindungen die An- wesenheit von Xanthinbasen und Amidosäuren speziell hervorzuheben. In der Bildung dieser verschiedenen Körper, oder richtiger aus- gedrückt in den Prozessen, die diese Körper bilden, besteht, glaube ich, die Reifung, denn es ist notorisch, dass die Heringe gesalzen sein können ohne reif zu sein. Auf einer Salzwirkung allein kann also die Reifung nicht beruhen. Da nun die Fette der gepökelten im Vergleiche mit denen der frischen Heringe eine bedeutend höhere und mit der Dauer der Ein- pökelungszeit steigende Säurezahl?) haben, da mithin die Neutralfette während des Pökelns freie, nicht wasserlösliche Fettsäuren ab- spalten, so kann man wohl mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass die chemischen Veränderungen beim Reifen der Pökelheringe enzymatischen Ursprungs sind. Die nächste Frage ist dann, wie ich es in meinem ersten Vor- trage schon erwähnt habe, ob die statthabenden Prozesse durch die Enzyme des Fischfleisches oder durch die gerade im Anfange in so reichlicher Menge auftretenden Bakterien oder schließlich durch 4) 8.Schmidt-Nielsen: Chemicalandmicrobiologicallnvesti- gations on the Curing of Herring (Report on norwegian history and marine Investigations Vol. I, Nr. 3, 1900. 2) Die vollständigen Untersuchungen erscheinen unter dem Titel: „Ueber den Reifungsvorgangbeim Pökeln vonHeringen“ inden „Schriften der kgl. norwegischen Gesellschaftder Wissenschaften 1901, Nr. 5, Trondhjem 1901—1902, sowie in Hofmeister’s Beiträgen 1902. 3) Bei dem mit Wasser ausgeschmolzenem Fette der frischen Heringe ist die Säurezahl 0.6, bei den gepökelten Heringen ca. 30—40. 440 Schmidt-Nielsen, Autolytische Vorgänge in gesalzenen Heringen. Zusammenwirken der Enzyme dieser beiden Zellentypen ein- geleitet werden. Nach den in den letzten Jahren von der Hofmeister’schen Schule über Autolyse der tierischen und pflanzlichen Geweben gemachten Er- fahrungen, denen ähnliche Untersuchungen von Salkowski voran- gegangen waren, ist es als gesicherte Thatsache zu betrachten, dass eine Reihe von Prozessen, die man früher auf Bakterienwirkungen be- zog, in derselben oder in ähnlicher Weise ohne Bakterien verlaufen können, dass sie also durch Agentien, die in den lebenden Zellen ge- geben waren, veranlasst werden. Eine andere Frage ist es natürlich, ob die Bakterien mitbetei- ligt sind, oder anders ausgedrückt, ob sie die von den Geweben selbst eingeleiteten Prozesse abändern oder fördern. Was nun das Reifen der Salzheringe betrifft, so ist jedenfalls die dabei auftretende Abspaltung von Xanthinbasen in keiner Weise auf Bakterien zurückzuführen, indem nämlich frische Heringe, die durch Kochen sterilisiertt waren (wodurch die Enzyme vernichtet wurden) und nachträglich durch die Bakterien des Heringsdarmes in Fäulnis gerieten, sich frei von Xanthinbasen zeigten. Die Bildung von Amidosäuren dagegen kann ebensogut eine reine Bakterienwirkung sein. Die ersten hydrolytischen Spaltungsprodukte des Eiweißes, die allmählich auch in der Lake auftreten, können ebensogut durch Bakterien wie durch Enzyme gebildet werden, wie es zuerst Sal- kowski für die Skelettmuskeln der Säugetiere nachgewiesen hat. Durch meine eigenen Untersuchungen habe ich nun gefunden, dass das Fischfleisch auch proteolytische Enzyme enthält, und ich habe mich davon überzeugt, dass die Muskelenzyme des Fischfleisches auch in mit Kochsalz gesättigter Flüssigkeit wirksam sind. Insofern steht also der Annahme, dass die Anwesenheit von Albumosen in der Lake auf die Muskelenzyme oder, korrekter ausgedrückt, auf autolytische Prozesse zurückzuführen sind, nichts im Wege. Eine Spaltung von Neutralfett kann allerdings durch Bakterien hervorgerufen werden, aber hier, wo das Fett ganz gleichmäßig in der Muskulatur verteilt ist, und wo sich vermutlich keine Bakterien — jedenfalls dringen solche in Mengen nicht hinein — finden, muss ich mit Sicherheit behaupten, dass auch die Fettspaltung ein autolytisches Phänomen ist. Anders verhält sich es eventuell mit den niedrigen Fettsäuren, obwohl auch diese durch Autolyse gebildet werden können. Wir sehen also, dass die chemischen Veränderungen beim Reifen der gepökelten Heringe ausschließlich durch autolytische Zustände zu stande kommen, teilweise aber sowohl durch Autolyse wie auch ver- mittelst Bakterien hervorgerufen werden können. Schmidt-Nielsen, Autolytische Vorgänge in gesalzenen Heringen. 411 Fragt man dann, welcher von diesen beiden enzymatischen Pro- zessen hier die wesentliche Rolle spielt, so sei bezüglich der Bakterien- wirkungen folgendes bemerkt. Da die Bakterien bekanntlich schwer in die Gewebe eindringen, und ferner durch die Untersuchungen von Lamberts') das Innere der Pökelheringe sich als steril erwiesen hat, auch bei meinen eigenen kulturellen wie mikroskopischen Untersuchungen das gepökelte Heringsfleisch sich, wenn nicht absolut steril, so doch jedenfalls als sehr bakterienarm gezeigt hat, so muss sich die Wirksamkeit der Bakterien auf die Lake beschränken. Haben nun die von den Bakterien in der Lake gebildeten Pro- dukte speziell einen besonderen Einfluss auf den Geschmack und können sie überhaupt, nachdem sie in der Lake entstanden sind, nach- träglich in das Fleisch hineindringen ? Nach typischen Bakterienspaltungsprodukten habe ich nicht ge- sucht, die werden ja gewöhnlich auch in so kleine Mengen gebildet, dass sie sich leicht dem chemischen Nachweis entziehen. Insofern wird diese Frage schwer zu beantworten sein, aber ich glaube, dass sie indirekt ihre Beantwortung findet. Zuerst möchte ich indessen eine andere Frage, die ich noch nicht erwähnt habe, nämlich ob das Rohmaterial selbst beim Reifen von ge- salzenen Fischen eine Rolle spielt, kurz berühren. Man salzt bekanntlich Heringe, Lachse, Forellen, Makrelen, und diese Fische werden in dem gepökelten Zustande genießbar, sie werden reif. Dagegen salzt man Dorsche, Schellfische und andere magere Fische, ohne dass sie reifen, und diese Fische werden erst nach dem Kochen oder anderweitiger Zubereitung genießbar. Wir sehen also: Die fetten Fische machen einen Reifungsprozess durch, die mageren nicht. Wenngleich wir diese Vorgänge noch nicht völlig kennen, so er- scheint es doch im Hinblick hierauf nahezu sicher, dass die Spaltung der Neutralfette in irgend einer Weise beim Reifen eine große Rolle spielt; und diese ist hier eine Spaltung rein autolytischer Natur. Wenn man dazu erinnert, dass die so reichlieh gebildeten Xanthin- basen auch nur durch Autolyse gebildet werden, so könnte man schließen, dass sie den Haupteinfluss auf den Reifungsvorgang ausüben. Um die Frage endgültig zu entscheiden, blieb bei der heutigen Technik der Bakterienphysiologie nichts anderes übrig, als experimentell den Wert der beiden in Frage kommenden Faktoren zu untersuchen. Durch Versuche, bei denen die Heringe unter Zusatz von antiseptisch 4) Untersuchungen gemacht bei Forster und erwähnt vonStadler: Ueber die Einwirkung von Kochsalz auf Bakterien, die bei Fleischvergiftungen eine Rolle spielen. Archiv für Hygiene, Bd. XXXY. 412 E.Korschelt u. K. Heider, Lehrb.d. vergl. Entwicklungsg. d. wirbell. Tiere. wirkenden Salzen, die eine Bakterienwirkung, aber nicht die Enzym- wirkungen vernichten, eingesalzen wurden, zeigte es sich, dass man trotz des Fehlens von Bakterien Pökelheringe erhielt, die von den Praktikern als reif bezeichnet wurden. Es muss also als festgestellt angesehen werden, dass das eigen- tümliche Reifen der Pökelheringe auf autolytischen Pro- zessen beruht, die durch Agentien (Enzyme) die schon in den lebenden Muskelzellen gegeben waren, bewirkt werden. Doch wäre es zu frühzeitig, hieraus zu schließen, dass die Bakterien ohne jede praktische Bedeutung oder gar ein lästiges Uebel sind. Sie können wahrscheinlich die Menge einiger autolytisch gebildeter Pro- dukte vermehren. Bisher habe ich mich mit den Reifungsprozessen, die sich in kochsalzgesättigter Lösung vollziehen, beschäftigt. Wie es sich in dieser Beziehung mit den wenig gesalzenen Fisch- produkten: Matjes, Anchovis, Gährheringen ete. verhält, habe ich noch nicht endgültig festgestellt. Doch ist es außer Zweifel, dass die auto- Iytischen Prozesse unter diesen Verhältnissen sich leichter vollziehen können. Auf der anderen Seite können die autolytischen Prozesse teilweise von den Bakterien gestört oder eliminiert werden. Wie das Fischfleisch (wie übrigens auch das Säugetierfleisch) sich verhält, wenn es aseptisch aufbewahrt wird, ist sehr eigentümlich. Es fängt ziemlich schnell eine Art von Selbstverdauung an. Ein großer Karpfen z. B., der lebendig ausgenommen und im Eis- schranke aufbewahrt wurde, fing im inneren Rückenfleisch an, eine schmierige Konsistenz und einen eigentümlichen „Hautgout“ anzu- nehmen, ohne dass irgendwelche Bakterien in der Muskulatur einge- drungen waren. Weitere Untersuchungen hierüber sowie über die Autolyse des Fischfleisches überhaupt sind schon in Angriff genommen; dazu vor Jahren vorbereitetes Material wird sowohl für rein thecretische wie praktische Fragen verwertet werden. Besonders sollen die Xanthin- basen und die autolytische Fettspaltung Berücksichtigung finden. E. Korschelt und K. Heider, Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungsgeschichte der wirbellosen Tiere. Allgemeiner Teil. 1. Lieferung. Jena, G. Fischer, 1902. Wir haben lange auf den nun in erster Lieferung vorliegenden allge- meinen Teil des bekannten Lehrbuches von Korschelt und Heider warten müssen, jedoch, wie zu erwarten war, nicht zum Schaden des Unternehmens, E.Korschelt u. K. Heider, Lehrb. d. vergl. Entwicklungsg. d. wirbell. Tiere. 413 In der Einleitung wird der Begriff der Entwicklung definiert; daran schließt sich die Unterscheidung zweier Arten der individuellen Entwick- lung als Entwicklung aus undifferenziertem (d. h. bereits differenziert ge- wesenem und zu neuer Bestimmung kommendem) Material, also die Ent- stehung aus Knospung, Teilung und Regeneration, sowie als Entwicklung aus spezifischem Keimmaterial (Keimzellen). Dann folgt eine richtige Wertschätzung beider Richtungen der Entwicklungsgeschichte, der deskriptiven und der experimentellen. Der erste 15 Bogen umfassende Abschnitt des ganzen 34 Bogen starken Werkes behandelt die experi- mentelle Entwicklungsgeschichte (das Wort „Entwicklungsmechanik“ wird zweckmäßig vermieden). Für den Leser ist es wertvoll, dass allgemein auch die Forschungsresultate auf dem Gebiet der Wirbeltiere miteinbe- zogen werden. Bei der Besprechung der Frage von der Bedeutung der Schwerkraft für die Entwicklung wird richtig hervorgehoben, dass von einem allgemeinen Gesetz des richtenden Einflusses der Schwerkraft, welcher die Entwicklung der Organismen beherrschen sollte, nicht die Rede sein kann; doch hätte unter Betonung der 'Thatsache, dass in dem alten Roux’schen Rotationsversuch mit Froscheiern die richtende Wirkung der Schwerkraft auf das Ei nicht aufgehoben war, darauf hingewiesen werden sollen, dass für die Entwicklung dotterreicher Eier, wie das des Frosches, die Schwerkraft, indem sie die normale Anordnung der Zell- substanzen zu Beginn der Entwicklung erhält, einen notwendig gewordenen äußeren Faktor darstellt. Die Bedeutung bestimmter 'Temperaturgrade wird von dem Standpunkte der Kardinalpunkte der Temperatur er- schöpfend behandelt, gleichfalls die durch 'Tiemperaturstörungen experi- mentell erzeugten Missbildungen. Nach Würdigung unserer noch sehr wenig fest fundierten Anschauungen von der Bedeutung monochromatischen Lichtes, sowie der des Einflusses geänderter Bedingungen des Gasaus- tausches werden unsere in letzter Zeit durch wichtige Arbeiten geförderten Kenntnisse von dem Einfluss veränderter chemischer Zusammensetzung des umgebenden Mediums auf die Entwicklung besprochen. Erwähnt seien nur die von Loeb festgestellte Bedeutung der Alkalescenz des Mediums, die empfindliche Reaktion des Echinideneies auf Aenderungen in der nor- malen Zusammensetzung des Seewassers (Herbst) und die Einwirkungen toxischer Substanzen auf Echinideneier (Gebrüder Hertwigu.a.). Daran. schließen sich der Einfluss veränderter osmotischer Bedingungen und einige kleinere Abschnitte. In dem zweiten Kapitel werden die Entwicklungstheorien erörtert und die zahlreichen Versuche besprochen, die sich auf die alte, wenn auch heute verändert gefasste Frage der Praeformation und der Epigenese be- ziehen. Es wird übersichtlich ‘abgeleitet, dass, insofern von einer Prae- formation gesprochen werden darf, als durch die Eistruktur der Entwick- lung eine ganz bestimmte Richtung vorgeschrieben wird und grundlegende Differenzierungen allgemeinster Art (Axenverhältnisse des Embryo) in vielen Fällen klar vorgebildet sind, dass aber jeder Einzelvorgang als ein neuer aus dem vorhergehenden hervorgeht und der Organismus das Resultat immer neu geschaffener Kombinationen ist, sodass man passend mit Driesch von einer epigenetischen Evolution reden kann. Ausführliche Angaben über unsere, trotz vieler wichtigen Resultate noch sehr mangel- haften Kenntnisse über die jedenfalls ursprünglich einseitig überschätzte 414 E. Korschelt u. K. Heider, Lehrb. d. vergl. Entwicklungsg. d. wirbell. Tiere. Bedeutung des Zellkernes als ausschlaggebender Faktor für die Entwick- lung schließen sich an. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den im Inneren wirkenden Entwicklungsfaktoren. Bei dem Wachstum wird u. a. der Uebereinstimmung gedacht, die zwischen Tier und Pflanze in der Beziehung von Wasser- aufnahme zum Wachstum besteht (Davenport), sowie der allerdings im Gegensatz zu der Pflanzenwelt sehr spärlichen Resultate, die wir über die Beeinflussung der Weachstumsrichtung durch äußere Reize besitzen (Beobachtungen von Loeb und Driesch an Hydroidpolypen). Der größte Teil des Kapitels ist naturgemäß den cellulären Vorgängen gewidmet. Dieser Teil zeichnet sich durch besonders geschickte Anordnung und Durchdachtsein des Stoffes aus. Es folgen die Reizwirkungen und die Bedeutung physikalischer Komponenten. Dass mit all diesen so bedeutungs- vollen Faktoren schließlich, wenn auch nur kurz, die Möglichkeit des Vorhandenseins besonderer vitaler Komponenten unter die gleiche Rubrik gestellt wird,erscheint dem Referenten doch zu weit gegangen. Der zweite Abschnitt des Werkes ist der Entstehung, Reifung und Vereinigung der Geschlechtszellen — des Eies und des Spermatozoon — gewidmet, die als Propagationszellen den somatischen Zellen gegenüber- stehen. Der Abschnitt ist, so weit er bis jetzt vorliegt, naturgemäß ein morphologischer. Ei und Eibildung werden in vier Kapiteln behandelt. Nach Be- sprechung der Struktur des Eies werden die Eihüllen beschrieben nach der Einteilung in primäre Hülle —- Dotterhaut, sekundäre Hülle — Chorion, tertiäre Hüllen — Eiweiß, Gallerthüllen, Cocons u. s. w. Daran schließt sich ein Kapitel über Brutpflege, wo wiederum die gleichzeitige Berücksichtigung der Wirbeltiere zur Vervollständigung des Bildes beiträgt. Der Abschnitt über die Eibildung umfasst allein 100 Seiten und enthält einen kurzen Anhang über die Zwitterdrüse (bei Ophriotrocha, Pulmonaten, einigen Nemertinen und Echinodermen). Als dankenswerter Anhang ist eine Uebersicht über die frühzeitige Sonderung der Keimzellen von den soma- tischen Zellen in den einzelnen Tierklassen willkommen, wobei besonders der Angaben Boveri’s über Ascaris megalocephala gedacht wird. Als Schluss ist ein Abschnitt über unsere jetzigen Kenntnisse der Geschlechts- differenzierung, die bekanntlich vornehmlich durch Nussbaum gewonnen sind, beigefügt. Auch in dem fünften Kapitel — Sperma und Spermatogenese — findet der Leser in klarer Zusammenstellung die große Litteratur er- schöpfend behandelt (einschließlich der Wirbeltiere. Es würde zu weit führen, hier auf weiteres einzugehen. Wir begrüßen diese Fortsetzung des Werkes mit Freuden in der Ueberzeugung, dass jeder, der sich über die uns zur Zeit beschäftigenden entwicklungsgeschichtlichen Fragen unterrichten will, ohne dies Buch nicht arbeiten kann und wird. So können wir im Hinblick" auf den experi- mentellen Teil dieses Buches wieder rufen: Glück auf der jungen Wissen- schaft und den rührigen Kräften, die sich ihr immer mehr zuwenden! Ö. Schultze. [51] Preisausschreibung. 415 Preisausschreibung der kais. Akademie der Wissenschaften zu Wien. Das c. M. Prof. Jos. Seegen hat an das Präsidium der k. Akademie das nachfolgende Schreiben gerichtet: „Die Frage, ob der Stickstoff der im Tierkörper umgesetzten Albuminate zum Teile in Gasform ausgeschieden wird, ist durch direkte Versuche, die zu ihrer Lösung angestellt wurden, nicht in gleichem Sinne entschieden worden. Die Antworten lauten geradezu entgegengesetzt: Ja und Nein. Die erste und berühmteste Serie von hierher gehörigen Versuchen war die von Regnault und Reiset!). Sie haben ungefähr 100 Versuche an Tieren aller Klassen, mit Ausnahme von Fischen und Menschen, angestellt. Sie haben in der sehr grossen Mehrzahl der Versuche eine Stickstoffvermehrung im Atem- raume ihres Apparates nachweisen können. Die gegen die Versuchsanordnung erhobenen Einwürfe hat Regnault in einem Briefe?) an Prof. Pfaundler ziemlich energisch zurückgewiesen. Später hat Reiset allein Versuche an grösseren Tieren (Kälber, Schweine, Schafe) ausgeführt und bedeutende Mengen gasförmigen Stickstoffes gefunden. Reiset fasst die Resultate seiner Versuche und jener, die er gemeinsam mit Regnault ausgeführt hat, in den Worten zusammen?): „Les animaux des di- verses classes degagent constamment de l’azote quand is sont a l’etat d’entretien“. Seegen und Nowak*) haben Respirationsversuche angestellt in einem Apparate, der jenem von Regnault nachgebildet war, nur wurde die aus dem Atemraume gesaugte Luft nicht bloss von Kohlensäure befreit, sondern durch einen Verbrennungsapparat über glühendes Kupferoxyd geleitet und dadurch von allerlei schädlichen organischen Dämpfen befreit. Es wurde so möglich gemacht, die Versuche sehr auszudehnen und Tiere, die sonst nach 18 bis 24 Stunden unwohl wurden, 100 Stunden und darüber im Käfige gesund zu erhalten. Seegen und Nowak haben in ihrem Apparate 32 Versuche ausgeführt, und zwar an Hunden, Kaninchen, Tauben und Hühnern; die Dauer der Ver- suche war von 15 bis 110 Stunden. In allen Versuchen ausnahmslos hat eine gasförmige Stickstoffausscheidung stattgefunden, und diese Stickstoffausscheidung wächst mit der Dauer des Versuches. Sie betrug im Durchschnitt 7 bis I mg pro Stunde und pro Kilo Tier; und in einzelnen Versuchen war die Gesamt- stickstoffausscheidung eine sehr beträchtliche, sie betrug 2. B. bei 98 stündiger Versuchsdauer 4.7 g. Eine dritte Serie von Untersuchungen zur Frage der Bildung von freiem Stickstoff im tierischen Organismus wurde von Hans Leo ausgeführt’). Der 1) Regnault et Reiset, Recherches sur la respiration des animaux. — Annales de Chimie et de Physique, III. serie, t. 26, et Annales de Chimie et Pharmacie, t. 73. 2) Abgedruckt in einer Abhandlung von J. Seegen, Zur Frage über die Ausscheidung des Stickstoffes etc. Sitzungsber. d. k. Akad. d. Wissensch., Jahrg. 1873, Bd. 63. 3) Comptes rendus de U’ Academie des Sciences, t. 63. 4) Versuche über die Ausscheidung von gasförmigen Stickstoff aus den im Körper umgesetzten Eiweissstoffen. Pflüger’s Arch. f. Physiologie, bd. 19. 5) Hans Leo, Untersuchungen zur Frage der Bildung von freiem Stick- stof im tierischen Organismus. Pflüger’s Archiv, Bd. 26, 416 Preisausschreibung. wesentliche Unterschied in der Versuchsanordnung zwischen diesen und den früher genannten Untersuchungen bestand darin, dass das Versuchstier nicht in dem Atemraum eingeschlossen ist, sondern dass es ausserhalb desselben steht und durch eine Trachäal-Canüle in denselben hineinatmet. Bei den ersten Ver- suchen wurde im Atemraum eine beträchtliche Stickstofausscheidung nach- gewiesen. Bei den nächsten Versuchstieren wurde der Abschluss der Körper- höhlen von der äusseren Luft durch Eingipsen des Kopfes des Tieres versucht. Die gefundene Stickstoffmenge war nun wesentlich geringer, aber noch immer sehr beträchtlich. In den weiteren Versuchen wurde das Versuchstier unter Wasser von Körpertemperatur versenkt; und in diesen Versuchen war nur eine ganz minimale Vermehrung des Stickstoffes im Atemraume nachzuweisen. Leo schliesst aus diesen Versuchen, dass der von anderen Forschern gefundene Stick- stof nicht im Tierkörper dureh Zersetzung von Albuminaten entstanden ist, . sondern dass er in den grossen Körperhöhlen beim Beginne des Experimentes präexistierte, oder von der Körperoberfläche absorbiert und durch Diffusion in die Lungen und von diesen in den Atemraum gelangt war. Es kann gegen diese Versuchsanordnung eingewendet werden, dass durch die Ausschliessung des Tieres vom Atemraume die Gase, welche durch die Haut den Körper verlassen, nicht zur Untersuchung gelangten. Die endgültige Lösung der Frage ist also noch ausständig; und bei der hohen theoretischen wie praktischen Bedeutung dieser Lösung muss dieselbe an- gestrebt und erreicht werden. Mir war es aus vielen Gründen nicht mehr gegönnt, diese Arbeit wieder aufzunehmen. Mein Mitarbeiter Nowak war gestorben und ich selbst war auf einem anderen Forschungsgebiete in Anspruch genommen. Da ich bei meinem vorgerückten Alter nicht mehr hoffen darf, selbstthätig einzugreifen, möchte ich mindestens indirekt dadurch mein unausgesetztes Interesse an dieser Frage kund- thun, dass ich für die Lösung derselben einen Preis ausschreibe. Hochachtungsvoll Prof. Josef Seegen. Die mathem.-naturw. Klasse der kaiserlichen Akademie hat in ihrer Sitzung vom 15. Mai I. J. auf Grund dieser Widmung folgende Preisaufgabe ausgeschrieben: „Es ist festzustellen, ob ein Bruchteil des Stickstoffes der im tierischen Körper umgesetzten Albuminate als freier Stickstoff in Gasform, sei es durch die Lunge, sei es durch die Haut ausgeschieden wird. Der Preis beträgt 6000 Kronen. Die konkurrierenden Arbeiten sind, in deutscher, französischer oder englischer Sprache abgefasst, vor dem 1. Februar 1904 an die Kanzlei der kaiserl. Akademie der Wissenschaften einzusenden. Die Verkündigung der Preiszuerkennung findet in der feierlichen Sitzung der Aka- demie Ende Mai 1904 statt.“ Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXI. Band. 15. Juli 1902. Nr. 14 una 15. Inhalt: Woebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich (Fortsetzung). -— Driesch, Kritisches und Polemisches. — Reichenbach, Ueber Parthenogenese bei Ameisen und andere Beobachtungen an Ameisenkolonien in künstlichen Nestern. — Stieda, Geschichte der Entwicklung der Lehre von den Nerven- zellen und Nervenfasern während des 19. Jahrhunderts. — Bei der Redaktion eingegangene Werke. — Deutscher Verein für Öftentliche Gesundheitspflege. Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Von K. Goebel. (Fortsetzung.) Wenn man Sprosse als Stecklinge benützt, so zeigt sich, dass ältere, verholzte Sprosse sich nicht mehr bewurzeln können, während dies bei jüngeren leicht geht. Je nachdem nun ein Spross sich be- wurzelt oder nicht, zeigt er ein sehr verschiedenes Verhalten. An einem bewurzelten Steckling treiben die blattbürtigen Knospen nicht aus, wohl aber an dem wurzellos bleibenden. Man sieht dann, wenn der Spross zahlreichere Blätter besitzt, diese mit Dutzenden von jungen Sprossen versehen. Auch die Achselsprosse treiben aus und zeigen ein unten zu erwähnendes, charakteristisches Verhalten. Schon der erstangeführte Versuch (s. 0.) zeigte, dass die Trennung des Blattes vom Stamm keine notwendige Bedingung für das Austreiben der Knospen ist, der zweite erweist, dass auch durch Beseitigen der Wurzeln die Knospenentwicklung an den Blättern „ausgelöst“ werden kann, wenn die Wurzeln sich rascher neu bilden als die Knospen austreiben, so unterbleibt die Entwicklung der letzteren. Es liegt nun, da die Wurzeln die Organe der Wasseraufnahme sind, nahe, mit Wakker die Ursache für das Austreiben in der Unterbrechung der Wasser- bewegung zu suchen, aber ein zwingender Beweis dafür ist in der mitgeteilten Erfahrung nicht gegeben, es findet ja auch eine Unter- breehung der Siebteilbahnen statt, in denen sich Baumaterialien zum Wurzelsystem hinbewegen, man könnte auch annehmen, dass das Aus- XXI. 27 418 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. treiben unterbleibt, wenn dieser Strom wieder (durch Bildung neuer Wurzeln am Steckling) hergestellt wird. Zunächst also ist auch durch diesen Versuch als Ursache nur die Unterbrechung der Leitungsbahnen festgestellt. Der zweite Versuch ist aber geeignet, uns eine Handhabe für die Erklärung der Thatsache zu geben, dass auch an unverletzten Pflanzen ein Austreiben der blattbürtigen Knospen stattfinden kann. Ich beobachtete dies sowohl bei Dr. erenatum als Br. calycinum. Bei letzterer Pflanze vor Jahren in einem besonders feucht gehaltenen Gewächshaus. Indes kann es sich hier nicht um eine Wasseraufnahme dureh die blattbürtigen Knospen handeln. Wakker hat beobachtet (a. a. ©. p. 90), dass bei am Stamme festsitzenden Blättern, wenn sie in Wasser untergetaucht wurden, einzelne Blattknospen sich ent- wickelten, er betrachtet dies als neuen Beweis für seine Ansicht, da durch das Untertauchen des Blattes die Wasserbewegung in demselben merk- bar gestört werde. Aber durch das Untertauchen werden außer der Wasserbewegung auch andere Funktionen — namentlich der Gasaus- tausch gestört und außerdem vielleicht den Blattknospen Wasser zu- geführt, was hier ebenso wie bei den oben geschilderten Farnknospen wirken könnte. Bei br. calycinım konnte ich übrigens weder an einem in Wasser herabgebogenen Zweig ein Austreiben der Knospen herbeiführen, noch an Blättern, die feucht gehaltenem Filtrierpapier auflagen, auch nicht an solchen, die mit feuchter Erde umgeben waren (indes würde dies bei öfterer Wiederholung des Versuchs namentlich an älteren Blättern wohl auch hier gehen), ebensowenig an Blättern, die ich mit Vaselin bestrichen hatte. Derartig behandelte Blätter lösten sich nach einiger Zeit leicht ab — ein Beweis, dass sie innere Schädigung erfahren hatten. Wie dem nun auch sei, jedenfalls war bei den Sprossen von Dr. calycinum, deren Blätter ihre Knospen ohne äußeren Ein- griff entwickelten, die Ursache nicht in Wasserzufuhr zu den Knospen zu suchen !), sondern darin, dass die Leitungsbahuen im Spross oder der Wurzel nicht normal funktionierten. Dass nicht eine äußere Ursache vorlag, das zeigt auch die wiederholt beobachtete Thatsache, dass das Austreiben nicht vereinzelt, sondern an sämtlichen Blättern derartiger Sprosse erfolgte, und zwar bei Sprossen, die mit anderen (nicht aus- treibenden) in ein und demselben Topf standen, so dass in diesem Falle von einer ungleichen Beeinflussung der Blätter durch die Umgebung nicht die Rede sein kann. Das Austreiben der blattbürtigen Sprosse wurde noch auf andere Weise erzielt. An fünf Pflanzen wurde der Gipfel und 1) Es ist auf Grund des Wakker’schen Experimentes zwar die An- nahme gestattet, dass das Austreiben der Knospen durch Wasserzufuhr be- günstigt werden kann — was unter Umständen auch bei Dr. cerenatum ein- treten mag, aber es tritt doch die Bedeutung der direkten Wasserzufuhr hier gegenüber dem für Aneimia Angeführten ganz zurück. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 419 sämtliche Seitensprosse beseitigt, die zunächst noch nicht sieht- baren Sprossanlagen, sobald sie sich zeigten. Die Pflanzen be- mühten sich lange, immer neue Sprosse zu treiben und so auf dem normalen Wege ihre Weiterentwicklung zu sichern. Jedem Spross Bryophyllum erenatum. Obere Teile von drei entknospten Pflanzen (nat. Gr.). Die blattbürtigen Sprosse haben ausgetrieben, an den Blättern derselben haben sich teilweise (oben in der Mitte) neue Pflänzchen entwickelt, wurde nur ein Blatt gelassen, sämtliche Blätter entwickelten nun die Sprosse an den Blättern (Fig. 6) (in größerer oder kleinerer Anzahl), bei dreien derselben war eine Bevorzugung des basalen Blattteiles zu erkennen, worauf indes kein Gewicht zu legen ist, weil in anderen 2 420 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Fällen diese Bevorzugung nicht hervortrat. Die Blätter rissen dabei teilweise vom Rande her ein, wohl wegen der starken Turgescenz ihrer Zellen, war ja den Pflanzen doch nur ein Blatt gelassen worden. Letzteres ist übrigens keine Bedingung für das Gelingen des Versuchs, das Austreiben der blattbürtigen Knospen erfolgte auch bei entknospten Pflanzen, die sechs Blattpaare besaßen, innerhalb von zehn Tagen nach der Entknospung. Die bei der ersten Serie entknospter Pflanzen ent- wickelten blattbürtigen Sprosse wuchsen viel langsamer, als wenn sie in der Erde eingewurzelt gewesen wären. Dass dies darin begründet ist, dass der Anschluss an die Leitungsbahnen der Sprossachse ein unvollkommenerer ist als bei einem gewöhnlichen (stengelbürtigen) Seitenspross, geht auch daraus hervor, dass mehrere dieser blatt- bürtigen Sprosse (namentlich wie es schien die im Wachstum zurück- bleibenden) nach einigen Wochen an ihren Blättern (vom dritten Blatt- paare an) Knospen austrieben. Es waren dadurch also zwei Generationen blattbürtiger Sprosse miteinander auf dem ursprünglichen Stamme befestigt. Das Ergebnis dieses Versuches lässt sich zunächst dahin deuten, dass man sagt, es sei durch die Beseitigung der sämtlichen Sprossvegetationspunkte eine Störung in den Leitungsbahnen eingetreten, diese verlaufen ja zu den Sprossvegetationspunkten und liefern ihnen die Materialien, auf deren Kosten die Weiterentwicklung stattfindet. Gewiss ist diese An- nahme eine berechtigte. Aber wichtiger noch scheint mir die Folge- rung aus den oben angeführten Thatsachen, dass zwischen den blatt- bürtigen und den sprossbürtigen Vegetationspunkten (auch denen des Wurzelsystems) eine Beziehung (Korrelation) besteht. Wenn am un- verletzten Spross das Austreiben der blattbürtigen Knospen unterbleibt, so ist dies darin begründet, dass die Leitungsbahnen von den „nor- malen“ Vegetationspunkten beansprucht werden, hebt man durch Unter- brechung der Leitungsbahnen den Zusammenhang mit jenen auf, oder entfernt man dieselben, so können die blattbürtigen Knospen sich ent- wickeln, welche die sonst allgemeine Eigenschaft der Vegetationspunkte, als Anziehungscentren für die Bewegung von Baumaterialien zu dienen, nicht ausüben können, weil sie an die Leitungsbahnen viel weniger direkt angeschlossen sind als die Sprossvegetationspunkte. Ich komme also für die blattbürtigen Knospen zu dem Resultat: das Austreiben wird bedingt durch jede Unterbrechung oder größere Störung der Leitungsbalınen und zwar deshalb, weil dadurch (wenn ein Bild ge- stattet ist) der in diesen nach den normalen Vegetationspunkten fließende Strom unterbrochen resp. gehemmt wird, so dass jetzt die nur mit schwacher Anziehung begabten blattbürtigen Knospen ihn be- nützen können. Damit steht keineswegs im Widerspruch die Erfah- rung, dass bei Wurzelentwicklung am Steckling das Austreiben der Blattknospen unterbleibt, beim Ausbleiben der Wurzelentwicklung er- Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 491 folgt. Wenn die Wurzeln sich entwickeln, so ist damit der normale Zustand in den Leitungsbahnen hergestellt und die vorhandenen „nor- malen“ Vegetationspunkte wirken wie vorher. Bleibt die Wurzelbildung aus, so ist auch die Sprossspitze in ihrer Entwicklung gestört, kann also nicht (durch ihre Beanspruchung der Leitungsbahnen) das Aus- treiben der blattbürtigen Knospen verhindern. Dass Korrelationen im Spiele sind, zeigt auch das Verhalten der Wurzeln. Die blattbürtigen Sprosse machen stets Wurzeln. aus ihrer Basis, auch wenn sie an dem festsitzenden Blatte sich entwickeln; die Wurzeln erscheinen als rote Fäden an der Basis der Sprosse (sie sind gegen Austrocknung viel weniger empfindlich als dies sonst der Fall zu sein pflegt und erreichen mehrere cm Länge in der Luft, ehe sie absterben). Die Achselsprosse der Blättern machen gewöhnlich keine Wurzeln, nur die am unteren Teil der Pflanze entspringenden (selten auch solche in höheren Regionen) zeigen am unverletzten Spross Wurzelbildung. Diese tritt aber sofort und reichlich auf an den aus- treibenden Seitensprossen solcher Stecklinge, die sich nicht bewurzeln; Bryophyllum calyeinum. Entblätterter, als Steckling benützter Spross (ver- kleinert). Er hat keine Wurzeln gebildet, wohl aber sind solche an der Basis der Seitensprosse entstanden. (Fig. 7) — an den sich bewurzelnden unterbleibt sie. Entfernt man aber unterhalb von zwei Seitensprossen (an einem älteren Spross)!) einen ringförmigen Streifen der Rinde, so treiben die oberhalb stehenden Seitensprosse, obwohl sie im Zusammenhang mit dem Hauptspross sind, zahlreiche Wurzeln. Hier ist es also nicht die Unterbreehung der Wasserleitungsbahnen, welche die Wurzelbildung auslöst, sondern die derjenigen Leitungsbahnen, in welchen die organischen Nähr- materialien nach unten zu den Wurzeln hin transportiert werden. Fig. 7 stellt einen entblätterten, als Steckling benützten Spross dar. Er hat sich, weil er zu alt war (er hatte schon geblüht), nicht bewurzelt, wohl aber haben alle seine Seitentriebe an ihrer Basis Wurzeln entwickelt, dabei sind die obersten Triebe nicht die kräftigsten (wie dies sonst die Regel ist), weil sie einer durch die Blütenbildung erschöpften Region des Sprosses angehören. Wir sehen somit, dass die Neigung zur Wurzelbildung hier bei den verschiedenen Sprossen eine verschiedene ist: bei den blattbürtigen 4) Ein jüngerer würde oberhalb der Ringelungsstelle selbst Wurzeln bilden, 429 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Sprossen sind Sprossentwicklung und Wurzelbildung stets miteinander verknüpft (und zwar in Verbindung damit, dass diese Knospen 'den Leitungsbahnen der Sprossachse nur wenig angeschlossen sind und ziemlich selbständige Gebilde darstellen), ganz gleichgültig, ob letztere unter den obwaltenden Verhältnissen zweckmäßig ist oder nicht, bei den Seitensprossen ist das nicht der Fall. Sie sind nur in geringem Grade geneigt, spontan Wurzeln zu bilden, thun dies aber sofort, wenn die Wurzeln des Hauptsprosses entfernt sind (und nicht vom alten Spross repariert werden können), oder wenn die Verbindung mit dem Wurzelsystem unterbrochen ist. Sie sind dem Leitungssystem des Sprosses direkt angeschlossen, darin ist meiner Ansicht nach ihr ver- schiedenes Verhalten gegenüber den blattbürtigen Sprossen begründet. Auch an den Seitensprossen, welche über der Ringelungsstelle standen, trieben übrigens die blattbürtigen Sprossanlagen aus; es ist, da die Wunde nicht geschützt wurde, wahrscheinlich, dass auch die Wasser- leitungsbahnen eine Schädigung erlitten hatten, obwohl sie zur Deekung des Transpirationsverlustes ganz ausreichten. Ein Austreiben der blattbürtigen Sprosse kann auch noch auf an- derem Wege erreicht werden, durch Aethereinwirkung. Es ist bekannt, dass man durch die Einwirkung von Aetherdämpfen die Entwicklung von Knospen, die sich in der winterlichen Ruheperiode befinden, an- regen, die Ruheperiode also abkürzen kann, und dass dies Verfahren jetzt schon in der Gärtnerei beim „Frühtreiben“ angewandt wird!). Ich brachte kräftige junge Pflanzen, deren Topf (um die Erde gegen die Aufnahme von Aetherdämpfen zu schützen) mit Kautschukpapier umwickelt war, unter eine Glasglocke, unter welcher Aether ver- dunstete. Schon nach einem Tage zeigten einzelne der blattbürtigen Sprossanlagen, unter allerdings sehr günstigen äußeren Bedingungen (hoher Temperatur) Zeichen der Weiterentwicklung. Es fragt sich, ob der Aether auf die ganze Pflanze hemmend einwirkte?) und da- durch die Knospenentwicklung hervorrief oder lokal auf die einzelnen Sprossvegetationspunkte, die er zur Weiterentwicklung anregte. Jeden- falls war die Aetherwirkung mit einer Schädigung der betreffenden Blätter verbunden, sie starben nach einiger Zeit samt ihren Knospen ab. Vergleichen wir noch das Verhalten von Bryophyllum mit dem von Aneimia. Für Aneimia rotundifolia wurde oben gezeigt, dass das Austreiben der blattbürtigen Knospen leicht durch Wasser- zufuhr bewirkt werden kann. Dryophyllum verhält sich dem gegenüber scheinbar sehr verschieden. Indes hängt die Verschieden- heit mit den Lebensverhältnissen zusammen; Bryophyllum ist eine 1) Vergl. Johannsen, Das Aether-Verfahren beim Fruchttreiben. Jena, Gustav Fischer, 1900. 2) Die Aethereinwirkung muss natürlich so reguliert werden, dass keine sichtbare Schädigung der ganzen Pflanze eintritt. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 423 Pflanze, die als Blattsukkulente von der direkten Wasserzufuhr viel unabhängiger ist als Aneimia. Auch für das Austreiben der Bryophyllum-Blattknospen ist Wasser selbstverständlich eine der not- wendigen Bedingungen. Aber das im Blatte gespeicherte Wasser reicht für die ersten Entwicklungsstadien der blattbürtigen Knospen vollständig aus, und da diese sofort Wurzeln bilden, so ist unter nor- malen Verhältnissen ihre weitere Existenz gesichert. Die Resultate der Ausführungen über Pryophyllum lassen sich folgendermaßen zusammenfassen : 1. Der Anstoß zum Austreiben der blattbürtigen Knospen wird gewöhnlich durch Trennung derselben von der Mutterpflanze gegeben. 2. Dass es sich dabei um eine Unterbrechung der in den Gefäß- bündeln verlaufenden Leitungsbahnen handelt, zeigt die Thatsache, dass man auch durch Durchschneiden der letzteren allein das Aus- treiben der Knospen herbeiführen kann. 3. Nicht nur eine Unterbrechung der Leitungsbahnen, sondern auch eine funktionelle Störung derselben bewirkt das Austreiben. Dieses er- folgt ferner sowohl bei dauernder Beseitigung des Wurzelsystems als auch aller Sprossvegetationspunkte (außer den blattbürtigen). Daraus wird gefolgert, dass das Unterbleiben des Austreibens an normalen unver- letzten Pflanzen bedingt wird durch die Inanspruchnahme der Leitungs- bahnen von seiten der „normalen“ Organanlagen, es besteht also zwischen diesen und den blattbürtigen Sprossen eine Korrelation, welche bei Durchschneidung oder Störung der Leitungsbahnen aufgehoben wird. 4. Der Vergleich zwischen Dryophyllum und den oben genannten Farnen zeigt, dass die Bedingungen für das Austreiben der Knospen den Lebensverhältnissen der betreffenden Pflanzen angepasst sind: die Blattknospen der Aneimia sind auf das Aufsuchen eines feuchten Substrates eingerichtet, sie werden durch Wasserzufuhr (resp. Ver- dunkelung) zur Entwicklung angeregt. Die sukkulenten Blätter von Bryophyllum können das Substrat nur erreichen, wenn sie abbrechen oder abgeworfen werden. Sie sind durch ihren Wassergehalt vom Substrat zunächst unabhängige, bei ihnen wird der Reiz zum Austreiben durch die Unterbreebung der Leitungsbahnen gegeben. Da hierauf die Knospenentwicklung gewissermaßen „eingestellt“ ist, kann sie auch leicht hervorgerufen werden, solange die Blätter mit der Pflanze noch im Zusammenhange sind, während bei Aneimia die Unterbrechung der Leitungsbahnen für das Austreiben der Knospen ohne Bedeutung ist. Wenn wir die oben behandelten Beispiele der Knospenentwicklung aus schon vorhandenen Anlagen vergleichen mit denen, bei welchen eine Neubildung von Knospen am abgeschnittenen Blatt eintritt, so scheint ein Unterschied beider Fälle namentlich darin zu liegen, dass die Knospenbildung bei 1. an anderen Stellen auftritt als bei 2. Das ist ja besonders auffallend bei Dryophyllum, wo wir die Bildung echter 494 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Adventivknospen roch künstlich (nach Entfernung der vorhandenen Sprossanlagen) hervorrufen konnten, aber diese treten dann nicht in den Kerben des Blattrandes, sondern auf der Basis des Blattstiels auf. Indes erscheint die Verschiedenheit viel geringer, wenn wir an- dere Fälle normal knospenbildender Blätter vergleichen. Wir wissen nicht, wodurch der Ort der Knospenanlage bei den Blättern von An- eimia rotundifolia und Bryophyllum bedingt wird, wenn wir auch bei den Farnen mit „wandernden Blättern“ leicht einsehen, dass es für Fig. 8. Nymphaea stellata Willd. var. bulbillifera (nach Ross). Blatt, welches an der Basis der Blattspreite eine neue Pflanze mit zahlreichen Blättern (an denen sich die Erscheinung wiederholt) Blütenknospen und Wurzeln trägt. '/, nat. Gr. die Verbreitung der Pflanze nützlich ist, wenn die Knospe möglichst weit von der Mutterpflanze weg, d. h. nach der Blattspitze hin rückt. Bei einigen anderen Pflanzen mit normal blattbürtigen Knospen ist die Anlage dieser offenbar durch den Verlauf der Leitungsbahnen im (Dr. Neubert’s Gartenmagazin 1898, Heft 214). Herr Dr. Ross gestattete mir auch freundlichst die Reproduktion der seiner Mitteilung beigegebenen Abbildung (Fig. 8). Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 425 die in botanischen Gärten jetzt vielfach gezogen wird. Jedes Blatt trägt an der Basis der Blattspreite, da wo die Blattnerven (mit anderen Worten die Leitbahnen) zusammenlaufen, auf der Oberseite eine Knospe. Die Weiterentwicklung derselben findetnach Ross im Sommer nur an den äußeren, im Absterben begriffenen Blättern statt, gegen den Herbst hin ent- wickeln sich die blattbürtigen Knospen in größerem Maßstabe. Da die Pflanze im Herbste einzieht, also ihre Vegetationskraft allmählich nach- lässt, da man ferner auch im Sommer an abgeschnittenen Blättern leicht ein Austreiben der Knospen herbeiführen kann, so scheint mir hier zwischen den blattbürtigen Knospen und der übrigen Pflanze eine ganz ähnliche Korrelation zu bestehen, wie sie oben für Bryophyllum nach- zuweisen versucht wurde. Es ist übrigens selbstverständich, dass auch das allmähliche Heranreifen der blattbürtigen Knospen das Austreiben erleichtert, es werden wohl auch Reservestoffe in den Knospen abge- lagert, die beim Austreiben Verwendung finden. Ganz an demselben Orte entsteht auf jedem Laubblatt eine Knospe bei der nordameri- kanischen Saxifragee Tolmiea Menziesi'!), auf welche Herr Dr. Ross mich aufmerksam machte, und bei dem Farnkraute Hemionitis cordata. In beiden Fällen fand bei den hier kultivierten Pflanzen an den Blättern, so lange sie noch an der Pflanze befesigt waren, ein Austreiben der Knospen nicht statt (nur bei alten, im Ab- sterben begriffenen Blättern von Hemionitis cordata trat es ein), während abgeschnittene, feucht gehaltene Blätter, namentlich von Tolmiea, in kurzer Zeit aus den blattbürtigen Knospen Sprosse ent- wiekelten. Tolmiea ist auch dadurch von Interesse, dass nicht alle Exemplare Knospen auf ihren Blättern anlegen. Nach Analogie eines früher besprochenen Farnkrautes?), des Aspidium macrophyllum, er- scheint es wahrscheinlich, dass die Knospenbildung auch hier durch schattigen, feuchten Standort begünstigt wird. Dem sei angeschlossen ein anderes, viel erörtertes Beispiel, wobei es sich um eine Pflanze mit zusammengesetzten Blättern handelt. Cardamine pratensis ist seit langer Zeit durch die Bildung blatt- bürtiger Knospen bekannt?), einige verwandte Cruciferen (z. B. ©. hir- suta, Nasturtium officinale) zeigen dieselbe Erscheinung. Man kann die Entwicklung der Knospen an abgetrennten Blättern, die auf Wasser schwimmen, in wenigen Tagen hervorrufen, an nassen Standorten tritt 4) Einige entwicklungsgeschichtliche Angaben darüber bei Lukasch, Die blattbürtigen Knospen bei Tolmiea Menziesü, Programm des k. k. Staats- Ober-Gymnasiums in Mies. 1894. 2) Pflanzenbiol. Schilderungen II, p. 229. 3) Vergl. die Litteraturangaben bei A. Hansen, Vergleichende Unter- suchungen über die Adventivbildungen bei den Pflanzen (Abhandl. herausgeg. von der Senckenbergschen naturforschenden Gesellschaft XII, 1880, p. 154 ff.). Ferner Beijerinck, over het ontstan van Knoppen en Wortels uit Bladen (Nederlandsch kruidkundig Archief II serie ‘III deel 1882, p. 438 ff.). 426 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. sie auch bei Blättern ein, die mit der Pflanze noch in Verbindung stehen. Der Ort des Auftretens der Knospen (von denen man die stärkeren meist schon mit bloßem Auge als weiße Knötchen am unverletzten Blatte, namentlich den untersten des Stengels wahrnehmen kann) ist ein fest bestimmter, sie stehen stets über den stärkeren Blattnerven, meist an der Basis der Fiederblättchen, seltener auf der Blättchen- oberfläche an einer Nervenverzweigungsstelle. Die Anlegung dieser Knospen wird verschieden geschildert. Nach Hansen würden sie aus Dauergeweben hervorgehen, die Epidermiszellen, welche sich an der Bildung der Knospe beteiligen z. B. sollen schon verdickte Wände haben, die dann dünner werden, ehe das weitere Wachstum beginnt. Beijerinck dagegen giebt sowohl von Cardamine als von Nasturtium an, dass schon an jungen, unausgewachsenen Blättern durch proto- plasmareiche Zellgruppen die Stellen bezeichnet werden, wo die Knospen sich bilden werden. Dies würde dafür sprechen, dass die Knospen wie bei Dryophyllum schon im embryonalen Zustand des Blattes an- gelegt werden, aber sich sehr langsam weiter entwickeln; dass die an der Basis der Blättehen liegenden die kräftigsten sind, entspricht dem unten näher zu erörternden Verhalten echter Adventivknospen. Man kann sonst sich nicht oder sehr langsam entwickelnde Knospenanlagen an abgeschnittenen Blättern durch Durchschneiden der Blattnerven zu rascherer Entwicklung anregen, wenigstens spricht dafür eine von Vöchting!) mitgeteilte Beobachtung. Daran sei das allbekannte Beispiel von Degonia angeschlossen. Eine Anzahl von Begonien (namentlich die zahlreichen Formen von B. Rex) werden dadurch von den Gärtnern vermehrt, dass abge- schnittene Blätter auf feuchten Sand gelegt werden?). Es bildet sich dann an der Basis des Blattstiels eine Gewebewucherung (ein „Callus“), aus welchem Wurzeln hervorgehen (zunächst merkwürdigerweise „Pseudo-Wurzelhaare“), die Knospen entstehen vorzugsweise auf der Oberseite der Blattspreite und zwar speziell an deren Basıs, wo die Blattnerven zusammenlaufen; ich sah ferner auch auf den stärkeren Nerven des basalen Teiles der Blattspreite Knospen auftreten, und die Gärtner haben längst herausgefunden, dass ein Einschnitt in einen Blattnerven genügt, um oberhalb der Schnittstelle die Bildung einer Knospe hervorzurufen. Am Blattstiel finden sich zwar häufig auch Knospen, und bei manchen Arten treten sie (nach Regel) vorzugs- weise hier auf, immerhin aber weicht die Entstehung der Knospen von der der gewöhnlichen Blattsteeklinge insofern ab, als offenbar die Epi- dermis der Blattspreite (aus weleher die Knospen hervorgehen) hier 1) Organbildung im Pflanzenreich I, 105. 2) Vergl. z. B. F, Regel, Die Vermehrung der Begoniaceen aus ihren Blättern, Jenaische Zeitschr. f. Naturw. Neue Folge, Bd. III, HeftIV, Hansen, l. 8. c., Wakker, 2... 0, p. 5ft. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 497 besonders zur Knospenbildung „disponiert“ ist. Dies ergiebt sich schon daraus, dass Regel bei Beg. guadricolor auf alten noch an der Mutter- pflanze befindlichen Blättern Adventivknospen auftreten sah. Aehn- liche Angaben finden sich (auch für andere Arten) auch sonst in der Litteratur. Diese Disposition ist aber nicht bei allen Begonienarten vorhanden, sie fehlt z.B. bei B. discolor, deren Blattstecklinge Adventiv- sprosse an der gewöhnlichen Stelle, d. h. an der Basis des Blattstiels er- zeugen!). Die Begonia-Arten, bei denen zwar bestimmte Meristeme am un- verletzten Blatte zur Erzeugung von Knospen noch nicht am unverletzten Blatte vorhanden sind, aber die Epidermis oberhalb der stärkeren Nerven zur Knospenerzeugung disponiert sind, bilden offenbar einen Uebergang zu dem für Bryophyllum, Nymphaea stellata var. bulbillifera u. a. ge- schilderten Verhalten. Es seien für diese Behauptung noch einige weitere Thatsachen angeführt, welche geeignet sind, sie zu stützen. Von Beg. sinuata giebt Meissner?) nach Untersuchung getrockneten, auf der Insel Penang gesammelten Materiales an: „Man bemerkt an denselben auf der Basis der herzförmigen Blattfläche ein halbkugeliges, braunes Höckerchen von der Größe eines Hirsekornes bis zu der eines Pfefferkornes, welches an vielen Blättern noch als unentwickelte Knospe erscheint, an anderen aber schon ein gestieltes Blatt, ja oft sogar einen Blumenstiel entwickelt hat. Die aus jenen Blattknöllchen entsprungenen Blätter tragen gewöhnlich selbst bereits wieder ein gleiches Knöllchen, welches oft ebenfalls schon ein junges Pflänzchen getrieben hat, so dass oft drei bis vier Generationen, teils blühend, teils schon mit reifen Früchten, aufeinander sitzen“. Wurzeln werden keine von diesen Knospen entwickelt. Dem nahe liegenden Einwand, die Sprosse entständen nicht auf der Blattbasis, der scheinbare Blattstiel sei eine Sprossachse, die ein sitzendes Blatt trage und sich in die Knospe fortsetze, begegnet Meissner durch die Angabe, dass der Blattstiel wie der anderer Begoniablätter an seiner Basis zwei Nebenblätter habe. Ist nun eine andere Auffassung hier schließlien doch auch möglich, so hätte es doch andererseits nichts Be- fremdendes an sich, wenn in der feuchtwarmen Tropenregion die Knospen- bildung auf den Begoniablättern besonders begünstigt wäre. Noch eigentüm- licher soll sich eine andere, auch der feuchten Region des tropischen Asiens angehörige Art verhalten. Bei Begonia prolifera°), welche nur ein Blatt be- sitzt, soll an dessen Basis regelmäßig Sprossbildung, und zwar in Gestalt von Blütenständen, stattfinden. Bei DB. Ameliae (einem Gartenbastard zwischen zwei Begoniaarten) hat Duchartre®) an der Basis der Spreite mancher Blätter Inflorescenzen auftreten sehen. Es ist durchaus nichts seltenes, dass bei der Bastardierung vorher „latente“ Anlagen zu Tage treten. Die Anlage zur 1) Vergl. Wakkera. a. O. Daselbst ist auch Beg. phyllomaniaca ge- schildert. 2) Linnaea, 1838, p. 15 des Litteraturberichtes. 3) De Candelle, Prodromus, XV, p. 354. 4) Duchartre, note sur un Begonia qui produit des inflorescences Epi- phylles Bull. de la soc. Bot. de France, t. XXXII (1885), p. S6ff. Auch die vielbesprochene Beg. phyllomaniaca ist wahrscheinlich ein Bastard. Vergl. darüber Wakkera.a.0. undDuchartre im genannten Bulletin, 1887, p. 182. 498 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Sprossbildung auf den Blättern und zwar an Stellen, die abhängig sind von dem Verlauf der Leitungsbahnen, ist also bei einer ganzen Anzahl von Begonia- arten vorhanden. Sie tritt bei manchen Arten ohne Verletzung zu Tage und zwar mehr oder weniger leicht (vergl. das über Tolmiea Gesagte), kann aber sowohl durch Bastardierung') als durch Ablösen der Blätter von der Mutter- pflanze ausgelöst werden. Begonia scheint mir demnach ein besonders lehr- reiches Beispiel für latente Anlagen zu sein, besonders wäre dies der Fall, wenn die Angabe, dass bei B. prolifera die Blütenstände aus der Basis der Blattfläche entspringen, wirklich zutreffen sollte. Die unten anzuführende Er- fahrung betreffs des Verhaltens einer anderen Pflanze, bei der man dasselbe angenommen hatte (Streptocarpus), mahnt hierbei zur Vorsicht, erst eine ent- wicklungsgeschichtliche Untersuchung könnte Klarheit darüber bringen. Jedenfalls dürfte aus dem Gesagten hervorgehen, dass der oben aufgestellte Satz 1) begründet ist: wir sahen, dass zwischen Blättern, die schon im embryonalen Zustand Sprossanlagen besitzen (die aber, solange das Blatt am Spross sitzt, normal in Ruhe bleiben), bis zu solchen, bei denen zwar keine Sprossanlagen wahrnehmbar, aber be- stimmte, durch den Verlauf der Leitungsbahnen in den Blättern be- dingte Stellen zur Sprossbildung disponiert sind, keine scharfe Grenze sich ziehen lässt. Aufzuklären bleibt, womit es zusammenhängt, dass die Sprossbildung bei manchen Blättern am Rande, bei anderen, da wo die Leitungsbahnen eine bestimmte Stärke erreicht haben, eintritt. Selbst innerhalb einer Gattung finden sich zuweilen Verschiedenheiten: Hemionitis cordata zeigt, wie oben erwähnt, Sprossanlagen auf der Basis der Blattspreite, 4. palmata in den Einkerbungen des Blatt- randes. Es konnte aber bei Dryophyllum gezeigt werden, dass nach Entfernung der randständigen Sprossanlagen eine Neubildung von Sprossen nur an der Blattbasis stattfindet, was die Bedeutung der Korrelationen besonders klar erläutert. S 2. Die auffallendste Verschiedenheit, welche bei der „Regeneration“ zwischen höheren Pflanzen und Tieren besteht, ist begründet darin, dass die Pflanzen auch zu der Zeit, wo sie schon Geschleehtsorgane hervorbringen (einer Zeit, die etwa dem „Erwachsensein“ der meisten Tiere entspricht), noch embryonales Gewebe in ihren Vegetations- punkten besitzen, also nicht erwachsen sind. Diese Vegetationspunkte sind es, welche nach Verletzung der Pflanze die Neubildung von Or- ganen übernehmen, ein direkter Ersatz des verloren gegangenen findet an Sprossen meist nicht statt. Dieses Verhalten wird auch bei den Be- 1) Beijerinck hat darauf hingewiesen, dass Knospenbildung an Wurzeln gewisser Kohlmischlinge, deren Eltern keine Knospenbildung zeigen, auftritt. 3ei einigen Farnen (z. B. Scolopendrium) tritt bei monströsen Formen Knospen- bildung auf den Blättern auf, die Bildung derselben kann also auch unabhängig von der Bastardierung durch „Mutation“ eintreten, Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 499 sprechungen der pflanzlichen Regenerationserscheinungen meist her- vorgehoben. So z.B. von Herbert Spencer‘). „In der That wird aber auch jene andere Art von Wiederersatz, welche in der Wieder- herstellung verlorener oder verletzter Organen besteht, von den Pflanzen nicht in irgend beträchtlichem Grade, wenn überhaupt aus- geführt. Zerrissene Blätter und von dem Gärtner beschnittene Sprosse erzeugen ihre mangelnden Teile nicht von neuem.“ Auch ich habe mich bei einer kurzen Besprechung der Regenerations- erscheinungen?) auf Grund der damals vorliegenden Erfahrungen in ähnlicher Weise geäußert und darauf hingewiesen, dass die Thatsache, dass bei Pflanzen abgetrennte Teile nicht mehr nachwachsen (im Gegen- satz zu dem Verhalten vieler, namentlich niederer Tiere), offenbar mit dem Vorhandensein der Vegetationspunkte zusammenhänge; da an diesen Neubildungen ohnedies auftreten, so ist es zunächst vom Nütz- lichkeitsstandpunkt aus begreiflich, dass z. B. die von Maikäfern ab- sefressenen Blätter eines Baumes nicht regeneriert werden; dieser besitzt zahlreiche „schlafende Augen“, welche infolge der Entblätterung zum Austreiben angeregt werden, während bei Tieren, die keinen Vegetationspunkt haben, der Verlust eines nicht regenierten Organes ein dauernder sein müsste. Auf Morgan’s Bemerkung über diesen Satz werde ich unten kurz zurückkommen. Zunächst mag an einigen Beispielen erläutert werden, wie der Ersatz verloren gegangener Teile erfolgt, namentlich sei auch hervorgehoben, dass es dabei darauf ankommt, in welchem Entwicklungsstadium sich die Pflanze gerade befindet. Sie sucht, solange das Material reicht, die Teile durch „Aktivierung“ der Reservevegetationspunkte zu ersetzen, welche verloren gegangen sind. Aconitum Napellus, eine ausdauernde Pflanze (Staude), bildet im Frühjahr an der Basis des austreibenden Sprosses eine Anlage für die Pflanze des nächsten Jahres in Gestalt einer Seitenknospe, welche einer rübenförmig verdickten, als heserve- stoffbehälter dienenden Wurzel aufsitzt. Entfernt man diese Knospe mitsamt der Wurzel, so bildet sich eine andere, sonst nicht zur Ent- wicklung gelangende in derselben Weise aus, nur treten an dieser statt einer Knollenwurzel häufig zwei weniger stark verdickte auf. Wurde nur die junge Knollenwurzel unterhalb der Knospe abgeschnitten, so bildete sich gleichfalls eine neue Knospe (an einer anderen Stelle des Hauptsprosses) aus; obwohl gelegentlich an Stelle der Knollenwurzel Neubildung von Wurzeln eintrat, wurde doch keine als Reservestofl- behälter ausgebildet, doch würde dies wohl zu erzielen sein, wenn man die zur Knolle bestimmte Wurzel noch frühzeitiger entfernen würde, als dies bei meinen Versuchen der Fall war. Aehnlich findet 1) Prinzipien der Biologie, deutsch von Vetter, p. 183. 2) Organographie, I. Teil, 1898, p. 37. 430 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. bei unseren Erdorchideen die Bildung einer neuen Knolle statt, wenn man die junge für das nächste Jahr bestimmte rechtzeitig entfernt, in beiden Fällen wird die Entwicklung eines anderen, sonst ruhenden Vegetationspunktes angeregt und in bestimmte, durch Periodizität der Organbildung bestimmte Bahnen gelenkt. Auch für die Blütenbildung liegen analoge Erfahrungen vor. Mattirolo!) entfernte bei Vieia Faba, einer einjährigen Legu- minose, alle Blütenstände, sobald sie sichtbar wurden. Das Resultat schildert er folgendermaßen: „L’estirpazione dei fiori provocO sempre una notevolissima iperfioritura, la quale si eontinuo per un tempo lunghissimo — le piante castrate — seguitavano a fiorire, mentre le vicine della serie normale erano giä fruttificate.* Diese Ueberproduktion von Blüten zeigt, dass unter normalen Umständen die weitere Hervor- bringung von Blüten durch den Fruchtansatz verhindert wird. Schon vor längerer Zeit hat Verf.?) darauf hingewiesen, dass bei reich- tütigen Inflorescenzen, z. B. von Boragineen, von Oenotheren u. a. die jüngeren Blüten verkümmern, wenn die älteren befruchtet sind, sich aber weiter entwickeln, wenn man die älteren rechtzeitig entfernt, es ist also eine Hemmung der Blütenbildung, welche infolge des Frucht- ansatzes eintritt. Außerdem aber fand Mattirolo, dass Blüten auch an Stellen (infolge der Kastration) auftreten, wo sie sonst sich nicht bilden; „Blüten von gelblicher Farbe fanden sich mehr oder weniger entwickelt in ziemlicher Menge („in una certa abbondanza“) an der Bodenoberfläche, entspringend an den zahlreichen Verzweigungen des Stengels, die aus einer Anzahl von normal an der Bodenoberfläche sich entwickelnden Knospen hervorgehen, die Pflanzen näherten sich der Art der Blütenbildung, die man bei Tropenpflanzen vielfach vor- findet und als „Cauliflorie“* bezeichnet hat, sie bildeten Blüten also an Stellen, wo diese normal sonst nicht auftreten. Bei einer ausdauern- den Pflanze, die ihre Blüten periodisch anlegt (was bei unseren Holz- pflanzen z. B. im Sommer für das nächste Jahr geschieht), würde die Wegnahme der Blütenknospen voraussichtlich nur dann zum Ersatz führen, wenn man die Entfernung zur Zeit der Anlegung aus- führt, die der entfalteten Blüten würde sicher ohne Wirkung sein. Es würde keinen Zweck haben, weitere Beispiele für die Entwicklungs- anregung „schlafender“ Vegetationspunkte oder für die Umbildung von Sprossen, die sich normal anders entwickelt hätten infolge der Weg- nahme bestimmter Organe hier anzuführen. Dagegen ist auf die Verschiedenheit in der Reaktionsfähigkeit von embryonalem und von Dauergewebe hier einzugehen. 4) Sulla influenza che la estirpazione dei fiori esereita sui tubereoli radi- cali delle piante Leguminose (Malpighia XIII, p. 382 ff.) 2) Ueber die gegenseitigen Beziehungen der Pflanzenorgane, Berlin 1884 (Pop. wissench. Vorträge, herausgeg, von Virchow und Holzendorff), p. 6ff. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 431 Ein einfaches Beispiel für den Satz, dass embryonales Gewebe leichter regeneriert wird als Dauergewebe, das ja, um zu Neu- bildungen befähigt zu sein, erst wiederin denembryonalen Zustand versetzt werden muss, bieten die Farnprothallien'). Ein unverletztes Farnprothallium der gewöhnlichen Form — z.B. das einer Polypodiacee ist bekanntlich ein herzförmiges Gebilde, das in seinem eingesenkten vorderen Rande embryonales Teilungsgewebe oder einen Vegetationspunkt besitzt (Fig. 9, IV). Schneidet man dasselbe längs durch, entfernt also eine Hälfte, so wird die verloren gegangene nicht ergänzt. Wohl aber verbreitert sich der Vegetationspunkt und bildet dann auf der einen Seite einen neuen Flügel (Fig. 9, In). Schneidet man aber den Vegetationspunkt ganz heraus, so bedeckt sich das Prothallium mit „Adventivbildungen“, d. h. zahlreiche Zellen wachsen zu neuen Prothallien aus. Diese Thatsachen zeigen, dass 1. em- Eis, 9; WETTAH DIE x N I S Q N N WELL, I. Schema für die Regeneration eines halbierten Farnprothalliums (II vor, I einige Zeit nach der Halbierung). Ber bryonales Gewebe regeneriert wird, 2. dass der Vegetationspunkt an unverletzten Prothallien das Auswachsen der übrigen Zellen zu neuen Prothallien — wozu sie, mit Ausnahme der Rhizoiden wohl alle be- fähigt sind, verhindert; an älteren Prothallien verliert er, wie früher?) hervorgehoben, diese Eigenschaft, was darauf zurückgeführt wurde, dass er nicht mehr so stark als Anziehungscentrum für die Baustoffe des Prothalliums dient. Auch durch die Embryobildung wird er außer Thätigkeit gesetzt. Auf die analogen Beispiele für höhere Pflanzen (Neubildung von embryonalem Gewebe an quer oder längs verletzten Vegetationspunkten) möchte ich nicht eingehen, da sie a. a. O. schon wenigstens in Kürze besprochen sind. Dagegen sei untersucht, wie weit dem oben aufgestellten Satze 4) Vergl. die unter Mitwirkung des Verfassers ausgeführten „Unter- suchungen über Farnprothallien“ von ©. Heim, Flora, 82. Bd. (1896), p. 342 ff, 2) Organographie, p. 41, 42. 432 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. betreffs des Verhaltens von in den „Dauerzustaud“ übergegangenen Pflanzenteilen bei der Regeneration allgemeine Gültigkeit zukommt. A. Sprosse. In der Litteratur!) wird eine Angabe Beijerinck’s als Beleg für das Vorkommen einer Neubildung abgeschnittenen Sprosse angeführt. Die Angabe Beijerinck's lautet?): Bei Salix amygdalina fand ich einen Prozess von wahrer Regeneration; die neuen Knospen entstehen rämlich bei einjährigen Zweigen genau an den Stellen der entfernten Knospen und besitzen den nämlichen Bau wie diese...“ Aehnliches wird auch von Kartoffeln bemerkt. Bei Salix könnte man daran denken, dass an der Basis der Knospen kleine Seitenknospen entstehen, die austreiben, wenn jene entfernt werden. Ich glaubte öfters Salixknospen ganz entfernt zu haben, es zeigte sich aber, dass ein kleines Stück der Basis zurückgeblieben war, das nun die schon angelegte Knospe entwickelte. Bei Beijerinck’s Versuch (über den nichts Näheres mitgeteilt, namentlich nicht, ob es sich um isolierte oder am Baum b>findliche Zweige handelte, wahrscheinlich war das letztere der Fall) würde also die Stelle des Zweiges, an der die Knospe saß, auch nach Wegnahme derselben zur Knospenbildung besonders dis- poniert gewesen sein, es entstand infolge des Wundreizes wohl nur ein kleiner Callus, der nur eine Knospe bildete, während sonst am Callus eine größere Knospenzahl auftritt. Jedenfalls aber ist eine nähere Untersuchung notwendig, ehe dieser Fall als ganz aufgeklärt betrachtet werden kann. B. Blätter. Mehrfach finden sich in der Litteratur Angaben, wonach im Gegensatz zu dem oben als allgemeines Verhalten Ange- führten bei Blättern ein Ersatz verloren gegangener Teile vorkommen soll. Sehen wir ab von einer Mitteilung C. Müller’s über Bryum Billiarderi?), die nicht mehr erkennen lässt, ob es sich um eine Art Wundheilung handelte oder um abnorme Bildungen, und die zudem sich auf trockenes Material gründet, so sind namentlich die Angaben von Beijerinek und Lopriore zu nennen, aus denen Pfeffer neuer- dings die Möglichkeit einer Regeneration von entfernten Teilen der Blattspreite ableitet. Beijerinek*) fand in Uebereinstimmung mit dem in Anm. 1 Ange- NZ B- bei P fetter, a.7370797 207: 2) Beijerinck, Beobachtungen und Betrachtungen über Wurzelknospen und Nebenwurzeln, Amsterdam 1880. 3) Zur Kenntnis der Reorganisationen im Pflanzenreich, Bot. Zeitung, 1856, p. 200. Ich selbst konnte bei Moosen (Mniumarten, Uyatophorum pinnatum u.a.) nie echte Regeneration an Blättern erzielen. Die Angabe C. Müller’s ist auch von keinem anderen Beobachter bestätigt und muss somit als eine durchaus zweifelhafte betrachtet werden. ‘ 4) Over regeneratie — Verschijnselen ete. in Nederlandsch kruidkundig Archief 1386, p. 79. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 433 führten bei den Moosen Polytrichum formosum, Catharinea alata und Dryum nutans keine wirkliche Regeneration an Blättern. Bei Selaginella fand er an verletzten Sprossspitzen, dass die älteren Blätter unverändert waren, „nur die abgeschnittenen Spitzen der allerjüngsten Blättehen waren unvollkommen regeneriert“, indes handelte es sich, wie die Beschreibung zeigt, nicht um eine wirkliche Regeneration, da die entstandene Zellenwucherung nicht den Bau des übrigen Blattes besaß. Am aussichtsvollsten erscheinen Regenerationsversuche an Farn- blättern. Da diese ein Spitzenwachstum haben, so ist nicht abzusehen, warum ein junges, der Länge nach geteiltes Blatt — falls es die Ver- wundung übersteht — nicht sich an der Spitze zu zwei selbständigen Blattteilen ergänzen sollte, wie gespaltene Stengel und Wurzeln dies thun. Beijerinck (a.a. 0, p. 78) hat auch ein — zufällig — in äußerst jungem Lebensalter längsgespaltenes Blatt von Blechnum brasiliense beobachtet; am oberen Ende hatten sich auf der der Wundstelle ent- sprechenden Seite Fiederblättchen entwickelt, die kleiner waren als die normalen. Soweit die kurze Mitteilung einen Einblick gestattet, handelte es sich um eine Regeneration von embryonalemGewebe, also etwas, was hier nicht in Betracht kommt. Durch einen Schnitt von mir längsgespaltenen Blätter desselben Farns überstanden die Verwundung nicht. Auch bei Polypodium subauriculatum war ich nicht slücklicher. Es sah zuweilen so aus, als ob die verletzten Fieder- blättehen teilweise Neubildungen zeigen würden, aber es handelte sich offenbar nur um Weiterwachsen schon vorhandener Blattfiedern. Auch die von Dikotylen für Blattregeneration angeführten Fälle scheinen mir nicht beweiskräftig. Bejerinck') fand Pflanzen von „Mark- kohl“ (Brassica oleracea acephala), welche — aus nicht näher bekannten Ursachen — Spaltungen der Sprossachse zeigten. Er nimmt an, dass bei längsgespaltenen Blättern eine, allerdings unvollkommene Regeneration der entfernten Blatthälfte eintrat, und hebt hervor, dass, wo eine einiger- maßen belangreiche Regeneration eintrat, dies an Blättern stattfand, welche zur Zeit der Spaltung als mikroskopisch kleine Zellhöcker am Vegetations- punkt saßen. Ein Beweis, dass wirklich eine Regeneration an älteren Blättern stattfand, ist aber nieht erbracht, in den Abbildungen sind einige Blätter wiedergegeben, die eine zu beiden Seiten der Mittelnerven un- gleich entwickelte Blaitspreite haben. Die kleinere Hälfte der letzteren fasst Beijerinck als die regenerierte auf. Sie kann aber ebensogut durch frühzeitige Beschädigung im Wachstum zurückgeblieben sein und deshalb anders aussehen als die andere Hälfte. Bei einem (aus inneren Ursachen) gespaltenen Stengel werden die der Spalte zugekehrten 1) Over regeneratie. Verschijnselen van gespleten vegetatiepunten van Stengels ete., Nederlandsch kruidkundig Archief, II. Serie, 4. Deel, 1886, p. 79. XXI. 28 434 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Teile der jungen Blattanlage leicht notleiden können (durch Ver- trocknen ete.) und die Thatsache, dass die (nach B’s Ansicht) regene- rierte Hälfte im oberen Teil des Blattes stärker ausgebildet war als im unteren, spricht gegen seine Annahme. Denn die Kohlblätter ent- wickeln sich basipetal, man sollte also in der unteren Hälfte eher eine Regeneration erwarten als in der oberen. Andererseits ist leicht verständlich, dass, wenn eine Beschädigung eines jungen, mit Mittel- rippe versehenen Blattes vorliegt, diese die untere, noch nicht fertige und deshalb empfindlichere Hälfte mehr treffen muss als die obere, die in der Entwicklung vorauseilt und widerstandsfähiger ist. Aehnliche Bedenken mussich auch gegen eine andere Angabe geltend machen. Lopriore!) hat gelegentlich seiner Untersuchungen über die Regeneration gespaltener Stammspitzen auch einige Angaben über Blatt- regeneration gemacht. Er sagt: „Eine vollständige Regeneration der vom Schnitte getroffenen Blätter wurde bis jetzt nicht beobachtet; die Blattspreiten und die Blattstiele vermochten jedoch sich teilweise zu ergänzen und trotz ihres unsymmetrischen Baues ein fast normales Aussehen anzunehmen“. Ich vermisse aber bei dieser Angabe die Me- thode, durch welche festgestellt wurde, wie denn die Regeneration eigentlich vor sich ging. Wenn man eine Stammknospe durchschneidet, ist es unmöglich, zu sagen, wie die Blätter getroffen werden. Meist -—— namentlich bei zerstreuter Blattstellung — wird nur ein Stück der Blattspreite weggeschnitten sein, so dass bei der Entfaltung des Blattes die eine Hälfte kleiner ausfällt als die andere; letztere wird dann leicht den Eindruck erwecken, als ob sie durch Regeneration ent- standen wäre. Wenn aber eine noch im embryonalem Stadium befind- liche gespaltene Blattanlage sich regeneriert, wird man im fertigen Zu- stand davon kaum etwas wahrnehmen. Zu erwähnen ist schließlich noch eine Angabe Raciborski's, welcher bei einer (nicht näher bestimmten Asclepiadee) an den jungen Blättern dicht an der Grenze zwischen „Vorläuferspitze* und Blatt- spreite, die ersterer entfernte. Er fand, dass die Vorläuferspitze im Verlaufe von 4—8 Tagen aus dem embryonalen Gewebe der Laminar- spitze wiedergebildet wurde. Jedenfalls ist eine solche Regeneration nur möglich bei einzelnen Pflanzen, die dazu besonders geeignet sind ?). Mir gelang es weder bei einer anderen Asclepiadee (Gonolobus sp., von welchem die Vorläuferspitze „Organographie“, p. 505 abgebildet ist) noch 4) Vorläufige Mitteilungen über die Regeneration gespaltener Stammspitzen. Ber. der d. bot. Gesellschaft, 13 (1895), p. 410ff. 2) Wahrscheinlich dadurch, dass in der Region des Blattendes unterhalb der Vorläuferspitze noch wachstumsfähiges Gewebe vorhanden ist, d.h. also, dass die Vorläuferspitze noch nicht fertig ist und ihre Basis nach Entfernung des apikalen Teiles weiter wächst. Eine wirkliche Neubildung ist das aber nicht, worauf übrigens auch Raciborski’s Abbildung hindeutet. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 435 bei der mit besonders schönen Vorläuferspitzen ausgestatteten Dioscorea macroura eine wirkliche Neubildung der entfernten Spitze zu beobachten. Aus dem Vorstehenden ergiebt sich, dass die vorliegenden Litteratur- angaben einen sicheren Beweis für die Regenerationsfähigkeit von Blättern nicht liefern. Es ist keineswegs in Abrede zu stellen, dass Blattanlagen, wenn sie im embryonalem Stadium verletzt werden, ebenso die Fähigkeit der Regeneration besitzen können, wie dies bei Vegetationspunkten der Fall ist, aber bei nicht mehr embryonalen Blättern und Blattteilen ist eine „Restitution“ des Verlorenen meiner Ansicht noch nirgends nachgewiesen. Alle diese Angaben aber be- ziehen sich nur auf Blätter älterer Pflanzen. Bei Keimpflanzen treten Erscheinungen auf, die besonders betrachtet werden ınüssen. C. Regenerationserscheinungen bei Keimpflanzen, speziell bei Cyclamen persicum. Hildebrand!) hat zuerst beobachtet, dass bei Cyclamen am ersten Blatte der Keimpflanze nach Entfernung der Blattspreite eine Regeneration derselben eintreten kann, es bildeten sich nämlich „aus irgend einer Stelle aus seinem (des Blattstieles) Rand rechts und links zwei kleine nierenförmige Flügel aus, in Farbe und Struktur ganz der sonstigen Spreite des ersten Blattes gleich, welche nun dessen assi- milierende Stelle (sie!) vertreten konnten“. Bei der Seltenheit dieser Regenerationserscheinung an einem Blatte schien eine eingehendere Untersuchung und Darstellung erwünscht, Zunächst wird es aber nötig sein, die Gestaltung der Keimpflanzen kurz zu schildern, weil diese auch für die biologische Betrachtung von Bedeutung ist. Cyelamen gehört zu den Dikotylen, deren Keim- pflanzen von der gewöhnlichen Norm abweichen. Sie haben nicht zwei Kotyledonen (die von den gewöhnlichen Laubblättern durch ihre vereinfachte Gestalt so abweichen, dass man sie teilweise nicht als Blätter hat gelten lassen), sondern ein einziges Keimblatt?) in Form eines kleinen gestielten Laubblattes. Dieses ist zunächst das einzige Assimilationsorgan des Pflänzchens bis die anderen, dem Keim- blatt gleichenden Laubblätter allmählich sich entfalten. Frühzeitig schon entsteht (zunächst mit auf Kosten des Endosperms) ein kleines 4) Hildebrand, Die Gattung CyclamenL. Eine systematische und bio- logische Monographie, Jena 1898, p. 95. Meine Versuche mit Oyclamen wurden kurz nach dem Erscheinen der Hildebrand’schen Schrift begonnen, im letzten Winter wieder aufgenommen und im hiesigen „botanischen Colloquium“ demon- striert. Später erschien in den Berichten der Deutschen Botanischen Gesell- schaft (Bd.XX, Heft 2, 28. März 1902) eine vorläufige Mitteilung von Winkler, der sich mit derselben Pflanze beschäftigt hatte. Indem ich auf die Winkler’sche Arbeit hier besonders verweise, gebe ich im Text das Resultat meiner eigenen Untersuchungen, zwei nachträgliche Anmerkungen sind hinzugefügt. 2) Vergl. z. B. die Abbildung Fig. 3% in Goebel, Organographie. 28* 436 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Knöllchen aus dem hypokotylen Stengelgliede, in welchem weiterhin nun die durch die Assimilationsorgane gebildeten Reservestoffe abge- lagert werden. Zu den Versuchen wurde Oyelamen persicum benützt, die Blattspreite des Keimblattes wurde mehr oder minder vollständig entfernt, Regeneration trat mit wenigen Ausnahmefällen (in denen der Blattstiel abstarb) regelmäßig auf, sie konnte an Dutzenden von Keimpflanzen untersucht werden. Es mag ausgegangen sein von dem Fall, den auch Hildebrand anführt, dass nach Entfernung der Blattspreite zwei kleine, nierenförmige Flügelblättchen (Fig. 10, II, III, V) auftreten. Der Ursprung von Neubil- dungen ist stets derselbe; sie entspringen aus dem Rande des Blattstiels, Fig. 10. Cyclamen persicum. Regeneration des Blattes. A Stelle, wo die Spreite ab- geschnitten wurde. IbBlatt, bei dem die Neubildungen im Zusammenhang mit der alten Spreite auftreten, II die Neubildungen N,, N, kurz gestielt, III eines der neuen Blättchen gestielt, IV zwei Neubildungen übereinander, V (von hinten) zwei ungestielte Neubildungen, VI beide auf gemeinsamem Stiel, VIInur eine Neubildung aufgetreten (o ist ein Stück der schief geschnittenen Blattfläche). dort, wo die Spreite sich ansetzen würde, wenn diese am Blattstiel herab- laufen würde. Im übrigen ist der Ort der Neubildung ein wechselnder, und ebenso ihre Gestalt. In Fig. 10, I ist ein Blatt abgebildet, bei welchem die neugebildeten Teile sich unmittelbar an die alte Blatt- spreite ansetzen, gewissermaßen basale Lappen derselben darstellen, sie sind aber rechts und links durch eine tiefe Bucht von dem stehen- gebliebenen Basalteil der Spreite geschieden und dadurch, sowie durch die Nervatur als Neubildung kenntlich, In anderen Fällen aber ist ein Zusammenhang mit der Basis des Blattes nicht vorhanden, dieser ist von selbst ausgeschlossen, wenn die Blattspreite ganz entfernt war. Besonders auffallend ist die Erscheinung, wenn die beiden neu- gebildeten Blättchen jedes auf einem besonderen Stiele sich befinden, Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich, 437 ein Fall, den ich öfters beobachtet habe (Fig. 10, III, Fig. 11). Nicht selten „verwachsen“ dann die beiden Stiele miteinander, so dass auf der Oberseite des Blattstieles sich ein zweilappiges Gebilde erhebt, dessen Ursprung aber durch Vergleichung leicht zu ermitteln ist. In Fig. 10, IV ist ein Fall dargestellt, wo zwei Blättchen in longitudinaler Entfernung voneinander aus dem Blattstiel entspringen, selten ist es, dass nur 'ein Lappen als Neubildung auftritt. Dafür ist Fig. 10, VII ein Beispiel. Es war bier die Blattfläche schief abgeschnitten worden, so dass auf einer Seite ein ziemlich großer Lappen stehen blieb. Auf dieser Seite ist keine Neubildung aufgetreten, wohl aber auf der an- deren (N); dass die Leitbündel der Neubildungen mit dem Leitbündel- Fig. 11. Fig. 12. Cyelamen persicum, Blattregeneration. Cyclamen persicum. Blatt mit ab- Bei A die Stelle, wo die ursprüngliche normer Regeneration von der Seite. Spreite entfernt wurde; es haben sich «a Stelle der entfernten Spreite, an den zwei gestielte neue Spreiten entwickelt, auf gemeinsamem Stiel sitzenden Neu- deren Stiele unten verwachsen sind, bildungen a und b haben sich unten zweimal vergrößert. zwei Blättchen e und d entwickelt. system des Blattstiels in Verbindung treten, braucht kaum erwähnt zu. werden. Seltener treten mehr als zwei Neubildungen auf; so sind in Fig. 12 unterhalb der abgeschnittenen Blattspreite zunächst zwei mit- einander „verwachsene* Blättchen « und d entstanden, an der Basis des gemeinsamen Stieles derselben zwei weitere ce und d. Gelegentlich tritt die Regeneration auch an unverletzten Keimpflanzen auf. So bei dem in Fig. 13 abgebildeten Blatte. Die Spitze des Kotyledons war hier in der Samenschale stecken geblieben und schließlich vertrocknet. Dies hatte dieselbe Wirkung als ob sie abgeschnitten worden wäre. Ich glaube mich zu erinnern, dass Neubildungen auch an unverletzten Kotyledonarblättern in meinen Kulturen von 1898 auftraten, leider habe ich darüber keine Notizen und in den Aussaaten von 1901 war nichts 438 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. derartiges zu beobachten. An Blättern älterer blühender Pflanzen von Cyel. persicum wurde nie eine Regeneration beobachtet, die ihrer Spreite beraubten Blattstiele vertrockneten und fielen ab, auch die kleinen Blättchen, welche sich auf Knospen befanden, die („adventiv“?) auf der Seitenfläche alter Knollen auftraten, waren nicht zur Regene- ration zu bringen. Bei den Regenerationsversuchen, die oben kurz ge- schildert wurden, entfernte ich das zweite Blatt meist sobald es sicht- bar war, übrigens verhalten sich die dem Kotyledon folgenden Blätter. betrefis ihres Regenerationsvermögens ebenso wie diese. Es ergiebt sich aus dem Gesagten folgendes: 1. Die ersten Blätter (Primärblätter) von Oyel. persicum sind im stande, nach Entfernung der Spreite neue Spreiten zu bilden. 2. Es ist nieht notwendig, die ganze Spreite zu entfernen, dass aber die Entfernung eines größeren Teiles derselben als Reiz wirkt, Fig. 13. Uyclamen persicum. Spitze des ersten Blattes einer Keimpflanze, die Spreite ist in der Samenschale stecken ge- blieben und vertrocknet. Unterhalb derselben haben sich drei Blättchen gebildet, in A alle drei sichtbar, in B nur die zwei auf gemeinsamem Stiele stehenden. ergiebt schon die oben angeführte Thatsache, dass man eine einseitige Regeneration durch schiefes Abschneiden der Spreite herbeiführen kann. 3. Der Ort der Neubildung ist derselbe, an dem sonst die Spreite sich entwickelt, nämlich die Ränder der Blattanlage, welehe hier auch am ausgewachsenen Blatte noch entwicklungsfähig bleibent). Die Neubildung erfolgt meist möglichst nahe der Stelle, wo die alte Spreite entfernt wurde. (Schluss folgt). 1) Winkler hat gezeigt (a. a. 0.), dass man den Ort der Neubildung verschieben kann, wenn man die der Schnittfläche nächstgelegene Stelle des Stieles durch Eingipsen am Auswachsen verhindert. Ganz analoge Erschei- nungen werden für Wurzelregeneration zu besprechen sein. — Was Cyelamen betrifft, so gestattet der Raum nicht, auf eine Anzahl von Einzelfragen einzu- gehen (z. B. Einfluss des Alters des Blattes auf die Regenerationsthätigkeit, die Möglichkeit, die Regeneration auch auf anderem Wege als durch Entfernung der Spreite zu erzielen u. s. w.). Driesch, Kritisches und Polemisches. 439 Kritisches und Polemisches. Il. Anhänger und Gegner der Lehre von der Lebensautonomie. Von Hans Driesch. Als ich in den Jahren 1893’) und 1894?) die Berechtigung einer teleologischen Betrachtungsweise der organischen Natur wieder in ihre Rechte eingesetzt und gleichzeitig zeigen zu können geglaubt hatte, dass Teleologie hier die Form einer „Maschinentheorie“ habe, da waren es nur sehr wenige, mit denen ich mich wegen der Aeußerung ab- weichender Gedanken auseinanderzusetzen hatte; es kamen von „Gegnern“ meiner Auffassung eigentlich nur E. Du Bois Reymond und Roux in Betracht. Wohl war ich mir bewusst, dass es noch weit mehr der „Gegner“ gäbe, aber sie behandelten meine Ansichten entweder schweigend oder brachten Dinge gegen sie vor, auf die es sieh nicht verlohnte, des Näheren einzugehen. In meiner Schrift „Die Maschinentheorie des Lebens“ 3) suchte ich mich 1896 mit den zwei Gegnern, welche gesprochen hatten, abzufinden; zugleich fasste ich meinen Standpunkt noch einmal möglichst klar und kurz zusammen: Die Basis, die Struktur, auf der sich alles Lebensgeschehen abspiele, sei als gegeben hinzunehmen, könne nur teleologisch beurteilt werden, jeder einzelne Lebensvorgang aber sei physiko-chemisch. Ich habe diese Ansicht später*) (1898) als statische Teleologie bezeichnet. Die Zeiten haben sich geändert. Nicht nur haben zu jenen meinen älteren teleologischen Ansichten nach 1896 zwei Forscher ausdrück- lich und in klarer Weise Stellung genommen, Cossmann?) und Al- breeht®), sondern als ich im Jahre 1898 den viel bedeutungsvolleren Sehritt von der statischen zur dynamischen Teleologie unternahm, als ich eine Autonomie der Lebensvorgänge, populär gesprochen: den „Vitalis- mus“ zu verteidigen versuchte, war das Interesse an biologischen Prinzipienfragen in einem solchen Grade erstarkt, dass eine erhebliche Anzahl von Forschern zu meinen Ansichten in dem einen oder dem anderen Sinne Stellung zu nehmen sich anschickte. Es ist der Zweck dieses Aufsatzes, mein Verhältnis zu den Aus- führungen dieser Forscher darzulegen. Dabei wird es von Nutzen sein, gleichsam einleitend auf Cossmann und Albrecht einzugehen, welche meine vitalistische Wendung noch nicht (oder doch nur — Al- breeht — ganz kurz und anhangsweise) berücksichtigen konnten, 4) Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft. Leipzig 1593. 2) Analytische Theorie der organischen Entwicklung. Leipzig 1394. 3) Biol. Centralblatt, Bd. XVI, 1896. 4) Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge. Arch. Entw -Mech. 8. 1899. Auch Separat. 5) Cossmann, P. N. Empirische Teleologie. Stuttgart 1899. 6) Albrecht, E. Vorfragen der Biologie. Wiesbaden 1899. 440 Driesch, Kritisches und Polemisches. und darauf diejenigen Meinungsäußerungen, welche eben auf diese Wendung Bezug nehmen, ins Auge zu fassen. Es sollen zuerst aus- gesprochene Gegner berücksichtigt werden (Bütschli und Ostwald), dann ein Gegner mehr der Form als der Sache nach (Morgan), und endlich solche, die teilweise meinen Ansichten verwandtes äußerten (namentlich J. Reinke). Nebenbei werden Meinungsäußerungen an- derer kurz gestreift werden. Cossmann’s Ansichten, in seiner klaren Schrift „Empirische Teleologie* entwickelt, habe ich schon in meiner „Lokalisation“ ge- kennzeichnet ; ich verweise auf die ziemlich eingehende Darstellung p- 103 Anm. 4) und fasse hier nur die Hauptpunkte zusammen: kau- sale und teleologische Betrachtung sind gleichberechtigt, beide handeln von notwendigen Zusammenhängen; Kausalität ist zwar allgültig, aber nicht alleingültig, kurz: beide Betrachtungsarten laufen parallel. Ob- wohl es in Cossmann’s Darlegungen nicht ausdrücklich ausgesprochen ist, so erhellt doch, dass er einer statischen Teleologie in meinem Sinne (s. 0.) zuneigt, also der Maschinentheorie des Lebens. In der That sehe ich bei Cossmann keine wesentliche Abweichung von den von mir in den Jahren 1893/94 geäußerten Ansichten. Ich kann aber auch keine wesentliche Abweichung von denselben in jenem Gedankengange erblicken, den Albrecht 1899 im seinen „Vorfragen der Biologie“ niedergelgt hat!), obwohl dieser Forscher im einzelnen bisweilen gegen mich polemisiert. Wenn es nach Albrecht auf die Verschiedenheit des Standpunktes, der „Betrachtungsweise“, auf die verschiedene Art der „Einstellung“ ankommt, ob wir Physiko- chemisches oder ob wir Physiologisches in den Lebensvorgängen sehen; wenn das daran liegt, dass wir das eine Mal das einzelne Geschehen, das andere Mal das Geschehen im Rahmen der Gesamtheit, der Organi- sation betrachten, so sagt solehes doch mit anderen Worten ungefähr dasselbe, wie wenn ich mich dahin äußerte, dass biologisches Einzel- geschehen physiko-chemisch begreifbar, die strukturelle Basis, auf der es sich abspiele, aber letzthin — selbst bei Annahme einer Phylo- genie?) — als gegeben hinzunehmen und nur teleologisch beschreibbar sei®?). Hatte ich in der in meiner „Maschinentheorie* gebotenen Zu- 1) Albrecht berücksichtigt nur meine älteren teleologischen Schriften; die „Lokalisation“ wird nur in einer Anmerkung kurz erwähnt und nicht näher behandelt. — Neuerdings ist er wiederum, und zwar abermals sehr kurz, auf diese Schrift zu sprechen gekommen (Ergeb. d. allg. Path. VI, p. 919), ohne aber auf ihre Beweisversuche irgendwie einzugehen und vielmehr nur das postulierend, was ich eben als nicht möglich nachzuweisen versuche, das maschinelle Verständnis. 2) S. „Maschinentheorie* Biol. Centralbl. XVI, p. 359. 3) Man beachte auch seine „Erklärung durch substituierte parallele Reihen“. Auch bei mir gingen kausale und teleologische Betrachtung einander parallel, Driesch, Kritisches und Polemisches. 441 sammenfassung meiner früher geäußerten Ansichten doch gerade die Klassifizierung derselben in die Rubrik „Neovitalismus“, E. Du Bois Reymond gegenüber, abgelehnt. Eine Differenz besteht zwischen Albrecht und mir hinsichtlich des Darwinismus, den er höher einschätzt als ich, aber bezüglich der statischen deskriptiven Teleologie sehe ich keine Unterschiede von irgendwie wesentlicher Bedeutung; sagt Albreeht doch übrigens selbst (p. 91), er glaube „mit einiger Weiterführung und Umdeutung einen großen Teil seiner (d. h. meiner) Aufstellungen acceptieren zu können“. Gehen wir also nach diesen einleitenden Ansichtsvergleichen dazu über, zu denjenigen Aeußerungen ein Verhältnis zu gewinnen, welche durch meine Schrift „Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge, ein Beweis vitalistischen Geschehens“, hervorgerufen worden sind. In seiner auf dem Berliner Zoologenkongress gehaltenen Rede, „Mechanismus und Vitalismus“!) hat Bütschli zu dem daselbst aus- geführten Gedankengang ziemlich eingehend Stellung genommen. Ich habe mich in einem Nachwort zu meinem auf demselben Kongress ge- haltenen Vortrage „Zwei Beweise für die Autonomie von Lebens- vorgängen“ bereits mit einigen Punkten der Bütschli’schen Dar- legungen auseinandergesetzt; es scheint mir jedoch im Interesse der so bedeutsamen Sache zu liegen, in eingehenderer Weise, als es dort geschehen konnte, seine Einwendungen gegen meine Argumentation zu behandeln. Dort wie hier gehe ich nur auf die Punkte seiner Rede ein, die wirklich meine Thesen betreffen. Alle Diskussionen über den Darwinismus, den Bütschli annimmt, während ich ihn ver- werfe, alle Erörterungen über das Verhältnis von allgemeiner Teleo- logie und „Vitalismus“, das Bütschli meines Erachtens nicht richtig fasst, wenn er z. B. Cossmann und mich nebeneinander stellt, und manches andere darf ich um so eher aus dem Spiel lassen, als dieser Teil der Bütschli’schen Ausführungen jüngst von G.W olff!) eingehend, und zwar von einem von mir im wesentlichen geteilten Standpunkte aus, behandelt wurde. Ehe ich aber auf Bütsehli’s Einwände gegen meine theoretischen Ausführungen, die Ausflüsse der von mir und anderen experimentell festgestellten Thatsachen, eingehe, ist über diese Thatsachen selbst eine wesentliche Bemerkung einzuflechten, da sie nämlich in Anm. 27 (p. 90) von Bütschli bis zu einem gewissen Grade beanstandet werden. Ich habe den Stamm der Tubularia unter anderem als harmonisch- äquipotentielles System nachgewiesen; solches scheint nach Bütschli „nicht streng zuzutreffen“, und zwar deshalb nicht, weil sehr kleine 1) Leipzig 1901. 2) G. Wolff, Mechanismus und Vitalismus,. Leipzig 1902. 442 Driesch, Kritisches und Polemisches. Stücke nur noch unvollkommen oder gar nicht mehr reparieren, und weil sehr weit oralwärts entnommene Stücke nur einen 'Rüssel bilden. Es liegt in diesem Einwand meines Erachtens derselbe Irrtum vor, den ich schon, in anderer Form, wiederholt Anderen gegenüber zurück- wies: wenn der Ctenophorenkeim kein äquipotentielles System ist, kann darum nicht, so sagte ich, der Echinidenkeim doch ein solches sein? Ebenso hier: wenn das alleroralste Ende des Tubulariastammes sich abweichend verhält — nun, so schneide man es ab, dann hat man ein streng-äquipotentielles System. Es kommt doch nur dar- auf an, dass es überhaupt harmonisch-äquipotentielle Systeme giebt. Wo sie realisiert sind, ist gleichgültig. Und ähnlich steht es mit Bütsehli’s anderem Gegenargument: wenn „sehr kleine“ Stücke des Stammes nichts Vollständiges zu bilden vermögen, so liegt das daran, dass gewisse, notwendige Mittel, notwendige Bedingungen zur Form- bildung nunmehr fehlen, da sie eben an eine bestimmte Minimalgröße gebunden sind; aber gegen die Gesetzlichkeit der äquipotentiellen Systeme da, wo sie sich bei erfüllten Bedingungen voll- ständig äußert, sagt jener Umstand ganz und gar nichts aus. Nach Erledigung dieser Vorfrage habe ich nun vor allem anderen gegen Bütschlis Rede einzuwenden, dass sie meinen eigentlichen Beweis für die Autonomie der in Rede stehenden Lebensphänomene nicht deutlich wiedergiebt. Nachdem Bütschli (p. 41) verschiedene Beispiele harmonisch-äquipotentieller Systeme') aufgezählt hat. sagt er (p. 42): „Diese ordnungsgemäße Lokalisation der Neubildungen ... bildet nun Driesceh’s Lokalisationsproblem. Seine Ansicht ist, dass ein derartiges Geschehen in keiner Art von Wirkungsweisen abhängen könne, wie sie die anorganische Natur zeigt ete. ete.*“ Hätte ich nur solches ausgeführt, so wäre meine „Ansicht“ allerdings nicht viel wert. Das, was ich als eigentlichen Beweis für die Lebensautonomie an- sehe, ist auf p. 42ff. meiner Schrift?) enthalten, nieht erst weiter gegen Ende (p. 77ff.), wo es sich nur um Formulierungen handelte. Aber jenen eigentlichen Beweis bringt Bütschli — und, wie wir sehen werden, nicht nur er allen — gar nieht vor. Dieser Beweis besagt kurz: wir vermöchten Entwieklung wohl auf Basis gegebener komplizierter Struktur der Systeme zu verstehen, aber eben solche ins typische Einzelne gehende Struktur ist auf Grund der 4) Seine Definition des H. Ae. $. giebt nieht ganz meinen Gedanken wieder; er sagt, es seien solche entwicklungsfähigen Systeme, bei denen „die Entwicklungsmöglichkeit jedes untergeordneten Teiles die gleiche ist wie die des Ganzen“. Das stimmt bis zu einem gewissen Grade. Aber es kommt die Haupteigenschaft des H. Ae. S. dabei nicht zum Ausdruck, dass nämlich jedes ihrer Elemente jedes Einzelne leisten kann, wobei alle Einzel- leistungen in Harmonie stehen. Vergl. „Lokalisation“ p. 73. 2) Paginierung des Archivs, nicht der Separatausgabe. ee Sy Driesch, Kritisches und Polemisches. 443 Experimente ausgeschlossen, und äußere lokalisierende Faktoren sind das auch. Ich will gern zugeben, dass ich diesen Beweis in ganz strenger Form in der Lokalisation noch schärfer hätte hervorheben können. Aber Bütschli kannte doch auch mem Referat in den „Ergebnissen der Anatomie und Entwieklungsgeschichte* !), und dort ist p. S10—812 der Beweis der Autonomie per exelusionem in aller Form und sehr kurz und übersichtlich geführt worden. Zur Kritik meiner Ausführungen übergehend, hält sich nun Bütschli(p.42f.) durchaus an eine Form meiner vier Formulierungs- arten des autonomen Geschehens und zwar, wie mir scheint, gar zu sehr an die einzelnen Worte derselben, die sicherlich verbesserungs- fähig sind?). Der Kernpunkt der von Bütschli kritisierten Formu- lierungsform besteht in der Aufzeigung der stetigen Unbeschränkt- heit der Zuordnung (nicht Gleichheit) von Ursache und Wirkung im Sinne der Erreichung einer komplizierten typisch-spezifischen Struktur als Zieles; und derartiges im anorganischen aufzuzeigen, hat Bütschli nicht vermocht. Gehen wir über zu spezielleren Ausführungen meines Kritikers. Es handelt sich hier, kurz gesagt, um Vorführung von Scheinanalogien, die den Unterschied zwischen Organischem und Anorganischem verwischen sollen. Die erste derselben, der immer wieder, nach beliebiger Material- entnahme, kugelig werdende Flüssigkeitstropfen, in Hinsicht dessen Bütsehli die Darstellung so wendet, dass er ein auch unter meine eine Formulierung fallendes Phänomen vorzustellen scheint, ist derart offenkundig ein durchaus homogenes Gebilde, das offenbar keiner vermeinen wird, mit seiner geistigen Erfassung zugleich die Regulatorik der Organismen begriffen zu haben. Der sich bei bestimmtem Ver- hältnis vom Durchmesser zur Länge gliedernde Flüssigkeitseylinder ist nach dieser Gliederung aus durchaus gleichen Elementen, eben den Flüssiskeitskugeln, zusammengesetzt; typisch geordnete spe- zifische Ungleichheit der Elemente ist aber das Kennzeichen der Organismen. Bütschli parallelisiert, p. 4, diese Gliederung des Flüssigkeitseylinders der Gliederung des Eehinidendarmes in drei Teile; 4) Für 1898, erschienen 1899. 2) Uebrigenshabe ich die Auslösungsursachen nicht, wiemir Bütschli(p.42 unten) vorwirft, bei meiner Erörterung kausaler Abhängkeiten im Anorganischen übersehen; sie kommen nur für mein Problem, nämlich für die Art der Zu- ordnung von Ursache und Wirkung, gar nicht in Frage; gerade wenn solche Zuordnung gar nicht statthat, reden wir von Auslösung, mich gingen (Lokali- sation p. 85) nur diejenigen anorganischen Fälle an, in denen eine gewisse Zuordnung, freilich in anderer Art wie im Biologischen, stattfindet. — Näheres über die „Ursachsarten* in „Ergebnisse“ für 1898, p. 777—78. 444 Driesch, Kritisches und Polemisches. ich habe aber schon auf p. 39 der „Lokalisation“ und auf p. S11 meines „Referates“ dargelegt, dass solches ganz unstatthaft ist, da jener Darm, wenn man nur seine Länge ändert, aber seinen Quer- schnitt belässt, sich ebenfalls proportional in die drei Teile gliedert. Ich füge hier hinzu, dass die Gliederung nieht in drei gleiche Teile, sondern in drei typisch verschieden große Teile, in jedem Experimentalfall in derselben Proportionalität, erfolgt. Berechtigt wäre also Bütschli’s Analogie, wenn es Flüssigkeitsceylinder gäbe, die sich etwa in eine Kugel, ein Elipsoid und einen Kegelmantel gliedern, und bei Verkleinerung stets die Proportionalität der Glieder wahren würden. Aber sie eben giebt es nicht; und wenn es sie gäbe — könnten wir sie verstehen? So eben kann ich nun anlässlich der nächsten von meinem Gegner vor- gebrachten Analogie mit Lebensphänomenen fragen, der Krystallisation, die man überhaupt besonders liebt, gegen den „Vitalismus“ ins Feld zu führen. Gewisslich haben Krystalle eine entfernte Aehnlichkeit mit Organismen, indem das typische Gerichtetsein bei, ihnen in Frage kommt, noch mehr Aehnlichkeit haben sogar in diesem Sinne die von Bütschli gar nicht vorgebrachten Dendriten, zu denen Gruppen von Kryställchen sich gesetzlich ordnen. Aber weit entfernt, uns den Organismus physiko-chemisch verstehen zu lassen, scheinen mirdiese Phänomene vielmehr zu zeigen, dass wir nicht einmal alles Anorganische physiko-chemisch ver- stehen. Sobald Richtung, sobald spezifische Form auftritt, wird schon im Anorganischen neues Elementares, von der das Allgemeine behandelnden Physik und Chemie nieht Gelehrtes gefordert; ja, ver- stehen wir dann etwa die Chemie aus der Physik ?!) Nun ist aber der Organismus, mag er ein negatives Kennzeichen, die physiko-chemische Unverständlichkeit, mit ihm teilen, offenbar im Positiven etwas ganz anderes als ein Krystall oder auch ein Dendrit; 4) Schopenhauer hat die Autonomie jedes Wissensgebietes schon klar erkannt. In seiner Kritik der Kant’schen Philosophie (Welt a. W. u. V, I. Anhang) findet sich, in Bezug auf die „Kritik der Urteilskraft*, der Aus- spruch, dass die Sondergesetzlichkeit des Organischen eigentlich nur ein Spezialfall der allgemeinen Thatsache sei, dass jedes Gebiet der Naturwissen- schaft seine eigenen Fundamentalgesetze habe. — Ganz ähnliche Erwägungen finden sich bei Schopenhauer’s Antipoden Hegel. — Von Neueren ist Paul Du Bois Reymond hier am klarsten. Die mechanische (metaphysische) Physik ist es in letzter Linie, die für alle hier neuerdings herrschende Verwirrung, auch für die Abneigung gegen den „Vitalismus“, verantwortlich ist. Ganz erklärlich; denn wenn die Physik keine Sonderelementargesetze haben sollte, warum dann die Biologie? Als Gegner der metaphysischen Physik ist Mach vor allem zu schätzen, mag man mit seinen erkenntniskritischen Aeußerungen einverstanden sein oder nicht. Driesch, Kritisches und Polemisches. 445 mag man letztere spezifische Formen nennen, erstere sind typisch spezifische Kombinationsformen ungleicher spezifischer Elemente. Daher würde selbst jenes Neue, das wir für Erfassung der anorganischen Spezifitätsform und deren gleichartiger Kombination gegenüber dem aus Physiko-Chemie Bekannten brauchen, für die Orga- nismen uns gar nichts nützen; erst der Begriff der Entelechie, der intensiven Mannigfaltigkeit besonderer, die Kombination des Ungleichen in sich befassender Art, bringt uns sie zur Klarheit. Doch gehen wir in unserer Diskussion mit Bütsehli wieder auf ein allgemeineres Feld und damit zu Ende: dass „Gleiehgewichte“ (p. 46) bei allem Regulationsgeschehen an Organismen in Frage kommen, gebe ich gerne zu; nur besagt der Begriff nicht viel wegen seiner allzugroßen Weite; er spricht nur eine ganz allge- meine Anwendung des Kausalitätsprinzips aus. Was weiter die „Causae finales“ alten Stiles angeht, so haben nicht nur Bütschli (p- 46), sondern ich selbst schon („Lokal.“ p. 103, Anm. 2) sie abgelehnt; das „Finale“ käme den Bedingungen des Systems zu, so sagte ich; meine Lebensautonomie „passe sehr wohl zu dem allge- meinen Kausalitätsschema“. Wenn aber Bütschli(p.46) sagt, dass es nach seiner Meinung „die besonderen gegebenen Bedingungen des ent- wicklungsfähigen Systems seien“, von denen alles Formgeschehen an Organismen abhinge, so unterschreibe ich das vollkommen. Nur sind eben diese „Bedingungen“, diese „Konstanten“, hier andere als bei anorganischen Körpern. — Doch ist dieses alles in meinen „Orga- nischen Regulationen“ eingehend ausgeführt. Wir beenden hiermit die Auseimandersetzung mit den Gedanken- gängen eines von uns hochgeschätzten Forschers, indem wir zum Be- schlusse noch unserer Freude darüber Ausdruck geben, dass, wie sich zuletzt zeigte, gewisse scheinbar sehr wesentliche Differenzpunkte viel- leicht nur auf Missverständnissen beruhen, und sich harmonisch auf- lösen lassen möchten: Meint Bütschli mit dem Worte „Mechanismus“ nur dieses, dass Lebensgesetzlichkeiten den auf dem Kausalitätssatze beruhenden all- gemeinsten Gesetzen alles Geschehens untergeordnet sein müssen, so würden wir zwar das einen metaphysischen Beigeschmack besitzende Wort beanstanden, aber die Sache nicht. „Mechanismus“ und unser „Vitalismus“ wären dann gar keme Gegensätze, sondern der letztere wäre neben der Physik und neben der Chemie, dem ersteren subsumiert. — Ehe wir uns nun mit einem anderen ernsten Gegner auseinander- zusetzen beginnen, sei, als Intermezzo, einiges über die Worte gesagt, welche Verworn jüngst, in der Einleitung zu seiner neuen Zeitschrift, über unsere Sache geäußert hat. Er liebt ihn gar nicht, den „Neovitalismus“, dessen Auftreten „einem folgerichtig denkenden Menschen unfasslich erscheinen muss“, 446 Driesch, Kritisches und Polemisches. Das, was er dagegen ausführt, bewegt sich in sehr allgemeinen Rede- wendungen und operiert mit Vorliebe mit dem Worte „Prinzipien“: „Die Prinzipien des Geschehens selbst müssen überall die gleichen sein, solange wir uns in der Körperwelt bewegen.“ Verworn belehrt uns auch, was diese „Prinzipien“ besagen; sie „müssen Gültigkeit haben für lebendige wie für leblose Körper, denn die Physiologie kann nie etwas anderes sein als Physik und Chemie, d. h. Mechanik der lebenden Körper“. Wörtlich genommen ist dieser Satz erstens eine grundlose dog- matische Behauptung und ist zweitens unrichtig, denn Chemie und Physik sind nicht gleich der Mechanik, selbst nicht im weitesten Sinne des „Mechanismus“ (s. 0.) zu setzen; modeln wir ihn derart in Gedanken um, dass er einen unbeanstandbaren Sinn ergiebt, so will uns Verworn offenbar sagen, dass die allgemeinsten Sätze der Mechanik seine „Prinzipien“ seien. Setzen wir nun anstatt Mechanik das Wort Energetik, von deren Ausbildung Verworn, ebenso wie von der ganzen neuesten unmetaphysischen Wendung der Physik nichts bekannt geworden zu sein scheint, so würde er also wohl meinen, dass die beiden sogenannten Hauptsätze der Energetik für alles Weltgeschehen bestehen müssten. Solches haben wir aber, wie erst soeben ausgeführt wurde, selbst (z. B. Organische Regulationen, p. 152) behauptet, und unsere Ausführungen will doch wohl Verworn vor- wiegend treffen, da er sich z. B. mit Bunge’s Aeußerungen einver- standen erklärt. Wir haben freilich auch!) erklärt, dass jene beiden „Prinzipien“ so weit seien, dass sie gar nichts über die schwebende Frage, ob Autonomie oder nicht, aussagten. Was also meint Verworn? Welche unserer Darlegungen will er treffen? Er will und kann keine treffen, weil er keine kennt. Was man aber nicht kennt, darüber soll man auch nieht schreiben, und erst recht nicht so schreiben, wie von Verworn geschehen, und so an solchem Otte. „Gegner“ wie Verworn werden unserer Sache wahrlich nicht gefährlich?). — Wir erörtern jetzt die Stellung, welche Ostwald in seinen „Vor- lesungen über Naturphilosophie“ ?) sowie in einem Referat) über meine 1) Org. Reg. p. 211f. 2) Sehr ungefährlich bleibt ihr auch H. E. Ziegler („Ueber den der- zeitigen Stand der Descendenzlehre in der Zoologie“, Jena 1902). Unter fort- währender Verwechslung der Begriffe transcendent-transcendental, teleologisch- metaphysisch-mystisch, ergeht er sich in so unbestimmten Redewendungen, dass schwerlich ein Leser durch sie gegen den „Vitalismus“ sich wird gewinnen lassen. Etwas genauer hätten zum mindesten seine Ausführungen sein können; Reinke ist von ihm völlig missverstanden (8. u.). 3) Leipzig 1901. | 4) Annalen der Naturphilos. I, p. 95. 1 eh Driesch, Kritisches und Polemisches. 447 „Organischen Regulationen* in der Frage nach der Autonomie der Lebensvorgänge eingenommen hat. Als ich Ostwald’s „Vorlesungen“ erhielt, hoffte und erwartete ich zweierlei in ihnen zu finden, nämlich erstens eine wahre „Natur- philosophie“, das heisst den Nachweis der Denknotwendigkeit der all- semeinsten Normen der Naturwissenschaft, insbesondere der Sätze der „Energetik“, zum anderen eime Stellungnahme zu biologischen Prob- lemen, welche der meinigen im wesentlichen nicht fremd wäre. Beides hoffte und erwartete ich nicht so aufs Geradewohl, sondern mir schien Ostwald's bisherige Denkrichtung eine gewisse Gewähr dafür zu bieten, dass es wohl so sein werde. Zum Ueberfluss stand das Wort „Naturphilosophie* auf dem Titel des Buches, da durfte man wohl erwarten, dass auf der von Kant geschaffenen, von Hegel, zwar mit nicht viel Erfolg im einzelnen, weiter verfolgten Bahn, die Naturprobleme aufzufassen, weiter gegangen werde. In beidem wurde ich aufs Aeußerste enttäuscht; an Stelle der Natur- philosophie fand ieh einen Empirismus strengster Art, eine grundsätz- liche Ablehnung selbst des Begriffs der Denknotwendigkeit (des Apriori); an Stelle eines Zuneigens zur rationellen und selbständigen Behand- lung biologischer Probleme, wie ich sie mir zum Ziele setzte, fand ich — eine Uebernahme des schlimmsten, was die Biologie produziert hatte des Darwinismus. Ja, es giebt sogar einen gewissen „Ueber-Darwinismus“ in dem Buche: p. 190ff. wird die Proportionalität der Gewichte und der Massen durch Auslese erklärt!), und an anderen Orten findet sich ähnliches! Doch geht uns an dieser Stelle weder der grundsätzliche Stand- punkt Ostwald’s noch seine Energetik etwas an; zumal mit letzterer, der wir in erheblichem Maße, aber mit Einschränkungen zustimmen, werden wir uns später einmal eingehend auseinanderzusetzen haben; es handelt aber nicht weniger als etwa ein Drittel seines Buches über Lebensphänomene, und da sich in diesem Drittel eine ausdrückliche Kriegserklärung an den „Neovitalismus“ findet (p. 317), erscheint es geboten, die Ansichten Ostwald’s über biologische Probleme etwas näher ins Auge zu fassen. In der Besprechung meiner „Organischen Regulationen“ sagt Ost- wald ausdrücklich, dass er „nicht Biologe“ sei. Damit hängt es wohl zusammen, dass er in seinen Vorlesungen selten so recht ins einzelne geht, dass er sich fast immer in den Bahnen der eigentlichen Lehr- buchsphysiologie bewegt, dass zumal alle Ergebnisse der neueren Formphysiologie so gut wie gänzlich ignoriert werden. Uns scheint, 1) Dann dürfte also diese Proportionalität nie oder doch nur höchst selten ganz streng sein! Sie würde um einen Mittelwert nach dem Quetelet’schen Gesetz schwanken! Wozu dann die so genauen Messmethoden der Physiko- chemie ? 448 Driesch, Kritisches und Polemisches. solches hätte nicht geschehen dürfen, wenn über den „Neovitalismus“ abgeurteilt werden soll. Für unsere gegenwärtigen Zwecke hat uns Ostwald durch die Art des Vorgehens in seinem Buche die Aufgabe natürlich leicht ge- macht. Bewegt er sich in sehr allgemeinem Rahmen, so können wir es auch thun. Was sagt nun Ostwald zur Kennzeichnung des Biologischen ? „Die Lebensvorgänge sind nur Energievorgänge“*, steht p. 314 zu lesen. Ohne das „nur“ lassen wir das gelten. Es ist zwar ein sehr weiter Ausspruch, der nicht viel besagt, zumal wenn man, wie wir, geneigt ist, in den Energiesätzen nur Formulierungen des Kausalitätssatzes zu sehen), aber es ist unzweifelhaft richtig. — Was bedeutet nun jenes „nur“, ist es auch nur irgendwie am Platze? Uns schemt es vielmehr einfach überflüssig zu sein. Kennzeichnet man etwa die kinetischen, diethermischen und die che- mischen Vorgänge hinreichend, wenn man sagt: sie seiennurEnergie- vorgänge? Gewiss nicht. Freilich sind sie Energievorgänge, aber sie sind indem Rahmen dieser jeder etwas anderes; bei ersteren kommt u. a. die Richtung, bei den zweiten die Dissipation und Nieht- isolierbarkeit, bei den dritten die relative Spezifität („Affinität“) dazu. Innerhalb des Rahmens der „Energievorgänge“ fängt also die sondernde Kennzeichnung der Naturphänomene überhaupt erst an. Warum nicht auch die für das Biologische? Daran, dieses alles prinzipiell'zugegeben, hindert Ostwald nun frei- lich ein seltsamer fundamentaler Ausspruch auf p. 175 semes Buches: die Zerlegung der Energie in Faktoren soll „in großem Umfange willkürlich“ sein, ein Satz, der p. 232 sogar noch ohne die hier gebotene Einschränkung ausgesprochen wird. Uns scheint, dass Ostwald sich hier von seiner unseres Erachtens durchaus berechtigten Gegnerschaft gegen die üb- liche (mechanisch-fiktive) Physik hat zu weit treiben lassen. Dass thermische Energie sich in Temperatur und spezifische Wärme (bezw. Entropie), chemische in Potential („Affinität“) und Menge zerlegen lässt, scheint uns nichts weniger als willkürlich, sondern in den Phä- nomenen gegeben zu sein?). Wie käme es sonst, dass alle Physiker diese Zerlegung gleichartig vornehmen, dass doch auch bei Zerlegung der kinetischen Energie nur zwei Möglichkeiten bestehen ? In eingehender Form könnten diese Fragen nur anlässlich einer Erörterung der „Energetik“* und ihres Wertes überhaupt diskuttiert werden; hier genügt es, darauf hinzuweisen, dass eben innerhalb des allgemeinen Energierahmens die Spezifität der Naturphänomene erst zu Tage tritt, zumal in einer Art der (durchaus nicht willkür- 4) S. meine „Organischen Regulationen“, p. 152. 2) Dem hier Gesagten Verwandtes ist Ostwald u. a. neuerdings von Scheye (Ann. Naturphil. I) entgegengehalten worden. Driesch, Kritisches und Polemisches. 449 lichen, sondern „gegebenen“) Faktoren der Energie, in den Kapazitäts- faktoren oder Konstanten. Hat doch übrigens Ostwald seine oben eitierten rigorosen Sätze von der Willkürlichkeit der Energiezerlegung in praxi selbst aufgegeben, wenn er, abgesehen von anderen Stellen, sogar von der Möglichkeit eines rationellen Systems der Energiearten redet (291 f.). Doch gehen wir nach diesen Vorbereitungen näher auf das ein, was Ostwald gegen den „Neovitalismus“ vorbringt: Wenn er aussagt (p. 317), dass nach seiner Ueberzeugung „die reiche Mannigfaltigkeit der Lebenserscheinungen nichts enthält, was sich einer energetischen Darstellung entzieht“, so haben wir das be- kanntlich immer selbst behauptet; ja wir, denen die Energetik denk- notwendig ist, können es eigentlich mit besserem necht behaupten als der Empiriker Ostwald. Ein „unlösbares Welträtsel“ sehen wir auch nicht in der That- sache des Lebens, und auch wir „erkennen keinen Grund, der die Hoffnung auf zunehmendes Eindringen in die Gesetzmäßigkeiten des Lebens als trügerisch erscheinen ließe“, ja, wir glauben sogar in ge- wisse dieser Gesetzmäßigkeiten bis zu einem gewissen Grade einge- drungen zu sein. Da wundert es uns denn sehr, die eben citierten Sätze „gegen die Lehre der Neovitalisten“ gerichtet zu sehen. Doch seien wir kurz: Ostwald übersieht eben, dass es inner- halb des Rahmens der Energetik Faktoren geben könne, welche die Lebensphänomene zu allen aus der Physik und Chemie bekannten in Gegensatz stellen können, ebenso, wie Chemie in gewissem Sinne zur Physik in Gegensatz steht; Faktoren natürlich, die sich ebenso gut zum „Gesetz“ fassen lassen, wie die die einzelnen Energiearten der Physik kennzeichnenden Faktoren es thun. Auf den von uns versuchten Nachweis, wo im Biologischen solche autonomen Sonderfaktoren in Aktion treten, geht Ostwald mit keinem Worte ein, und so könnten wir denn die Diskussion mitihm jetzt beenden. Daran aber hindern uns zwei Punkte. Wie kommt es doch, so fragen wir verwundert, dass Ostwald gegen Ende seines Buches selbst „Vitalist“ wird, nachdem er in der Mitte dem „Vitalismus“ den Krieg erklärt hat? Er operiert plötzlich mit drei gesonderten Energiearten, mit Nerven-, geistiger und Willensenergie! (p. 355, 377, 426 und sonst.) Das sind denn wohl doch andere „Energiearten* als die physi- kalischen? Da sich „Energiearten“ nun aber, trotz Ostwald’s Satz von der Willkürlichkeit der Zerlegung, nur durch die Faktoren der Zerlegung unterscheiden, so wäre also innerhalb des Rahmens der Energetik auch nach Ostwald etwas bei den Lebenserscheinungen dem Anorganischen gegenüber gesondert. XXI. 29 450 Driesch, Kritisches und Polemisches. Nun wollen wir an dieser Stelle nicht eingehend darüber reden, dass es uns das Wesentliche, z. B. an den Bewusstseins- und Ge- dächtnisphänomenen, nicht richtig zu treffen scheint, wenn man sagt, ihnen läge eine besondere „Energieart“ zu Grunde; uns scheint viel- mehr, dass hier nur so etwas wie ein Kennzeichen eines Faktors der Energie, vielleiehtaber etwasnoch anderes (immer imRahmen der Energetik) in Frage komme. Was wir andeuten wollen, ist nur dieses, dass Ostwald, der so freigiebig im Erfinden neuer „Energie- arten“ ist, uns eigentlich weniger als irgend ein anderer das Recht zur Gegnerschaft gegen unsere kritische Lebensautonomielehre zu haben scheint. Im Gegenteil, wir glauben in größerer Strenge den Nachweis geliefert zu haben, dass etwas dem Leben gesondert als Elementares zukommt, und was dieses ist, als Ostwald, der bei Schaffung seiner neuen Energiearten, wie uns dünkt, recht schema- tisch vorgegangen ist, und das wesentlich Kennzeichnende der von ihm geprüften Phänomene (Gedächtnis!), Wille ete.) mit seinen Neu- schaffungen gerade nicht trifft. — Gehen wir nunmehr am Schluss noch auf dasjenige ein, was Ost- wald gegen die von mir versuchten Beweise für die Autonomie der Lebensvorgänge in einer Besprechung meines Buches „Die organischen Regulationen“ vorgebracht hat. Seine Besprechung soll offenbar mehr auf das Dasein des Buches hinweisen, als seinen Inhalt wiederzugeben versuchen, daher sich denn wohl auch gewisse Ungenauigkeiten?) in der Inhaltsangabe erklären. — Meine beiden Beweise teilt Ostwald im Auszuge, annähernd richtig, aber gar zu sehr gekürzt mit, um dann die Bemerkung anzu- 1) Für die sogenannten Gedächtnisphänomene bringt er auf p. 368#f. einige angebliche mechanische Analogien. Dieselben berühren aber das wesentlichsteKennzeichen derechten„Gedächtnis*-Aeußerungen, nämlich ihren associativen Charakter, gar nicht, sondern sind höchstens Analoge für das, was man funktionelle Anpassung einzelner Nervenbahnen nennen könnte (s. hierzu meine „Organischen Regulationen“ pr 130.). 2) Von den vielen einzelnen von mir im ersten Teil aufgezählten That- sachen, referiert OÖ. nur die „Elektion“, um dann fortzufahren: „Doch scheint gerade hier eine physiko-chemische Deutung sehr nahe zu liegen.“ Warum dieses „doch“? Habe ich eine solche Deutung denn ausgeschlossen? ©. sagt doch selbst, dass mein erster Teil deskriptiv sei. Wäre er auf einen späteren Abschnitt meiner Schrift eingegangen (B. IV), der von dem Versuch eines Einblickes in die Gesetzlichkeit nicht-morphologischer Regulationen handelt, so hätte er dort lesen können, wie ich die zeitige Unmöglichkeit, etwas über die Autonomie oder Maschinennatur aller dieser nicht-morphologischen Re- gulationen auszumachen, besonders betone und sogar für viele der Maschinen- auffassung zuneige. — Ob freilich Ostwald’s Auffassung der Elektion das Richtige trifft, scheint mir auf Grund der Pfeffer’schen Forschungen zweifel- haft. Driesch, Kritisches und Polemisches. 45 schließen, dass ich wohl „die in dem Ablauf der chemischen Lebens- vorgänge vorliegenden, bezw. möglichen zeitlichen Mannigfaltigkeiten“ übersehen hätte. Aus einer früheren Schrift von mir, der „Analytischen Theorie“, hätte Ostwald ersehen können, dass ich den zeitlichen Rhythmus aller Formbildung stets wohl im Auge gehabt habe. Ich verstehe aber durchaus nicht, was die Erörterung rein zeitlicher Verhältnisse uns nützen soll, wenn es sich lediglich um das Verständnis räumlicher Verhältnisse handelt. Ostwald kommt im Grunde wieder auf An- nahme des „Fermentgemisches“ meiner analytischen Theorie hinaus, welche Annahme ich gerade aufgab, weil sie für das Räumliche, so, wie es sich auf Basis der Experimente als existierend er- siebt, keinen zureichenden Grund abgiebt. Im übrigen ist in Nr. 1 der Serie dieser Aufsätze, der von den „Metamorphosen der Ent- wieklungsphysiologie“ handelt, das Nötige über diese Frage nochmals ge- sagt; ich bemerke, dass jener Artikel vor Kenntnisnahme der Ost- wald’schen Kritik niedergeschrieben war. So haben wir denn also gesehen, dass Ostwald in seinen „Vor- lesungen“ die eigentlichen Beweise für die Lebensautonomie nicht be- rührt, und dass, wo er sie später berührte, er ihnen nichts anhat. Trotz aller Widersprüche schätze ich das letzte Drittel seiner Vor- lesungen als umfassenden Versuch, die „Energetik“, in meinem Sinne die „reine Naturwissenschaft“ (Kant) mit der Biologie in Beziehung zu setzen. Nur hätte, meine ich, dieses Inbeziehungsetzen anders ge- schehen, es hätten die Lebensphänomene mehr an ihrer ureignen Wurzel, der Formgestaltung, gefasst werden müssen. Und auch die Art der Beziehungsbetrachtungen müsste meines Erachtens eine andere sein. Da ich hoffe, dass mir selbst die Ausführung eines Versuches dieser Art einst vergönnt sein möge, will ich nur dieses eine darüber bemerken, wie ich ihn mir denke: Ueber welche Seiten der Phänomene lassen die beiden Hauptsätze der Energetik noch Freiheit? so hätte man zu fragen, und innerhalb dieser von ihnen belassenen Freiheit hätte die analytische Kennzeichnung zuerst des Anorganischen, dann des Organischen einzusetzen. Auch Ostwald hat jene Frage nach der „Freiheit“ an einer Stelle seines Buches aufgeworfen, aber nur die Zeit als freigelassene Größe erkannt, und ist bei Erörterung des Biologischen auf diesen wichtigen Gesichtspunkt gar nicht eingegangen. — Aus den Kreisen der Entwieklungsphysiologen sind zwei Forscher in eingehender Weise auf meine Bestrebungen eingegangen. Auf die Ausführungen von Herbst!) habe ich aber, da er sich im wesent- lichen zustimmend verhält, an dieser Stelle nicht einzugehen, und will 1) Formative Reize in der tierischen Ontogenese. Leipzig 1901. 23 4592 Driesch, Kritisches und Polemisches. nur hervorheben, dass er, wie ich denke mit Recht, in den von ihm im besonderen erörterten Entwicklungsphänomenen einen Sonderbeweis für die Lebensautonomie nicht erblicken zu können glaubt; hier sei vielmehr zur Zeit noch der Entscheid zwischen verschiedenen Möglich- keiten offen. Eine eingehendere Besprechung an dieser Stelle erfordern aber die Ausführungen, welche Morgan meinen Absichten gewidmet hat. Wir werden sehen, dass wir, ob es schon anfangs so scheinen möchte, einen eigentlichen Gegner der Lehre von der Lebensautonomie in ihm nicht zu erblicken haben. In seinem vortrefflichen Lehrbuch „Re- generation“ hat Morgan meinen analytischen und theoretischen Aus- führungen einen ziemlich breiten Raum gewidmet; die Darlegungen meiner „analytischen Theorie“ giebt er, wie überhaupt fremde An- sichten, in einer für einen Ausländer doppelt anerkennenswerten Gründ- lichkeit und Richtigkeit wieder!); die Bedenken, die er gegen manche Punkte derselben hegt, sind zumeist solche, die ich selbst hege. An der Wiedergabe der Gedanken meiner „Lokalisation“ habe ich einen, allerdings wesentlichen Punkt auszusetzen; seltsamerweise ist es der- selbe, der uns anlässlich der Ausführungen Bütschli’s begegnete: man vermisst eine Wiedergabe des eigentlichen Beweises für meine Annahme der Autonomie ?). Auf p. 255 folgt, nach Darlegung einiges Thatsächlichen, der Satz: „This proportionate formation of the parts of the archenteron on a smaller scale cannot, Driesch claims, be accounted for on any known chemical or physical prineiple* ete. Ich kann wieder nur sagen, dass man mit Recht meine Ansichten abweisen würde, hätte ich einen solchen Ausspruch ohne weiteres hin- gesetzt. Im übrigen verweise ich auf den Eingang dieses Artikels und be- tone nur nochmals, was übrigens inzwischen aus meinen „Organischen Regulationen“ wohl allgemein zum Bewusstsein gekommen sein wird, dass meine Beweise die Form haben: Nur eine Maschine, eine kom- plizierte Struktur, könnte physiko-chemisch das in Rede stehende Geschehen verstehen lassen; eine solche Struktur aber kann wegen der Experimentalresultate nicht da sein. Morgan unterlässt auch eine Erörterung der analytischen Ver- suche meiner Lokalisation und eine solche der neuen Terminologie, 1) Ich hätte nur gegen p. 254 einzuwenden, dass die Kausalharmonie keine Annahme „beyond the field of a scientific bypothesis“, sondern ein Wort für eine Thatsache ist. 2) Ganz ähnliches gilt von den kurzen Erörterungen Lillie’s (Journ. Morph. 17, 1901, p. 270 ff.). Auch er übersieht, sich nur an die „Fernkräfte“ haltend, meine Beweisform, und sagt außerdem eigentlich nur, dass ihm meine Ausführungen nicht sympathisch seien. Driesch, Kritisches und Polemisches. 453 obwohl sie das Verständnis des Ganzen wesentlich erleichtert bätte und zum Teil, wie der Ausdruck harmonisch-äquipotentielles System, sich schon einzubürgern anfängt. Doch nun zu Sachlichem: Unten auf p. 255 giebt Morgan inhaltlich eigentlich alles zu, was ich sage: „We can do nothing more than claim to have disco- vered (nämlich in der proportionalen Verkleinerung des Typischen) something that is present in living things which we cannot explain and perhaps cannot even hope to explain!) by known physi- cal laws.“ So ungefähr, nur etwas präciser, und, wie ich glaube, strenger, sage ich das auch. Warum aber soll es „misleading“ sein, wenn man diese Lebens- sonderheit „a vitalistie prineiple“ nennt? Das ist doch wohl nur ein Streit um Worte. Prüfen wir noch weitere Aeußerungen des amerikanischen Bio- logen: Auch p. 256 wird von dem „fundamental character of the pro- toplasm“ geredet, der bestimme „what each part, in its relation to the whole, can do“. Ebenda heisst später die Thatsache der Proportional- verkleinerung wiederum „a fundamental peeuliarity of living thinks“, und es wird betont, dass alle vorgebrachten anorganischen Analogien nur Scheinanalogien seien. Und weiter: „We do not know of any machine that has the property of reprodueing itself by means of parts thrown off from itself“ (p. 259). Um aber die sachliche Uebereinstimmung mit mir vollständig zu machen, sagt Morgan endlich (p. 286), von dem Du Bois Rey- mond’schen „Ignorabimus“ redend: „Ihe formative changes in the organism appear to belong to this category of questions.“ Also das Spezifisch-Typische des Formgeschehens als Gegebenes, in meinem Sinne als „Entelechie“, ebenso gegeben wie die Affinitäten oder die Phänomene der Krystallbildung. Man sieht wahrlich nicht ein, warum sich daMorgan gegen die Zulassung eines Sonderwortes für dieses Gesondert-Gegebene sträubt, wo er doch selbst (p. 258) sagt: dass die Physiker sich nieht scheuen, das Wort „Gravitation“ anzuwenden, wenn sie auch nichts weiter als nur die so bezeichneten Phänomene formulieren könnten. Nun ist zwar die Morgan’sche Darlegung nicht ganz so sachlich folgerichtig, wie sie nach Vorstehendem erscheinen könnte, es findet sich vielfach ein unsicheres Schwanken in ihr, und das hängt wohl wieder damit zusammen, dass ein Eingehen auf die von mir versuchte wirklich strenge Analyse der in Rede stehenden Vorgänge vermieden 4) Der Sperrdruck ist von mir. 454 Driesch, Kritisches und Polemisches. ward. Immerhin sind die Schwankungen nicht so stark, um Morgan aus der Reihe der Freunde des „Vitalismus“, zu denen er nach Vorstehen- dem zweifelsohne gehört, zu streichen. Auf p.256, nachdem eben von dem „fundamental charakter“ des Protoplasma die Rede war, wird das Wort „Organization“ gleich- sam eingeschmuggelt; ja p. 280 wird sogar, scheinbar alles sonst Ge- sagte umwerfend, der Satz vorgebracht: „we have no reason to sup- pose that the organism is anytbing more than the expression of its physical and chemical structure.“ Auf p. 286 ist wieder von der „Organization“ die Rede. Diese Schwankungen, deren Inhalt doch offenbar (vergl. die früher vorgeführten Citate) nicht Morgan’s eigentliche Meinung wieder- giebt, hätten eben vermieden werden können, wenn, was, wie gesagt, leider nicht geschehen, auf meine analytische Beweisform der Lebensautonomie, die ja gerade an den Organisationsbegriff anknüpft und seine Unzulänglichkeit zu erhärten trachtet, eingegangen wor- den wäre. Statt dessen hält sich Morgan bei einer besonderen Form meiner Formulierungsarten der Lebensautonomie auf, und zwar bei derjenigen, die mit Fernkräften operiert. Ueber dieser Form, die, wie ausdrücklich betont, nur neben den anderen gewählt war, um der üblichen Denkweise der vermutlichen Mehrzahl meiner Leser ent- gegenzukommen, übersieht er das Wesentliche. Es sieht bei Morgan so aus, als hätte ich, ganz vom Zaune gebrochen, „Fernkräfte* einge- führt und dann später, eben dieser Fernkräfte wegen, die Sache „Vitalismus“ genannt, während für mich die Sache um etwa vier Jahre früher da war, als die Ersinnung der Fernkräfte, die ganz willkürlich, dann aber freilich wohl in sich folgerichtig war. Was also können wir, alles zusammengenommen, über Morgan’s Stellung zur Lehre von der Lebensautonomie sagen? Ich denke dieses: er neigt sachlich dieser Lehre auf Grund seiner eigenen Erfahrungen in hohem Maße zu, aber das Ungewohnte an ihr, der Bruch mit dem Hergebrachten, den sie mit sich bringt, ist ihm subjektiv un- sympathisch, und daher scheut er auch noch vor dem Sondernamen für die Sondersache. Morgan geht jedenfalls über die Grundlagen der „Maschinentheorie des Lebens“ hinaus und zur Annahme geson- derter Fundamentalfaktoren für die Lebensgeschehnisse weiter. — Wenn wir uns zum Schlusse einer Erörterung der Ansichten J. Reinke’s zuwenden, so möchten viele der Leser wohl denken, dass wir jetzt endlich nach so vieler ganzer oder teilweiser Gegner- schaft eines rückhaltlosen Anhängers „des Vitalismus“ zu gedenken hätten. Trotzdem wäre eine solche Meinung durchaus irrig. Es wird sich vielmehr zeigen, dass J. Reinke nur zu einem geringen Teil Anhänger der Lehre von einer Lebensautonomie ist, zum größeren Driesch, Kritisches und Polemisches. 455 Teil — die sogenannten vegetativen Funktionen betreflend — aber nicht. Worin aber sein Vorgehen von dem meinigen vor allem erheblich abweicht, das ist die Methode. Zwar steht ein, wie ich meine, be- deutsamer Begriff, der Begriff der Dominante, im Centrum seiner Erörterungen, aber, abgesehen von dieser einen Konzeption, ist es ge- rade der Mangel strenger Begriffsbildung, der sich bei seinen Erörte- rungen fühlbar macht!). Er beweist nicht, er macht höchstens mehr oder weniger wahrscheinlich. Aber gerade die beweisende Strenge der vorbildliehen anorganischen Wissenschaften, wenn nicht zu er- reichen, so doch anzustreben, das eben liegt mir vor allem anderen am Herzen. Reinke hat einmal in seiner „Caulerpa“ die von mir mehrfach versuchte Einführung neuer Kunstausdrücke getadelt; es hängt das wohl mit dem Gesagten zusammen. Ich meine aber, wo neue Begriffe sind, oder wo auch nur ältere Begriffe in neuer, präeiserer Fassung auftreten, da braucht man auch neue, oder meinet- wegen alte, aber wenigstens ganz bestimmt und streng angewandte Namen dafür. Zu wiederholten Malen?) hat J.Reinke seine Ansichten über das Leben dargelegt. Es ist bei erster Lektüre nicht ganz leicht zu er- fassen, was er im Grunde meint, eben weil die Begriffsbildung nicht immer sehr präeis ist. Bei oberflächlicher Lektüre könnte man ihn für einen „Vitalisten“ halten; jedenfalls kämpft er gegen die übliche Auffassung vom Leben. Genaueres Zusehen zeigt dann freilich, dass er das nicht ist: er ist, wenigstens soweit das vegetativ-physiologische Leben in Betracht kommt, Teleologe, aber Maschinentheoretiker, steht also im wesentlichen auf dem von mir in der „Biologie“ und „Analytischen Theorie“ eigenommenen Standpunkte, welche Schriften er auch in der „Caulerpa“ beifällig eitiert?). Wir legen der Erörterung die letzte der Kundgebungen J. Reink e’s welche in seiner „Einleitung in die theoretische Biologie“ enthalten ist, zu Grunde. Zuvörderst wollen wir das bisher Gesagte, dass nämlich Reinke Maschinentheoretiker sei, beweisen. Die wesentliehsten Stellen sind 4) So wird (Einleitung p. 460) z. B. die Descendenztheorie ein „Axiom“ genannt, weil sie nicht beweisbar sei, ein Vergleich, der gerade das wesent- liche des Axiombegriffs, die Denknotwendigkeit, nicht berührt; so wird (p. 148) der Begriff der Entropie in gänzlich schwankender, im wesentlichen unrichtiger Weise, eingeführt u. s. f. 2) Die Welt als That. Berlin 1899. — Gedanken über das Wesen der Organisation. Diese Zeitschr. 19. 1899. — Ueber Caulerpa. Wiss. Meeresunter- suchung. Kiel. N. F. 5. 1901. — Einleitung in die theoretische Biologie. Berlin 1901. 3) Freilich eitiert er die „Lokalisation“ in demselben Zusammenhang. 456 Driesch, Kritisches und Polemisches. hierfür p. 177, 179, 180, 199 u. a. der genannten „Einleitung“: Ent- stehung und Betrieb der Organismen beruhen „auf der Konfiguration der Teile“; beifällig wird Lotze citiert, wenn er sagt: „Das Leben ist streng genommen eine Zusammenfassung unbelebter Prozesse.“ Solches genügt, um den eigentlichen Kern des Reinke’schen Stand- punktes in Hinsicht des vegetativen Lebens genügend deutlich zu kenn- zeichnen. Freilich, scheint uns, hätte von diesem Standpunkte aus Reinke gewisse Ausdrucksformen in seiner Dominantenlehre lieber vermieden, da sie ganz entschieden im höchsten Grade irreleitend sind. Wir sagten schon oben, dass der Dominantenbegriff im Centrum seines Denkens stände. Er nennt Dominanten „Kräfte zweiter Hand“, wäh- rend die Energien „Kräfte erster Hand“ seien. Das klingt etwas dunkel. Offenbar sind doch die Energien, ist die „Energetik“ das alles umfassende; in ihr erst kommt das Spezifische zur Geltung, wie wir das oben, anlässlich der Polemik mit Ostwald, ausführten. Was sind nun innerhalb des Energetischen die Dominanten? Sie sollen die Spezifität der geschehenden Effekte bestimmen; Faktoren, die solches thun, werden üblicherweise Bedingungen genannt, und da ist es nun klar, dass es zwei Arten effektbestimmender Be- dingungen geben kann, solche der Konfiguration, welche die Richtung des Geschehens bestimmen und andere, qualitäts- bestimmende. Letztere nennt man gemeinhin Konstanten, und es scheint mir, dass es eben dieser Begriff ist, den Reinke, wohl um seine Rolle im Geschehen recht deutlich auszudrücken, als „Domi- nante“ bezeichnet hat!). Nun muss aber eine recht bedenkliche Sache zur Erörterung kommen: Reinke verfolgt die Rolle der Dominanten ganz vorwiegend an Maschinen, also an typisch konfigurierten und kombinierten Mannig- faltigkeiten, und da Maschinen von Menschen, von intelligenten Wesen, gebaut sind, nennt er hier auch dieDominanten „intelligent“. Das scheint uns völlig grundlos und sehr irreleitend zu sein. Es hat offenbar mit veıschuldet, dass Reinke von oberflächlichen Lesern für einen „Vitalisten“ gehalten wird, was er, wie wir sahen, wenigstens für das vegetative Leben, in keiner Weise weder ist, noch sein will. Das Wort „intelligent“ soll hier bei Reinke soviel heißen wie zweck- mäßig, teleologisch; da aber eben, wie er selbst ausführte, das Teleo- logische bei Maschinen und Organismen auf der Konfiguration be- ruhen soll, so beruht es ja gerade nicht auf den Dominanten, und 1) Verg). hierzu meine „Organ. Regulation“, p. 206. Auf diese Weise hätte jedenfalls das Wort Dominante einen klaren eindeutigen Sinn. Freilich weiß ich nicht, ob sich Reinke’s Absichten durchaus mit meinen Darlegungen decken; es giebt auch Stellen bei ihm, in denen die Dominanten der Gesamt- heit der Konfiguration gleichgesetzt erscheinen. Driesch, Kritisches und Polemisches. 45T diese selbst als teleologisch, oder gar als intelligent zu bezeichnen, bringt die eben klargestellte Sache wieder in Konfusion. Wir sagten wiederholt, für das vegetative Leben sei J. Reinke Maschinentheoretiker!). Für das „Psychische“, also — um objektiv zu reden — für die kombinierten Bewegungserscheinungen des Menschen und der höheren Tiere ist er es nicht, oder wenigstens nur hypothe- tisch. Wir können uns über diesen Punkt, da er uns hier nicht viel angeht, kurz fassen. Die bewusste Seele des Menschen soll „von der Maschinenseele seines Körpers‘ — d.h. also nach obigem von der durch die Konfiguration gegebenen statischen Zweckmäßigkeit des vegetativen Lebens — „fundamental verschieden“ sein. „Ob aber der Unterschied ein absoluter ist, der gar keine Berübrungspunkte be- sitzt, auch nicht in der Unterlage ... ist eine andere Frage. Es giebt Thatsachen, die für, und solche, die gegen eine absolute Verschieden- heit der höheren von den niederen psychischen Qualitäten sprechen“ (p: 615f.). Halten wir hiermit zwar Reinke’s ausdrückliche Verwerfung des psycho-physischen Parallelismus zusammen (p. 66 f. u. 570), so scheint er der Annahme einer Autonomie für das sogenannte höhere Seelenleben allerdings stark zuzuneigen. Es ist klar, dass Reinke damit für gewisse Lebensphänomene, nämlich eben die sogenannten seelischen (die Bewegungserscheinungen der höheren Tiere), den Boden der Maschinentheorie verlassen, dass er hier wirklich „intelligente Dominanten“ einführen und auf den Namen eines „Vitalisten“ Anspruch haben würde. Zwar ist er selbst hier schwankend und muss es wohl sein, denn wirklich zu beweisen versucht er die Autonomie des Animal-Physio- logischen in keiner Weise. Freilich vermissen wir, wie schon gesagt, wahre Beweissätze auch in den anderen Teilen seines Buches. Ist doch überhaupt zumal alles, was über die Formphysiologie der Orga- nismen vorgebracht wird, äußerst unbestimmt gehalten und wird doch an keiner Stelle auf das jetzt wahrlich ziemlich reichlich vorliegende experimentelle Thatsachenmaterial gründlich und im einzelnen ein- gegangen. Gerade solches aber, die Berücksichtigung des Einzelnen und Einzelnsten ist erforderlich, soll das Gesetzliche der Naturphänomene wirklich geistig erfasst und bewältigt werden. Wer in strenger Weise analytisch vorgehend gerade das scheinbar Einzelnste erfasst, der und nur der erfasst eben damit das Allgemeine. Aber ich habe mich wiederholt an anderen Orten über den Unter- 4) Ein nach Niederschrift dieses Artikels erschienener Aufsatz Reinke’s, „Bemerkungen zu Bütschli’s Mechanismus u. Vitalismus“, diese Zeitschr. XXII, zeigt mir, dass ich in der Deutung der Reinke’schen Ausführungen das Rich- tige getroffen habe. 458 Driesch, Kritisches und Polemisches. schied der nur scheinbar allgemeinen, kollektivistischen und der zu wahrhaft allgemeinen Ergebnissen führenden, analytischen Denkmethode ausgesprochen !). — Ich bin am Ende mit meinen polemischen Ausführungen in Sachen der autonomen Biologie. Vermisst man in dem Vorstehenden ein Eingehen auf Bunge und G. Wolff, so sei man auf meine „Lokalisation“ (p. 102ff. im Archiv) verwiesen. Hier über diese beiden Forscher der Vollständigkeit halber nur dieses: G. W olff vertrat früher, wie ich meinte, in entschiedener Weise, die Autonomie der Lebensvorgänge, wenngleich siemir von ihm durch den Begriff der „primären Zweckmäßigkeit“ nicht hinreichend bewiesen erschien, denn dieser Begriff macht eine Maschinenstruktur als Grund- lage des Lebensgeschehens nur äußerst unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich; ganz neuerdings?) aber behandelte Wolff den „Vita- lismus“ mehr nach Art einer allgemeinen Teleologie, und neigt am Ende seiner Schrift, wie auch auf p. 5 derselben, sogar dazu, auch eine dem Leben noch skeptisch gegenüberstehenden Ansicht, die die Frage nach seiner Autonomie oder Niehtautonomie noch offen lässt, als Vitalismus zu bezeichnen, ein Vorgehen, dem ich mich nicht anzu- schließen vermag. Bunge hat das Kapitel seines Lehrbuches, auf Grund dessen er als „Vitalist“ galt, neuerdings umgetauft: er nennt es jetzt „Mechanismus und Idealismus“. Ob das die Sache trifft, mag hier dahingestellt bleiben; Bunge geht von erkenntniskritischen Voraus- setzungen, einer Art idealistischen Realismus, aus, die ich nicht teile. Jedenfalls zeigt es, dass ich recht hatte, Bunge nur als allgemeinen Teleologen, nicht als „Vitalisten“ zu erklären; er ist solches keines- falls in ausgesprochenem Maße, mag es auch Stellen bei ihm geben, die schwankend erscheinen, und im einzelnen handelt es sich bei ihm nie um den Versuch eines Beweisens der Lebensautonomie, sondern stets nur um den Nachweis, dass gewisse Phänomene (Leber-, Nieren- thätigkeitu.s.w.)nochnicht maschinell verstanden werden könnten. — So ist denn das Resultat aller dieser Betrachtungen, dass ich mit meinem Versuch, eine autonome Biologie auf Basis eigner kritischer Begriffsbildung zu begründen, namentlich was die Methode an- geht, ziemlich allein stehe; inhaltlich kann ich Wolffund Herbst, in gewissem Sinne auch Morgan als Anhänger des von mir Ver- tretenen nennen. Cossmann sprach sich bisher nur für eine Teleo- logie allgemeiner Art aus. Gegner meiner Auffassungen, ausgesprochene Vertreter der Maschinentheorie sind vor allem Bütschli, Ostwald, Albrecbt und Reinke, letzterer wenigstens, was das vegetative Leben anlangt. 04) 2. B. „Von der Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Aussagen“. Diese Zeitschr. XX, 1900, p. 15. 2) Mechanismus und Vitalismus. Leipzig 1902. Driesch, Kritisches und Polemisches. 459 Mir persönlich liegt ebenso wie der Inhalt meiner Bestrebungen am Herzen ihre Methode, dasbegrifflich selbständigeanalytische Vorgehen in Sachen der Biologie. Diese Methode, die ich beinahe sogar für bedeutsamer für den wissenschaftlichen Fortschritt halten möchte als den Inhalt, der mit ihr gefunden, hat bisher keine Gegner gefunden — weil sie überhaupt bisher keine Beachtung gefunden hat. Sie aber steht mit meinem „Vitalismus“ in untrennbarer Ver- einigung. Man treffe sie, wenn man meine Thesen treffen will; aber man kann mich überhaupt gar nicht treffen, wenn man sich auf ein allgemeines Herumreden um die Sache beschränkt. Bütschli ist von meinen Kritikern, auch von ungenannten, bisher der einzige gewesen, der mehr als ein solches Reden in allgemeinen Wendungen gegen mich vorgebracht hat, obschon auch er das Innerste meiner Denkweise nicht berührt. Ich hoffe, meine Sache ihm gegenüber behauptet zu haben. In Zukunft werde ich auf alle unbestimmt und phrasenhaft ge- haltenen Einwendungen gegen und Zustimmungen für meine Sache nicht eingehen. Es handelt sich hier nicht um eine Mode oder einen Geschmack, nicht um Sympathie oder Antipathie, nicht um Glauben, sondern um Wissen; es handelt sich um scharfe Begriffe, die entweder sachentsprechend oder nicht so gebildet sind, und um Aus- sagen mit Hilfe dieser scharfen Begriffe, die entweder wahr oder falsch sind. Ich halte sie für wahr. Napoli, 23. März 1902. Nachwort. Auch Roux hat jüngst m einem Aufsatze „Ueber die Selbstregu- lation der Lebewesen“ und in einer kurzen Besprechung meiner neuesten Schrift zu meinen theoretischen Anschauungen Stellung genommen !). Eine Veranlassung, auf seine Ausführungen an dieser Stelle des Näheren einzugehen, liegt nicht vor. Erstens nämlich besteht fast die ganze erste, die Regulationen im allgemeinen betreffende, Hälfte?) des genannten Aufsatzes in Selbst- eitaten; wäre mir aber an einer eingehenden Diskussion der früheren theoretischen Arbeiten Roux’ gelegen, so hätte ich solche doch schon in meinem Buche selbst geführt; ich unterliess das, um unnötige Kom- plikationen zu vermeiden; unser Beider Denkweisen sind einander gar zu fremd um Verständigungen zu ermöglichen; für meine Ab- sichten andererseits konnte ich aus dem Roux’schen Ansichten- gebäude nichts gewinnen, da er ja die Regulationen für „gezüchtet“ 1) Beides in Arch. Entw. Mech. Bd. 13. 1902. 2) Die zweite Hälfte richtet sich gegen meine Ausführungen über funk- tionelle Anpassung in den „Ergebnissen“, 460 Driesch, Kritisches und Polemisches. erklärt, mithin elementare Sondernaturgesetzlichkeit an ihnen von vornherein bestreitet. Aber zweitens liegt auch deshalb kein Grund für mich vor, den Roux’schen Darlegungen hier zu entgegnen, da er auch nicht mit einem einzigen Worte derBahn meiner Gedanken wirklich folgt. Er sieht überall nur sich, und ich habe bei mehrmaligem Durchlesen seiner beiden Artikel den Eindruck gehabt, als habe er das Wesentliche dessen, was mir organisches Regulationsgeschehen an zwei Stellen zu einem Problem seltsamster Art machte, gar nicht erfaßt. Das eine einzige Mal (p. 631 unten und Anm. 1), wo es den Anschein erwecken könnte, als streife er wenigstens meinen Gedankengang, stellt sich bei näherem Zusehen doch heraus, dass er von etwas ganz an- derem redet als ich: die wichtige Frage „wie Gestaltetes sich im Stoffwechsel durch Assimilation erhalten kann“, eine Frage übrigens, in der ich Roux die Priorität der Aufstellung auf pag. 150 Anm. 1 meines Buches ausdrücklich zuerkannt habe, hat mit meinen beiden Beweisversuchen für die Autonomie von Lebensvorgängen ganz und gar nichts zu thun! Wie wenig Roux mir wirklich gefolgt ist, ergiebt sich aufs schlagende auch daraus, dass er meiner Begriffstrennung einer statistisch - deskriptiven und einer dynamisch-,„vitalistischen“ Teleo- logie mit keinem Worte gedenkt und sich einmal (p. 652) geradezu so ausdrückt, als stünden meine „Analytische Theorie“ und meine „Or- ganischen Regulationen“ durchaus auf demselben Boden. Nebensächliche Irrtümer darf ich wohl der Beurteilung der Leser unserer beiderseitigen Ausführungen überlassen ?). Wenn Roux, zusammenfassend (p. 653) bemerkt, dass mir schon auf dem Zoologenkongreß in Berlin von ihm und von anderen „im vorstehenden Sinne“ geantwortet sei, so hat er damit vollkommen Recht: weder dort noch jetzt hat er sich um meinen Gedanken- gang auch nur im geringsten gekümmert. Heidelberg, 5. V202 3) Die Leser also mögen darüber entscheiden, ob mein Vitalismus „be- reits etwas abgeschwächt“ sei (p. 652), ob ich alles Organische „von einer In- telligenz geschaffen“, sein lasse (ebenda), ob ich Thatsachen, die mir nicht passen, „auslasse“ oder „umforme“ u.sw. Für die Entscheidung der letzteren Frage dürfte namentlich die Lektüre des Kapitels B. III. 5. (p. 123 ff.) meines Buches, das von den „Beschränkungen der Regulation“ handelt, lehrreich sein; pag. 139 u. 196ff. meiner Schrift andererseits sind eine hübsche Illustration zu der übrigens, wie im Hauptteil dieses Artikels dargelegt, nicht Roux allein eignen Ansicht, dass ich alles Regulatorische, bloß weil es regulatorisch ist, für „autonom“ halten sell. Reichenbach, Ueber Parthenogenese bei Ameisen. 461 Ueber Parthenogenese bei Ameisen und andere Beobachtungen an Ameisenkolonien in künstlichen Nestern. Von Dr. H. Reichenbach, Frankfurt a/M. Im Frühjahre 1899 setzte ich in ein leeres Beobachtungsnest nach Janet:) elf Arbeiter von Lasius niger L., mehr um sie als die bei uns gemeinste Ameise meinen Schülern zu zeigen, als irgendwelche bestimmte Beobachtungen zu machen. Ich fütterte mit Invertzucker und zerschnittenen Mehlwürmern, und bereits nach wenigen Tagen be- merkte ich mehrere Eierhäufehen, die von diesen Arbeitern gelegt worden waren. Dies war mir nichts Neues, und ich dachte, es werde gehen, wie in meinen übrigen Kolonien, wo die aus solchen Eiern aus- gekommenen Larven dem Kannibalismus der Ameisen verfielen; höchstens hielt ich für möglich, Männchen zu erhalten, da ja längst bekannt ist, dass aus von Arbeitern gelegten, also unbefruchteten Eiern Männchen entstehen, wie bei der Honigbiene und den gesellig lebenden Wespen?). Aber zu meinem Erstaunen verpuppten sich die Larven und lieferten typische Arbeiter, die auch in der Größe mit ihren Erzeugern übereinstimmten, nach einigen Tagen ausgefärbt waren und eifrig sich an den Arbeiterbeschäftigungen beteiligten. Bei Lasius niger können also aus unbefruchteten, von Arbeitern erzeugten Eiern Arbeiter entstehen. Bald darauf mehrten sich die Eierhäufchen, und bis gegen Ende Juni war die Zahl der Arbeiter auf über hundert gestiegen, und eine Menge von Larven und Puppen wurden munter umhergeschleppt, sor- tiert, gefüttert und geleckt; der Appetit war vortrefflich, die Futter- gläschen waren morgens stets sauber ausgeräumt; Puppenhüllen, Mehl- wurmreste und anderes wurden in einer besonderen Ecke der mittleren Nestkammer fein säuberlich aufgehäuft, — kurz, es war das Leben und Treiben ganz normal, trotz der etwas sonderbaren Herkunft der meisten der Nestinsassen. Der normale Verlauf des kolonialen Lebens zeigte sich aber auch noch in folgendem: 1) Janet, Charles, Etudes sur les Fourmis ete. 15. Note in Extr. des Mem. de la Soc. zool. de France 1897, S. 304. 2) Schon Denny (Annals and Magazine of Natural History, 2. Ser., Vol.) und Lesp&s (Annales des Seiences naturelles 1863) haben bereits beobachtet, dass Ameisenarbeiter Eier legen. Lespes hielt sie für nicht entwicklungs- fähig. Forel (Les fourmis de la Suisse S. 329) beobachtete zuerst, dass aus solchen Eiern Männchen entstehen. Dewitz (Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. XXVII, 8. 536) glaubt, dass die Arbeiter regelmäßig Eier legen. Lubbock (Ameisen, Bienen und Wespen, Leipzig 1883, $. 30) hat ebenfalls mehrfach eierlegende Arbeiter beobachtet, es entwickelten sich aber dann immer Männchen, niemals Arbeiter oder Weibchen. 469 Reichenbach, Ueber Parthenogenese bei Ameisen. In der letzten Juliwoche!), sozusagen auf den Tag, wo in den Gärten und den Straßen Frankfurts geflügelte Männchen und Weibchen von Lasius niger als Reste von Hochzeitsschwärmen ermüdet umher- kriechen, gingen in meiner Kolonie etwa ein Dutzend schöner, glänzen- der Männchen aus, die nach dem Ausfärben die helle Kammer des Nestes aufsuchten und eifrig umherspazierten. Wäre ein Entrinnen möglich gewesen, sie hätten sich sicher bei der Massenhochzeit im Freien beteiligt. Die Männchen lebten nur einige Wochen; die meisten verunglückten durch Ankleben ihrer Flügel. Die Kolonie überwinterte gut, und im Frühjahr 1900 begann wieder eine rapide Vermehrung durch die von den Arbeitern gelegten Eier; am 1. August konnte ich im hiesigen Verein für naturwissenschaftliche Unterhaltung die Mitteilung machen, dass nunmehr etwa 300 Arbeiter und zwei bis drei Dutzend Männchen das Nest bevölkerten. Auch in diesem Jahre fiel das Auftreten der Männchen mit der Schwärmzeit genau zusammen. Im Jahre 1901 wiederholten sich die gleichen Vorgänge, mit dem Unterschied jedoch, dass die Zahl der Individuen geringer war; immer- hin fanden sich aber gegen Ende Juli einige Männchen ein. Im Früh- jahr 1902 waren nur noch etwa 20 Arbeiter am Leben; es wurden auch noch Larven erzogen, aber gegen Ende April ging aus unbe- kannten Gründen die ganze Kolonie ein. Bemerkenswert ist also das dreimalige zeitliche Zu- sammentreffen des Auftretens von Männchen mit der typischen Schwärmzeit in unserer Gegend. Daraus ist zu schließen, dass die Verhältnisse in meiner Kolonie nicht etwa auf Ent- artungsvorgängen oder etwas Aehnlichem beruhen, vielmehr weist diese strenge Periodieität auf normale Vorgänge hin, die wahrscheinlich auch in den natürlichen Kolonien stattfinden, wo sich wohl auch Arbeiter an der Erzeugung von Männchen beteiligen. Diese Umstände bedürfen freilich weiterer Untersuchungen. Wer unser Wissen von der Fortpflanzung der Ameisen, insbesondere von der Begattung und Befruchtung für abgeschlossen hält, der wird sämtliche Arbeiter meiner Lasius-Kolonie aus unbefruchteten Eiern ab- leiten müssen. Es erhebt sich aber die Frage, ob nach dem Auftreten der Männchen nicht vielleicht doch eine Art Begattung innerhalb des Nestes möglich wäre, oder ob vielleicht gar einige meiner elf Arbeiter, die die Kolonie gründeten, befruchtet waren. Viele werden dies er- schreckt und entsetzt in Abrede stellen; allein man gewöhnt sich nachgerade an Ueberraschungen, insbesondere auf dem Gebiet des Ge- 4) Nach Forel (Les fourmis de la Suisse, S. 406) schwärmt Lasius niger in der Schweiz von Mitte Juli bis Mitte August. Reichenbach, Ueber Parthenogenese bei Ameisen. 463 schleehtslebens. Uebrigens findet ja die Begattung im Nest bei dem in strenger Inzucht lebenden Anergates atratulus Schenk normaler Weise immer statt, und auch Forel rollt die obige Frage auf (Les fourmis de la Suisse, S.401). Jedenfalls wäre eine genaue anatomische und mikroskopische Analyse der eierlegenden Arbeiter, die vielleicht als ergatogyne Weibchen aufzufassen sind, und der Eier selbst in jeder Hinsicht von Wichtigkeit und würde den oben mitgeteilten Beobach- tungen erst ihren vollen Wert geben). Auffallend ist, dass trotz der opulenten Fütterung und des raschen Aufblühens der Kolonie keine Weibehen entstanden sind. Auch in meinen übrigen Kolonien habe ich nie Weibehen erhalten. Das Absterben der Lasius-Kolonie im vierten Jahre hängt viel- leicht mit folgenden Beobachtungen zusammen: Zu Pfingsten des Jahres 1898 brachte ich aus einem Nest der Amazonenameise (Polyergus rufescens Latr.) eine größere Anzahl von Arbeitern von Polyergus und Formica fuscaL. in ein Beobachtungsnest- Die Tiere hielten sich jahrelang sehr gut und wurden häufig zu Demonstrationen bei Vorträgen und in meinem Unterricht benützt; hier und da fanden sich auch einige Eier und Larven, die sich aber nie fertig entwickelten und wohl den kamnibalistischen Gelüsten zum Opfer gefallen sind. Im Frühjahr 1902 starben die Amazonen allmählich aus, während die Hilfsameisen (F. fusca) noch heute leben. Da eine zweite Kolonie aus dem gieichen Nest das gleiche Schicksal hatte, so scheint die normale mittlere Lebensdauer der Amazonen-„Arbeiter“ nicht unter vier Jahren zu liegen. Nach Lubbock (a. a. O. Vor- wort S. 6 und S. 8 und 34) werden andere Arten weit älter (über acht Jahre). In der oben geschilderten Lasius-Kolonie konnte also das Ver- mögen, entwicklungsfähige Eier zu legen, auf einige wenige Arbeiter beschränkt gewesen sein, die von gleichem Alter waren und im Früh- ling 1902 ihr Lebensziel erreicht hatten. Freilich erscheint dann die mittlere Lebensdauer der bei mir geborenen Arbeiter erheblich geringer und deutet auf Lebensschwäche hin, die vielleicht durch ihre sonder- bare Herkunft bedingt ist. Arbeiter von Camponotus liguiperdus Latr. und Formica sanguinea Latr. leben bei mir seit dem Frühjahr 1898, während eine reiche Kolonie der Säbelameise (Strongylognathus testaceus Schenk.) mit Männchen, Weibehen und Arbeitern und zahlreichen Arbeitern ihrer Hilfsameise Tetramorium caespitum F. nach einem Jahre einge- gangen war. 1) Ich unterlasse daher auch hier, die wichtigen Folgerungen für die Theorie der Genese der Ameisenstaaten zu ziehen. 464 Reichenbach, Ueber Parthenogenese bei Ameisen. Bei der Besetzung meiner Gipsnester machte ich einige Beobach- tungen, die für die Frage nach den psychischen Fähigkeiten der Ameisen von Wert sind: Ich stellte das angefeuchtete, verdunkelte und mit offenen Zugängen versehene Nest innerhalb eines Forel’schen Walles von Gipsmehl („Arena“) auf, der einen Durchmesser von !/, m und eine Höhe von 3 cm hatte. Das aus dem natürlichen Nest mit- gebrachte Material wurde innerhalb des Walles ausgebreitet und alles sich selbst überlassen. Die verschiedenen Arten benehmen sich nun ganz verschieden: Die Arbeiter von Teetramorium caespitum z. B. legen sofort Minen und Tunnels durch den Gipsmehlwall und kommen auf der anderen Seite im Gänsemarsch heraus. Es bleibt nichts anderes übrig, als sie mit dem Pinsel einzeln ins Nest zu bringen. Die Ar- beiter von Formica sanguinea und fusca suchen den Wall zu erklettern, fallen aber nach vielen vergeblichen Versuchen zurück und putzen und kämmen nun eifrig das an ihnen haftende Gipsmehl ab. Das ganze Manöver wiederholt sich jetzt zwei bis dreimal, dann aber versucht keine Ameise mehr, auf den Wall zu klettern, und nach wenigen Stunden, sobald das mitgebrachte Nestmaterial zu trocknen beginnt, halten einige ihren Einzug in das Nest, richten sich dort wohnlich ein und schleppen Larven, Puppen und solche Arbeiter, die den Eingang nicht gefunden, in die dunkeln Räume des Gipsnestes. Hieraus folgt, dass Formica sanguinea und fusca zwar erst dem sogenannten Fluchtreflex unterworfen sind, dass sie aber nach einigen erfolglosen und für sie unangenehmen Versuchen die Flucht aufgeben und den gebotenen feuchten und dunkeln Schlupfwinkel benutzen. Sie haben also die Fähigkeit, auf Grund von gemachten Er- fahrungen ihre Handlungen zu modifizieren. Die moderne extreme Reflextheorie erweist sich also auch in diesem Falle als unzu- länglich. Ganz ebenso benahmen sich die Arbeiter von Formica fusca aus dem Amazonennest: Einige, und zwar immer die nämlichen Individuen, gehen sehr bald dazu über, die Larven und Puppen, sowie Arbeiter von Polyergus und F. fusca in das Nest zu tragen. Unermüdlieh und im größten Eifer kehren sie aus dem Nest zurück und suchen das ganze Terrain ab nach versteckt liegenden Puppen und verkrochenen Arbeitern, die eiligst ins Nest befördert werden. Endlich ist alles auf- geräumt, und nur noch wenige Träger eilen umher, durchschnüffeln alle Ecken und Winkel, besonders solche, wo sie zuletzt noch etwas gefunden hatten. Dann kehren sie ins Nest zurück und kommen nicht mehr heraus. Eine besonders eifrige Ameise blieb noch längere Zeit auf der Suche, schließlich verschwand sie aber auch endgültig im Nest. Der Wichtigkeit der Sache wegen, und auch um einigen meiner Ameisenfreunde das merkwürdige Schauspiel zu zeigen, wiederholte Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. 465 ich den Versuch mit derselben Kolonie mehrmals und immer mit dem gleichen Erfolg, nur mit dem Unterschied, dass keine Ameise mehr den Versuch machte, den Wall zu erklettern, und dass die Sache rascher ablief. Auch der besonders eifrige Arbeiter, der an einem leichten Knick im Abdomen kenntlich war, blieb jedesmal bis zuletzt. Auch hier müssen wir schließen, dass diese Fusca-Arbeiter nieht blind automatisch und reflektorisch handelten;nach- dem sie vielmehr die Erfahrung gemacht hatten, dass außerhalb des Nestes keine Angehörigen derKolonie mehr zu finden waren, kehrten sie ins Nest zurück und kamen nicht mehr heraus, was sie doch vorher mehr als zehnmal sethan hatten. Reflexmaschinen sind zu solchem Ver- halten nicht fähig. Aus dem Mitgeteilten folgt noch die Bestätigung der Beobachtungen, nach denen die Arbeiter einer Kolonie in ihren Leistungen individuelle Verschiedenheiten aufweisen und dem Gesetz der Differenzierung durch Arbeitsteilung vielleicht in höherem Grade unterworfen sind, als wir es bis jetzt annehmen (vergl. auch Forel in Les Fourmis de la Suisse und Lubbock a. a. O., S. 19 und 37ff.]). Ludwig Stieda: Geschichte der Entwicklung der Lehre von den Nervenzellen und Nervenfasern während des 19. Jahrhunderts. I. Teil: Von Sömmering bis Deiters. In: Festschr. für C. von Kupffer, Jena 1899. Ausgehend von der Ueberzeugung, dass die Kenntnis so vieler moderner Forscher sich nur auf die allerjüngsten Entwieklungsstadien beschränkt — sehr zum Nachteil eines höheren kritischen Standpunktes zu den Tagesfragen —, hat der Verf., der schon vor 40 Jahren auf diesem Gebiet seine Arbeiten begonnen hat, es unternommen, uns dar- zustellen, welchen Weg seiner subjektiven Meinung nach die Lehre von den Nervenzellen und Nervenfasern und ihren Be- ziehungen zu einander, sowohl im Centralorgan wie in den peri- pheren Nervenknoten seit Sömmering zurückgelegt hat, und welchen Anteil die einzelnen Forscher an der Zunahme unserer Kenntnisse ge- habt haben. Da die meisten Zusammenfassungen fast nur die Ent- wicklung unserer Kenntnisse in neuester Zeit eingehend behandelt haben, erscheint ein ausführliches Referat der Stieda’schen Studie an dieser Stelle berechtigt. In Sömmering’s Werk „Vom Bau des menschlichen Körpers“, 5. Teil, 1791, heisst es „Unter dem Vergrößerungsglase erscheint sowohl der graue, wie auch der markige Teil der Hirnmasse“ (i.e.Gehirn, Rücken- XXI. 30 466 Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. mark und Nerven) „als zähe, klebrige, träge, etwas durch- sichtige, zusammenklebende Klümpcehen oder Kügelchen“. Kügelchen, die, wie es weiter heisst, wahrscheinlich kleiner als Blut- kügelehen seien. Das Vorhandensein eines Nervensaftes („Lebensgeist“), der in Kanälen sich bewege — die andere damals diskutierte Meinung über die wesentliche Struktur des Nervensystemes — sei nicht zu er- weisen. Hierin stützt sich S. natürlich auf ältere Forscher, von denen nur Giov. Mus. de la Torre, der Autor von der Lehre, dass das Nervensystem aus lauter größeren und kleineren, durchsichtigen, in den peripheren Nerven reihenweise angeordneten Kügelchen, schwimmend in einer klebrigen Flüssigkeit aufgebaut sei, und Prochaska, der durch die Annahme einer weichen, elastischen Zwischensubstanz von de la Torre abwich und uns eine Litteraturübersicht von Aristoteles bis auf diesen gegeben hat, angeführt seien. DieNervenfasern haben beide Männer nicht gesehen, wohl aber ihr Zeitgenosse Felix Fontana, dessen Resultate Sömmering für bedeutungslos hielt. Alex. Monro’s ge- schlängelte Fasern waren, wie er später selbst zugab, eine optische Täuschung, bedingt durch das benutzte Mikroskop, gleichwohl ist ihm vielfach das Verdienst zugeschrieben worden, dass er die Nerven- fasern entdeckt habe. Dies komme auch nicht Mare. Malpighi und Leeuwenhoek zu, wie Fr. Arnold (1845) meinte. Durch Monro’s Angabe, dass alle Gewebe, sogar die Haare, aus seinen gewundenen Nervenfasern bestünden und ihre scheinbare Wider- sinnigkeit, ward Fontana zu seiner Nachuntersuchung angeregt, deren Ergebnis ist!): „Der Nerv wird durch eine große Anzahl durchsichtiger, homogener, gleiehförmiger, sehr einfacher Cylinder gebildet; diese Cylinder scheinen von einer sehr feinen, einförmigen Haut gebildet zu sein, die, soweit das Auge darüber urteilen kann, mit einer durchsichtigen, sallertigen, in Wasser unauflöslichen Substanz angefüllt ist. Ein jeder dieser Cylinder bekommt eine Hülle in Gestalt einer äußeren Scheide, welche aus einer unzähligen Menge geschlängelter Fäden zu- sammengesetzt ist. Eine sehr große Anzahl durchsichtiger Cylinder machen zusammen einen sehr kleinen, kaum sichtbaren Nerv aus, der dem äußeren Anschein nach einen weißen Streifen bildet; und viele dieser Nerven bilden zusammen die größeren Nerven, die man in den Tieren wahrnimmt“; und weiter die Ueberzeugung Fontana’s, dass diese Cylinder „die einfachen und ersten organischen ERle- mente der Nerven sind“, denn er konnte sie nicht weiter teilen. „Mir däucht,“ so schließt er, „dass ich hier einen großen Schritt 4) Felix Fontana’s Abhandlung über das Wiperngift, nebst einigen Be- obachtungen über den ursprünglichen Bau des tierischen Körpers u.s. w. Aus dem Französischen übersetzt. Berlin 1787, p. 371. (Die franz. Ausgabe ist 1781 in Florenz erschienen.) Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. 467 zur Kenntnis eines so wesentlichen Werkzeuges zum Leben gethan habe, ....“ Im Gehirn hat Fontana in seiner ge- schlängelten darmähnlichen Kanälchensubstanz, nach seinen Abbil- dungen zu schließen, die markhaltigen Nervenfasern, daneben auch die Marktropfen gesehen. Dass er auch schon den Achsencylinder gesehen habe (wie das Remak annahm), glaubt Stieda nicht. Reil’s Nervenfasern (1796) waren sicherlich Bündel von Nerven- fasern in unserem Sinne. Die Nachuntersucher F. Arnemann (Göttingen 1787) und Metzg!er (Königsberg 1790) konnten Fon- tana’s Cylinder nicht finden. Fontana’s Entdeckung blieb unbe- achtet. Erst in den Arbeiten des berühmten Naturforschers und Bremer Arztes Reinh. Treviranus findet sich (1816) ein wesent- licher Fortschritt. Mit der Anschauung: „Die Elementareylinder und Eiweißkügelchen des Zellgewebes sind auf verschiedene Weise modi- fiziert und machen in dieser Modifikation die Elementarteile der Nerven, Muskeln, Knorpel und Knochen aus“, machte er sich an die Unter- suchung und fand „im wesentlichen dasselbe, worauf auch Fontana kam“. Er hat aber außerdem die Scheiden der „Nerven- röhren“ erkannt und das sie füllende „Nervenmark“; die be- grenzenden „geschlängelten Kanäle“ Fontana’s als Stelien gedeutet, „ın welchen das Nervenmark der inneren Wand der Röhren anhängt“. Ferner hat er gefunden, dass die äußeren Scheiden in Gehirn und Rückenmark fehlen, ebenso hat er die postmortalen Veränderungen des Nervenmarkes richtig beobachtet. In dem ganzen Zeitraum, der diesem bedeutenden Fortschritt durch Treviranus folgt, von 1816 bis 1833, bis zu Ehrenberg’s!) ge- wichtiger Arbeit, ist kein Autor zu nennen, der unsere Kenntnisse irgendwie gefördert hätte. Dieser muss alsEntdecker der Nerven- zellen bezeichnet werden. „In den Ganglien der Rückenmarksnerven,“ schreibt er 1. ec. p. 450, „sah ich bei Vögeln Röhrennerven und sehr große, fast kugelförmige (etwa !/,, Linie dick), die eigent- lichen Anschwellungen bildende, unregelmäßige Körper, die mehr einer Drüsensubstanz ähnlich sind.“ Von der Be- deutung seiner Entdeckung hatte er keine Ahnung. Bei den Nerven- fasern unterschied er die cylindrischen einfachen Nervenröhren der peripherischen Nerven und die varikösen (gegliederten) Nerven- röhren des Gehirns und Rückenmarks, deren erstere er als „Bewegungs- nerven?“, deren letztere er als „Empfindungsnerven?“ bezeichnet. Auch im sympathischen Nervensystem und wohl auch in der Retina hat er zuerst die Nervenzellen beschrieben und teilweise auch ab- gebildet. 1) In Poggendorf’s Annalen der Physik und Chemie, Bd. XXVIIT, Leipzig 1833, p. 449—65, Taf, VI, 30“ 468 Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. Zunächst schloss sich den Entdeckungen Ehrenber g’s keine rasche Zunahme unserer Kenntnisse an, es trat sogar noch eine Reihe von For- schern auf, die ganz in den alten Bahnen wandelten. Doch wurde bald die Entdeckung der „Nervenkugeln,, bestätigt, durch Joh. Müller 1834, ferner durch Lauth, Volkmann, Valentin, Purkinje undRemak. Die erste Arbeit, die wesentlichen Fortschritt brachte, war die berühmte Abhandlung G. Valentin’s: „Ueber den Verlauf und das letzte Ende der Nerven“, Februar 1836, die nach Kölliker’s Urteil von 1850 die „erste, gute Beschreibung der Nervenelemente“ ent- hält, jedoch im folgenden Jahr schon durch Remak’s Befunde entschieden überholt wurde. Jede Nervenprimitivfaser bildet nach seiner Ansicht von der Peripherie bis zu ihrem Eintritt in die graue Substanz ein voll- ständiges Leitungsrohr, das aus einer zellgewebigen Scheide und einem gleichmäßig hellen, durchsichtigen, halbflüssigen Inhalt besteht. Beim Durchtritt durch die Pia mater erleiden die Nervenfasern eine Veränderung, sie werden zu den „Mittelfasern“, welche zu den varikösen des Gehirns und Rückenmarks überleiten. Die Ganglien- kugeln liegen für ihn zwischen den Nervenröhren als „Belegungs- massen“. Für die sympathischen Nervenkugeln beschreibt er eine mehr oder minder deutliche zellgewebige Hülle, eine eigene Parenchym- masse, einen selbständigen Nucleus oder Kern und einen in diesem enthaltenen rundlichen, durchsichtigen zweiten Nucleus. Oft zeigt sich auch auf diesen Kugeln Pigment in verschiedener Anordnung. Nach der Natur der Hülle unterscheidet er fünf Arten von Ganglienkugeln. Von der isolierten, länglichen, geschwänzten Form meint er, sie „könnte leicht zu der Vermutung Anlass geben, dass sich diese Verlänge- rung in eine eigene organische Nervenfaser fortsetzt“. Jedoch betont er, dass Kugeln und Fasern nirgends ineinander über- gingen. Er hält die Zellen, die er auch in Groß- und Kleinhirn ge- funden, für ein funktionell sehr wesentliches, schaffendes, aktives Ele- ment des Nervensystemes im Gegensatz stehend zu den mehr passiven, leitenden Nervenfasern. Eine sehr bemerkenswerte Theorie'). Es schließt sich das Referat über Purkinje’s Arbeit vom Jahr 1833?) an. An seinen Querschnitten frischer Nerven sah er die Doppellinie der einhüllenden Membran, anschließend die Schicht des Nervenmarks als „diekeren“ Kreis und im Centrum eine meist mehreckige, vollkommen durchsichtige Stelle, die man als den inneren Kanal des Nerven- marks ansehen konnte. An dünnen Längsschnitten gehärteter Nerven fand er „in der Mitte einen dünnen durchsichtigen Streifen.... Aehnliches sah man an den aus den Schläuchen der Elementarfäden 4) Des Verf. Ansicht ist diesen Worten entgegengesetzt, denn er meint hierzu: „Wie man nur auf solche Theorien und Behauptungen kommen kann!“ 2) Der Ber. üb. d. Verhandl. auf d. Naturforschervers. zu Prag 1837 er- schien in diesem Jahr. Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. 469 durch Quetschung hervordringenden eylindrischen Markfäden“. Er hat also schon den Achseneylinder gesehen, wie er auch nach einer Notiz Valentin’s schon vor Ehrenberg die varikösen Nervenfasern ge- kannt hat. Er hat ferner sehr verschiedenartige Nervenzellen, mit oder ohne Fortsätze aus Gehirn und Rückenmark :beschrieben und gegen Valentin das Fehlen einer Scheide um die Ganglienkörner des Gehirns betont. Von Joh. Müller’s Angaben sei sein Schluss angeführt, „dass die Zacken der keulenförmigen, kernhaltigen Körperchen und der kern- haltigen Ganglienkörperchen des Gehirns eine allgemeineErschei- nung sind“. In seiner ersten Abhandlung vom Jahre 1836 stellte Remak zu- nächst fest, dass auch in den peripheren Nerven sich, wie schon Lauth in Straßburg beobachtet hatte, variköse Nervenfasern finden und er- wähnt als Einsehnürungen, wie sie an allen Fasern sehr häufig gesehen werden und bildet ab in Taf. IV, Fig. Vb das, was man gegenwärtig als Lantermann’sche Einkerbungen bezeichnet. 1837 sagt er: Die Primitivröhren hätten als Inhalt ein glattes „Primitivband“, das, was wir jetzt Achseneylinder nennen. „Es stellt sich bei den verschiedensten Vergrößerungen und Beleuchtungen meistens so dar, als wäre es aus sehr feinen, soliden Fasern zusammengesetzt, die in ihrem Verlauf zuweilen zu kleinen Knötchen anschwellen“. Irrtümlicherweise schrieb er den Primitivröhren Aus- buchtungen zu. Wenn Stieda meint, dass Remak die Existenz einer Markmasse leugne, so möchte ich dem entgegenhalten, dass die Stelle sehr wohl so aufgefasst werden kann, nach meiner Meinung aufgefasst werden muss, dass Remak zeigen will, dass eben die Nervenfaser nicht eine central mit Mark gefüllte Röhre, sondern dass dieses in der Hülle um das feste Primitivband enthalten sei, allerdings geschieht, auch in seiner Dissertation, einer besonderen Markscheide keine Erwähnung. — In einer späteren Arbeit aus demselben Jahre schreibt er, von den Rückenmarksnervenzellen entsprängen „mehrfache... . Bündel von sehr durchsichtigen, nicht röhrigen Fasern, die sich mitunter sehr bald in ihre Elemente zersplittern und zum Teil die zerstreut liegenden Kugeln miteinander in Verbindung setzen. Dasselbe findet im allgemeinen an den Kugeln aller Ganglien statt, mit dem Unterschiede, dass hier bloß an einer Seite der Kugel ein Bündel im übrigen ähnlich be- schaffener Fasern entspringt... ..“ Er unterscheidet diese Fortsätze von den Primitivbändern, da sie nicht eine fibrilläre Struktur zeigten. In der gleichen Abhandlung beschreibt er auch die nach ihn benannten, nicht röhrigen, nackten, leicht sich spaltenden Primitivfasern der grauen Bündel des Sympathicus!). In seiner Dissertation (1838) und 1) In $ 6 seiner Dissertation schildert er diese organischen Fasern 470 Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenfasern u. Nervenzellen. deren deutschem Auszug hat er seine früheren Befunde zusammen- gefasst und noch neues hinzugefügt. Am bedeutungsvollsten ist der Befund, dass die organischen Fasern (der sympathischen Knoten) aus der Substanz der gekernten Ganglienkugeln entspringen, sie könnten auch entstehen, indem von mehreren Punkten der Kugeln feinste Fasern heraustreten und deutlich in organische Fasern über- gehen. Schließlich sei noch Rosenthal, ein Schüler Purkinje’s, er- wähnt, in dessen Dissertation sich, wohl nach des Meisters Vorbild, zum erstenmal die Ausdrücke eylindri axis, Achsencylinder und vagina medullaris, Markscheide, finden. — Das harte Urteil Stieda’s über Remak kann ich nicht teilen, mir scheint er den anderen weit überlegen gewesen zu sein, und speziell aus Valentin’s eitierter absprechender Aeußerung vermag ich nur zu entnehmen, wie unange- nehm ihm dieser überlegene Kopf war. So weit waren die Untersuchungen über den Bau von Nerven- fasern und -zellen gediehen, als Joh. Müller’s Schüler Schwann seine bahnbrechende Arbeit: „Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Tiere und Pflanzen“, Berlin 1838, veröffentlichte. Er schließt sich hinsichtlich des Baues der Nervenfasern eng an Remak an und beschreibt die Kerne der nach ihm benannten bindegewebigen Scheide. In Betreff ihrer Entstehung finden sich bei ihm die ersten Angaben. Jede Nervenfaser sei „in ihrem ganzen Verlauf eine sekundäre Zelle, entstanden durch Verschmelzung primärer, miteinem Kern versehener Zellen“. Ferner: „Die Nerven wachsen weder von der Peripherie nach dem Centralorgan, noch von dem Centralorgan nach der Peripherie hin, sondern ihre primären Zellen sind unter den Zellen enthalten, aus denen sich jedes Organ bildet und die wenigstens dem Ansehen nach noch indifferent sind“. Beides Auffassungen, die lange herrschend blieben, seit etlichen Jahren aber als endgültig widerlegt gelten können. Weiter heisst es: „Die Ganglien- kugeln sind Zellen, und die äußere Haut ist ein wesentlicher Be- standteil derselben, nämlich die Zellmembran; diese ist vollkommen strukturlos.. Das Parenchym ist der Zelleninhalt, und das Bläschen als „non tubulosae, id est, vagina aliqua circumdatae, sed nudae —, eximie pellueidae, quasi gelatinosae, tubulis primitivis plerisque multo tenuiores, in superficie fere semper lineas longitudinales praebentes, in fila tenerrima facile se dissolventes, in deeursu frequentissime nodulis ovalibus praeditae, et corpus- eulis quibusdam parvis ovalibus vel rotundis, raro irregularibus, simpliciter vel multiplieiter nucleatis, quoad magnitudinem nucleos globulorum nuclea- torum fere adaequantibus, plus minus large obtectae“. — Der richtigen Erkenntnis über der Natur der sogenannten Schwann’schen Scheide kam er, wie man sieht, damals sehr nahe. Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. 471 in denselben ist der Zellenkern, die kleinen Körperchen in diesem Bläschen sind die Kernkörperchen.“ Zum Schlusse dieser Periode gedenkt Stieda noch eingehend der Verdienste Hannover’s. Einmal hat er nach Jacobson’s Beispiel die Chromsäurelösung zur Erhärtung des Nervensystems angewandt, zum andern hat er auf Grund seiner Untersuchungen angeführt, „dass der Ursprung der Gehirnfasern von den Gehirnzellen und ihre durch das ganze Leben bleibende Verbindung mit jenen Centralgebilden (ihm) augenblicklich mehr als wahr- scheinlich“ sei. Von dem Primitivband meint er, es sei glatt, auch wahrscheinlich eine hohle Röhre. Da Hannover angiebt, es entsprängen im allgemeinen zwei Fasern in einer Zelle, so muss das doch etwas misstrauisch gegen seine Angaben machen, wenngleich er sicherlich Achseneylinder hat entspringen sehen. Sein Verdienst scheint mir von Stieda gegenüber Remak’s zu sehr hervorgehoben. Remak selbst war es, der zuerst Hannover's Angaben eitierte (1840) und solche Details angab für sympathische Ganglienzellen, dass kein Zweifel daran sein kann, dass er thatsächlich den Zusammenhang mit dem Achseneylinder gesehen. Was uns der Verfasser über die Lehrbücher jener Zeit berichtet, zeigt uns Valentin von einer sehr wenig günstigen Seite, Henle als alle andern an Klarheit und Objektivität weit überragend. Ganz merk- würdig sind As. Hassal’s Anschauungen (englisch 1846, deutsch 1850—52 erschienen), der zu dieser Zeit noch die Nervenfasern als mit halbflüssiger Substanz, dem Nervenfluidum, gefüllte Röhren, die Markkugeln und Tropfen als Zellen auffasst und die Ganglienzellen für Drüsen hält. Noch 1842 leugnete B. Stilling, dieser um die Nervenanatomie sonst so verdiente Forscher (mit Wallach), das Vor- handensein von Nervenzellen („Ganglienkugeln“) im ganzen Rücken- mark. Doch schon 1843 hat er seine Meinung geändert, wenn er auch die Zellen nicht als „Ganglienkugeln“ gelten lässt, sondern sie „Spinal- körper“ nennt, und große, mittlere und kleinste unterscheidet. Seinen theoretischen Standpunkt möge das folgende Citat kennzeichnen: „Längs des ganzen Verlaufs des Rückenmarks sehen wir in der vor- deren grauen Substanz die auffallenden Spinalkörper eingelagert und in den hinteren die gelatinöse Substanz; die hinteren Spinalnerven- wurzeln gehen durch die gelatinöse Substanz, die vorderen durch die Spinalkörperschicht; dass die gelatinöse Substanz mit der Em- pfindung, die Spinalkörper mit der motorischen Kraft in Be- ziehung stehen, müsste hieraus sich unzweideutig ergeben, obgleich wir die näheren und nächsten Beziehungen der Nerven- wurzeln zu jener Substanz noch nicht kennen.“ Trotz ihrer bahnbrechenden Bedeutung für die Beziehungen der Nerven zu der grauen Substanz des Centralsystems zeigen auch spätere 479 Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. Arbeiten B. Stilling’s hinsichtlich unseres Themas kein Fortschreiten seiner Ansichten. Als Entdecker des Zusammenhangs zwischen Nerven- zellen und Nervenfasern bei Wirbellosen hat man Helmholtz, 1842, bei Wirbeltieren Kölliker, 1844, vielfach angesehen, der Verf. meint, Hannover für den Entdecker der Idee des Zusammen- hangs zwischen Zelle und Faser halten zu müssen, während Kölliker als der erste die Wahrheit dieser Idee durch den thatsächliehen Befund bewiesen habe. Wir möchten Remak die größte Bedeutung für die Lösung dieses Problems zuerkennen, schon weil er Helmholtz angeregt hat. Von dessen Darstellung sei der entscheidende Passus wieder- gegeben: „Quae caudae |sc. cellularum] sunt eylindricae, ejus- dem latitudinis ac fibrillae nerveae, modo paullatim dilatatae in cellulam transeunt, modo ubique aequales eis insidunt; initium eorum paullum econtinet materiae granulosae!) qua cellula repletur, partes distantes fibrillis nerveis sunt simillimae aspeetu.“ Bald wurden Helmholtz’ Befunde bei Evertebraten bestätigt. Auch Hannover trat 1842 mit einer großen Abhandlung hervor und gab auch Abbildungen des Zusammenhangs von Nervenfasern und -Zellen von Wirbeltieren; da er aber den Uebergang in Fasern mit Mark- scheide nicht beobachtete, glaubte Kölliker, er habe nur lange, blasse Fortsätze der Ganglienkugeln [Dendriten] gesehen; an anderen Stellen erkennt indes Kölliker Hannover’s Befunde vollständig an. Kölliker selbst urteilte 1844 zunächst: „Was den Ursprung der Remak’schen Fasern betrifft, so kann man es mit Volkmann als vollkommen ausgemacht betrachten, dass sie nicht, wie Remak er- achtete, von den Ganglienkugeln, sondern von der Scheide derselben abstammen und eine Fortsetzung derselben sind“, sie seien unaus- gebildete Zellgewebsbündel; er bestätigte die Ergebnisse Bidder’s und Volkmann’s, dass ein großer Teil der feinen Fasern des Sympathicus nicht aus den Rückenmarksnerven stamme, und behauptete, „die feinen Fasern entspringen in den Ganglien nicht mit End- schlingen oder mit freien Endigungen, sondern als ein- fache Fortsetzungen der Ausläufer der Ganglienkugeln; mit anderen Worten, die Fortsätze der Ganglienkugeln sind die Anfänge dieser Nervenfasern“. Inden Spinalganglien des Frosches hat er gesehen, wie „dieser Fortsatz ziemlich plötzlich, doch ohne dass eine scharfe Grenze festzusetzen wäre, eine andere Natur annimmt, er bekommt dunkle Konturen, leicht granulierten Inhalt und wellige Ränder, mit einem Wort, er wird zu einer feinen Nervenfaser“. Auch im Rückenmark von Fröschen sah er den Zu- sammenhang. Bei allen Ganglienzellen nimmt er ihn nicht an, sondern 4) Vom Ref. gesperrt. Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfaserın. 473 führt auch „freie Ganglienkugeln“ auf. Von Reichert wurden Köl- liker’s Angaben bestätigt, ebenso anerkennend beurteilt von Valentin und Volkmann. 1846 hat dann Kölliker, nachdem inzwischen von Harless und Budge der Zusammenhang bestätigt war, einen weiteren, bedeutungsvollen Schritt gethan, der in folgendem sich ausgedrückt findet: „Comme ces prolongements |des cellules nerveuses] ont parfaite- ment le m&me aspect et la m&me structure que les nerfs primitivs de la queue des larves des Batraciens et se ramifient et terminent ausi exactement de la m@me maniere, l’on pourrait en conclure, que ces prolongements sons de vraies fibres nerveuses, qui au lieu d’ötre destinges & des organes exterieures, servent a mettre en relation di- verses parties du systöme nerveux lui-m&me, ... .“ Robin (1847) hat dann die bipolare Natur der Spinalganglien- zellen der Rochen zuerst nachgewiesen, wobei er 'allerdings diese Zelle nur als „un renflement ou une dilatation spheroidale du tube“ ansah. Das Gleiche hat, ebenfalls für Selachier, R. Wagner dargethan, wobei er von einem Ursprung zweier Primitivfasern von jeder Zelle spricht. In einer zusammenfassenden späteren Arbeit aber präcisiert er auffallenderweise seine Ansicht dahin, dass die peripherischen Ganglienkörper (-Zellen) „in den Verlauf der Pri- mitivröhren eingeschobene Elementarorgane“ seien. Und auch Bidder, der ganz unabhängig von R. Wagner arbeitete, kam zu den also Befunden, die er so deutete, dass die Ganelien kugeln innerhalb der Nervenfasern laser In der gleichen Arbeit wendet Bidder sich energisch gegen die An- erkennung, die Kölliker’s uns jetzt so beweisend erscheinende An- gaben gefunden! Sie hätten die fragliche Angelegenheit durchaus nicht weiter geführt, als das durch Helmholtz, Willund Hannover bereits geschehen war; — ein Protest, der um so merkwürdiger ist, da Kölliker selbst speziell Hannover’s Untersuchungen, von der einen Stelle abgesehen, alle Anerkennung gezollt hatte und sich die Angaben Helmholtz’ und Will’s auf Wirbellose bezogen. Ihm selbst wollte es nicht gelingen, zu der Ueberzeugung vom Ursprung der Nervenfasern von den Kugeln in Gehirn und Rückenmark zu ge- langen, so viel Mühe er sich auch gab, ihn zu finden. Beim Gangl. trigemini des Hechtes hat er ihn dann gefunden. Dass er zu dieser Zeit noch meint: „Das sogenannte Primitivband oder den Achsen- eylinder und die Markscheide kann ich für nichts anderes als für den optischen Ausdruck verschiedener Stufen derjenigen Metamorphose der Zersetzung halten, welcher der Inhalt toter Nerven unvermeidlich unterliegt“, sei als typisches Beispiel dafür angeführt, wie schwer es oft gehalten, jetzt uns so einfach erscheinende Dinge zur allgemeinen Geltung zu bringen. Bidder’s andere Untersuchungen auf unserem 474 Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. Gebiet blieben fruchtlos, da er zu sehr voreingenommen von den Be- funden an den sensibeln Fischganglien an dieselben herantrat. Er glaubte, dass sich die Ansicht rechtfertigen ließe, dass das fetthaltige Kontentum der Nervenröhren von den Kugeln ausgeht, vielleicht als ein Absonderungsprodukt derselben zu betrachten sei. Der Physiologe Volkmann hat sich von der Richtigkeit von Bidder’s mit E. Reichert ° gemeinsam gewonnenen Ansichten überzeugt und meint in einem Nach- trag, es könne „von einem Entspringen der Nervenfasern von den Ganglienkugeln kaum noch die Rede sein, wenigstens in dem Sinne nicht, wie man bisher das Entspringen sich vorzustellen pflegte“! Für die peripheren Ganglien ward der Zusammenhang noch von anderen bestätigt, für das Centralorgan sollte ernoch lange strittig bleiben. Gegenüber Bidder hielt Kölliker seine Auffassung 1849 ganz aufrecht, betonte, dass es im Prinzip nur einerlei Nervenfasern gäbe, wie er schon 1844 behauptet, die sich nur durch ihr Kaliber unter- schieden; er hielt ferner an der Existenz freier Ganglienkugeln fest und ließ an peripherischen wie bei centralen Nervenzellen die struktur- lose Hülle in die der Nervenfasern übergehen. Bei letzterer Anschauung stand er eben auf dem allgemeinen Standpunkt jener Zeit, dass jede Zelle eine Membran habe. Der Verf. wendet sich auch jetzt wieder den Lehrbüchern jener Zeit zu, denen J. Gerlach’s von 1848 und Kölliker’s von 1850. J. Gerlach sieht in den Nervenfasern Röhren, von dem zähen, sehr dick- flüssigen Mark erfüllt, daneben erkennt er die Remak’schen organischen Fasern an. Die Nervenzellen haben eine dünne Membran, die im Central- organ keine bindegewebige Scheide. Er hält es für wahrscheinlich, dass die „langen, sich zahlreich verästelnden Fortsätze einiger Ganglien- kugeln größtenteils frei endigen und dazu dienen, zwischen entfernten Teilen des centralen Nervensystems eine Ver- bindung herzustellen“. 1852, in der zweiten Auflage, nimmt er die Existenz des Achseneylinders als selbständiges, morphologisches Gebilde, welches sich konstant in jeder Nervenfaser findet, an und hält ihn physiologisch wohl für den wichtigsten Teil der Faser. Hier finden sich auch zuerst die Ausdrücke unipolar, bipolar und multi- polar für verschiedene Formen der Nervenzellen. Kölliker's Lehrbuch von 1850 fasst in vorzüglicher Weise das Wissen seiner Zeit zusammen. Hervorgehoben sei die Unterscheidung in markhaltige und marklose Nervenfasern, ferner dass er Kerne im Neurilemm gesehen, schließlich die grundlegenden Ausführungen über die topographische Verteilung der verschiedenen Nervenzelltypen. Dass die Fasern auch im Gehirn von den Zellen entspringen, davon scheint Kölliker fest überzeugt, wenn er auch an einer Stelle sich die Zellen der Ganglien nur durch den Zusammenhang mit den Nerven- röhren von denen der Oentralorgane unterscheiden lässt. Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. 475 Im Gehirn von Sphyrna hat dann 1851 Fr. Leydig den Zu- sammenhang der Achsencylinder und Ganglienzellen präcise beobachtet und abgebildet. „Der Ausläufer einer Ganglienkugel setzt sich als Achsencylinder fort, der nach längerem Verlauf, nachdem eine Fett- scheide mit aufgetreten war, sich jetzt als doppelt kontourierte Nerven- fibrille zeigt.“ Hier äußert er auch sehr berechtigt Bedenken gegen eine Membran der Gehirnnervenzellen. Gratiolet untersuchte das Rückenmark und beschrieb 1852, dass die fein verzweigten Ausläufer der Vorderhornzellen als unregelmäßiges Maschenwerk zusammenhingen und mit diesem die Fasern der Vorder- stränge und der vorderen Wurzeln verbunden seien. In die fünfziger Jahre (und Anfang der sechziger) fallen auch eine Reihe unter Bidder’s Leitung in Dorpat entstandene Arbeiten, deren Resultate F. Bidder mit ©. Kupffer im Jahre 1857 zusammen- gefasst hat: E. G. Sehilling (1852) behauptete, dass sowohl die Längsfasern der weißen Substanz des Rückenmarks, als auch die der vorderen Wurzeln aus den Vorderhornzellen entsprängen. Von Ph. Owsiannikow’s seiner Zeit wegen des einfachen Sche- mas des Fischrückenmarks, das er aufstellte, berühmter Arbeit sei erwähnt, dass er alle ins Rückenmark eintretenden Fasern mit Ganglien- zellen verbunden sein ließ und dass er nur einerlei Nervenzellen im Fischrückenmark fand, von denen je ein Fortsatz zöge: zur vorderen Wurzel, zur hinteren Wurzel, durch die vordere Kommissur zu einer Zelle der anderen Seite, zu einer Zelle der gleichen Seite und ein fünfter zum Gehirn! Die ganz tollen Täuschungen dieser Dissertation werfen ein sehr bedenkliches Licht auf Bidder’s Beobachtungsgabe und scheinen dem Referenten durchaus nicht mit der unvollkommenen Technik jener Zeit entschuldbar; dass Stieda, als alter Dörpter, geneigt ist, diesen Fall milde zu beurteilen, ist ja menschlich sehr wohl zu verstehen. Dass auch ein so vorzüglicher Beobachter, wie ©. von Kupffer, damals das gleiche Schema beim Frosch, wenn auch mit Reserve, aufstellte, zeigt, dass Bidder die Verantwortung zu tragen hat. Für die Vögel ließ sich derselbe ebenfalls in einer Dissertation sein Schema bestätigen und das Vorhandensein nur einer Art von Nervenzellen, während alle anderen Zellen Bindegewebszellen seien. Von der zusammenfassenden, starr an der alten Ansicht festhaltenden Arbeit von 1857 sei nur die eine gute Erwägung erwähnt, die bei dem Stand- punkt Bidder’s, der ja die Zellen entweder in Erweiterungen der Primitiv- röhren oder in Lücken der grauen Substanz eingelagert sein lässt, viel- leicht auf des Altmeisters embryologischer Forschung, C. v. Kupffer’s Mitarbeit zurückzuführen ist. Nachdem festgestellt ist, dass dieNerven- fasern nicht durch Verwachsung längsgeordneter Zellen 476 Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. entstehen, wie es Schwann seiner Zeit gelehrt, heißt es: „Will man nicht dem Gebäude der Morphologie die Grundlage rauben, indem man den Satz negiert, dass jedes Formelement aus der Zelle hervorgeht, will man also nicht etwa behaupten, dass die Nervenfaser durch Gerinnung aus einem flüssigen Blastem entsteht, so dürfte wohl die Annahme den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit beanspruchen, dass die Nervenzelle mit den Bedingungen ausgerüstet sei, die Faser als direkten Fortsatz aus sich hervorgehen zu lassen, ohne dass eine Beteiligung anderer Bildungszellen im Verlauf der Faser, in der Konstruktion der Elemente, wie es in der ersten Zeit des Em- bryonallebens erscheint, ersichtlich ist. Jede Faser müsste dem- nach .... morphologisch betrachtet, nur als ein kolossaler „Ausläufer“ der Nervenzelle aufgefasst werden... .“ Die Arbeiten Jacubowitsch’s, deren letzte 1857 erschien, der nicht direkt als Bidder’s Schüler gelten kann, seien nicht als Wahr- heit und Diehtung, sondern nur als Diehtung zu bezeichnen, urteilt Stieda. Bidder’s Schema ward von R. Wagner modifiziert und durch Festhalten der kleinen Hinterhornzellen brauchbar gemacht und ver- breitet. In zwei zusammenfassenden Arbeiten hat dieser 1854 seinen Standpunkt dargelegt. Im Gehirn findet er nur multipolare Zellen. Ueber das Rückenmark giebt er an: a) ein Teil der rein sensibeln Fasern steigt direkt zum Gehirn hinauf, b) ein zweiter Teil geht zu den kleinen, multipolaren Zellen der Hinterhörner, und von diesen gehen Fortsätze zum Gehirn und zu Zellen der anderen Seite, ce) ein dritter Teil geht zu den großen, multipolaren Zellen der Vorderhörner, d) von diesen gehen die motorischen Fasern der vorderen Wurzeln ab, ferner Fasern zum Gehirn und durch die vordere Kom- missur zu Zellen der anderen Seite. „Alle Innervationserscheinungen im Gehirn und Rückenmark be- ruhen auf einer für viele Verhältnisse geometrisch geordneten ana- tomischen Verbindung von multipolaren Ganglienzellen untereinander und auf dem Ursprung von Nervenfasern aus solchen Ganglienzellen mit Ausschluss aller direkten Verbindung von je zwei und mehr Primitivfasern unter sich selbst.“ Das Prinzip der Kontinuität ist hier fest und klar ausgesprochen. Die Anerkennung Wagner’s und die sogar eines Fr. Leydig, ebenso nicht die Modifikation Wagner’s am Bidder’schen Schema hat verhindern können, dass rasch dies Gebäude der Bidder’schen Schule morsch wurde. Schroeder van der Kolk (1857) untersuchte in Alkohol ge- Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. 477 härtete mit ammon. Karmin gefärbte, aufgehellte Schnitte und fand vielerlei Wichtiges, hat sich aber auch vielfach geirrt, namentlich bei seinen Angaben über die Verbindungen der Nervenzellen untereinander. L. Clarke, der schon 1851 die Aufhellung mit Terpentinöl und den Einschluss in Kanadabalsam, wohl als erster, vorgenommen, konnte zunächst nieht einen direkten Zusammenhang von Nervenzellen und Fasern beobachten. Damals hat er auch auf die seither als Clark’sche Säulen bekannten Zellengruppen die Aufmerksamkeit gelenkt. Später bezeichnet er den Zelien-Faserzusammenhang als wahr- scheinlich. Mit Clarke’s Methode arbeitete J.v. Lenhossek, der 1855 den engen Zusammenhang der feinsten Verzweigungsnetze der Ganglien- zellen des Rückenmarks eine längst gemachte Beobachtung nennt. Er hat den Zusammenhang von Zellen mit Primitivfasern in einzelnen Fällen auf seinen Schnitten beobachten können; einen Teil der Fasern lässt er aus der grauen Substanz direkt hervorgehen. In dieser Zeit trat auch Remak wieder hervor. Er bestritt den Zusammenhang der Zellen des elektrischen Lappens von Torpedo, wie ihn R. Wagner angegeben, und machte Angaben über den Faser- verlauf im Rückenmark, die sich im allgemeinen später nicht bestätigt haben, dann aber kommt folgende wichtige Stelle: Die Zellen der Spinalganglien seien nur bipolar, nie multi- polar. Weit häufiger sehe man Zellen mit einfachem Fortsatz: wahr- scheinlich') teilt sich derselbe nach kurzem Verlauf in zwei Fasern. Die Zellen der sympathischen Ganglien seien multipolar. 1855 aber hat er folgendes geschrieben: „Ebenso will ich hier vorläufig ein gesetzmäßiges Verhalten erwähnen. Ich habe nämlich Mittel gefunden, festzustellen, il. dass jede Zelle mit einer motorischen Nervenfaser in Verbin- dung tritt; 2. dass die übrigen centralen Fortsätze sich physikalisch und chemisch von jenen Fasern unterscheiden . . .“ Damit hat Remak die fundamentale Entdeckung Deiters’ für die motorischen Vorderhornzellen vorweg genommen — es ist mir un- verständlich, warum ihm Stieda dies Verdienst schmälern und ihn mit Bidder in einen Topf thun will. Gegen das einfache Bidder’sche Schema wandte sich eine Reihe von Autoren. Zunächst wird vom Verfasser Stilling besprochen, dessen Angaben über unser Thema „durchgängig auf Täuschung und 4) Bei Stieda steht versehentlich, unwahrscheinlich. Bei Remak (Ber. k. pr. Akad. d. Wiss. 1894, p.28) folgt der Satz: „Mindestens finde ich in den Spinalganglien der Säugetiere (des Rindes) nicht selten Teilungen dunkel- randiger Nervenfasern, die ich bei Plagiostomen vermisse,“ 478 Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. auf Irrtum des Verfassers beruhten“, während ja seine sonstigen Ver- dienste um die Kenntnis des Centralnervensystems allbekannt sind. Mit aller Entschiedenheit wandte er sich gegen Bidder’s An- sicht, dass sensible und motorische Nervenprimitivfasern aus einer Zelle des Vorderhorns entsprängen. „Von so bestimmt ausgesprochenen Behauptungen, die sich schroff entgegenstehen, muss notwendig eine falsch sein; auf einer der beiden beobachtenden Parteien muss das Unrecht sein. Die Zukunft wird entscheiden, wer richtig beobachtet hat, Bidder (und dessen Schüler) oder ich.“ Längst ist diese Ent- scheidung gefallen gegen Bidder. Auch A. Kölliker (1858) wandte sich entschieden gegen die Dorpater Schule, ebenso J. Gerlach, der damals (1858) nach vier- jähriger Prüfung seine Karminfärbemethode veröffentlichte und ein- dringlich empfahl. Er trat für eine eigenartige Verbindung der Nervenfasern und Zellen (der Körnerschicht und der sogen. Pur- kinje’schen) des Cerebellums ein. Nach Untersuchungen am Hecht, mit Hilfe der Gerlach’schen Methode durchgeführt, wandte sich bald auch L. Mauthner (1859) gegen die Befunde Bidder’s und Owsian- nikow’s. Sein bald darauf veröffentlichter Versuch, die Ganglien- zellen nach ihrem Verhalten gegen Karmin einzuteilen, ist als ganz verfehlt zu betrachten, und ebenso ist es eine Täuschung gewesen, wenn er „sowohl aus dem Kern einer weißen Zelle im Großhirn des Hechts, als auch aus dem Kern zweier Ganglienkugeln aus den Vagus- ganglien des Kalbes Fortsätze entspringen“ zu sehen glaubte. Auch sonst enthalten seine Angaben auch für jene Zeit viele eigenartige, irrtümliche Ansichten. Kurz werden dann von Stieda die Arbeiten Fr. Goll’'s, J. Dean’s und J. C. Vogt’s angeführt, ausführlicher verweilt er bei Reißner (Dorpat) und seinen Schülern, zu denen er selbst gehörte. Das Bidder’sche Schema konnte in keiner einzigen Be- ziehung bestätigt werden. Ein Zusammenhang der Vorderhornzellen mit den vorderen Wurzeln galt als sicher, ein solcher mit den hinteren Wurzelfasern, auch einer zwischen Zellfortsätzen der einen Seite mit denen der anderen wurde niemals beobachtet, aber ebenso auch nie Anastomosen der Nervenzellen untereinander. Speziell L.Stieda hat den Zusammenhang der hinteren Wurzeln mit den Nervenzellen der Hinterhörner scharf bestritten: ... „Die Fasern der hinteren Wurzeln sind nicht auf die kleinen Zellen der Hinter- hörner, sondern auf die Längsfasern der Hinterstränge zurückzuführen“ — eine Auffassung, die nun schon lange als richtig bestätigt ist, nachdem ihr anfangs wenig Glauben geschenkt worden war. Nachdem der Verfasser an der Hand der vierten Auflage (1863) von A. Kölliker’s (der schon lange besondere Aufmerksamkeit dem Nervensystem zugewandt, ein Gebiet, in dem er bis in unser Jahr noch Stieda, Gesch. d. Entwickl. der Lehre von Nervenzellen u. Nervenfasern. 479 uns wichtige Entdeckungen geschenkt hat) Gewebelehre den damaligen Stand der Lehre vom Bau der Nervenfasern und -Zellen dargelegt, wendet er sich zu dem verdienstvollen, so jung verstorbenen Deiters, dessen „Untersuchungen über Gehirn und Rückenmark des Menschen und der Säugetiere“ nach seinem Tode Max Schultze 1875 herausgegeben hat. Nur Deiters’ Theorie der Nervenzelle haben wir hier ins Auge zu fassen. Er schreibt: „Ich finde die Grundzüge einer Theorie der centralen Ganglienzellen in der Anschauung von Remak, dass Jede Zelle nur mit einer motorischen NervenwurzelinVer- bindung tritt und dass diese eine Faser chemisch und physiologisch von allen übrigen Fortsätzen unterschieden ist; und weiter in einer daran sich schließenden Hypothese von M. Schultze, dass eine gewisse Zahl feiner, aus verschiedenen Ganglienzellen entsprungener Fortsätze sich da und dort zu einem Bündel ver- einigen, welches später Achseneylinder einer markhaltigen Nervenfaser wird.“ „Der Körper der Zelle,“ heisst es weiter, „setzt sich ohne Unterbrechung in eine mehr oder weniger große Zahl von Fortsätzen fort, welche sich mannigfach in langen Zügen und in oft wiederholten Teilungen verästeln, und in welche sich das körnige, oft sogar das pigmentierte Protoplasma unmittelbar verfolgen lässt, die also direkt als dessen Fortsätze erscheinen, die sich zuletzt in eine unmessbare Feinheit auflösen und sich in die poröse Grundmasse verlieren, welche mit solchen feinsten Fortsätzen nur in Fetzen hängend erkannt wird. Diese Fortsätze, die in keiner Weise, auch in ihren letzten, unveränderten Verästelungen als beginnende Achseneylinder eines sich aus ihnen entwickelnden Nervenfadens anzusehen sind, nenne ich im folgenden der Bequemlichkeit wegen Protoplasma- fortsätze. Von diesen unterscheidet sich auf den ersten Blick ein ausgezeichneter einzelner Fortsatz, der entweder vom Körper der Zelle, oder, was auch vorkommt, von einem der größeren Protoplasmafort- sätze unmittelbar in der Wurzel desselben entspringt. Dieser eine Nervenfaser- oder Achsencylinderfortsatz lässt allerdings in seinem ersten Anfang noch die Körner des Protoplasmas erkennen, in das er sich verliert, denn es ist kein scharfer Absatz da, aber so- bald er sich von dem Zellenkörper entfernt, erscheint er gleich als eine starre hyaline Masse, viel resistenter gegen Reagentien, überhaupt anders sich gegen diese verhaltend und von Anfang an nur un- verästelt.“ Daneben findet er an vielen Protoplasmafortsätzen feine, leicht zerstürbare, von den Achseneylindern feinster Nervenfäserchen keine Abweichung zeigende, meist seitlich mit einer dreieckigen Basis auf- sitzende Fortsätze, an denen er in seltenen Fällen einen dunkeln Kontur erkennen konnte. Er sieht in diesen ein zweites System abgehender 480 Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege. Achseneylinder. „Soerscheinendenndie Ganglienzellen alsCentral- punkt für zwei Systeme echter Nervenfasern, einer meist breiteren, immer einfachen und ungeteilten Faser und eines zweiten ausgedehnten Systems von kleinsten Fäserchen, die an den Protoplasmafortsätzen angeheftet sind.“ Wie er sich deren Verlauf genauer vorstellt, darüber giebt uns Deiters keine genauere Auskunft: Eine Verbindung der Zellen in Form von Protoplasmafort- sätzen bestreitet er entschieden, wohl aber meint er, diese feinen nervösen Fasern könnten eine solche Verbindung herstellen; an anderer Stelle hält er es für probabel, dass durch Vereinigung solcher feinster Fasern diekere Nervenfasern entstehen könnten. Die hinteren Wurzel- fasern fasst er als Achsencylinder von Hinterhornzellen auf, er hat aber auch an eine zweite Möglichkeit der Verbindungen gedacht, nämlich mit den sogenannten Protoplasmafortsätzen sensibler Zellen. Gegen die Reflexschemata der Physiologen nach Art der von Bidder und Funke spricht er sich scharf aus. Soweit geht Stieda’s eingehende Darstellung. Hoffen wir, dass er bald den zweiten Teil, von Deiters bis zur Gegenwart, folgen lässt. Erlangen, Dezember 1901. A. Spuler. 122] Bei der Redaktion eingegangene Werke. (Nähere Besprechung einzelner vorbehalten.) O0. Zacharias, Forschungsberichte aus der Biologischen Station zu Plön. Teil 9. Mit 2 Tafeln und 27 Abbildungen im Text. 8. 111 Stn. Stuttgart, Erwin Nägele. F. Pfuhl. Der Unterricht in der Pflanzenkunde, durch die Lebensweise der Pflanze bestimmt. Gr. 8. VIII u. 223 Stn. Leipzig, B.G. Teubner. Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege. Die Jahresversammlung wird vom 17. bis 20. September in München stattfinden, unmittelbar vor der am 22. September beginnenden Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Karlsbad. Folgende Verhandlungsgegenstände sind in Aussicht genommen : 1. Die hygienische Ueberwachung der Wasserläufe. 2. Die Wechsel- beziehungen zwischen Stadt und Land in Bezug auf ihre Gesundheits- verhältnisse und die Sanierung der ländlichen Ortschaften. 3. Feuchte Woh nungen: Ursache, Einfluss auf die Gesundheit und Mittel zur Abhilfe. 4. Der Einfluss der Kurpfuscher auf Gesundheit und Leben der Bevölkerung. 5. Das Bäckergewerbe vom hygienischen Standpunkt für den Beruf und die Konsumenten. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches CGentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXII Band. 15. August 1902. Nr. 16 und 17. Inhalt: Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich (Schluss), — Moll, Die Mutationstheorie. — hLauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasser- schwamm. — Zacharias, Einige Beispiele von miassenhafter Vermehrung gewisser Planktonorganismen in flachen 'Teichen. — Bei der Redaktion einge- gangene Werke. Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Von K. Goebel. (Schluss.) h Um später (bei Besprechung der Anordnungsverhältnisse bei der Regeneration) nicht auf diesen Fall zurückkommen zu müssen, sei noch Folgendes bemerkt. Wie wir sahen, tritt die Ersatzbildung für die Spreite stets am apikalen Ende des Blattstieles auf, während Neu- bildungen an abgeschnittenen nicht mit Sprossvegetationspunkten aus- gerüsteten Blättern sonst an deren Basis sich bilden. Diese Neu- bildungen sind aber im letzteren Falle Wurzeln und Sprosse, während es sich bei Cyelamen gar nicht um eine Neubildung am Blatte han- delt, sondern nur um eine „Aktivierung“ eines Teiles der Blattanlage, der sonst sich nicht weiter entwickelt. Der Blattstiel ist, wie die ver- gleichend entwieklungsgeschichtliche Betrachtung zeigt‘), nichts anderes als ein „verschmälerter und stark verlängerter Teil der Blattspreite“, verschmälert deshalb, weil an seinem Rande die Spreite nicht aus- wächst. Wir können also leicht verstehen, warum bei der hegene- ration gerade am Rande des Blattstieles das Auswachsen stattfindet, und es ist ferner zu erwarten, dass dies stets am oberen Ende ge- schieht, denn auch die normale Spreitenentwicklung erfolgt hier, sie ist bei den Dikotylen (abgesehen von wenigen Ausnahmefällen) an der Spitze am meisten gefördert und erlischt allmählich nach der Basis hin, die ganze Blattanlage ist von vornherein so disponiert, dass in ihrem oberen Teile die Spreitenbildung erfolgt. An dieser Polarisierung 1) Verel. Goebel, Organographie p. 500, XXI. ol AS2 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. nimmt, wie der Versuch zeigt, auch der Blattstiel teil. Er ist der- jenige Teil der Blattanlage, an welchem — wenn es sich um ein un- gestieltes Blatt handeln würde — die Ränder zur Spreitenbildung aus- gewachsen wären, nachdem diese im oberen Teil der Blattanlage (der jetzt allein vorhandenen Spreite) schon angelegt war, und zwar würden die untersten Teile zuletzt diese Entwicklung zeigen. Entferne ich nun die Blattspreite‘), so entwickelt sich die gehemmte Spreite zu- nächst an der Stelle, wo die (normal gehemmte) Disposition zur Spreiten- bildung am stärksten war, d.h. nahe der Wundstelle. Wie ersichtlich, bieten die Regenerationserscheinungen hier zugleich einen schönen ex- perimentellen Beleg für die Richtigkeit der aus entwicklungsgeschicht- lichen Thatsachen abgeleiteten Anschauung über die morphologische Bedeutung des Blattstieles. Das Regenerationsvermögen ist bei Cyclamen nicht auf die Blatt- spreite beschränkt. Auch die Sprossachse ist damit ausgestattet?), was jedenfalls dadurch erleichtert wird, dass sie mit Reservestoffen aus- gerüstet ist. | Es wurde zunächst an Keimpflanzen, deren erstes Blatt ganz an der Basis abgeschnitten war, beobachtet, dass unterhalb desselben eine Anzahl neuer Blätter auftraten. Die Untersuchung ergab, dass an derartigen Keimpflanzen der Vegetationspunkt und auch Gewebe unter- halb der Spitze abgestorben war, es hatte sich hier eine Vertiefung gebildet, die von Wundkork ausgekleidet war. Eine Regeneration des Vegetationspunktes, wie sie von anderen Pflanzen bekannt ist und von Winkler auch für Cyelamenkeimpflanzen nachgewiesen wurde, war nicht eingetreten. Die Erscheinung ließ sich auch künstlich her- vorrufen, wenn der obere Teil des Knöllehens mit sämtlichen Blatt- ansätzen durch einen Querschnitt entfernt wurde, es trat dann nach 2); Wochen zunächst an einzelnen der operierten Keimlinge die Neu- bildung von Blättern etwas unterhalb der Wundstelle auf. Fig. 14,1 zeigt eine Keimpflanze, bei der der Gipfel soweit ab- getragen war, dass keine Blattbasen mehr vorhanden waren. Es haben sich nahe dem Rande der Wundfläche vier Blätter gebildet verschiedenen 4) Die Annahme, welche besondere organbildende Stoffe annimmt, könnte weiterhin dahin ergänzt werden, dass diese nicht nur bei der Entstehung eines Organes in Betracht kommen, sondern auch bei der Funktion desselben eine Rolle spielen und bei derselben verbraucht, vom embryonalen Gewebe aus ständig ergänzt werden müssen. Wenn ein Organ außer Funktion tritt, findet diese Ergänzung auch nieht mehr statt, es tritt dann Verkümmerung ein. Diese Annahme würde manche Erscheinungen auch bei der tierischen Regeneration unter einen Gesichtspunkt zusammenfassen lassen. 2) Winkler hat nach der Entfernung des Vegetationspunktes und des Primärblattes Neubildungen an dessen Basis, nieht aber am Hypokotyl beob- achtet. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 483 Alters, das älteste ist dadurch abnorm gestaltet, dass es schildförmig ist. (Auch sonst beobachtete ich mehrfach abnorme Gestaltung des ersten regenerierten Blattes, z. B. Bildung eines an der Spitze mit zwei Spreiten versehenen Doppelblattes u. s. w.) Man würde nun zu- nächst vermuten, es handle sich um vier Sprossvegetationspunkte, welche je ein Blatt gebildet haben. Es ließ sich auch an der Basis eines etwa '; mm langen Blattes ein kleiner Hügel aus Meristem nach- weisen, den man als Sprossvegetationspunkt betrachten kann. Bei anderen Blättern war aber von einem Vegetationspunkt neben resp. Fig. 14. Fig. 15. Ss \ 4 Zwei Pflänzchen von Üyel. per- sieum, denen der Scheitel fehlt (vergr.). Unterhalb desselben (yelamen persicum. Längsschnitte durch Knöll- sind Neubildungen aufgetreten, chen, denen der obere Teil fehlt (vergr.). a in Fig. 14, II, Rest eines Schraffiert ist der Wundkork und abge- alten Blattes, b abgebrochenes storbenes Gewebe. Bei I und II je ein Blatt Blatt. getroffen. vor den Blättern bei anatomiseher Untersuchung nichts zu bemerken, und wenn man annehmen wollte, es hätten sich Sprossvegetationspunkte gebildet, die dann zur Bildung der Blätter ganz aufgebraucht worden seien, so würde das schließlich auf dasselbe hinauskommen, als wenn man sagt, die vier Blätter entstehen als Neubildungen aus dem „Dauer- gewebe“ des Knöllchens. Jedenfalls scheint mir die Möglichkeit einer solchen Auffassung nicht von der Hand zu weisen, obwohl ja die andere von vornherein die wahrscheinlichere ist. Der Kürze halber seien die Blätter im folgenden als „Adventivblätter“ bezeichnet. In jedem Blatt differenziert sich ein Leitbündel, und dieses setzt sich in das Knöllchen- a 484 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. sewebe fort, bis es den Anschluss an ein dort vorhandenes Bündel er- reicht (Fig. 15, II), so dass das Blatt in direkte Verbindung mit dem Leit- gewebe der Sprossachse und der Wurzeln gebracht ist; die normal entstandenen Blätter setzen sich höher an, daran sind die „adventiven“ Blätter, wenn man je im Zweifel sein sollte, leicht zu erkennen. Aber schon ihre peripherische Stellung lässt keinen Zweifel darüber, ob man es mit normalen oder „adventiven* Blättern zu thun hat. Eine weitere Eigentümlichkeit der letzteren ist die ungleichmäßige Stellung ihrer Blattflächen. In der Knospenlage ist die Blattoberseite normal dem Sprossvegetationspunkt zugekehrt, also nach dem Centrum. Die Blattspreiten der adventiven Blätter aber haben oft eine unregelmäßige Orientierung, die dann nicht auffallend wäre, wenn zu jedem ein Vegetationspunkt gehörte, welchem die Blattfläche zugewandt wäre. Die Zahl, in welcher sie auftreten, ist eine wechselnde, da sie im Ver- lauf der Entwicklung steigt, Pflänzchen mit etwa einem Dutzend „Adventivblätter“ wurden mehrfach beobachtet. Es traten dabei teil- weise Gruppen von Blättern hervor, aber nicht um ein Centrum herum angeordnet (wie man es erwarten würde, wenn die Blätter gruppen- weise aus adventiv entstandenen Sprossvegetationspunkten hervorgehen würden), sondern z. B. in der Weise, dass von einem Blatte aus die Entstehung neuer Blätter nach rechts und links fortschreitet. Was die Stellung der Blätter an dem Hypokotyl anbelangt, so tritt eine polare Differenzierung des letzteren insofern deutlich hervor, als sie stets nahe der Schnittfläche, also am apikalen Ende sich entwickeln. Bei einem Pflänzchen, an dem ich ein beträchtliches Stück der Spitze (mit sämtlichen Blattansätzen) durch einen schief zur Längsachse gehenden Schnitt entfernt hatte, traten die Blätter demgemäß zunächst nur unterhalb des höher stehenden Randes der Schnittfläche auf. Was aus den Pflanzen mit „Adventivblättern“ schließlich wird, vermag ich nicht zu sagen, wahrscheinlich bildet sich an der Basis eines oder mehrerer der Blätter ein Sprossvegetationspunkt aus, resp. es vergrößert sich der schon vorhandene. Die meisten der Pflanzen wurden der Untersuchung geopfert. Dass Blätter auf andere Weise als aus einem Sprossvegetationspunkt entstehen, steht übrigens nicht ohne Beispiel da. Bei der Sprossbildung an apogamen Farnprothallien ') entsteht das erste Blatt ganz unabhängig vom Sprossvegetationspunkt, allerdings aus embryonalem Gewebe des Prothalliums. Aber das „Dauergewebe“ der Keimpflanzen steht eben, wie unten noch ein- gehender betont werden soll, dem embryonalen Gewebe noch näher als das Dauergewebe älterer Pflanzen. Uebrigens würde selbst dann, wenn es gelingen sollte, nachzuweisen, dass die „adventiven Blätter“ 1) Vergl. de Bary, Ueber apogame Farne etc. Bot. Zeitung 1878, p- 449 ff. — Analoge Thatsachen ließen sich von der Embryobildung anführen. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 485 überall nicht direkt aus dem Hypokotyl, sondern aus an demselben auftretenden Sprossvegetationspunkten entstehen, das Regenerations- verhalten des Hypokotyls ein merkwürdiges sein, denn es treten die Neubildungen an demselben nicht auf an einem „Callus“, der sich an der Verletzungsstelle bildet. Diese erzeugt nur Wundkork, die Neu- bildungen entspringen dem „Dauergewebe‘“ unterhalb der Verletzungs- stelle. Darauf aber kam es hier ja eben an, auf den Nachweis, dass nicht nur das Gewebe des Blattes (an der angegebenen Stelle), sondern auch das der Sprossachse zu Neubildungen (welche exogen entstehen) mehr befähigt ist als im späteren Lebensalter). Es war von Interesse, nach weiteren Fällen von Regenerationsfähig- keit bei Keimpflanzen zu suchen. Am wahrscheinlichsten schien es, dass diese besonders ausgebildet sei bei solchen Keimpflanzen, welche längere Zeit hindurch nur wenig Assimilationsorgane besitzen. Eranthis hiemalis z. B. bil- det im ersten Jahre nur ein Blatt, eine Regeneration der Blattspreite konnte aber nach ihrer Entfernung nicht erzielt werden. Günstigere Resultate ergab eine andere Pflanze, die hier aber nur kurz erwähnt werden kann, da das untersuchte Material noch zu klein war. Streptocarpus Wendlandi ist eine derjenigen Gesneriaceen (resp. Uyrtandra- ceen), die dadurch merkwürdig sind, dass sie zeitlebens gewöhnlich nur ein Laub- blatt entwickeln, den einen der beiden Kotyledonen, der mächtig heranwächst, während der andere frühzeitig im Wachstum zurückbleibt?). Jedenfalls stellt dieses Blatt das Hauptassimilationsorgan dar, die laubblattähnlichen Hochblätter im Blütenstand kommen wenig dafür in Betracht. Die Pflanze erschien des- halb besonders geeignet, die Frage zu prüfen, ob nach Entfernung des Laub- blattes Blätter regeneriert werden können. Wurde das Laubblatt durch einen Querschnitt vollständig entfernt, so fand am Hypokotyl keine Neubildung statt. Wurde es an seiner Insertion abgelöst, so wuchs der untere Rand beiderseits zu einem neuen Flügel aus, der allmählich bedeutende Größe erreichte. Da das Blatt an seiner Basis normal sehr lange weiter wächst, so war durch das Abschneiden der Blattfläche dieser Vorgang also nicht nur nicht gestört, sondern viel- leicht sogar gefördert. Außerdem aber entstanden neue Blätter — wahr- scheinlich an Adventivsprossen — und zwar an verschiedenen Stellen, wo sie sonst nicht auftreten, oberhalb und unterhalb der Blattinsertion, auch an der 4) Es ist wohl möglich, dass auch an älteren Cyelamenknollen — die ja nur das weiter gewachsene hypokotyle Glied der Keimpflanze darstellen — Adventivsprosse entstehen können, bis jetzt ist darüber aber nichts bekannt. 2) Es haben sich daran verschiedene morphologische Deutungen geknüpft. Hielscher (in Cohn’s Beitr. zur Biologie, III. Bd.) gelangte auf Grund durch- aus unzureichender Untersuchungen zu dem Resultate, dass an dem Blatte alle Blüten und Laubsprosse „adventiv“ entständen. Ich habe diese Deutung stets für eine unbegründete gehalten und deshalb sie seinerzeit nicht in meiner „Vergl. Entwicklungsgeschichte* (Schenk’s Handbuch der Botanik, III, Bres- lau 1883) erwähnt. Es kann nach den Untersuchurgen von Dickie und Fritsch (Ber. der D. Bot. Gesellsch. 12, p. 99) kaum einem Zweifel unter- liegen, dass Hielscher’s Deutung unrichtig war und dass vielmehr der erste Blütenstand aus der Keimachse entspringt. 486 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Blattbasis, ganz abgesehen von der Entwicklung des Achselsprosses des zweiten, viel kleineren Kotyledons. Auch an Pflanzen, welchen das Laubblatt gelassen wurde, konnte durch Entfernung der Inflorescenzen reichliche Bildung von Ad- ventivsprossen (die weiterhin zu Blütenständen sich ausbilden), hervorge- rufen werden. Die „Plastizität“ (was Neubildungen betrifft) von Keimpflanzen tritt auch im unverletzten Zustand zuweilen hervor. So sind „Adventiv- knospen“ am ersten Stengelglied der Keimpflanze bei einer ganzen Anzahl von Pflanzen beobachtet worden‘), zuerst von Roeper bei Euphorbia-Arten, dann bei Linaria, Antirrhinum, Anagallis arvensis u. a. Entwicklungsgeschichtliche und experimentelle Untersuchungen darüber sind mir nicht bekannt geworden. Es wird nur angegeben, dass „reich- liche Feuchtigkeit“ eine Hauptbedingung ihrer Entstehung sei. Hier war die Erscheinung deshalb anzuführen, weil sie wieder zeigt, dass Keimpflanzen zu Neubildungen geeigneter sind als ältere, denn bei keiner der erwähnten Pflanzen ist das Auftreten von Adventivknospen am Sprosse im späteren Lebensalter bekannt, auch nicht bei der einzigen Monokotyle (der Orchidee Aerides minimum), bei welcher Raciborski?) das Auftreten von Adventivknospen am Hypokotyl beobachtet hat, sie scheinen hier aus einer einzigen Oberflächenzelle hervorzugehen. Dass Keimpflanzen bei der Regeneration sich anders verhalten als ältere Pflanzen, stimmt durchaus mit den Anschauungen über Ent- wicklung überein, die ich früher vertreten habe?). Sie lassen sich in folgende Sätze zusammenfassen: 1. Die Zellen des embryonalen Gewebes sind alle „äquipotentiell“ oder gleichartig, sie werden erst allmählich voneinander verschieden. 2. Die „somatischen Zellen“ sind embryonale Zellen, die gewisser- maßen inkrustiert sind, d.h. es ist zu dem in den embryonalen Zellen vorhandenen noch etwas gekommen, das ihnen ihren charakteristischen Stempel aufdrückt. Die „Inkrustation“ kann aber bei vielen Pflanzen, namentlich wenn sie nicht zu weit fortgeschritten ist, wieder aufgelöst werden *), die Zelle wird dann wieder embryonal. 4) Vergl. die Aufzählung bei Alex. Braun, Sitzungsber. der Gesellsch. naturforsch. Freunde in Berlin vom 19. April 1870, Botan. Zeitung 1870, p. 438. An älteren unverletzten Sprossachsen treten Adventivknospen nur äußerst selten auf. So bei Calliopsis tinctoria (vergl. A. Braun, Ueber die abnorme Bildung von Adventivknospen am krautigen Stengel von (Calliopsis tinctoria. Verhandl. des Botan. Vereins für die Provinz Brandenburg, XII. Jahrg., 1876, p. 151 ff.). Die Pflanze zeigt die Erscheinung nicht allgemein, sondern nur bei bestimmten (wahrscheinlich durch Kreuzung gewonnenen) Rassen. Es ist die Adventivknospenbildung für die Pflanze auch gänzlich nutzlos. 2) Biol. Mitteil. aus Java, Flora, 85 Bd. (1898), p. 341. 3) Ueber Jugendformen von Pflanzen und deren künstliche Wiederhervor- rufung (Sitzungsber. der math.-phys. Klasse der kgl. bayer. Akad. d. Wissensch., 3d. XXVI, 1896). 4) Dies ist natürlich nur ein Bild. Am meisten entspricht es der Wirk- Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 487 3. Auch das embryonale Gewebe selbst aber erfährt im Verlaufe der Entwicklung dadurch, dass es von den älteren Teilen her beeinflusst wird, eine Veränderung, es reagiert infolgedessen bei älteren Pflanzen meist anders als bei jüngeren (vergl. die a. a. O. für Moose gegebenen Beispiele). 4. Daraus folgt, dass auch das „Dauergewebe“ bei Keimpflanzen (das sich ja vom embryonalen Gewebe ableitet), ein anderes ist als später, das in ihm vorhandene „Keimplasma“ ist ja von der, durch die anderen Organe bei älteren Pflanzen erfolgenden Beeinflussung noch frei, es ist die „Inkrustation‘“ noch eine geringere, die Rückkehr zum embryonalen Gewebe eine leichtere. Theoretisch wäre auch jede somatische Zelle der späteren Ent- wicklungsstadien noch fähig, sich zu einer neuen Pflanze zu entwickeln, dass sie dies nicht thut, ist durch die Beeinflussung von seiten der anderen Zellen bedingt. Wird diese aufgehoben (sei es durch Ab- trennung oder auf andere Weise), so kann die Zelle wieder embryonal werden, falls sie überhaupt in isoliertem Zustand existenzfähig ist. Dies tritt namentlich bei den Lebermoosen, bei denen die Arbeitsteilung zwischen den Zellen noch keine so ausgesprochene ist, deutlich hervor, bei höheren Pflanzen würde es wohl nur bei ganz besonders dazu aus- gebildeten Kulturmethoden gelingen, aus isolierten Dauerzellen neue Pflanzen zu erziehen. Sa. Unter den Begriff „Anordnung“ kann man zunächst auch den des Zahlenverhältnisses bei der Regeneration rechnen. Wenn man einen Baum abhaut, z. B. eine Pappe), so entsteht aus dem Callus, der sich am Stumpf, speziell aus dem Cambium entwickelt, nicht ein neuer Spross, sondern eine größere Anzahl. Ebenso treten die Sprosse an Blattstecklingen meist in der Mehrzahl auf. Der Grund dafür dürfte darin zu suchen sein, dass bei der Regeneration von Sprossen zunächst Sprossvegetationspunkte entstehen, die Größe derselben aber wohl für jede Pflanze eine wenn auch nicht überall gleiche, so doch nur innerhalb bestimmter Grenzen schwankende ist. Wenn also eine große Fläche embryonalen Gewebes bei der Neubildung entsteht, werden sich schon aus diesem Grunde eine größere Anzahl von Vegetations- punkten bilden. Die Größe des „Callus“ aber wird abhängen von der Wundfläche, der Zahl der wachstumsfähigen Zellen und der Menge disponibler Baustoffe. Während diese Annalimen wohl kaum auf Wider- spruch stoßen werden, hat die räumliche Anordnung der bei der Regene- lichkeit, wenn, wie Crüger gefunden hat (Bot. Zeitung, 1860, p. 370), Zellen mit schon verdiekter Zellwand, wenn sie durch Verwundung zur Rückkehr in den embryonalen Zustand veranlasst werden, die Verdickungsschichten wieder auflösen, 488 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. ration neugebildeten Teile zu Diskussionen Veranlassung gegeben. Dass die direkte Einwirkung äußerer Faktoren wie Schwere und Licht bei der Regeneration nicht für die Anordnung ausschlaggebend ist, geht aus Vöchting’s bekannten Untersuchungen!) hervor, es sind vorwiegend innere Ursachen,. welche dabei in Betracht kommen. Worin aber sind diese inneren Ursachen begründet, welche bedingen, dass bei der Regeneration eine „Polarität“ auftritt, die sich darin äußert, dass ein Sprosssteckling Sprosse am apikalen, Wurzeln am ba- salen Ende entwickelt, ein Wurzelsteckling Wurzeln am apikalen, Sprosse am basalen, ein Blattsteckling Sprosse und Wurzeln am ba- salen ? Es sind verschiedene Gesichtspunkte, welche zur „Erklärung“ dieser Polarität geltend gemacht worden sind. Vöehting zieht die Wachstumsverteilung herbei. Sprosse und Wurzeln sind im Gegensatz gegen die Blätter Organe von (theoretisch) unbegrenztem Wachstum, die Blätter (ebenso manche blattähnliche Sprosse u. a) haben unbegrenztes Wachstum. Wakker unterscheidet zwischen Reproduktion und Regeneration. Bei ersterer handelt es sich um normale (ohne Verletzung auftretende) Einrichtungen zur ungeschleehtlichen Fortpflanzung, bei welchen die „Polarität“ nicht zu Tage tritt. So bewurzeln sich die Sprosse von Rubus fruticosus an der Spitze, wenn sie mit dem Boden in Berührung kommen, ebenso viele Ausläufer, auch die Spitzenknospen der Farn- blätter, die oben besprochen wurden, gehören hierher?). „Regene- ration“ nennt Wakker nur die bei Verletzungen auftretenden Er- scheinungen. Die Neubildungen zeigen dabei eine Anordnung, welche für die Pflanze vorteilhaft ist; es ist z.B. klar, dass, wenn man z. B.an einer Pflanze von Leontodon Taraxacım den Spross abschneidet, die neuen Sprosse am zweckmäßigsten an dem nach oben gekehrten Wurzelende auftreten?) Für das Auftreten der Wurzeln und Knospen 1) Auf diese, speziell das Werk über „Organbildung im Pflanzenreich“ sei hier verwiesen. Eine kurze Zusammenfassung inGoebel, „Organographie*, wo auch Tittmann’s Untersuchungen erwähnt sind; hier sei deshalb auf die Einwirkung äußerer Faktoren bei der Regeneration nicht weiter eingegangen. 2) Derartige Vorgänge sind aber immer mit inneren (strukturellen) Ver- änderungen verbunden (wie am deutlichsten bei den Farnblättern hervortritt). Was sich bei Rubus z. B. bewurzelt, ist nicht die Knospe eines gewöhnlichen, wachsenden Triebes. Diese hat überhaupt die Fähigkeit der Bewurzelung noch nicht. Es ist eine, im Laufe der Vegetationsperiode aus dieser Knospe her- vorgegangene neue, die ihre Wurzeln an ihrer Basis hat, der übrige Trieb gehört eigentlich gar nicht dazu. 3) In seiner Abhandlung über Wurzelknospen hat Beijerinck darauf hingewiesen, dass auch Wurzeln Regenerationsvermögen besitzen, bei denen dies in der Natur kaum zur Geltung kommt, so z. B. die von Pastinaca satıva einer normal zweijährigen Pflanze. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 489 bei der Reproduktion hat Beijerinck eine Theorie aufgestellt. Er geht aus von der Vorstellung, dass die Bildung der Knospen beherrscht wird von dem „aufsteigenden“ Saftstrom, die der Wurzeln von dem „absteigenden“, und gelangt betreff der Knospen zu folgenden Vor- stellungen: Die Knospen sind in ihrer Stellung abhängig vom Gefäßteil (Xylem) der Leitbündel, entstehen deshalb bei Blättern gewöhnlichen Baues (deren Leitbündel ihr Gefäßteil nach oben kehren) auf der Ober- seite. Sie sind am stärksten entwickelt da, wo auch das Xylem am stärksten ausgebildet ist, besonders finden sie sich an den Leitbündel- verzweigungen. Die hier hervorgehobenen Beziehungen gelten meiner Ansicht nach nur für die Fälle, in denen die Knospenanlegung an Blättern normal erfolgt (auch für Bryophyllum, wo die Knospen zwar scheinbar am Rande, in Wirklichkeit aber nach der Blattoberseite hin stehen, und für viele Farne) oder doch schon von vornherein eine Disposition zur Knospen- bildung vorhanden ist (Begonia), dagegen können sie nicht in Betracht kommen bei den Fällen von Regeneration im engeren Sinne, d.h. dann, wenn Neubildungen an dazu nicht besonders disponierten Stellen durch Verletzungen hervorgerufen werden. Die Beziehungen der Knospenbildung an Blättern zu den Leitungsbahnen wurde ja auch oben hervorgehoben, indes ist nicht zu vergessen, dass auch bei den dorsiventral gebauten niederen Pflanzen, die keine Leitbündel haben, bei der Regeneration die Knospen nur auf einer Seite auf- treten. Sachs!) nahm an, dass die Verschiedenheit der Organbildung, z. B. die zwischen Wurzel und Spross, begründet sei in einer Ver- schiedenheit der Substanzen, aus denen sich die Organe aufbauen, dass es also sprossbildende und wurzelbildende Substanzen gebe. Die sprossbildenden Substanzen wandern bei der unverletzten Pflanze nach der Spitze, die wurzelbildenden nach der Basis zu, wird der Spross durchgeschnitten, so ergeben sich daraus die oben erwähnten An- ordnungsverhältnisse bei der Regeneration. Außerdem wirke die Schwerkraft (deren Bedeutung Sachs zuerst noch mehr betont hatte?) dahin, dass die wurzelbildenden Substanzen sich abwärts, die sprossbildenden dagegen sich aufwärts bewegen. Die ganze Anschauung schließt sich an an Ansichten, welche schon von älteren Physiologen, 1) Stoff und Form der Pflanzenorgane, 1880 und 1882, abgedruckt in „Ge- sammelte Abhandlungen über Pflanzenphysiologie, II, p. 1159 ff. 2) Morgan hat die Darstellung, die Sachs später in seinen „Vorlesungen“ gegeben hat, offenbar nicht gekannt. Es ist nicht richtig, wenn er sagt: „He (Sachs) gives very little weight to the innate polarity ofthe piece* (Morgan 2.3.0,.p. Sh), 490 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. z. B. Bonnet, geäußert worden waren!). Es ist, wie ich früher be- tont habe, klar, dass die Sachs’sche Anschauung nur ein allgemeines Bild geben kann, eine vorläufige Zusammenfassung, wie etwa das Bild eines Stromes, welches in der Physik für die Leitung der Elektrizität angewandt wurde, ein Bild, das über das Wesen der Elektrizität natür- lich nichts aussagt, aber eine Zusammenfassung einer Gruppe von Thatsachen gestattete. Hier kann auf eine allgemeine Kritik der Sachs’schen Idee nicht eingegangen werden, das würde ziemlich ebensoviel bedeuten als eine Diskussion über das Wesen der Entwick- lung überhaupt, während es sich hier nur um eine Zusammenfassung der Einzelthatsachen bei der Regeneration handelt, es fragt sich nur, wie weit eine derartige Anschauung sich als provisorische Hypothese nützlich erweist oder nicht. Es sind also eine ganze Anzahl von Gesichtspunkten, welche gel- tend gemacht worden sind. Es mag gestattet sein, zuerst den der Zweckmäßigkeit zu besprechen. Ich hatte?) hervorgehoben, dass die Verschiedenheit in den Regenefationserscheinungen zwischen Pflanzen und Tieren damit zusammenhänge, dass erstere Vegetationspunkte be- sitzen, letztere (abgesehen von Sexualorganen, die man mit Vegetations- punkten vergleichen könnte, ferner von gewissen Hydroiden u. a.) nicht, und auch oben wurde betont, dass die Wiederherstellung abge- fressener Blätter gar keinen Sinn hätte. Morgan knüpft daran (a. a. O. p. 86) die Bemerkung „The „explanation* of the difference in the two cases is supposed, apparently, by Goebel, to depend on the usefulness, or non usefulness, of the regenerative act“. Hätte Morgan den Hinweis darauf, wie teleologisch klingende Ausdrücke in dem von ihm benutzten Buche gemeint sind, verfolgt?), so würde er gesehen haben, dass meine Aeußerung nichts weniger als eine „ex- planation“ sein sollte. Sie ist einfach die Feststellung einer Thatsache, der, dass embryonales Gewebe auf den durch Wegnahme eines Pflanzen- teiles ausgeübten Reiz rascher reagiert als Dauergewebe, das — offen- bar in Verbindung damit — vielfach die Fähigkeit der Reaktion über- haupt verloren hat. Erinnern wir uns doch einfach der oben über das Bryophyllumblatt mitgeteilten Thatsachen. Wenn es von der Mutterpflanze getrennt wird, entwickelt es aus seinem Dauergewebe weder Wurzeln noch Knospen, sondern die Vegetationspunkte, die in den Blattkerben vorhanden sind, werden in Thätigkeit versetzt. Wenn ich diese entferne, reagiert das Dauergewebe. Im letzteren Falle habe ich das Blatt gewissermaßen in einen ähnlichen Zustand versetzt, wie 4) Auch Mohl nahm an (Zinnaea, 1837, p. 492), dass die Entwicklung der Augen (Sprosse) mit einer aufsteigenden, die der Fasern (Wurzeln) mit einer absteigenden Bewegung der Säfte in Beziehung stehe. 2) Organographie p. 27. 3) Vergl. Vorwort zum zweiten Teil. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 491 ihn ein Tier besitzt, insofern als keine Vegetationspunkte mehr vor- handen sind. Im übrigen ist mit dem Hinweis darauf, dass eine Wachstumserscheinung zweckmäßig ist, natürlich noch keine Erklärung für ihr Zustandekommen gegeben, sondern nur dafür, warum sie sich erhalten konnte. Auch geht aus meiner Darstellung a. a. O. wohl klar hervor, dass ich die Anordnungsverhältnisse bei den Regenerations- erscheinungen zurückführe auf zweierlei „Ursachen“: 1. die normale Organisation (im weitesten Sinne) der Pflanzen, und 2. den durch die Verwundung erzeugten Reiz. Sehen wir also, ob es sich bei der Organisation handelt um die Verteilung des Wachstums, speziell darum, ob dieses ein begrenztes oder unbegrenztes ist. Meiner Ansicht nach ist diese Auffassung un- genügend. Die Gründe dafür seien für die einzelnen Organe, die dabei in Betracht kommen, kurz angeführt. Zunächst wird ja niemand bezweifeln, dass die Verschiedenheit in dem Regenerationsverhalten von Wurzel und Spross, die beide unbegrenztes Wachstum haben, da- dureh nicht verständlicher wird. Lassen wir indes diesen Einwurf bei seite und sehen uns die Einzelfälle an. 1. Wurzeln. Eine Anzahl von Pflanzen besitzen Wurzeln, welche im unverletzten Zustand keine Sprosse hervorbringen (während andere dies normal thun), aber wenn sieabgeschnitten sind, Sprosse zu bilden vermögen. Das gewöhnlich als gültig betrachtete Schema ist, dass an einer ab- geschnittenen Wurzel (z. B. von einer Pappel) Sprosse aus dem ba- salen (normal nach oben gekehrten) diekeren, neue Wurzeln aus dem apikalen, dünnen Ende entstehen. Zunächst sei bemerkt, dass die Wurzelbildung am apikalen Ende oft eine schwache oder ganz aus- bleibende ist, letzteres trat bei meinen Versuchen mit Scorzonera hispanica häufig ein, während Sprosse am oberen Ende stets sich bildeten. Wer wieWakker die Sprossbildungen an verletzten Wurzeln auffasst als „eine adaptive Eigenschaft, die wegen des Nutzens fixiert ist“ (a.a. 0. p. 57), wird dies darauf zurückführen, dass derartige Pflanzen leichter (durch Tierfraß ete.) ihren Sprossteil als die unteren Stücke der Wurzeln verlieren können. Thatsächlieh wird man in jedem Garten, wo Löwenzahn (Leontodon Taraxacım) als Unkraut auftritt, auch zahl- reiche Pflanzen finden, welche, da nur ihre „Köpfe“ entfernt wurden, aus der Wurzel neue Sprosse gebildet haben. Indes fehlt der Nach- weis, dass dies auch in der freien Natur öfters geschieht und dass die Pflanze daraus im „Kampf ums Dasein“ erhebliche Vorteile zieht. Besonders geeignet zu Regenerationsversuchen sind also die Wurzeln von Kompositen (Cichorium Intybus, Scorzonera hispanica), — die Schwarzwurzeln sind ja überall käuflich zu erhalten — Taraxacum oficinale u. a. Das Gewebe, welches den Callus liefert, aus welchem die Sprosse hervorgehen, ist hauptsächlich das Cambium. Hält man Wurzel- 492 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. stücke feucht, so entstehen die neuen Sprosse an den meisten nur am oberen Ende. An längsgespaltenen Wurzeln von Scorzonera (Fig. 16) sah ich sie auch auf der Wundfläche auftreten, es zeigt sich hier be- sonders deutlich, dass der Wundreiz zu Neubildungen disponiert, dass aber die am oberen Ende auftretenden Sprosse gefördert sind. In Wirklichkeit sind alle Wundstellen dieser Wurzeln zur Sprossbildung befähigt und man kann demnach die Sprossbildung auch am unteren Ende hervorrufen. Schon Wakker hat gezeigt, Fig. 16. dass man auch aus dem dünneren (apikalen) Teile leicht Sprosse erhalten kann. Es geschieht dies dann, wenn man die Sprossbildung am diekeren Teile verhindert'), z. B. indem man hier den Callus, sobald er sich bildet, wieder wegschneidet oder indem man diesen Teil faulen lässt. Ich führte den Versuch in etwas anderer Weise aus, indem ich das diekere Wurzelende bei Scorzonera eingipste, bei Taraxacum mit Siegellack überzog. Wenn man die Gipskappe nicht schr diek macht, wird sie bald von den am apikalen Ende auftretenden Sprossen durch- brochen, ein Beweis dafür, wie energisch hier die Sprossbildung stattfindet?). Die Siegellack- kappe ist zweckmäßiger, zumal man durch heißes Siegellack das Gewebe am apikalen Ende leicht töten kann, worauf dann hier Fäulnis eintritt, die wie erwähnt, die Sprossbildung hier auch unmöglich macht. Derartig behandelte Wurzeln brachten am unteren (apikalen) Ende Sprosse ikiete Wurzell® Ex hervor. Aber erst nach längerer Zeit. An dem aan at Snanss sr oberen Ende kann man unter günstigen Um- der Apikalseite una Ständen schon nach wenig Tagen Sprossbildung seitlich an der Wund- eintreten sehen, am unteren Ende treten sie erst fläche gebildet (um die nach einigen Wochen auf. Der Wundreiz, welcher Hälfte verkleinert). die Callusbildung hervorrief, hatte hier also über die normale Disposition gesiegt. Besonders lehr- reich ist der in Fig. 17 abgebildete Fall: hier war nahe am unteren Ende zufällig eine Wunde vorhanden. Hier trat Sprossbildung reich- lich ein, die an der Schnittfläche angelegten Sprossrudimente blieben Scorzonera hispanica. 1) Vergl. auch Tittmann’s in der „Organographie* erwähnte Versuche. 2) Der Versuch eignet sich sehr zur Demonstration der Arbeitsleistung beim Wachstum. Man erhält bei günstigen Wachstumsbedingungen in wenigen Tagen Sprosse, welche eine ziemlich dicke Gipskappe, namentlich wenn diese feucht gehalten wird, durchbrechen. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 493 zurück, weil die anderen durch ihre Lage weiter nach oben begünstigt waren. Nicht bei allen Wurzeln aber ist eine derartige „Disposition“ vor- handen. Als Beispiel dafür sei das Verhalten von Ophioglossum be- sprochen. Die näher untersuchten Arten dieses Farnkrautes haben eine aus- giebige Vermehrung durch Wurzelsprosse. An manchen Wurzeln ent- Fig. 17. Fig. 18. Fig. 17. Leontodon Taraxacum, Wurzel, deren apikales Ende durch eine Siegellackkappe an der Regeneration verhindert wurde. Zahlreiche Adventivsprosse sind nahe der Basis aufgetreten. Fig. 18. Ophioglossum pedunculosum. Spross- bildung an abgeschnittenen Wurzeln. I An der Spitze (Wa alte, Wn scheinbar neue Wurzel, in Wirklichkeit Fortsetzung von Wa). I—IV Sprossbildung an Wurzeln, die keine Spitze be- saßen. Das schief abgeschnittene Ende ist stets das basale. DB erstes Blatt des Sprosses. steht ganz nahe der Spitze eine Knospe, so dass man früher glaubte, es finde eine direkte Umwandlung der Wurzelspitze in einen Spross statt!). Untersucht wurde Oph. pedunculosum. Sehneidet man Wur- zeln ab und legt sie in Wasser, so zeigt sich zunächst, dass bald an 1) Vergl. Rostowzew, Beitr. zur Kenntnis der Ophioglossen, Moskau 1892, Poirault, recherches sur les eryptogames vaseulaires. Ann. d. science, nat. bot. 8. ser., t. 18, 1894. 494 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. allen denen, die eine Spitze haben, nahe derselben Sprossbildung auftritt (Fig. 18, I); mit anderen Worten: alle Wurzeln haben diese Fähigkeit, sie bleibt aber bei manchen zeitweilig oder dauernd la- tent!). Dass die Sprosse gerade an den Spitzen der horizontal streichenden Wurzeln auftreten, hat übrigens für die Pflanze denselben Vorteil, wie die Bildung der Knospen an den Spitzen der obenerwähnten ‘Farn- blätter. Die neuen Pflanzen werden dadurch von den alten entfernt. Dass die Fähigkeit zur Knospenbildung bei den meisten Wurzeln von Oph. vulgatum latent bleibt, ist durch Korrelationsverhältnisse bedingt. Schneidet man nämlich den Spross ab, so erfolgt dieKnospenbildung auch an den mit der Sprossachse noch in Verbindung stehenden Wurzeln reich- licher. An der abgeschnittenen Wurzel wirkt die Unterbrechung der Ver- bindung mit dem Spross, speziell der Leitbündel als Reiz. Es ist wohl möglich, dass bei der unverletzten Pflanze gerade die Wurzeln Knospen entfalten, bei denen die Wurzelspitze von der Sprossachse besonders weit entfernt ist?), und dadurch von derselben weniger leicht beein- flusst werden kann. Es sei hier daran erinnert, dass bei Bryophyllum ein Austreiben der blattbürtigen Knospen durch Beseitigung sämtlicher Sprossvegetationspunkte herbeigeführt werden konnte. Während also das Hervorrufen spitzenständiger Knospen leicht und verhältnismäßig rasch bei den Wurzeln gelingt, an denen diese sonst nicht oder doch erst später aufgetreten wären, traten Knospen an solchen abgetrennten Wurzeln, welche keinen Spitzenteil hatten, erst nach viel längerer Zeit, bei meinen Kulturen erst nach 4 Monaten auf. Eine Bevorzugung von „Spitze“ oder „Basis“ trat dabei nicht auf (Fig. 18, II—IV), die Knospen standen an verschiedenen Stellen (vgl. die Figuren III u. IV) doch meist annähernd in der Mitte der betreffenden Wurzel. Man könnte diese Differenz gegenüber dem gewöhnlichen Verhalten darauf zurückführen, dass man sagt, es entstehen an der abgeschnitte- nen Wurzel zunächst keine Knospen, sondern Seitenwurzeln, an deren Spitze sehr früh (schon vor dem Durchbrechen durch die Hauptwurzel) eine Knospe sich bildet. Dies ist morphologisch wohl auch richtig, aber ändert an der Thatsache, dass hier die Verteilung der Neubil- 1) Die einzelnen Arten scheinen sich verschieden zu verhalten. Bei Oph. pedunculosum ist — wenigstens in der Kultur — die Sprossbildung eine viel reichlichere als bei Oph. vulgatum ; bei letzterem erzeugen lange nicht alleWurzeln Sprosse, bei Oph. pedunculosum schienen mir alle Wurzeln früher oder später zur Sprossbildung zu schreiten. 2) Bei Oph. pedunculosum schwankte die Länge, welche die Wurzeln er- reichten, bis sie zur Sprossbildung schritten zwischen 6 und 14 cm. Da die an den wurzelbürtigen Sprossen stehenden Wurzeln nach einiger Zeit wieder zur Sprossbildung schreiten, kommen lange Verbände von Sprossen, welche durch die Wurzeln zusammenhängen, zu stande. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 495 dungen eine andere ist, nichts, auch die Wurzeln müssten ja nach der gewöhnlichen Regel am apikalen Ende entstehen. Sehen wir uns diesen Fall zunächst genauer an, so zeigt sich also bei Ophioglossum, dass bei mit Spitzen versehenen Wurzeln das Ab- schneiden als Reiz wirkt, der die Anlegung der Knospen resp. das Austreiben schon angelegter veranlasst, es wird nur die normale Dis- position zur Knospenbildung durch die Unterbrechung der Verbindung mit dem Hauptspross in Thätigkeit versetzt. Bei spitzenlosen Wurzeln muss erst eine „Umordnung“ eintreten. Die Wurzeln bilden gewöhnlich Seitenwurzeln überhaupt nicht aus'), eine besondere örtliche Disposition ist weder für Knospen- noch für Wurzelbildung vorhanden, auch keine ausgesprochene Verschiedenheit längs des Wurzelstückes etwa in der Weise, dass das basale an Reservestoffen erheblich reicher wäre als das apikale. Damit hängt es meiner Ansicht nach zusammen, dass auch bei der Regeneration der Ort, wo die Neubildungen auftreten, kein fest bestimmter ist. Für die Bevorzugung des mittleren Teiles weiß ich keinen Grund anzugeben, möglicherweise fand (bei den in Wasser liegenden) Wurzeln von den Schnittflächen aus eine ungünstige Beeinflussung statt, die gegen die Mitte hin natürlich am wenigsten sich geltend macht, wir werden Aehnliches auch für Fegatella unten anzuführen haben. Für die gewöhnlichen Wurzeln tritt zunächst bei der Entstehung der neuen Wurzeln am abgeschnittenen apikalen Ende auch nur die schon vorher vorhandene normale Disposition neue Wurzeln nach der Spitze hin zu bilden hervor. Was die Knospen anlangt, so wissen wir, daß eine Anzahl Wurzeln Knospen auch im unverletzten Zustand bildet; ähnlich wie dies bei den oben beschriebenen Blättern der Fall ist, wie bei diesen alle Abstufungen bis herunter zu einer nur in- folge eines Reizes aktivierten Disposition vorhanden sind, so auch bei den Wurzeln. Die Hypothese, daß das Material, welches zur Knospenbildung verwendet wird ein anderes ist als das zur Wurzel- bildung geeignete, scheint mir eine durchaus berechtigte, weil sie übereinstimmt mit Anschauungen, die sich auch sonst aufdrängen, na- mentlich wurde ja überall auf die Bedeutung der Leitungsbahnen bei der Regeneration hingewiesen. Wir sehen bei dem oben angeführten Versuch, daß die Knospenbildung umgeordnet werden kann und sehen darin einen Grund zu der Annahme, daß in der Wurzel der be- treffenden Pflanzen Material zur Knospenbildung vorhanden ist, das normal nach aufwärts sich bewegt (nach dem Sprosse hin) und in- folgedessen auch bei abgeschnittenen Wurzeln am basalen Ende zu- nächst Knospenbildung hervorruft. 1) Als Seltenheit ist bei Oph. vulgatum eine Gabelung der Wurzeln be- obachtet worden. 496 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 2. Spross. Das gewöhnliche Verhalten bei der Regeneration ab- seschnittener Sprossstücke kann hier als bekannt vorausgesetzt werden. Betont sei nur folgendes. Wie schon aus älteren Versuchen, so namentlich denen Hansteins hervorgeht, spielt die Unterbrechung der Leitungsbahnen bei der An- ordnung der neugebildeten Teile eine wichtige Rolle. Wenn man an einem Steckling (der sich unter allseitig gleichen äusseren Verhält- nissen befindet) ein ringförmiges Stück der Rinde entfernt, so tritt oberhalb der Ringwunde Auswachsen von Wurzeln unterhalb derselben das von Sprossknospen ein (so z. B. an Weidenstecklingen), aber nur wenn keine markständigen Siebröhren vorhanden sind. Ist dies, wie bei den Solaneen, der Fall, so tritt dureh die Unterbrechung der Rinde eine Polarität in der Wurzelausbildung nicht hervor, es treten ober- halb der Ringwunde entweder keine Wurzeln auf, oder sie sind doch nicht auf diese Stelle beschränkt !). Es ist also auch hier besonders deutlich, daß die Unterbrechung der Leitungsbahnen (speziell der Siebröhren) das Austreiben der Wurzeln und Sprosse einerseits, an- dererseits die räumliche Verteilung derselben bei der Regeneration bestimmt. Dazu kommen noch die Thatsachen, die sich bei einigen Sprossen abweichenden Verhaltens ergeben haben. Zunächst hat Wakker?) gefunden, daß Sprossstücke von Begonia discolor am basalen, nicht am apikalen Ende Adventivsprosse er- zeugen. Nun ist dies eine der Arten, die eine Ruheperiode besitzen, welche hier übrigens weniger streng ausgesprochen ist als bei an- deren Knollenbegonien, bei denen nur eine Sprossknolle vorhanden ist, die als Reservestoffbehälter dient. Diese Knolle bildet sich neben einer Anzahl kleiner axillärer Knöllchen, an der Sprossbasis. Nach ihr muss der Strom der Assimilate gerichtet sein, nach der Sachs’schen Auffassung auch der der sprossbildenden Substanzen. Demgemäß ist es nicht überraschend, dass vegetationspunktlose Sprossstücke bei der tegeneration sich hier anders verhalten, als die gewöhnlichen Sprosse, würde ein Kartoffelstammstück im stande sein, Adventivsprosse zu bilden, so würde man wohl dieselben Resultate erhalten. Ganz damit übereinstimmend verhalten sich emige von Linde- muth untersuchten Pflanzen ?). Manche monokotyle Pflanzen setzen nie oder doch nur sehr selten Samen an. Man kann aber den Samen- ansatz bei Lilium eundidum z. B. dadurch hervorrufen, dass man ab- geschnittene Blütenstände (mit befruchteten Blüten) in Wasser stellt. Das Unterbleiben des Samenansatzes tritt hier also offenbar deshalb ein, weil die Baustoffe, welche zur Samenausbildnng Verwendung 4) Vergl. Hanstein in Jahrb. für wissensch. Botanik, II, p. 440. 2) Dessen Arbeit mir zur Zeit der Abfassung der „Organographie* noch unbekannt war. 3) Vergl. Organographie, p. 35. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 497 finden könnten, nach den unterirdischen Reservestoffbehältern, den Zwiebeln hinwandern !). Hier ist also ein nach abwärts gerichteter Strom von Baustoffen vorhanden. Ist eine derartige Sprossachse, wenn sie abgeschnitten wird, zu Neubildungen befähigt, so wird man diese auf Grund der eben vertretenen Anschauungen als an der Basis auf- tretend erwarten. So ist es auch z. B. bei Lachenalia luteola. Hya- ceinthus orientalis dagegen bildet an abgeschnittenen Blütenschäften an der Spitze Knospen. Hier findet normaler Samenansatz und dem- gemäß Wanderung von Baustoffen nach oben statt. Auch für die Sprosse kommen wir also, ebenso wie für die Wur- zeln zu dem Resultate, dass nicht das leer enzte Wachstum, sondern die Richtung, in lan die Baustoffe, die zur Sprossbildung dienen, wandern, für die Anordnung bei der Regeneration (neben dem Wund- reiz) von Bedeutung ist. 3. Organe begrenzten Wachstums. Dass an regenerations- fähigen abgeschnittenen Blättern die Neubildung von Wurzeln und Sprossen meist an der Basis erfolgt, ist oben mehrfach erwähnt wor- den. An den Blättern mancher Sukkulenten (z. B. denen von Gasteri’a) entwickelt sich an der Basis ein Wurzelsystem von erstaunlicher Mäch- tigkeit, welches den neu entstandenen Sprossen Wasser und darin ge- löste Nährstoffe zuführt, bis sie durch eigene Wurzelbildung selbständig werden. Im Blatte kann es, soweit es keine Vegetationspunkte be- sitzt, nur eine Strömungsrichtung für die Baustofie, die nach der Basis, d. h. nach der Sprossachse zu, geben. Damit steht unserer Ansicht nach der Mangel einer Polarität hier im Zusammenhang, und ebenso die Thatsache, dass die basale Anordung der Neubildungen an Or- ganen begrenzten Wachstums keineswegs eine allgemeine ist. Dies müssten wir aber erwarten, wenn sie mit dem begrenzten Wachstum kausal verknüpft wäre. Lehrreich ist dafür das Verhalten der Blätter einiger Lebermoose, welches von Schostakowitsch?) und dem Ver- fasser früher untersucht wurde. Die Blätter der Lebermoose bestehen nur aus einer einzigen Zellschicht, und besitzen nur eine sehr kleine Oberfläche. Der „Strom“ von Baustoffen, der sich von hier aus in den Stamm bewegt, wird also ein unbedeutender sein. Wenn wir ein Blatt abschneiden, wird er wenig in Betracht kommen gegenüber der weitergehenden Assimilationsthätigkeit der einzelnen Zellen. Die Neu- bildungen werden also — wenn nicht etwa bestimmte Stellen des 4) Morgan bezweifelt dies (a. a. 0. p. 89). Es ist aber ein sehr altes und leicht zu wiederholendes Experiment, das oben angeführt wurde und wohl all- gemein so aufgefasst wird. Natürlich handelt es sich nicht allein um „Stärke*, wie Morgan meint. 2) Sehostakowitsch, Ueber Reproduktions- und Regenerationserschei- nungen bei Lebermoosen, Flora, 79. Bd. (Ergänzungsband z. Jahrgang 1894, p- 350—384. XXI 32 498 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. Blattes besonders zu solchen disponiert sind!) — nicht basal angeordnet sein. So ist es auch bei einer Anzahl untersuchter Arten. Als Er- läuterung diene Fig. 19. Sie stellt ein Stammstück einer in Südame- rika gesammelten nicht näher bestimmten Plagiochila dar, welche neue Pflänzechen auf den Blättern schon im unverletzten Zustand bil- det?), ganz ähnlich, nur reichlicher verläuft die Neubildung auch bei unserer einheimischen Pl. asplenoides an abgetrennten Blättern. Die Neubildungen sind kleine Zellkörper (Fig. II), aus einer der Zellen ent- wiekelt sich die Scheitelzelle einer neuen Plagiochilapflanze. Eine bestimmte Anordnung für die Neubildungen ist nicht vorhanden, an Plagiochila sp. I Stück einer Pflanze mit zwei Blättern, auf denen neue Pflänzehen (durch Kreise angedeutet) auftreten. II Stück der Blattfläche mit drei- bis vierzelligen Anlagen stärker vergrößert. III Ein Zellkörper, an dem ein junges Pflänzchen entstanden ist. dem abgebildeten Stück stehen sie mehr nach dem Ende des Blattes zu, das ist aber bei anderen Blättern anders. Besonders lehrreich 4) Bei Radula z. B. ist es der Blattrand. Die „Brutknospen“, die hier entstehen, sind nichts anderes als Keimscheiben (wie sie auch aus der keimen- den Spore entstehen), an denen später neue Radulapflänzchen auftreten. Schneidet man ein nieht mit Brutknospen versehenes Blatt ab, so ist zu er- warten, dass Neubildungen am Rande auftreten. Der Versuch scheint diese Annahme zu bestätigen, leider gingen meine Kulturen durch ein Versehen bald zu Grunde, so dass ich nieht mit Sicherheit die Richtigkeit meiner An- nahme behaupten kann. 2) Man kann bei manchen Lebermoosen in günstiger Jahreszeit die Regene- ration auf Blättern schon durch Entfernung des Sprossvegetationspunktes her- vorrufen, so bei Frullania im Winter, wo reichlich Baustoffe vorhanden sind (Schostakowitsch a. a.0.). Es ist also, ähnlich wie bei Bryophyllum, sehr wohl möglich, dass auch eine Hemmung der Sprossachse die Regenerations- erscheinungen an unverletzten Blättern auslöst. Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 499 erscheint mir das Verhalten thalloser Lebermoose. Der Vegetations- körper ist bei ihnen bekanntlich bandförmig, auf der Unterseite mit einer von den Seitenteilen mehr oder minder scharf abgesetzten Mittel- rippe versehen. Untersucht wurde Fegatella conica, und zwar Exem- - plare, die sich in der Winterruhe befanden. Schneidet man die Spitze eines Thallus ab, so zeigen sich, wie zu erwarten war!), neue Thallus- anlagen nahe der abgeschnittenen Spitze. Werden Seitenteile des Thallus durch einen Längsschnitt entfernt, so ist das Resultat ein ver- schiedenes, je nachdem diese Seitenteile noch ein Stück der Mittel- rippe besitzen oder nicht. Ist ersteres der Fall, wie in Fig. 20, I, so Fig. 20. L I Fegatella conica. Regeneration an der Länge nach abgetrennten Thallusstücken. Der unverletzte Rand ist stets nach links gekehrt, das basale Ende schief, das apikale Ende quer abgeschnitten. I-—III Flächenansichten von unten, iV Querschnitt von I (M Mittelrippe), V Querschnitt von Il. erfolgt die Regeneration an der Spitze, hier war von der Mittelrippe am meisten vorhanden. Spaltet man die Sprosse längs der Mittel- rippe, so treten öfters auch längs der Wundfläche Adventivsprosse auf, was wir ähnlich wie bei den Scorzonerawurzeln (vgl. p. 492) dem Wundreiz zuschreiben dürfen. Doch tritt auch dann, ebenso wie bei Scor- zonera die Bevorzugung des Apikalendes meist deutlich hervor. Dünne Seitenteile ohne Mittelrippe zeigten dagegen einen konstanten Gegensatz von Spitze und Basis nicht, obwohl reichlich Regene- ration eintrat. Die Adventivknospen standen stets auf der Unterseite. Der Thallus ist streng dorsiventral gebaut. Die Zellen der unteren Thallus- 1) Vergl. Vöchting , Die Regeneration der Marchantieen. Jahrb. für wissenschaftl. Botanik, Bd. XVI. 1885. 32* 500 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. schichten sind zu dieser Zeit dicht mit Reservestoffen, namentlich Stärke- körnern angefüllt, die sich auch in dem (nach oben liegenden) Assimila- tionsgewebe aber in geringerer Menge finden. Ich hatte erwartet, dass die Neubildungen gegen den Rand der Stücke zu auftreten würden, weleher ursprünglich der Mittelrippe zugekehrt war. Denn die Randteile des Thallus sind diejenigen, die hauptsächlich assimilieren. Die Assi- milate werden von ihnen aus nach der Mittelrippe geleitet und von dieser nach der Stelle des Verbrauches, speziell nach dem Vegetations- punkte hin. Das Resultat entsprach insofern nicht ganz der Erwar- tung, als die Adventivsprosse etwa in der Mitte zwischen Rand und seitlicher Wundfläche auftraten (Fig. 20, II), ein Verhalten, das an das vor Ophioglossum Wurzeln früher angeführte erinnert, und vielleicht!) gleichfalls darauf zurückzuführen ist, dass von der Wundfläche aus eine Sehädigung ausgeht, welche für die Entstehung von Neubildungen nicht günstig ist, thatsächlich waren die Zellen an der Wundfläche auch meist gebräunt und abgestorben. Wie dem nun auch sei, das Resultat entspricht doch der Hauptsache nach den Voraussetzungen: wir sehen, dass die Seitenteile nieht in der Längsrichtung der Thallus polari- siert sind2), wohl aber die Mittelrippe, diese entspricht gewissermaßen der Sprossachse, die Randteile den Blättern. Die Pflanzen wurden in der Winterruhe benützt, weil hier die Stoffbewegung im Stillstand ist, sie wurde erst nach der Abtrennung der Stärke durch die Kultur bei höherer Temperatur angeregt. Es ist jaklar, dass da die Mittelrippe und Randteile bei diesen Pflanzen nicht scharf getrennt sind, auch die Be- wegung der Baustoffe nicht in beiden Teilen so verschieden sein wird, wie oben zunächst angenommen wurde, deshalb wurden Sprosse ge- wählt, in denen eine Bewegung der Baustoffe nach vorne noch nicht eingetreten war, wie sieh die Pflanze im Frühjahr verhält, wurde nicht untersucht. Wenn man sich denkt, dass an einem Thallus der Scheitel und der hintere Teil abgeschnitten würde und man den Scheitelteil hinten aufpfropfen könnte, so würde nach einiger Zeit 4) Es wäre natürlich auch möglich, dass die Zellen in der mittleren Region besonders leicht auswachsen köimen. — Nach den Erfahrungen mit anderen Marchantieen ist anzunehmen, dass auch das Assimilationsgewebe regene- rationsfähig ist, diese Eigenschaft aber nicht entfaltet, solange es mit dem mehr zur Regeneration disponierten Speichergewebe der Thallusunterseite in Verbindung ist. 2) Für Lunularia gelangte Vöchting zu einem anderen Resultat, es muss hier dahingestellt bleiben, ob die Verschiedenheit der weniger ausgeprägten Verschiedenheit von Mittelrippe und Seitenteilen oder anderen Verhältnissen zuzuschreiben ist. Für Corsinia (eine andere in den Verwandtschaftskreis der Marchantieen gehörige Lebermoosform) fand Schostakowitsch, dass wenn man das Assimilationsgewebe durch einen der Thallusoberfläche parallelen Schnitt abtrennt, aus ihm eine Menge von Adventivsprossen ohne erkennbare Verschiedenheit von Apikal- und Basalende entstehen (a. a.0. p. 328). Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. 501 unserer Ansicht nach die Polarität der Mittelrippe bei der Regeneration umgekehrt werden, indes bietet der Versuch aus verschiedenen Grün- den (auch wenn man das Regenerationsbestreben der Thallus unter- drücken würde) wohl wenig Aussicht auf Gelingen. Die angeführte Vermutung sollte auch nur weiter verdeutlichen, wie die Anordung bei der Regeneration von der in der unverletzten Pflanze nach den Vege- tationspunkten hin stattfindenden Stoffbewegung abhängt, und wie die Vegetationspunkte als Anziehungscentren für die Stoffbewegung dienen. Darauf, dass die Anziehung nur auf eine begrenzte Entfernung wirksam ist, wurde a.a.O. p. 41 zurückgeführt, dass an älteren Spross- stücken von Marchantia und anderen Pflanzen die Polarität weniger ausgeprägt ist, und dass bei älteren Farnprothallien an der Basis auch ohne Verletzung Adventivsprossungen auftreten, die wir auch bei Jungen Prothallien leicht erzielen können, wenn wir den Vegetations- punkt zerstören. Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass auch die für die Blattregeneration bei Cyelamen und Sfreptocarpus oben angeführten Thatsachen für uns derselben Deutung unterliegen. S 4. Dass die bei der Regeneration entstehenden Neubildungen ab- hängig sind von dem Entwicklungszustand der Pflanze, welche die Regeneration ausführt, tritt nicht überall deutlich hervor. Doch haben wir oben darauf hingewiesen, dass ein in Knollenbildung begriffenes Aconitum nach Entfernung der Knolle eine neue Knolle (nicht etwa einen vegetativen Seitenzweig) an der dazu prädisponierten Basis der Pflanzen erzeugt, eine einjährige Pflanze, deren Blüten entfernt werden, neue Blüten. An abgetrennten Pflanzenteilen kennen wir dafür bis Jetzt nur wenige Beispiele. Wakker fand, dass an den Blättern von begonia discolor, wenn man sie im Herbst zur Regeneration veran- lasst, nicht Laubsprosse, (wie dies im Frühjahr und Sommer geschieht), sondern Knöllchen entstehen, die Pflanze ist zu dieser Zeit in das Stadium der Knollenbildung eingetreten, es entstehen außer der basalen Knolle auch Knöllehen in den Blattachseln. Ganz analog ist die von Sachs gemachte Erfahrung, dass bei Begonia Rex die Adventivsprosse von Blättern, die blühreifen Pflanzen entnommen waren, viel früher zur Blütenbildung schreiten, als die der Blätter nieht blühreifer Pflanzen. Von Achimenes habe ich Analoges a. a. ©. erwähnt und abgebildet!). Sachs hat seine Erfahrung mit als Stütze für seme Annahme blüten- bildender Stoffe verwertet. Ich habe a.a. ©. bemerkt, dass dazu kein 1) Die Fig. 19 (a.a. 0.) ist beiMorgan nicht sehr gelungen reproduziert. Zu seinen anderen, der botanischen Litteratur entnommenen Abbildungen sei noch bemerkt, dass die Fig. 9, D—F nicht „Lunularia communis“ darstellt, sondern Marchantia polymorpha. Die „fruiting heads“ von Lunularia sehen ganz anders aus. 502 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. zwingender Grund vorliege, weil auch angenommen werden könne, dass die Blätter blühreifer Pflanzen ärmer an Baumaterial sein werden, und die an ihnen entstehenden Adventivsprosse infolgedessen von vornherein geschwächt und dadurch zur Blütenbildung geneigt sein könnte. Es ist ja eine bekannte Erfahrung, dass Hemmung des vege- tativen Wachstums die Blütenbildung vielfach begünstigt. Auf den von Wakker beschriebenen Fall lässt sich aber eine derartige Er- wägung nicht anwenden. Hier scheint mir die Annahme die nächst- liegende, dass die Knollenbildung bedingt wird durch eine in den Blättern entstehende Verbindung, die man mit Beijerinck als ein Wucehsenzym bezeichnen könnte. Dieses „Wuchsenzym“ veranlasst die Sprosse sich als Knöllchen auszubilden und da es sich gegen den Herbst hin besonders stark ausbildet, muss auch bei der Regeneration die genannte Erscheinung auftreten. Ehe es gelingt, ein solches „Wuchsenzym“ zu isolieren und mittelst desselben Sprosse zur Um- bildung zu Knöllchen zu bringen, ist die Annahme natürlich ein bloßer Vergleich des Vorganges mit anderen, z.B. den bei der Gallenbildung eintretenden, aber es scheint mir durchaus nicht unwahrscheinlich, dass wir solehe Wuchsenzyme wirklich werden gewinnen können. Bei den verwickelten Verhältnissen, die bei der Organbildung in Betracht kommen, ist nicht zu erwarten, dass Beziehungen, wie sie für Begonia und Achimenes erwähnt würden, überall nachzuweisen sein werden. Es mag gestattet sein, ein eigentümliches Beispiel hier noch anzuführen. Im Oktober 1897 schnitt ich Blütenstände von Naegelia ( Tydaea) hybrida und Klugia Notoniana ab und behandelte sie als Stecklinge. Obwohl sie keine Laubblätter besaßen, bewurzelten .sie sich unter Callusbildung. Die noch unentfalteten Blütenknospen der Naegelia streekten meist ihre Stiele und entfalteten ihre Blüten, als ob die In- floreseenz noch an der Pflanze befestigt wäre, auch bei Klugia geschah dies bei einzelnen. Die Inflorescenzstecklinge dieser Pflanze gingen aber später zu Grunde, während die von Naegelia nach 7 Monaten Folgen- des zeigten. An einer Anzahl der Stecklinge befanden sich in der Erde weiße, tannenzapfenähnliche Zwiebel-Knöllchen, wie sie bei manchen Gesneriaceen normal als überwinternde Reservestoffbehälter auftreten, sie schienen aus dem Callus der Stecklinge hervorgegangen zu sein. Beizweien der Stecklinge dagegen hatte sich die Spitze der Inflorescenz zu einem Knöllchen umgebildet, die Schuppenblätter, in denen die Reservestoffe abgelagert sind, waren hier grün und dieht mit Drüsenhaaren bedeckt. Diese zweiPflanzen hatten an ihrerBasis keineKnöllchen. Die Zahl der Stecklinge war eine zu kleine, als dass man aus ihrem Verhalten weitgehende Schlüsse ziehen könnte. Immerhin scheint mir aus dem Mitgeteilten folgendes hervorzugehen: 1. Auch die Inflorescenzen nehmen an der Disposition der ganzen @oebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich, 503 Pflanze in bestimmten Entwieklungsstadien Knöllehen zu bilden teil. Das Material dazu gewinnen sie wohl zum Teile wenigstens durch eigene Assimilation ihrer chlorophyllhaltigen Teile. 2. Darauf ist zurückzuführen, dass bei der an den Infloreseenzen auf- tretenden, „Regeneration“ nicht Laubsprosse, sondern Knöllehen auftreten. Der normale Ort für diese ist die Basis der Steeklinge, wird hier aus irgend einem Grunde die Knöllehenbildung verhindert!), so kann sie bei dem Mangel entwicklungsfähiger axillärer Vegetationspunkte an der Infloreseenzspitze auftreten, die letztere Thatsache zeigt uns zu- gleich, dass die Begrenztheit des Wachstums der Inflorescenzachse, welche „normal“ stets vorhanden ist, keine in der inneren Beschaffenheit der- selben von vornherein gegebenes, sondern eine durch die Verbindung mit der übrigen Pflanze veranlasste („indueierte“) ist. Es ist am Schlusse dieser Abhandlung nicht notwendig, die Re- sultate noch einmal kurz zusammenzufassen, denn dies ist schon in der Einleitung geschehen, und eine „Theorie“ oder „Erklärung“ der Regenerationserscheinungen ist, wie mehrfach hervorgehoben, nicht beabsichtigt. Auf die Bedeutung der Korrelationen wurde dabei be- sonders hingewiesen. Wenn Morgan (a. a. O. p. 272) die Korre- lationen besser verständlich zu machen sucht, wenn er annimmt, sie seien verbunden „with some condition of tension in the living part‘, so wird darin wohl kaum jemand einen Fortschritt erblicken. Es scheint deshalb nicht erforderlich, darauf näher einzugehen. Nachtrag. Es wurde oben (p. 433) erwähnt, dass die Blätter der Farne ein günstiges Objekt für Regenerationsversuche darbieten, weil ihre Spitze lange Zeit embryonal bleibt, dass aber die vom Verf. an Dlechnum brasiliense und Polypodium subauriculatum ausgeführten Versuche nicht gelungen seien. Es kommt bei derartigen Versuchen nicht nur auf die Regenerationsfähigkeit allein an, sondern auch darauf, dass das Blatt im stande ist, eine so tiefgreifende Verwundung wie die Halbierung seiner Spitze eine ist, zu ertragen. Ein sehr günstiges Objekt fand sich in Polypodium Heracleum. Dieser epiphytisch wachsende Farn besitzt mächtige, derbe, einfach fiederteilige Blätter. An zwei jungen Blättern wurde die eingerollte Spitze möglichst median gespalten, beide zeigten Regeneration, wenngleich in verschiedenem Grade. Das eine der Blätter ist — stark verkleinert — in Fig. 21 abgebildet. Das Blatt hat sich infolge der Längsspaltung an der Spitze gegabelt. Jede 1) Bei Achimenes, einer anderen Gesneriacee, kommt es im Sommer nicht selten vor, dass an nicht blühenden Pflanzen oberirdische Knöllehen auftreten. Die Bedingungen dafür sind näher zu untersuchen. Uebrigens giebt es auch Achimenesarten, die in der Nähe der Blüten normal Knöllchen bilden. 504 Goebel, Ueber Regeneration im Pflanzenreich. der beiden Hälften hat auf der der Spaltungsfläche zugekehrten Seite drei neue Fiedern entwickelt, welche an Größe gegenüber den auf der Außenseite stehenden nicht zurückbleiben. An dem unteren Teil dieser Gabelteile ist die Blattspreite nur unvollständig entwickelt, die hier Fig. 21. Polypodium Heracleum. Blatt (auf ?/,, verkleinert), dessen Spitze vor einiger Zeit gespalten wurde. Beide Spaltstücke haben sich zu vollständigen Blatt- enden ergänzt, also rechts und links Fiederblättehen hervorgebracht. stehenden Blattfiedern sind verkrüppelt. (Auf der Unterseite setzt sich die schmale Spreite beiderseits auf den gemeinschaftlichen Teil der Mittelrippe fort. Es ist wohl anzunehmen, dass die getrennten Stücke auf der Blattoberseite eine Strecke weit an ihrer Basis wieder ver- Moll, Die Mutationstheorie. 505 wuchsen.) Es spricht sich darin einerseits die schädliche Wirkung der Verwundung aus, welche später überwunden wird, andererseits waren die hier liegenden Teile bei der Verwundung auch älter als die weiter nach der Spitze zu liegenden, und deshalb weniger regenerationsfähig. Bei dem zweiten operierten Blatte waren die beiden Teilhälften ungleich ausgebildet: die eine hatte auf der Verletzungsseite außer einer ver- krüppelten zwei normale neue Fiedern gebildet; die andere mehr seit- lich stehende hier nur (nach einiger Zeit) eine Spreite entwickelt, aber keine Fiedern hervorgebracht. Vielleicht hat man es durch die Rich- tung, in welcher die Längsspaltung erfolgt, in der Hand, gleiche oder ungleich starke Teilhälften zu erzielen, sie werden gleich stark sein, wenn sie vom embryonalen Gewebe der Blattspitze gleich große Teile mitbekommen und beide die Verwundung gleich gut überstehen, bei ungleicher Teilung wird die kleinere Hälfte weniger ausgiebige Re- generation zeigen als die größere. Offenbar schließt sich das Verhalten dieser Blätter bei der Regeneration ganz dem für längsgeteilte Farn- prothallien oben erwähnten an, ihr Verhalten ist aber ein besonders lehrreiches, weshalb hier noch kurz darauf eingegangen wurde, auch wird es für spätere Untersuchungen nicht unerwünscht sein, dass in Pol. Heracleum ein besonders günstiges Objekt nachgewiesen ist. Gabelung von Blättern tritt bei Farnen übrigens als „Mutation“ der gewöhnlichen Blattform sehr häufig ein, es handelt sich dabei aber nicht um trau- matische Beeinflussung. Die Mutationstheorie. II. Teil. Von Dr. J. W. Moll. In einem früheren Aufsatze!) habe ich die Grundlagen der Mu- tationstheorie behandelt. Ich versuchte zu zeigen, dass die erblichen Abweichungen, welche zur Entstehung neuer Arten führen können, die- jenigen sind, welche de Vries unter dem Namen von Mutationen zu- sammengefasst hat. Er rechnet dazu die sogenannten stoßweisen Ab- weichungen oder Sprungvariationen, welchen die meisten teratologischen Abweichungen sich anreihen, und ferner zumal die von ihm bei Oenothera Lamarckiana beobachteten Abweichungen, welche zu der Bil- dung einer Reihe neuer Formen führten. Ein Hauptergebnis dieser Betrachtungen war ferner, dass die sogenannte kontinuierliche oder fluktuierende Variabilität nicht zur Bildung neuer Artmerkmale führt. Bei statistischer Untersuchung zeigt sich diese Variabilität, welche allen Individuen gemeinsam ist, nur als Schwankung um einen Mittel- wert, und zwar nach dem Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung. 1) diese Zeitschr., Bd. XXI, 1901, S. 257. 506 Moll, Die Mutationstheorie. Seitdem hat de Vries wieder zwei Lieferungen seines Buches publiziert!), deren Inhalt ich jetzt besprechen will. Es werden darin die Mutationen sowohl nach ihrem Charakter als zumal auch nach dem Grade ihrer Erblichkeit ausführlich untersucht. Der Charakter der meisten aus Oenothera Lamarckiana entstandenen Mutanten ist, ebenso wie derjenige, der aus Chelidonium majus ent- standenen Chelidonium laciniatum durchaus derjenige der in der Natur vorkommenden elementaren Arten; die Mutation hat das ganze Wesen der Pflanzen geändert, es ist etwas ohne Vorbild entstanden. Doch war das nicht bei allen Oenothera-Mutanten der Fall, denn die O. na- nella war eine Zwergform, wie solche bei einer großen Menge anderer Pflanzenarten bekannt sind. Es bildet diese Pflanze eine Uebergangs- form zu den eigentlichen Sprungvariationen, welche im Gartenbau eine so hervorragende Rolle spielen, denn auch diese wiederholen sich meistens bei sehr verschiedenen Arten. Und so wie die Oenothera nanella sich der Hauptsache nach nur durch ein einziges Merkmal, die Größe, von der Stammform unterscheidet, so bezieht sich auch bei den meisten ge- wöhnlichen Sprungvariationen die Abänderung nur auf ein einziges Merkmal, oft auf das Verschwinden desselben, zum Beispiel Farbe oder Behaarung, oft auch auf das regelmäßige Hervortreten eines sonst ganz oder teilweise latenten Merkmales, selten aber auf die Verstär- kung eines schon vorhandenen. Es sind somit die durch Sprung- variation entstandenen Formen auch oft atavistischer Natur. Ueber diese Verhältnisse werde ich jetzt mehr eingehend zu berichten haben, und zumal werde ich ihre Bedeutung für die Artbildung untersuchen. Aber, wie gesagt, wird in diesen Lieferungen des Buches in erster Linie der Grad der Erblichkeit verschiedener Mutationen untersucht. Bei der allgemeinen Auseinandersetzung der Mutationstheorie wurden die vollkommen konstant erblichen Mutationen stark in den Vorder- grund gestellt, und das war gewiss erlaubt, da solche sowohl bei Oenothera Lamarckiana wie bei den Sprungvariationen sehr viel vor- kommen. So entstand die Vorstellung eines gewissen Gegensatzes zwischen Landwirtschaft und Gartenbau. Die erstere beschäftigt sich in erster Linie mit der Bildung veredelter Rassen durch Selektion kontinuierlicher Variationen; der Gartenbau aber mit Mutationen, die nur isoliert zu werden brauchen, ohne dass dabei Selektion eine große Bedeutung hat. Wenn diese Vorstellung auch ohne Zweifel im all- gemeinen richtig ist, so werden wir jetzt sehen, dass die Ausnahmen von dieser Regel auch sehr zahlreich sind. Schon in dem vorigen Aufsatze habe ich darauf hingewiesen, dass die Mutante, welche de Vries Oenothera seintillans genannt hat, Keines- 1) Hugo de Vries. Die Mutationstheorie. Versuche und Beobachtungen über die Entstehung von Arten im Pflanzenreich, I. Bd., zweite und dritte Lieferung. Leipzig, Veit & Komp., 1901. Moll, Die Mutationstheorie. 507 wegs konstant erblich war, einmal nur 15°, und höchstens 84°/,. Ich kann jetzt hinzufügen, dass es außerdem noch zwei andere, früher nicht von mir besprochene Mutanten der Oenothera Lamarckiana giebt, welche dieselbe Erscheinung zeigen. Es sind ‚dies die Oenothera_ elliptica, welche bei Selbstbefruchtung nur 0.5—15°/, elliptica-Pflanzen liefert, sonst reine Lamarckiana, und die Oenothera sublinearis, deren Erb- lichkeit nur 10°, beträgt. Die Ursachen dieser Erscheinung sind frei- lich vollständig unbekannt. Aber ebenso giebt es neben den konstanten Sprungvariationen unserer Gartenpflanzen auch viele mit unvollkommener Erblichkeit. Einige dieser Fälle hat nun de Vries ausführlich untersucht, und es sind zumal die dabei gewonnenen Resultate, über welche ich hier zu berichten haben werde. Sie sind sehr lehrreich für die genauere Kenntnis des Wesens der Mutation. Die Untersuchung fand stets mit Hilfe von Kulturversuchen statt, und zur Beurteilung der Resultate wurde fast ohne Ausnahme die sta- tistische Methode angewandt. Diese Methode führt bei nicht konstanten Formen oft zu Kurven, welche den Charakter von Wahrscheinlichkeits- kurven zeigen und von de Vries im allgemeinen als solche betrachtet werden. Solche Thatsachen führen uns also beim Studium der Mu- tationen in das Gebiet der fluktuierenden Variation zurück. Oder mit anderen Worten, wir werden erfahren, dass es aus Mutation hervor- gegangene Merkmale giebt, welche nicht nur, wie gewöhnlich, nach Maß und Zahl fluktuierend variieren, sondern dieselbe Erscheinung auch zeigen in dem Grade ihrer unvollkommenen Erblichkeit. So können wir uns vorstellen, dass dem Gärtner, wenn er, von einer nicht vollkommen erblichen Mutation ausgehend, eine neue Form fixieren will, auch die fluktuierende Variation begegnet; er kann sich deshalb nicht mit einer einfachen Isolierung begnügen, sondern ist gezwungen, auch systematisch Selektion auszuüben. Eine andere Reihe von Thatsachen, welche unsere Aufmerksam- keit sehr fesseln wird, bezieht sich auf die von de Vries gemachte Entdeckung, dass die fluktuierende Variation nicht nur von der Se- lektion, sondern auch von der Nahrung, im allgemeinsten Sinne von der Lebenslage, in hohem Grade und in ganz entsprechender Weise beeinflusst werden kann. Und dieses hat auch für die fluktuierende Variation des Grades der Erblichkeit seine Gültigkeit. Es erhellt daraus, dass auf das Hervortreten eines nicht vollkommen erblichen Merkmales in künftigen Generationen nicht nur durch Selektion, son- dern auch durch die Nahrungsverhältnisse ein starker Einfluss geübt werden kann. Und zwar im allgemeinen in dieser Form, dass die Merkmale, welche die größte Neigung zur Latenz zeigen, sowohl durch gute Ernährung als durch Selektion der sie zeigenden Individuen em- porgeführt werden können. 508 Moll, Die Mutationstheorie. Noch eine andere Reihe von Thatsachen wird hier ausführlich be- sprochen werden müssen. de Vries hat nämlich durch seine Beobachtungen feststellen können, dass sich in dem Grade der Erb- lichkeit eines durch Mutation entstandenen Merkmales bei ver- schiedenen Pflanzenarten, oft auch bei verschiedenen Rassen der- selben Art gewisse Stufen unterscheiden lassen. Das heisst: das durch Mutation hervortretende Merkmal kann ein gewisses Mittelmaß in dem Grade seiner Erbliehkeit mitbringen, um welches fluktuierende Variation zwar stattfinden kann, aber welches nicht in Wirklichkeit überschritten werden kann, wenn nicht erst aufs neue eine Mutation stattgefunden hat. Eine solche kann dann das Mittelmaß des Grades der Erblichkeit auf eine höhere oder niedere Stufe führen. Wir werden hauptsächlich zwei solche Stufen der Erblichkeit kennen lernen; die sie zeigenden Rassen werden von de V ries zusammen als Zwischen- rassen, bezw. als Halbrasse und Mittelrasse bezeichnet. Das sind nun im allgemeinen die Hauptresultate der Untersuchung, welche in diesen Lieferungen des Buches besprochen werden. Zum besseren Verständnis der mitzuteilenden Thatsachen schien es mir nützlich, diese kurze Uebersicht des Inhaltes hier vorauszuschicken. Ich will jetzt zuerst den Einfluss der Nahrungsverhältnisse auf die fluktuierende Variation besprechen und den Zusammenhang zwischen Nahrung und Selektion. Dann werde ich eine Reihe von Thatsachen und Kulturversuchen behandeln, welche sich zumal auf Gartenvarietäten beziehen. Dabei wird der Charakter der Mutationen, durch welche sie entstanden sind, jedesmal hervorgehoben werden, aber insbesondere werden die Stufen der unvollkommenen Erblichkeit dabei studiert werden müssen. Schließlich werde ich dann versuchen, zu zeigen, welche Bedeutung die gewonnenen Kenntnisse für unsere Ansichten in der systematischen Botanik haben können. Der Einfluss der Ernährungsverhältnisse auf die fluktuierende Variation. Die fluktuierende Variation kann sich bekanntlich auf zwei ver- schiedene Weisen zeigen, und zwar erstens nach Maß und Gewicht. Solche Variationen werden quantitative genannt; sie beziehen sich stets auf das mehr oder weniger Hervortreten eines anwesenden Merkmales. Zweitens aber kann die fluktuierende Variation nach Zahlen statt- finden, wie z. B. die Blütenzählungen Ludwig’s zeigen. Das wird nach Bateson meristische') Variabilität genannt. Es handelt sich dabei nicht um das mehr oder weniger Hervortreten eines Merkmals, 4) oder diskontinuierliche; diese Bezeichnung sollte jetzt aber nieht mehr in diesem Sinne benutzt werden, da sie im Zusammenhange mit der Mutations- theorie ohne Zweifel Verwirrung geben wird. Moll, Die Mutationstheorie. 509 sondern um die Frage, ob gewisse Merkmale an bestimmter Stelle überhaupt sichtbar werden oder nicht. Man kann sich sehr gut vor- stellen, dass auch in solchen Fällen die Verhältnisse so liegen, dass im allgemeinen ein gewisser Mittelwert erreicht wird, während die Schwankungen dem Gesetze des Zufalls gehorchen. Nun haben die Untersuchungen von de Vries gelehrt, dass es noch andere Fälle giebt, welche, obgleich von der meristischen Va- riabilität verschieden, sich dennoch dieser eng anschließen. Und zwar sind das diejenigen Fälle, in denen man durch Mutation aktivierte Merkmale hat, welche aber nicht vollkommen erblich sind. Die Garten- varietäten mit gefüllten Blüten, welche durch Umwandlung von Staub- fäden in Petalen entstehen, liefern davon oft schöne Beispiele. Denn in weitaus den meisten Fällen bleiben in allen oder fast allen Blüten mehrere, oft viele Staubfäden ungeändert. Die Schwankungen in der Zahl der Blumenblätter schließen sich hier also zwar den meristischen Variationen an, aber sind doch auch wieder davon verschieden, weil sich hier ein neues Moment hineinschiebt. Es handelt sich hier bei der Bildung der überzähligen Petalen nicht nur um die Frage, ob ge- wisse Merkmale an bestimmter Stelle sich entfalten werden oder nicht, sondern auch um die Frage, ob gewisse Merkmale, welche die Bildung eines Blumenblattes bedingen, sich an einer Stelle entfalten werden, wo bei der Stammart nur die Bildung eines Staubfadens stattfindet. Die Mutation hat also hier die Möglichkeit geschaffen, dass Petalen sich an der Stelle der Staubfäden entwickeln, und ist das ein für allemal geschehen, so hat man die petalomane Form, welche nur Blumenblätter hervorbringt. Aber ist, wie bei den meisten gefüllten Varietäten, das Mutationsmerkmal nur teilweise erblich, so kann manch- mal bei der Bildung eines gewissen Gliedes ein Antagonismus, ein Streit bestehen zwischen den zwei bei der reinen Art aktiv vorhandenen Merkmalen, von denen aber das eine sonst an dieser Stelle sich nie entfaltet. Man kann sich leicht vorstellen, wie auf diese Weise Ver- hältnisse entstehen, in denen gewöhnlich eine bestimmte mittlere Zahl von Staubfäden in Petalen umgeändert wird, aber zufällige Umstände auch in manchen Fällen die Wage nach der einen oder der anderen Seite überschlagen lassen können. So scheint es sich nun in der That zu verhalten, denn de Vries zeigt uns, dass bei statistischer Unter- suchung in solchen Fällen Kurven hervorgehen, welche in ihrem Cha- rakter den Quetelet-Galton’schen ähnlich sind. Diese Kurven kann man also als solche den Wahrscheinlichkeitskurven zur Seite stellen, und es steht nichts der Auffassung entgegen, die ganze Erscheinung als der fluktuierenden Variation angehörig zu betrachten. Nur soll man sich Rechenschaft geben, dass die betreffenden Erscheinungen verschieden sind und dass bei den jetzt betrachteten eine größere Komplikation stattfindet. Es handelt sich eben in beiden Fällen um 510 Moll, Die Mutationstheorie. ein Hasardspiel, aber das zuletzt besprochene ist mehr verwickelter Natur. Nun können wir noch einen Schritt weiter gehen. Es kommen nämlich auch Mutationen vor, bei denen es sich nicht um das Hervor- treten normaler, aktiver Merkmale an ungewohnten Stellen handelt, sondern um die Aktivierung solcher, welche in der reinen Art nur la- tent vorhanden sind und ihre Anwesenheit nur durch ein höchst seltenes, unregelmäßig periodisches Hervortreten verraten. Aber auch hier braucht das durch Mutation aktivierte Merkmal keineswegs kon- stant erblich zu sein, wenn es auch in den Erben regelmäßig hervor- tritt. Wir werden z. B. eine Rasse der Plantago lanceolata kennen lernen, welche de Vries gezüchtet hat und in welcher die Blütenähren oft, wenn auch keineswegs immer, verzweigt sind. Das ist eine durch Mutation entstandene Rasse, und die Mutation bestand in der Akti- vierung eines latenten Merkmals, denn verzweigte Aehrchen kommen auch in der Natur gelegentlich bei dieser Pflanze vor. Es ist selbst- verständlich, dass in solchen Fällen wieder die oben erörterten Ver- hältnisse obwalten können. Der Unterschied ist nur, dass es sich hier um einen Antagonismus zwischen einem in der Stammart normalen und einem in derselben latenten Merkmal handelt. Sonst ist alles das- selbe, die Wahrscheinlichkeitskurven zeigen sich hier ebensogut; nur beziehen sie sich hier auf ein wieder etwas anders zusammengesetztes biologisches Spiel. Es ist kaum nötig, zu bemerken, dass dieselben Verhältnisse des Zufalls sich wiederholen können, wenn die Mutation nur in dem Ueber- gange eines sonst aktiven Merkmals in den Zustand der teilweisen Latenz besteht, wie wir solches bei buntblätterigen Pflanzen finden werden. In allen diesen drei letzteren Fällen hat man also die fluk- tuierende Variation der Erblichkeit eines durch Mutation unvollständig aktivierten Merkmals. Unter bestimmten Umständen hat die Erblich- keit dann einen gewissen, bei der Mutation bestimmten Mittelwert, dem aber durch zufällige kleinere Ursachen nach den Gesetzen der Wahr- scheinlichkeitsrechnung etwas zugefügt oder abgezogen werden kann, so dass die statistische Untersuchung eine Quetelet-Galton’sche Kurve, sei es auch oft von besonderer Form, ergiebt. Man kann also einsehen, dass die fluktuierende Variation bei der Vererbung der nicht vollkommen erblichen, durch Mutation hervor- gerufenen Merkmale eine Rolle spielt, und somit ist es deutlich, dass eine Untersuchung der Ursachen, welche die fluktuierende Variabilität beherrschen, auch für die Mutationstheorie von sehr großer Bedeutung ist. de Vries sucht nun diese Ursachen in der Lebenslage der ver- schiedenen Individuen, was man auch deren Nahrungsverhältnisse im ausgedehntestem Sinne des Wortes nennen kann, nicht nur die Menge Moll, Die Mutationstheorie. 511 der angebotenen Nahrung, sondern auch alles, was für deren Gedeihen vorteilhaft oder nachteilig sein kann, wie viel oder wenig Licht, höhere oder niedere Temperatur, mehr oder weniger geschützter Stand- platz u. s. w. Er hat den experimentellen Beweis geliefert, dass in allen von uns unterschiedenen Fällen der fluktuierenden Variation die Verschieden- heiten der Lebenslage in erster Linie die Variation bedingen und jeder individuellen Pflanze ihren Platz in der Kurve anweisen; und weiter, dass die Selektion im Wesen der Sache nichts anderes ist als die Wahl von Individuen, deren Nahrung einen bestimmten Wert erreicht hat; in Gartenbau und Landwirtschaft zumeist von gut genährten. Des weiteren haben seine Versuche gelehrt, dass in den Fällen, wo antagonistische Merkmale bei der Vererbung einen Wettkampf führen, die gute Ernährung und die Selektion kräftiger Individuen im allge- meinen die latenten, also schwächeren, und auch die systematisch jüngeren, noch nicht so lange zum Wesen der Art gehörigen Merk- male begünstigt auf Kosten der aktiven, gewöhnlich kräftigeren und der systematisch älteren Merkmale. Fangen wir mit der fluktuierenden Variation nach Maß und Ge- wicht an. Hier liegt es natürlich sehr auf der Hand, zu meinen, dass starke Ernährung und Selektion stark genährter Individuen die Va- riation nach der positiven Seite begünstigen werden und umgekehrt. Fortwährende Selektion ist dann eigentlich die Benutzung auch der am besten genährten Vorfahren, und mit dieser Auffassung ist die Beobachtung sehr gut im Einklang, dass durch Selektion 'sehr bald das überhaupt erreichbare erreicht wird, denn das muss offenbar auch bei guter Ernährung der Fall sein. Weiter ist es bekannt, dass z. B. der englische Züchter Hallet seine veredelten Rassen landwirtschaft- licher Pflanzen fast nur durch überaus starke Ernährung einzelner Individuen hergestellt hat. de Vries hat aber den exakten Beweis durch sehr merkwürdige Versuche über die Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana und rubri- nervis geliefert. Die Fruchtlänge beider zeigte sich bei statistischer Untersuchung als die gleiche; sehr deutlich und mit gleicher Amplitude fluktuierend variierend. Der Einfluss der Ernährung und Selektion trat nun deutlich hervor als bei 38 Pflanzen nicht nur die Fruchtlänge, sondern auch die Dicke der Frucht und die Länge und Dicke des Stengels gemessen wurden. Im allgemeinen fand man bei den ein- zelnen Pflanzen Schwankungen dieser Werte im gleichen Sinne, so dass man sie in ungefähr derselben Reihenfolge ordnen konnte, ent- weder nach der Fruchtlänge oder nach einem der anderen Werte. Aber auch Kulturversuche wurden angestellt, und es wird gut sein, hier sogleich mitzuteilen, dass diese, wie auch alle anderen Versuche derselben Art nieht nur zu ihren speziellen Resultaten, sondern im 512 Moll, Die Mutationstheorie. allgemeinen zur Feststellung zweier Sätze führten: 1. je jünger die Pflanze ist, desto größer ist der Einfluss äußerer Umstände auf die Stelle, welche sie in der Kurve einnehmen wird, und im Zusammen- hange damit: 2. die Ernährung der Samen auf der Mutterpflanze hat oft mehr Einfluss als diejenige der aus den Samen aufgehenden Keim- pflanzen oder der noch späteren Stadien. Aus diesem letzteren Satze ergiebt sich was de Vries „das Prinzip der Düngung der Mutter- pflanzen“ nennt, ein Prinzip, welches bei Selektionsversuchen von der größten Bedeutung ist. Für die Versuche über die Fruchtlänge wurden nun zwei Kulturen gemacht, die eine mit negativer, die andere mit positiver Selektion, aber beide mit starker Düngung. Als die Kurven der Fruchtlänge bei den Nachkommen ermittelt waren, zeigte sich in beiden Fällen ein Fortschritt, und zwar bei positiver Selektion nur wenig mehr als bei negativer. Der Einfluss der Nahrung zeigte sich hier also als überwiegend, und dieser Einfluss zeigte sich noch stärker in einem weiteren Kultur- versuche mit Oenothera rubrinervis, in dem keine Selektion stattfand, aber die Düngung der Keimpflanzen eine überaus starke war, noch viel stärker als in den vorigen Kulturen. Hier war der Fortschritt in der Fruchtlänge weitaus am stärksten. Die nachstehende Tabelle der gewonnenen Zahlen wird das Ergebnis der Versuche veranschaulichen: Oenothera Lamarckiana Mittlere Fruchtlänge Ürsprungliche-Rormer ., Sr a. 2 We en, 25.2 mm Lanefüchtige Rasse) Pa Sn AT EHRT len Baden Kuürzfrüchtige' Rasse Ui Rn Sana a a AR EIIE Oenothera rubrinervis bei starker Düngung der Keimpflanzen . . .. 38.37, Uebrigens blieben in allen Fällen die Kurven symmetrisch: es fand also nicht eine Verschiebung nur des Gipfels, also nur der mittleren Fruchtlängen statt, sondern alle Individuen wurden im gleichen Sinne beeinflusst, so dass die ganze Kurve sozusagen fortgeschoben wurde. Die Amplitude der Variation war ziemlich bedeutend zugenommen bei der kurzfrüchtigen Rasse, wo Selektion und Düngung im entgegen- gesetzten Sinne wirkten. Und das lässt sich auch ganz gut verstehen, denn diese entgegengesetzte Wirkung bedeutet größere Verschiedenheit der äußeren Umstände. Man sieht also, dass hier durch starke Ernährung allein dasselbe erreicht werden konnte, was sich durch positive Selektion erreichen lässt, nämlich eine langfrüchtige, veredelte Rasse; und dass negative Selektion diese Wirkung beeinträchtigen konnte, wie wir das weiter unten noch deutlicher sehen werden. Wir gehen nun zu den Fällen der fluktuierenden Variation nach der Zahl über. Aus der Litteratur sind verschiedene Fälle bekannt, Moll, Die Mutationstheorie. 513 die auf eine Abhängigkeit dieser Form der Variation von Ernährungs- verhältnissen hinweisen. Goebel fand bei Agrimonia Eupatorium die unteren, am besten ernährten Blüten viel reicher an Staubfäden wie die oberen. Bei den Zuckerrüben sind die am besten ernährten Knäuel des Stammes reicher an Samen wie die schwächeren. MacLeod sah, wie bei der Kornblume die Zahl der Randblüten steigt und sinkt mit der kräftigeren oder schwächeren Entwicklung der Pflanze oder des Zweiges. de Vries selbst hatte schon früher Versuche mit der Com- posite Othoma crassifolia beschrieben, welche beweisen, dass die Zahl der Zungenblüten bei schwächerer Ernährung abnimmt. Hier werden nun Kulturversuche beschrieben über die Zahl der Schirmstrablen bei Umbelliferen ( Anethum graveolens und Coriandrum sativum) und über die Zahl der Zungenblüten bei Compositen (Chrysanthemum segetum, Co- reopsis tinctoria, Bidens grandiflora und Madia elegans). Die Untersuchungen Ludwig’s haben ergeben, dass diese Zahlen nach dem Quetelet-Galton’schen Gesetze variieren. de Vries richtete nun seine Versuche derart ein, dass immer gute Ernährung mit Selektion in negativer Richtung kombiniert wurde. Das Resultat war, dass die Folgen beider sich in der That kombinieren lassen, woraus erhellt, dass Selektion und Ernährung Faktoren gleicher Ord- nung sind. Der Erfolg der Kombination war übrigens je nach den Pflanzen verschieden, und zwar zeigten sich die a priori möglichen Fälle alle drei. Beim Dill (Anethum graveolens) wurde die Selektionswirkung durch die Ernährung übertroffen. Die Mittelzahl der Strahlen bei aus Handels- samen erzogenen Pflanzen war 18.3; diese Zahl wurde in der ersten Generation des Versuchs 21.2, in der zweiten 25.2. Gleichgewicht zwischen Ernährung und Zuchtwahl war der Erfolg bei Ohrysanthemum segetum, Coreopsis tinetoria und Bidens grandiflora. Die Mittelzahlen für die Zungenblüten waren und blieben hier respektive 13, 8 und 5, während doch wenigstens bei Chrysanthemum die Keimkraft und die individuelle Kraft der ganzen Kultur durch die gute Ernährung be- deutend zunahm. Der Einfluss der Selektion aber überwog bei Co- riandrum sativum und Madia elegans, Der Mittelwert der Schirm- strahlen sank bei Coriandrum von 5.1 auf 4.3, während bei Madia dieser Wert für die Strahlenblüten von 18.9 zu 17.9 verringert wurde. Wir gehen jetzt zu dem weiteren Falle der fluktuierenden Variation über, wo infolge einer Mutation normale, aktive Merkmale der Pflanze antagonistisch auftreten an Stellen, wo sie sonst nieht vorkommen, wie das bei gefüllten Blüten bei Umwandlung der Staubfäden in Pe- talen vorkommen kann. Ein anderes schönes Beispiel einer solchen Mutation bietet Papaver somniferum polycephalum, eine Abart, bei der sich an Stelle der Staubfäden überzählige Karpelle entwickeln können, so dass die normal ausgebildete Frucht von einem Kranze kleiner XXI. 39 514 Moll, Die Mutationstheorie. Früchtehen umgeben erscheint. Mit dieser Pflanze hat de Vries sehr interessante Versuche über den uns hier beschäftigenden Gegenstand angestellt. Die Ausbildung der Anomalie ist bei dieser Pflanze eine sehr variable; es giebt Früchte, welche von 150 Nebenkarpellen umgeben sind, aber auch solche, bei denen nur einzelne Rudimente vorkommen. Variationskurven hat de Vries hier nicht ermittelt, aber diese sind auch überflüssig, wenn die Unterschiede so groß sind, dass sie ohne weiteres klar vor Augen liegen. So verhält es sich hier. Züchtet man die Pflanzen bei weitem Stande, sonniger Lage, starker Düngung und gleichmäßiger Feuchtigkeit, so ist die mittlere Zahl der Neben- früchtehen auf den Beeten eine sehr bedeutende, während man dieselbe bei entgegengesetzter Behandlung so herabsetzen kann, dass man die Pflanzen kaum als der monströsen Rasse angehörig erkennen würde. Ordnet man die Pflanzen einer Kultur nach ihrer Höhe, nach der Dicke des Stengels, namentlich nach Größe und Gewicht ihrer Früchte, so wird man in der Reihe aufsteigend auch die Zahl der Nebenfrüchtchen sich regelmäßig vergrößern sehen. Es zeigt sich hier somit der überwiegende Einfluss der Lebenslage auf die fluktuierende Variation der Erblichkeit. Dennoch kann der Einfluss der guten Ernährung sich nur äußern, wenn dieselbe statt- findet zur Zeit, wo die Staubblätter und Karpelle angelegt werden. Etwa in der sechsten Woche nach der Keimung werden die Neben- karpelle und die Staubblätter als kleine Wülstchen in den Blütenknospen angelegt. Wenn man nun die Keimpflanzen etwa zur Zeit, als das zweite oder dritte Blatt sich gebildet hat, verpflanzt, so erreicht man dadurch eine herabgesetzte Ernährung während der Zeit, in der über den Charakter der Staubfädenanlagen entschieden wird, und dadurch wird die Ausbildung von Staubfäden auf Kosten derjenigen von Kar- pellen begünstigt. Es giebt somit während der Entwicklung der Blüten eine sogenannte empfindliche Periode des uns hier beschäftigenden Merkmals, und es hängt von der Ernährung eben in dieser Periode ab, welches der beiden antogonistischen Merkmale den Sieg davontragen wird; bei guter Ernährung ist dies das an dieser Stelle gewöhnlich latente Merkmal, bei schlechter das gewöhnlich dort aktive und nor- male. Ist während der empfindlichen Periode die Bildung von Neben- karpellen unterdrückt worden, so kann man die verpflanzten Keimlinge nachher durch starke Düngung zu Prachtpflanzen erziehen, aber diese bringen doch fast nur Staubfäden und nur vereinzelte Nebenfrüchtehen hervor. Ein anderes Beispiel liefert uns die von de Vries gezüchtete Rasse Kanumeulus bulbosus semiplenus, mit, wie der Namen aussagt, wenig gefüllten Blüten. Im Mittel sind hier 4—5 Staubfäden in Pe- talen verwandelt, so dass die ganze Anzahl der letzteren 9—10 be- Moll, Die Mutationstheorie. 515 trägt, während überhaupt Schwankungen zwischen 5 und 31 Petalen vorkommen können. Diese Rasse wurde von ihm bei Hilversum wild- wachsend gefunden; sie ist durch Mutation entstanden aus der gewöhn- lichen fünfzähligen Art. Auch hier hat die Lebenslage sehr bedeuten- den Einfluss auf die Frequenz des Auftretens der Anomalie. Als die Pflanzen auf einem Sandbeete und in gewöhnlicher Gartenerde kulti- viert wurden, zeigte sich bei Zählung der Petalen vieler Blüten folgender Unterschied in Prozente ausgedrückt: AnzahlöderBlumenblätter. . ... Fe ragen AufzdemeSandbeeterı 1 ne. 2 Ed 0 Auts&artenerdesnn El min 596 A| 1 Es kommen auf Gartenerde viel mebr und auch stärker gefüllte Blumen vor. Denselben Erfolg hatte ein Kulturversuch auf nicht gedüngtem und stark gedüngtem Gartenboden. Die Zahlen waren hier folgende: Blumenblätten, « 222, 1:93°..61.4:7..,484,:9 10,41 412,.13, 14 Ohne=Dimnversa, .2.2.127,15723 24:12:10. 3, 71-2 1,7, .0%), Mıtauanp ee a ea 1A, 29 Ar 32 lt, Auch wurden 6 Pflanzen, deren mittlere Petalenzahl pro Blüte in 1892 bestimmt war, in 1895 in sehr trockenen Boden übergepflanzt, und als diese Zahl jetzt wieder bestimmt wurde, war sie in allen Fällen bedeutend niedriger, das mittlere Verhältnis war etwa wie 9:7. Noch andere bei dieser Pflanze beobachteten Thatsachen finden ihre Erklärung, wenn man annimmt, dass gute Ernährung einen för- dernden Einfluss auf die Anomalie ausübt. Bei den im August blühen- den Pflanzen waren die Blüten im allgemeinen ärmer an Petalen wie bei den im September blühenden. Es hatten also die später keimen- den Samen Pflanzen mit mehr gefüllten Blüten geliefert. Man könnte dies nun einfach dadurch erklären wollen, dass diese später keimende Samen bessere Erben wären, aber im Zusammenhange mit den sonstigen Thatsachen wird man wohl nicht ganz fehlgehen, wenn man die Br- scheinung wenigstens zum Teil der besseren Ernährung bei der Kei- mung in schönem, warmem Wetter zuschreibt. Eine andere bemerkens- werte Thatsache kam heraus, als die Petalenzahl bei vielen Blüten am ursprünglichen Standorte bei Hilversum wiederholt bestimmt wurde. Viele Exemplare zeigten meistens nur fünfzählige und nur an gewissen Tagen pleiopetale Blüten. Es weist dieses darauf hin, dass an be- stimmten Tagen bei schönem Wetter die Blüten, welche gerade in der empfindlichen Periode der Staubgefäße sich befinden, in der Ausbildung der Anomalie begünstigt werden. Sieht man also in diesen Fällen das durch Mutation an unge- wohnter Stelle aktivierte, aber sonst normale Merkmal durch günstige Lebenslage an diesen Stellen leichter sichtbar werden, so wollen wir DDr ID 516 Moll, Die Mutationstheorie. jetzt die Fälle betrachten, wo Antagonismus zwischen aktiven und ınehr oder weniger latenten Merkmalen besteht. Hier kommen zuerst atavistische Erscheinungen in. Betracht, welche bei vielen wildwachsen- den und kultivierten Pflanzen vorkommen, und wo systematisch ältere mit systematisch jüngeren Merkmalen um den Vorrang streiten; ferner auch solche Fälle, in denen es sich um Anomalien handelt, welche zwar selten vorkommen, aber doch oft genug, um an ihr konstantes Vorkommen im latenten Zustande bei der betreffenden Pflanze zu glauben; schließlich auch die Fälle, in denen ein sonst latentes Merk- mal durch Mutation mehr oder weniger aktiviert ist. Fangen wir mit den atavistischen Erscheinungen an, bei denen der bekannte Satz gilt, dass jede Beeinträchtigung die Neigung zum Atavismus erhöht. Das will in anderen Worten sagen, dass bei schlechter Ernährung die systematisch älteren und nur teilweise latent gewordenen Charaktere bevorzugt werden. Beispiele davon giebt es verschiedene, und die schönsten werden von denjenigen Fällen gebildet, in denen die Pflanzen in ihrer Jugend eine andere Form der Blätter zeigen, als im späteren Leben. Goebel fand, dass bei Campanula rotundifolia die Blätter der Blütenstengel bei schlechter Ernährung aus der schmalen zu der herzförmigen Gestalt zurückkehren und dass die phyllodientragenden Akazien nicht nur in der Jugend, wenn sie noch schwach sind, sondern auch unter ungünstigen Bedingungen zur Bildung zusammengesetzter Blätter neigen. Bei Eucalyptus globulus und Acacia cornigera zeigen sich die Jugendblätter nicht nur im frühen Lebensalter, sondern auch, wenn die Stämme nach Beschneiden neue Triebe hervorbringen. Auch Coniferen kann man nach Beißner durch ungünstige Lebenslage dazu bringen, zeitlebens nur Jugendblätter zu bilden. de Vries selbst be- obachtete bei der Keimung der Kartoffelsamen etwas ähnliches: die jüngsten Blätter der Keimpflanzen sind immer einfach, und je nachdem die Pflanze stärker wird, kommt bei den späteren Blättern die zu- sammengesetzte Form mehr und mehr zur Entfaltung. Bei schlechter Ernährung kommt es aber oft vor, dass auf zusammengesetzte Blätter wieder einfache folgen. Ganz ebenso verhält es sich bei den seltenen Anomalien, die meist latent bleiben und nur gelegentlich hervortreten. Zea Mais bildet mehr zweigeschlechtliche Blütenstände, wenn man sie bei hoher Temperatur keimen lässt; bei einer regelmäßig viele Becher tragenden Linde sah de Vries dieselben nur an der besonnten Seite, nicht an den von an- deren Bäumen beschatteten Aesten auftreten. Hierher gehört ohne Zweifel auch die bekannte Erscheinung, dass bestimmte Jahre im Gegensatze zu anderen auffallend reich an Anomalien sind; gewiss hängt das auch mit einer besseren Ernährung, je nach den günstigeren Witterungsverhältnissen zusammen. Versuche über diesen Gegenstand Moll, Die Mutationstheorie. 517 hat de Vries nicht nur mit verschiedenen Monstrositäten, wie Zwangs- drehungen und Faseiationen, sondern auch mit einem Tyifolium repens angestellt, welches durchwachsene Schirme zeigte. Ein Teil dieser Pflanzen wurde auf guter Gartenerde gezogen und gab etwa 12%, durchwachsene Schirme, während auf dürrem Sandboden gezogene Pflanzen deren nur 6°/, gaben. Schließlich will ich hier einen Ernährungsversuch beschreiben, welchen de Vries mit Trifolium pratense quinquefolium angestellt hat, einer von ihm gewonnenen Rasse durch Mutation aus dem gewöhn- liehen Rotklee entstanden. Sie bringt sehr oft fünfzählige, ja selbst siebenzählige Blätter hervor, und de Vries betrachtet das als einen hückschlag zum gefiederten Blatte der Papilionaceen. Ich werde weiter unten über diese Pflanze noch ausführlich berichten und weise jetzt nur darauf hin, dass das neue Merkmal keineswegs konstant erblieh ist, sondern immer antagonistisch mit dem dreizähligen Blatte vorkommmt. Hier wurde nun in einem bestimmten Versuche die oben beschriebene Düngung der Mutterpflanze angewandt. Eine erwachsene Pflanze, deren Nachkommen die Anomalie deutlich gezeigt hatten, wurde in zwei Teile gespalten; die eine Hälfte kam auf schlechten Sand- boden, die andere auf gute Gartenerde. Im Laufe des Jahres zeigte sich bei beiden Hälften kein Unterschied, sie brachten eine ungefähr gleiche Zahl mehrscheibiger Blätter hervor. Anders verhielt es sich aber als ihre Samen im nächsten Jahre aufgingen. Nun trat ein be- deutender Unterschied hervor, da unter den Samen vom Gartenboden 30°, gute Erben waren, unter den Samen vom Sandboden nur 24°|,. Als nachher von jeder Sorte die zehn besten Exemplare auf das Ver- halten ihrer Blätter statistisch untersuckt wurden, erhielt man Kurven, in denen für die Anzahl der Spreiten pro Blatt das Maximum für die Samen vom Gartenboden auf 7, für die Samen vom Sandboden auf 3 lag. Auch in solchen Fällen begünstigt also die gute Lebenslage die Anomalie. Wenn nun in allen untersuchten Fällen die Ernährungsverhält- nisse einen so bedeutenden Einfluss auf die Erblichkeit der Ano- malien bei ganzen Generationen von Pflanzen haben, so fragt es sich weiter, inwiefern bei der einzelnen Pflanze sich vielleicht auch etwas derartiges offenbaren kann. Es sind nämlich !die Er- nährungsverhältnisse der gleichartigen Teile einer Pflanze, je nach- dem sie früher oder später entstehen, oft sehr verschiedene, und es zeigt sich hier z. B. in der Größe der Teile oft eine gewisse Periodieität; die zuerst gebildeten Teile sind im allgemeinen schwächer, die späteren nach und nach stärker bis zu einem bestimmten Maximum, die noch späteren nach und nach wieder schwächer ausgebildet. Auch für die ganze Pflanze giebt es eine solche Periodieität der Ernährung je nach ihrem Alter. 518 Moll, Die Mutationstheorie. Es fragt sich deshalb, ob auch bei den Anomalien eine gewisse Periodieität sich nachweisen lässt in dem Sinne, dass bei einer Pflanze die am kräftigsten ausgebildeten Teile mehr zu der Anomalie neigen und dieselbe sich in dem Lebensalter, wo die Entwicklung der Pflanze ihren Höhepunkt erreicht, auch am meisten zeigen wird. Beides trifft zu nach den Versuchen, welche de Vries darüber angestellt hat, wie die Besprechung einiger Beispiele uns zeigen wird. Die oben schon erwähnte Rasse Trifolium pratense quinquefolium zeigt an manchen Zweigen die Erscheinung, dass die ersten schwächeren Blätter dreizählig, die mittleren vier bis siebenzählig sind, während nach der Spitze des Zweiges zu die Zahl der Blättchen wieder ab- nimmt. Dieselbe Periodieität fmdet man auch bei den Blättern der Wurzelrosette, und auch die unteren Zweige der Pflanze sind weniger reich an überzähligen Blättern als die stärkeren höherstehenden. Das heißt also: an den am besten genährten Teilen ist die Neigung zur Anomalie am stärksten ausgesprochen. Wird nun die ganze Pflanze sehr stark genährt oder findet Selektion starker Individuen statt, so wird voraussichtlich die Zone, welche so stark genährt ist, dass sie eine Prädisposition für die Anomalie besitzt, sich sowohl nach oben wie auch nach unten ausbreiten; und somit wird sich bei der Entwick- lung der Keimpflanze die Anomalie schon früher zeigen. So fand de Vries denn auch in der That bei seinen Veredlungsversuchen In- dividuen, welche die Anomalie schon als Keimpflanze erkennen ließen, bei denen selbst das gewöhnlich einfache Primordialblatt, das erste Blatt über den Cotyledonen, dreizählig war. Solche Pflanzen zeigten sich dann bei weiterer Entwicklung ohne Ausnahme besonders reich an überzähligen Blättern. Es war diese Erscheinung bei den Keim- pflanzen sogar, als die Veredlung einen gewissen Grad erreicht hatte, so gewöhnlich, dass de Vries darauf eine Methode der Selektion der Keimpflanzen gründen konnte. Er brauchte also bei der Wahl der guten Erben in seinen Kulturen nicht mehr zu warten, bis die Pflanzen erwachsen waren, und es braucht kaum bemerkt zu werden, dass da- durch eine sehr scharfe Auslese bei beträchtlich weniger Arbeit mög- iich wurde. Ein anderes Beispiel dieser Periodieität liefert die oben schon genannte Plantago lanceolata ramosa, eine Rasse, über welche ich unten noch ausführlicher sprechen werde, und welche in vielen Fällen ver- zweigte Blütenähren hervorbringt. Hier fand de Vries, dass die Anomalie erst erschemt in einer Periode als die Pflanzen kräftiger werden, im Sommer ist die Zahl der verzweigten Aehren am größten, um im Herbste wieder zu sinken; im zweiten Sommer aber, wenn die Pflanzen sehr stark werden, erreicht die Anomalie ihren Höhepunkt, so dass oft nur verzweigte Aehren vorkommen. Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. 519 Auch das Auftreten gefüllter Blüten findet oft periodisch statt: die ersten Blüten einer Pflanze sind dann einfach, die späteren nach und nach mehr gefüllt, die Herbstblüten wieder weniger. So ist es eine bekannte Thatsache, dass man bei verschiedenen gefüllten Be- gonien nur von den Herbstblüten Samen gewinnen kann. Es würde mich zu weit führen, von den vielen Beispielen dieser Art, welche de Vries zusammengebhracht hat, noch andere zu behan- deln, aber die hier besprochenen werden den Leser überzeugen, dass im Zusammenhange mit der Ernährung eine Periodieität in dem Er- scheinen mehr oder weniger latenter Merkmale besteht. Zusammenfassend kommen wir also zu dem Resultate, dass bei der fluktuierenden Variation Ernährungsverhältnisse die Hauptursachen der Verschiedenheiten darstellen; von diesen hängt es ab, welchen Mittel- wert ein Merkmal unter bestimmten Verhältnissen annehmen wird und welchen Platz ein bestimmtes Individuum in der Kurve einnehmen wird. Die Selektion bestimmt ausgebildeter Individuen ist nur die Wahl be- stimmt ernährter Individuen, und zwar in der Praxis meist der am besten ernährten. Auch sahen wir, dass gute Ernährung zum Sicht- barwerden von Merkmalen führt, welche sonst unsichtbar bleiben würden, und zwar ist dies besonders der Fall bei der fluktuierenden Variation nach der Zahl, und bei der fluktuierenden Variation der Erb- lichkeit teilweise latenter Merkmale. In den letztgenannten Fällen fängt man in der Praxis oft mit zufällig gefundenen Minusvarianten an, und sucht man jetzt durch Selektion das Merkmal mehr auszu- bilden, so gelingt das sehr rasch, weil man im Grunde der Sache nur eine Regression zum Mittelwerte des Merkmals zu stande bringt. Bei Gartenpflanzen findet solches oft statt, aber selbstverständlich meint der Züchter, dass es ein Fortschritt ist den er gemacht hat. (Fortsetzung folgt.) Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm (Carterius Stepanowi Dyb.). Nebst Beobachtungen über eine mit demselben symbiotisch lebende Alge (Scenedesmus quadricauda Breb.). Von Robert Lauterborn. In seinen 1895erschienenen „Spongillidenstudien III“ zählt Weltner') für das Gebiet des Deutschen Reiches fünf Arten von Süßwasser- 4) Ich bin diesem trefflichen Kenner der Spongillen zu aufrichtigem Danke verpflichtet, sowohl für die Bestätigung meiner Bestimmung als auch für seine so wertvolle Unterstützung bei Beschaffung der sehr zerstreuten Litteratur über Carterius. 520 Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. schwämmen auf, die sich auf drei Gattungen verteilen: Spongilla fra- gilis Leidy, Spongilla lacustris Autt., Trochospongilla horrida Weltner, Ephydatia fluviatilis Autt. und Ephydatia Mülleri Lieber- kühn. Bei Gelegenheit meiner von der kgl. bayer. Akademie der Wissenschaften subventionierten Untersuchungen über die Fauna und Flora der Gewässer der Rheinpfalz ist es mir gelungen, die obige Liste mit einer weiteren Gattung und Art, nämlich mit Carterius Stepanowi Dyb. zu bereichern, einem Schwamm, der bisher nur aus einigen wenigen Fundorten des östlichen Europa bekannt war. Die Gattung CarteriusPotts, welche hauptsächlich in Nordamerika reich entwickelt zu sein scheint, ist dadurch charakterisiert, dass bei ihr der Porus der Gemmula in ein Rohr ausgezogen ist, das an seinem freien Ende mit mehr oder weniger langen Fortsätzen bewehrt ist, die bei gewissen amerikanischen Arten (C. tubisperma Mills, O. latitenta Potts und besonders ©. tenosperma Potts) eine bedeu- tende Länge und recht bizarre Gestaltung aufweisen. Eine weitere Eigentümlichkeit liegt in dem Umstand, dass die Amphidisken, welche die Gemmulae allseitig bekleiden, von zweierlei Größe sind: neben Amphidisken, die in ihrer Länge nur den Durchmesser der sogenannten „Luftkammerschicht“ erreichen, finden sich zahlreiche andere, die mit ihrem distalen Ende mehr oder weniger weit frei aus der genannten Schicht hervorragen. Unsere bisherige Kenntnis des Baues von Carterius Stepanowi basiert in erster Linie auf den Arbeiten Dybowsky’s (1884) und ganz be- sonders denen Petr’s (1386, 1894). Meine eigenen Untersuchungen!) ergaben Resultate, welche mit denjenigen der beiden Forscher in einer Reihe von Punkten übereinstimmen, in anderen dieselben aber nach verschiedenen Richtungen hin ergänzen und erweitern?). Eine Schil- derung des Schwammes dürfte darum nicht überflüssig sein, zumal in Anbetracht der Thatsache, dass Petr’s Arbeiten — von einem kurzen deutschen Resume abgesehen — in einer dem Westeuropäer meist un- verständlichen Sprache geschrieben und dazu noch im einer nicht all- gemein zugänglichen Zeitschrift erschienen sind. Aeußere Gestalt des Schwammes. Alle von mir gesammelten Exemplare des Carterius überzogen in den Boden eines Teiches eingerammte Holzpfähle, soweit dieselben 1) Dieselben wurden, soweit die Anwendung von Immersionen sowie die Herstellung von Schnitten in Frage kam, im Zool. Institut zu Heidelberg ausge- führt, wofür ich Herrn Geheimrat Bütschli an dieser Stelle meinen verbind- lichsten Dank aussprechen möchte. 2) Von einer Schilderung der Weichteile des Schwammes musste ich ab- sehen, da sie bei meinen in Gemmulation befindliehen Schwammexemplaren schon zu sehr alteriert waren. Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. Del vom Wasser bespült wurden. Sie fielen hier auf als weit ausgebreitete, einige Millimeter bis ein Centimeter dieke Krusten, die sich überall den Unebenheiten des Substrates anschmiegten und da und dort kurze buckelförmige Erhebungen vorwölbten. Eigentliche Verzweigungen oder Verästelungen, wie sie Petr angiebt, sah ich nie. DieFarbe des Schwammes im frischen Zustand war ein gelbliches Grau, untermischt mit vielen smaragdgrünen Flecken und Punkten. Genauere Unter- suchung zeigte, dass die grüne Farbe hauptsächlich auf die Vor- sprünge des Schwammes, also wohl auf die Nachbarschaft der Oseula lokalisiert war und dem üppigen Wuchern einer im Schwamm vege- tierenden Alge ihre Entstehung verdankte, wie später gezeigt werden soll. Skelett. Die durch eine ziemlich reich entwickelte Spongiolinmasse zu langen Faserzügen verkitteten eigentlichen Gerüstnadeln sind meist ziem- lich lang, gerade oder leicht gekrümmt und an den Enden allmählich zugespitzt. Nur selten sind sie völlig glatt, wie es Petr als Regel für die böhmischen Exemplare des Carterius angiebt; in den meisten Fällen sitzen den Nadeln, ganz wie bei Dybowsky’s russischen Originalexemplaren, zerstreute kleine spitze Höcker und Dörnchen auf, die aber oft nur bei stärkeren Vergrößerungen deutlich wahrzunehmen sind (vergl. Fig. 1,1—7). Die Länge der Nadeln ist eine ziemlich wechselnde: sie schwankt zwischen 150—320 „ (nach Dybowsky zwischen 104—200 u, nach Petr zwischen 270—310 «); die Dieke be- trägt durchschnittlich 6—10 «u; nur selten ist sie geringer. Sehr charakteristisch sind die sogenannten Fleischnadeln (Fig. 1,5—10). Dieselben sind ziemlich klein, schwach gebogen und an den Enden zugespitzt. Ihre ganze Oberfläche ist mit Dornen be- wehrt, die von der Mitte der Nadel nach den Enden zu an Größe ab- nehmen. Betrachtet man die Fleischnadeln bei sehr starken Ver- größerungen, so sieht man, dass die größeren Dornen der Mitte an ihrem freien Ende oft gegabelt oder mehrfach ausgezackt sind und dass weiterhin die Dornen selbst durch zahlreiche Zähnchen rauh er- scheinen. Die Dornen gegen das Ende der Nadel zu stehen mehr oder weniger schief und kehren ihre Spitze gegen die Mitte der Nadel hin, so dass dieselbe an ihren Enden wie mit Widerhaken besetzt erscheint. Die Länge der Fleischnadeln beträgt 50—80 u, die Dicke (inklusive der Dornen gemessen) S—10 u. Die hier gegebene Beschreibung und Abbildung der Fleischnadeln von Carterius Stepanowi stimmt im wesentlichen mit den entsprechen- den Darstellungen Dybowsky’s überein; nur ist nach den Angaben des letzteren die Länge der Fleischnadeln etwas geringer (40-50 1). In Petr’s Abbildungen der Fleischnadeln seiner böhmischen Carterius- 522 Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. exemplare (siehe dessen Fig. 3—4) sind die Dornen in der Mitte der Nadeln an ihrem freien Ende meist rhombisch oder lanzettförmig ver- breitert, auch kommt die widerhakenartige Anordnung der Dornen an den Enden der Nadeln nicht zum Ausdruck. Fig. 1. Skelettelemente von Carterius Stepanowi Dyb. 1—7 Glatte und leicht bedornte Gerüstnadeln, 8&—10 Fleischnadeln, 11—16 Uebergangsformen zwischen Gerüstnadeln und Amphidisken, 17—23 Amphidisken von der Seite, 24—26 End- scheibe der Amphidisken, 27— 28 Auffallend dünne Amphidisken (Text p. 5525 —526, Anmerkung). Vergrößerung ca. 350. Noch in einem weiteren Punkte weicht der mir vorliegende Pfälzer Carterius von dem böhmischen ab: nämlich in der Zahl der Fleisch- nadeln. Während in einem Präparate Petr’s, den mir Herr Dr. W.eltner freundlichst überließ, die Fleischnadeln überaus häufig sind, treten sie in meinen Präparaten derart selten auf, dass man manchmal förmlich nach ihnen suchen muss. Dieser Umstand könnte aber auch daher Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. 5253 rühren, dass bei dem in lebhafter Gemmulation befindlichen Schwamm die Weichteile und mit ihnen wohl auch die „Fleischnadeln“ schon zum Teil verschwunden waren. Mit den eben geschilderten Nadeln ist die Mannigfaltigkeit der Skelettelemente keineswegs völlig erschöpft. So trifft man ab und zu große Nadeln an, die in der Mitte spärlich bedornt, an beiden Enden dicht mit Dornen besetzt sind (Fig. 1,11). Neben diesen fallen Nadel- formen auf, die wohl als modifizierte Amphidisken aufzufassen sind und von deren wechselndem Aussehen Fig. 1, 12--16 eine Anschauung giebt. Weiter verdient hervorgehoben zu werden, dass auch ganz typische Amphidisken im Parenchym von Carterius, fern von den Gemmulis, durchaus keine Seltenheit sind. Schon Dybowsky hat übrigens bei Carterius ähnliche Befunde gemacht, und zwar bei Schwämmen, die überhaupt keine Gemmulae enthielten !). Gemmulae. Die von mir am 30. Oktober 1901 gesammelten Exemplare von Carterius strotzten förmlich von Gemmulis; überall leuchteten die gelben senfkornartigen Kügelchen aus der Kruste des Schwammes hervor. Die am dichtesten damit besetzten Partieen des Schwamm- körpers wiesen auf dem Quadratcentimeter nicht weniger als ungefähr 300 Stück davon auf, während an den sparsamer bedachten Stellen auf der gleichen Fläche immer noch etwa 100—150 Stück gezählt wurden. Unter dem Mikroskope präsentierten sich die Gemmulae als braune, annähernd kugelige Kapseln von 400—550 u Durchmesser, denen schorn- steinartig ein scharf abgesetztes, etwa SO—100 « langes Röhrchen, das Porusrohr aufsitzt. Die Wandung der Kapsel ist ziemlich diek durch die Ausbildung einer sogenannten „Luftkammerschicht“ (vergl. Fig. 2, Fig.3). Nach außen ist die Luftkammerschicht begrenzt von einer 8—10 «* dicken, auf ihrer Oberfläche leicht gerunzelten, „äußeren Chitinmembran“ (Fig. 3, am), welche, von den Oeffnungen zum Durchtritt der Amphi- 41) Auch Wierzejsky: Beitrag zur Kenntnis der Süßwasserschwämme (Verhandl. Zool. Bot. Gesellschaft, Wien 1888), berichtet p. 531—32 von anderen Spongillen folgendes: „Man findet nämlich in jedem Schwamm während der Entwicklung seiner Gemmulae die für die Ausrüstung derselben bestimmten Kieselgebilde (auf verschiedenen Entwicklungsstadien) im Parenchym reichlich angehäuft. Ist die Bildung der Gemmulae vollendet, alsdann verschwinden auch, mitsamt dem Parenchym, die in ihm erzeugten Amphidisken, respektive Beleg- nadeln, denn sie werden zur Umhüllung der Gemmulaeschalen verbraucht. In Stöcken, welche durch und durch mit Gemmulis besetzt sind, findet man in der Regel nur hie und da einzelne Gemmulaenadeln.“ — Ich bemerke dazu, dass meine oben mitgeteilten Beobachtungen sich auf Schwämme beziehen, die durch und durch mit ausgebildeten Gemmulis erfüllt waren. 5924 Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. disken abgesehen, keine besondere Struktur zeigt, mit Ausnahme jener Gegend, in welcher sich das Porusrohr erhebt: hier ist rings um die Basis des Rohrs eine zarte radiäre Streifung ausgeprägt, deren Peri- pherie unregelmäßig begrenzt ist. Die nach innen zu folgende 50 « dieke Luftkammerschicht (Fig. 3, /k), in welcher die Amphidisken ein- gebettet liegen, setzt sich zusammen aus überaus zahlreichen, dicht sedräneten Alveolen von verschiedener Größe. Diese Alveolen, welche Dybowsky sonderbarerweise „runde kernlose Zellen“ (!) nennt, bieten in ihrer Gesamtheit ganz das Bild eines ziemlich feinen, erstarr- ten Sehaumes dar, dessen Bläschen in ihrer überwiegenden Mehr- heit völlig die Kugelgestalt bewahrt haben; nur selten erscheinen sie gegeneinander kubisch abgeplattet, wie es Petr als Regel beschreibt Medianer Längsschnitt durch eine Gemmulae von (arterius Stepa- nowi. Imhalt der Gemmula nicht gezeichnet. Vergrößerung ea. 100. und abbildet. Nach der äußeren Chitinmembran setzten sich die Al- veolen nicht scharf ab, sondern springen in dieselbe vor, so dass die genannte Membran nach innen eigentümlich bogig ausgekerbt erscheint (vergl. Fig. 5). Den Abschluss der Kapsel nach innen bildet die „innere Chitin- membran“ von etwa 8. Dieke. An Schnitten scheint dieselbe auf ihrer der Luftkammerschicht zugekehrten Seite wie fein gestrichelt (Fig. 3); Flächenbilder zeigen die Strichelung als Querschnitte eines Systems sehr feiner, dicht gedrängter und vielfach gewundener paralleler Linien. Die Luftkammerschicht ist von zahlreichen Amphidisken in ra- diärer Riehtung durchsetzt (Fig. 1, 17—23). Nur sehr selten sind die letzteren völlig glatt. In der Regel ist ihr Schaft mit mehr oder . Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. 525 weniger zahlreichen spitzen, wagrecht abstehenden Dornen besetzt, die oft eine nicht unbeträchtliche Länge erreichen und oft selbst wieder fein gezähnt sein können. Die Endscheiben der Amphidisken sind an ihrem Rande meist mehr oder weniger tief (bis über die Hälfte ihres Radius) eingeschnitten und so in eine Anzahl Lappen geteilt, die ihrerseits wieder eine feine Zähnelung zeigen (Fig. 1, 24—26); es finden sich aber auch Scheiben, die an ihrem freien Rande nur unregelmäßig gezähnt oder gezackt sind, bei denen es also nicht zur Ausbildung größerer Lappen kommt. Von den Amphidisken ist der größte Teil völlig in die Lufikammer- schicht eingeschlossen: ihre Fußscheibe sitzt der inneren Chitinmembran auf, ihre Endscheibe berührt die äußere Chitinmembran, welch letztere über sie hinwegzieht. Neben diesen finden sich Amphidisken, die mit Medianschnitt durch das Porusrohr und die Wand der Gemmulakapsel: Pr Porus- rohr, A Anhänge des Porusrohrs; am äußere Chitinmembran der Gemmula, Ik Luftkammerschicht, @m inneren Chitinmembran. Vergrößerung ca. 250. ihrem distalen Ende die äußere Chitinmembran durehdringen und- ihre Endscheiben der Oberfläche derselben auflegen. Diese leiten über zu den großen Amphidisken, welche bis zu ein Drittel ihrer Länge (selten mehr) aus der Luftkammerschicht frei hervorragen. Für alle die Luftkammerschicht durchbohrenden Amphidisken sind in der äußeren Chitinmembran be- sondere rundlich-ovale Poren vorgebildet, die sich am schönsten an mit kochender Kalilauge behandelten Gemmulis zur Anschauung bringen lassen. Genauere mikrometrische Messungen zeigen alle Uebergänge bezüglich der Länge der Amphidisken: zwischen 35 « und 80 « sind alle dazwischen liegenden Zahlen vertreten. Die Dicke des Schaftes schwankt zwischen 4—6 u, der Durchmesser der Endscheiben hält sich ziemlich konstant auf etwa 17 u). 4) Dies ist der normale Befund. In meinen Schnitten finden sich daneben da und dort einige Gemmulae, bei denen sämtliche Amphidisken durch eine > 596 Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. Eine besondere Beachtung verdient das Porusrohr der Gemmulae (Fig. 2—4). In eine nabelartige Vertiefung eingesenkt und von einer flachen, wallartigen Erhebung der äußeren Chitinmembran umzogen, springt es in der ungefähren Gestalt eines Kegels schornsteinartig über die Gemmulakugel vor, '/, bis !/;, des Durchmessers der letzteren er- reichend. Die Wandung des Rohres ist an der Basis ziemlich dick (7—8 u), verringert sich aber, nach oben fortschreitend, mehr und mehr. Etwa im Beginn des letzten Viertels der Höhe des Porusrohrs entspringen die eigentümlichen Porusanhänge,die „eirrous appen- dages“ nach der Nomenklatur von Carter und Potts. Ihre Gestalt und ihre Anordnung zeigt am besten die beistehende Figur 4. An den von mir gesammelten Exemplaren des Carterius Stepa- nowi sind es direkt vom Porusrohr in radiärer Richtung ausstrah- A B Porusrohr der Gemmulae von (Carterius Stepanowi. A Seitliche Ansicht B Polare Ansicht. Vergrößert. lende Fortsätze von wurmförmiger Gestalt, die durch eine große Zartheit und blassgelbliche Färbung ausgezeichnet sind. In ihrem Verlauf sind die Anhänge vielfach hin und her gekrümmt und ge- wunden, manchmal gegabelt, sowie da und dort mit knolligen An- schwellungen besetzt; das freie Ende ist stets abgerundet. Die Zahl der Anhänge ist eine schwankende, im Durchschnitt mag dieselbe 4—6 betragen; doch finden sich auch mehr. Meist sind dieselben alle an- nähernd in einer Ebene angeordnet; einige Male habe ich auch gesehen, dass zwei Anhänge übereinander standen. Ueber den Anhängen ist das Porusrohr von einem kuppelförmigen Aufsatz mit sehr dünnen Wandungen überwölbt, der entweder das Rohr völlig abschliesst oder — und dies scheint der häufigere Fall ganz auffallende Dünne ihrer Schäfte ausgezeichnet sind, indem bei ihnen der Durchmesser des Schaftes nur etwa 2—3 u beträgt. Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. 597 zu sein — eine kleine Oeffnung unbedeckt lässt. Auch in dem letzten Falle ist eine direkte Kommunikation zwischen dem umgebenden Me- dium und der von der Gemmulakapsel umhüllten Keimmasse aus- geschlossen, da das Porusrohr an seiner Basis stets durch ein dünnes Diaphragma nach innen abgeschlossen ist. Die eben geschilderte Ausbildung des Porusrohrs resp. die seiner Anhänge, wie ich sie an meinen Pfälzer Exemplaren des Oßrterius fand, zeigten nicht unbeträchtliche Abweichungen von der Darstellung der entsprechenden Verhältnisse, welche Dybowsky nach russischen und Petr nach böhmischen Exemplaren giebt. Dybowsky (1884 p. 479) beschreibt den Porusanhang folgender- maßen: „Am oberen Ende des Porusrohrs und etwa 0,020 mm unterhalb der oberen Oeffnung desselben entspringt aus der Wandung des Porus eine viereckige 0,0356 mm breite, dünne, hellgelblich hornfarbene La- melle, welche den Porusanhang bildet. An den vier Eeken läuft die Lamelle in Zipfel aus. Die Zipfel, deren Anzahl 3—5 beträgt, sind nicht nur verschieden lang und dick, sondern auch ziemlich verschieden gestaltet. Bei einigen Exemplaren sind alle spitz auslaufend und bald einfach, bald zweiteilig am Ende, bei anderen dagegen sind sie an ihren Enden sichelförmig gekrümmt. Unter den vielen untersuchten Präparaten sind mir nur Gemmulae vorgekommen, bei welchen der Porus keinen Anhang besaß, wobei die Poruswandungen ganz unbe- schädigt waren.“ Besser noch als diese Beschreibung zeigt die von Potts (1887) Taf. VI Fig. 4 „after Dybowsky“ gegebene Zeichnung des Porus- anhangs von Carterius Stepanowi die große Differenz, die in den eben behandelten Punkten zwischen Dybowsky’s und meinen Exemplaren besteht. Auch Petr’s Beschreibung und Abbildung stimmen nicht mit der meinigen, wennschon die Verschiedenheiten hier — namentlich in der Gestalt der Porusanhänge — keine so großen sind als bei Dybowsky. Nach Petr (1886 p. 114—115) ist der Porusanhang folgendermaßen gestaltet: „Am Ende der Luftröhre befindet sich eine schöne kronen- ähnliche zierliche Umfassung (Porusanhang Dyb.), bestehend aus einem runden mäßig gekrümmten Scheibchen, welches an seinem Rande lappen- förmig ausstrahlt. Die Anzahl sowie die Form einzelner Lappen ist sehr verschieden. Das Scheibchen steht mit der Größe der Luftröhre im strengsten Verhältnis der Korrelation: je größer die Luftröhre, um so kleiner das Scheibehen, und umgekehrt.“ Wie man sieht, liegt der Hauptunterschied darin, dass bei meinen Carteriusexemplaren im Gegensatz zu denen, die Dybowsky und Petr vorlagen, die Endscheibe oder die „kronenähnliche, Umfassung“ völlig fehlt, so dass aber die Anhänge direkt aus der Wand des 528 Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwässerschwamm. Porusrohrs entspringen — ein Umstand, der natürlich das Gesamtbild des Porusrohrs nicht unwesentlich zu beeinflussen im stande ist. Bei der bekannten großen Variabilität der Spongillen wäre es sehr gewagt, auf die geschilderten Differenzen im Bau der Gemmulae allein gleich eine neue Art zu begründen, um so mehr als sonst die Verhält- nisse der Skelettelemente ete. im allgemeinen eine befriedigende Ueber- einstimmung erkennen lassen. Immerhin sind die Differenzen doch wohl nicht bedeutungslos und vielleicht groß genug, um in unserem Schwamm eine besondere Lokalform von Carterius Stepanowi ausgeprägt zu sehen, womit auch Weltners Auffassung übereinstimmt. Sollten sich dann die geschilderten Merkmale als konstant erweisen, so ließen sich vielleicht die Pfälzer Lokalform des Carterius Stepanowi als forma pa- /atina und die böhmische als forma Petri dem Typus, wie er von Dybowsky zuerst bekannt gegeben wurde, gegenüberstellen. Die Symbiose von Carterius und Scenedesmus. Wie im Eingang dieser Arbeit bereits kurz erwähnt, waren die von mir gesammelten Exemplare von Carterius an zahlreichen Stellen grün gefärbt durch eine mit dem Schwamm in Symbiose lebenden Alge, den Scenedesmus quadricauda Breb. Scenedesmus quadricauda, der Familie der Palmellaceen angehörig, zählt zu den häufigsten Algen unserer Teiche, wo er nicht nur das freie Wasser in großer Individuenzahl bevölkert, sondern (meist in Ge- sellschaft von Pediastrum, Coelosphaerium ete.) auch den Schlamm am Boden oft so massenhaft bewohnt, dass derselbe an seiner Oberfläche eine graugrüne Färbung annimmt. Im freien Zustand bildet er kleine Ko- lonien von meist 4—8 (selten mehr oder weniger) palissadenartig aneinander gereihten walzenförmigen Zellen, von denen die äußersten in typischen Fällen an ihren Enden mit je einer mehr oder weniger sekrümmten Borste bewehrt sind. : Solche einzelne Kolonien findet man überall im Schwamm zerstreut. Im einfachsten Falle liegt die Scenedesmuskolonie einer Skelettnadel dieht an, eingeschlossen in die Spongiolinschicht, welche sich über der Alge buckelförmig vorwölbt. Daneben findet man auch oft Algen mitten in die Nadelbündel eingebettet, also auf allen Seiten von Na- deln umgeben. In der Mehrzahl der Fälle treten die Scenedesmus- kolonien jedoch gruppen- oder nesterweise im Schwamminnern auf. Hierbei ist die Besiedelung stellenweise eine so dichte, dass die Nadel- züge auf große Strecken hin förmlich übersät sind mit den grünen Algen, die klumpenweise den Nadelzügen anhängen, über deren Ober- fläche vorspringen und so die umhüllende Spongiolinschieht zu ebenso- vielen unregelmäßigen Ausbiegungen nötigen (Fig. 5). Im manchen Fällen verschwinden die Nadeln fast unter der Algenbekleidung. Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. 529 Aber nieht nur im Verlauf des eigentlichen Schwammgerüstes, sondern auch in den Lücken zwischen den Faserzügen des Skelettes setzt sich Scenedesmus fest. Hier meist sogar in solehen Massen, dass Ein Stück des Skelettes von (arterius Stepanowi, durchwuchert von zahlreichen Kolonien des Scenedesmus quadricauda Br&b. Vergrößerung ca. 200. die Anhäufungen ganz gut schon mit freiem Auge als kleine grüne Knötchen wahrgenommen werden können, die unter dem Mikroskope völlig undurchsichtig sind. Wie groß die Zahl der Algenkolonien sein mag, die in diesen Nestern vereint sind, dürfte schwer mit Sicherheit XXIL 34 530 Lanterborvp, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. anzugeben sein: ein Hundert ist in vielen Fällen gewiss nicht zu hoch gegriffen. Eire bestimmte Anordnung der Scenedesmuskolonien ist in diesen Anhäufungen nicht zu beobachten. Die Algenketten liegen vielmehr, wie meine Fig. 5 wiederzugeben versucht, auf den engsten Raum zu- sammengepackt ganz regellos durcheinander und präsentieren sich so von den verschiedensten Seiten. Auf diese Weise kommen recht eigen- tümliche Bilder zu stande, die von den gewohnten Flächenansichten frei lebender Scenedesmusketten beträchtlich abweichen und im ersten Augenblick der Bestimmung Schwierigkeit bereiten können. Auch diese großen „Algennester“, in welchen man nur selten Skelettnadeln bemerkt, sind stets von einer ziemlich dieken Spongiolin- schicht umgeben, welehe sich den unregelmäßigen Umrissen der Algen- massen eng anschmiegt und letztere vom lebenden Gewebe des Schwammes förmlich abkapselt. Dagegen steht oft eine Anzahl der Algennester unter sich durch schmälere Spongiolinbrücken in Verbin- dung (Fig. 5 unten). Bei einer so innigen Genossenschaft zwischen Alge und Schwamm lag der Gedanke nahe, an den Scenedesmuskolonien im Innern von Varterius nach morphologischen Charakteren zu suchen, die den frei- lebenden Artangehörigen fehlen und so als Anpassung an die symbio- tische Lebensweise aufgefasst werden könnten. Es ist mir nicht ge- lungen nach der angedeuteten Richtung hin typische und durehgreifende Unterschiede zu konstatieren. Wohl kann man leicht feststellen, dass bei der Mehrzahl der im Schwamm vegetierenden Scenedesmuskolonien die Borsten der Endzellen meist herabgebogen sind oder auch fehlen, im Gegensatz zu denjenigen freilebenden Scenedesmuskolonien, wo die Endborsten in diagonaler Richtung abstehen, aber dieser Unter- schied ist kein allzusehr ins Gewicht fallender, da man im Schwamme gar nicht selten auch Scenedesmuskolonien zu Gesicht bekommt, deren Endborsten ganz wie diejenigen typischer freilebender Exemplare aus- gebildet sind, also abstehen, ja bisweilen sogar die umhüllende Spon- giolinschicht durchbohren. (Vel. Fig. 5.) Eine derart üppige Vegetation von Scenedesmus im Innern eines Süißwasserschwammes scheint nach verschiedenen Richtungen hin von Interesse. Durch Algen grün gefärbte Spongillen sind ja seit langer Zeit eine allbekannte Erscheinung. Aber bei sämtliehen bis jetzt ge- nauer untersuchten einheimischen Süßwasserschwämmen ist die Grünfärbung hervorgerufen durch das massenhafte Wuchern einer kleinen einzelligen Alge, der weitverbreiteten Zoochlorella‘). Scene- 1) An tropischen Exemplaren unserer gewöhnlichen Ephydatia fluviatilis Autt., welche Steine im See von Manindjan auf Sumatra inkrustierten, fanden Max Weber und A. Weber-van Bosse die Umgebung der Oscula des Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. 531 desmus ist bei den Spongillengattungen Ephydatia, Trochospongilla und Spongilla noch nicht beobachtet worden, dagegen, wie es den An- schein hat, schon von Petr bei Carterius. Der böhmische Forscher berichtet nämlich in dem deutscher Resume seiner Arbeit (1557 p.114) von Carterius: „Seine Farbe ist schön smaragdgrün, manchmal ins blaue über- gehend. Diese Farbe rührt von zahlreichen, meist einzelligen Algen her, welche in allen Geweben des Schwammes ganz selbständig vege- tieren.“ Von den eben genannten „meist einzelligen Algen“ werden im böhmischen Text aufgeführt: Palmella, Gloeoeystis, Pleurococcus, Ra- phidium, dann Pediastrum, Closterium, Cosmarium, Polyedrium (tri- gonum, tetragonum, lobatum) Scenedesmus (obtusus, acutus, quadricau- datus |unsere quadricauda!], dimorphus)'). Der Umstand, dass übereinstimmend an zwei völlig verschiedenen, weit auseinanderliegenden Oertlichkeiten (Böhmen-Rheinpfalz) ein so seltener Schwamm wie (arterius in Symbiose mit einer sonst nicht in Spongillen vegetierenden Alge wie Scenedesmus gefunden wurde, ist jedenfalls sehr auffallend und fernerer Beachtung wert, denn es wäre sehr wohl möglich, dass das Zusammenleben mit Scenedesmus etwas für Oarterius Stepanowi charakteristisches wäre. Interessant ist wohl auch weiter, dass Scenedismus, der so überaus massenhaft das Innere des Schwammes erfüllte, gleichzeitig auch der bei weitem häufigste Planktonorganismus des Teiches war, in dem ich Carterius fand. Diese dürfte ein Hinweis geben, wie wir uns die Entstehung der Symbiose zwischen Schwamm und Alge überhaupt vorzustellen haben. Da ist es wohl am einfachsten anzunehmen, dass die im Wasser des Teiches schwebenden Algen bei dem durch die Thätigkeit der Geißelzellen bewirkten Einströmen des Wassers durch die Poren des Schwammes in dessen Inneres hineingeschwemmt wur- den, sich hier einnisteten und allmählich von der Spongiolinsubstanz überwuchert wurden. Dass die Alge im Innern von Carterius günstige Existenzbedingungen fand, beweist ihr üppiges Vegetieren. Aber auch der Schwamm hatte wohl einen „Vorteil“ von den Eindringlingen, nämlich die Erschließung einer ergiebigen Sauerstoffquelle. Dass die Algen von den Schwammzellen thatsächlich als solehe in An- Schwammes mit grünen Flecken versehen, die durch eine mit Ephydatia sym- biotisch lebende Fadenalge (Trentepohlia spongophila) hervorgerufen waren. Vergl.M. Weber und A.Weber-van Bosse: Quelques nouveaux cas de sym- biose, In: Zool. Erebnisse einer Reise in Niederländisch Ostindien. Bd. I, p.48— 71. 1) Anhangsweise möchte ich noch beifügen, dass ich neben Scenedesmus quadricauda nur einmal noch je ein Exemplar von Coelastrum ceubicum NäÄg. und ein solches von Pediastrum Ehrenbergü A. Braun in den größeren „Algen- nestern“ von Carterius eingeschlossen fand. 54* 532 Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm. spruch genommen wurden, schließe ich aus dem Umstand, dass in meinen Schnitten die großen Algennester von Scenedesmus sich all- seitig dicht umlagert zeigen von Massen amoeboider Zellen des Schwammes, welche zu ihren chemotropischen Bewegungen doch wohl nur durch den von den grünen Algen ausgehauchten Sauerstoff ge- reizt worden waren. Fundortsverhältnisse. Carterius Stepanowi wurde 1884 unter dem Namen ? Dosilia Ste- panowii von Dybowsky nach Exemplaren beschrieben, die ihm Prof. Stepanow aus dem Gouvernement Charkow und zwar aus dem See Wielikoje zugesandt hatte. Daneben fand sich der Schwamm auch „in einem kleinen, mit dem Flusse Daniec zusam- menhängenden und in der Nähe des Dorfes Kotschetok gelegenen See“. 1886 wies Petr den Schwamm, den er als erster der Gattung Carterius Potts zuerteilte, in Bömen nach; er fand ihn in zwei übereinanderliegenden Teichen in der Umgebung von Deutschbrod. 1889 erwähnt ihn Traxler aus Ungarn. 1892 berichtete Wierzejsky von dem Auffinden des Carterius in einem kleinen 2m tiefen Wald- tümpel bei Lubien in Ostgalizien. Bei einer so geringen Zahl von Fundorten, die alle auf das öst- liche Europa beschränkt sind, dürfte eine etwas eingehendere Schil- derung des Gewässers, in dem ich meine Exemplare von Carterius fand, nieht ohne Interesse sein, um so mehr, als alle oben genannten Forseher über die spezielleren Fundortsverhältnisse des Schwammes, oder über die physikalischen und allgemein biologischen Verhältnisse der betreffenden Gewässer, mehr oder weniger rasch hinweggehen. Der Fundort von Carterius Stepanowi in der Rheinpfalz ist em seit langen Jahren angelegter kleiner Fischteich in der Nähe des Dorfes Mehlingen, etwa 2 Wegstunden nordöstlich der Stadt Kai- serslautern!). Derselbe liest im Wiesengrunde eines flachgewellten mit Fruchtfeldern bedeckten Hügellandes 294m über dem Meeres- spiegel. Gespeist wird der Teich durch eme ganz in der Nähe be- findliche kleine Quelle; das abfließende Wasser ergießt sich als kleiner Bach in dieAlsenz, die ihrerseits in die Nahe, einen Nebenfluss des Rheins mündet. Der Boden des Teiches fällt langsam und gleich- mäßig in eine Tiefe von etwa 2 m ab; der sandige Untergrund ist mit einer ansehnliehen grau-grünen Schlammdecke überzogen. Die Vegetation besteht am Ufer aus Egwisetum, im Wasser aus Büscheln von Potamogeton natans; beide Pflanzen sind besonders reich entwickelt in einem Seitenbassin des Teiches, welches ganz mit Eguisetum und 1) Der Teich ist noch auf der „Karte des Deutschen Reiches“ im Maß- stab 1: 100000 angegeben (Blatt 557, Neustadt a. H.). Lauterborn, Ein für-Deutschland neuer Süßwasserschwamm. 535 Potamogeton bewachsen ist. An Fischen beherbergt der Teich Karpfen (Oyprinus Carpio), Schleien (Tinea vulgaris) und Gresslinge (Gobio Auviatitis?). Um das unbefugte Fischen mit Netzen zu verhindern, waren im Jahre 1894 eine Anzahl Holzpfähle in den Boden des Teiches eingerammt worden. Diese waren es, an denen sich, wie bereits er- wähnt, Carterius in reicher Menge angesiedelt hatte. Das Plankton des Teiches war nicht besonders reich an Arten, dagegen sehr reich an Individuen. Es setzte sich zusammen aus: Scenedesmus quadricanda Br&eb. . . weit überwiegend Pediastrum pertusum Kütz. . . . . häufig Pediastrum Boryanum Menegh. . . häufig Polyarthra platyptera Ehrb. . . . ziemlich häufig Anuraea aculeata Ehrb. . . . . . nicht selten Anuraea cochlearis Gosse . . . . einzeln Synchaeta pectinata Ehrb. . . . . einzeln. BoSmarar cornuta Mur as, Haufe Diese Zusammensetzung des Planktons — vor allem die Massen- entwicklung von Scenedesmus, der auch dem Schlamm am Boden seine grau-grüne Färbung verlieh — ist charakteristisch für kleinere Ge- wässer in der Nähe menschlicher Wohnstätten mit Viehhaltungen und Ackerfeldern, von welchen den Gewässern allerlei an Stickstoff und organischen Verbindungen reiche Zuflüsse zugeführt werden. Im vor- liegenden Fall wurde die „Düngung“ des Teiches hauptsächlich durch die Gänseherde des Dorfes Mehlingen besorgt, deren Tummelplatz der Teich und dessen Umgebung bildete, wie die im Wasser und am Ufer reichlich vorhandenen Exkremente der Gänse bezeugten. — Bei der isolierten Lage des Teiches ist klar, dass die Besiedelung mit Carterius Stepanowi nur auf dem Wege passiver Migration, d. h. durch Verschleppung der restitenten Gemmulae erfolgt sein kann. Ich dachte zuerst an die Möglichkeit, dass vielleicht aus Böhmen importierte Karpfen dies bewerkstelligt haben könnten. Aber diese Vermutung erwies sich als nicht haltbar. Der Pächter der Fischerei, Herr C. Pfaff, der Besitzer des Kurhauses Johannis- kreuz im Pfälzer Wald, dem ich für mannigfache Förderung meiner faunistischen Studien zu aufrichtigem Danke verpflichtet bin, erklärte mir indessen, dass die Fische aus dem Rhein bei Germersheim sowie aus der Umgebung von Saarbrücken stammten. Unter diesen Umständen gewinnt die Annahme, dass die Wasser- 1) Erwähnenswert dürfte weiter sein, dass ich noch am 30. Oktober 1901 in dem Teiche häufig nur 13—15 mm lange, schwärzliche Kaulquappen (sehr wahrscheinlich Rana temporaria angehörig), antraf. Aehnliche Befunde machte ich Ende Oktober noch mehrfach in Waldteichen und Waldbächen der Umge- bung von Johanniskreuz bei Kaiserslautern; auch hier hatten die kleinen Kaulquappen um die genannte Zeit noch keine Extremitäten entwickelt. 534 Lauterborn, Ein für Deutschland neuer Süßwasserschwamm, vögel die Gemmulae hierher verschleppt haben, erheblich an Wahr- scheinlichkeit. Dass der Teich von Vögeln frequentiert wurde, beweisen Flüge von Kibitzen (Vanellus eristatus) und Lachmöven (Larus ridibundus), die ich am 30. Oktober 1901 in der Umgebung des Teiches beobachtete. Natürlich braucht man durchaus nicht anzunehmen, dass diese Tiere die Gemmulae des Schwammes direkt aus Böhmen, Galizien, Ungarn oder gar aus Russland nach dem Fischteich des Dorfes Mehlingen in der Rheinpfalz transportiert haben! Das wäre etwas zu viel verlangt. Die Uebertragung geschah wohl sicher von irgend einer Zwischenstation aus, die wir bis jetzt noch nicht kennen. Nach meinem Funde lässt sich ja mit aller Bestimmtheit voraussagen, dass Carterius Stepanowi (und mit ihm wohl noch mehr als eine in Deutsch- land bisher vermisste Schwammart!) sicher weiter verbreitet ist als man nach den bisherigen isolierten und weit zerstreuten Fundorten vielleicht anzunehmen geneigt war. Möge darum diese kleine Arbeit ihr Teil dazu beitragen, dass den bei der herrschenden Planktomanie in den letzten Jahren entschieden vernachlässigten Spongillen wieder die Aufmerksamkeit geschenkt wird, welche diese so interessanten Tiere mit Fug und Recht beanspruchen können. Litteratur über Carterius Stepanowi. 1884. Dybowsky, W. Notiz über die aus Südrussland stammerden Spon- gillen. In: Sitzungsberichte Naturf. Gesellschaft Dorpat, Bd. VII, p. 504-515 („Dosilia Stepanowi“ p. 510—515). 1884. Dybowsky, W. Samjetka o bodjagach juschnoi Rossii (Bemerkungen über die Süßwasserschwämme von Südrussland). In: Travaux de la Societe des naturalistes ä l’universit@e de Charkow. Tome XVIh p. 289, "Tab. 7, Fig.. 1a. bis @. 1854. Dybowsky, W. Notiz über Dosilia Stepanowi. Ebenda, Tome XVIII, p. 201—208. Mit 1 Tafel. (Mir ebenso wie Weltner unzugänglich.) 1884. Dybowsky, W. Ein Beitrag zur Kenntnis des Süßwasserschwammes Dosilia Stepanowi. In: Zoolog. Anz., Bd. VII, p. 476—480. 1886. Petr, F. Dodatky ku Faune Ceskych hub Sladkovodnich (Beiträge zur Fauna der böhmischen Süßwasserschwämme). In: Sitzungsber. Böhm. Gesellsch. Wissensch. Prag, p. 147—174. Mit 1 Taf. (Deutsches Resum& p. 169—174). 1887. Potts, E. Contributions towards a synopsis of the American forms of frest water Sponges with descriptions of those named by other authors and from all pacts of the world. In: Proceed. Acad. Nat. Science. Philadelphia 1837, p. 158—279. Mit Taf. V bis XI (Car- terius Stepanowi, p. 262—R263, Taf. VI, Fig 4). 1889. Traxler, L. A Magyarhonban eddig tapasztalt &desvizi szivacsok (Spongillidae) rendszeres jegyzeke (Enumeratio systematica Spon- gillidarum Hungariae. In: Termez. Füzetek, vol. XII, p. 13—15. Zacharias, Vermehrung gewisser Planktonorganismen in flachen Teichen. 535 1891. Weltner, W. Die Süßwasserschwämme. In: Zacharias, Tier- und Pflanzenwelt des Süßwassers, Bd. I, p. 185—236 (Carterius Stepanowi, p. 220— 221). 1892. Wierzejski, A. Ueber das Vorkommen von Carterius Stepanowi Petr und Heteromeyenia repens Potts in Galizien. In: Biol. Centralblatt, Bd. XI, Nr. 5, p. 142—145. 1894. Petr, F. Evropesk& houby sladkovodni. — Chrudim 1894, 32 Seiten, 2 Tafeln. (Leider ganz in tschechischer Sprache geschrieben! Nach den hübschen Tafeln zu urteilen, scheinen in der Arbeit auch Beob- achtungen über die Bildung der Gemmulae von Carterius Stepanowi enthalten zu sein.) 1895. Weltner, W. Spongillidenstudien III. Katalog und Verbreitung der bekannten Süßwasserschwämme. In: Archiv für Naturgesch. 1895, p. 114—144 (Carterius Stepanowi, p. 129—130). 1898. Girod, P. Considerations sur Ja distribution ge&ographique des Spongilles d’Europe. In: Bullet. Soc. Zoolog. France T. 24, p. 51—53. Ludwigshafen a/Rh,, 12. April 1902. [47] Einige Beispiele von massenhafter Vermehrung gewisser Planktonorganismen in flachen Teichen. Von Dr. Otto Zacharias (Plön). Im Maimonat 1898 war das Wasser in einem Teichbecken des Palmen- gartens zu Frankfurt a.M. auffällig grün gefärbt, ohne dass man den be- treffenden pflanzlichen Mikroorganismus mit bloßer Lupenvergrößerung zu er- kennen vermochte. Es handelte sich also nicht um eine der gewöhnlichen Schizophyceen, die so häufig durch ihre üppige Vermehrung Anlass zur Ent- stehung einer „Wasserblüte“ geben, wie Polyeystis, Anabaena und Aphanizomenon. Die genauere Besichtigung mit stärkeren Linsen ergab vielmehr die Anwesen- heit einer ganz winzigen Desmidiee, welche in zahllosen Exemplaren den Hauptbestandteil jeder Planktonprobe aus dem betreffenden Gewässer bildete. Und zwar war es Polyedrium papilliferum, var. tetragona Br. Schröder, was hier als Ursache der Grüufärbung jenes Gartenteiches vorlag. Die Länge dieser frei- schwebenden Algenzellen war 12 . bei fast gleichem Breitendurchmesser; die im mittleren Teile vorhandene Einschnürung (Isthmus) verringerte aber dort die Breite bis auf 8 u. Dasselbe Polyedrium war mir schon aus einer mit Wasser angefüllten Felsenhöhlung im Riesengebirge bekannt, wo ich es seiner Zeit in gleich großer Menge angetroffen habe. In jenem Falle präsentierte es sich fast als Reinkultur. Im dem Frankfurter Teiche hingegen erwies es sich noch mit einer geringen Anzahl von Scenedesmus opoliensis Richt. und einer nadelförmigen Diatomee (Synedra delicatissima W.Sm.) untermischt. Die Tier- welt war durch zwei Rädertiere (Anuraea stipitata und Pompholyx complanata), sowie durch eine kleine Krebsspecies (Bosmina longivostris O.F. M.) vertreten. Eine ähnlich üppige Wucherung machte sich im Juli desselben Jahres (1898) bei einer Schwebalge im Goldfischbassin des Botanischen Gartens zu Marburg bemerklich. Hier waren es zahllose Cönobien von Pediastrum boryanum, die 536 Bei der Redaktion eingegangene Werke. dem Wasser eine helle Grünfärbung verliehen. Die einzelnen Zellen sind bei dieser Species zu scheibenförmigen Gemeinschaften von 25—45 u Durchmesser vereinigt und stellen äußerst zierliche Objekte dar. Denselben hatte sich nur noch eine Diatomee (Synedra acus [Kütz.] Grun.) in größerer Anzahl zuge- sellt, sodass das gesamte Plankton des betreffenden Wasserbeckens aus diesen zwei Arten von pflanzlichen Organismen bestand, die hier in ganz erstaunlicher Anzahl vorhanden waren. Ein drittes Beispiel für die äußerst lebhafte Vermehrung mancher Plankton- wesen bot sich mir bald nachher in einer nur 50 cm tiefen Ziegeleiausschach- tung bei Gera (Reuß) dar. Diese flache Vertiefung in einem Wiesenterrain war mit Wasser angefüllt und hatte etwa die Größe eines halben Morgens. Hier konstatierte ich die Anwesenheit einer bekannten planktonischen Dino- flagellatenspecies (Ceratium hirundinella) in solcher Ueppigkeit, dass das von der Julisonne stark durchwärmte Wasser der bezüglichen Ausschachtung ganz gelbbraun davon aussah. Ein Fang mit dem Gazenetz lieferte eine ganz unge- heure Menge dieser gepanzerten Geißelträger, die hier ein fast völlig mono- tones Plankton darstellten. Dazwischen waren bloß noch einige wenige Räder- tiere (Synchaeta tremula und Polyarthra platyptera) zu entdecken. Eine Vermehrung in solchem Umfange, wie sie hier bei drei verschiedenen Planktonwesen thatsächlich beobachtet worden ist, scheint nur in kleinen und leicht erwärmbaren Gewässern vorzukommen; ich erinnere mich nicht, auch nur etwas dem entfernt Aehnliches in einem Seebecken wahrgenommen zu haben. [26] Bei der Redaktion eingegangene Werke. (Nähere Besprechung einzelner vorbehalten.) Recueil de l’Institut Botanique (Universite de Bruxelles). Publi@ par L. Errera. Tome V. 8. XII und 357 Stn. 8 Fig. im Text und 9 Tafeln. Bruxelles. Henri Lamertin. Inhalt: G.Clautriau, na- ture et signification des alcaloides vegetaux. Ders. La digestion dans les urnes de Nepenthes. (Vergl. Centralbl. XXI, 33). — E. Vanderlinden. Recherches microchimiques sur la presence des alcaloides et de glycosides dans la famille des Ranonculacees. J. Massart. Recherches sur les organismes inferieurs. IV. Le lancement des trichocystes chez Paramaecium. — L. Errera. Sur la myriotonie comme unit dans les mesures osmotiques. — Fr. van Rysselberghe. Influence de la temperature sur la perme&a- bilit@ du protoplasme vivaut pour l’eau et les substances dissoutes). — J. Massart. Recherches sur les organismes inferieures. V. Sur le protoplasme des Schizophytes. — J. Starke. De la pre- tendue existence de solanine dans les graines de Tabac. — J.Mas- sart. Essai de elassifieation des reflexes non nerveux (vergl. Centralbl. XXII, 9ff.). — L.Errera. Sur une bacterie des grandes dimensions. Spirillum eolossus. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr, von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Oentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. ßoebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der BERTER in a Vierundzwanzig Nummern bilden einen "Band. Preis des "Bandes 20 Mark. Zu beziehen ‚durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. xZI Band. 15. Brengember 1902. Nr. 18. ae Moll, Die Mutationstheorie,. — en Die Erforschung des DR planktons in Russland. — v. Lendenfeld, Zur mimikristischen Tierfürbung. — Wasmann, Noch ein Wort zu Bethe’s Reflextheorie, Die Mutationstheorie. MNezkern® Von Dr. J. W. Moll. (Fortsetzung.) Die Gartenvarietäten. Mit der Kenntnis des Einflusses der Ernährungsbedingungen auf die Variation ausgerüstet, wollen wir jetzt einige von de Vries ex- perimentell untersuchten Gartenvarietäten, die nicht vollkommen erb- lich sind, uns etwas näher ansehen. Wie ich oben schon bemerkte, war das Hauptergebnis dieser Untersuchungen, dass man zwei ver- schiedene Stufen der Erblichkeit unterscheiden kann, welche nur durch Mutation ineinander übergehen können. Um das zu verstehen wollen wir zuerst zwei Varietäten aus der Gattung Trifolium betrachten, nämlich Trifolium incarnatum qua- drifolium und Trifolium pratense quinquefolium. Wie bekannt, findet man gelegentlich beim gewöhnlichen Klee ein vierzähliges Blatt. Aber wenn man die betreffende Pflanze isoliert, kommt man sehr oft bei der Kultur nicht weiter. Die Nachkommen sind gewöhnliche Kleepflanzen, welche, wie es auch in der Natur vor- kommt, nur sehr gelegentlich ein mehrzähliges Blatt hervorbringen. In solehen Fällen hat man also ein latentes Merkmal gefunden, und zwar einen Rückschlag zu dem ursprünglichen, gefiederten Blatte der Papilionaceen, welcher sich nur höchst selten ausbildet. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass ab und zu eine Pflanze mit einzelnen vierzähligen Blättern vorkommt, welche im Verborgenen eine Mutation erlitten hat, so dass das latente Merkmal mehr oder weniger XXI. 35 538 Moll, Die Mutationstheorie. aktiv geworden ist. Das verrät die Pflanze selbst nicht, aber ihre Nachkommen lassen bei Isolierung und besonders bei guter Ernährung das latente Merkmal mehr oder weniger regelmäßig hervortreten. Nun besteht in solchen Fällen in der Frequenz dieses Hervortretens zwischen den zwei oben genannten Trifoliumvarietäten ein gewisser Gegensatz, welcher durch die hier folgende Beschreibung deutlich werden wird. Trifolium incarnatum quadrifolium. Von Trifolium in- carnatum findet man in der Litteratur keine vier- oder fünfzähligen Blätter erwähnt. Nichtsdestoweniger wollte de Vries versuchen, von dieser Pflanze eine konstant erbliche Rasse mit fünfzähligen Blättern herzustellen. Es war somit allererst nötig, eine Pflanze zu besitzen, welche wenigstens ein vierzähliges Blatt zeigen würde. Er säte in 1895 gekaufte Samen in großer Zahl und fand unter 1000 Keimpflanzen zwei tricotyle und eine mit vier Cotyledonen. Nach den Prinzipien der Korrelation zwischen verschiedenartigen Anomalien waren bei den Nachkommen dieser Pflanzen vielleicht mehrzählige Blätter zu erwarten, und in dieser Voraussetzung wurde er nicht getäuscht, ja die tetracotyle Keimpflanze zeigte selbst im erwachsenen Zustande schon ein vier- zähliges und ein fünfzähliges Blatt. Im nächsten Jahre fand er bei den Nachkommen der drei oben erwähnten Pflanzen, welche neben- einander geblüht hatten, mehrere mit einem oder mehr vierzähligen Blättern, und zumal die Nachkommen der tetracotylen Pflanze waren dadurch ausgezeichnet. Nur diese wurden weiter kultiviert. Das neue Merkmal war also erblich und es konnte mit der Kultur weiter ge- gangen werden. Das in 1896 erhaltene Resultat für die 90 Nachkommen der tetracotylen Mutter findet man in der nachfolgenden Tabelle ver- zeichnet. Es fanden sich im Mittel etwa 100 Blätter pro Pflanze vor. Anzahl der mehrzähligen Blätter pro Plane 0 41 23456789 Indivaduen» mug orale ELLE HH O2 SAD 2 EEE ET Es bildet die Anomalie somit eine halbe Kurve, deren Gipfel die Pflanzen ohne abnormale Blätter bilden; die Anomalie ist also nur in geringem Grade erblich. Die Kultur wurde nun bei guter Ernährung und mit fortwährender Selektion der besten Erben fortgesetzt. Die Auslese war sogar eine sehr scharfe, denn als gute Erben wurden nur diejenigen Keimpflanzen weiter gezüchtet, deren erstes Blatt, das sogenannte Primordialblatt, zwei- oder dreischeibig war, bei denen die Periode der Anomalie also sehr weit ausgedehnt war. Aber nichtsdestoweniger war der Erfolg ein unbedeutender. In 1898 erhielt er ein Resultat, das in nach- stehender Tabelle verzeichnet ist. Anzahl der mehrzähligen Blätter pro Pflanze DE RETSRAD Tadividuen 2 see Mn brav, et ABS 923 Moll, Die Mutationstheorie. 539 Also ein Resultat, das dem in 1896 erhaltenen noch ein wenig nachsteht. In 1899 wurden bei schärfster Auslese auf 120 blühende Pflanzen 45 ohne die Anomalie gefunden und 55 mit derselben, das heißt 27 mit einem einzigen anormalen Blatte, 23 mit deren 2 bis 4. Es wurde also deutlich, dass keine Aussicht auf bedeutende Erfolge vorhanden war und dass das gesteckte Ziel, die Ausbildung einer konstant erblichen fünfblätterigen Rasse, auf diese Weise wenigstens unerreichbar war. In vier Generationen war es bei guter Ernährung und schärfster Auslese nicht weiter gekommen, als dass etwa die Hälfte der Pflanzen einzelne mehrscheibige Blätter trug, und die Zahl der Scheiben pro Blatt war höchstens fünf. Eine solche Rasse, bei der die Anomalie zwar nicht ganz latent ist wie bei der ursprünglichen wilden Art, aber doch nur relativ wenig hervortritt, bei der also die Anomalie nur in geringem Grade erblich ist, nennt nun de Vries eine Halbrasse. Das abnormale Merkmal, das die Halbrasse charakterisiert, bezeichnet er als semilatent. Die Halbrasse betrachtet er als durch Mutation aus der gewöhnlichen Art entstanden. Beim statistischen Studium der Nachkommenschaft der Halbrasse ergiebt sich eine halbe, nicht zweischenkelige Kurve, welche, wie wir später sehen werden, bisweilen durch Selektion zweischenkelig werden kann, aber auch in solehen Fällen entfernt sich der Gipfel nur wenig von dem Gipfel der halben Kurve und bleibt sie meist un- symmetrisch. Solehe halbe Kurven sind nicht gewöhnliche Quetelet- Galton’sche Variationskurven, sondern Kombinationskurven, in denen das ursprüngliche Merkmal (in diesem Falle das dreischeibige Blatt) und das antagonistische, anormale Merkmal (in diesem Falle das mehr- scheibige Blatt), beide zugleich verzeichnet sind. Trifolium pratense quinquefolium. Im Gegensatze zu der eben besprochenen Pflanze steht 7. pratense quinguefolium, über welehe ich jetzt berichten werde. Den Ausgangspunkt der Kultur bildeten zwei beim Dorfe Loosdrecht wildwachsend gefundene Pflanzen mit einigen vierscheibigen Blättern und einem fünfscheibigen. Aus den in 1889 geernteten Samen dieser Pflanzen gingen im nächsten Jahre 100 Pflanzen auf, von denen ungefähr die Hälfte vierscheibige Blätter besaß. Die vier besten Individuen, welche auch zur Fortsetzung der Kultur benutzt wurden, zeigten zusammen 64 vierscheibige und 44 fünfscheibige Blätter. In der dritten Generation gab es S0°/, der Pflanzen, welche wenigstens ein vierscheibiges Blatt trugen, oft aber mehr, und auf 8366 Blättern von 300 Pflanzen herkünftig gab es 14°, mit vier oder fünf Scheiben. Von diesem Zeitpunkte ab fand eine sehr scharfe Selektion der Erben statt, da als solche nur diejenigen Indi- viduen benutzt wurden, welche als Keimpflanzen ein zusammengesetztes Primordialblatt getragen hatten. Eine solche scharfe Auslese fand noch während vier weiteren Generationen statt und die Keimpflanzen mit 35° 540 Moll, Die Mutationstheorie. zusammengesetztem Primordialblatt trugen, als sie später erwachsen waren, alle ohne Ausnahme mehrzählige Blätter. Auf diese Weise brachte de Vries es in 1894 so weit, dass er 20 Pflanzen besaß, deren Samen im nächsten Jahre 70—99°], Keimpflanzen mit zusammen- gesetztem Primordialblatt ergaben. Auf dieser Höhe erhielt sich auch weiter die Rasse bei fortwährender Auslese. Die Maximumzahl der Scheiben war sieben, aber eine rein fünf- oder siebenscheibige Rasse wurde auch bei schärfster Zuchtwahl nie erreicht. Die Rasse blieb immer sehr variabel und die Lebenslage hatte fortwährend großen Einfluss auf die Anomalie, welche sich bei günstigen Bedingungen am meisten zeigte. Bei sieben auserwählten Pflanzen wurde im Juli 1894 die Scheibenzahl aller Blätter bestimmt, so dass Kurven konstruiert werden konnten. Eine Pflanze ergab eine halbe Kurve mit dem Gipfel bei drei Scheiben, eine andere ergab eine symmetrische, zweischenkelige Kurve mit dem Gipfel bei fünf Scheiben. Die fünf übrigen ergaben alle umgekehrte halbe Kurven, deren Maximum bei sieben Scheiben pro Blatt lag. Auch Retourselektion fand, von guten Erben ausgehend, statt, wobei nur Keimpflanzen mit einfachem Primordialblatt und dreizähligen ersten Blättern fortgezüchtet wurden. Auf diese Weise ging die Rasse in drei Jahren sehr stark zurück, so dass sie keine sechs- und sieben- scheibige Blätter mehr aufwies und viele Pflanzen nur dreizählige Blätter hervorbrachten. Aber dennoch ging das anomale Merkmal keineswegs ganz verloren, da noch immer zwei Drittel der Pflanzen vier- bis fünfscheibige Blätter trugen, wenn auch in weit geringerer Zahl wie bei den besten Erben der Rasse. Der Unterschied mit Trifolium incarnatun guadrifolium wird nach dem Mitgeteilten deutlich sein. Die Trifolium pratense quinquefoliun ist zwar keine vollkommen erbliche Rasse, aber bei günstigen Lebens- bedingungen ist es schwierig auszumachen, ob das Artmerkmal oder die Anomalie stärker ist; sie halten einander bei der Vererbung etwa das Gleichgewicht. Und unter sehr günstigen Bedingungen kann die Anomalie sogar ganz entschieden den Vorrang haben. In einer solchen Rasse geht es also nicht an, die Anomalie als semilatent zu bezeichnen, sondern ist es besser, sowohl das Artmerk- mal als die Anomalie, beide als aktiv zu betrachten. Eine solche Rasse nennt de Vries eine Mittelrasse. Sie zeigt nur in den Minus- varianten eine halbe Kurve, in vielen Fällen eine zweischenkelige sym- metrische, in den besten Erben oder Plusvarianten eine umgekehrte halbe Kurve. Das bei diesen zwei Pflanzen erhaltene Resultat ist nun auch für die übrigen von de Vries untersuchten inkonstanten Gartenvarietäten maßgebend. Stets lassen sich die Rassen, welche er züchtete, ent- weder der Halbrasse oder der Mittelrasse anreihen. So kommt er zu Moll, Die Mutationstheorie. 541 der Hypothese, dass neben den Mutationen mit vollständiger Erblich- keit noch zwei andere Fälle existieren können, welche nur insofern scharf voneinander geschieden sind, als es sich bei statistischer Unter- suchung zeigt, dass sie sich durch Kultur allein nicht ineinander über- führen lassen. Denn bei Trifolium incarnatum gelang es nicht, aus der Halbrasse eine Mittelrasse zu züchten, ebensowenig wie bei Trifolium pratense aus der Mittelrasse die Halbrasse. Zwar gelingt es bei schlechter Ernährung bei Trifolium pratense quinquefolium Pflanzen mit halber Kurve zu gewinnen, aber das sind nur Minusvarianten, deren Nachkommen bei entsprechenden Ernährungsverhältnissen wieder zu der Mittelrasse zurückkehren. Auf diese Weise kommt de Vries zu dem nachfolgenden Schema der Erblichkeitsstufen bei Mutationen: Artmerkmal Anomalie Art aktiv latent ; Halbrasse aktiv semilatent Zwischenrassen | Mittelrasse aktiv aktiv Bis jetzt nicht gefundene Stufe semilatent aktiv Konstante Varietät latent aktiv Mit latent ist hier gemeint, dass das Merkmal zwar gelegentlich sichtbar wird, aber so selten, dass es sich einer statistischen Behand- lung entzieht. Eine scharfe Definition der Begriffe Halbrasse und Mittel- rasse lässt sich vorläufig nicht geben, denn dazu würde es statistischer Daten bedürfen, welche jetzt noch fehlen. Auch ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass solche vergleichbare Daten bald zu erhalten sein werden angesichts der Thatsachen, dass beide Rassen für Ernährungs- verhältnisse sehr empfindlich sind, aber dieselbe Lebenslage für ver- schiedene Arten durchaus nicht dieselbe Bedeutung hat. Wie gesagt, kann man also eine scharfe Grenze zwischen beiden Stufen jetzt nicht ziehen. Man muss sich augenblicklich begnügen mit der Kenntnis der Thatsache, dass bei der Halbrasse auch bei ausgezeichneter Ernährung und schärfster Zuchtwahl sich nicht viel mehr als eine halbe Kurve erzielen lässt. Die Mittelrasse dagegen zeigt die Anomalie bei guter Kultur bald viel deutlicher, ja oft herrscht dieselbe bei den besten Individuen vor. Weder Halbrasse noch Mittelrasse kann man willkürlich hervor- rufen; beide kann man, wie alle Mutationen, nur erhalten, wenn man sie fertig in einzelnen Pflanzen vorfindet. Solche Individuen zeigen die Anomalie oft nur in derselben Weise, als wenn sie aus dem la- tenten Zustande gelegentlich hervortritt. Aber die Nachkommenschaft zeigt in solehen Fällen, dass man auf eine Pflanze gestoßen ist, welche durch Mutation im Verborgenen schon zu der Halbrasse oder Mittel- rasse übergegangen war. 542 Moll, Die Mutationstheorie. So erklärt es sich, dass im Gartenbau sehr viele Kulturen anomaler Pflanzen misslingen. Denn oft hat man nur eine gelegent- lich sich zeigende latente Anomalie getroffen. Ebenso wird es aus dem vorhergehenden deutlich, dass im Gartenbau nicht nur die Mu- tation selbst, sondern auch ihre der Selektion zugängliche, fluktuierend variierende Erblichkeit eine bedeutende Rolle spielt. Oft ist also der Gärtner in der Lage, dass er eine plötzlich durch Mutation entstandene Varietät nicht nur isolieren, sondern auch durch Zuchtwahl verbessern muss, wenn er etwas erhalten will, das sich lohnt, es in den Handel zu bringen. Eine solche durch Mutation entstandene und darauf ver- edelte Rasse bleibt dann eben so gut wie die veredelten Rassen der Landwirtschaft der fortwährenden Selektion bedürftig, um nicht zurück- zugehen. Nachdem wir so an zwei Beispielen die hauptsächlichsten Prin- zipien, welche bei nicht konstanten Varietäten vorwalten, kennen ge- lernt haben, gehe ich jetzt zu der Beschreibung einiger weiterer, von de Vries untersuchten Fälle über. Antirrhinum majus striatum. Wie ein jeder weiß, hat das gewöhnliche, kultivierte Löwenmaul (Antirrhinum majus) Blüten mit einer zum größten Teil roten Krone. Diese Farbe ist aber gewöhn- lich nieht rein, sondern aus rot und gelb oder schwefelgelb zusammen- gesetzt, wie die mikroskopische Betrachtung lehrt. So erklärt es sich, dass man unter den zahlreichen Varietäten dieser Pflanze solche findet mit gelben, schwefelgelben und auch selbst mit weißen Blüten. In solchen Fällen ist die rote Farbe verschwunden und zeigt sich nur die gelbe Grundfarbe, welche selbst auch verschwunden sein kann, in welchem Falle die Blüten weiß sind. Im Handel findet man nun eine rein gelbe Varietät, welche als konstant erblich betrachtet werden darf, aber auch eine gestreifte Varietät, welche dadurch entsteht, dass die rote Farbe der Krone in Längsbändern fehlt. Die Blüte ist also der Länge nach rot und gelb gestreift. Diese Handelsrasse zeigt sich als sehr inkonstant und liefert auch 19—26°/, ganz rote Nachkommen. Diese gestreifte Rasse hat de Vries während acht Jahren unter- sucht, wobei stets künstliche Selbstbestäubung der Samenträger statt- fand, so dass die Nachkommenschaft rein war. Immer sah er dabei in gewissem Maße Pflanzen mit roten Blüten wieder auftreten, was man ohne Zweifel als Atavismus betrachten darf, weil es feststeht, dass die Stammform der gestreiften Pflanzen egal rote Blüten gehabt hat. Die roten Varianten erschienen in den Versuchen nicht nur bei der Fortpflanzung aus Samen, sondern es kamen auch Knospen- variationen mit roten Blüten vor. Auch fand nicht selten sogenannte sektoriale Variation statt, das heißt, dass eine Pflanze oder ein Zweig der Länge nach in verschieden gefärbte Sektoren gespalten wird, so dass an einer Seite rote, an der anderen Seite gestreiffe Blüten an Dil Moll, Die Mutationstheorie. 43 demselben Zweige vorkommen. Es kann auch die Grenzlinie der Sek- toren durch eine Blüte gehen, so dass deren eine Längshälfte rot, die andere gestreift erscheint. de Vries hat es versucht, die Nachkommenschaft gestreifter Pflanzen statistisch zu untersuchen und Kurven der gestreiften Blüten zu zeichnen. Das war nun eben keine sehr leichte Aufgabe, da es sich bald zeigte, dass es unmöglich war, Zahlen für das Verhältnis der roten Teile der Blüte zum ganzen Kronenumfang zu gewinnen. Er ging aus von drei Beeten mit gestreiftblütigen Pflanzen, jedes mit den Nachkommen einer einzigen Mutterpflanze besät, und diese Mutterpflanzen waren ver- schieden stark gestreiftblütig gewesen. Für jedes Beet wurde eine ge- sonderte Kurve gewonnen. Auf folgende Weise gelangte er nun zu seinem Ziele. Auf jedem Beete wurde von einem Gehilfen aus der Endtraube einer jeden Pflanze eine mittlere Blüte gesammelt. Diese Blüten ordnete er für jedes Beet nach dem Grade ihrer Streifung, also von fast gelb bis ganz rot aufsteigend. In dieser Reihe traten nun von selbst mehr weniger gleichwertige Gruppen hervor, welche er wie folgt andeutete: eitronengelb — Streifen fast fehlend gelb = J sehr fein dunkelgelb — B schmal rotgelb = a 1—?2 mm breit schmal gestreift = 5 1—3 „ y grobstreifig zer R 1-5 „ - breitstreifig == “ 1—6 „ e breite Felder — halb gelb, halb rot einfarbig rot —r 1Of Als er nun die Zahlen der in jeder Gruppe vorhandenen Blüten zu- sammenstellte, erhielt er für jedes Beet eine zweischenkelige Kurve. Die eine hatte ihren Gipfel bei „breitstreifig“, die zweite bei „schmal- gestreift“ bis „grobstreifig“, die dritte bei „schmalgestreift“. In allen den drei Fällen sank die Kurve sehr bedeutend bei „breite Felder“, aber auch war bei allen die Zahl der roten Blüten weit größer als mit dem sonstigen Verlauf der Kurve übereinstimmte, so dass in zwei Fällen sogar ein zweiter Gipfel bei „rot“ sich kund gab. Es lagen somit offenbar Kombinationskurven vor; die roten Blüten sind wenigstens zum Teil nicht die extremen Varianten der fluktuierenden Variation. Aber abgesehen davon ist also in der Handelsrasse das Verhältnis zwischen rot und gelb fluktuierend variabel um einen Mittel- wert, der je nach der Mutter verschieden ist, also von Selektion ab- hängig. Dieses ging mit noch größerer Gewissheit hervor aus der durch Selbstbestäubung erhaltenen Nachkommenschaft breitstreifiger und gelber Mütter aus den drei oben genannten Beeten. Die breitstreifigen 544 Moll, Die Mutationstheorie. ergaben eine Kurve mit dem Gipfel auf „breite Felder“, mit „grob- streifig“ als Minusvarianten und sehr viel roten Individuen, in einem Versuche sogar 36°/,. Die gelben Mütter gaben bei der Nachkommen- schaft eine etwas unregelmäßige Kurve mit vielen „gelben“ und zumal „rotgelben“ und „schmalgestreiften“ Blüten, aber ganz ohne „breit- streifigen“, solche mit „breiten Feldern“ und roten. Es waren also durch Selektion zwei Zuchtrassen entstanden, die eine wenig, die an- dere sehr stark gestreift. Es war nun von großer Bedeutung, auch das Verhalten der rot- blütigen Atavisten kennen zu lernen, um auszumachen, ob diese extreme Varianten der gestreiften Rasse sind. Zu diesem Zwecke wurde ein vergleichender Versuch angestellt mit den durch Selbstbestäubung er- haltenen Nachkommen feinstreifiger und ganz roter Mütter. Das Re- sultat war für die Nachkommen der Gestreift Rot feinstreifigen Mütter . . . . ».2 2.98% 2; totblühenden Mütter 0... 2.0. 2.940 76°, Die Nachkommen einer roten Knospenvariation zeigten ungefähr dasselbe Verhalten. Die roten Pflanzen sind also nicht extreme Varianten. Zusammenfassend ist also das Resultat dieser Versuche folgendes: Die gestreiftblütige Rasse entsteht durch das teilweise Fehlen eines Merkmals, nämlich der roten Farbe. Weiter kann man bei Antirrhinum majus die folgenden Stufen unterscheiden: 1. die systematische Art: Antirrhinum majus, welche konstant erblich ist; 2. die Mittelrasse: Antirrhinum majus striatum mit gestreifteu Blüten, stark fluktuierend variabel, sehr empfindlich für Selektion, so dass man dadurch leicht eine feinstreifige oder grobstreifige Rasse er- halten kann. Die letztere liefert regelmäßig etwa 30°, Individuen mit roten Blüten; 3. die konstante, systematische Varietät: Antirrhinum majus lu- teum. Diese ist im Handel zu haben, bildete sich aber in den Ver- suchen nie aus der Mittelrasse, denn auch die am wenigsten gestreiften Exemplare waren doch nie ganz gelb. Bei Hesperis matronalis und Clarkia pulchella hat de Vries Resultate erhalten, welche den bei Antirrhinum majus ge- wonnenen analog sind. Es würde mich aber zu weit führen, dieselben hier auch zu behandeln. Plantago lanceolata ramosa. Plantago lanceolata ist be- kanntlich sehr reich an den verschiedensten Monstrositäten, unter denen man sehr oft bei wildwachsenden Pflanzen die verzweigten Aehren findet. Es können 2—20 Seitenährehen vorkommen, und die Ver- zweigung findet am unteren Teile der Hauptähre statt. Mit Pflanzen, Moll, Die Mutationstheorie. 545 welche die Anomalie zeigten und isoliert blühten, und bei denen die nicht verzweigten Achrchen regelmäßig vor der Blüte abgeschnitten wurden, hat de Vries seine Versuche gemacht. Die Windbestäubung war also eine ziemlich reine. Bei fortwährender Selektion fand er von der fünften bis zur achten Generation jährlich 46—59°], Atavisten mit unverzweigten Aehren unter den Nachkommen der besten Erben. In einem bestimmten Falle sank der Atavismus durch Selektion von 59—45 |,. Die Atavisten sind ganz aus der Rasse ausgeschieden; sie sind vollkommen samenbeständig und zeigen keine Seitenähren bei ihren Nachkommen. Die Variabilität dieser Rasse zeigt eine zweigipflige Kurve wie aus der nachfolgenden Tabelle hervorgeht, welche sich auf sämtliche Aehren einer kleinen Gruppe von Pflanzen bezieht: Aehren ohne Verzweigung 191 Aehren mit 1 Seitenährchen 80 n Ho R 136 n ” 3 n 93 n b)] 4 ” 39 „ ) n 12 b) Summa der Aehren: 545 Der erste Gipfel bezieht sich auf die atavistischen Aehren, für die verzweigte Rasse liegt die Mittelzahl der Seitenährehen auf zwei. Man hat hier also eine Mittelrasse, während die konstante Varietät nicht vorhanden ist. Auch die Halbrasse ist unbekannt, aber es ist keineswegs unmöglich, dass sie in der Natur sich vorfindet. Denn wie die Tabelle lehrt, kommen bei der Mittelrasse zwei Seitenährchen am meisten vor, während doch in der Natur bei wildwachsenden Pflanzen Aehren mit einem Seitenährchen bei weitem vorwiegen. Es wäre also vielleicht möglich später auch eine Halbrasse zu isolieren. Ueber den Einfluss der Ernährungsbedingungen auf diese Anomalie habe ich schon oben berichtet. kanunculus bulbosus semiplenus. Von Ranunculus acris ist eine petalomane Varietät bekannt. Bei verschiedenen Arten der Gattung sind auch geringere, aber immerhin noch starke Grade der Füllung bekannt, und eine solche Rasse besteht auch von Ranunculus bulbosus. Aber in der Nähe von Amsterdam findet man bei wild- wachsenden Pflanzen nur sehr unbedeutende Grade der Füllung. In den Blüten findet man meist sechs, selten sieben und noch seltener 10—12 Petalen. Aus solchen Pflanzen wollte de Vries versuchen, eine gut gefüllte Rasse zu züchten, wie sie aus der Litteratur be- kannt ist. An einem wilden Standort der Pflanze bei Hilwersum wurden während zwei Jahren die Blüten gezählt. Das Resultat, in Prozenten umgerechnet, findet man in nachstehender Tabelle: 546 Moll, Die Mutationstheorie. Anzahl der Blumenblätter . 5 6 {Zi 8 9 10 12 13 14 BlumenfmmiRsbr en. 952060 00.0: Blumenandesra.ı 2 22.722390 7 2 0 DO 0270 Es wurden somit deutliche halbe Kurven erhalten. Während fünf Generationen fand nun, von solchen Pflanzen aus- gehend, die Kultur im Garten statt. Stets wurden dabei nur die Samen der besten Erben benutzt, und stets wurden alle sich zeigenden fünf- zähligen Blüten sobald wie möglich entfernt. Uebrigens wurden die isoliert blühenden Pflanzen der Insektenbestäubung überlassen. In der fünften Generation zeigten sich die Folgen der Selektion in fast allen Pflanzen. Eine die Blüten vieler Pflanzen umfassende Kurve war zwei- schenkelig mit dem Gipfel bei neun Petalen. Weniger als fünf kamen nicht vor, die höchste Zahl war 31, die Kurve somit nicht symmetrisch. Wenn man also als Mittelrasse eine Rasse betrachten will, bei welcher im Mittel wenigstens die Hälfte der Staubfäden in Petalen umgewandelt ist, so wird man mit de Vries in diesem Falle nur von einer Halbrasse reden können. Und diese Halbrasse war offenbar durch Kultur nicht weiter zu bringen. Dazu wäre eine Mutation nötig gewesen, und es ist gar nicht unmöglich, dass eine solche bei länger fortgesetzter Kultur plötzlich aufgetreten wäre, denn wie wir sehen werden, fand solches bei der folgenden Pflanze, die ich besprechen werde, in der That statt. Chrysanthemum segetum plenum. Diese Varietät ist, wie de Vries mit einigem Stolze hervorhebt, sein Konquest, das heißt die erste Gartenvarietät, welche im Handel Wert haben könnte, aber welche in einer experimentellen Kultur entstanden ist. Das gewöhnliche wildwachsende Chrysanthemum segetum hat be- kanntlich weibliche, zungenförmige Strahlblüten und zweigeschlecht- liche röhrenförmige Scheibenblüten. Durch die statistischen Unter- suchungen Ludwig’s weiß man, dass die Zahlen, in welchen bei verschiedenen Compositenarten die Strahlenblüten vorkommen, diejenigen der bekannten Braun-Schimper’schen Reihe: 1, 2, 3, 5, 8,13, 21 ete. sind, und weiter, dass die Zahl der Strahlenblüten um eine solche Mittelzabl fluktuierend variiert. Das gewöhnliche COhrysanthemum segetum hat nun im Mittel 13 Strahlenblüten, das heißt: bei statistischer Untersuchung ergiebt sich eine deutliche, zweischenkelige Kurve mit dem Gipfel auf 13. Im Handel giebt es aber eine Varietät, welche Chrysanthemum segetum grandiflorum genannt wird, und im Mittel 21 Strahlenblüten aufweist. Käufliche Samen dieser Sorte ergaben eine ziemlich reine Kurve, deren Form nur auf geringe Beimischung der wilden Art deutete. Man kann diese Varietät also als Halbrasse betrachten. de Vries ging aber bei seinen hier zu beschreibenden Kultur- versuchen weder von der wilden Art, noch von der Varietät grandi- Moll, Die Mutationstheorie. 547 Horum aus, sondern er fing an mit Samen, welche er aus verschiedenen botanischen Gärten erhalten hatte. Es zeigte sich bald, dass die Samen ein Gemisch darstellten, in welchem sowohl die Art wie auch die oben genannte Varietät vertreten waren. Denn die aus den Samen aufge- gangenen Pflanzen gaben eine zweigipfelige Kombinationskurve, deren Gipfel auf 13 und 21 fielen. Es galt nun zuerst aus dieser Kultur die beiden Formen zu iso- lieren, und die zu diesem Zwecke führende Selektion fand, wie auch bei den späteren Versuchen, in der Weise statt, dass die Pflanzen nach dem Verhalten der Endblüte des Hauptstammes beurteilt wurden. Er schritt nun zuerst zur Isolierung der gewöhnlichen Art, denn es war nicht möglich beide Formen zugleich zu isolieren, weil bei dieser Pflanze die Bestäubung den Insekten überlassen werden musste. Es gelang: diese Isolierung in einem Jahre. Als er nur die Pflanzen mit der niedrigsten Zahl der Strahlenblüten aussuchte, ergab sich sogleich eine gute, auf 13 gipfelnde Kurve. Die Isolierung der 21-blütigen Rasse war nicht so einfach, und zwar der transgressiven Variabilität wegen. Es ist dies eine Erschei- nung, welche oft vorkommt, wo es sich, wie hier, um gleichartige Merkmale handelt, welche aber nach ihrem Mittelwerte verschieden sind. Es würde mich zu weit führen, hier auf diese interessante Er- scheinung näher einzugehen, aber es wird dem Leser deutlich sein, dass in der hier vorliegenden Variationskurve eigentlich zwei Quete- let’sche Kurven mit verschiedenen Gipfeln kombiniert sind. Wenn also eine Pflanze irgend eine Zahl etwa in der Mitte zwischen 13 und 21 aufweist, ist es ebensogut möglich, dass man eine Variante der einen Rasse wie eine der anderen vor sich hat; und so verhält es sich mehr weniger auch bei den anderen Zahlen der Kurve. Aber während bei der Isolierung der 13-strahligen Art die ausgewählten Pflanzen mit 12 und 13 Zurgenblüten sich in ihrem späteren Verhalten beim Blühen aus Seitenzweigen, und auch in ihrer Nachkommenschaft so- gleich als zur gewöhnlichen Art gehörig dokumentierten, so war das bei der Wahl der Samenträger für die Isolierung der 21-blütigen Rasse keineswegs der Fall. Es wurden hier 33 Pflanzen mit 21 oder mehr Strahlen im Endköpfehen ausgesucht, und von diesen wurden Partial- kurven gewonnen durch Zählung aller sich später zeigenden Körbchen der Pflanze. Auf diese Weise zeigte es sich bald, dass 22 dieser Pflanzen trotz eines 21—22-strahligen Endkörbehens dennoch eine auf 15—14 gipfelnde Partialkurve hatten, also der gewöhnlichen Art an- gehörten. Bei fünf Pflanzen wurden nur undeutliche Kurven gewonnen, und nur bei sechs gipfelte die Kurve auf 21. Bei der Nachkommen- schaft einer dieser sechs Pflanzen fehlte der Gipfel auf 13 ganz, und im nächsten Sommer war die 21-gipfelige Rasse rein erhalten. Als er so weit gekommen war, führte er die Kultur weiter und 548 Moll, Die Mutationstheorie. machte von vielen Pflanzen Partialkurven, welche alle Köpfchen eines Individuums enthielten, in der Hoffnung etwas neues zu entdecken. So fand er unter 1500 Pflanzen einer Kultur eine einzige ohne 13-strahligen Körbchen, aber mit drei 21-strahligen und vier 22-strahligen, was bisher noch nicht vorgekommen war. Diese Pflanze lieferte in drei Jahren die gefüllte Rasse: Chrysanthemum segetum plenum. Es wurde in jedem Jahre nur eine einzige‘ beste Pflanze, deren Wert später aus dem Verhalten ihrer Nachkommen hervorging zur Fort- setzung der Kultur benutzt. Diese Nachkommen ergaben vielgipfelige Kurven, und nach und nach traten in diesen Gipfeln auch höhere Zahlen der Braun- Schimper’schen Reihe hervor. Das Auftreten der gefüllten Rasse wurde erst zur Gewissheit, als im Jahre 1899 bei einer Pflanze deren Strahlenzahl bis 66 stieg, sich auch zum erstenmale Zungenblüten zwischen den Röhrenblüten zu zeigen anfingen. Denn bekanntlich be- steht die Füllung auch bei anderen Arten der Gattung in derselben Erscheinung. Diese Pflanze lieferte in 1900 eine kleine Generation, in der die Zahl der Zungenblüten bis 101 stieg, und Zungenblüten in der Scheibe waren ganz allgemein. Die beste Pflanze war völlig steril; es war somit hier die Grenze der Rasse erreicht: Im Mittel trugen die Körbchen in dieser Generation 47—55 Zungenblüten, und die Röhren- blüten waren, wie auch sonst in gefüllten Kompositenkörbehen, keines- wegs ganz verschwunden. Es hat sich in diesem Versuche also aus der 21-strahligen Halb- rasse eine Mittelrasse, Chrysanthemum segetum plenum, mit wahr- scheinlich im Mittel 55 Zungenblüten, unter den Augen des Beob- achters gebildet. Eine reine Varietät mit nur Zungenblüten ist hier nicht vorhanden, und könnte auch der Sterilität wegen nicht bestehen. Es wird einleuchten, dass in allen bis jetzt besprochenen Kulturen die Erblichkeitsstufen, welche de Vries als Halbrasse und Mittelrasse be- zeichnet hat, hervortreten. Solches ist nun auch der Fall bei den buntblätterigen Pflanzen, über welche ich jetzt noch einiges mit- teilen will. Die Buntblätterigkeit. Es giebt verschiedene Arten der Bunt- blätterigkeit. Einerseits giebt es weißbunte Pflanzen, bei denen es örtlich sowohl an Chlorophyll wie auch an Carotin fehlt, andererseits aber gelbbunte, denen nur das Chlorophyll und dieses in den gelben Teilen nicht einmal ganz fehlt. Nur von gelbbunten Pflanzen wird hier die Rede sein, und unter diesen nur von denjenigen mit gefleckten oder gestreiften Blättern. Buntgeränderte Blätter kommen auch vor, aber sie sind selten, und auf diese Erscheinung wird hier nicht näher eingegangen werden. Es handelt sich, wie gesagt, auch bei den gelbbunten Pflanzen um das teilweise Fehlen eines Merkmals, aber es kann auch vorkommen, dass das Grün den Pflanzen fast ganz fehlt. Moll, Die Mutationstheorie. 549 Dann entstehen die Varietates 'aureae, welche ganz gelb und ver- hältnismäßig selten sind, aber von denen doch Sambucus nigra aurea und Fraxinus excelsior aurca den Leseru sehr gut be- kannt sein werden. Sie sind, sofern die bekannten Thatsachen und darunter auch Kulturversuche von de Vries reichen, samenbeständig, also konstant erblich. Im Gegensatze zu den Aurcavarietäten sind nun die eigentlichen gelbbunten Pflanzen äußerst allgemein. Beispiele zu geben ist wohl überflüssig, da man sie in jedem Garten sehen kann. Nur will ich bemerken, dass auch de Vries sehr oft in seinen Kulturen das Auf- treten bunter Individuen beobachtete, z. B. bei Ohrysanthemum segetum, Linaria vulgaris u. a. m. Besonders interessant sind seine Beobach- tungen über diesen Gegenstand bei Oenothera Lamarckiana. Die Kul- turen waren hier sehr ausgedehnte, und fast alljährlich sah er bunte Keimpflanzen auftreten, im Mittel etwa 0.1—0.2°/,, wenn es auch selbstverständlich ist, dass solche Pflanzen aus den Kulturen immer so bald wie möglich entfernt wurden. In allen diesen Fällen waren wenigstens die letzten Vorfahren der bunten Individuen also gewöhn- liche grüne Pflanzen. Die Buntblätterigkeit tritt oft an Zweigen übrigens grüner Pflanzen plötzlich auf, also als Knospenvariation, und es wird allgemein ange- nommen, dass so die buntblätterigen Holzgewächse unserer Gärten entstanden sind. Aber wie wir oben sahen, können auch aus Samen grüner Pflanzen bunte aufgehen, und für Weigelia amabilis varie- gata und einen bunten Weinstock ist solches auch aus der Litteratur bekannt. Wenn wir nun untersuchen, wie es sich mit der Erblichkeit der Buntblätterigkeit verhält, so geht hervor, dass auch hier zwei Stufen vorkommen, welche wieder als Halbrasse und Mittelrasse gedeutet werden können. Beispiele bunter Halbrassen liefern uns Acer stria- tum variegatum, welche nach Godron etwa für ein Drittel samen- beständig ist, und Hedera Helix variegata und eine bunte Yucca, welche beide nach Viviand-Morel unter ihrer Nachkommenschaft nur einzelne bunte Pflanzen lieferten. Doch bleibt es hier möglich, dass in späteren Generationen die Erblichkeit sich als eine größere er- wiesen hätte. Aber es kommen auch andere Fälle vor, in denen die Erblich- keit bedeutender ist, so dass man von Mittelrassen reden kann. Von Sophora japonica foliis variegatis geben die Samen stets mehr bunte als grüne Pflanzen. Die Samen einer im Freien gefundenen, bunten Pflanze von Ballota nigra gaben 30°/,, aber in zweiter Generation 60°, panachierter Pflanzen, und jetzt, da sie im Handel zu haben ist, selbst 75°/,. Das bekannte Sankt-Barbara-Kraut, BDarbarea vul- garis variegata liefert bei der Keimung der Samen nur etwa 1°/, 550 Moll, Die Mutationstheorie. bunte Keimlinge, aber auch viele grüne werden später panachiert, so dass man die Erblichkeit hier auf 70—90°], veranschlagt hat. Es leuchtet aber ein, dass bei diesen, der Litteratur entnommenen Angaben fast nie etwas über die Isolierung der Mutterpflanze und die Art ihrer Bestäubung bekannt ist. Deshalb sind noch die folgen- den Versuche von Wichtigkeit, welche mit Hilfe von Selbstbefruchtung angestellt wurden und zeigen, dass die Farbe der Keimlinge sehr wesentlich bedingt ist von der Farbe des Teiles der Mutterpflanze, auf dem Samen und Pollen entstanden sind. Heinsius fand bei Dian- thus barbatus sektoriale Buntblätterigkeit; die bunte Längshälfte der Pflanze trug weiße Früchte, die grüne auch grüne Früchte. Die Samen der ersteren keimten ohne Chlorophyll, die der letzteren normal grün. Auch de Vries machte solche vergleichende Versuche mit Samen, welche auf bunten und auf grünen Aesten derselben Individuen ge- bildet waren, bei den nachfolgenden Pflanzen: Oenothera Lamarckiana, Arabis alpina, Helianthus annuus, Lamium album, Geum urbanum, Silene noctiflora, und fand ebenso im allgemeinen die oben ausge- sprochene Regel bestätigt. Ganz im Einklange mit der Auffassung, dass die Buntblätterigkeit sich als Halbrasse oder Mittelrasse zeigen kann, ist auch die That- sache, dass die Panachierung für Ernährungsverhältnisse sehr em- pfindlich ist. Man muss dabei im Auge behalten, dass umgekehrt die Panachierung selbst auf die Ernährung und zwar sehr ungünstig ein- wirkt. Es ist eine leicht zu konstatierende Thatsache, dass die gelben und bunten Teile viel schwächer sind als die grünen, und das ist bei dem Mangel der grünen Farbe auch selbstverständlich. Nach den oben mitgeteilten Erfahrungen muss man erwarten, dass die am stärksten ernährten Pflanzen oder Pflanzenteile die Anomalie begünstigen, somit mehr zur Buntblätterigkeit neigen werden. Dem- zufolge bleiben sie aber im späteren Leben schwach. Umgekehrt müssen schwache Teile den Rückschlag zur grünen Farbe begünstigen, aber eben dadurch ist solchen Teilen später ein kräftigeres Wachstum gesichert. So versteht es sich, dass bei bunten Rosskastanien oft vor- zugsweise ruhende Knospen des Stammes sich zu völlig gelben Zweigen entwickeln, welche unter normalen Verhältnissen eben zu kräftigen Wassertrieben ausgewachsen wären. Die Chlorose stellt nun bald ihrer Entwicklung Ziel und sie gehen zu Grunde. Bei bunten Sträuchern und Bäumen lässt sich oft beobachten, dass die am besten beleuchteten Zweige die Panachierungen am schönsten zeigen; auch sind die Triebe, welche im Sommer bei schöner Witterung entstehen, oft mehr bunt als solche, welche zum Beispiel in Gewächshäusern zur Winterszeit sich bilden. Der bunte Meerrettig, Cochlearia Armoracia varie- gata, zeigt bekanntlich diese Erscheinung fast nur bei guter Behand- lung, und es gelang de Vries, bei Pflanzen der bunten Trades- ns; Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. 551 cantia repens, welche in Töpfen im Gewächshause kultiviert wurden, durch Versetzen der Töpfe an weniger oder besser beleuchteten Stellen ohne jede andere Abänderung der Ernährung das Verhalten der grünen und gelben Streifen der Blätter sehr wesentlich zu beeinflussen. (Schluss folgt.) Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. Von A. S. Skorikow. In den Litteraturverzeichnissen und den Jahresberichten über die Fortschritte in der Erforschung des Süßwasserplanktons trifft man fast gar keine russischen Arbeiten an. Der Grund liegt in der Unzugäng- lichkeit der russischen Sprache für noch sehr viele Ausländer und auch in der geringen Verbreitung der Publikationen russischer gelehrter Gesellschaften, in denen derartige Arbeiten hauptsächlich gedruckt werden. H. B. Ward!) spricht z. B. nur seine Vermutung aus, dass die vorhandenen Angaben über russische Planktonarbeiten nicht voll- ständig seien. In Anbetracht alles dessen gedenke ich in vorliegender Arbeit eine Uebersicht der russischen Arbeiten zu geben, die auf Potamaplankton Bezug haben. In einer der careinologischen Arbeiten W. K. Sowinski unter dem Titel „Beschreibung der Fauna der Süßwasser- erustaceen aus der Umgebung Kiews und des nörd- lichen Teiles des Gouvernement Kiew?) finden wir zum erstenmal (soviel mir bekannt ist) Angaben über pelagische Crusta- ceen in russischen Flüssen. Die angeführte Arbeit ist ein Rechen- schaftsberieht Sowinski’s über Forschungen verschiedener Art in den Gewässern des im Titel angegebenen Distriktes, welche der Autor in den Sommermonaten 1886 und 1887 vorgenommen hatte. Die Resultate dieser umfangreichen Forschungsarbeit, speziell in Betreff der Crusta- ceen sind als Protokolle publiziert und enthalten ein reiches faunistisches Material. Die letzten Angaben endigen mit einer Tafel, in der alle vom Autor gefundenen Arten (103 Arten, welche in Gruppen verteilt sind, wie z. B. Branchipodidae 7 Arten, Üladocera 63, Copepoda 51 und Isopoda 2) in drei Rubriken angeführt werden, entsprechend den drei Typen von Gewässern, die der Autor erforscht hat, nämlich der stehenden, der gemischten und der fließenden s. str. Für uns kon- zentriert sich das Interesse besonders auf seine dritte Rubrik. Vor- läufig aber wird es nötig sein, sich mit Sowinski’s Einteilung der Gewässer in drei Klassen bekannt zu machen. „Zu den stehenden Gewässern — unter denen der Autor noch Unterschiede macht zwischen 4) H. B. Ward. Freshwater investigations during the last fine years. 2) P. Amer. Mier. Soc. XX, 1899. Schriften der Kiew’schen Naturf. Ge- sellsch. 1888, Bd. IX, p. 225—298. Mit Karte). 552 Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. zeitweiligen und ständigen — gehören große und kleine Seen, Sümpfe und einfache Pfützen, die hauptsächlich von Grundwasserquellen und atmosphärischen Niederschlägen gespeist werden; also Gewässer, welche gar keine Beziehung zu strömendem Wasser haben, oder ge- nauer gesagt, sich nicht auf deren Bahnen befinden.“ Die fließenden Gewässer teilt der Autor in zwei Abteilungen: in wirklich strömende Gewässer und in solche gemischten Charakters. Zu letzteren gehören solche Flüsse, Bäche u. s. w., deren Lauf durch künstliche Dämme unterbrochen wird und die dadurch Teiche bilden; dasselbe geschieht durch natürliche Flussseen — „Batagi“ — wenn der Fluss oder Bach auf seinem Laufe natürliche Bodenvertiefungen passiert, die, viel breiter als das Flussbett, den Strom verlangsamen oder ganz hemmen. Die größeren Flüsse, welche diese Eigentümlichkeiten nicht haben, stellen S.’s dritten Typus vor. Dnepr, Pripjatj und Teterew (Nebenfluss des Dnepr) dienten Sowinski als Forschungsgebiet des dritten Typus für Crustaceenforschung. Nur in ihnen konnte der Autor die Plankton- fauna kennen lernen, indem er an der Wasseroberfläche die Tiere im Müllergazenetz fing. Er fand: Im Dnepr: Sida erystallina O0. F. M, Polyphemus pediculus De Geer Daphnella brandtiana Fisch. Cyclops tenuicornis Cls. Daphnia cucullata Sars COyclops strenuus Fisch. Daphnia apicata Kurz. Cyclops hyalinus Rehb. Bosmina cornuta Jur. Cyelops leuckarti Cls. Bosmina kessleri Nordq.? Cyelops serrulatus Fisch. Bosmina sp. Cyelops macrurus Sars Eurycercus lamellatus OÖ. F. M. Diaptomus sp. Im Pripjatj: Sida erystallina O0. F. M. Alona quadrangularis O0. F. M. Daphnia kahlbergensis Schoedl. Chidorus sp. Simocephalus exinosus Koch Cycelops hyalinus Rehb. Ceriodaphnia sp. Cyclops phalaeratus Koch Bosmina longirostris O0. F. M. Cyclops macrurus Sars Bosmina kessleri Nordgq. Cyelops fimbriatus Fisch. Eurycereus lamellatus O0. F. M. Diaptomus castor Jur. Acroperus leucocephalus Koch Im Teterew (am besten erforscht): Sida erystallina 0. F. M. Cypris sp. Simocephalus vetulus O0. F. M, Cyclops macrurus Sars Simocephalus exinosus Koch Cyclops poppei Rehb. Moina mierura Kurz. Diese Angaben, vom Autor selbst als unvollständig angesehen, wurden von ihm nur deswegen gemacht, weil die Crustaceenfauna des Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. 553 Süßwassers überhaupt und besonders deren pelagisch lebende Vertreter, gar nicht erforscht waren. Ich gestatte mir, von mir aus, aus den „Protokollen“ die Ufer- fauna des Pripjatj zum Vergleich mit der Planktonfauna anzuführen. Nach Sowinski hat sie diese Zusammensetzung: Sida erystallina O0. F. M. Cyelops viridis Jur. M. u. W.u. Juven. Simocephalus vetulus ©, F. M. Cyelops tenuicornis Ols. Eurycerceus lamellatus O0. F. M. Gyelops fetschenkowi U]j. ? Acroperus leucocephalus Koch Cyelops serrulatus Fisch. forma typiea Pleuroxus truncatus O, F. M, Cyelops macrurus Sars Chydorus sphaerieus O. F. M. Gammarus pulex De-Geer Cypris sp. Die Crustaceenfaunen der stehenden und typischen fließenden Ge- wässer zeigen einen charakteristischen quantitativen Unterschied ; erspricht sich darin aus, dass stehende Gewässer von wenigen Formen, aber in ungeheurer Individuenzahl, bevölkert werden. Dahingegen ist die Be- völkerung der fließenden Gewässer mannigfaltig und gehört viel mehr Gattungen an. Der quantitative Unterschied ist noch viel komplizierter. Stehende Gewässer, kann man sagen, haben jedes für sich eine eigene Fauna. Daher hat das allgemeine Verzeichnis der Crustaceen, welches der Autor für letztere Gewässer giebt, eine große Artenzahl (77 Arten), die Fauna der Gewässer gemischter Form giebt ihr fast gar nicht nach (74 Arten), während in den typischen, wie wir schon oben gesehen haben, nicht einmal die Hälfte vorkommt. Ein besonders bemerkens- werter Unterschied zwischen fließenden und stehenden Gewässern liegt im völligen Fehlen von Vertretern der Branchipodidae in ersteren. Ein anderer charakteristischer Zug, der dem Faunistiker gleich auf- fällt, ist das durch Zahlen ausdrückbare Ueberwiegen der Individuen und die bemerkenswerte Formenverschiedenheit der O/adocera im Ver- gleich mit den Copepoda in stehenden und fließenden Gewässern ge- mischten Typus. Die Cladocera überhaupt können, nach Meinung des Autors, am besten die Süßwasserfauna charakterisieren. Podon, Lida, Daphnella und Daphnia können anschaulich den Unterschied in der Verbreitung der Cladocera nach den Gewässern verschiedenen Typus demonstrieren; so z.B. wurden von 17 Arten, die von Sowinski im Gouvernement Kiew gesammelt wurden, nicht mehr wie fünf nur in fließenden Gewässern gefunden. Bemerkenswert ist für die Flüsse voll- ständiges Fehlen der Gattung Moina. Sechs Arten der Gattung Bos- mina aus Kiew wurden hauptsächlich in den Flüssen angetroffen und gehören beständig zu ihrer pelagischen Fauna, während sie in den anderen Gewässern sehr selten sind. Unter den Vertretern der dritten Gruppe von Süßwassererustaceen, den Copepoda, findet der Autor gar keine Formen, die zur Kennzeichnung der Fauna stehender und fließender Gewässer dienen könnten. XXI. 36 554 Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. Kehren wir nun zu der rein pelagischen Crustaceenfauna der Kiew’schen Flüsse zurück, um zum Schlusse mitzuteilen, dass der Autor von allen angeführten Crustaceen zu den ausschließlich pelagischen Formen nur vier zählt: Daphnia kahlbergensis Schoedl., D. apicata Kurz., D. cucullata Sars und Bosmina kessleri Nordg.; alle übrigen aber gehören zur sogenannten tycho-pelagischen Fauna. Soweit er es beur- teilen konnte, sind die pelagischen Arten des Pripjatj und Diepr nicht identisch: gemeinsam ist ihnen Bosmina kessleri Nordgq.; was aber die Gattung Daphnia anbetrifft, so hat jeder Fluss seine eigenen Ver- treter; im Pripjatj ist Daphnia kahlbergensis Schoedl., im Dnepr da- gegen D. apicata Kurz. und D. cucullata Sars. Der Autor kommt, bei Betrachten der ihm zur Verfügung stehenden Angaben, zu der wahrscheinlichen Schlussfolgerung, dass die pelagische Flussfauna der Crustaceen sich nicht wesentlich von der pelagischen Seenfauna unter- scheidet, wenn man nach den westeuropäischen Untersuchungen urteilt; dasselbe meint er von der Uferfauna. Für schmale und flache Flüsschen lässt Sowinski die Existenz einer pelagischen Fauna durchaus nicht zu. Wir müssen jetzt zu einer anderen Arbeit übergehen, welche, dem Wesen nach faunistisch, dennoch in sich den Versuch einschließt, die Herkunft der Formen zu analysieren, aus denen die betreffende Fauna besteht. Das ist auch für das Plankton bedeutungsvoll, welches die uns interessierende Arbeit nur zufällig berührt. Ich meine die Arbeit von D.M. Rossinski, „Materialien zur Kenntnis der Everte- bratenfauna des Moskwaflusses!). Die Arbeit ist zwar 1892 erschienen, doch fanden die Untersuchungen Rossinski’s im Sommer 1887 statt. Damals wurde auf Initiative des verstorbenen Professors A. P. Bogdanow ein zoologisches Laboratorium auf der Barke der ersten mobilen Bienenzuchtausstellung der Kais. Russ. Ge- sellschaft für Acclimatisation errichtet. Ich führe hier das von dieser ersten schwimmenden biologischen Station Geleistete an. Der Moskwafluss wurde auf einer Strecke von 86 Werst (ca. 90 km) durch Dredgen untersucht; soviel es die kurzen Aufenthaltsorte der Barke zuließen, wurde die Fauna der unterwegs aufstoßenden Wasser- haltungen am Ufer (20 an Zahl) untersucht und endlich eine kleine Sammlung der Landfauna angelegt, deren Bearbeitung in genannter Arbeit nicht enthalten ist. Der Zweck des Dredgens war folgender: 1. nach Möglichkeit die Veränderung der mittleren Flusstiefe zu verfolgen, 2. den Boden zu kontrollieren und 3. Vertreter der Fauna zu sammeln. Das ge- sammelte faunistische Material setzt sich hauptsächlich aus Formen 1) „Izvestija* — Bull. Soc. Imp. hist. nat. anthrop. ethnogr. t. LXVII, Suppl. & Nr. 6, p. 1—38. 4°. Moskare 189. Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. 555 der Bodenfauna und nur teilweise aus pelagischen Formen zusammen. Im systematischen Teil der Arbeit werden 211 Lebewesen angeführt, für jede Art werden alle Fundorte derselben angeführt, indem man im Auge behielt „die Erforschung des Tieres im Zusammenhang mit dem Milieu, in dem es lebt“; erwähnt werden gleichfalls die Fund- orte der gegebenen und der nächstverwandten Arten in westeuropäischen Gewässern. Aus den erhaltenen Angaben macht der Autor den Ver- such, für jedes gegebene Tier statistisch die Lebensbedingungen fest- zustellen (bei verschiedenem Bodencharakter), welche diese Art bevor- zugt. Dieser Teil der Arbeit hat nur eine relative Genauigkeit wegen der geringen Anzahl von Beobachtungen. (Im Moskwafluss 30 Dredgungen auf 86 Werst.) In seinen Schlussworten analysiert der Autor die Fauna des Moskwaflusses auf Grund der damals vorhandenen Litteratur- angaben. „Im ganzen wurden in der Moskwa 128 Formen gefunden, ... welche man in einigen Gruppen unterbringen kann und zwar: 1. Gruppe der zum erstenmal für die Flussfauna nachgewiesenen Formen, 2. Gruppe der schon in der Litteratur für die Flussfauna angegebenen Formen, 3. Gruppe der zuerst für Fluss- und Uferfauna nachgewiesenen Formen, d.h. der Fauna der Uferwasserhaltungen, teilweise fließenden Ge- wässer u. 8. w., 4. ebensolche Gruppe, die in der Litteratur schon vorhanden ist, und 5. Gruppe der Formen, die nicht zur Flussfauna gehören: Fauna der Seen, Teiche und schwach fließenden Gewässer.“ Die erste Gruppe des Autors besteht aus folgenden Organismen: Alona leydigii Diaptomus gracilis Difflugia urceolata Difflugia corona Euglena viridis Cypris sp. Petalomonas mediocanellata Aleionella fungosa Pisidium sp. Plumatella repens Valvata sp. Plumatella fruticosa Gordius sp. Nesaea trinotata Nesaea dentata Arrenurus buceinator Hydrachna globulus Corethra plumicornis Limnodrilus hoffmeisteri Criodrilus sp. Lacinularia socialis Bosmina longicornis Rhypophilus sp. Zum Bestande der zweiten Formengruppe gehören: Unio pietorum v. limosus Bosmina eurvirostris Unio batavus v. crassus Cypris bistrigata Sphaerium scaldianum v. pisidioides Astacus fluviatilis Die dritte Gruppe besteht aus folgenden Tieren : Difflugia acuminata Cyelops robustus Cyelops bicuspidatus Cyelops elausii Cyclops nanus Cyclops erassicornis Nesaea elliptiea Ephemera sp. Ploa sp. Chironomus plumosus 556 Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. Zur vierten Gruppe sind zu zählen: Arcella vulgaris Daphnia longispina Nais proboscidea Simocephalus vetulus Nephelis vulgaris Scapholeberis mucronata Sphaerium solidum Moina brachiata Sphaerium corneum Chydorus sphaericus Vivipara vera Alona sulcata Vivipara fasciata Cyclops serrulatus Bythinia ventricosa Cyclops ignaeus Lythoglyphus naticoides Cypris vidua Asellus aquaticus Limnophilus rhombicus Limneus stagnalis Daphnella brachyura Zur fünften Gruppe zählt der Autor Arten, die nicht zur Fluss- fauna gehören, also die Fauna der Seen, Teiche und schwachströmen- den Gewässer; er rechnet hierzu auch die von ihm in den Altwässern gefundenen Arten auf Grund der ein oder das andere Mal im Jahre mit dem Flusse stattfindenden Verbindung. Genannte Arten können dann zufällig im Bestande der Flussuferformen vorkommen. Wenn wir auch mit dieser Meinung des Autors übereinstimmen, so scheint es doch unproduktiv, die Liste um 84 Arten (die der Autor selbst nicht selbständig anführt) zu vermehren, von denen es jedenfalls wenig wahrscheinlich ist, dass sie im Plankton des Moskwaflusses sich vorfinden. Deshalb beschränken wir uns auf eine Auswahl aus dem allge- meinen Verzeichnis der vom Auter gefundenen Lebewesen und zwar nur auf die im Flusse vorgefundenen. Anbei ihre Aufzählung: Quadrula symmetrica Difflugia pyriformis Nebella collaris Euglypha alveolatı Trinema enchelys Membränacea simplex Stentor polymorphus Stylonychia mytilus Vorticella nebulifera Spongilla fluviatilis Hydra fusca Mesostomum ehrenbergi Mesostomum rostratum Stenostomum leucops Planaria torva Oxyuris sp. Anguillula sp. Lumbricus variegatus Saenuris variegata Clepsine bioculata Aulostoma gulo Rotifer vulgaris Philodina megalotrocha Brachionus urceolaris Stephanops muticus Anuraea stipitata Hydatina senta Notommata lacinulata Asplanchna myrmeleo Unio pietorum Unio pietorum v. longirostris Unio pietorum v. decollata Anodonta mutabilis Anodonta mutabilis v. anatina Anodonta sp. Sphaerium sp. Pisidium fossarinum Pisidium ovatum Neritina fluviatilis Ancylus fluviatilis Sida erystallina Daphnia longiremis Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. 557 Daphnia kahlbergensis Cyclops lacustris Daphnia berolinensis Cyelops fischeri Ceriodaphnia quadrangula Diaptomus coeruleus Moina rectirostris Diaptomus flagellatus Macrothrix rosea Candona candida Bosmina kessleri Cypris sp. Bosmina longicornis Atax crassipes Pleuroxus trigonellus Arrenurus globator Rhypophilus sp. Silo nigricornis Alona affinis Phryganidarum larvae Alona lineata Tipulidarum larvae Leptodora hyalina Coleopterorum larvae Cyclops simplex Die vom Autor im obengenannten Umfange betrachtete Fauna des Moskwaflusses innerhalb des erforschten Gebietes enthielt in ihrem Bestande: 61 Flussformen (29,18°/,), 20 Arten schwachströmender Ge- wässer (9,56°/,) — zusammen 81 Arten des fließenden Wassers (38,75°/,); ferner 71 Seenarten (33,97°/,) und 86 dem stehenden Wasser eigen- tümliche Arten (41,14°/,). Die Fauna dieses Flusses erweist sich also ihrem Charakter nach als zur Fauna der stehenden Gewässer gehörig, in welcher sich dank der Strömung eine große Zahl von Arten absonderten, die sich ihr anpassten; dank dem Seenreichtum des Moskauer Gouvernements mischten sich noch diesen nicht wenige Seenformen bei. Ein derartiges Vorherrschen der Arten des stehenden Wassers musste a priori erwartet werden, wenn man sein Augenmerk richtete 1. auf die geringen Dimensionen des Flusses, 2. die Lage des Flussbettes in einer sowohl an Sümpfen als auch an Seen reichen Landschaft, und endlich 3. die bedeutende Versandung und Verflachung des Flusses und auf die langsame Strömung sowie das geringe Ge- fälle. Nach Rossinski, beträgt die Tiefe des durchfahrenen Fluss- gebietes 2 Arschin bis 2!/, Faden, die Geschwindigkeit der Strömung nach Astrakow 0,51 bis 1,09 Fuß; das Gefälle nach demselben Autor auf 182 Werst 2,33 Faden. Was die Bodenbeschaffenheit anbelangt, so ist sie hauptsächlich sandig, zuweilen stellenweise lehmig oder schlammig. Wenn wir die von Rossinski gegebene Charakteristik der obengenannten Fauna in Betracht ziehen, so sind wir berechtigt, im Moskvafluss wenig typisches Flussplankton zu erwarten. In der 1897 erschienenen Arbeit von A. S. Skorikow „Ma- terialien zur Erforschung der Evertebratenverbreitung des Flusses Udy, Statistisches Material aus dem Jahre 1896')“ wurde in der Litteratur überhaupt der erste Versuch gemacht, quantitativ das Potamoplankton zu erforschen. Der Autor stellte sich die Aufgabe, die Verbreitung der Evertebraten in dem 4) Traveaux de la Societe des Naturalistes & l’Univ. Imper. de Kharkow, t. XXXI, 1897, p. 39—48. 558 Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. Flusse in horizontaler und vertikaler Richtung festzustellen. Der in Rede stehende Fluss (im Gouvernement Charkow) wird vom Autor in einer vorhergehenden Arbeit!) folgendermaßen geschildert: „Der Fluss Udy, ein Nebenfluss des Nördlichen Donee ist 140 Werst lang und hat ein Bett, welches an einen gegrabenen Kanal erinnert, den man durch eine fast ganz ebene Gegend gezogen hat; er hat keine hohen Ufer, sein Uferstreifen ist, wenigstens in dem mir bekannten Bezirke, nicht charakteristisch, bald sandig, bald sumpfig, Altwasser größten- teils schlecht zu erkennen, Terrassen fehlen; kurz ein recht cha- rakteristischer Steppenfluss. Die Flusstiefe ist in dem von mir ver- messenen 4 Werst langen Flussabschnitt 3—7,9 m; Tiefen von 5 m wiegen vor. Dank dem niedrigen und breiten Ufergelände steigt das Frühjahrswasser nicht hoch über normal, in den letzten zwei Jahren wurde ein Maximum von 1,6 bis 2,5 Fuß über Winternormalpegel be- obachtet. Das Hochwasser verläuft schon nach ca. zwei Wochen. Die Amplitude der Wasserspiegelschwanrkungen im Sommer beträgt 1,1 Fuß; selten, allenfalls wenn Wehre in Unordnung sind, steigt sie auf 1,5 Fuß. Im Sommer ist die Strömung kaum zu merken. Das Wasser ist ziemlich rein, durchsichtig, ber starker Wasserschicht mit sehr schwachem gelblichen Farbenton; enthält im Liter 0,0035 g (26. X. 95 a. St.) bis 0,0088 g (18. IX. 95) schwebender Teilchen. Der Grund ist sandig, in den tiefen Löchern und am Ufer häufig schlammig, an flachen Stellen steinig. In den Sommermonaten er- wärmt sich das Wasser in den oberen Schichten bis fast zur Tem- peratur der umgebenden Luft. Die Wärme bleibt im Verlaufe längerer Zeit fast unverändert; erst wenn der Unterschied zwischen Wasser- und Luftwärme 9,7° R. erreicht, ändert sich erstere. Interessant sind einige, nebenbei erhaltene, besondere Temperaturverteilungen im Wasser in Tiefen von: | Tageszeit t? Oberfl. 1m 2m 3m 4m 4!/),m 5m 5!/,m 42.IX, 41, ab. Ort — I?) 138R.145 134133 13 24 — — — 22. 1X, 10°), m. Ort — II 14,979:13,2712,0127 1270 1247 — 123 1.108 22.IX,11 m. Ort — I-DOI 157 134 12,8 12,7 12,6 12,4 124 — — 22.8, 11°, m.’ Ort. — V 16,5 143,4 12,8 12,7 12,6 12,5 — 12,4 12,4 Leider gehören alle angeführten Daten der späten Jahreszeit an. „Der Udyfluss hat viele Buchten, an Breite häufig dem Flusse selbst gleich; in ihnen wachsen üppig Nymphaea alba, Potamogeton, Ceratophyllum und den Wasserspiegel fast ganz bedeckende Lemna viridis; Conferven, Lemna trisulca und höhere Pflanzen sind wenig. Von hier werden vom Winde Massen von Wasserpflanzen losgerissen und treiben auf dem Flusse, bis sie vom Winde ans Ufer geworfen oder in kleine Teile zerfasert werden. Die Ufer des Flusses und seiner 4) Ibid., t. XXX, 1896, p. 209—374. 2) Siehe Karte bei der Originalarbeit. Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. 559 Buchten sind auf weite Strecken mit Carex sp. var. und Rohr be- wachsen. Längs dem Flusse giebt es viel Sümpfe, die vom Frühjahrs- hochwasser überschwemmt werden.“ Die Planktonuntersuchungen wurden an fünf Punkten ausgeführt (siehe Flussprofil, Beilage zur Arbeit) und wurden verschieden kom- biniert. Wasserproben wurden mit Apparaten (siehe Zeichnung, ibid.) aus kalibrierten Gefäßen, meistens !/, Liter messend, entnommen, welche in gewünschter Tiefe sich öffneten und dort auch schlossen. Dann wurde das Wasser durch feinste Müllergaze filtriert und die Zählung bis zum letzten Exemplare vorgenommen. Die Tiere wurden nach ihren systematischen Gruppen, die Rotatoria außerdem nach Arten bestimmt. Bei jeder der 58 Proben wurden folgende, begleitende Bedingungen beobachtet: 1. der Abschnitt der Flussströmung, 2. die Tiefe, 3. Ort am Flusse, 4. Monat, Datum und Stundenzeit, 5. Lufttemperatur, 6. Temperatur des Wassers am Grunde und an der Oberfläche, 7. die Bewölkung, 8. Windstärke, 9. Zustand der Wasseroberfläche, 10. besondere Er- scheinungen, unter Bemerkungen und Nr. Nr. eingetragen. Die Beob- achtungen sind im Juli, August, teilweise im September und Oktober vorgenommen worden. Alle ziffernmäßigen Daten sind auf einer großen Tafel angeführt. Die bemerkenswertesten Schlüsse daraus sind die folgenden: In der ganzen Wasserschicht wiegen nach Individuenzahl die Rotatorien vor und repräsentieren in den obersten Schichten mitten im Flusse 76,4 bis 95,4°/, der Gesamtanzahl. Die Verhältnisse ändern sich, wenn eine übermäßige Vermehrung irgend einer Tier- art stattfindet (z. B. Ceratium hirudinella, Dinobryon sertularia, An- thophysa vegetans). Zum Herbste, soweit man das aus den unvoll- ständigen, seltenen Beobachtungen schließen kann, verändert sich das geschilderte Verhältnis, dank dem Aussterben der einen Arten und dem Auftreten anderer. Die Lebenssphäre dieser Wasserschicht charakterisiert sich durch die mehr oder weniger veränderliche und verhältnismäßige hohe Tem- peratur. So erreichte sie im Juni und Juli 22,3°R. und sank nicht niedriger als bis 15,2°R. Die Wasserschichten am Boden haben eine niedrigere und verhältnismäßig beständigere Wassertemperatur. Wäh- rend obengenannter Zeit wurden in letzterer Schicht Temperaturen von 11,9 bis 14° R. beobachtet, zuweilen betrug der Unterschied zwischen beiden Schichten 5,4° R. Der Autor, welcher in den vorhergegangenen Jahren (1393--95) die Rotatorien des Udyflusses in systematischer Hinsicht erforscht hatte, war erstaunt über die ganz ungewöhnlich große, man könnte sagen, kolossale Anzahl von Arten derselben in diesem Flusse. In seiner Arbeit!) zählt er folgende auf: 1) Rotatoria der Umgebungen Charkow’s. *18. . Triarthra longiseta Ehr. . Triarthra mystacina Ehr. =21,; . Notommata aurita Ehr. . Notommata ansata Ehr. *24. . Proales petromyzon Ehr. u26. . Furcularia longiseta Ehr. . Eosphora naias Ehr. 2 . Mastigocerca rattus Ehr. . Mastigocerca sp. E32 . Coelopus porcellus Gosse . Dinocharis tetractis Ehr. 5. Scaridium longicaudatum Ehr. 236. 66. 67. 68. var, Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. . Melicerta ringens Schrank. . Vecistes velatus? Geosse . Lacinularia socialis Ehr. . Megalotrocha albo-flavicans Ehr. . Conochilus dossuarius Hudson . Philodina eitrina Ehr. . Philodina megalotrocha Ehr. . Philodina aculeata Ehr. . Rotifer vulgaris Ehr. . Rotifer macrurus Ehr. . Rotifer tardus Ehr.') . Rotifer actinurus Ehr. . Asplanchna brightwellii Gosse . Synchaeta pectinata Ehr. . Synchaeta stylata Wierz. . Polyarthra platyptera Ehr. f. pr. Polyarthra platyptera var. remata Skor. . Triarthra thranites Skorikow ?) Triarthra terminalis Plate Pleurotrocha sigmoidea Skorikow Notommata najas Ehr. Fureularia gracilis Ehr. Diglena grandis Ehr. Rattulus biecornis Skorikow Stephanops lamellaris Ehr. *37. 38. 39. 40. 41. a2. 43. 44. 45. 46. = 48. 49. 80. 51. 92. 53. 94. I. 56. D2. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 69. Salpina mucronata Ehr. Salpina brevispina Ehr. Salpina macracantha Gosse Salpina ventralis Ehr. Euchlanis dilatata Ehr. Euchlanis triquetra Ehr. Euchlanis deflexa Gosse Cathypna luna Ehr. Monostyla lunaris Ehr. Monostyla bulla Gosse Monostyla quadridentata Ehr. Colurus deflexus Ehr. Metopidia lepadella Ehr. Pterodina patina Ehr. f. pr. Pterodina patina var. mucronata (Gosse sp.) Brachionus pala Ehr. Brachionus dorcas Gosse f. pr. Brachionus dorcas var. spinosus Wierz. Brachionus wrceolaris Ehr. f. pr. Bıachionus urceolaris var. rubens (Ehr.) Brachionus bakeri Ehr. f. pr. Brachionus bakeri var. brevispinus (Ehr.) Brachionus bakeri bieularis (Skor.) Brachionus militaris Ehr. Brachionus budapestinensis Daday Brachionus lineatus Skorikow Brachionus angularis Gosse Noteus quadricornis Ehr. Anuraea hypelasma Gosse Anuraea tecta Gosse Anuraea stipitata Ehr. Anuraea aculeata Ehr. Anuraea valga Ehr. Pedalion mirum Hudson var. elunior- Später wurden folgende Arten hinzugefügt: Floscularia mutabilis Bolton. Floscularia sp. Conochilus volvox Ehr., 69. 70. 71. Synchaeta Sp. Triarthra breviseta Gosse Mastigocerca elongata Gosse 1) Mit einem * sind diejenigen Arten versehen worden, die nicht an dem Punkte des Udy gefunden wurden, wo die quantitativen Planktonuntersuchungen gemacht wurden. 2) Nach S. A. Zernow’s Meinung ist Tr. thranites Skor. = T. longiseta limnetica Zachar. Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. 561 72. Mastigocerca macera Gosse 76. Metopidia solidus Gosse 73. Mastigocerca capucina Wierz. 77. Pompholyx complanata Gosse 74. Dinocharis pocillum Ehr. 78. Schizocerca diversicornis Daday!) 75. Metopidia oxysternon Gosse Von allen diesen wurden eigentlich wenige in der Hauptschicht des Wassers gefunden, nämlich 33 Arten, die in den vorhergehenden Verzeichnissen kursiv gedruckt sind. Beständige Planktonbestandteile waren nur folgende Rotatorien: 1. Asplanchna brightwelli 6. Brachionus lineatus 2. Synchaeta stylata 7. Brachionus angularis 3. Triarthra longiseta 8. Anuraea valga 4. Polyarthra platyptera 9. Anuraea tecta 5. Brachionus pala Die Anzahl der Tiere im freien Uferwasser — das Uferplankton, in der Mitte des Flusses in der obersten Wasserschicht — pelagisches Plankton — ist im mittleren bedeutend verschieden. So z. B. ergab beim Ufer die Durchschnittszahl aus neun Proben zu 'J, Liter 259 Exem- plare, für die Mitte ist die Durchschnittszahl aus 28 Proben, bei dem- selben Maße 411 Exemplare. Qualitativ, soweit die Rotatorien dabei in Betracht kommen, sind die zwei beschriebenen Schichten und Fund- orte wenig verschieden, doch ist die Anzahl der Exemplare der diversen Arten recht ungleichmäßig groß (mittlere Zahl aus 28 Proben). Flussmitte Ufer Verhältnis zueinander Asplanchna brightwellii 5 (9,1) 17 3.(0;6) 8,5 Synchaeta stylata 58 (57,7) 24 (23,8) 2,4 Triarthra longiseta 9 (8,6) 4,0 2 Brachionus pala 10 (10,1) 1 (0,9) 1152 Brachionus lineatus 4 (4,4) 20 (1,1) 4,0 Brachionus angularis 38 (38,4) 14,0 DL Anuraea valga 6 (6,3) 4272152) 5,3 Anuraea tecta 37 (36,8) 297°.(19:3) 494 Polyarthra platyptera wird durchschnittlich fast überall gefunden: mitten im Fluss 74 (73,7), am Ufer 72 (72,2) Exemplare. Vielleicht erklärt die große Stückzahl dieser Art diese Beobachtung. Je tiefer die unteren Wasserschichten liegen, desto weniger Rota- toria sind im Prozentverhältnis anzutreffen; es treten immer mehr Crustaceen auf und einige Infusorien, so dass in der Bodenschicht schon letztere zwei Gruppen vorwiegen. Crustaceenlarven, ebenso auch die ausgebildeten Formen, halten sich hauptsächlich in der Tiefe, besonders in der Flussmitte auf. Die unten angeführte Tabelle der mittleren Artenstückzahl bei den Rotatorien, welche am häufigsten in den oberen Wasserschichten 4) Alles in allem sind in der Umgebung Charkovs, nach Skorikow’s Arbeiten, 147 Arten vorhanden. 562 Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. gefunden werden, zeigt die allmähliche Abnahme der Individuenzahl in Uebereinstimmung mit der Tiefe der Wasserschicht: Oberfläche 3m 6m Asplanchna brightwellii 5 2 0 Synchaeta stylata 58 17 0 Polyarthra platyptera 74 19 0 Triarthra longiseta g 5 0 Brachionus pala 10 3 0 Brachionus lineatus 4 0 0 Brachionus angularis 38 19 0 Anuraea tecta 37 8 0 Nicht alle diese Rotatorienarten gehen nur bis zu einer und der- selben Wassertiefe. So findet man Brachionus lineatus schon nicht mehr in 2m Tiefe. In 4 m Tiefe verschwinden Brachionus angularis und Anurea tecta. Polyarthra platyptera und Triarthra longiseta werden noch in 5 m Tiefe angetroffen. Endlich, in 6m Tiefe, ist die Durchschnittszahl aller genannten Rotatorienarten gleich null. Hierbei muss bemerkt werden, dass in tiefer gelegenen Stellen (von 6 m an) die im besprochenen Flusse in der Form von Gruben vorkommen, der Boden schlammig ist und das Wasser merkbare Mengen von Schwefel- wasserstoff enthält; an solchen Orten werden Lebewesen nur sehr wenig oder zuweilen gar nicht angetroffen. Wie verteilen sich in der Wassermasse die anderen Tiere? Leider hatte der Autor nur einmal die Gelegenheit, mit einem Male eine ganze Probenserie aus dem Flusse zu entnehmen, und wirklich ergab deren Bearbeitung folgendes interessante Bild!): Oberläcke 1m 2m 3m 4m Dınobryon-sertularia 41. a nen ke 28 6, 19 28 0 Anthophysa ‚vegetans?). ... 2200. »./Berle 1 2.24 8353 © EOTALOTIA een ee ze nen a 2887 196, 41 56 8 Orustaceenn u ar RE Een fee. 0 1 1 X 12 Crustaceenlarven . . . ra 4 11 9 5 14 Prozentualverhältnis der Rotatoria zu allen Tieren 91,5 88,6 45,5 122 ? Offenbar hat der starke Wind dieses Tages an den flachen Stellen (3,2 m) merkbar die gewöhnliche Verteilung der Tiere gestört. Aus eigenem Antrieb und aus ihren Mitteln hatte im Jahre 1900 die Gesellschaft der Naturforscher und Liebhaber der Naturgeschichte in Saratow eine biologische Station an der Wolga (Stadt Saratow) ins Leben gerufen. Am 20. Juni begann sie ihre Thätigkeit, welche in dieser Saison bis zum 12. August dauerte. Der Rechenschafts- bericht dieser Station für die angegebene Zeitdauer liegt gerade eben 1) Die Ziffern dieser Tabelle sind korrigiert. 2) Interessant ist auch der Fund von Ceratium hirudinella var. furcoides im Udyflusse. Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. 563 vor uns; der für den verflossenen Sommer, ist, soviel ich weiß, noeh nicht im Drucke erschienen !). Der erste Teil des Berichtes hat den Betrieb und die Arbeit der Station zum Gegenstande, das zweite Kapitel trägt die Ueberschrift: „Materialien zur Wolgafauna“, und bringt eine — allerdings vorläufige — Liste der in der Wolga lebenden Tiere bei Saratow (darunter auch der Fischparasiten). Nach der Liste giebt es dort: Protozoa 21 Arten Mollusca 10 Arten Coelenterata ana Pisces 2 Vermes ARE, Amphibia Zu Arthropoda 2A: Reptilia An, Die Planktonformen sind hier einbegriffen; ein spezielles Ver- zeichnis von ihnen ist im Kapitel V angeführt. Kapitel III enthält unter dem Titel: „Materialien zu einer Fauna des Gouvernements Saratow“ ebenfalls ein vorläufiges Verzeichnis von Wassertieren aus zwei Ortschaften dieses Gouvernements. Im vierten Abschnitte äußert der Autor seine Ansichten über die Parasitologie einiger Wolgafische und konstatiert den Fund einer Süß- wassernemertine in der Wolga; wie er annimmt — Monopora lacustris. Bedauerlicherweise beschreibt der Autor dieses Berichtes weder sie genauer, noch auch einen von ihm gefundenen neuen Blutegel aus der Gattung Piscicola. Kapitel V enthält das Verzeichnis von Tieren und Pflanzenformen, welche bei zwei bis drei Exkursionen mit dem Apstein- netze erbeutet wurden. Es sind folgende: Mierophyta. Euglena acus Ehr. Pediastrum boryanum Men. Phacus longicaudus Ehr. Scenedesmus caudatus Corda Trachelomonas lagenella Stein Asterionella gracillima Heib. Coleps hirtus Ehr. Ciclotella operculata Kg. Stentor polymorphus Ehr. Navicula eryptocephala Kg. Stylonichia mitilus OÖ. F. M. Melosira granulata (Ehr.) Ralfs var. spinosa Schröder) Rotatoria. Pleurosigma attenuata W. Sm. Brachionus bakeri Ehr. Nitzschia sigmoides W. Sm. Brachionus pala Ehr. Protozoa. Dactylosphaerium radiosum Ehr. Crustacea. Hyalodiscus limax Duj. Cyclops fimbriatus Fisch. f. typ. Actinosphaerium eichhorni Ehr. Cyelops viridis Jur. Acanthoecystis spinifera Greef Cyelops serrulatus Fisch. Anthophysa vegetans O. F. M. Cyelops leuckarti Claus 4) Rechenschaftsbericht über die Thätigkeit der biologischen Wolga- Station in den Sommermonaten 1900. Verfasst von W.P.Zykow. Supplement zum zweiten Bande der Arbeiten der Gesellschaft von Naturforschern und Lieb- habern der Naturgeschichte in Saratow, 1900, p. 1—35. 564 Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. Cyelops oithonoides var. hyalina Reh- Bosmina longispina Leyd. berg Alona testudinaria Fisch, Syda cerystallina O. F. M. Chydorus sphaericus O. F. M. Daphnia hyalina Leyd. Leptodora hyalina Lillj. Daphnia kahlbergensis Schoedl. Daphnia eueullata Sars Insecta. Simocephalus vetulus O0. F.M. Corethra plumicornis Fabr. Scapholeberis mucronata 0. F. M. „Ungeachtet der Unvollständigkeit dieser Liste“, besonders hin- sichtlich der Zotatoria, zieht der Autor doch die Schlussfolgerung, dass das Potamoplankton der Wolga identisch ist mit dem der west- europäischen Flüsse. Nach seiner Meinung ist die am meisten cha- rakteristische Eigentümlichkeit des Wolgaplanktons das massenhafte Auftreten von Leptodora hyalina!). Abschnitt VI des Berichtes spricht von den „Desiderata“ für die weitere Thätigkeit der Station. Gehen wir nun zum Schluss über zur gründlichen Arbeit S. A. Zer- now’s, deren bescheidener Titel lautet: „Bemerkungen über das Zoo- plankton der Flüsse Schoschma und Wjatka (Kreis Malmyz, Gouv. Wjatka)?). Autor hat das Tierplankton der Schoschma, eines Nebenflusses der Wjatka bei der Stadt Malmy?, etwas über 100 Werst (NO) vonKasan ent- fernt, zum Gegenstand seines Studiums gemacht. Die Exkursionen wurden im Winter (November) 1898 begonnen, als der Fluss schon mit Eis bedeckt war, und im August des folgenden Jahres (alten Styls) ein- gestellt. Im ganzen wurden während der verschiedenen Monate 17 Proben entnommen. Auf Grund dieser Untersuchungen kann man sich folgendes Bild von dem Leben des Tierplanktons der Schoschma machen. Das unter dem Eise befindliche Plankton, 19. November, 14. Februar und 16. März Conferven Notholea labis Gosse Diatomeae Pterodina mucronata Gosse Volvoceae Brachionus pala Ehbg. Carchesium, Epistilis und and. Zweig- KRotatoria 2 sp.? lein von koloniebildenden Peritricha Cyclops albidus Jurine Synchaeta tremula Ehbg. Cyclops serrulatus Fischer Triarthra longiseta Ehbg. Bosmina sp. Polyarthra platyptera Ehbg. in Massen Macrothrix sp. Anuraea aculeata Ehbg. Simocephalus vetulus O. F. M. Anuraea cochlearis Gosse Pleuroxus sp. Notholca striata Ehbg. Glochidium 1). 1.62,P.024. 2) Bull. de la Soc. Imp. d. am. d. sc. anthr. et ethnol., t. XCVIII, Dnev- nik. Zool. Otd., t. III, Nr. 2, Separatabdruck 1901, p. 1—11, 40. Außerdem war ein kurzer Auszug davon in einem nur wenigen Zoologen bekannten Jour- Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. 565 besteht in den meisten Fällen aus gewöhnlichen limnetischen Formen. Es erwies sich als äußerst arm, und nur im November kam eine Menge Polyarthra vor. Im März jedoch konnte man nur mit Mühe fünf bis sechs Arten in einigen Exemplaren finden. Am 1. April (alten Stils) setzte sich das Eis in Bewegung, und erst am 8. war es möglich, eine Exkursion zu machen. Der Fluss glich verdünntem Lehmwasser. Unter den Pflanzen- und Mineralstoffen, welche das Planktonnetz füllten, fand Autor zu seinem Erstaunen eine Menge der verschiedensten Arten freilebender Nematoden. Leider konnte er sie nicht näher bestimmen, da ihm die entsprechende Litteratur fehlte. Außerdem fanden sich in Menge Wintereier von Crustaceen und Bryozoen. Echt limnetische Planktonorganismen waren jedoch nicht zu entdecken. Den 13. April erreichte der Fluss den höchsten Wasserstand (5,5 m höher als im Juni)!). Er verwandelte sich in einen großen See. Die dem Plankton nicht eigentümlichen Formen waren vor den echt- limnetischen verschwunden. Den Hauptplatz im Plankton nehmen die Volvoceae ein, alle übrigen Formen treten zurück. Zu gleicher Zeit, während deshohen Wasserstandes, findet Autor auf flacheren Stellen auch geschlechtsreife Copepoda; später jedoch, bei normalem Wasserstande im Juni, verschwinden die erwachsenen Copepoda, wie es scheint, fast gänzlich, was auch C. Zimmer?) in der Oder beobachtet hat, und im Potamoplankton bleiben nur ihre Nauplia und die junge Brut, falls sie sich nieht in tiefere Wasserschichten zurückziehen (Skorikow). Im April jedoch erscheint schon dieForm Brachionus pala und ampht- cerosEhrg., welche Zernow’s Meinung nach für das Potamoplankton sehr charakteristisch ist und im echten Limnoplankton fast nicht vor- kommt (in Russland wenigstens). Unter den Anureen dominiert die Art A. brevispina mit zwei kurzen Hinterstacheln. Bosmina cornuta Jurine kommt äußerst selten vor. Sie hat lange, gerade Antennen und ein ziemlich stark entwickeltes Mucro am hinteren Ende der Schale. Ferner kommen originelle Larven von Limnetis und eladoceren- ähnliche Larvenstadien und Nauplia anderer Estheridae?) ziemlich häufig vor (diese Formen kommen ebenfalls nicht im Limnoplankton vor). Im Mai fällt das Wasser und das Plankton wird bedeutend reich- nale: Revue internat. d. peche et piscieult. Nr. 4, 1900, in deutscher Sprache gedruckt worden. Wir werden uns des letzteren bedienen; wo nötig, werden wir Ergänzungen daran knüpfen. 4) Bis zur Wiederherstellung der Wehre. 2) Zimmer. Das tierische Plankton der Oder. Forschungsber. a. d. Biol. Stat. zu Plön, T. 7, 1899. 3) Vor kurzem teilte mir Zernow schriftlich mit, dass er Estheriden- larven in sehr großer Zahl noch in einigen Planktonproben gefunden hat, welehe N. A. Borodin im Donflusse Anfang Mai 1900 gesammelt hat; er ist geneigt, daraus zu schließen, dass diese Larven durchaus keinen ‚zufälligen Bestandteil des Frühjahrsplanktons der Flüsse bilden. ANE, 566 Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. haltiger, Volvoceae verschwinden fast und die Hauptstellung erhalten Brachionus pala ‚und amphiceros Ehrbg. Immer mehr und mehr er- scheinen diese Formen (BD. amphiceros) mit langen Hinterstacheln (Saisonvariation!). Auch bei den Anureae werden die Hinterstacheln länger und die Art A. dbrevispina wird durch die A. aculeata ersetzt. Es kommen auch viele andere Anureae vor. Bosmina cornuta Jurine wird immer häufiger; ihre Antennen krümmen sich, der Hinterstachel wird kleiner und ihr Aussehen verkleinert sich. Die Frühlingsarten Notholca labis, N. striata und N. acuminata vollenden ihre Entwicklung. Im Juni vermehrt sich die Plauktonmasse immer mehr und mehr und die Herrschaft geht auf die Dinobryon und Anuraea über. Bos- mina kommt auch in Menge vor. Zu den gewöhnlichen Asplanchna gesellt sich die Art A. ebbesbornii Hudson. Synchaeta«a tremula, welche während des ganzen Frühlings, und zwar unter dem Eise vor- kam, wird von der Art $. stylata Wierz. ersetzt (letztere auch von Skorikow im Udyflusse gefunden). Es erscheinen Leptodora und die Art Daphnia wird immer häufiger. Im Juli bleibt das Gesamtbild fast dasselbe. Im August bei eingetretener Abkühlung des Wassers erscheinen wiederum viele Volvoceae, während Copepoda bei starker Strömung ebenso selten wie im Sommer anzutreffen sind. Im ganzen kann man im Tierplankton der Schoschma bis 50 Arten finden, über deren Auftreten, Massenentwieklung und Verschwinden in Zernow’s Arbeit genau Daten gegeben sind. Diese Arten und Formen sind folgende: Volvoceae Synchaeta tremula Ehbg. Dinobryon Synchaeta stylata Wierz. Difflugiae Polyarthra platyptera Ehbg. Arcellae Triarthra longiseta Ehbg. Actinosphaerium sp. Brachionus pala Ehbg. Raphidiophis sp. Brachionus amphiceros Ehbg. Codonella lacustris Entr. Brachionus angularis Gosse Codonella? sp.? Brachionus bakeri Ehbg. Tintinnidium fluviatile Stein Brachionus quadratus Rouss. var. an Staurophrya elegans Zach. sp. nov. tridentatus Zern?) Carchesium, Epistilis und andere Anuraea tecta Gosse Rotatoria fam. Philodinadae Anuraea cochlearis Gosse Asplanchna priodonta Gosse Anuraea aculeata Ehbg. Asplanchna ebbesbornii Hudson Anuraea brevispina Gosse Synchaeta pectinata Ehbg. Notholea acuminata Ehbg. 4) Nach den Figuren des Autors zu urteilen, scheint es uns, dass genannte Rotatorienart eine Zwergform von Brachionus bakeri var. rhenanus (Lauterb.) und B. bakeri var. eluniorbieularis (Skorikow) ist, bei denen die Fortsätze, welche die Fußöffnung umgeben, nach unseren Beobachtungen stark entwickelt sind. A.S. Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. 5 Notholea foliacea Ehbg. var. Notholca labis Gosse Notholea striata Ehbg. Notholea longispina Kell. Nauplii et Copepoda juven. Cyelops strenuus Fischer Cyclops languidus Sars Cyelops macrurus Sars Cyelops bicuspidatus Claus Cyclops serrulatus Fischer Cyelops albidus Jurine Limnetis-Larven (op) =’ Estheria-Larven und nauplii Leptodora hyalina Lilljeb. Daphnia eueullata Sars forma I forma II Simocephalus vetulus O0. F. M. Macrothrix sp. Ostracoda Nematodes Oligochaeta Glochidium Diptera-Larven Bosmina cornuta Jurine | Das Plankton der Wjatka weicht nach den Beobachtungen am 25. und 30. Juni vom Plankton der Schoschma zu derselben Zeit be- deutend ab. Ihm eigentümlich ist einerseits eine reiche Fülle von Phytoplankton (Menge von Diatomeen, Melosira und Asterionella, welche man in der Schoschma fast gar nicht findet), andererseits die Anwesenheit von Tieren, welche in der Schoschma um diese Zeit schon verschwunden sind (Volvoceae, Glochidium). stand aus folgenden Arten: Reichlicher pflanzlicher und minera- lischer Detritus Asterionella Melosira Volvoceae Dinobryon Difflugiae Codonella lacustris Entr. Tintinnidium fluviatile Stein Staurophrya elegans Zach. Asplanchna priodonta Gosse Polyarthra platyptera Ehbg. Synchaeta tremula Ehbg. Triarthra longiseta Ehbg. | in Mengen Das Plankton be- Brachionus pala u. amphiceros Ehbg. Anuraea tecta Gosse Anuraea cochlearis Gosse Nauplii und Copepoda juv. Leptodora hyalina Lilljeb. Bet: } forma II osmina cornuta Jurine | a Glochidium Lynceidae Ceriodaphnia wurden in Cyclops oithonoides Sars En Conochilus sp. nicht Hudsonella pygmea Calm.) gefunden Ferner fand Autor im Wjatkaplankton zu anderen Zeiten ver- einzelt noch: Bosmina lilljeborgi Sars Daphnia kahlbergensis Schödler 4) Schon gleich nach dem Erscheinen der Arbeit Zernow’s Bosminopsis sp.!) wies A. Linko, nach der Zeichnung und dem Präparate des Autors, auf die Zu- gehörigkeitdieser wahrscheinlich neuen Art zur Gattung Bosminopsis J. Richard hin, welch letztere auf Grund eines Exemplars aus dem La-Plata (Buenos-Aires) aufgestellt wurde und nachdem nicht wiedergefunden wurde. Er erläuterte die Bedeutung dieses interessanten faunistischen Fundes von Zernow in seiner Notiz: „Bosminopsis (J. Richard) im europäischen Russland“ in: Zool. Anz, Nr. 645, 1901, mit Fig. 568 Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. Das spätere Auftreten einiger Frühjahrsformen (Glochidium, Stau- rophrya elegans und Bosmina cornuta Jurine — forma I mit ge- raden Antennen) in der Wjatka lässt sich vielleicht daraus erklären, dass die Wjatka von Norden her fließt. Der Unterschied im Plankton der Flüsse Schoschma und Wjatka, von denen erstere in die andere fließt, und der sich unter anderem in der Menge von Pflanzen iu der Wjatka ausspricht, während in der Schoschma das Umgekehrte der Fall war, gestatten Zernow nicht, sich ganz der Meinung Zimmer’s anzuschließen. Nach letzterem soll das Potamoplankton in der Haupt- sache aus Pflanzen bestehen; jedoch sind nicht alle Flüsse sich darin gleich. Zum Schlusse seiner Arbeit zieht der Autor einen Vergleich zwischen dem allgemeinen Lebenscyklus im Plankton der Schoschma nach seinen Beobachtungen, und dem des Oderplankton nach Zimmer's Angaben !!). „In der Oder giebt es (nach genanntem Autor) bei Normalwasser- stand eine gewisse Reihe von Formen, die in einer bestimmten zahlen- mäßigen Beziehung zu einander stehen?). Wenn das Wasser steigt, wird die Mehrzahl der Flussplanktonformen beständig geringer an Zahl; gleichzeitig treten andere Formen auf, die vom Hochwasser aus den Uferbuchten mitgerissen sind und bei normalem Wasserstande im Flusse fast ganz oder total fehlen. Bei weiterem Steigen des Wassers werden auch diese Formen fortgeschwemmt, während beim Hoch- wassermaximum so gut wie gar kein Plankton im Flusse enthalten ist.“ Wesentlich verschieden verläuft das Planktonleben in der Schoschma; man kann keine Unterbrechung in seiner Entwicklung beobachten. Zu Ende des Winters vermindert sich gleicherweise im Flusse und in den Seen bedeutend die Planktonmenge (so sagt auch Zimmer). Wenn das Eis sich in Bewegung setzt, steigt das Wasser in der Schoschma rasch; zusammen mit der Erde aus Sümpfen und Ufern reißen die Bäche in den Fluss eine Masse dem Plankton fremder Formen mit (Nematodes, Philodinadae u. a.). Diese Zeit ist, nach Zernow, einer der Hauptmomente, welcher den Fluss mit Plankton aus Uferseen und Altwässern versorgt, welch letztere sonst im Sommer, Herbst und Winter ein vom Flusse selbständiges Leben führen. Wenn aber der Fluss aus den Ufern getreten ist, so verringert sich, wenigstens im Hauptbette, schnell die Stromgeschwindigkeit, hört zuweilen ganz auf, und abhängig von dem Steigen des Wassers in der Wjatka wird sogar entgegengesetzte Strömung beobachtet. In dieser Zeit verschwinden die fremden Formen (richtiger sinken zu Boden) und das Seenplankton entwickelt sich immer mehr. 4): C. Zimmer, l.c.,m..D. 2) Siehe die entsprechenden Angaben in der Arbeit Skorikow’s und in dieser Uebersicht, S. 348. Skorikow, Die Erforschung des Potamoplanktons in Russland. 569 Fällt das Wasser, so hinterlässt es natürlich sein Plankton an allen niedrigen Stellen und bildet Pfützen, die später ganz austrocknen. Autor beobachtete eine solche Pfütze, welche nicht weit vom Flusse lag, vor der Ueberschwemmung, als in ihr nur reines kaltes Wasser war, und nach derselben, als sie eben hervortauchte. In ersterem Falle war sie, außer von Volvoceae und Philodinadae, in Masse von nur einer charakteristischen roten Cyelopsart bevölkert (©. bisetosus). Ganz anders präsentierte sich die am 19. Mai eben vom Hochwasser befreite Pfütze; sie enthielt einen Brei von Planktonorganismen. Sonderbar genug war es, zu beobachten, dass Notholca, Anuraea, Triarthra und andere reine Planktonorganismen in Massen in einer Lache zu finden waren, wo das Wasser kaum bis an die Knie reichte. Die Cyelopen hatten sieh hier, im stehenden Wasser, in unglaublichen Massen vermehrt. Fast alle wurden zwar auch im Potamoplankton vom 21. April gefunden, aber nur in geringer Stückzahl. Von Arten gelang es dem Autor, folgende zu bestimmen: Cyelops strenuus Fischer Cyelops bicuspidatus Claus Cyelops macrurus Sars Cyclops oithonoides Sars. Cyclops serrulatus Fischer Die übrigen Formen waren dieselben, wie in der Schoschma selbst vom 16. Mai; neu war nur irgend eine Art Ceriodaphnia; die Gattung Bosmina war, ebenso wie die Cyelopen, im Verbältnis zur Flussbevölkerung, in bedeutend größerer Quantität und mit mehr Biern. Die Pfütze trocknete bald ganz aus, an ihrer Stelle wuchs gewöhn- liches Wiesengras und weidete das Stadtvieh. Interessant aber war es, dass selbst bis zum letzten Moment des Austrocknens fast kein einziges Tier (Rotatorien und Daphnien) Maßnahmen gegen das nahende Verderben traf; Wintereier waren gar nicht zu finden. Das ist ein noch neuer Beweis für die Erscheinung, dass in der Gegenwart das Auftreten dieser Eier nicht nur durch äußere Umstände beeinflusst wird. Wahrscheinlich sind alle einfach umgekommen, wie auch die Fischbrut, die mit ihnen zurückblieb. Wenn wir nun zum faunistischen Teil der Zernow’schen Arbeit zurückkehren, so müssen wir hinzufügen, dass man einige Formen, wie es scheint, als neue Arten wird beschreiben müssen, z. B. Drachionus tridentatus nov. sp.!), Gastroschiza triangulata n. sp.?), außerdem kamen noch einige abweichende Formen vor; so z. B. kam in der Schoschma, im Gegensatze zu den Seen, Codonella hauptsächlich mit abgerundetem Boden vor, Brachionus pala und amphiceros bil- dete ungewöhnlich lange Hörner; Br. quadratus erwies sich beinahe als neue Form tridentatus Zernow); Bosmina cornuta Jurine — forma II war von sehr geringer Größe ete. Es ist aber fraglich, ob 1) Siehe Auszug auf Seite 356. 2) G. triangulata Zern. — Ploesoma truncatuu (Levand.). A.S. XXI. 37 570 v. Lendenfeld, Zur mimikristischen Tierfärbung. sie als autopotamische Planktonorganismen (vergl. Zimmer) anzu- sehen sind oder nicht. Was die von Zimmer vorgeschlagene Ein- teilung aller Potamoplanktonorganismen in „eupotamische“, „tycho- potamische“ und „autopotamische“ Planktonorganismen anbetrifft, so schlägt Zernow für die Copepoda die Bezeichnung „stenopotamisch“ vor, d.h. Formen, die in ihrer Verbreitung beschränkt sind; im Gegen- satze zu „tychopotamisch“* (= „tycholimnetisch“ bei Limnoplankton), d. h. nicht angepasst an das Planktonleben. Theoretisch ist die Existenz von stenopotamischen Planktonorganismen natürlich vollkommen mög- lich und drängt sich sozusagen diese Frage einem auf; es ist jedoch noch sehr fraglich, ob die Crustaceen wirklich dazu zu rechnen sind. Allerdings ist es richtig, dass in der Schoschma ebenso wie in der Oder, wenn das Wasser fällt, nur sehr wenig erwachsene Crusta- ceen zu finden sind, aber im Plankton des Hochwassers, auf flacheren Stellen, konnte man sie häufig finden. Ferner weist D.M.Rossinski für den Moskwafluss z. B. 11 Arten Copepoda nach; viele in großer Anzahl. Ein derartiger Unterschied in den Angaben Zernow’s und Zimmer’s einerseits und den Beobachtungen Rossinski’s anderer- seits, lässt sich nach Zernow’s Meinung gut erklären durch die Lebensbedingungen der Crustaceen im Flusse, die von Skorikow plausibel dargelegt sind; es erweist sich, dass nämlich die Crustaceen im Flusse meist in den tieferen Wasserschichten auf 3—4m Tiefe leben, deswegen können sie leicht beim Fange mit dem gewöhnlichen Müllergazenetz an der Oberfläche, wie größtenteilsZernow undZimmer untersuchten, dem Beobachter entgehen. Andererseits hat Rossinski, der in dem Moskwafluss besonders viel gedredgt hatte, sie im Gegen- teil verhältnismäßig häufig gefunden. Außerdem wäre es nötig, hin- sichtlich des Potamoplanktons die Bezeichnung „passiv-planktonische“ Formen, die sich für das Limnoplankton eingebürgert hat, auch zu gebrauchen; und für Arcella und andere ähnliche Organismen, die von Prowazek!) vorgeschlagene Bezeichnung „zeitweilig-planktonisch“ einzuführen. Zimmer hat, wie es scheint, die drei letzten Be- nennungen unter einer Bezeichnung „benthopotamisch“ zusammengefasst. Petersburg, 20. Januar 1902. Zur mimikristischen Tierfärbung. Von R. v. Lendenfeld. Bei den meisten, ihrer normalen Umgebung ähnlich, mimikristisch gefärbten Tieren bemerken wir, dass die Unterseite viel heller als die Oberseite ist und dass die lichte Färbung des Bauches allmählich in die dunklere Färbung des Rückens übergeht. Bei vielen von diesen 1) Prowazek. Das Potamoplankton der Moldau und Wotawa. Ver- handl. d. k. k. Zool.-Botan. Gesellsch. in Wien, Bd. XLIX, Heft 9, 1899. v. Lendenfeld, Zur mimikristischen Tierfärbung. 571 Tieren ist aber nicht nur der Grad der Dunkelheit, sondern auch die Farbe der Dorsal- und der Ventralseite verschieden. Im allgemeinen hat die erstere einen (dunkleren) mehr bräunlichen, warmen, die letztere einen (helleren) mehr bläulichen, kalten Ton. Es fragt sich nun, warum die Farbenverteilung am Körper dieser mimikristisch ko- lorierten Tiere eine solche ist. Bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir davon ausgehen, dass von einzelnen, den betreffenden Keimzellenserien sehr fest eingeprägten, die Farben der Somata be- stimmenden Eigentümlichkeiten, wie jene zum Beispiele, welche die scharlachrote Farbe des Scheitels unserer mitteleuropäischen Spechte bedingen, abgesehen, die Färbung der Tiere im ausgedehntesten Maße der Einflussnahme der natürlichen Zuchtwahl unterworfen ist. Wenn dem aber so ist, so muss die Färbung dieser Tiere — von jenen seltenen, durch den Keimzellenkonservatismus bedingten Ausnahmen abgesehen — die dem Tiere den grüßtmöglichsten Nutzen bringende sein. Der Nutzen einer solchen Farbenverteilung kann aber nur der sein, dass durch sie die Sichtbarkeit des Tieres verringert, dem Streben desselben, dem Auge anderer Tiere zu entgehen, Vorschub ge- leistet wird. Herrn A. H. Thayer, einem amerikanischen Künstler und Natur- historiker ist es gelungen, in sehr klarer Weise zu zeigen!), wie jene Tiere durch diese Farbenverteilung in der That weniger deutlich er- kennbar gemacht und hierdurch befähigt werden, den Blicken ihrer Feinde leichter zu entgehen. Man kann durch entsprechende Verteilung von Licht und Dunkel und von kalten und warmen Tönen irgend einen Gegenstand auf einer ebenen Bildfläche so darstellen, dass er körperlich aussieht und aus der Bildfläche hervorzutreten scheint. Will man zum Beispiele eine Kugel, sagen wir einen, auf dem spärlich begrasten, bräunlich-grünen Spielfelde liegenden Fußball bei diffuser, vom blauen Himmel kommender Beleuchtung malen, so wird man den obersten Teil des Kreises, der dann wie der Ball aussehen soll, am hellsten darstellen, weil hier das Licht voll auffäll. Nach unten hin wären, der zunehmenden Neigung der Kugelfläche und der immer geringer werdenden Menge des auffallenden und zurückgeworfenen Lichtes entsprechend, immer dunklere Töne aufzutragen, und es müsste die Tiefe des Schattens bis eine Strecke weit unter dem Aequator zunehmen. Nach dem unteren Pol hin müsste der Schatten dann wieder abnehmen, weil dieser Teil des Balles von dem vom Boden zurückgestrahlten Reflexlichte be- leuchtet wird. Aber nicht nur in Bezug auf die Tiefe des Schattens, sondern auch in Bezug auf das Kolorit wären die verschiedenen Teile des an sich ganz gleichmäßig braun gefärbten Balles verschieden zu 1) Vergl. Poulton’s Bericht über den Gegenstand in „Nature“, Nr, 1695, Jahrg. 1902, p. 596. OaT% ol 972 v. Lendenfeld, Zur mimikristischen Tierfärbung. machen. Die von dem weißlich blauen, kalten Lichte des Himmels beschienene Oberseite wäre in kalten, mehr bläulichen Tönen zu halten, die von dem, vom Boden reflektierten, braun- grünem Lichte beleuchtete Unterseite aber in warmen, grünlich-braunen Tönen. Das ist allbe- kannt: jeder weiß, dass auf diese Art ein aus der Bildfläche scheinbar hervortretender Ball gemalt werden kann. Neu, und wie ich glaube, zum erstenmal von Thayer entsprechend betont und richtig ge- würdigt ist es aber, dass man in umgekehrter Weise einen wirklichen Ball so bemalen kann, dass er wie eine ebene Fläche erscheint. Nehmen wir an, dass das Licht auch hier das von oben kommende, diffuse, blaue Himmelslicht ist und dass der Ball auf dem grünlich- braunem Spielfelde liegt. Werden die obere Polarzone dieses Balles mit einem warmen und dunklen, grünlich-braunem, der Bodenfarbe gleichen Ton, der gegenüberliegende, untere Pol mit einem hellen, kalten, weißlich-blauen Ton und die Seiten so bemalt, dass die dunkle Farbe der Oberseite allmählich in die helle Farbe der Unterseite über- geht, so erscheint der Ball, aus einiger Entfernung von der Seite be- trachtet, flächenhaft, unkörperlich, undeutlich und wesenlos. Stellt man neben diesen zwei andere Bälle, von denen der eine ganz mit der dunklen, warmen Farbe des oberen, der andere ganz mit der hellen, kalten Farbe des unteren Poles bemalt ist, so wird man erkennen, dass die peiden letzteren unvergleichlich deutlicher sichtbar sind als der erstere. Die geringe Sichtbarkeit, das undeutlich-wesenlose des oben warm- dunkel, unten kalt-hell bemalten Balles rührt daher, dass der dunkle, warm-grünlich-braune Ton seiner Oberseite sich mit dem, auf dieselbe fallenden, starken, hell-kalten Himmelslichte zu einer Farbe mischt, welche jener seiner Unterseite, die durch die Mischung der lichten, hell- kalten Eigenfarbe mit dem schwachen, warm-grünlich-braunem, von unten her einfallendem, reflektierten Bodenlichte entsteht, nahezu gleich ist. Wenn dann auch der Uebergang der hell-kalten Bemalung der Unterseite in die warm-grünlich-braune Bemalung der Oberseite dem Uebergange der starken, hell-kalten Beleuchtung von oben in die schwache, warm-grünlich-braune Beleuchtung von unten umgekehrt proportional ist, so werden auch die Seiten des Balles scheinbar die- selbe Farbe haben. Die Mischung der ungleichen Eigenfarbe und Eigen- helligkeit der verschiedenen Teile des bemalten Balles mit dem un- sleich farbigen und ungleich hellen Lichte, das auf dieselben auffällt, bewirkt es, dass die ganze Fläche scheinbar durchaus die gleiche Helligkeit und Farbe hat. Wenn die Farben, mit denen der Ball be- malt wurde, entsprechend gewählt und richtig verteilt sind, so gleicht nun der ganze Ball dem flachen Boden, auf dem er liegt, er unter- scheidet sich von demselben weder durch die Farbe noch durch die Schattierung, und ist deshalb so schwer zu sehen. Wasmann, Noch ein Wort zu Bethe’s Reflextheorie. 5753 Bei den gut mimikristisch gefärbten Tieren, Rebhühnern, Trappen, Auerhennen, Hasen etc. finden wir nun in der That, wie einangs er- wähnt worden ist, die Farben in ganz derselben Weise verteilt, wie an jenem, künstlich durch die Bemalung schwer sichtbar gemachten Balle. Es ist einleuchtend, dass alle diese Tiere weit deutlicher sicht- bar wären, wenn sie am ganzen Körper dieselbe warm-dunkle Eigen- farbe hätten wie ihre Umgebung, weil dann eben in Wirklichkeit ihre Unterseite viel dunkler als der Boden, auf dem sie sich befinden, er- scheinen würde. Die hell-kalte Farbe der Unterseite und der all- mähliche Uebergang derselben in den warm-dunklen Rücken sind es, welche sie in Wirklichkeit dem Boden durchaus gleich gefärbt er- scheinen lassen. Dazu kommt noch, dass durch die hell-kalte Eigen- farbe der Unterseite der Schlagschatten, den diese Tiere bei diffusem Tageslichte erzeugen, bedeutend geschwächt wird, was ebenfalls er- heblich zur Undeutlichmachung ihrer Erscheinung beiträgt. Die eigentümlich undeutlich wesenlose Erscheinung langsam, in der normalen Umgebung sich bewegender, solcherart mimikristisch ge- färbter Tiere ist mir als Jäger öfters aufgefallen. Jeder Waidmann wird mir bestätigen, dass solches Wild einen merkwürdig unkörper- lichen Eindruck macht und dass dieser sehr erheblich zur Undeutlich- machung desselben beiträgt. Herr Thayer, der auch Jäger ist, hat dieselbe Beobachtung gemacht und sie in der oben angegebenen Weise sehr gut erklärt. In derselben Weise, wie die in dieser Weise mimikristisch ge- färbten Landtiere werden auch die oben warm-dunkel, unten kalt-hell gefärbten Fische durch dieses Kolorit in ausgezeichneter Weise vor den Blicken ihrer seitlich, mehr oder wenig in derselben Höhe schwimmenden Feinde verborgen. Dieses und nicht das Verbergen vor den Blicken von unten heraufschauender Raubfische ist der haupt- sächliche Zweck ihrer hell-kalt gefärbten Unterseite, denn diese muss, und wenn sie noch so hell gefärbt ist — von unten, gegen den hell- leuchtenden Himmel gesehen — deutlich und dunkel erscheinen. [52] Noch ein Wort zu Bethe’s Reflextheorie. Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). In Nr. 7 und 8 des Biolog. Centralblattes 1892 veröffentlichte Bethe eine Abhandlung „Die Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen“, worin er sich gegen Forel und v. Buttel-Reepen wendet. Ich hätte eigentlich gar keine Veranlassung, mich hier nochmals mit Herrn Bethe zu beschäftigen, wenn nicht in dieser letzteren Arbeit mehrere Punkte sich befänden, über welche ich meine Ansicht nicht vorenthalten zu dürfen glaube. S. 195 sagt Bethe: „Auf eine ganze Anzahl von Angriffen von v. Buttel-Reepen und besonders von Forel brauche ich nicht ein- D74 Wasmann, Noch ein Wort zu Bethe’s Reflextheorie. zugehen, weil sie sich gegen meine Stellung zur Psychologie richten, die ich seit meiner Ameisen- und Bienenarbeit längst verändert habe. Beiden war, als sie ihre Publikationen verfassten, mein veränderter Standpunkt bekannt, denn sie ceitieren meine diesbezügliche Arbeit. Sie kämpfen da also gegen einen Gegner, den es gar nicht mehr giebt; denn der Bethe, der glaubte, dass man einen Analogieschluss auf Psyche machen könne und dass wenigstens in einer gewissen Beziehung eine vergleichende Psychologie wissenschaftlich betrieben werden könne, existiert nicht mehr.“ Man ist allerdings bei Bethe bereits daran gewöhnt, dass er, so- bald man irgend eine seiner Aufstellungen einer Kritik unterzieht, die er nicht zu widerlegen vermag, sofort die Antwort hierauf bereit hat. Entweder hat sein Gegner ihn „missverstanden“, oder Bethe hat „unterdessen bereits seinen Standpunkt gewechselt“. So ging es nicht bloß mit Bethe’s Grundanschauungen über das Verhältnis der Physio- logie zur Psychologie, sondern auch in vielen einzelnen Punkten, z. B. in seiner Polarisationshypothese, in seinen Ansichten über das „Mit- teilungsvermögen“ der Ameisen u. s. w.!). Mit einem solchen Gegner ist es allerdings schwer, eine wissenschaftliche Kontroverse zu führen. Im vorliegenden Falle dürfte es Herrn Bethe jedoch nicht ge- lingen, sich auch nur mit einem Scheine von Berechtigung auf seinen „seither veränderten Standpunkt“ zu berufen. Ist es ihm denn völlig unbekannt geblieben, dass v. Uexküll seinen eigenen und Bethe’s neuen Standpunkt im Biologischen Centralblatt 1900 Nr. 15?) meinen Einwänden gegenüber zu rechtfertigen suchte und dass ich darauf in derselben Zeitschrift 1901 Nr. 13) geantwortet habe, indem ich Uex- küll’s Standpunkt, der zugleich Bethe’s „neuer Standpunkt“ war und von mir dort als solcher bezeichnet wurde, eingehend widerlegte? Dass die absolute Ablehnung des Analogieschlusses zu einem unhalt- baren Skepticismus führe, indem man dann nicht einmal von einem anderen Menschen mehr aussagen könnte, er „sehe“, „höre“ und „rieche“, wurde dort bereits von mir hinreichend gezeigt. Und diesen Standpunkt vertritt Bethe in seiner neuesten Entgegnung an Forel und von Buttel-Reepen, als ob er noch von niemand widerlegt worden sei! Auch Forel bezieht sich in seiner Kritik Bethe’s auf meine 1) Ebenso ging es auch neuerdings mit der „unbekannten Kraft“, welche die Bienen heimführen soll (1892, Nr. 7, S. 210). Was Forel und v. Buttel unter derselben sich vorstellten, erklärt B ethe für irrtümliche Unterschiebungen; was er aber selbst darunter versteht, will er nicht sagen, weil es „zu viel Aergernis erregen würde“. 2) „Ueber die Stellung der vergleichenden Psychologie zur Hypothese der Tierseele*. 3) „Nervenphysiologie und Tierpsychologie*. Wasmann, Noch ein Wort zu Bethe’s Reflextheorie. 575 Kontroverse mit Uexküll und schließt sich meiner Ablehnung jenes „neuen Standpunktes“ Bethe’s an. In seinem Vortrag „Die psychischen Eigenschaften der Ameisen und einiger anderer Insekten“, der auf dem fünften internationalen Zoologenkongress in Berlin, August 1901, ge- halten wurde und bald darauf (München 1901) im Drucke erschien, sagt Forel (S. 4) ausdrücklich, dass er mit mir und v. Buttel- Reepen „den induktiven Analogieschluss als naturwissenschaftliche Methode in seinen Rechten bestehen lassen“ wolle Das war doch gegen Bethe’s „neuen“ Standpunkt gerichtet. Bethe eitiert diese Arbeit Forel’s nicht; vielleicht war sie ihm noch unbekannt geblieben. Diese Entschuldigung kann jedoch nicht gelten gegenüber Forel’s „Bensations des Insectes“!), die von Bethe selbst in seiner neuesten Entgegnung citiert werden. Das Kap. XI jener Arbeit trägt die Ueber- schrift: „Uexküll: Reponse de Wasmann. Bethe.. .“ Daselbst heisst es wörtlich: „Dans le „Biologische Centralblatt“, Bd.XX Nr. 15... Uexküll preeise son point de vue extr&me et consequent, pense-t-il. I a amene Albr. Bethe lui-m@me qui, en pe@cheur converti, avoue n’avoir pas 6t& assez loin, avoir fait trop de concessions A la psycho- logie comparde, et se ranger maintenant a l’avis d’Uexküll. Cest parfait et nous facilite notre täche.“ Es ist mir daher ein psychologisches Rätsel, wie Bethe trotzdem Forel gegenüber in seiner neuesten Entgesnung behaupten kann, der Angriff derselben wende sich gegen einen Bethe, der „nicht mehr existiert“. Forel hatte doch ausdrücklich Bethe einen „bekehrten Sünder“ wegen seines Anschlusses an Uexküll genannt, und Uexküll- Bethe werden dann von ihm gemeinschaftlich widerlegt. Ich muss nun noch etwas weiter zurückgreifen auf die Geschichte der Kontroverse über die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. In den Einleitungsworten seiner neuesten Erwiderung an v. Buttel- Reepen und Forel spricht Bethe von einer „Antwort“, die er auf „Wasmann’s Angriff“ gegen seine Arbeit über Ameisen und Bienen veröffentlicht habe. Er meint damit seine Abhandlung „Noch einmal über die psychischen Qualitäten der Ameisen“ (Bonn 1900) ?), die bereits vor zwei Jahren erschien. Ich hielt es damals nicht für nötig, auf diese Antwort Bethe’s überhaupt einzugehen, weil sie mir den Eindruck machte, als ob sie im Interesse Bethe’s besser unge- druckt geblieben wäre. Da nun aber nach zwei Jahren Bethe es versucht hat, sich auf jene „Antwort“ als auf eine wissenschaftliche Rechtfertigung seiner Reflextheorie zu berufen, sehe ich mich genötigt, den Inhalt jener Antwort näher ins Auge zu fassen. Sonst könnte viel- leicht, da nur wenige sich jener Antwort mehr erinnern werden, eine Täuschung über den wahren Wert derselben entstehen. 1) Rivista di biologia generale. Vol. III, Como 1891. 2) Archiv für Physiologie, 79, S. 39 ff. 576 Wasmann, Noch ein Wort zu Bethe’s Reflextheorie. Meine umfangreiche Schrift „Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen“!) (Stuttgart 1899) war allerdings durch Bethe’s Ameisen- studie veranlasst worden. Mit Bethe beschäftigte sie sich jedoch nur nebenbei: ihr Hauptzweck war, eine allseitige Orientierung über die psychische Befähigung der Ameisen mitBerück- sichtigung der übrigen Tiere zu bieten. Bethe’s ganzes Be- streben in obenerwähnter „Antwort“ geht nun einfach darauf hinaus, die Objektivität meiner Kritik und überhaupt meiner ganzen natur- wissenschaftlichen Denkweise in Zweifel zu ziehen. Er wirft mir vor, ich hätte seinen Worten einen falschen Sinn untergelegt, ich hätte ihn missverstanden und sogar falsch eitiert, „so dass ungeheuerliche Be- hauptungen herauskommen und ich wie ein wissenschaftlicher Hans- wurst dastehe“. Ich kann diese Aeußerungen Bethe’s nur in seinem eigenen Interesse bedauern. Keiner, der meine Schrift gelesen hat, wird von derselben den Eindiuck erhalten haben, als ob ich Bethe „als Hanswurst“ hinstellen wollte; im Gegenteil, es wurde mir von verschiedenen Seiten vorgehalten, dass ich Bethe viel ehrenvoller be- handelt hätte als es die Oberflächlichkeit mancher seiner Behaup- tungen verdiente. Die von Bethe dafür vorgebrachten Beweise, dass ich ihn falsch verstanden oder falsch eitiert hätte, sind so schwach, dass jeder, der sie mit den betreffenden Stellen meiner Schrift vergleicht, die Schuld davon dem Autor Bethe zuschreiben wird, der sich entweder sehr unklar ausgedrückt hatte oder seine Worte anders deutete, als ihr nächstliegender Sinn war. Daher kann ich die Entscheidung darüber, ob ich Herrn Bethe in meiner Kritik unrecht gethan habe oder nicht, ruhig dem Urteile anderer überlassen. Bethe hat sich jedoch in seiner „Antwort“ nicht damit begnügt, die Sachlichkeit meiner Kritik seiner Reflextheorie anzuzweifeln, son- dern er hat mir ebendaselbst (S. 41) sogar prinzipiell die Fähigkeit abgesprochen, eine naturwissenschaftliche Frage vorurteilsfrei zu be- handeln — weil ich ein Vertreter der theistischen Weltanschauung sei! „Ein Mann, der überall die Existenz eines persönlichen Schöpfers als Thatsache hinstellt, wird einer unbefangenen Beurteilung letzter Fragen nicht zugänglich sein.“ Hierauf habe ich nur eine Antwort: wer zu solchen Kampfes- mitteln in einer wissenschaftlichen Kontroverse seine Zuflucht nehmen muss, wie Bethe es mir gegenüber gethan, der bekeunt sich selber für besiegt. [50] 1) Zoologica, Heft 26. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr, von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Oentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. @oebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in. München herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. rain] des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXI. Band. 1. Oktober 1902. Inhalt: Moll, Die Mutationstheorie (Schluss). — Ostwald, Zur Theorie des Planktons, -— Schimkewitseh, Ueber direkte Teilung unter künstlichen Bedingungen. — Zacharias, Ueber das Vorkommen von Infusorien im Cikaden-Schleim, Nr, Die Mutationstheorie. II. Teil, Von Dr. J. W. Moll. (Schluss.) Ich bin jetzt fast zu Ende mit der Besprechung der von de Vries über verschiedene Gartenvarietäten angestellten Kulturversuche. Auch über fakultative Ein- und Zweijährigkeit hat er Beobachtungen ge- sammelt und Versuche angestellt, aber ich glaube, dass es nicht nötig ist, dieselben hier zu besprechen. Sie bestätigen im allgemeinen die bis jetzt gewonnenen Resultate. Nur über einen sehr interessanten Kulturversuch will ich jetzt noch sprechen; er bezieht sich auf: Linaria vulgaris peloria. Es wird dem Leser bekannt sein, dass man Pelorien radiär symmetrische Blüten nennt, wenn solche vor- kommen bei Pflanzen, welche gewöhnlich nur bilateral symmetrische hervorbringen. Man kann dies als eine atavistische Erscheinung be- trachten, ein Rückschlag zu der gewiss mehr ursprünglichen radiären Blütenform. Digitalis purpurea mit pelorischen Blumen ist wohlbe- kannt und wird oft in Gärten angetroffen. Auch bei Linaria vulgaris sind schon seit 1742 Pelorien bekannt. Sie treten bei dieser Pflanze auf zwei verschiedene Weisen auf. Ziemlich allgemein kommt es vor, dass die wildwachsende Linaria vulgaris eine oder einige wenige Blüten trägt, welche zu Pelorien umgebildet sind. In den Nieder- landen werden solche Pflanzen bei einigem Suchen meistens bald ge- funden. Aber es sind auch verschiedene Funde anderer Natur bekannt, und zu diesen gehört die oben genannte aus dem Jahre 1742, wo eine ganze Pflanze nur pelorische Blumen hervorbrachte. Da die Pflanze sich leicht durch Wurzelknospen vermehren lässt, so kann man, wenn XXI. 38 578 Moll, Die Mutationstheorie. man einmal eine solche Pflanze gefunden hat, leicht eine durch unge- schlechtliche Fortpflanzung konstant sich erhaltende pelorische Rasse bilden. Die pelorischen Blüten neigen sehr zur Sterilität, aber den- noch ist es Wildenow gelungen, einige Samen solcher ganz pelo- rischer Pflanzen zu erhalten. Daraus gingen fast ausschließlich wieder pelorische Pflanzen auf. Hofmeister hatte schon aus der Art des Auftretens dieser Pflanzen geschlossen, dass sie plötzlich entstehen. Diesen Punkt hat de Vries experimentell untersucht, und es ist ihm gelungen, den Beweis der Meinung Hofmeister’s zu liefern. Da die Pflanzen mit wenigen pelorischen Blüten relativ so oft vorkommen, gelangt de Vries zu der Annahme, dass wenigstens in unserem Vaterlande alle Pflanzen von Linaria vulgaris das meistens latent bleibende Vermögen besitzen 1—3, selten mehr pelorische Blüten pro Pflanze hervorzubringen. Die bei uns wildwachsenden Pflanzen betrachtet er also vorläufig als einer pelorischen Halbrasse angehörig, welche er Linaria vulgaris hemipeloria nennt. In 1886 fing er seine Kulturversuche an mit einer wilden Pflanze, welche einzelne Pelorien trug. In zweiter und dritter Generation lieferten die Nachkommen dieser Pflanze wieder einige Pelorien, und in der dritten Generation gab eine pelorische Blüte so viel Samen, dass er in vierter Generation davon 20 Pflanzen hatte. Nur eine von diesen Pflanzen brachte wieder eine Pelorie hervor, und diese Pflanze wurde isoliert weiter gezüchtet. Sie lieferte eine sehr reichliche Samenernte, welche in den drei folgenden Jahren gesät wurde, und aus diesen Samen ging die echte, vollständig pelorische Linaria auf. Im ersten Jahre gab es nur eine solche Pflanze, in den zwei darauf- folgenden mehrere, zu etwa 1°/, der Keimpflanzen. Es war nun die Frage, inwiefern bei diesen ganz pelorischen Pflanzen die Anomalie erblich war. Bei Selbstbestäubung sind sie voll- kommen unfruchtbar. Aber weil de Vries mehrere Exemplare besaß, war Kreuzung möglich, und so gelang es ihm, nachdem Tausende von Blüten bestäubt waren, etwa 100 Samen zu gewinnen. Natürlich waren bei einer so großen Zahl von Bestäubungen zufällige Kreu- zungen mit der gewöhnlichen Linaria vulgaris nicht ganz ausge- schlossen, und so kann es nicht Wunder nehmen, dass die Nachkommen- schaft keine ganz reine war. Es gab nämlich 94°/, echte pelorische Pflanzen und 10°], Atavisten. Das Resultat ist hier also folgendes: in der Natur findet sich wenigstens in der hiesigen Gegend eine Halbrasse: Linaria vulgaris hemipeloria, und es ist keineswegs sicher, dass irgendwo die reine Art vorkommt. Aus dieser Halbrasse sah de Vries in seinen Kul- turen durch Mutation, unvermittelt und ohne sichtbare Vorbereitung eine fast konstante Varietät, Linaria vulgaris peloria, entstehen. Es wurde also Hofmeister’s Vermutung glänzend bestätigt. Moll, Die Mutationstheorie. 579 Nachdem ich so die hauptsächlichsten Versuche, welche de Vries über Gartenvarietäten angestellt hat, besprochen habe, sei es mir er- laubt, zu untersuchen, was sich im allgemeinen über unsere Garten- varietäten sagen lässt, wenn wir sie im Zusammenhange mit den von de Vries zu Tage geförderten Verhältnissen betrachten. Es fragt sich dann, inwiefern sich unsere Gartenvarietäten in die verschiedenen Klassen der Halbrasse, der Mittelrasse und der konstanten Varietät einordnen lassen, und ob allen in eine dieser Klassen ein Platz ange- wiesen werden kann. Das letztere ist ohne Zweifel der Fall, und über die Verteilung der Gartenvarietäten nach diesen Prinzipien sei übrigens folgendes bemerkt. Halbrassen kann man nicht erwarten unter den käuflichen Varie- täten unserer Gärten anzutreffen, wenn auch Ohrysanthemum segetum grandiflorum vielleicht als ein Beispiel gelten mag. Aber in den meisten Fällen würde der Händler ihre Samen nicht abliefern können, denn er weiß, dass seine Kunden mit so geringer Erblichkeit nicht zu- frieden sein können. Die Halbrassen sind nur zu wissenschaftlichen Experimenten dienlich, und dann, wie wir gesehen haben, oft sehr interessant. Höchstens kann es sich um die Frage handeln, inwiefern das gelegentliche Entstehen von Halbrassen bei unseren Garten- pflanzen als eine allgemeine Erscheinung betrachtet werden kann. Wahrscheinlich werden spätere Untersuchungen beweisen, dass dies der Fall ist. Vorläufig haben wir Trifolium incarnatum quadrifolium und Ranunculus bulbosus semiplenus als Beispiele. Ich kann aber aus den von de Vries gemachten Beobachtungen noch einige Fälle hinzufügen. Bei Oenothera Lamarckiana und einigen der durch Mu- tation entstandenen Unterarten dieser Pflanze kamen trieotyle Keim- pflanzen nieht gerade selten vor. In ausgedehnten Kulturversuchen erwies sich diese Anomalie als in 1-2,8°/, der Fälle erblich. Das ist also eine Halbrasse. Caltha palustris, die Dotterblume, hat, wo die Art rein ist, fünfzahlige Blumenkronen. Aber an einem Stand- orte bei Hilversum ergaben Zählungen das folgende Resultat: Blüten mit"). 1%." °,5 6 Mi 8 Kronenblättern Arzahlı aut ns Bro, 6a Ebenso bei Weigelia amabilis, deren Blüten oft in der Minus- richtung variieren. Auf 1167 Blüten fand er: Zipfel der Krone . . .,. .,3 4 5 Zahl der Blüten. .. ... ., 61 196 888 In diesen beiden Fällen ergaben sich also deutlich halbe Kurven und war somit der Charakter der Halbrasse nicht zweifelhaft. Bei seinen Untersuchungen über die Erblichkeit der Fasciationen stieß de Vries auch auf Fälle, welche sich unzweifelhaft als Halb- rassen deuten lassen, zum Beispiel: Aster Tripolium mit 7°], fas- 38* 580 Moll, Die Mutationstheorie. eiierter Individuen in vierter Generation, Helianthus annuus mit 3—22 |, u.8. w. Neben der früher beschriebenen Mittelrasse Papaver somniferum polycephalum kommen auch polycephale Pflanzen bei Papaver com- mutatum und mehreren anderen Arten dieser Gattung vor, deren Nach- kommenschaft es bei schärfster Selektion doch nicht weiter als bis zur Stufe der Halbrasse bringen konnte. Ganz anders verhält es sich mit den Mittelrassen; diese bilden einen sehr bedeutenden Teil der Gartenvarietäten. Sie sind zwar nicht ganz samenbeständig, aber zeigen stets die gewünschte Anomalie in genügender Menge, so dass es, wenn man die weniger guten Erben ausjätet, doch immer möglich ist, Beete zu bekommen, auf denen alle Pflanzen von guter und ungefähr gleicher Beschaffenheit sind. Es wäre nicht möglich, hier alle Gartenvarietäten aufzuzählen, welche wahrscheinlich oder gewiss Mittelrassen sind, aber einige Beispiele will ich doch geben außer denjenigen, welche wir bis jetzt schon kennen gelernt haben, nämlich Trifolium pratense quinguefolium, Antirrhinum majus striatum, Plantago lanceolata ramosa, Chrysanthemum segetum plenum und die meisten buntblätterigen Gartenvarietäten. Die meisten gefüllten, aber nicht petalomanen Varietäten müssen ohne Zweifel als Mitteirassen betrachtet werden. Ebenso verhält es sich mit den Kom- positen, welche gefüllte Blütenkörbehen haben und gewöhnlich in fast jeder Hinsicht mit Chrysanthemum segetum plenum vergleichbar sind. Unter den Monstrositäten giebt es ohne Zweifel viele Halbrassen, aber auch viele Mittelrassen. So verhält es sich zum Beispiel mit den Fas- eiationen, von denen ich oben schon ein Paar zu den Halbrassen ge- hörende Beispiele nannte. Aber der bekannte Hahnenkamm, Celosia cristata, ist eine Mittelrasse. Auch die Mutante Oenothera brevistylis, welche keine Samen fortbringt und also im Herbste weiter wächst, bildet zu dieser Zeit ihre Gipfel zu Kämmen um, von oft1—2 cm Breite. Bei Kulturversuchen ergab sich diese Monstrosität als zu 40-730], erblich. Auch die von de Vries früher in seiner Monographie der Zwangsdrehungen beschriebene Dipsacus sylvestris torsus, welche etwa zu 40°/, erblich ist, ist eine Mittelrasse, und es ließe sich die Zahl der bekannten Beispiele noch sehr vermehren. Die Mittelrassen der Gartenvarietäten sind es nach de Vries, welche durch ihre starke fluktuierende Variation und die damit zu- sammenhängende' Fähigkeit, sich durch Selektion verändern zu lassen, Darwin zu seiner Ansicht der langsamen Umwandlung der Arten verleitet haben. Schließlich brauche ich kaum hervorzuheben, dass die konstanten Varietäten unter unseren Gartenpflanzen auch eine sehr bedeutende Rolle spielen, wie solches schon früher auseinandergesetzt wurde, ja man kann sogar sagen, dass die meisten in unseren Gärten gezogenen Moll, Die Mutationstheorie. 581 Varietäten konstant sind. Und nicht nur sind sie praktisch rein, also meist zu 97—99°],, im Handel, sondern es gelang de Vries, auch durch Kultur in vielen Fällen zu zeigen, dass sie, wenn Hybridisation und Mischung mit Samen anderer Varietäten ausgeschlossen werden, völlig samenrein sind. So viel wie möglich fand bei diesen Versuchen künstliche Bestäubung statt, sonst wurde für vollständige Isolierung gesorgt. So wurden Pflanzen mit weißen Blüten in vielen Fällen als samenfest erkannt, wie das auch aus Untersuchungen anderer schon hervorgeht. Da die Bastarde der weißen Varietät mit ihrer Mutterart im allgemeinen die Farbe der letzteren zeigen, so ist es hier sehr leicht, die Hybriden zu eliminieren. Die weißblütigen Formen zum Beispiel von Campanula pyramidalis, Salvia sylvestris, Linum usitatis- simum, Erodium cicutarium, im. ganzen von etwa 15 Arten waren vollkommen samenbeständig. Tetragonia ewpansa ist eine Pflanze, welche in allen ihren Teilen rotbraun gefärbt ist, aber von ihr besteht auch eine rein grüne Varietät, welche 7. erystallina genannt wird. Unter einer Kultur von 5235 Individuen dieser Pflanze kam kein einziges rotbraunes Exemplar vor. Von Silene Armeria giebt es eine varietas rosea, welche in der Farbe ihrer Blumen-die Mitte hält zwischen der Art und deren weißen Varietät, und deshalb wohl als ein Bastard angesehen worden ist. Nach isolierter Blüte gingen aus Samen dieser Varietät 4000 Pflanzen auf, welche ohne Ausnahme das Merkmal wiederholten. Ebenso zeigte es sich bei den Varietäten des Senfs mit weißen und gelben Samen. Auch einige Abarten wurden untersucht, deren Blüten- blätter nicht die dunklen Herzflecken ihrer Arten zeigen, zum Beispiel Papaver somniferum Danebrog und eine derartige Varietät von Pa- paver commutatum. Sie waren völlig samenrein. Chelidonium majus laciniatum habe ich schon früher als völlig konstante Varietät erwähnt. Chelidonium majus latipetalum ist eine andere Form, und zwar mit sehr breiten Petalen; auch diese ist völlig konstant. Das sind alles Beispiele, in denen der Beweis der Konstanz ex- perimentell geliefert wurde, und ihre Zahl ließe sich leicht vermehren. Weiter steht es fest, dass künftige Untersuchungen in dieser Richtung die Liste noch sehr bedeutend vergrößern werden. Abgesehen von dem Maße ihrer Erblichkeit können übrigens die Gartenvarietäten ihrem Charakter nach sehr verschiedener Natur sein. Man findet unter ihnen Arten wie Chelidonium majus laciniatum, welche in allen Teilen von der Stammart verschieden sind, aber in den meisten Fällen unterscheiden sich die Varietäten nur in einem einzigen Merkmale, sei es, dass dieses ganz oder teilweise verschwunden ist, wie zum Beispiel bei den weißblütigen 582 Moll, Die Mutationstheorie. Varietäten, oder auch in wenigen Fällen stärker hervortritt. Auch kommt es oft vor, dass ein sonst latentes Merkmal in die Er- scheinung tritt, wie bei den monströsen Varietäten Papaver somni- Ferum polycephalum oder Celosia cristata. In solchen Fällen kann es auch vorkommen, dass die Varietät atavistischer Natur ist. Als solche Fälle haben wir zum Beispiel Plantago lanceolata ramosa und Linaria vulgaris peloria kennen gelernt. Ich bin jetzt zu Ende mit der Beschreibung der von de Vries bei den Gartenvarietäten gewonnenen Resultate. Man wird einsehen, dass das darüber Mitgeteilte notwendig gekannt werden muss, wenn man sich eine klare Vorstellung bilden will von den Abänderungen, welche wir als Mutationen zusammengefasst haben. Erst mit dieser genaueren Kenntnis bewaffnet, wird es uns auch möglich sein, die Be- deutung der Mutationstheorie für die Wissenschaft ganz zu verstehen. Ich will mich also nieht beim Leser verabschieden, ohne einen Ver- such zu wagen, in aller Kürze das Wichtigste, was sich in dieser Richtung ergiebt, zusammenzustellen. Die Bedeutung der Mutationstheorie für Systematik und Abstammungslehre. Es ist selbstverständlich gar nicht meine Absicht, hier über die Hauptbedeutung der Mutationstheorie wieder ausführlich zu sprechen. Denn dieser Gegenstand wurde schon in meinem ersten Aufsatze erörtert. Wir haben gesehen, wie man nach der Mutationstheorie annehmen muss, dass die Mutationen die erblichen Abweichungen sind, welche zur Bildung neuer Artmerkmale führen, und dass diese nicht, wie von vielen Forschern angenommen wird, durch Selektion fluktuierender Variationen entstanden sind. Das ist die Hauptsache; aber jetzt wollen wir untersuchen, inwie- fern die genauere Kenntnis der Mutationen, welche wir erworben haben, sich in systematischer Richtung verwerten lässt. So wollen wir zuerst untersuchen, inwiefern die verschiedenen Arten der Variabilität, welche wir jetzt kennen, ihre Wirkung vermuten lassen bei den verschiedenen Formen, welche man in systematischen Werken unterscheidet. Es wird dabei von den höheren Abteilungen, wie Familien und Gattungen, nur wenig die Rede sein, mehr von den Arten im Linne’schen Sinne und noch mehr von jenen kleineren Gruppen, welche derselbe Forscher als Varietäten unterschied. Die Mutationstheorie erhebt die Bedeutung der Mutationen auf Kosten derjenigen der fluktuierenden Variationen und leugnet die artbil- dende Kraft der letzteren. Dennoch wäre es verfehlt, der fluktuieren- den Variation nicht Rechnung zu tragen bei der Beurteilung des Wertes wildwachsender Formen. Wie bekannt, werden in systematischen Werken bei vielen Arten Varietäten aufgeführt, welehe durch Namen Moll, Die Mutationstheorie. 580 wie forma alpina, forma aquatica und dergleichen angedeutet sind. Die hochwichtigen Untersuchungen Bonniers über Alpenpflanzen haben gezeigt, dass, wenn man solche Pflanzen in Stücke zerteilt, und zum Beispiel die eine Hälfte in der Ebene, die andere auf dem Hoch- gebirge weiter züchtet, sich bald Verschiedenheiten ergeben von der- selben Art wie die, welche durch die oben genannten Bezeichnungen angedeutet sind, und auch sonstige Erfahrungen weisen darauf hin, dass man in allen solchen Fällen nur Aeußerungen starker fluktuierender Variation vor sich hat, welche durch die große Verschiedenheit der äußeren Verhältnisse verursacht sind. Solcher Formen giebt es also wahrscheinlich unter den in systematischen Werken verzeichneten ziemlich viele. Auch ist dabei zu bedenken, dass bei wenig bekannten Pflanzen aus fernen Ländern oft der Zusammenhang soleher Formen mit der Mutterform unbekannt ist. Es ist also wahrscheinlich, dass sich unter den weniger bekannten Varietäten, ja selbst gelegentlich unter den Arten des Systems solche finden, welche nur als extreme Fälle fluktuierender Variabilität aufzufassen sind. Es wird die Auf- gabe künftiger Kulturversuche sein, in denjenigen Fällen, in welchen so etwas wahrscheinlich ist, auszumachen, wie die Sache sich ver- hält. Sehen wir von den fluktuierenden Variationen ab, so kommen wir zu den Mutationen, und es ist im Lichte der hier vorgetragenen Theorie deutlich, dass die Verschiedenheiten nicht nur der Varietäten und Arten, sondern auch der größeren Gruppen des Pflanzenreichs fast alle als aus Mutationen entstanden gedacht werden müssen. Aber hier können wir jetzt einen Schritt weiter gehen, weil wir wissen, dass nicht alle Mutationen einander gleich sind und es sich fragt, welchen Anteil die verschiedenen Modifikationen der Mutation an der Ausbildung der systematischen Gruppen gehabt haben. Zuerst will ich untersuchen, inwiefern außer den konstant erb- lichen Mutationen, welche natürlich bei der Bildung der Arten die Hauptrolle gespielt haben, auch die teilweise erblichen einen, wenn auch geringeren Einfluss gehabt haben können. Ich meine hier solche Mutationen, welche bei Kulturpflanzen die Halbrassen und Mittelrassen bilden. Es ist hier also eigentlich die Frage, inwiefern unter den wildwachsenden Pflanzen auch solche vorkommen, welche den Cha- rakter der Halbrassen oder Mittelrassen zeigen. Selbstverständlich wird der Rückschlag, welcher bei solchen Mu- tationen so häufig ist, der Verbreitung des durch die Mutation zu Tage getretenen Merkmals sehr ungünstig sein, aber es wird von dem Cha- rakter des Rückschlags, von dem Verhalten der atavistischen Indi- viduen abhängen, in welchem Maße das der Fall sein wird. Ist es mit den Atavisten so gestellt, dass sie künftig samenfest sind, treten sie also thatsächlich aus der Rasse heraus, so wird die unvollkommene 584 Moll, Die Mutationstheorie, Erblichkeit die gefährlichste Eigenschaft sein, welche ein durch Mu- tation entstandenes Merkmal in Hinsicht auf seine Verbreitung mit- bekommen kann. Solches ist zum Beispiel der Fall bei der Mutante aus Oenothera Lamarckiana, welche de Vries 0. scintillans genannt hat. Wir haben früher gesehen, dass diese Pflanze bei künstlicher Selbstbefruchtung unter ihren Nachkommen bis 68°], Oenothera Lamarckiana und bis 21°, O. oblonga fortbringen kann. de Vries berechnet nun die Verhältniszahlen der Nachkommen, unter der Voraus- setzung, dass jede Generation auf tausend Individuen beschränkt bleibt, also unter der Annahme, dass ein Kampf ums Dasein stattfindet, aber in sehr gelinder Form, nämlich so, dass nicht die eine Art der an- deren überlegen ist, sondern bei dem Ueberleben der tausend Pflanzen einer Generation nur der Zufall waltet. Ferner wird angenommen, dass jede Seintillans-Pflanze unter ihren Nachkommen !/, Sein- tillans und ?/;, der anderen Arten hat. Die erste Generation um- fasst also 333 Seintillans-Pflanzen und 667 Lamarckiana und oblonga. Unter diesen Voraussetzungen lässt es sich leicht berechnen, dass schon in der siebenten Generation das Verhältnis 0:1000 sein wird, dass also dann alle Scintillans-Pflanzen verschwunden sind. Es leuchtet ein, dass in einem solchen Falle die O. Seintillans sich nur behaupten könnte, wenn ihr im Kampf ums Dasein sehr bedeu- tende Vorteile über ihre Mitbewerber zukämen. Man darf also schließen, dass, wenn je, so doch höchst selten Mutationen, welche auf diese Weise unvollkommen erblich sind, zum Auftreten bleibender Arten oder Varietäten in der Natur Veranlassung gegeben haben. Auch sind bis jetzt noch keine wildwachsende Pflanzen bekannt, welche sich wie Oenothera Scintillans verhalten. Auch die Mittelrasse Plantago lan- ceolata ramosa bot uns ein Beispiel einer Rasse, in der die Atavisten ganz zur ursprünglichen Art zurückkehrten. Aber wir haben auch andere Fälle kennen gelernt, wo zwar Ata- visten, oft in erheblicher Zahl, vorkommen, aber wo man annehmen darf, dass diese nicht aus der Rasse heraustreten, und mehr als Minus- varianten der fluktuierenden Variabilität zu betrachten sind. Es sind zwar in den meisten solchen Fällen diese Verhältnisse nicht genauer statistisch untersucht, aber es ist Thatsache, dass es unter den Halb- rassen und Mittelrassen solche giebt, in denen bei guter Ernährung das Rassenmerkmal in vielen Individuen hervortritt, welche es bei schlechter Ernährung nicht gezeigt hätten. Es beweist dieses, dass bei solchen Rassen atavistische Individuen vorkommen können, bei deren Nachkommen das Rassenmerkmal wieder hervortreten könnte. In Fällen, wo die Atavisten von solcher Beschaffenheit sind, ist nun selbst- verständlich kein Grund vorhanden, weshalb ein unschädliches Merk- mal auch bei unvollkommener Erblichkeit verschwinden müsste und a fortiori verhält es sich so, wenn ein Merkmal sogar bei allen Indi- Moll, Die Mutationstheorie. 585 viduen vorkommt, aber sich nur wenig entfaltet, weil es größtenteils von einem antagonistischen Merkmal verdrängt wird. Solehe Fälle werden nun in der That bei wildwachsenden Pflanzen angetroffen, und die schönsten Beispiele liefern uns die Pflanzen mit eigentümlich gebildeten Jugendblättern, welche schon oben besprochen wurden. Viele Koniferen, die Phyllodien tragenden Acacien u. a. m. sind in dieser Hinsicht von Bedeutung. Sehr lehrreich ist Acacia di- versifolia, welehe ihren Namen dem Hin- und Herschwanken zwischen Phyllodien und doppeltgefiederten Blättern verdankt. Aus den Unter- suchungen Goebel’s und Anderer geht die Bedeutung solcher That- sachen für die Descendenzlehre klar hervor. Hier will ich aber nur darauf hinweisen, dass bei solchen Pflanzen der Charakter einer Halb- rasse, bei Acacia diversifolia vielleicht sogar der einer Mittelrasse sich nicht verkennen lässt. Als pelorische Halbrasse kann man vielleicht Mentha aquatica betrachten, deren Gipfelblüten stets radiär symme- trisch gebaut, also Pelorien sind, indem sonst nur zygomorphe Blüten vorkommen. Ohne Zweifel wird weitere Forschung uns in dieser Richtung mehr solehe Fälle kennen lehren, aber die vorhandenen Thatsachen genügen, um daraus zu schließen, dass in der Natur wahrscheinlich zu der Bil- dung verschiedener Arten Mutationen beigetragen haben können, die nicht konstant erblich waren, wie solches auch bei Halb- und Mittel- rassen der Fall ist. Aber jedenfalls werden die konstant erblichen Mutationen bei der Artbildung im allgemeinen den Vorzug gehabt haben, und das stimmt auch mit der Thatsache, dass die meisten Artmerkmale vollständig erblich sind. Unter den Mutationen haben wir nun aber, abgesehen von dem Grade ihrer Erblichkeit, solche von sehr verschiedenem Charakter kennen gelernt. Einige führen zur Bildung echter elementarer Arten, aber zumal unter den Gartenvarietäten fanden wir viele, bei denen die Mutation nur ein einziges Merkmal betraf, sei es, dass dieses ver- schwand, oder dass es in stärkerem Grade sich zeigte, während auch das Hervortreten eines latenten, oft atavistischen Merkmals sehr viel vor- kam. Wir wollen jetzt untersuchen, ob unter den wildwachsenden Pflanzen auch solehe vorkommen, deren Merkmale den hier hervor- gehobenen verschiedenen Charakteren entsprechen. In dieser Hinsicht ist es sehr wichtig, dass schon Linn, wenn er unter seinen Species, wie ziemlich oft vorkam, Varietates unter- schied, dieses auf zwei verschiedene Weisen that. Man findet nämlich Fälle, in denen die Art offenbar als eine Kollektivform betrachtet wird, aus ebenbürtigen Formen zusammengesetzt, von denen keine als die typische angedeutet werden kann. Es giebt dann nicht eine forma typica oder genuina, und die Reihe der Varietäten fängt mit « an. 586 Moll, Die Mutationstheorie. Auch können in solchen Fällen die Varietäten noch in Gruppen, Unter- arten zusammengefasst sein. In allen solchen Fällen sind die Varie- täten Linnes unseren elementaren Arten gleich, und wie früher aus- einandergesetzt wurde, haben spätere Forschungen das sehr allgemeine Vorkommen solcher Kollektivarten bestätigt, wenn es auch nicht an- geht, das Prinzip der Kollektivarten als das einzig richtige zu be- zeichnen, wie das von berühmten Forschern, z. B. de Candolle und Lindley geschehen ist. Ganz gewiss sind die Verschiedenheiten zwi- schen Gattungen, Familien und größeren Gruppen von derselben Natur, denn es ist eben das eigentümliche der Kollektivarten Linne’s, dass sie in ihrer Zusammensetzung den größeren Gruppen so ähnlich sind. Als solchen elementaren Arten ebenbürtig hat man die von de Vries entdeckten Mutanten der Gattung Oenothera zu betrachten. Linne, der feinste Formenkenner, der vielleicht je gelebt hat, unterschied aber neben seinen Kollektivarten auch andere Fälle, in denen er eine Form als Forma typica oder genuina der Art betrachtete und die anderen Varietäten als von ihr abgeleitet. Studiert man den Charakter soleher Arten mit abgeleiteten Varietäten, so findet man, dass dieselbe Varietätsabweichung in den verschiedensten Arten, Gat- tungen und Familien vorkommt, dass es sich in solchen Fällen meistens um Abweichungen eines einzigen Merkmals handelt, und dass sich hier die Fälle, welehe wir bei den Mutationen der Gartenvarietäten kennen gelernt haben, wiederholen. Ja man darf selbst in verschiedenen Fällen annehmen, dass gelegentlich solche Verschiedenheiten Linne& und anderen zur Aufstellung besonderer Arten oder gar vielleicht Gattungen Anlass gegeben haben. Einige Beispiele wildwachsender Pflanzen werden zeigen, dass solche Fälle in der Natur gar nicht selten sind. Bekannt ist es, dass Linne& selbst Datura Stramonium und D. Tatula als Arten unterschied, während sie sich doch nur in dem einen Merkmal der violetten Farbe unterscheiden, welche D. Tatula aufweist, während D, Stramonium weiße Blüten und rein grüne Stengel hat. Beide sind vollkommen samenfest. Der bekannten wildwachsenden Primulacee Anagallis ar- vensis L. mit roten Blumen wird in vielen systematischen Werken die Anagallis caerulea Schreb. als gesonderte Art zur Seite gestellt, ob- gleich sie sich nur durch die himmelblaue Farbe ihrer Blumen von der vorigen unterscheidet. Von de Vries angestellte Kulturversuche zeigten, dass A. caerulea völlig samenrein ist. Sehr bekannt sind auch die zwei von Hermann Müller bei Iris Pseudocorus wildwachsend gefundenen Varietäten die eine mit engen, die andere mit weiten Blüteneingängen, der Bestäubung durch verschiedene Insekten an- gepasst. Beispiele solcher Formen, welche man sich als durch Verlust oder Latenz eines Merkmals entstanden denken muss, sind in der Natur Moll, Die Mutationstheorie. 587 sehr allgemein verbreitet. Es war schon Linn& bekannt, dass bei fast allen blau- oder rotblütigen Arten auch weissblütige Formen vorkom- men können. Wenn er auch Datura Stramonium als Art unterschied, so hat er sonst gewöhnlich solche Formen als Varietät betrachtet. Diese Varietates albae sind bei so vielen wildwachsenden Pflanzen be- kannt, dass sie in systematischen Werken oft als selbstverständlich vorhanden betrachtet, und nicht einmal mehr besonders aufgeführt werden. Teilweises oder gänzliches Verschwinden der Behaarung ist ebenfalls ein bei wildwachsenden Varietäten oft vorkommendes Merk- mal, wie die große Frequenz der Varietätsnamen glaber, glabratus, glaberrimus, nitens, laevis u. a. m. beweist. Sehr interessant sind auch die bei wildwachsenden Pflanzen so oft vertretenen Discoideaformen der Compositen, welche durch Verlust der Zungenblüten entstehen, und oft neben der Forma radiata mit Zungenblüten bekannt sind. Meistens ist dann die zungenlose Form seltener, und wird deshalb als Varietät, die Radiataform als Art be- trachtet. So verhält es sich zum Beispiel bei Senecio Jacobaea. In den Niederlanden findet man von dieser Pflanze die Forma radiata in tausenden von Individuen in den Dünen der Provinz Südholland, wäh- rend in denen der Provinz Nordholland nur die Forma discoidea ge- funden wird. Beide sind vollkommen konstant, eine jede in ihrem Gebiete. Anders verhält es sich bei Bidens iripartita und D. cernua, von denen bei uns fast nur die Forma discoidea bekannt ist und in den Floren dementsprechend als Art gewürdigt wird. Dennoch kommen in anderen Ländern die Varietates radiatae beider Pflanzen vor, wäh- rend Bidens grandiflora, atropurpurea u. a. m. bekannte Arten der- selben Gattung sind, bei denen die Strahlenblüten als Artmerkmale gelten. Es kann auch bei wilden Pflanzenvarietäten ein Merkmal in stär- kerem Grade wie bei der Art auftreten, obgleich diese Fälle relativ seltener sind. Als solche nenne ich die Varietäten mit stärkerer Be- haarung, welche in den systematischen Werken als Varietas tomentosa, pubescens, villosa, canescens, hirta, hirsuta angedeutet werden. Ebenso die Varietates ciliatae, welche zum Beispiel bei Cytisusarten und bei Lotus corniculatus angetroffen werden. Schließlich kann auch die Verschiedenheit nach einem einzigen Merkmale so zu stande kommen, dass ein bei der Art latentes Merkmal bei der Varietät sich aktiv zeigt. Ist das so entstandene Merkmal etwas fremdartiges oder wenig gewöhnliches, so wird man es als eine aktiv gewordene Anomalie betrachten. Hat man aber triftige Gründe für die Meinung, dass ein die Varietät kennzeichnendes Merkmal bei Vorfahren der Art auch schon als Artmerkmal aktiv gewesen sein kann, so wird man es als einen Fall von Atavismus betrachten. 588 Moll, Die Mutationstheorie. Es ist nun gewiss, dass unter den wilden Pflanzen Varietäten vor- kommen, deren Merkmal den hier gestellten Anforderungen entspricht. Ich hebe hier zuerst die von Casimir de Candolle als Monstruo- sites taxinomiques bezeichneten Fälle hervor. Das sind Abweichungen, welche bei bestimmten Pflanzen gelegentlich sich zeigend, als Anoma- lien betrachtet werden, aber bei anderen Pflanzen in der Natur als normale Artmerkmale vorkommen. Als Beispiele nenne ich die Kon- nation opponierter Blätter, welche als Anomalie vorkommen kann, aber bei Dipsacus und Lonicera Artmerkmal ist. Ebenso verhält es sich mit den Ascidien oder becherförmig verwachsenen Blättern, wie sie bei Tilia, Magnolia und vielen anderen Pflanzen so oft als Anomalie vorkommen. Findet man diese Anomalie bei geohrten Blättern, so entstehen Ascidien, die ganz flach sind, und genau wie gewöhnliche Folia peltata aussehen. de Vries beobachtete dies bei einem becher- bildenden Exemplar von Pelargonium zonale. Die Folgerung liegt auf der Hand, dass die Blätter der Sarracenien, welche becherförmig sind oder die Folia peltata wildwachsender Arten, z.B. Eucalyptus citrina entstanden sind durch Mutationen, welche man, wenn man sie hätte erscheinen sehen, als Anomalien bezeichnet haben würde. Ein anderes derartiges Beispiel liefert uns Tetragonia expansa. Diese Pflanze trägt sehr eigentümliche Seitenfrüchtehen auf den Früchten, welche von de Candolle in seiner Diagnose als Artmerkmal verwendet werden, aber welche, wenn sie sich nur selten zeigten, ganz gewiss als Mon- strosität gedeutet worden wären. Als Artmerkmale, welche einen atavistischen Charakter besitzen, erwähne ich hier zuerst die schon mehrmals besprochenen Jugend- formen der Blätter wie sie bei Coniferen, Eucalyptus globulus und vielen anderen Pflanzen bekannt sind. Weiter darf vielleicht auch die Orchidee Uropedium Lindeni, welche als eine pelorische Form von Cypripedium caudatum angesehen wird, hier in Betracht kommen. So sehen wir, dass ohne Zweifel unter den von Linne und seinen Nachfolgern als abgeleitete Varietäten eingeordneten Formen viele vorkommen, welche in ihrem Charakter eine große Uebereinstimmung mit manchen Gartenvarietäten zeigen; und auch unter den Arten kom- men solche Formen vor. Es ist ohne Zweifel erlaubt nach Analogie des jetzt über die Gartenvarietäten Bekannten anzunehmen, dass diese Varietäten und Arten auch durch Mutationen, mit denen der Garten- varietäten vergleichbar, entstanden sind. deVries schlägtnun vor, die Varietäten der Kollektivarten Linn&’s künftig als elementare Arten, die abgeleiteten Varietäten hingegen nur als Varietäten zu bezeichnen; ein Vorschlag der gewiss alle Beachtung verdient. Es geht ferner aus diesen Betrachtungen hervor, dass die Vor- stellung, welche Linne& über die niederen Stufen des Systems hatte, ER Moll, Die Mutationstheorie, 589 entschieden richtiger und umfassender ist als die später von de Can- dolle, Lindley und anderen aufgestellte. Nachdem wir so gesehen haben, wie uns die Mutationstheorie lehrt, die Bedeutung zumal der kleineren Unterabteilungen des Systems der Pflanzen besser zu verstehen, wollen wir jetzt etwas näher unter- suchen, welchen Einfluss diese Theorie üben kann auf unsere Vor- stellungen über die verschiedene Art des Entstehens der Zweige des Stammbaums der Pflanzen. Es wird uns diese Untersuchung sehr erleichtert werden, wenn wir mit deVries uns vorstellen, dass man bei jeder Art unterscheiden muss zwischen einem äußeren und einem inneren Formenkreise. Den inneren Formenkreis bilden diejenigen Merkmale, welche sich im gewöhnlichen Leben der Art stets zeigen, sei es oft auch nur als Re- aktionen auf gelegentliche Einwirkungen, wie Verwundung, Verdunke- lung ete. Den äußeren Formenkreis dagegen bilden die latenten und semilatenten Merkmale. Sie gehören ebensogut zum Wesen der Art als die Merkmale des inneren Kreises, aber zeigen sich nur selten und dann durch Ursachen, welche uns größtenteils unbekannt sind, wenn wir auch wissen, dass gute Ernährung ihre Aktivierung begünstigt. Durch ebenfalls unbekannte Ursachen, durch Mutation kann aber die Vererbbarkeit der Merkmale des äußeren Kreises plötzlich sehr ge- steigert werden, selbst bis zur völligen Konstanz. Auch giebt es unter den Merkmalen des äußeren Formenkreises viele, welche bei den Vor- fahren der jetzt lebenden Arten aktiv gewesen sind und welche also bei ihrer wieder hergestellten Belebung den Charakter des Atavismus besitzen. Nun ist es selbstverständlich, dass jeder wirkliche Fortschritt im Stammbaume nur auf die Hinzufügung neuer, bisher nicht bestehender Merkmale zum inneren Formenkreise beruhen kann. Wir können uns vorstellen, dass wenn solches bei einer Art vorkommt, und ein einziges neues Merkmal hinzukommt, eine neue elementare Art gebildet wird. Diesen Vorgang bezeichnet de Vries als progressive Artbildung und diesen meint er bei seiner Oenothera Lamarckiana beobachtet zu haben, als er aus ihr eine Reihe neuer elementarer Arten entstehen sah. Aber die Mutationstheorie verlangt keineswegs, dass alle Arten auf dieselbe Weise entstanden sein sollen, und de Vries nimmt an, dass, während die fortschreitende Entwickelung, welche dureh die Haupt- linien des Stammbaumes angedeutet wird, auf die oben beschriebene Weise stattfindet, hingegen die große Verschiedenheit der Formen, welche man in vielen Gruppen beobachtet, oft auf andere Weise zu stande komme, und zwar durch das Verschwinden oder in stärkerem Grade Auftreten von Merkmalen des inneren Formenkreises, oder auch durch das Aktivwerden von Merkmalen des äußeren Formenkreises. Diese Vorgänge der Artbildung beruhen also nicht wie die progressive 590 Moll, Die Mutationstheorie. Artbildung auf der Bildung neuer Merkmale, sondern nur auf verschie- denen Kombinationen schon vorhandener. Das Hervortreten von Merkmalen des inneren Formenkreises wird subprogressive Artbildung genannt und kommt selten in stär- kerem Grade vor. So hat man sich z. B. das Entstehen solcher Varietäten zu denken, welche als hirsutissima oder ciliata bezeichnet werden. Entstehen neue Formen durch den Verlust oder das Latentwerden von Merkmalen des inneren Formenkreises, so wird das retrogressive Artbildung genannt, und solches muss nach dem oben mitgeteilten sehr oft vorgekommen sein. So darf man sich vorstellen, dass Sium und Berula mit einfach gefiederten Blättern inmitten einer Gruppe von Pflanzen mit doppelt gefiederten entstanden sind. Und ebenso wird es sich mit Primula acaulis verhalten, welche sich durch einzeln stehende Blüten von ihren Verwandten mit schirmartigen Inflorescenzen unter- scheidet. Es sind das zugleich also Fälle von Atavismus. Der retro- sressiven Artbildung verdanken ferner auch die weißblütigen Varietäten und andere, welche wir oben mit diesen kennen gelernt haben, ihre Entstehung. Schließlich darf man annehmen, dass in zahllosen Fällen das Ent- stehen von Arten sich auf die Aktivierung latenter Merkmale zurück- führen lässt, und diesen Fall nennt de Vries degressive Art- bildung. Dabei könnte dann das aktivierte Merkmal schon bei früheren Vorfahren einmal aktiv gewesen sein und jetzt wieder belebt werden. Als Beispiel einer solchen durch degressive Bildung ent- standenen Art mag die oben besprochene Orchidee Uropedium Lindenii gelten. Man hat hier also eine atavistische Artbildung. Aber in den meisten jetzt zugänglichen Fällen belebte die degressive Artbildung Merkmale, welche bis jetzt latent geblieben waren. So lassen sich die oben besprochenen Beispiele deuten, bei denen Art- merkmale vorkommen, welche bei anderen Pflanzen noch jetzt als la- tente Merkmale, als taxinome Anomalien, gelegentlich hervortreten. Auf degressive Artbildung ist wahrscheinlich auch die Erscheinung zurückzuführen, welche Darwin als parallele Anpassung be- zeichnet hat. Es ist die Erscheinung, dass manche Merkmale, welche im Kampf ums Dasein eine gewisse Nützlichkeit haben, wiederholt bei verwandten oder auch weit auseinanderstehenden Gruppen angetroffen werden. So verhält es sich z. B. bei den verschiedenartigen Pflanzen, welche man in den Gruppen der Parasiten, Saprophyten, Schling- pflanzen, Rankenpflanzen, insektivoren Pflanzen u. s. w. zusammenfasst. Man kann zwar meinen, dass bei allen Pflanzen, welche eine solche Gruppe bilden, die betreffenden Merkmale unabhängig voneinander jedesmal neu entstanden sind. Doch scheint es einfacher, anzunehmen, dass bei vielen, vielleicht den meisten Pflanzen solche Merkmale latent Moll, Die Mutationstheorie, 591 vorkommen und gelegentlich durch Mutation in die Erscheinung ge- treten sind. Dann ist aber die parallele Anpassung ein Fall der de- gressiven Artbildung. Das oben Mitgeteilte zusammenfassend, können wir mit de Vries die folgende Uebersicht über die Modalitäten der Entstehung neuer Arten aufstellen. Arten können entstehen: 1a) Unter Bildung neuer Merkmale, progressive Artbildung; 1b) ohne Bildung neuer Merkmale; 2a) durch das Latentwerden oder Verschwinden vorhandener Merkmale des inneren Formenkreises, Retrogressive Artbildung; Atavismus zum Teil. 2b) durch Aktivierung latenter Merkmale. Degressive Artbildung; 3a) aus taxinomen Anomalien; 3b) als eigentlicher Atavismus; 2c) aus Bastarden. Dieser Gegenstand ist hier nicht näher besprochen, weil er erst im zweiten Bande des Buches erörtert werden wird. Einige Probleme der Forschung, welche die Mutations- Theorie für die nächste Zukunftin den Vordergrund stellt. Es ist nicht meine Absicht, hier diesen Gegenstand sehr ausführlich zu behandeln, sondern nur Einiges mitzuteilen über die künftig zu versuchende Lösung einiger Fragen, welche sich dem Leser selbst schon ergeben haben werden. So ist es allererst selbstverständlich, dass die Bearbeitung der Thatsachen der Erblichkeit nach der statistischen Methode für die Mutationstheorie in nächster Zukunft sehr bedeutungsvoll werden muss. Es ist eine bemerkenswerte Thatsache, dass man jetzt eben in Eng- land eine neue Zeitschrift „Biometrica“ begründet hat, welche jedoch keineswegs auf dem Boden der Mutationstheorie steht. Dennoch ist gerade für die Anhänger dieser Theorie die statistische Behandlung von der größten Bedeutung. Wie aus dem Vorhergehenden zur Genüge hervorging, ist nur von ihr in manchen Fragen der Mutationstheorie Aufklärung zu erwarten. Ich brauche darauf hier nicht weiter einzu- gehen. Weiter wird es höchst nützlich sein, den äußeren Formenkreis der Art sorgfältig zu studieren, mit anderen Worten, forizugehen auf dem Wege, weleher von Celakowsky, Goebel, Heinricher und anderen schon mit so schönen Erfolgen betreten ist. Dann wird man sich bemühen müssen, bewusst in der Natur zu suchen nach Fällen, in denen durch Mutation plötzlich neue Formen entstanden sind. Dass dieses Suchen nicht ganz hoffnungslos ist, be- weisen einige schon gemachte Funde, unter denen ich in erster Linie 592 Moll, Die Mutationstheorie. Oenothera brevistylis und laevifolia nennen will, welche de Vries auf dem Felde zu Hilversum wild vorfand und welche er nie in seinen Kulturen entstehen sah. So fand er auch bei Hilversum im Freien Samen von Lychnis vespertina, aus denen zum Teil völlig unbehaarte Individuen aufgingen. Diese Lychnis vespertina glabra zeigte sich nach Isolierung als völlig samenrein. Vielleicht das schönste Beispiel in dieser Richtung bietet das von Solms-Laubach beschriebene Capsella Heegeri. Diese Pflanze ist ohne Zweifel auf einem Felde bei Lindau um das Jahr 1897 aus der gewöhnlichen Capsella bursa pastoris entstanden. Sie unterscheidet sich von ihrer Stammart nur in der Form und dem Bau der Früchte, und ist weiter in allen Teilen der Capsella bursa pastoris gleich. Aber diese Verschiedenheit in den Früchten ist eine derartige, dass man unter gewöhnlichen Umständen Capsella Heegeri zu einer ganz anderen Gattung reehnen müsste. Auch diese Pflanze ist samenfest und ihre Früchte kehren unter dem Einflusse ungünstiger Ernährungs- verhältnisse mehr oder weniger zu der bei C. bursa a) vor- kommenden Form zurück. Schließlich ist es fast überflüssig, darauf hinzuweisen, dass die Hauptuntersuchung, zu der die Mutationstheorie führt, die- jenige nach den Ursachen der Mutation sein muss. Gelänge es, diese Ursachen einigermaßen kennen zu lernen, so würde es vielleicht mög- lich werden, künstlich Mutation hervorzurufen. Der hohen wissen- schaftlichen Bedeutung des Gegenstandes wegen wird es sich lohnen, mit de Vries die Fragestellung etwas näher zu beleuchten. Wenn wir die merkwürdigen Kulturversuche mit Oenothera La- marckiana betrachten, so sehen wir, dass in mehreren aufeinander- folgenden Jahren dieselben Mutationen und oft in relativ großer Zahl sich wiederholen. Weiter können wir sagen, dass soweit die Erfahrung reicht, jede Pflanze von Oenothera Lamarckiana auf dem Felde in Hil- versum und jede ihrer Nachkommen im stande ist, dieselben Mutanten auf dieselbe Weise zu liefern, wenn nur sehr ausgedehnte Kulturen von ihr ausgehend stattfinden. Auch ist es Thatsache, dass bis jetzt Mutationen von Oenothera Lamarckiana an anderen Orten nicht ge- funden sind, was doch wahrscheinlich der Fall gewesen wäre, wenn sie vorkämen, denn die Pflanze wird viel gezüchtet, verschiedene der von de Vries gefundenen Mutationen sind sehr auffallend und überall spüren gierige Augen nach Sprungvariationen des darin versteckten Gewinnes wegen. Aber auch wenn alle Lamarckianapflanzen auf der ganzen Welt das Vermögen zu mutieren besäßen, so bliebe es doch feststehen, dass Oenothera biennis, muricata und andere nächste Ver- wandte vollkommen immutabel sind. Wir werden also gezwungen, anzunehmen, dass entweder die Oenothera Lamarckiana auf dem Felde bei Hilversum oder die ganze Art sich in einem ganz eigentümlichen Moll, Die Mutätionstheorie. 593 Zustande befindet. Es sind nämlich in dieser Pflanze verschiedene Anlagen verborgen, welche unter bestimmten Umständen zum Sichtbar- werden von Mutationen führen können. Diese Annahme scheint angesichts der mitgeteilten Thatsachen viel einfacher als diejenige, dass in jedem Einzelfalle der Mutation die Anlage nicht nur aktiv geworden ist, sondern auch sich gebildet hat. Wenn man das zugeben kann, so kommt man von selbst zur Hypo- these, dass in den Pflanzen des Feldes bei Hilversum, oder auch in allen Pflanzen dieser einzigen Art vor dem Anfang der Mutations- periode Aenderungen stattgefunden haben, welche Mutationen möglich, aber gar nicht notwendig machen. Denn die Mutationen, obgleich überall im verborgenen vorhanden, entstehen erst unter bestimmten, uns bis jetzt unbekannten Umständen, welche nur bei wenigen Indi- viduen zusammentreffen. Wir müssen also annehmen, dass in Oeno- thera Lamarckiana latente Merkmale vorhanden sind, wie man sie gewöhnlich nicht findet und deren Aktivierung man Mutation nennt. So kommen wir zu der Hypothese, dass die Mutationen nur die Offen- barungen sind einer viel wichtigeren Aenderung, die vor Anfang der Mutationsperiode stattfand. Diese Aenderung war die Bildung neuer Merkmale im verborgenen, und diesen Vorgang bezeichnet de Vries als Prämutation. Bei Oenothera Lumarckiana ist es nun nur natürlich, anzunehmen, dass zwischen den verschiedenen Mutationen, die sich jetzt gleichzeitig zeigen, auch ein gewisser Zusammenhang besteht und dass sie mehr oder weniger gleichzeitig entstanden sein werden. Diese Zeit des ge- meinschaftlichen Entstehens aller dieser Mutationen nennt de Vries dann die Prämutationsperiode. Was für die Mutation von Oenothera Lamarckiana angenommen wird, hat auch wohl für einen großen Teil der sonstigen uns bekannten Mutationen Gültigkeit. Denn für viele giebt es analoge Gründe, wes- halb es unwahrscheinlich ist, dass die Anlage des neuen Merkmaäles erst in dem Augenblicke seines Siehtbarwerdens gebildet sei. So steht es bei vielen Anomalien, welche überall vorkommen und gelegentlich durch Mutation eine erbliche Rasse bilden. Wo es sich in solchen Fällen um ein einziges Merkmal handelt, muss zwar eine Prämuiation, nicht aber eine Prämutationsperiode angenommen werden. Bei der von de Vries beobachteten Mutation, durch welche Zi- naria vulgaris peloria entstand, war nachweislich das Merkmal bei den Vorfahren, das heisst bei der Linaria vulgaris hemipeloria schon vorhanden, und brauchte es nur aktiviert zu werden. Hier ist es also nicht nötig, eine Prämutation anzunehmen, denn es handelt sich hier um ein atavistisches Merkmal, das schon von früher her vorhanden war. Aus diesen Betrachtungen geht hervor, dass bei dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse die Frage nach den Ursachen der Mutation XXI. 39 594 Moll, Die Mutationstheorie. in zwei Fragen zerfällt: erstens, welche sind die Ursachen der Neu- bildung von Merkmalen im verborgenen, welche spätere Mutationen ermöglicht, oder mit anderen Worten, welche sind die Ursachen der Prämutation? und zweitens, welche sind die Ursachen der eigentlichen Mutationen, durch welche das bei der Prämutation entstandene Merk- mal, wenn auch gewöhnlich nur bei wenigen Individuen, äußerlich sichtbar wird? Hier schließt sich dann die weitere Frage an, woher es kommt, dass in vielen Fällen der Mutation auch sichtbare Merkmale latent werden oder vielleicht verschwinden, dass in anderen aktive Merkmale, in stärkerem Grade erscheinen, und in noch anderen ata- vistische Merkmale die aktiv gewesen und nachher latent geworden sind, von neuem belebt werden können. Ueber die Ursachen der Mutation ist jetzt fast nichts bekannt. Nur wissen wir aus den hier beschriebenen Untersuchungen, dass im allgemeinen die Mutation durch Ernährungsverhältnisse begünstigt wird. Aber dennoch lohnt es sich hier, eine Thatsache zu erwähnen, welche sehr merkwürdig ist und zufällig bei den Versuchen, welche de Vries anstellte, zu Tage gefördert wurde. Wir haben früher gesehen, dass die Zahl der Mutanten bei Oeno- thera Lamarckiana zu etwa 3° der ausgesäten Samen veranschlagt werden konnte. Es kam aber ein Ausnahmefall vor, als nämlich in 1895 die Samen von sechs Lamarckianapflanzen gesät wurden, welche während sechs Jahren aufbewahrt gewesen waren. Die Samen einer jeden Pflanze wurden getrennt beobachtet. Sie keimten alle schlecht, weil durch die zu lange Aufbewahrung viele abgestorben waren, aber es zeigte sich eine merkwürdige Ungleichmäßigkeit. Die Samen von fünf Pflanzen keimten verhältnismäßig etwas besser und zwar zu 14°; unter den aufgegangenen Keimpflanzen fanden sich 5°. Mutanten vor, also schon eine etwas hohe Zahl. Die Samen der sechsten Pflanze keimten aber ganz besonders schlecht, nur zu 1°% ihrer Zahl. So wurden 350 Keimpflanzen erhalten und unter diesen waren merk- würdigerweise 135 Mutanten, das heißt also etwa 40°. Pro Kubik- centimeter der ausgesäten Samen berechnet, lieferte diese Pflanze aber nur 1,3 Mutanten, während bei den fünf anderen nach derselben Be- rechnung 3,2 vorkamen. Die am schlechtesten keimenden Samen lieferten also absolut weniger Mutanten als die besser aufgehenden, aber der Prozentsatz unter den wenigen gekeimten Samen war ganz außerordentlich hoch. Es geht daraus hervor, dass in diesem Falle, wo viele Samen abgestorben waren, diejenigen, welche Mutanten hervorbrachten, relativ am längsten überlebt hatten. Selbstverständlich würde es verfrüht sein, aus dieser einzigen Beobachtung zu schließen, dass es immer so sein wird, aber dennoch ist die Thatsache sehr merkwürdig. Sollte sich diese Beobachtung später in mehreren Fällen bestätigen, so würde Moll, Die Mutationstheorie. 595 es vielleicht möglich sein, durch Mittel, welche das Absterben der Samen verursachen, das Aufsuchen von Mutanten ungemein zu erleichtern, denn man würde mit viel weniger umfangreichen Kulturen auskommen. Und das würde wiederum das Studium der Mutationsursachen sehr fördern. Ueber die Ursachen der Prämutation ist ebenfalls jetzt noch nichts bekannt, aber ich will diesen Aufsatz schließen mit der Mitteilung einer Vermutung, welche de Vries über diesen Gegenstand aus- gesprochen hat. Zu dieser Vermutung wurde er geführt durch Ge- danken, welche Louis Vilmorin einst geäußert hat, über eine Me- thode, welche es vielleicht ermöglichen könnte, Neuheiten bei Kultur- pflanzen künstlich hervorzurufen. Er meinte, dass man anfangen sollte, in einer Kultur die am meisten abweichenden Individuen zu wählen, unabhängig von der Frage, ob die gewählten Abweichungen für die Kultur des Gartenbaus geeignet sein würden. Diese Individuen als Samenträger wählend, würde man in der folgenden Generation wieder die am meisten abweichenden aufsuchen, aber darauf Acht geben, nicht die nämlichen Abweichungen zu wählen, sondern solche, welche in einer ganz anderen Richtung stattgefunden hätten als in der ersten Generation. Diesen Vorgang würde man dann noch einige Male wiederholen. Vilmorin, der für diese Behandlungsweise den französischen Ausdruck affoler (erschüttern) benutzt, meinte, dass sich auf diese Weise die Veränderlichkeit einer Pflanze steigern lassen würde, so dass man schließlich jedes gewünschte Merkmal hervor- bringen könnte. Soviel bekannt, hat er aber solche Versuche nie an- gestellt, wenigstens nie beschrieben. Aber an diesen gewiss originellen Gedanken anknüpfend, kommt nun de Vries zu einer Vorstellung über die möglichen Ursachen der Prämutation, welche insofern schon jetzt fruchtbar ist, als sie zu bestimmten Versuchen führen kann. Er stellt sich vor, dass die Ursachen einer Prämutation zweierlei sein müssen: innere, welche bestimmen, was entstehen kann, und äußere, welche bestimmen, wann es entsteht. Weil nun in der Natur zwar die meisten Arten konstant sind, aber dennoch alle im Laufe ihrer Bildung Perioden der Prämutation mit nachfolgender Mutation durchlaufen haben müssen, so darf man annehmen, dass die äußeren Ursachen der Prämutation solche Umstände sind, welche in der Natur nicht gewöhnlich und zu allen Zeiten vorkommen, aber dennoch auch nicht allzuselten verwirklicht werden können. So kommt man zum Gedanken, dass vielleicht eine Kombination extrem günstiger Einflüsse mit extrem ungünstigen eine Ursache der Prämutation bilden könnte. Es wären also für eine Prämutation keine Umstände notwendig, welche für sich sehr selten vorkommen, sondern eine Kombination ganz ge- wöhnlicher Einflüsse, welche als solche stets selten sein wird. Man würde nun natürlich den Wert dieses Gedankens durch Ver- 39*F 56 Ostwald, Zur Theorie des Planktons. suche prüfen können. Man könnte zum Beispiel sehr schwache Knos- pen oder Samen aus sehr schwachen Blüten bei äußerst sorgfältiger Behandlung und starker Ernährung erziehen. Es ist bekannt, dass Wassersprosse, welche aus kleinen ruhenden Knospen hervorgehen, sich sehr stark entwickeln können und dabei oft sonst latente Merk- male zur Schau bringen, wie zum Beispiel die bekannten Zwischen- formen zwischen Blättern und Dornen bei den Wassersprossen der gewöhnlichen Berberitze beweisen. Und nun wäre es gar nicht un- möglich, dass unter solchen Umständen auch besondere Verhältnisse in Bezug auf die Mutabilität obwalten könnten. Mit diesen Betrachtungen ist auch die allgemein verbreitete Meinung im Einklange, dass eine sehr starke Vermehrung Veran- lassung zur Mutabilität geben könne. Gerade diese Meinung hat de Vries dazu geführt, seine Aufmerksamkeit ganz besonders auf Oenothera Lamarckiana auf dem Felde zu Hilversum zu lenken. Und es ist einleuchtend, dass eine sehr starke Vermehrung nur darauf be- ruhen kann, dass viele schwache Samen, welche sonst im Kampf ums Dasein unterliegen würden, die erforderlichen Bedingungen zum kräf- tigen Wachstum finden. Unter solchen Umständen wird es also auch viele Fälle geben, in denen der oben angedeutete Gegensatz vorhan- den ist. de Vries teilt uns mit, dass es seine Absicht sei, in dieser Rich- tung seine Untersuchungen fortzusetzen. Ich schließe mit dem Wunsche, dass es ihm, sei es auf diesem oder auf anderem Wege, gelingen möge, die Ursachen der Mutabilität zu entdecken. Groningen, am 25. März 1902. Zur Theorie des Planktons. Von Wolfgang Ostwald, Leipzig. Unter dem Begriff „Plankton“ versteht man die Summe der schwebenden Wasserorganismen. Dies ist die allgemeinste und entsprechend gröbste Definition des Planktons. Man hat nun eine ganze Anzahl ziemlich heterogener Unterbegriffe des Planktons geschaffen, in- dem man nämlich teils die Größe, Beschaffenheit, Lage ete. der vom Plankton bewohnten Gewässer, teils die systematische Stellung und die Größe der Planktonorganismen oder die mehr oder minder aktive Be- teiligung an der Schwebung ete. als Charakteristiken dieser Unter- begriffe wählte. Solche Begriffe sind: Seewasser-, Süßwasser-, Zoo-, Phyto-, Potamo-, Mero-, Nero-, Holo-, ete. Plankton. Diese Begriffe aber haben als einen gemeinsamen Bestandteil — und diese That- sache ist dementsprechend auch in der Zusammensetzung aller Namen mit dem Worte „Plankton“ ausgedrückt — die Schwebefähig- Ostwald, Zur Theorie des Planktons. 597 keit der betreffenden Organismen. Die Frage nach der Berech- tigung dieser Begriffe ist identisch mit der Frage nach ihrer Zweck- mäßigkeit, da jede Abstraktion eine Zweckmäßigkeitsfrage ist. Für uns, für die Ausführungen, die hier gegeben werden sollen, ist es zweckmäßiger, einstweilen mit dem allgemeinen Begriff „Plankton“, also mit der Summe der übereinstimmenden Eigenschaften aller Planktonunterbegriffe zu wirtschaften. Wir wollen im folgenden zunächst dieses Hauptcharakteristikum des Planktons, seine Schwebefähigkeit etwas näher betrachten. Dass dieselbe das Hauptkennzeichen des Planktons ist, geht einmal aus obiger Begriffsbildung hervor, dann aber ist diese Eigenschaft der Schwebefähigkeit im Wasser der einzige wirklich prinzipielle Unter- schied dieser Fauna und Flora von anderen Organismenreichen, d. h. alle anderen Unterschiede sind nur graduelle und quantitative, sofern sie eben nicht auch Notwendigkeiten, Folgen dieser eigentümlichen Lebensweise sind. Was aber den Ursprung und die Zweckmäßigkeit der pelagischen Lebensweise anbetrifft, so ist es hier einstweilen nicht unsere Aufgabe, darüber Vermutungen und Theorien aufzustellen. Da nun aber die Schwebefähigkeit das prinzipielle Merkmal und die wichtigste Eigenschaft des Planktons ist, so hat sich eine Planktonbio- logie,eineLehreinsbesonderevon denLebensgeschehnissendesPlank- tons, also nicht nur eine quantitative oder qualitative Planktonstatistik, zunächst mit den Schwebegeschehnissen ganz an und für sich zu be- schäftigen. Stellen wir die Frage etwas genauer, so müssen wir folgendes zu erfahren suchen: I. Unter welchen physikalisch-chemischenBedingungen finden Schwebevorgänge beliebiger Körper statt? Wir wollen also um der größeren Einfachheit willen einstweilen die physikalisch-chemischen Schwebebedingungen ganz beliebiger Körper untersuchen. Die Beantwortung dieser Frage wird, wie leicht zu ersehen ist, nur in einer näheren, ausführlicheren, physikalisch- chemischen Definition der Schwebevorgänge bestehen. Es wird sich aber auch zeigen, dass das Bekanntsein dieser einfacheren Verhältnisse unumgänglich nötig ist zur Beantwortung folgender, eigentlich bio- logischer Fragen: II. Welche speziellen Schwebebedingungen finden sich beim Plankton? Die zweite Hauptfrage bildet also nur einen Spezialfall, eine An- wendung der durch die Beantwortung der ersten gewonnenen Re- sultate auf den besonderen Fall, dass die schwebenden Körper Orga- nismen, insbesondere Planktonorganismen sind und darum besondere, ihnen eigentümliche Schwebebedingungen besitzen. Wenn wir einen Namen für die Summe dieser Einzelfragen und Einzellösungen haben wollen, so können wir sie eine allgemeine Physik des Planktons 598 Ostwald, Zur Theorie des Planktons. nennen, da sie sich mit den allgemeinen physischen, d.h. physi- kalisch-chemischen Eigenschaften des Planktons befassen soll. Streng genommen ist die Grenze einer solchen Planktonphysik und dem, was man gewöhnlich als Morphologie bezeichnet, nicht scharf durch- führbar, da sich die Morphologie ja auch mit physikalischen Eigen- schaften, besonders zwar mit räumlichen, aber auch mit photischen und chemischen, die letzteren besonders als Hilfsmittel angewendet, beschäftigt. Doch werden wir noch später sehen, dass es einigermaßen zweckmäßig ist, den Namen „Morphologie“ für die Summe der spe- ziellen physischen Planktonverhältnisse und -eigenschaften aufzube- wahren und diese Planktonmorphologie als eine spezielle Plankton- physik der allgemeinen unterzuordnen. Durch dies Verfahren behalten wir die einmal eingebürgerten Namen und Begriffe bei. III. Auf welche Weise reagiert das Plankton auf Ver- änderungen der Schwebebedingungen, resp. wie lassen sich Thatsachen der Planktologie aufVeränderungen der Schwebebedingungen zurückführen? Die dritte Frage endlich bildet den Inhalt einer eigentlichen spe- ziellen Planktonbiologie, d. h. einer Biologie, deren Hauptauf- gabe in der Erklärung der Lebensvorgänge, wie sie dem Plankton eigentümlich, für dasselbe charakteristisch sind und wie sie dasselbe im Unterschied zu anderen Organismenreichen aufweist, besteht. Es ist klar, dass Veränderungen von solchen Eigenschaften, die nur dem Plankton charakteristisch sind, auf Veränderungen der nur ihm cha- rakteristischen Lebensweise in sehr vielen Fällen werden hinaus- laufen müssen. Sonst kommen aber selbstverständlich noch die Ein- flüsse, welehe Nahrung, Korrelation der Organismen, insbesondere des Phyto- und Zooplanktons unter sich etc, also allgemeine Lebens- bedingungen auch auf die Planktonorganismen besitzen, zu den spe- ziellen Lebensbedingungen hinzu. Wie schon angedeutet wurde, wird es zweckmäßiger sein, zu- nächst einmal die Betrachtung der Schwebevorgänge an beliebige aber konstante Körper anzuknüpfen, darum, weil es sich bei den Schwebevorgängen an und für sich nur um physikalische, resp. physi- kalisch-chemische Erörterungen handelt, und da ferner dieselben bei Verwendung von beliebigen, also auch einfacheren Körpern anschau- licher gemacht werden können. Wir beginnen unsere nähere Definition der Schwebevorgänge da- mit, dass wir die Grenzen des Begriffes „Schweben“ etwas reinlicher ziehen, als es gang und gäbe ist. So z.B. wollen wir das Flottieren von Organismen an dem obersten Rande des Wasserspiegels, also an der Grenze zwischen Wasser und Luft, wie es als räumliche Orien- tierung, z. B. bei Scapholeberis mucronata und vielen Siphonophoren ete. vorkommt, einstweilen bei seite lassen. Ebenso wollen wir zu- Ostwald, Zur Theorie des Planktons. 599 nächst nicht das Horizontalschwimmen des Nektons, bei dem ja auch Schwebevorgänge eine gewisse Rolle spielen werden, resp. die physikalischen Analoga anorganischer Körper mit in unsere Betrach- tung ziehen. Wir wollen vielmehr diejenigen Vorgänge Schwebevorgänge nennen, welche als Sinkvorgänge von außerordentlich geringer Sinkgeschwindigkeit aufge- fasst werden können. Trotz der scheinbar großen Willkür dieser Definition deckt sie sich doch vollständig mit dem, was man bis jetzt beim Plankton „Schwebevorgänge* genannt hat. Sollte es wirklich nachgewiesen werden, dass, wie z. B. Sehütt es ver- mutet, das spezifische Gewicht des sinkenden Organismus zuweilen wirklich weniger beträgt als das des betreffenden Wassers, so ist die Einreihung dieser Erscheinungen unter den Sinkoberbegriff deswegen noch immer zweckmäßig, weil es ja auch negative Sinkvorgänge physikalisch giebt, d. h. weil sich bei negativer Sinkgeschwindigkeit nur die Riehtung, nicht aber der Wert der Geschwindigkeit ändert. Bis jetzt sind aber derartige Fälle noch nicht nachgewiesen worden, vielmehr können alle Schwebevorgänge des eigentlichen Planktons (Scapholeberis mucronata z. B. wird ja ihrer abweichenden Lebens- weise wegen nicht zu den eigentlichen Planktonformen gerechnet) unter diese Definition aufgenommen werden. Der Vorteil aber, den wir durch die Aufstellung gerade dieser Definition der Schwebevorgänge gewonnen haben, besteht darin, dass wir den Schwebevorgang als den Einzelfall eines allgemeineren Geschehens, das der physikalischen Be- handlung viel leichter zugänglich ist, erkannt haben. Selbstverständ- lich muss nun alles, was für die Sinkvorgänge gilt, auch für die Schwebegeschehnisse seine Geltung behalten, nämlich darum, weil das Sinken ein Oberbegriff des Schwebens ist; die Bestandteile oder Eigenschaften eines Oberbegriffes aber per definitionem sämtlich in jedem seiner Unterbegriffe vorhanden sein müssen. Wir werden also zunächst als Vorfrage zu betrachten haben, welche Bedingungen für das Zustandekommen eines Sinkvorganges vorhanden sein müssen resp. maßgebend sind, Die erste, weil nächstliegende Bedingung dafür, dass ein Körper im Wasser sinkt, ist, dass er spezifisch schwerer ist als Wasser, dass er mit anderen Worten, da er ja soviel an Gewicht in Wasser verliert, als das von ihm verdrängte Wasservolum wiegt, ein Ueber- gewicht besitzt. Dieses Uebergewicht stellt zunächst die Kraft dar, mit welcher der sinkende Körper nach unten getrieben wird, und zwar ist die Sinkgeschwindigkeit bis jetzt proportional dieser Kraft, oder anders ausgedrückt, proportional der Differenz der beiden spezifischen Gewichte. Nun lehrt indessen die Erfahrung, dass nicht alle spezifisch gleichschweren Körper auch gleich schnell sinken. Und zwar hängt dieser Unterschied augenscheinlich einmal von der Ober- 600 Ostwald, Zur Theorie des Planktons. fläche und der Gestalt des sinkenden Körpers ab, dann aber auch von der Natur der betreffenden Flüssigkeiten. So sinkt zum Bei- spiel dasselbe Stück Glas in toto oder zu feinem Mehl verrieben sehr ver- schieden schnell und ebenso etwa eine Scheibe und ein kugeliger oder birnförmiger Körper, die gleiches Uebergewicht besitzen. Auf der an- deren Seite ist die Sinkgeschwindigkeit ein und desselben Körpers sehr verschieden in Aether oder in Pech. Die Sinkgeschwindigkeit, die direkt proportional dem Uebergewicht ist, ist also noch abhängig von folgenden Größen: Erstens von der Oberflächengröße und der Ge- stalt des Körpers, beides mit einem gemeinsamen Namen bezeichnet, vom Formwiderstand, und zweitens von einer Beschaffenheit der Flüssigkeit, welche die Physik resp. physikalische Chemie als dieinnere Reibung der Flüssigkeiten bezeichnet hat. Während nun die Sinkgeschwindigkeit direkt proportional ist dem Uebergewicht, so ist sie umgekehrt proportional einmal dem inneren Reibungswiderstand der Flüssigkeit, und dann aber auch umgekehrt proportional dem Formwiderstand. Wir haben also für jeden Sinkvorgang folgende Formel: Uebergewicht!) Die Rolle, welche das Uebergewicht bei einem Sinkvorgang spielt, ist sehr einfach und klar. Der Genauigkeit wegen sei noch er- wähnt, dass das spezifische Gewicht sowohl des Wassers als auch des Körpers in einem gewissen Maße abhängig ist von der Temperatur. Und zwar nimmt das spezifische Gewicht ab im umgekehrten Sinne der steigenden Temperatur. Indessen ist dieser Temperaturkoäffizient zunächst an und für sich sehr klein. So ist ‘die Dichte des luft- freien Wassers Sinkgeschwindigkeit = beir 252—:0:997093, bei 100° = 0,95 863. Wir sehen, dass die Aenderung nur ein ganz Geringes beträgt. Warum aber dieser Temperaturkoäffizient des spezifischen Gewichtes bei Schwebevorgängen von Organismen vollständig zu vernach- lässigen ist, werden wir später noch zu erörtern haben. Hier sei noch bemerkt, dass ja auch das spezifische Gewicht des sinkenden Körpers fast immer in demselben Sinne wie dasjenige der Flüssigkeit mit steigender Temperatur abnimmt. Da aber ja nur die Differenz beider in Frage kommt, so ist der Einfluss der Temperatur auf die Sinkgeschwindigkeit sehr gering. Dasselbe gilt für den kubischen Ausdehnungskoäffizienten der Temperatur und die durch ihn bedingten Variationen des Vo- 1) Zu dieser außerordentlich einfachen Formel gelangte ich durch Be- sprechung der physikalischen Verhältnisse mit meinem Vater, Professor Wilh. Ostwald. Ostwald, Zur Theorie des Planktons. 601 lumens, resp. spezifischen Gewichtes von Körper und Flüssigkeit. Selbstverständlich machen die Fälle eine Ausnahme, bei denen der sinkende Körper Gasblasen enthält. Als dritten Einfluss auf das Uebergewicht haben wir den Gehalt der Flüssigkeit, speziell des Wassers an gelösten Stoffen, und zwar von Gasen und Salzen zu betrachten. Was den Sinn dieser Be- Beeinflussung anbetrifft, so steigt das spezifische Gewicht mit der Kon- zentration. So hat z. B. eine NaCl-Lösung von 26,4°/, bei 18° ein spezifisches Gewicht von 1,2014!), eine konzentrierte, d. h. 75°], Rohr- zuckerlösung bei 15° ein solches von 1,38401 ete. — Ueber den zahlen- mäßigen Einfluss der gelösten Gase auf das spezifische Gewicht liegen mir keine genaueren Angaben vor. Doch wird derselbe noch geringer sein als der der Salze. Etwas näher zu erläutern sind nun noch die beiden Begriffe: Innere Reibung und Formwiderstand. Beginnen wir mit der schärferen Definition des Formwiderstandes. Wie schon oben bemerkt, setzt er sich aus Oberflächengröße und Gestalt zusammen. Meistens sind diese beiden Faktoren mit dem Vo- lum praktisch eng verknüpft, so dass sie sich alle drei fast stets ge- meinsam ändern. Was den Einfluss der Oberflächengröße anbe- trifft, so ist derselbe bei Betrachtung der Sinkgeschwindigkeit z. B. von feinen, zerriebenen Substanzen oder selbst eines Stückes Bims- steins, aus dem alle Luft vorher entfernt worden ist, dann aber in der Biologie bei Betrachtung der ungeheuren Oberflächenentwicklung z.B. von Kieselalgen, Krebsen (Calocalanus pavo) ete., die Plankton- organismen sind, leicht ersichtlich. Indessen ist der Einfluss der Ober- flächengröße allein wegen ihres außerordentlich verwickelten Verhält- nisses zu den anderen Faktoren, resp. zur Sinkgeschwindigkeit einstweilen so gut wie gar nicht messbar. Höchstens bei sehr ein- fachen, regelmäßigen Formen würde eine zahlenmäßige Beziehung, aber nur mit dem Aufwande eines außerordentlichen, mathematischen Apparates zu erlangen sein. Noch komplizierter, was die Genauigkeit des Vergleiches anbe- trifft, liegen die Verhältnisse bei dem Einfluss der Form auf die Sink- geschwindigkeit. Hier ist vor allen Dingen der Winkel zu berück- sichtigen, unter dem die einzelnen Flächen des sinkenden Körpers zu der senkreehten Richtung der Bewegung resp. des Reibungswider- standes stehen. Denn es ist ja, wie der Augenschein lehrt, durchaus nicht gleichgültig, ob z.B. eine Schwebevorrichtung horizontal oder vertikal ausgestreekt wird. Es ergiebt sich aber leicht, dass die Ar- 4) Landolt-Börnstein: Physikalisch - chemische Tabellen. Zweite Aufl., p. 39. 2) Aus Landolt-Börnstein op. eit. 602 Ostwald, Zur Theorie des Planktons. beit, welche der Reibungswiderstand der Flüssigkeit an dem sinkenden Körper leistet, am größten ist, wenn der Winkel zur Kraftrichtung ein rechter ist, da ja Arbeit = Kraft X Kraftweg x cos des Neigungs- winkels e, cose aber für gewöhnlich ein echter Bruch ist und erst in dieser Lage seinen größten Wert=1 erreicht. Wenn das Uebergewicht, die Oberfläche des sinkenden Körpers und die innere Reibung der Flüssigkeit konstant sind, dann werden wir sagen können, dass die- jenigen Körper im allgemeinen die geringste Sinkgeschwindigkeit haben werden, welche den größten Querschnitt oder die größte Vertikalprojektion besitzen. Es bleibt uns nun drittens übrig, den Einfluss, den wir die innere Reibung der Flüssigkeit genannt haben, näher zu erörtern. Wie schon oben angedeutet wurde, hängt diese Eigenschaft, wenn auch einstweilen noch lange nicht überall gesetzmäßig, von der chemischen Beschaffenheit der betreffenden Flüssigkeit ab. Da wir uns aber nur auf die innere Reibung des Wassers beschränken wollen, so kommen gröbere che- mische Einflüsse auf die innere Reibung der Flüssigkeit nicht in Be- tracht. Das Nächstliegende ist, nachzusehen, ob und in welcher Weise etwa gelöste Stoffe, Salze oder Gase, die innere Reibung beeinflussen. Eine Beeinflussung ist in der That vorhanden, und zwar steigt die innere Reibung ziemlich stark mit zunehmender Konzen- tration der Lösungen. Was den Einfluss von NaCl anbetrifft, so habe ich nur Angaben über verdünnte Lösungen finden können: So ist die innere Reibung einer Normallösung, also einer 5,6prozentigen Kochsalzlösung, wenn wir die innere Reibung des Wassers bei 25° — 1setzen, — 1,0273. Bei höheren Konzentrationen, welchein manchen Seen bis zu 28,8°,, also bis zur Löslichkeitsgrenze des NaCl gehen können, wird sich dieser Einfluss indessen sehr deutlich bemerkbar machen. Um ein Beispiel zu geben, sei hier eine Reihe von Zahlen gegeben, welche das außerordentlich deutliche Wachsen der inneren Reibung einer Rohrzuckerlösung!) mit ihrer Konzentration veranschau- lichen sollen. Die Zahlen gelten, wenn sie auf die innere Reibung von Wasser bei 20’—=1 bezogen werden. 4°, | 1,0245 10°, | 4,3312 20%, | 1,8895 22), | 2,0552 250%, | 2,3497 30°], | 3,0674 Wir sehen, dass die innere Reibung von Rohrzuckerlösungen bei 22°), schon doppelt so groß ist als bei Wasser, und bei 30°, ungefähr dreimal so groß. Aehnliche Verhältnisse werden sich auch bei NaCl- Lösungen finden, müssen indessen noch experimentell festgestellt werden, 1) Landolt-Börnstein op. eit. (Burkhard). Ostwald, Zur Theorie des Planktons. 603 namentlich da eine Berechnung derselben nach der Arrhenius’schen Formel nicht möglich ist, da letztere nur für verdünnte Lösungen gilt. Ebenfalls genauer zu untersuchen sind die Lösungsgemische von ver- schiedenen Salzen, wie sie das Meerwasser bilden ete. — Zahlenmäßige Angaben über den Einfluss der gelösten Gase auf die innere Reibung habe ich überhaupt nicht gefunden. Der Einfluss des Druckes auf die innere Reibung kommt, da es sich hier ja um Wasser handelt, als ganz minimal praktisch nicht in Betracht. Der zweite Faktor indessen, der einen außerordentlichen Einfluss auf die innere Reibung besitzt, ist die Temperatur. Was den Sinn dieser Beeinflussung anbetrifft, so ergiebt sich, dass die innere Reibung abnimmt mit steigender Temperatur. Setzt man die innere Reibung des reinen Wassers bei 0° gleich 100, so beträgt die Abnahme desselben, zunächst für die ersten 30—40 Grade, pro 1° ca. 2—3°%,, d. h. bei 25° ist die innere Reibung gerade halb so groß als bei 0°, oder, falls Uebergewicht und Formwiderstand konstant bleiben: die Sinkgeschwindigkeit ist bei 25° noch einmal so groß als bei 0%. Ge- nau beträgt die innere Reibung des Wassers bei 25° (s. Landolt- Börnstein op. eit) statt 50—=49,9. Für die Temperatur von 40—100° ist die Abnahme der inneren Reibung etwas schwächer, bei 70° z.B. beträgt sie noch 23,5. Wir sehen also, dass gleich dem Gehalte des Wassers an gelösten Stoffen der Temperaturkoöffizient auf die Sink- vorgänge einen ganz beträchtlichen Einfluss besitzt. Nach dieser näheren Ausführung der einzelnen Faktoren der Sink- geschwindigkeit haben wir uns nun zu überlegen, welche Gestalt die Formel für den speziellen Fall annehmen muss, dass ihr Wert sehr klein, die Sinkgeschwindigkeit also gleich einem Minimum, resp. der Sinkvorgang zu einem Schwebevorgang wird. Vebergewicht er Innere Reibung> Oxysoma oberthüri Fvl. in seiner ge- wöhnlichen Haltung (stelzenartiger Gang). Myrmecocystus viaticus mit einem Oxy- soma und zwei Thorictus foreli. Rücken der Ameise reitend, wie Fig.2 zeigt, oder endlich, wie in Fig. 1 an der Unterseite des Wirtes sich festhaltend, was ja bei dem hohen stelzenartigen Gang des Myrmecocystus ohne Gefahr, abgestreift zu werden, geschehen kann. Das Lecken der Oxysomen wurde um so hastiger und gieriger, je mehr Ameisen starben und desto schwächer also die Kolonie wurde. Als anfangs Juni nur noch ganz wenige Ameisen im Nest vorhanden waren, wurden diese von den inzwischen auf zwei reduzierten Oxy- somen ununterbrochen belagert und beschnuppert; sie zeigten dabei, gleichwie hungerige Wölfe, eine unersättliche Gier, und während sie Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. 645 in den guten Zeiten äußerst behäbig und ruhig an ihren Wirten herum- leckten, benahmen sie sich in der jetzigen mageren Zeit äußerst auf- geregt und hastig. Beide Oxysomen starben ziemlich gleichzeitig, in den ersten Junitagen; sie wurden nur von zwei Ameisen überlebt. Bezüglich des sonstigen Benehmens der Oxysomen unter der Ameisengesellschaft ist vor allem zu bemerken, dass sie für gewöhn- lich ein sehr behäbiges und philiströses Benehmen an den Tag legten und sich auch ohne das geringste Zeichen von Aengstlichkeit oder Scheu unter den sonst für die Insekten so gefährlichen Myrmecocystus herumtrieben, wodurch sie sehr an Lomechusa strumosa erinnerten. — Auffallend ist auch ihr hoher, stelzenartiger Gang, welcher gleichsam eine Kopie der Gangart der Wirtsameise darstellt; auch das Abdomen des Käfers ist gewöhnlich aufgerichtet (s. Fig. 3), entweder mehr oder weniger senkrecht oder auch, besonders bei Berührung durch eine Ameise, stark nach vorne übergeneigt, so dass die Spitze des Abdomens sogar manchmal den Kopf berührt. Einen Fühlerverkehr in dem Sinne, wie ihn z. B. Atemeles und andere Symphilen mit ihren Wirten zeigen, scheint Oxysoma mit Myrmecocystus nicht zu unterhalten. Man kann zwar die Oxysomen häufig mit ihren Fühlern auf den Ameisen herumtasten sehen, doch geschieht dies sichtlich nur zum Zweck der Untersuchung (d. h. ob und wo es etwas zu lecken giebt), nicht aber zum Zwecke der Ver- ständigung und Unterhaltung mit den Ameisen, um sie etwa zur Fütte- rung aufzufordern oder sie in der feindlichen Haltung zu beruhigen, wie es bei Atemeles und anderen der Fall ist. Dazu fehlen bei Oxy- soma vor allem die für die Fühlersprache so charakteristischen trillern- den Bewegungen. Sehr häufig konnte ich unsere interessanten Gäste bei ihrer Toi- lette beobachten, bei welcher sie sehr gründlich zu Werke gingen; sie zogen dabei gewöhnlich zuerst ihre Vorderbeine einigemale durch die Kiefer, und nachdem diese so gereinigt waren, griffen sie mit den- selben, zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen, über den ent- sprechenden Fühler, um ihn herunterzudrücken und ebenfalls mehrmals durch die Kiefer gleiten zu lassen. Die Oxysomen scheinen zeitweise auch der Ruhe zu bedürfen; denn wenn, was nicht selten der Fall war, die ganze Ameisengesellschaft im Nest wie erstarrt, vollkommen regungslos dasaß!), so beteiligten sich auch die Oxysomen an diesem „allgemeinen Schlaf“. Sie saßen dann entweder mitten unter den klumpenweise beieinanderhockenden Ameisen, oder aueh direkt unter einzeln ruhenden Individuen, meist das Abdomen 1) Aehnliche Ruhezustände ganzer Ameisengesellschaften beobachtete Adele M. Fielde in den Nestern einer Aphaenogasterart. Ueber die Be- deutung dieser „Versammlungen“ lässt sieh die Autorin nicht näher aus. 49% En b44 Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. steil aufwärts gerichtet. Ameise wie Käfer blieben in dieser Stellung oft 10 Minuten oder auch länger wie versteinert sitzen, ohne ein Glied, ja nicht einmal die Fühler zu rühren. Um nun auf das Benehmen der Ameisen gegen ihre Gäste zu kommen, so ist darüber wenig zu berichten. Von einer feindlichen Haltung kann jedenfalls nicht gesprochen werden; denn die Ameisen greifen niemals ein zu ihrem Neste gehöriges Oxysoma an, noch auch machen sie beim Begegnen die geringste feindliche Miene, sondern lassen ihre gewaltigen Kiefer, welche sie sonst beim Berühren von Feinden sofort reflektorisch weit aufsperren, hier ruhig geschlossen. Auf der anderen Seite kann aber ebensowenig von einer auffallend freundlichen Aufnahme oder besonderen Freundschaftsbeweisen die Rede sein. Die Ameisen kümmern sich vielmehr ziemlich wenig um den Staphylinen und scheinen denselben nicht mehr und nicht weniger Aufmerksamkeit zu widmen, wie ihren eigenen Kameraden. Auch während des Beleckens durch die Käfer benehmen sie sich normaler- weise genau so, wie wenn sie von einer ihrer Genossinnen geputzt würden, d. h. sie halten sich dabei ganz still und ducken sich bis- weilen, indem sie ihre langen Beine einziehen, noch etwas nieder, um so ihren Reinigern die Arbeit zu erleichtern. Dass aber die Ameisen ihre Gäste beleekt oder gar aus ihrem Munde gefüttert hätten, konnte ich trotz der langen und oftmaligen Beobachtung auch nicht ein ein- ziges Mal sehen, so dass wir wohl als sicher annehmen dürfen, dass derartige Beziehungen überhaupt nicht bestehen. Wenn wir uns nun fragen, welcher Art das Verhältnis zwischen Myrmecoeystus und Oxysoma ist, auf welcher Grundlage es beruht, so ist die Antwort darauf nicht so einfach und leicht wie in so vielen anderen Fällen zu geben. Wasmann hat uns gezeigt (12), dass die verschiedenen Kategorien von Ameisengästen nicht nur biologisch, sondern auch morphologisch sich voneinander unterscheiden und zwar durch die verschiedenen Anpassungscharaktere. Wenden wir nun zu- nächst dieses morphologische Kriterium für unseren Fall an, so dürfen wir Oxysoma wohl als einen „echten Gast“ oder Symphilen bezeichnen. Denn wenn es auch die eigentlichen Symphilieorgane, die Trichome, nur in geringer Ausbildung (an der Hinterleibspitze!) besitzt, so deuten doch andere Merkmale mit Sicherheit auf eine symphile Lebensweise, so der eigentümliche Fettglanz, welcher die ganze Oberfläche bedeckt, und vor allem die Bildung der Mundteile. — Die Zunge des Oxysoma ist nämlich stark verkürzt und verbreitert!) (s. Fig. 4a), was nach Wasmann darauf hindeutet, dass der Käfer aus dem Munde der 4) Herr Wasmann hatte die Güte, mir ein Photogramm von der Zunge einer anderen Art (Ox. Schaumi Kr.) zu übersenden, welches mit obiger Ab- bildung vollkommen übereinstimmt. Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. 645 Ameisen gefüttert wird. Die Zungenbildung ist sogar als eines der sichersten morphologischen Kriterien der Symphilie anzusehen, so zwar, dass man aus dem Grade der Verbreiterung der Zunge ziemlich sicher auf den Grad der Freundschaft und der Abhängigkeit des Gastes vom Wirt schließen kann. Die Oxysoma-Zunge stimmt nun fast vollkommen mit der Zunge von Atemeles paradoxus überein (s. Fig. 45). Da aber Oxysoma und Atemeles im übrigen keine näheren verwandtschaftlichen Beziehungen miteinander aufweisen, sondern Oxysoma durch seine fünfgliederigen Kiefertaster und viergliederigen Lippentaster vielmehr mit Aleochara verwandt ist, so muss, wie auch Wasmann mir schrieb, die überein- stimmende Zungenform als durch biologische Ursachen bedingte Kon- vergenz mit Atemeles aufgefasst werden, zumal die Aleochara-Zunge viel schmäler und tief zweispaltig (ähnlich wie bei Myrmedonia) (s. Fig. 4c) ist. Wir sollten also annehmen, dass Oxysoma und Ate- Fig. 4. a. b. c. Unterlippe verschiedener Staphylinen; a von Oxysoma escherichi Fvl. b von Atemeles paradoxus Grv., ce von Myrmidonia funesta (bu. c nach Wasmann). meles biologisch sich ähnlich ;verhielten, d. h. dass sie ähnliche Be- ziehungen zu ihren Wirtsameisen erkennen ließen. Dem ist aber nicht so; denn wir wissen durch Wasmann (13), dass Atemeles ein sehr intimes Gastverhältnis mit seinen Wirten unter- hält, indem er diese durch „trillernde“ Fühlerschläge sehr häufig zur Fütterung auffordert und daraufhin auch wirklich Nahrung von den Ameisen erhält; ferner wird er von diesen auch häufig an den Trichom- büscheln belekt. Atemeles kann zwar auch selbständig Nahrung zu sich nehmen, trotzdem aber hängt sein Gedeihen von der Fütterung durch die Ameisen ab, insofern als er, allein gehalten, bald zu Grunde geht. Ganz anders aber unsere Oxysoma! Niemals fordert dieses seine Wirte zur Fütteruug auf, und niemals erhält es aus deren Munde Nahrung!) Andererseits ist allerdings auch Oxysoma von den Ameisen 4) Einmal beobachtete ich einen Vorgang, der einer Fütterung ähnlich sah: ein Oxysoma drängte sich zwischen zwei sich fütternde Arbeiterinnen und machte sich in der Nähe derer Mundwerkzeuge zu schaffen. Eine genaue Beobachtung mit der Lupe überzeugte mich aber, dass der Käfer nicht etwa 646 Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. abhängig, da es ohne solche nicht länger leben kann und ebenso wie Atemeles bald eingeht. Damit kommen wir nun zur Frage, wovon denn eigentlich Oxysoma lebt? Dass es von der den Ameisen vorgesetzten Nahrung (Fleischstückchen, Zucker etc.) etwas genossen hätte, konnte ich eben- sowenig beobachten, als dass es etwa an der Brut (Larven) gefressen hätte, und da es auch nicht von den Ameisen gefüttert wird, bleibt uns als einziger Ausweg nur die Annahme offen, dass der Käfer seinen ganzen Unterhalt durch das Lecken von den Ameisen er- hält. Dafür liegen auch positive Anhaltspunkte vor, so vor allem die Gier und die Häufigkeit des Leckens, worin ja die Hauptbeschäf- tigung des Käfers besteht, ferner der Umstand, dass mit der Abnahme der Ameisen das Lecken immer wilder und hastiger wurde und dass schließlieh der Tod der Gäste mit dem Ende der Ameisenkolonie ziem- lich genau zusammenfiel. — Ueber die Nahrung selbst können wir natürlich nur Vermutungen äußern; jedoch dürften wir kaum fehlgehen, wenn wir dieselbe in den Produkten der zahlreichen Haut- drüsen der Ameisen (efr. Janet 10,11), also in Exkreten er- blicken. Diese treten aber nicht etwa als sichtbare Tröpfehen aus, sondern müssen in einer äußerst dünnen Verteilung die Oberfläche der Ameisen überziehen, was schon daraus hervorgeht, dass Oxysoma das Lecken so häufig ausübt und auch immer über eine größere Anzahl von Ameisen ausdehnt. Jedenfalls reichen also die von einer einzigen Ameise ausgeschiedenen Nährstoffe bei weitem nicht aus, die Bedürf- nisse eines Oxysoma zu befriedigen, wie denn auch die beiden Käfer unseres Nestes schon starben (verhungerten), als noch zwei Ameisen der Kolonie lebten. Uebrigens steht die Nahrungsaufnahme der Oxysoma nicht ganz vereinzelt da, sondern es wurden erst kürzlich ganz ähnliche Verhält- nisse von den Ameisengrillen (Myrmecophila) mitgeteilt. Nach den Beobachtungen von Wasmann (18) und Wheeler (21) dürfte nämlich die normale Nahrung dieser kleinen Grillen ebenfalls in Hautdrüsen- sekreten ihrer Wirtsameisen bestehen, da Myrmecophila wie Oxysoma die Ameisen beschnuppert und beleckt, und da ferner Wheeler in dem Darme einer solchen Oelkügelehen und eine körnige, weiße Sub- stanz, welche sehr wohl den Produkten der Janet’schen Hautdrüsen entsprechen könnten, fand. Wasmann hält es übrigens nicht für aus- geschlossen, dass Myrmecophila außerdem noch mikroskopisch kleine Milben (Hypopen von Tyroglyphus), welche oft in beträchtlicher An- mitgefüttert wurde, sondern dass er einfach die Unterseite der beiden Ameisen- köpfe beleckte. Da ich dies nur ein einziges Mal sah, so wird es sich wohl auch nur um ein zufälliges Zusammentreffen der gegenseitigen Ameisenfütterung und Oxysoma-Beleckung gehandelt haben. Kerr Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. 647 zahl am Hinterleib und an den Extremitäten der Ameisen sitzen, ver- zehren. Außer der Art der Nahrungsaufnahme bestehen aber zwischen Oxysoma und Myrmecophila wenig Analogien; vor allem fehlen bei letzterer die verschiedenen symphilen Anpassungscharaktere, die wir bei ersterem kennen gelernt haben. Demnach müssen wir für beide Fälle auch einen ganz verschiedenen Weg der Ausbildung, eine ganz ver- schiedene Entstehungsweise annehmen: bei Myrmecophila hat sich das geschilderte Verhältnis zweifellos aus einer Synechthrie entwickelt, die ihrerseits wiederum in dem Sprungvermögen und der großen Ge- wandtheit, kurz der Unerwischbarkeit, begründet gewesen sein dürfte; bei Oxysoma dagegen muss die Grundlage zu den jetzigen Beziehungen entschieden in einem „echten Gastverhältnis“ gelegen sein; denn nur so werden diesymphilen Anpassungscharaktere und das sichere behäbige Be- nehmen unseres Staphylinen unter den Ameisen verständlich. Da nun aber heute die hauptsächlichsten biologischen Eigentümlichkeiten der Symphilie nicht mehr deutlich zu beobachten sind, so muss nachträglich eine Aenderung der Beziehungen stattgefunden haben. — Wir müssen uns etwa vorstellen, dass erst, nachdem Myrmecoeystus mit Oxysoma Freundschaft geschlossen hatte, letzteres durch den intimen Verkehr mit jenem dessen angenehmes Sekret entdeckte, wodurch dann der Anstoß zur Ausbildung des oben geschilderten Beleckungsinstinktes von Oxysoma gegeben war. Für die Ameisen musste diese Aenderung nur vorteilhaft gewesen sein; denn einmal wurde ihnen dadurch das Geschäft der gegenseitigen Reinigung durch Oxysoma abgenommen oder wenigstens sehr erleichtert, sodann brauchten jetzt die Ameisen ihre Gäste nicht mehr zu füttern, was nach der Zungenbildung höchstwahrscheinlich früher wenigstens gelegentlich geschah, und endlich verließen die Oxysomen damit ihre ursprünglich sicherlich räuberische (carnivore) Lebensweise (Brut- parasitismus?). — Die Vorteile, welche andererseits Oxysoma durch seinen Aufenthalt in den Myrmecoeystus-Kolonien genießt, bestehen darin, dass ihm von den Ameisen Nahrung, Wohnung und Schutz in reichlichem Maße geboten wird. Wir haben hier, im Gegensatz zu den meisten übrigen Symphilen!) ein auf wirklichen gegenseitigen Dienstleistungen beruhendes Verhältnis vor uns. Es liegt aber auf der Hand, dass die Vorteile, welche Oxysoma von den Ameisen zieht, ungleich größer sind als diejenigen, welche die Ameisen von Oxysoma 4) Wenn ich sage, „im Gegensatz zu den übrigen Symphilen“, so thue ich dies deshalb, weil ich in der Darreichung von angenehmen Ausscheidungen durch die „echten Gäste“ keinen wirklichen, den Ameisen zum Nutzen ge- reichenden Dienst, sondern, anthropomorphisch ausgedrückt, nur einen Akt der Heuchelei erblicken kann. 648 Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. erhalten, was auch darin seinen Ausdruck findet, dass die Ameise recht wohl ohne Oxysoma, nicht aber umgekehrt Oxysoma ohne Ameisen zu leben vermögen. Aus diesem Grunde dürfen wir die Myrmecocystus- Oxysoma-Gesellschaft nicht ohne Einschränkung, kurzweg als Sym- biose s. str. bezeichnen, da doch eine solche die dauernde Verbindung zweier Organismen zu gegenseitiger Förderung in wichtigen Lebens- funktionen und also ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhält- nis bedeutet. Bevor ich das Oxysoma verlasse, möchte ich noch einige Bemer- kungen über die „internationalen Beziehungen“ dieses Käfers und über die geographische Verbreitung der Gattung machen. — Außer den vier Oxysoma oberthüri, welche den eben mitgeteilten Beobachtungen zu Grunde lagen, traf ich noch einmal ein Exemplar dieses seltenen Gastes in einem anderen Nest des genannten Myrmecocystus, welches in ziemlich festem Boden bei der Oase Beni Mura angelegt war. — Ich setzte dieses Exemplar in das alte Beobachtungsnest und bemerkte nun sofort, dass es sich recht unbehaglich und ängstlich in demselben fühlte; es suchte stets den Ameisen auszuweichen und überhaupt der Gesellschaft zu entkommen. Auch die Ameisen benahmen sich gegen den Fremdling lange nicht so harmlos wie gegen die übrigen recht- mäßigen Gäste, sondern bekundeten eine deutlich feindliche Gesinnung gegen ihn, indem sie nämlich beim Zusammentreffen mit ihm ihre Kiefer sofort weit aufrissen. Am nächsten Tag lag denn auch der Neuling total verstümmelt und tot im Nest! — Nicht viel besser ging es einem Exemplare der zweiten Oxysoma-Art von Biskra (Oxysoma escherichi Fvl.), welche ich bei Myrmecocystus viaticus var. diehlü Forel entdeckte. Auch dieses Tier wurde, in das obige Nest gesetzt, sofort von den Besitzern desselben überfallen und würde wohl in kürzester Zeit ebenfalls verstümmelt worden sein, wenn ich es nicht durch Herausnahme davor bewahrt hätte. Viele bestimmte Schlüsse lassen sich natürlich aus diesen wenigen Beobachtungen nicht ziehen, doch können wir wenigstens soviel daraus lesen, dass — was wir oben schon aus anderen Gründen annahmen — Oxysoma nicht etwa wegen seiner „Unerwischbarkeit* von den Ameisen geduldet wird, noch auch als „indifferenter Gast“ sich bei ihnen herumtreibt, sondern dass es vielmehr als wirkliches Mitglied bestimmter Ameisenkolonien zu betrachten ist. Was nun endlich die geographische Verbreitung der Oxysomen betrifft, so sind diese spezifisch mediterrane Formen. Ihre eigentliche Heimat ist zweifellos die Berberei, da hier die meisten (vier) Arten auftreten; von hier aus erstreckt sich ihr Verbreitungsgebiet bis nach dem äußersten Osten des mediterranen Faunenbezirkes, dem Kaukasus, wo zwei Arten bekannt sind, während in Europa bis jetzt nur eine einzige Art (Ox. lepismiforme Heyd in Portugal) konstatiert wurde. Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. 649 — Dieses geographische Verhalten deckt sich ziemlich genau mit dem der Wirtsgattung Myrmecocystus, deren Verteilung über das mediterrane Faunengebiet auch numerisch ein ganz ähnliches Bild aufweist. Können wir schon aus dieser Parallele schließen, dass die Oxysomen auf Myrmecocystus angewiesen sind, so wird dies auch dadurch bestätigt, dass in der That alle Oxysomen bis jetzt nur bei Myrmecocystus ge- funden wurden. Die Oxysomen sind also reine Myrmecocystus-Gäste, d. h. sie sind speziell den morphologischen und biologischen Eigen- tümlichkeiten der Gattung Myrmecocystus angepasst. 2. Ueber Thorictus foreli Wasmann. Thorictus foreli Wasm. ist in kurzer Zeit eine Berühmtheit unter den Ameisengästen geworden. Zeichnet er sich doch auch vor allen übrigen Myrmekophilen durch eine sehr auffallende Gewohnheit aus, nämlich dadurch, dass er die meiste Zeit seines Lebens an dem Fühler- schaft seiner Wirtsameise zubringt, oder dass er, wie Wasmann sagt, „antennophil“ ist. A. Forel($) hat dieses interessante Verhältnis in Tunis (1889) entdeckt und (1893) in Oran wieder beobachtet. Mir selbst (3) gelang es (1898) in Oran eine größere Anzahl des genannten Käfers mit seinen Wirten zu bekommen und sie längere Zeit im künstlichen Nest zu studieren. Ich konnte Forel’s Angaben im allgemeinen be- stätigen und unsere Kenntnisse in einigen Punkten erweitern, indem ich feststellte, dass der Käfer von seinen Wirten nicht selten beleckt und ferner auch herumgetragen wird, bei welchem Transport er den Fühlerschaft der Ameise erklettert, um sich daran anzuklammern. Daraus ging also hervor, dass unser Thorictus ein „echter Gast“ ist, der von Myrmecocystus als Freund aufgenommen wird. Die Frage, warum eigentlich der Käfer sich stets an dem Fühler anklammert, glaubte ich dahin beantworten zu müssen, dass er dies lediglich zum Zweck eines gesicherten Transportes bei Umzügen der flinken Ameise thut. Ziemlich gleichzeitig erschien eine Arbeit von Wasmann (16), in welcher bezüglich des letzten Punktes eine ganz andere Ansicht ver- treten wird. Wasmann nimmt nämlich an, dass Thorietus die Ameisenfühler ansteche, um die austretende Blutflüssigkeit auf- zulecken und also im wahren Sinne ein Ektoparasit des Myrme- cocystus sei. Hauptsächlich führte ihn der Umstand zu seiner Annahme, dass Thorictus seinen normalen Aufenthalt an dem Fühlerschaft hat; ferner sprächen auch die morphologischen Anpassungscharaktere (Aus- schnitt des Kopfschildes, Reduktion der Unterlippe) für die parasitäre Natur des Käfers, und endlich glaubte er auch Bohrlöcher in dem Fühlerschaft der befallenen Ameisen gefunden zu haben. In diesem Jahr nahm ich nun in Biskra das Studium des selt- samen Ameisengastes wieder auf. In dem alten Dorfe Biskra fand H50 Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. ich in einem am Wegrand gelegenen großen Myrmecocystus viaticus- Nest gegen 20 Thorictus in der charakteristischen Stellung auf den Ameisenfühlern. Ich zwingerte dieselben mit einer reichlichen Zahl Ameisen, ausschließlich Arbeiterinnen, in ein geräumiges Glasnest ein und beobachtete in demselben zunächst nichts neues. Die Ameisen dieser Kolonie gingen auch auffallend schnell zu Grunde, und so setzte ich die Thorictus in das obige Oxysoma-Nest, welches außer den Arbeitern auch einige Weibchen und Männchen und ziemlich viel Puppen enthielt. Die Ameisen schienen durch die vielen Fremdlinge keineswegs irgendwie beunruhigt zu sein, und ebenso fühlten sich auch die T’horictus ganz wohl und sicher bei den neuen Wirten. Denn sie liefen sofort ohne Scheu in ihrer etwas unbeholfenen Manier im Nest herum und suchten bald mit Vorliebe die Kokons auf, dieselben zu erklettern. Oben angekommen, verhielten sie sich abwechselnd ruhig oder liefen, wie ungeduldig, des öfteren von dem einen Ende der Puppe zum an- deren. Bald wurde mir klar, was die kleinen Käfer hier oben suchten. — Die Kokons werden nämlich, nicht nur bei Störungen, sondern auch bei ganz ruhigen Zeiten, sehr oft von den Ameisen im Nest herum- transportiert. Sowie nun eine Arbeiterin sich einem Kokon, auf welchem ein Thorictus Platz genommen, nähert, so ergreift den Käfer eine große Unruhe; er nimmt gewissermaßen eine aufmerksame, gespannte Hal- tung ein, und kaum hat die Ameise ihre Mandibeln an den Kokon an- gesetzt, um ihn zu tragen, so läuft er auf die Trägerin zu, kriecht schnell an dem Kopf zu einem der Fühler hinauf und klammert sich in der bekannten Weise an ihm fest. In dem Moment zuckt die Ameise heftig zusammen, lässt den Kokons sofort fallen und versucht auf alle mögliche Weise die unbequeme Last von den Fühlern abzustreifen, was von Wasmann und mir selbst bereits eingehend geschildert wurde. Aber nicht nur auf diese Art suchten die Thorictus unseres Nestes auf ihre Wirte zu gelangen, sondern sie schlichen sich oft auch an ruhende Ameisen heran, um so direkt den Fühler zu erklettern. Wollte es nun aber den Käfern gar nicht gelingen, an dem Fühlerschaft der Ameisen festen Halt zu bekommen, so versuchten sie ihr Glück an irgend einer anderen Extremität, und so sah ich nicht selten einen der Gäste an den Tarsen oder Tibien angeklammert (vergl. Fig. 2). Trotz dieser recht unbequemen Situation hielten die Thorictus oft ziemlich lange hier aus, meistens mehrere Stunden, einmal sogar über einen Tag. Die Ameisen schien diese Last wenig zu genieren, denn sie liefen ebenso flink wie vordem im Nest herum. — Auch an der Fühlergeißel sah ich einmal einen Thorictus sitzen; er klammerte, sich an derselben fest in dem Moment, als die Ameise ihn damit betastete. Eine Auswahl unter den einzelnen Ständen und Individuen der Ameisen wurde von seiten des Thorictus nicht getroffen; es schien ihm ganz gleichgültig zu sein, ob er auf ein Weibehen, ein Männchen, Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. 651 oder eine kleine oder große Arbeiterin gelangte. Seine einzige Sorge bestand darin, überhaupt auf einen Ameisenfühler zu kommen. Ge- wöhnlich ward eine Ameise nur von einem 7horictus befallen, nicht selten aber auch von zwei und sogar drei Individuen, und zwar in der Verteilung, wie ich sie in meiner ersten Arbeit beschrieben und abgebildet habe. Je mehr nun die Zahl der Ameisen abnahm, desto aufdringlicher wurden die T%horictus und desto zahlreicher wurden diese doppelten und dreifachen Besetzungen, desto zahlreicher auch die anormalen Sitze. Als ganz vereinzelt möchte ich hier noch den Fall anführen, dass ein Thorictus an den Kiefertastern einer Arbeiterin festen Halt gefasst und beinahe einen ganzen Tax hier verweilt hat. Ja, noch tollere Streiche kann ein Thorictus in seiner Verzweiflung machen; so sah ich einmal zu der Zeit, da die Kolonie schon arg zu- sammengeschrumpft war, einen solehen an den Tastern eines Oxysoma festgeklammert. Uebrigens waren keineswegs immer alle Thorictus an ihren Wirten festgeklammert, sondern man konnte oft einige Individuen frei im Nest herumlaufen oder an Ameisenleichen schnuppern sehen. Auch an ruhenden oder an frisch geschlüpften, noch weichen und hilflosen Ameisen beobachtete ich manchmal 7horictus herumklettern und da und dort daran lecken. Bezüglich des Benehmens der Ameisen gegen Thorictus ist das- selbe zu sagen wie oben bei Oxysoma; die Ameisen kümmerten sich fast gar nicht um die Käfer, legten aber auch keineswegs feindliche Gesinnung oder Misstrauen gegen sie an den Tag. Nur wenn Thorictus sich den Fühlern näherte, wurde die Ameise beunruhigt und suchte Reißaus zu nehmen; sonst konnten die Käfer thun was sie wollten, und konnten auch auf den Ameisen herumklettern, ohne von ihnen gestört oder daran gehindert zu werden. — Besondere Freundschafts- dienste aber wurden den Thorictus in unserem Neste von ihren Wirten nicht erwiesen, vor allem wurden sie nicht etwa beleckt, noch auch von ihnen herumtransportiert. Das Bild, das hier von den Beziehungen zwischen Myrmecocystus und Thorictus entworfen wurde, weicht in nicht wenig Punkten von dem früher von mir gegebenen ab. Dort repräsentierte sich Thorzetus deutlich als ein Symphile, der von den Wirten beleckt und ver- schiedentlich transportiert wird, hier dagegen sehen wir nichts von derartigen Freundschaftshandlungen, sondern finden die Ameisen meistens passiv gegen ihre Gäste sich verhalten. Dementsprechend ist auch die Art und Weise, wie Thorietus auf den Fühlerschaft der Ameise gelangt, in beiden Fällen eine andere: dort besteigt er während des Transportes durch die Ameisen von deren Mandibeln aus den Fühlerschaft, hier dagegen erklettert er die Fühler gewöhnlich von 652 Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. einem Kokon aus, welcher gerade von einer Ameise getragen wird. Der Käfer zeigt also im letzteren Fall eine größere Selbständigkeit als im ersteren. Wenn wir nach den Gründen dieser doch ziemlich erheblichen Unterschiede fragen, so dürften diese zweifellos in der ungleichen Ver- fassung, in der sich die beiden Myrmecocystus-Kolonien befanden, zu suchen sein. Im ersten Nest (aus Oran) war nämlich nur ein Weibchen außer den Arbeiterinnen vorhanden und keine Larven und Puppen, während das letzte (aus Biskra) mehrere Weibchen, ea. 10 Männchen und eine Menge größerer und kleinerer Larven und Puppen enthielt. Hier hatten die Arbeiter vollauf zu thun mit der Pflege der Weibehen und der Brut, welche sie denn auch fortwährend beleckten, fütterten und herumtrugen; dort dagegen gab es keine Larven und Puppen, an welchen sie ihren Brutpflegetrieb befriedigen konnten, und so wandten sie sich eben den Zhorictus zu, welche ihnen einen, wenn auch minder- wertigen Ersatz für die fehlende Brut darboten. Berücksichtigen wir nun zunächst das in vorliegender Mitteilung entworfene Bild von dem Leben des Thorictus, so dürfte wohl eine gewisse Aehnlichkeit desselben mit dem der Oxysoma-Biologie nicht zu leugnen sein. Hier wie dort handelt es sich um Gäste, die sich ihren Wirten gegenüber äußerst aufdringlich benehmen, an ihnen herumklettern, sie beschnuppern und sich an ihnen festzuhalten ver- suchen. Dieser grundsätzlichen Uebereinstimmung gegenüber bestehen andererseits auch manche Unterschiede zwischen beiden. Während nämlich Oxysoma für gewöhnlich frei an den Ameisen sitzt, um sie zu belecken und sich nur unter besonderen Umständen an seinem Wirte festklammert und sich von ihm mitschleppen lässt, hat Thorictus seinen normalen Aufenthalt auf der Ameise. — Und während ferner Oxysoma keine Prädilektionsstelle am Körper seines Wirtes hat, sondern sich einfach da festhält, wo es gerade sitzt und es ihm am besten gelingt, so nimmt Thorictus normalerweise einen ganz bestimmten Platz (Fühler- schaft) auf der Ameise und auch eine ganz bestimmte Stellung ein und klammert sich nur in außerordentlichen Fällen an anderen Ex- tremitäten seines Wirtes fest. Eine prinzipielle Bedeutung dürfte aber diesen Differenzen nicht beizulegen sein, sondern dieselben dürften vielmehr in der verschiedenen Größe und Gestalt von Thorictus und Oxysoma begründet sein. — Jedenfalls treten diese Unterschiede zurück gegen den Umstand, dass beide sich die meiste Zeit ihres Lebens an oder auf der Wirtsameise aufhalten; denn dies deutet bestimmt darauf hin, dass beide auch ihre normale Nahrung von der Ameise beziehen. Nachdem nun für Oxysoma gezeigt ist, dass es sich von den Exkreten der über die ganze Oberfläche zerstreuten Hautdrüsen nährt, so müssen wir bezüglich der Nahrung des Thorictus eben- falls in erster Linie an solche Ausseheidungen denken. Da- Escherich, Biologische Studien über algerische Myrınekophilen. 653 für würde auch der Umstand sprechen, dass Thorictus mehrfach an ruhenden und frisch geschlüpften Ameisen „schnuppernd“ beobachtet wurde. Da es aber den kleinen, unbeholfenen runden Käfern mit den kurzen Beinen schwerlich gelingen dürfte, sich überall am Körper der Ameise festzuhalten (wie Oxysoma), so sind sie auf deren dünne Ex- tremitäten angewiesen, an welchen sie sich mit den Mandibeln gut festklammern können. An den Beinen ist aber der Sitz, wie wir oben gesehen haben, ein recht unbequemer und unruhiger, und so bleibt ihnen als sicherster und ruhigster Platz auf der Ameise nur der Fühler- schaft übrig. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint das Verhältnis der T%o- rietus foreli zu Myrmecocystus nicht mehr so unverständlich und so vereinzelt wie früher, da wir jetzt in O.xysoma eine biologische Zwischen- form kennen gelernt haben. Was bei Oxysoma nur unter besonderen Umständen geschieht, ist bei Thorictus zur Regel geworden! Ich stehe jetzt natürlich auch nicht mehr an, die früher von mir aufgestellte „Lransporthypothese“ fallen zu lassen und mich der Wasman n’schen Ansicht anzuschließen, wonach also Thorictus lediglich zum Zwecke der Nahrungsaufnahme an dem Fühlerschaft der Ameise sich aufhält. Nur darüber, ob die Nahrung nur in Ausscheidungen der Ameisen besteht oder ob Thorictus die Fühler auch noch ansticht, um ihnen Blut ab- zuzapfen, möchte ich mich noch nicht bestimmt aussprechen. An und für sich würde ja eine solche Gewohnheit im Anschluss an den Be- leckungsinstinkt sich recht wohl haben ausbilden können, doch möchte ich vorerst noch daran zweifeln, vor allem deshalb, weil bei Thorictus die für die blutsaugenden Ektoparasiten so charakteristische Um- bildung der Mundgliedmaßen fehlt. Die von Wasmann (17) vorge- brachten Anpassungserscheinungen an den Ektoparasitismus können auch anders gedeutet werden; denn dass die innere Lade der Unter- kiefer etwas länger und spitzer sind als bei dem nieht antennophilen Thorictus mauritanicus, ist doch kein Beweis für den Parasitismus, zumal bevor nicht alle übrigen Thorictus in dieser Hinsicht untersucht sind; der Ausschnitt des Kopfschildes ferner ist lediglich eine An- passung an die „antennophile“ Eigenschaft und hat mit einem Para- sitismus an und für sich nichts zu thun; und dasselbe kann endlich auch für den Ausschnitt am Vorderrande der Kinnplatte gelten. — Ich habe mir manche Mühe gegeben, die Frage eventuell experimentell (durch Injektionen) zu entscheiden, doch kam ich damit zu keinem bestimmten Resultat. Auch konnte ich nirgends Bohrlöcher in den Antennen feststellen, was um so auffallender ist, als die Löcher ent- sprechend dem angeblichen Bohrer (Unterkiefer) keineswegs so klein sein könnten, dass man sie so leicht übersehen kann. Nach alledem möchte ich den fraglichen Thorictus heute noch nicht ohne weiteres als blutsaugenden Ektoparasiten hinstellen; aber selbst, wenn er das 654 Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. auch nicht ist, fällt er den Ameisen doch schon durch seinen Sitz an den Fühlern recht lästig, so dass er also in dieser Beziehung auf jeden Fall sich unvorteilhaft von Oxysoma unterscheidet. Ziehen wir nun zum Schlusse die Beobachtungen heran, welche ich 1898 in Oran an unserem Thorictus gemacht habe, so lernten wir denselben dort als einen „echten Gast“ kennen. Die antennophile Eigen- schaft desselben muss sich demnach zweifellos erst sekundär, und zwar auf Grundlage der Symphilie herausgebildet haben, so dass also auch hierin, d.h. bezüglich des Entwieklungsganges zwischen Oxysoma und Thorictus eine UVebereinstimmung herrscht. Nur konnte bei Thorictus die Symphilie durch direkte Beobachtung festgestellt werden, bei O.xy- soma dagegen schließen wir dieselbe aus den Anpassungscharakteren; doch werden vielleicht auch hier noch symphile Beziehungen zu beob- achten sein, wenn die Wirtsameisen der Larven und Puppen, an welchen sie ihren Pflegetrieb befriedigen können, entbehren. 3. Ueber die Entstehung und die Bedeutung der Symphilie. Wenn wir versuchen, den Werdegang der myrmekophilen Lebens- weise der beiden eben besprochenen Käfer zu analysieren, so wollen wir zunächst davon ausgehen, welche Bedeutung letztere gegenwärtig für ihre Wirte besitzen. — Wie wir aus obigem ersahen, ist diese recht verschieden: denn Oxysoma ist den Ameisen wirklich nützlich, indem es das Reinigungsgeschäft, das sonst den Arbeitern obliegt, ausübt, Thorictus dagegen fällt ihnen zum mindesten recht lästig oder ist ihnen sogar direkt schädlich, wenn sich nämlich Wasmann’s Ansicht be- wahrheiten sollte. Ersteres Verhältnis nähert sich also der Symbiose s. str., letzteres dem Parasitismus, wenn anders es nicht sogar gleich- bedeutend mit wirklichem Ektoparasitismus ist. Trotz dieser Verschiedenheiten ist die Grundlage, auf welcher beide Verhältnisse beruhen, die gleiche, d.h. sie besteht, wie wir oben gesehen haben, in der Symphilie. Gehen wir nun weiter zurück und fragen uns, wie dieses „echte Gastverhältnis“ bei beiden wohl ent- stehen konnte, so müssen wir notwendigerweise verschiedene Wege für beide annehmen; denn die freilebenden Verwandten von Oxysoma sind räuberischer Natur und machen auf kleine Insekten oder deren Larven Jagd, während die Thorietiden wie ihre nächsten Verwandten, die Histeriden, von toten und faulenden Substanzen, meistens von tierischen Leichen sich nähren. — Oxysoma wird also die erste Be- kanntschaft von Myrmecocystus auf seinen Raubzügen gemacht haben, Thorictus dagegen mehr als harmloser Bettler oder Dieb, der nur von den Abfällen des reichlichen Tisches der Ameisen oder von den Ameisenleichen profitieren wollte. Ersteren wird es wohl durch Schlauheit oder Gewandtheit gelungen sein, den Angriffen der gefähr- lichen Hausbesitzer zu entgehen, letztere dagegen waren von vorn- Daran), Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. 655 herein schon durch ihre runde, glatte Gestalt einigermaßen wenigstens gegen die Ameisenkiefer geschützt und werden übrigens den Ver- folgungen auch nicht in dem Maße ausgesetzt gewesen sein wie Oxy- soma. Trotzdem musste es für beide Käfer zur Erreichung ihres Zweckes vorteilhaft gewesen sein, einen größeren Schutz und eine größere Sicherheit den Ameisen gegenüber zu erlangen. Dieses wurde ihnen nun dadurch gegeben, dass sich Drüsen bei ihnen ausbildeten, deren Sekret die angreifenden Ameisen angenehm berührte und sie in ihrer feindlichen Gesinnung besänftigte und beruhigte. Die Entstehung soleher Drüsen kann sehr wohl durch Naturzüchtung verständlich werden, da wir ja wissen, wie reich viele Insekten an Hautdrüsen sind und es daher an Material für die Selektion nicht fehlte. Mit dem reichlicheren Auftreten der Sekrete verschwand die feindliche Haltung der Ameisen gegen die Fremdlinge immer mehr und mehr und an ihre Stelle trat allmählich eine freundliche Gesinnung, eine Zuneigung wie gegen die eigenen Angehörigen oder die Brut, so dass jetzt die Gäste ohne jede Gefahr in der Ameisenkolonie sich aufhalten konnten. Aus den mehr oder weniger verfolgten Eindringlingen sind so echte Gäste, Symphilen, geworden. Mit der Ausbildung der Symphilie ist aber keineswegs an und für sich auch eine Aenderung des ursprünglichen Naturells der betreffenden Gäste verbunden, sondern die Symphilie stellt zunächst ein- fach ein Mittel dar, wodurch die Gäste ihren Zweck am besten erreichen können, ist also eine Einriehtung, die nur im Interesse der Gäste besteht. Wenn also ein Gast ur- sprünglich als Räuber die Ameisen heimgesucht hat, so wird oder kann er dieses Handwerk auch dann noch weitertreiben, wenn er Symphile geworden ist, und wenn ein Gast als harmloser Bettler sich den Ameisen zuerst genähert, so wird er auch als Symphile zunächst noch weiter betteln und sich noch weiter von Abfällen nähren. Se- kundär kann aber ein Symphile seinen Charakter recht wohl noch verschiedentlich abändern, was ja auch bei unseren beiden Symphilen thatsächlich der Fall war. Bei Oxysoma führte diese Aenderung zu einer Art Symbiose, bei Thorictus zu Parasitismus. Umstehend ver- suchte ich den hier skizzierten Entwieklungsgang, der keineswegs etwa nur in der Phantasie existiert, sondern welchen wir an den von den einzelnen Entwicklungsphasen hinterlassenen Spuren ablesen können, graphisch darzustellen. Wenn wir an der hier entwickelten Auffassung der Symphilie festhalten, so verliert sich aueh der Widerspruch, der darin zu liegen scheint, dass Ameisen ihre Peiniger (wie Thorictus) bei sich dulden und ihnen nichts zu leide thun, vollkommen. Auch die übrigen noch extremeren Fälle, an denen die Ameisen ihre ärgsten und gefährlichsten Feinde freundschaftlich aufnehmen, pflegen und so- gar aufziehen (Lomechusa), bieten, von diesem Standpunkte aus be- 656 Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. trachtet, nichts „unnatürliches“ und auch keinen „unlösbaren Wider- spruch“ mehr dar. Wasmann hat bekanntlich in diesen Erscheinungen früher (14) einen vernichtenden Beweis gegen die Selektionslehre zu sehen ge- glaubt, indem er geltend machte, dass die Selektion unmöglich eine so schädliche Eigenschaft, wie den auf die Pflege der Feinde gerich- teten „Symphilieinstinkt“ entstehen lassen konnte, ebensowenig wie sie bei einem Tier den Instinkt, „angenehm schmeckende Giftpflanzen“ zu fressen, heranzüchten kann. Später (19) gab er allerdings diesen direkt ablehnenden Standpunkt gegen die Selektionslehre auf und versuchte den „scheinbaren Widerspruch, dass die Ameisen ihre größten Feinde ge- züchtet haben und noch gegenwärtig züchten“, durch die Annahme zu erklären, dass der Naturalselektion ein anderer Faktor, die „Amikal- selektion“ entgegenarbeite und auch den Sieg davontrage (19). — Die „Amikalselektion“ soll darin bestehen, dass die Ameisen die ihnen angenehmen Gäste bevorzugten und so direkt gewisse Symphilie- charaktere heranzüchteten. Symbiose s. str. = Symphilie — Individueller Parasitismus Sozialparasitismus Kommensalisinus (Bruträuber) (Bettler) Oxzysoma Thorictus Wasmann hat, wie mir dünkt, die Frage der Entwicklung der Symphilie komplizierter gemacht, als sie ist, und zwar hauptsächlich dadurch, dass er zwei Momente einführte, die in Wirklichkeit gar nicht existieren dürften, nämlich den „Sympbilieinstinkt“ und die „Amikalselektion“. Früher (2) habe ich schon nachzuweisen ver- sucht, dass bei den Ameisen ein spezialisierter, auf die Pflege der Gäste gerichteter Instinkt nirgends festzustellen ist, sondern dass lediglich der allgemeine „Brutpflegeinstinkt* die Handlungen der Wirte auch bezüglich der Gäste leitet. Wasmann macht nun neuerdings (19) dagegen geltend, dass wohl die psychologische und stammesgeschicht- liche Wurzel des Symphilieinstinktes in dem allgemeinen Brutpflege- instinkt, respektiv dem Adoptionsinstinkt gelegen sei, dass sich aber aus dieser heraus eine große Menge verschiedener Symphilieinstinkte entwickelt hätten. Als Beleg hiefür führt er an, dass bestimmte Ameisen ihre Pflege nur ganz bestimmten Gästen zukommen lassen, wie z. B. Formica fusca nur dem Atemeles emarginatus und Formica rufibarbis (eine Race von fusca!) nur dem At. paradoxus. Diese Thatsachen zwingen aber nicht ohne weiteres zur Annahme bestimmter Symphilie- Bart. Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. 657 instinkte, sondern zeigen nur, dass eben lediglich At. emarginatus (und nicht auch paradoxus) den Brutpflegeinstinkt der Formica fusca aus- zulösen vermag, und ebenso, dass nur At. paradoxus (und nicht auch emarginatus) den nötigen Reiz auf Formica rufibarbis ausüben kann. — Dass At. emarginatus von paradoxus morphologisch nur sehr wenig verschieden ist, kommt hier gar nicht oder nur wenig in Betracht, da Ja die Ameisen hauptsächlich durch den Geruch geleitet werden. Wir brauchen also nur anzunehmen, dass emarginatus einen Geruchstoff produziert, welcher der Formica fusca angenehm ist und deren Brut- pflegeinstinkt auslöst, der F\ rufibarbis aber widerlich ist und sie daher zum Angriff reizt, so sind obige Thatsachen doch viel einfacher erklärt als durch Annahme eines besonderen, scharf spezialisierten Symphilieinstinktes. Der von den Symphilen ausgehende Reiz, welcher den Brutpflege- instinkt der Ameisen auslöst, kann verschieden stark sein: entweder stärker als der von der eigenen Brut ausgehende oder aber schwächer als dieser. Ersteren Fall sehen wir bei den Larven von Lomechusa strumosa, welche von Formica sanguinea aufgezogen werden. Da diese Larven größer sind und rascher wachsen als die eigenen Larven, so ist der von ersteren ausgehende Reiz auch mächtiger als der von letzteren, und so muss die Ameise auch ersteren eine um so bessere Pflege zuwenden. Sie kann einfach nicht anders, sie muss so han- deln, selbst wenn es zu ihrem Schaden geschieht. Wie verfehlt es wäre, daraus eine besondere Zuneigung der Ameisen zu Lomechusa lesen zu wollen, zeigt der Umstand, dass dieselben Ameisen, welche die Lomechusa-Larven mit so großer Liebe aufgezogen haben, die Puppen dieses Pfleglings später größtenteils selbst wieder töten, indem sie dieselben öfter aus dem Sande herausgraben, um sie an anderen Stellen wieder einzubetten. Sie thun dies nicht etwa aus besonderer Liebe zu Lomechusa, auch deshalb nicht, um in letzter Stunde noch ihre Kolonie vor den gefährlichen Mordgesellen zu retten, sondern sie thun dies einfach deshalb, weil sie nicht anders können und die Pflege der eigenen Puppen dies erfordert. Formica sanguinea führt also ihren Gästen gegenüber dieselben Handlungen aus, welche sie auch ihrer eigenen Brut gegenüber thut, gleichgültig, ob es für sie oder ihre Gäste zum Nutzen oder Schaden gereicht. — Wäre ein speziali- sierterSymphilieinstinkt wirklich vorhanden, dann dürfte ein derartiger Fall überhaupt nicht vorkommen! Wie oben gesagt, kann der von den Symphilen ausgehende Reiz auch schwächer sein als der von der eigenen Brut ausgehende, und dann wird auch die Pflege der Gäste von seiten der Ameisen weniger intensiv sein; d. h. die wirklichen Pflegehandlungen werden mehr und mehr zurücktreten, und die Gäste werden nur noch hie und da einmal ein wenig herumgetragen und ganz flüchtig beleckt, wie wir es z. B. XXI. 43 658 Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. bei unseren Thorictus sahen. — Je schwächer der Reiz ist, desto weniger spezialisiert und desto allgemeiner wird er auch sein und auf desto mehr verschiedene Ameisen wird er seine Wirkung ausüben. Damit können wir auch die Erscheinung, dass ein Symphile um so mehr verschiedene Wirtsameisen hat, also um so „internationaler“ ist, je weniger und unbestimmter seine symphilen Anpassungscharaktere sind, recht wohl erklären. So wenig Berechtigung die Annahme eines spezialisierten Symphilie- instinktes hat, so wenig ist auch die Einführung der oben erwähnten „Amikalselektion“* notwendig oder begründet. Diese neue Selektions- form soll darauf beruhen, dass die Ameisen die ihnen angenehmeren Gäste „bevorzugten“, ihnen eine sorgfältigere Pflege angedeihen ließen ete., so dass sie dieselben allmählich zu einer immer höheren Vervollkommnung und einer mannigfaltigeren Differenzierung der symphilen Anpassungscharaktere „heranzüchteten“. Die Ameisen sollten also nach Wasmann außer ihren zahlreichen häuslichen Pflichten nebenbei auch noch Symphilenzüchtung treiben, ähnlich also wohl, wie die Menschen durch „unbewusste Zuchtwahl“ fortwährend bestimmte Haustierrassen züchten. — Versuchen wir nun die Vorgänge, die sich bei der „Amikalselektion“ abspielen, uns klar zu machen, so kann von einer aktiven freien Auswahl bei den Ameisen natürlich keine Rede, sondern diese werden vielmehr zur Ausbildung und „Be= vorzugung“ gezwungen, indem ihre Pflegeinstinkte von denjenigen Gästen, bei welchen die den Reiz ausmachenden Eigenschaften (Ge- ruchstoffe, Sekrete ete.) am reichlichsten vorhanden sind, auch am intensivsten ausgelöst wird. Gleichgültig, ob ihnen von den gepflegten Gästen Schaden erwächst oder nicht, müssen sie die Pflegehandlungen ihnen gegenüber ausführen, mit derselben Notwendigkeit, mit welcher eben eine Instinkthandlung auf einen für den betreffenden Instinkt adäquaten Reiz zu folgen hat! Diejenigen Gäste nun, welche von den Ameisen auf diese Weise „bevorzugt“ werden, sind entschieden im Vorteil gegenüber denjenigen, welche diese Gunst von den Ameisen nicht oder in geringerem Grade genießen, und dementsprechend wer- den dieselben auch mehr Aussicht auf Erhaltung und Fortpflanzung besitzen als letztere. So bekommen also die den Brutpflegeinstinkt auslösenden Faktoren hinsichtlich ihrer Intensität Selektionswert und werden infolgedessen durch Naturalselektion so lange gesteigert werden, als eine Steigerung für die Gäste vorteilhaft ist. Wir sehen also, dass die Ausbildung der Symphiliecharaktere recht gut durch Natur- züchtung allein erklärt werden kann und uns durchaus nicht zur Ein- führung eines neuen Faktors zwingt. Es ist überhaupt nicht recht verständlich, was Wasmann zur Aufstellung der „Amikalselektion“ als einer besonderen, von der Naturzüchtung wesentlich verschiedenen Selektionsform Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. 659 veranlassen konnte. Wir können wohl mit Wasmann sagen: „die Symphilen sind Züchtungsprodukte der Ameisen“; jedoch müssen wir uns dabei vergegenwärtigen, dass dies nur bildlich, und im gewissen Sinne anthropomorphistisch gesprochen ist, und es wäre deshalb wohl besser, sich dieser Ausdrucksweise gänzlich zu enthalten, da sie sonst leicht, wie wir oben sahen, zu Missverständnissen führen kann. Auch die Larve von Sitaris ist gewissermaßen ein Züchtungs- produkt von Anthophora, indem ihre Form und ihr Instinkt derart der genannten Biene angepasst ist, dass sie auf letztere gelangen und sich von ihr in deren eigenes Nest zum Brutraub tragen lassen kann. Würde nun der Triungulinus noch besondere Farben besitzen oder Geruchstoffe produzieren, welche die Anthophora anzögen und sie ver- anlassten, den mit Larven besetzten Blumen den Vorzug vor den larvenfreien zu geben, so würden wir ein ganz ähnliches Verhältnis haben wie bei der Symphilie. Ist es nun nicht sehr wohl denkbar, dass die Naturzüchtung den Sitaris-Larven derartige Eigenschaften, wenn nur das Material hiezu vorhanden, heranzüchten konnte, da doch diejenigen Larven, welche solche besitzen, dem Untergang viel leichter entgehen und sicherer zu ihrem Ziele gelangen würden als die dieser Charaktere entbehrenden? Oder brauchten wir da etwa noch einen Faktor wie Amikalselektion zu Hilfe zu nehmen? Ueberall, wo zwei verschiedene Organismen in irgendwelche Ver- bindung treten, finden solche „Amikalzüchtungen“ statt. Auch wo Pflanzen mit Tieren miteinander in Beziehung treten, ist ähnliches zu beobachten, wie z. B. bei den fleischfressenden Pflanzen, und hier kann man doch gewiss nicht von einer „Amikalselektion“ reden. Die auffallende Färbung von Nepenthes und die Honigdrüsen auf dem Rand der Kanne sind auch, wenn wir wollen, Züchtungsprodukte der honigsuchenden Insekten, trotzdem sie lediglich dazu dienen, letztere in die Falle, aus welcher es kein Entrinnen mehr giebt, zu locken. — Die Insekten „züchten“ also in diesem Falle eine Eigenschaft, welche ihnen höchst schädlich und gefährlich wird, genau so wie Formica sanguinea, die ihnen indirekt viel Unheil bringenden Exsudatorgane bei Lomechusa „gezüchtet“ hat. Der Widerspruch, der darin zu liegen scheint, wird durch unsere unpräzise Ausdruckweise erst hineingelegt. Die honigsuchenden Insekten „züchten“ nicht absichtlich die anziehenden Farben von Nepenthes, sondern diese entstehen auf dem Wege der Naturalselektion, weil durch dieselben gewisse Instinkte bei den Honig- insekten ausgelöst werden und dadurch den Pflanzen ein großer Vor- teil geboten wird, ebenso wie bei Lomechusa die Trichome durch Naturzüchtung ausgebildet werden, da die Besitzer derselben damit den Pflegeinstinkt der Ameisen für sich auszunützen vermögen. — Aus diesen kurzen Betrachtungen dürfte wohl zur Genüge hervorgehen, wie unnötig und unberechtigt die Aufstellung der ;Amikalselektion“ ist. 43° 660 Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. Es erübrigt mir noch, auf ein Moment in der Wasmann’schen Beweisführung, das mehrfach wiederkehrt, etwas näher einzugehen. Wasmann behauptet nämlich, wie oben schon bemerkt, dass der In- stinkt, Lomechusa zu „züchten“, ebenso unvereinbar mit dem Prinzip der natürlichen Zuchtwahl sei, wie etwa ein Instinkt, der darauf ge- richtet wäre, „angenehm schmeckende Giftpflanzen“ zu fressen (15, 19). — Betrachten wir nun dieses fingierte Beispiel näher und nehmen wir an, es würden wirklich in ein Gebiet plötzlich solche angenehm schmeckende Giftpflanzen eingeführt, so haben wir bezüglich der Wirkung, welche dadurch auf die in Frage kommende Tierart ausgeübt wird, verschie- dene Möglichkeiten zu unterscheiden. Vor allem hängt viel davon ab, ob das Verbreitungsgebiet der Giftpflanze zusammenfällt mit dem des betreffenden Tieres, oder ob es kleiner und nur auf einen engen Bezirk des letzteren beschränkt ist. Im ersteren Fall wird, wenn wirklich alle Individuen der betreffenden Art eine besondere Vorliebe für die verhängnisvolle Pflanze besitzen, notwendig in Kürze die ganze Art aussterben müssen; im letzteren Falle dagegen wird nur ein geringer Teil der die Art ausmachenden Individuen, nämlich nur diejenigen, welche in dem Verbreitungsbezirk der Giftpflanze vorkommen, vernichtet werden, während die übrigen Individuen vollständig unberührt bleiben. Haben nun aber andererseits nicht alle Individuen die gleiche Vor- liebe für die Giftpflanze, sondern finden sich auch nur einzelne wenige darunter, welche eine Abneigung gegen dieselbe besitzen, so werden diese überleben, sich fortpflanzen und so eine neue Rasse begründen, bei welcher die Abneigung gegen die Giftpflanze ein allgemeiner Cha- rakter wird. Ist nun dieses der Fall und tritt ferner die Giftpflanze im ganzen Verbreitungsgebiet des betreffenden Tieres auf, so wird die ursprüngliche Art vollständig aussterben und an ihre Stelle die neue Rasse treten; ist aber die verhängnisvolle Pflanze nur auf ein kleines Gebiet beschränkt, so wird sich nur hier die neue Rasse (mit einer Abneigung gegen die Giftpflanze) ausbilden, und damit also eine Lokal- varietät neben der Stammart entstehen). Genau dieselben Möglichkeiten gelten nun auch für unseren kon- kreten Fall „Formica-Lomechusa“. — Bleibt die Lomechusa-Infektion nur auf einen geringen Prozentsatz aller existierenden Formica sanguinea- Kolonien beschränkt, so werden eben einfach diese befallenen Kolonien aussterben, ohne dass deshalb die Existenz der Art etwa gefährdet würde. Wird aber die Lomechusa-Infektion allgemein und erstreckt sich über alle oder wenigstens den größten Prozentsatz aller existieren- 1) Lediglich diese Beziehungen zwischen Giftpflanze und Tier wollte ich am Schlusse meines zusammenfassenden Referates (5) mit ein paar Worten an- deuten. Ich gebe aber zu, dass ich mich dabei nicht ganz deutlich ausgedrückt habe, so dass Missverständnisse leicht entstehen konnten. Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. 661 den Sanguinea-Kolonien, so muss die Art in ihrer Gesamtheit über kurz oder lang aussterben, wenn anders nicht eine neue, gegen Lome- chusa feindlich gesinnte Rasse rechtzeitig sich noch ausbilden kann. Letzteres wird und kann aber nur dann eintreten, wenn einzelne unter den Kolonien von Haus aus schon eine, wenn auch geringe Abneigung gegen Lomechusa besessen haben. Wasmann machte früher (15) gegen meine Auffassung des „Symphilieinstinktes“ als Brutpflegeinstinkt auch noch geltend, dass die Selektion „nicht bloß der Entstehung eines besonderen, für seine Besitzer schädlichen Instinktes entgegenwirken müsse, sondern ebenso auch der Ausdehnung eines an und für sich nützlichen Instinktes auf schädliehe Objekte“. Er meint also, die Selektion müsse den Brut- pflegetrieb der Ameisen so einengen, dass er sich nicht auch an Lo- mechusa bethätigen könne. Dem ist sicherlich nicht zu widersprechen, und die Selektion wird auch zweifellos darauf hinarbeiten, sobald ein- mal die Existenz der Art durch Lomechusa wirklich gefähr- det ist. So lange aber dies nicht der Fall, liegt für die Selektion gar keine Veranlassung zum Eingreifen vor. „Gerade in dieser Unvollkommenheit liegt wieder ein Beweis dafür, dass wir es hier mit Resultaten von Selektionsprozessen zu thun haben, denn solehe können ihrer Natur nach nie vollkommen sein, vielmehr immer nur relativ vollkommen, d. h. so vollkommen, als es nötig ist, damit die Art besteht“ (Weismann, 20). Zum Schluss noch einige Worte über das Wesen der Symphilie. — Gehen wir zunächst davon aus, dass die Sympbilen in allen bis jetzt bekannten Fällen in einem einseitigen Abhängigkeits- verhältnis zu den Ameisen stehen, indem die Ameisen recht wohl ohne Symphilen, nieht aber die Symphilen ohne Ameisen existieren können. Dieses Verhältnis drückt sich vorzüglich auch darin aus, dass nur die Gäste Anpassungserscheinungen an die Ameisen, nicht aber die Ameisen solche an die Gäste aufweisen. Wir müssen daher auch annehmen, dass lediglich die Gäste einen wirklichen Nutzen (d. h. für die Erhaltung der Art) aus der Symphilie ziehen, nicht aber die Ameisen. Nun frägt es sich weiter, ob die Ameisen durch die Gäste ge- schädigt werden oder nicht. Im ersteren Fall haben wir in den Sym- philen Parasiten, im letzteren Fall Kommensalen. Soviel wir bis jetzt wissen, trifft beides, aber weitaus am häufigsten ersteres zu, 80 dass also die meisten Symphilen als Parasiten, und nur ein relativ geringer Prozentsatz als Kommensalen sich bei den Ameisen herum- treiben. In welchem Verhältnis nun die Symphilie zum Parasitismus (re- spektive Kommensalismus) steht, können wir uns am besten durch einige Beispiele aus der menschlichen Gesellschaft klar machen. 662 Escherich, Biologische Studien über algerische Myrmekophilen. Nehmen wir an: ein Mann knüpft mit mir eine Bekanntschaft an, er- weist sich mir äußerst liebenswürdig und gefällig und macht auch einen angenehmen Eindruck auf mich, so dass mir der Verkehr mit ihm wünschenswert erscheint und ich mit ihm wirklich intim werde. In meinen Augen erscheint er mir bald als Freund, und das zwischen uns bestehende Verhältnis als Freundschaft. Er seinerseits ist aber vielleicht in Wirklichkeit nichts weniger als mein Freund, sondern im Gegenteil mein ärgster Feind, der sich in mein Vertrauen gestohlen hat, um mir Geheimnisse zu entlocken oder mich zu verderben. — Oder nehmen wir an: ein Bekannter von mir fängt plötzlich an, mich häufig aufzusuchen und stets lange bei mir zu bleiben, unter der Ver- sicherung, sich mir gefällig erweisen und mir Gesellschaft leisten zu wollen, in Wirklichkeit aber, weil es Winter geworden ist und er Licht und Wärme bei mir profitieren will. Bezüglich der Wirkung, welche die beiden „Freunde“ auf mich ausüben, unterscheiden sie sich wesentlich voneinander, indem der erste mir direkt schädlich wird, während der letzte mir weder schadet noch nützt; bezüglich der Mittel aber, welche beide zur Erreichung ihres Zweckes anwenden, stimmen sie überein, d. h. sie suchen meine freundschaftlichen Gefühle wachzurufen und in ein freundschaftlicbes Verhältnis mit mir zu kommen. Dieses „freundschaftliche Verhältnis“, das nur einseitig, d. h. nur auf der einen Seite wahr ist, entspricht nun, auf unser Gebiet übertragen, der „Symphilie“. — Die Symphilie ist demnach nur der Vorwand oder Deckmantel, oder kurz das Mittel, mit welchem die Symphilen ihren Zweck (gleichgültig ob Parasitismus oder Kommensalismus) am sichersten erreichen können. Wir dürfen deshalb die Symphilie nieht schlechtweg mit dem Parasitismus (oder Kommensalismus) identifizieren, wie ich früher irrtümlich gethan habe, sondern müssen Wasmann’s Ausführungen und Einwendungen (19) gegen diesen Punkt als zu Recht bestehend anerkennen. [60] Straßburg, 4. Juli 1902. Litteraturverzeichnis. Pa Emery, C. Revision critique des Fourmis de la Tunisie. Paris 1891. 2. Escherich, K. Zur Anatomie und Biologie von Paussus turcieus Friv. Zool. Jahrb., 1898. 3. Derselbe. Zur Biologie von Thorictus Foreli Wasın. Zool. Anz., 1898. 4. Derselbe. Zur Naturgeschichte von Paussus Favieri Fairm. Verh. Zool. Bot. Ges. Wien, 1899. 5. Derselbe. Ueber myrmekophile Arthropoden. Zool. Centralbl., 1899. 6. Fielde Adele. Studien über eine Ameise. Proc. Acad. of nat. sc. Philadelphia 1901. Referat von R. v. Hanstein in „Nat. Rund- schau“, 1902, Nr. 16. 7. Forel, Aug. Fourmis de Tunisie et de l’Algerie Orientale. Compt. rend. Soe. ent. Belgique, 1890. Dorner, Darstellung der Turbellarienfauna Ostpreußens. 663 8. Derselbe. Eine myrmekologische Ferienreise nach Tunesien u. Ostalgerien. Humboldt IX, Heft 9. 9. Derselbe. Les Formicides de la provence d’Oran. Bull, Soc. Vaud,, XXX, 1894. 10. Janet, Ch. Sur le systeme glaudulaire des Fourmis, Compt. rend. Ac. Sc. Paris, T. 118, 1894. 11. Derselbe. Systeme glandulaire t&gumentaire de la Myrmica rubra. Paris 1899. 12. Wasmann, E. Die Myrmekophilen und Termitophilen. Compt. rend, ame Congres intern. Zoologie. Leyden 189. 13. Derselbe. Beiträge zur Lebensweise der Gattungen Atemeles und Lome- chusa. Tijdschr. voor. Entom., 1888. 14. Derselbe. Zur Entwicklung der Instinkte. Verh. Zool. Bot. Gesellsch. Wien 1897. 15. Derselbe. Neueres über Paussiden. Ebenda 1898. 16. Derselbe. Zur Lebensweise von ZThorictus Foreli. Natur und Offen- barung, 1898. 17. Derselbe. Nochmals Thorictus Foreli als Ektoparasit der Ameisenfühler. Zool. Anzeiger, 1898. 18. Derselbe. Zur Lebensweise der Ameisengrillen (Myrmecophila). Natur und Offenbarung, 1902. 19. Derselbe. Giebt es thatsächlich Arten, die heute noch in der Stammes- entwicklung begriffen sind? Biol. Centralbl. XXI, 1901. 20. Weismann, Aug. Vorträge über Descendenztheorie (I. Bd., VII. Vor- trag). Jena 1902. 21. Wheeler, W. M. The habits of Mwyrmecophila nebrascensis Brun, Psyche, 1900. Cand. med. Georg Dorner: Darstellung der Turbellarienfauna Ostpreußens. Mit Tafel I und II. (Aus dem Zoolog. Museum in Königsberg i. Pr.), 1902. Nachdem Prof. M. Braun (Königsberg) schon im Jahre 1885 die Strudelwürmer Livlands in sehr gründlicher Weise studiert und auch zahl- reiche (18) neue Arten von dort beschrieben hatte, wurde es sehr bald als ein großer Mangel empfunden, dass über die Verbreitung derselben Tiergruppe in den Binnengewässern des benachbarten Ostpreußen bisher nur äußerst wenig bekannt war. Diese Lücke ist nun kürzlich durch cand. med. Dorner ausgefüllt worden, indem derselbe die ostpreußischen Turbellarien während eines vollen Jahres zum Gegenstand eines speziellen Studiums machte. Direkte Veranlassung dazu gab eine von der philo- sopbischen Fakultät der Universität Königsberg gestellte Preisaufgabe, wonach eine Darstellung der Twurbellarienfauna Ost- oder Westpreußens, zunächst derjenigen der Binnengewässer, geliefert werden sollte. Der oben genannte Autor hat sich nun dieser Aufgabe mit offenbarem Erfolg ge- widmet und ist auch in der Lage gewesen, eine Anzahl neuer Strudel- würmer aufzufinden, Im ganzen wurden 56 verschiedene Arten erbeutet, 664 Dorner, Darstellung der Tubellarienfauna Ostpreußens. wovon sechs zur Ordnung der 'Trieladen gehören. Sieben Arten davon waren bisher nicht bekannt. Es wurden im ganzen festgestellt: 4 Vertreter des Genus Mierostoma (eine neue Art) 2 s 5 2 Stenostoma 1 5 = - Macrostoma 1 P 2 . Prorhynchus 16 A x & Mesostoma (vier neue Arten) 2 „ n 5 Bothromesostoma (M. Braun) 4 e n 5 Castrada (eine neue Art) 1 5 “ 2 Gyrator 8 n r “ Vortex 1 = & A Castrella (eine neue Art) 5 h B 5 Derostoma 1 5 . » Opistoma 1 5 ” e Plagiostoma 1 5 n 5 Monotus Te . s A Planaria 1 o e 1. Polycelis 56 Vertreter aus 16 (Gattungen. Zur Untersuchung gelangten 26 Gewässer verschiedensten Charakters: Teiche, Seen, Festungsgräben, Kanäle und Flussläufe. Am reichsten an Turbellarien erwiesen sich stehende Gewässer mit üppigem Pflanzenwuchs, wie z. B. der Oberteich in der Nähe von Königsberg, welcher allein 28 Speeies enthielt. Nach Angabe von Dorner (8. 48) soll darunter auch der von mir 1885 in den Hochseen des Riesengebirges aufgefundene Monotus gewesen sein. Der Autor lässt aber hinsichtlich der Identität unserer beiderseitigen Funde selbst noch einige Zweifel bestehen, weil ihm nur ein einziges Tier zur mikroskopischen Untersuchung aus dem ÖOber- teich vorgelegen hat. Keilförmige Augenflecke und eine große Otolithenblase waren allerdings zu konstatieren; auch die unregelmäßigen Haufen der Hoden, sowie die sackförmigen Eierstöcke kamen deutlich zu Gesicht; dagegen hat Dorner die Gestalt des Penis, die für den Riesengebirgs- monotus sehr charakteristisch ist, nicht genau erkennen können. Nur dass ein chitinöser Ausführungsgang an demselben vorhanden war, konnte mit völliger Sicherheit festgestellt werden. Unter diesen Umständen bleibt es also noch unentschieden, ob die in Frage kommenden beiden Tiere wirklich identisch sind. Dass aber der betreffende Teich überhaupt eine zu den Monotiden gehörige Turbellarie beherbergt, ist an und für sich schon ein interessantes Faktum. Im Löwentinsee, der nur wenig Pflanzen enthielt, wurde von Dorner die Anwesenheit des Möcrostoma inerme Zach. konstatiert, welches ich seinerzeit (1894) in Planktonfängen aus dem Plöner See entdeckte. Dieser Wurm scheint aber nur in größeren Wasserbecken vorzukommen, Er fand sich im Löwentinsee bei 40 m Tiefe ebenfalls planktonisch vor und dürfte sich wohl auch noch anderwärts in Seen nachweisen lassen, wenn man Fänge, die direkt über dem Grunde gemacht worden sind, daraufhin untersucht. Zunächst kennt man jedoch nur zwei Fundstätten für diese Species. Castrada radiata (Müll.) wurde von Dorner „in allen masurischen und oberländischen Seen“ aufgefischt und erwies sich somit als weit ver- breitet. Ein vollkommen gleiches Verhalten derselben Species konnte ich Dorner, Darstellung der Turbellarienfauna Ostpreußens. 665 seinerzeit auch für Westpreußen feststellen, als ich im Jahre 1886 die dortigen Seen faunistisch untersuchte!). Im Gr. Plöner See kommt (a- strada radiata ebenfalls ziemlich häufig weit außerhalb der Littoralzone als Mitglied des Planktons vor, was meines Wissens bisher noch von keiner anderen Turbellaria bekannt ist. Auch Apstein?) spricht von einer planktonisch auftretenden, winzigen Strudelwurmspecies des Plöner Sees, welche namentlich im August häufig sein soll, hierbei kann es sich gleich- falls nur um Castrada radiata handeln, Als eine der am häufigsten in Ostpreußen zu findenden 'Turbellarien- arten hebt Dorner das BDothromesostoma esseni Br. hervor und fügt hinzu, dass dasselbe bisher nur noch in Livland gefunden worden sei (S. 32). Letzteres ist aber ein Irrtum; denn ich habe bereits diese in Größe, Farbe und äußerem Habitus sehr variable Species als Bewohnerin zahlreicher Seen Westpreußens nachgewiesen und auch über ihr Vor- kommen in den Gewässern Holsteins und Mecklenburgs berichtet?). Ueber ihre Häufigkeit sprach ich mich bereits in demselben Sinne aus wie Dorner, indem ich hervorhob, dass dieser Wurm über den ganzen baltisch- uralischen Landrücken verbreitet zu sein scheine (l. c. $. 273) und dass er nächst Castrada radiata die am zahlreichsten daselbst vorkommende Tur- bellarie sei. In der betreffenden Abhandlung von 1886 habe ich auch bereits eine Mitteilung über die merkwürdige Fortpflanzungsweise dieser Rhabdocöle gemacht. Bei einem Blick auf die Liste der von Dorner aufgefundenen Vortexarten vermisst man den sonst in kleinen Gräben und 'Tümpeln nicht allzu seltenen Vortex viridis. Braun hat ihn auch in Livland nicht angetroffen; an den 14 europäischen Species der Gattung Vortex sind überhaupt nur vier in seiner Aufzählung der livländischen Funde ent- halten, wogegen Dorner für Ostpreußen immerhin acht festgestellt hat. Von Interesse sind schließlich noch einige numerische Angaben Dorner’s über das Auftreten der Turbellarien in den verschiedenen Mo- naten des Jahres. Damit verhält es sich so, dass der April 12 Arten lieferte, der Mai 24, der Juni desgleichen, der Juli 30, der August 37, der September 24 und der Oktober 20. Die Hauptmonate für den 'Turbellarienfang wären hiernach Juli und August. Einige Species sind auf die heiße Jahreszeit beschränkt; andere (wie Gyrator und Pro- rhynchus) sind das ganze Jahr über zu haben und wieder andere lieben die Kälte (wie Stenostoma leucops, Microstoma lineare, Vortex trun- catus u. a.). Von jeder Art (auch wenn sie bereits bekannt ist) giebt Dorner eine kurze, prägnant stilisierte Beschreibung und macht Mitteilung über deren biologische Eigentümlichkeiten, sowie über ihre Fundorte, Häufig- keit des Vorkommens und dergleichen, so dass der Leser aufs Beste orientiert wird. Die neuen Arten werden durch einfache Zeichnungen ver- 4) Vergl. O. Zacharias: Zur Kenntnis der pelagischen und littoralen Fauna norddeutscher Seen. Zeitschr. f. wiss. Zool., 45. Bd., 1886, S. 225—281. 2) C. Apstein: Das Süßwasserplankton, 1896, S. 156. 3) O. Zacharias: Zur Kenntnis der pelagischen und littoralen Fauna ete., 17021886,.8. RT 38. 666 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. anschaulicht und die vorhandene Litteratur wird in umfassender Weise berücksichtigt. Nach alledem haben wir es also in der vorliegenden preisgekrönten Ab- bandlung mit einer recht sorgfältigen Arbeit zu thun, welche einen schönen und reichhaltigen Beitrag zur Faunistik der Provinz Ostpreußen liefert. Biol. Station. Dr. Otto Zacharias (Plön). [56] Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. J. Rich. Ewald: Eine neue Hörtheorie. Bonn, Emil Strauss, 1899, 8°, 488. (auch in Pflüger’s Archiv, 76. Bd.). Viktor Goldschmidt: Ueber Harmonie und Komplikation, Berlin 1901, Julius Springer, Gr. 8°, 136 8. Als wissenschaftliche Lehre vom Hören und als Begründung der Musiktheorie galten bisher fast unbestritten die Anschauungen, die Helmholtz 1863 in seinem klassischen Werke dargelegt hat. Es wurden öfters Zweifel erhoben, ob einzelne eigentümliche Beob- achtungen und alle Regeln der musikalischen Harmonie sich aus der Helmholtz’schen Lehre allein, ohne allzuviel Hilfshypothesen, er- klären ließen, aber im wesentlichen blieb doch Helmholtz’ Lehre die Grundlage aller späteren Untersuchungen und Darstellungen. Wir können sie deshalb als bekannt voraussetzen und wollen nur kurz auf die wesentlichsten Punkte derselben hinweisen. Helmholtz unterscheidet musikalische Töne und Klänge: erstere sind regelmäßige Sinusschwingungen, wie sie sich mit Stimmgabeln er- zeugen lassen. Klänge werden durch fast alle Musikinstrumente und die menschliche Stimme erzeugt; es sind sich regelmäßig wieder- holende Schwingungen, die aber von der Form einer Sinuskurve ab- weichen. Man kann derartige Kurven entstanden denken durch Ueber- einanderlagerung mehrerer Sinuskurven, von denen eine dem Grundton des Klanges entspricht, alle anderen ein einfaches Vielfaches an Schwingungen des Grundtones in der Zeiteinheit ausführen. Diese letzteren stellen die Obertöne dar. Die Obertöne eines Klanges kann ein geübtes Ohr zum Teil ohne Hilfsmittel erkennen, immer aber kann man sie zu Gehör bringen, wenn man sie durch Resonatoren verstärkt, wie Helmholtz gezeigt hat. Im Ohre ist nach Helmholtz eine große Zahl von Resonatoren vorhanden, die eine nahezu kontinuierliche Tonreihe für das Gebiet der hörbaren Töne darstellen. Durch die zugeleiteten Tonschwingungen werden einzelne oder kleine Gruppen dieser Resonatoren in Mit- schwingung versetzt und dadurch die Endorgane des Nervus cochleae erregt; jede solche Erregung erzeugt dann eine Tonempfindung. Jeder Klang erzeugt deshalb die Empfindung mehrerer Töne, des Grundtones und der Obertöne, wenn wir ung auch dessen nicht bewusst Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. 667 werden; die Stärke der Obertöne, und daher auch ihre Empfindung, nimmt mit ihrer Entfernung vom Grundton rasch ab, doch ist das bei verschiedenen Instrumenten sehr verschieden; darauf beruhen die Unter- schiede der Klangfarbe. Zwei Sehwingungsreihen, deren Frequenz sehr wenig voneinander abweicht, schwächen und verstärken einander abwechselnd: geschieht dies langsam, so hören wir die „Schwebungen“. Geschieht dies öfter, so hören wir keine Schwebungen mehr, aber eine Dissonanz; nach Helmholtz’ Annahme beruht das missliche der Empfindung einer Dissonanz eben auf den raschen Schwebungen, die nicht mehr einzeln wahrgenommen werden können. Auch Klänge, deren Grundtöne in der Tonreihe weit voneinander entfernt sind, können mit ihren Obertönen Schwebungen oder Disso- nanzen ergeben. Diese werden nur fehlen, wenn ihre Obertöne genau zusammenfallen, sie werden am zahlreichsten und deshalb unange- nehmsten sein, wenn die Obertöne beinahe zusammenfallen. Daraus er- geben sich 1. das altbekannte, dem Pythagoras zugeschriebene Gesetz, dass solche Klänge konsonant sind, deren Grundtöne im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen zueinander stehen, denn dann fallen die Mehrzahl der Obertöne zusammen oder aber weit voneinander, und 2. die von Helmholtz aufgestellte Regel, dass die ärgsten Dissonanzen den besten Konsonanzen nah benachbart sind, denn dann fallen die meisten Obertöne nahe beieinander. Die Verfasser der beiden oben- genannten Arbeiten glauben nun, eine wesentlich andere und bessere Theorie an Stelle dieser Helmholtz’schen setzen zu können. Dabei geht Ewald von einer physiologisch-technischen Kritik der Helm- holtz’schen Darstellung des Aufnahmeapparates für die Tonempfin- dungen aus, Goldschmidt dagegen von einer neuen Darstellungs- form der Gesetze der musikalischen Harmonie. Aus den Ergebnissen, zu denen er mit Hilfe dieser Darstellungsform gelangt, glaubt er dann auf gewisse Gesetze im Bau des Ohres und der anderen Sinnesapparate zurückschließen zu können. Er findet dabei „eine auffallende Kon- kordanz“ zwischen seinen und Ewald’s Resultaten, die er erst nach Abschluss seiner Arbeit kennen lernte. Wir wollen deshalb so vorgehen, dass wir erst die außerordentlich elegante Ableitung und Darstellung der Harmoniegesetze von Gold- schmidt in den Hauptzügen wiedergeben, dann untersuchen, wie weit sie sich von den älteren Darstellungen dieser Gesetze unterscheidet; weiter haben wir zu untersuchen, wie weit sie sich mit Helmholtz und mit Ewald’s Annahmen über die Natur des Gehörorganes ver- trägt, und endlich, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten über- haupt bei den drei Theorien des Hörens und der Harmonie zu finden sind. 668 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. Viktor Goldschmidt’s eigentliches Arbeitsgebiet liegt der Musik und der Physiologie fern; er ist in erster Linie Krystallograph und von den Gesetzmäßigkeiten im Bau der Krystalle geht seine Darstellung aus. Wir müssen ihm darin folgen, wenn wir seinen Gedankengang klarlegen wollen. Jede Krystallart hat einen gesetzmäßigen Bau, d. h. sie ist von ebenen Flächen begrenzt, deren Lage gegeneinander bestimmt ist und mit den übrigen Eigenschaften der krystallisierten Substanz zusammen- hängt. Gleichwohl giebt es eine Mannigfaltigkeit im Bau der einzelnen Krystalle derselben Krystallart: gewisse Flächen sind immer vorhanden und verhältnismäßig ausgedehnt, andere kommen seltener, noch andere ganz selten vor und sind auch dann nur klein; die wichtigsten werden als Haupt- oder Primärflächen bezeichnet. Die schwächeren, abgeleiteten Flächen ordnen sich zwischen die Hauptflächen in bestimmter Weise; zwischen zwei aneinandergrenzenden Hauptflächen bildet sich immer eine Fläche, die in ganz bestimmtem Winkel die Kante zwischen jenen abstumpft, so dass zwei parallele Kanten entstehen. Geht die Differenzierung weiter, so entstehen zwei neue Flächen, die wieder diese Kanten abstumpfen. Im nächsten Grade entstehen vier neue Flächen. Also aus den zwei Hauptflächen (Normalreibe O0: N,) entwickelt sich die Normalreihe 1: N, mit im ganzen drei, N, mit fünf, N, mit neun von parallelen Kanten be- grenzten Flächen; meist geht die Entwicklung nur bis N,, oft bis N,, selten bis N, und äußerst selten darüber hinaus. Gleichwohl ist schon mit dieser „Komplikation“ der Grund gelegt zu sehr großer Mannigfaltigkeit der möglichen Formen einer Kıystall- art. Denn jeder vollständig ausgebildete Krystall hat ja mindestens vier Hauptflächen und zwischen jedem Paar von solchen kann sich eine Zone von sieben abgeleiteten Flächen ausbilden; und dann kommt es noch vor, dass zwischen der abgeleiteten Fläche erster Ordnung (der Dominante) einer Zone und einer dritten benachbarten Hauptfläche sich „Sekundärzonen“ oder zwischen zwei Dominanten „Tertiärzonen“ ausbilden. Die Lage aller dieser abgeleiteten Flächen ist nach einem für alle Krystallarten gültigen Gesetz von der Lage der Hauptflächen ab- hängig. Dieses „Gesetz der Komplikation“ hat Goldschmidt in folgender Weise auf den einfachsten möglichen Zahlenausdruck gebracht. Man kann sich von einem Punkt innerhalb des Krystalls auf jede seiner Flächen eine Senkrechte gefällt denken: durch die Lage dieser Normalen im Raum ist dann auch die Lage der zugehörigen Fläche bestimmt. Die Normalen der Hauptflächen können wir als Ausdruck der „Partikelkräfte“ betrachten, durch welche die Krystallpartikel eben in der bestimmten Weise geordnet werden. Die Größe der richtenden Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. 669 Kraft, von der die verschiedene Ausdehnung der Flächen abhängt, kann durch die verschiedene Länge der Normalen bezeichnet werden. Das empirisch gefundene Gesetz der Komplikation ist nun folgendes: konstruiert man zwischen den zwei halben Normalen zweier Kıystall- flächen das Parallelogramm der Kräfte, so ist die Diagonale dieses Parallelogramms die Normale der ersten Nebenfläche der betreffenden Zone. Halbiert man diese Diagonale und jede ihrer Komponenten wieder, und wiederholt die Konstruktion, so erhält man die Normalen der zwei nächsten Nebenflächen und so fort. So findet man Richtung und Intensität der abgeleiteten Kräfte, und damit Lage und Rang- ordnung der abgeleiteten Flächen. Die Normalen kann man in folgender Weise auf eine Linie pro- jieieren und dadurch das Gesetz der Komplikation in einer aus Ziffern bestehenden Formel ausdrücken: Sind MA und MB die Normalen zweier Hauptflächen (vergl. Fig.), so wählt man als Projektionslinie die Linie AP, die durch A gehende Parallele zu MB, setzt MB=1 und bezeichnet den Punkt A mit O0: dann fällt die Projektion des Strahls MB auf ©, die Verlängerung der Normalen der ersten Nebenfläche (der Diagonale des Parallelogramms der Kräfte von Ma—=!/,MA und Mb=!„MB) Me auf den Punkt 1, die Projektionspunkte der Nor- malen der nächsten weiteren abgeleiteten Kräfte auf 'J, und 2 u. s. f. Für die Normalreihen ergeben sich also folgende Ziffernbezeich- nungen: Primärflächen N, = 0 N .@ 1. Komplikation N, =0 1 00) 2. Komplikation N, =0 !ls 1 2.700, 3. Komplikation N,—=0 !/, "Ja "3 1’, 23 © Die Kenntnis dieser einfachen Zahlenreihen hat sich in der Kıystallo- graphie nützlich erwiesen: Kennt man nämlich eine Anzahl Flächen einer Zone, so führt man die entsprechende Konstruktion aus und er- 670 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. teilt den vermutlichen Endgliedern die Werte O und ©: sind dies wirklich die Endglieder, so entsprechen die anderen Werte immer denen einer Normalreihe N,—N,, ganz selten auch noch einzelnen Gliedern der Reihe N,. Stimmt diese Probe aber nicht, sondern haben die Glieder auf Grund irriger Annahmen irgendwelche andere Wertzeichen erhalten, so kann man durch eine einfache algebraische Formel die Reihe immer so umformen, dass zwei beliebige Glieder = 0 und =» werden, und nun untersuchen, ob jetzt die anderen Glieder sich einer Normalreihe einfügen. Dies „Gesetz der Komplikation“ gilt ausnahmslos für alle Kry- stalle, die man in der Natur gefunden und untersucht hat. Der zweite umfangreichste Abschnitt von „Harmonie und Komplikation“ dient dem Nachweis, dass dieselben Zahlenverhältnisse auch die musikalischen Harmonien bestimmen sollen. Es lassen sich innerhalb der Grenzen, für die unser Ohr einge- richtet ist, eine unendliche Zahl von Tönen erzeugen. Wenn die Menschen Musik machen, so wählen sie bestimmte harmonische Gruppen von Tönen aus dieser unendlichen Zahl aus, um sie mit- oder nach- einander erklingen zu lassen. Jeder Ton ist durch die Zahl der Schwingungen in der Sekunde absolut bestimmt; für die Harmonie ist aber nur wichtigdas Verhältnis der Schwingungszahlen zueinander; setzen wir die Schwingungszahl des Grundtones — 1, so hat die sogenannte diatonische Tonleiter, die den Anfang jedes Musikunterrichtes bei uns bildet, folgende Form: e d e f g a h € z—1 ls Ar *la a ls 31 2 Grundton Secund Terz Quart Quint Sext Septim Oktav Statt der Zahl der Schwingungen können wir die Schwingungs- dauer, oder, was auf dasselbe herauskommt, die Wellenlänge zur Be- zeichnung wählen und würden dann für dieselbe Tonleiter die reci- proken Werte N N a FE A a Pe rs erhalten. Eine Grundthatsache der Harmonielehre ist die Gleichwertigkeit von Grundton und Oktav: wir können jedes Musikstück ohne weiteres um eine oder mehrere Oktaven versetzen und auch die Harmonie eines Akkordes oder einer Tonfolge bleibt dieselbe, wenn einzelne Töne derselben in höhere oder tiefere Oktaven versetzt werden; dem entspricht, dass alle Töne, deren Schwingungszahlen ganze Vielfache des Grundtones darstellen, musikalisch mit dem gleichen Buchstaben bezeichnet werden wie dieser Grundton. Goldschmidt sieht deshalb Grundton und Oktav als die End- knoten einer Normalreihe an und formt die eben wiedergegebene Reihe Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. 671 z, die Schwingungszahlen, nach derselben Formel um, die er auf krystallographische Zonen anwendet; die so erhaltenen Zahlen be- zeichnet er mit p und nennt sie die harmonischen Zahlen. Die dia- tonische Tonleiter erhält dadurch folgende Form: RAMSAU Ha NE Dr le la Ru Es ergiebt sich nun, dass die Töne CREME NER NG Pole 12 or für den'Grundton’e und die Töne Euauntc Hd sern.g pi 07 5 23 325,255 c0),für denıGrundton.g darstellen: die diatonische C-dur-Tonleiter stellt daher eine Vereinigung der harmonischen Zahlen für die Normalreihen N, auf den Grundtönen e und g dar; g hat auf dem Grundton e den Wert 1, es entspricht also der Nebenfläche erster Ordnung; musikalisch heißt es die Dominante von C-dur, und G-dur heißt die nächstverwandte Tonart von C-dur; Stücke in C-dur modulieren am allerhäufigsten nach G-dur. Die diatonische Ton- leiter stellt also eine Vereinigung der Normalreihen N, für den Grund- ton und seine Dominante dar; aus der Normalreihe N, ist nur eine harmonische Zahl, !/,, mit aufgenommen worden; der reciproke Wert 3 (—=b für den Grundton e) ist nicht in der diatonischen Tonleiter ent- halten, kommt aber doch in C-dur-Stücken an betonten Stellen vor. Die vollständige Reihe N, müsste noch 2], und 3], fis und as für C-dur enthalten; sie finden in C-dur keinen Platz, weil sie mit den wichtigeren Gliedern DEE Hl 077 nah benachbart sind; auch bei Krystallen kommt es vor, dass von den Flächen einer Normalreihe nur ein Teil ausgebildet ist; und zwar fallen dann diejenigen aus, deren Lage sehr wenig von der der benachbarten Flächen abweicht. Es würde zu weit führen, versuchten wir, uns weiter so eng an die Ausführungen des Verfassers anzuschließen: er zeigt, dass die Molltonarten ebenfalls harmonische Reihen darstellen, nur in fallender Harmonie, d. h. vom Grundton aus herabsteigend, im übrigen als ge- naue Spiegelbilder der Durtonarten, z. B. C-moll ce. as, 2/88, C 0. 9 La er zeigt, dass die am häufigsten verwendeten Akkorde sich immer durch diese wenigen harmonischen Zahlen darstellen lassen, dass die 672 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. sroße Bedeutung der Dur- und Moll-Dreiklänge darauf beruht, dass jeder von ihnen vier Deutungen in einfachen harmonischen Zahlen auf zwei verschiedenen Grundtönen (von denen der eine die Dominante des anderen ist) und in steigender und fallender Harmonie zulässt und dass sie deshalb beim Fortschreiten der Melodie vielfach verwend- bar sind. Nachdem er noch den Ausbau des Tonsystems, die Temperierung und andere bekannte Teile der Musiktheorie auf der Grundlage der harmonischen Zahlen in sehr einfacher und fasslicher Weise dargelegt hat, wendet er sich zur Probe auf das Exempel, nämlich zur Analyse einiger Musikstücke; er wählt zunächst einige volksliedmäßige vier- stimmige Sätze und findet hier sowohl in der stehenden wie in der fortschreitenden Harmonie nur die einfachsten harmonischen Zahlen vertreten: als stehende Harmonie bezeichnet er nämlich die zugleich erklingenden Noten, die Akkorde, als fortschreitende Harmonie die Grundtöne der Akkorde!). Er kommt zu dem Schluss, dass in stehender Harmonie die Folge 0!/, 1 (der Durdreiklang!), in der fortschreitenden die Folge 0 !/,2 bevorzugt werden. An die Analyse dieser einfach harmonisierten Lieder schließt er noch diejenige des Stabat mater von Palestrina: auch hier findet er dieselben harmonischen Zahlen mit einer nur sehr wenig weiter- gehenden Komplikation: es kommt nämlich auch der Akkord O!J,1 vor, und die fortschreitende Harmonie geht bis zu der Reihe 0 !/, '[,12. Dabei aber zeigt die ganze Komposition in der Darstellungsweise Gold- schmidt’s einen wunderbar regelmäßigen Bau aus teils symmetrisch, teils parallel gebauten Sätzen, bei denen jedesmal der Hauptaccent in die Mitte und auf den Grundton der fortschreitenden Harmonie fällt. Der Verfasser hat absichtlich diesen berühmten Satz alter, poly- phoner Kirchenmusik als Beispiel gewählt. Denn Helmholtz hat in der „Lehre von den Tonempfindungen auf physiologischer Grundlage und Theorie der Musik“ gerade an diesem Satz demonstriert, dass Palestrina zwar lauter wohlklingende Harmonien zusammengestellt habe, dass sich aber keine vernünftige, gesetzmäßige Ordnung dieser aus den verschiedensten Tonarten gewählten Akkorde erkennen lasse. Dass Goldschmidt mit seiner Darstellungsmethode uns die Schön- heit dieser alten Musik, die jedermann empfindet, auch verstandesmäßig klarlegen kann, während ein Helmholtz an dieser Aufgabe gescheitert ist, das erweckt eine günstige Meinung von der neuen Methode. Nachdem wir soweit uns der Darstellung Goldschmidt’s ange- schlossen haben, wollen wir versuchen, uns klar zu machen, worin 4) Diese fortschreitende Harmonie ist nicht identisch mit der Melodie! Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. 673 sich seine Darstellung von der bisher anerkannten Musiktheorie unter- scheidet. Dem Pythagoras wird die Erkenntnis zugeschrieben, dass alle Harmonie auf dem Verhältnis kleiner ganzer Zahlen beruhe. Die Alten gelangten zu dieser Erkenntnis durch das Ausmessen der Längen schwingender Saiten; wir wissen, dass diese Regel für die Schwingungs- zahlen oder die Wellenlänge der Töne gilt. Ordnen wir alle Verbin- dungen kleiner ganzer Zahlen, von den kleinsten aufsteigend, in einer Reihe, wobei wir diejenigen weglassen, die ein Verhältnis darstellen, das schon einmal da war, oder die eine Verbindung mit dem einen Ton in höherer Oktave wiederholen, so erhalten wir folgende Rang- ordnung der Intervalle: I. IT, III. IV: V. VI. vn. 4e81 2:1 322 4:3 Dia 5:4 6.9 Grundton Oktav Quint Quart Große Große Kleine Einklang Sext Terz Terz VI. IX. X. X1. X. IT TRY. XV. 1:4 5 1.26 35 SER, 9:5 SE 9:8 Vermind. Vermind. Vermind. Kleine Uebermäß. Kleine Ueberm. Sekunde Septime Quint Terz Sext Sekund Septime Terz Die ersten sechs Glieder dieser Reihe stellen die besten Kon- sonanzen dar, dann wird die Konsonanz schlechter, mit dem 12. Glied etwa beginnen die ausgesprochenen Dissonanzen. Durch algebraische Umformung der ersten fünf Glieder erhält Goldschmidt seine zweite Normalreihe = en ad ee Fa PO, 0 las 4 20? hier decken sich also die Rangordnung der Intervalle nach dem pytha- goreischen Gesetz der kleinen Zahlen und nach dem Gesetz der Kom- plikation vollständig. Gehen wir weiter, so erhalten wir nach Pytha- goras zunächst die große und kleine Terz, nach Goldschmidt aus N, aber Pa N mit entsprechender Umformung, also ebenfalls die große Terz, aber weiter das 8., 9. und 11. Glied der pythagoreischen Reihe. Wollen wir die kleine Terz, die doch in der Musik eine wichtige Rolle spielt, nach dem Gesetz der Komplikation mit aufnehmen, so müssen wir die Reihe N, anbrechen und diese enthält unter ihren 17 Gliedern fünf, die wie z. B. p= ur =", "ln noch über die obenstehenden 15 Glieder der pythagoreischen Reihe der XXI. 44 074 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. Konsonanzen hinausführen. Andererseits finden wir in dieser an 10. Stelle das Verhältnis ”/,, das der harmonischen Zahl !/,, also dem Anfangsglied von N, entspricht und an 12. und 15. Stelle die An- fangsglieder von N, und N.. Goldschmidt selber, dem die große Rolle der kleinen Terz nicht entgehen konnte, wirft die Frage auf, ob wirklich die krystallo- graphischen Normalreihen, oder vielleicht, nach seiner Bezeichnungs- weise, die kleinen ganzen Zahlen und ihre Reeiproken die harmonischen Zahlen darstellten. Dann erhielte man nämlich die Reihe p=0 a a "a 1 2 3 4 = Grundton Kleine Große Quart Quint Große Verminderte Kleine Oktav Terz Teız Sext Septime Septime Er untersucht deshalb, ob '/,, kleine Terz, oder ?/,; und 3/,, ver- minderte Quint und kleine Sext, häufiger in Musikstücken vorkämen, gelangt aber zu keiner Entscheidung. Auch diese Reihe, weiter fort- gesetzt, würde sich nicht vollständig mit den pythagoreischen Zahlen decken, denn während '/, und */,, die verminderte Terz und übermäßige Sekunde, wenn sie auch im jetzigen Tonsystem mit den benachbarten Tönen verschmolzen werden, doch eine gewisse Bedeutung in der Theorie haben, wüsste man für ihre Reeiproken 5 und 6 zwischen der kleinen und großen Septime wohl kaum einen Platz zu schaften. Wir sehen also, dass, soweit es sich um dieallergebräuchlichsten Kon- sonanzen handelt, das Tonsystem der Komplikation und das der kleinen Zahlen sich decken. Bei den weniger guten Konsonanzen ist es sehr schwer, eine Entscheidung zu treffen. Nach dem eben Ausgeführten könnte man annehmen, die kleine Terz entscheide gegen Goldschmidt. Nun ist aber die kleine Terz charakteristisch für die Molltonarten, und Goldschmidt betrachtet die Molltonarten als die abwärts ge- richteten Spiegelbilder der Durtonarten; dabei erhält die kleine Terz, z. B. Es für den Grundton C, die in steigender Harmonie durch die harmonische Zahl !/, ausgedrückt wird, in fallender die Zahl 2 als große Untersexte zugeordnet. Wir können Goldschmidt in dem glücklichen Gedanken folgen, die fallende Harmonie als Spiegelbild der steigenden aufzufassen, im übrigen aber ganz bei den einfachen Zahlenverhältnissen bleiben. Wir erhalten dann die Reeiproken der vorhin behandelten Zahlen, und zwar lauten die ersten sechs Glieder der Reihe: 122 2.28 334 3:45 4:5 5:6 Absteigende Unterquint Unterquart Große Große Kleine Oktav Untersext Unterterz Unterterz Wollen wir erkennen, welche Noten diesen Intervallen in der üb- liehen Bezeichnung entsprechen, so müssen wir die Zähler dieser Brüche alle mit 2 multiplizieren, wodurch wir die betreffenden Töne aus der Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie, 675 Oktav unterhalb in die oberhalb des Grundtones verlegen. So er- halten wir is = = as er ie Sr = öl; Quart Quint Kleine Terz Kleine Sext Große Sext d. h., wenn wir vom ersten Glied, dem Grundtone absehen, in den nächsten fünf Gliedern ebenfalls Quint und Quart, aber auch kleine Terz und kleine Sext, die beiden für Moll charakteristischen Intervalle an bevorzugter Stelle, während die große Sext einen geringeren Rang erhält als in Dur. Setzten wir die Reihe so weit fort, wie oben die der steigenden Harmonie, und nähmen dieselbe Versetzung in die höhere Oktave vor, so erhielten wir fünf Inter- valle, die sich gar nicht mit üblichen Namen bezeichnen lassen und die jedenfalls zu den Dissonanzen zu rechnen sind, daneben die über- mäßige Sekund und verminderte Septime, die jedenfalls sehr schlechte Konsonanzen sind, und zwischen diesen erst an 11. Stelle die große Terz, die also in der fallenden Harmonie, in Moll, eine viel geringere Stellung erhält als die kleine Terz in steigender Har- monie. Wir sehen also, dass die Ableitung der wichtigsten Konsonanzen aus den Verhältnissen der kleinsten ganzen Zahlen und aus Gold- schmidt’s Normalreihen zu beinahe demselben Resultat führt. Nun giebt es aber für einfache Musikstücke nicht nur eine Deutung; Gold- schmidt selbst lässt für den Dur- und den Molldreiklang je vier Deutungen gelten, von denen er die am betreffenden Ort gerade passendste auswählt. So kann man für denselben Akkord verschiedene Grundtöne annehmen; aus diesen, also in gewissem Grade willkür- lichen Grundtönen, baut sich die fortschreitende Harmonie auf, und auch diese lässt wieder verschiedene Deutungen auf verschiedenen Grundtönen zu. Als leitende Regel bei der Wahl unter diesen Mög- lichkeiten stellt Goldschmidt auf, immer die Deutung zu wählen, die die einfachsten Verhältnisse ergiebt; es ist klar, dass man auf diese Weise nicht zu einer Entscheidung gelangen kann, ob die Gold- schmidt’sche oder die pythagoreische Ordnung der Intervalle besser den Thatsachen entspreche. Sie unterscheiden sich ja nur unwesentlich, indem in jeder einige in einfachen Musikstücken selten vorkommende Harmonien vor anderen bevorzugt werden; aber die freistehende Wahl der Grundtöne der Harmonie erlaubt meist solehe Beziehungen zwischen dem ange- nommenen Grundton und den vorkommenden Harmonien, die schlechter in die gewählte Darstellungsweise passen, willkürlich zu vermeiden. Wir können also keiner von beiden einen bedeutenden Vorzug vor der anderen einräumen. 44* 676 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. Wir haben bisher die Deutung der Harmoniegesetze nach den Normalreihen der Komplikation mit der nach den Verhältnissen kleiner Zahlen verglichen. Beide Verfahren sind so gewonnen, dass an der Hand einiger unzweifelhafter Thatsachen Regeln aus ganz fremdartigen Wissensgebieten auf die Musiktheorie übertragen wurden. Von einer physiologischen Begründung war bisher nicht die Rede. Eine solche hat Helmholtz für das Gesetz der kleinsten Zahlen gegeben. Aus seinen Ausführungen ergiebt sich, dass alle solche Klangverbin- dungen dissonant sein müssen, bei denen die Zahl der Schwebungen zwischen den Grundtönen oder irgend einem Paar genügend starker Ober- tüne in der Zeiteinheit innerhalb bestimmter Grenzwerte fällt: sind sie weniger zahlreich, so erkennen wir sie als Schwebungen und die sie er- zeugenden Klänge sind nach der Regel der erlaubten Unreinheit noch als konsonant zu betrachten; sind sie noch zahlreicher, so bilden sie einen Kombinationston und sind nicht mehr unangenehm. Die Grund- regeln der Konsonanz, die sich daraus ergeben, stimmen mit den von Goldschmidt auf eine didaktisch viel fasslichere Weise abgeleiteten in der Hauptsache überein. Aber weiter zieht Helmholtz Folgerungen, die er im Versuche bestätigt fand, und die wir bei Goldschmidt ver- missen. Hierher gehört die Regel, dass die Zahl der guten Konsonanzen in sehr tiefer Lage kleiner ist als in hoher, weil erstens bei tiefen Tönen, die im gleichen Verhältnis zueinander stehen, noch keine Kombinations- töne zu stande kommen können, und zweitens eine größere Zahl von Obertönen zu deutlicher Empfindung kommen als bei sehr hohen Klängen, bei denen die thatsächlich vorhandenen Obertöne bald die Grenze des musikalischen Hörens überschreiten. Weiter gehört hier- her die Regel, dass die Grade und Grenzen der Konsonanz für jedes Instrument eigens bestimmt werden müssen, weil jedes Instrument eine andere Klangfarbe, d. h. eine anders begrenzte und der Stärke nach geordnete Reihe von Obertönen besitzt; so klingen z. B. genau die- selben Klangverbindungen in den hohen Lagen des Klaviers erträglich, welche, von Streichinstrumenten vorgetragen, schon sehr unangenehm sind, weil bei jenem durch die Dämpfung die Reihe der Obertöne rasch abgeschnitten wird. Hierher gehört auch die wichtige, von Helmholtz wohl zuerst ausgesprochene Regel, dass die schärfsten Dissonanzen in der Nach- barschaft der besten Konsonanzen liegen, weil hier fast alle Obertöne zweier Klänge miteinander Schwebungen von entsprechender Häufig- keit in der Zeiteinheit erzeugen; so findet Helmholtz, dass die stärksten Dissonanzen außer in nächster Nachbarschaft von Grundton und Oktav, zwischen Quart und Quint, Quint und Sext gelegen sind. Nach Goldscehmidt’s Komplikationstheorie liegen hier die zwei Glieder ?/, und ?/, der dritten Normalreihe, die also eigentlich eine Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie, 677 wichtige Rolle in der Harmonie spielen sollten. Goldschmidt stellt fest, dass sie wegen der Nähe der noch wichtigeren Intervalle !/,, 1, 2, Quart, Quint und Sext ausfallen, aber er giebt keinen Grund an, warum dies so sein muss. Man müsste also Helmholtz’ Oberton- theorie hier zur Ergänzung der Komplikationstheorie heranziehen. Helmholtz leitet weiter aus seiner Obertontheorie den Satz ab, dass es nur eine beschränkte Zahl von wirklich konsonanten Drei- klängen gebe, nämlich den Dur- und den Molldreiklang mit je zwei Versetzungen, d. h. wenn je einer ihrer Töne um eine Oktave tiefer oder höher gelegt werde, die sogenannten Sexten- und Quartsexten- akkorde. Diese Versetzungen aber seien nicht den ursprünglichen Dreiklängen ganz gleichwertig, wie sie von der älteren Musiktheorie und auch von Goldschmidt aufgefasst werden, sondern sie hätten, auch in absolut reiner Stimmung, einen weniger guten Klang, weil es andere Kombinationen der Obertöne ergiebt, je nachdem die Grundtöne in der ursprünglichen engen Lage oder mit einer Versetzung in der Ordnung der drei Klänge ertünen. Daraus folgt dann weiter, dass wirklich konsonante Vierklänge, Akkorde, nur durch Wiederholung eines Tones dieser Dreiklänge in seiner Oktave gebildet werden können und dass sie ähnliche Unterschiede in ihrem Wohlklang er- kennen lassen, wie die Dreiklänge, aus denen sie abzuleiten sind. Hier müssen wir auf einen thatsächlichen Widerspruch zwischen den Angaben von Helmholtz und von Goldschmidt hinweisen. Goldschmidt bezeichnet den Akkord 0 1], 1, vervollständigt 07,1%, cas fc absteigend, als „den wichtigsten Akkord der fallenden Har- monie“; in der einfacheren Form, ohne das tiefe C, entspricht er dem F-moll-Dreiklang in üblicher Bezeichungsweise und ist recht wohllautend. Mit dem tiefen C und mit © als Grundton aber ist es der C-moll- quartsextenakkord, nach Helmholtz „beinahe eine Dissonanz“ und der schlechteste aller als Konsonanzen behandelten Vierklänge. Diesen Widerspruch durch eigene Beurteilung zu entscheiden ist nicht leicht, auch vorausgesetzt, dass der Beurteiler sich auf sein musikalisches Ohr und die Stimmung seines Instrumentes verlassen kann. Denn die Angaben von Helmholtz beziehen sich alle auf die reingestimmte Physharmonika, während Goldschmidt, der über das benützte In- strument nichts näheres angiebt, vermutlich nur das temperierte Klavier benützte, zu dem Ausdruck, „der wichtigste Akkord der fallenden Harmonie“ aber eingestandenermaßen durch die Analogie mit O0 !/; 1 in steigender Harmonie, dem Durakkord, geleitet wurde. Auf dem temperierten Klavier sind nun auch die besten Konsonanzen nicht so wohllautend wie auf einem ganz rein gestimmten Instrument, anderer- seits sind, wie Helmholtz ausführt, auch arge Dissonanzen auf dem Klavier verhältnismäßig recht erträglich, weil das Klavier arın ist an Ober- tönen und die Stärke des Schalles rasch abnimmt, so dass die raschen 678 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. Schwebungen der Obertöne kaum wirksam werden können. Deshalb aber kann man Helmholtz’ Angaben über den größeren oder kleineren Wohlklang der konsonanten Akkorde überhaupt nicht nachprüfen, wenn man nicht über eine reingestimmte Physharmonika oder ein ähnliches wissenschaftliches Musikinstrument verfügt. In den weiteren Ausführungen von Helmholtz und von Gold- schmidt, durch welche die moderne Harmonielehre und die Not- wendigkeit unseres modernen Tonsystems mit 12 Stufen in der Oktave und temperierter Stimmung zu dem Zweck, auf jedem beliebigen dieser Töne als Grundton alle möglichen Harmonien (mit möglichst geringer Unreinheit) aufbauen zu können, entwickelt wird, finden sich keine wesentlichen Widersprüche. Nur erscheint dem Referenten bei Helmholtz alles zwar umständlicher dargelegt, aber sorgfältig aus den physikalischen Eigenschaften der Klänge und den physiologischen des Gehörorganes abgeleitet, während Goldschmidt’s aprioristische, von dem einmal angenommenen System der Komplikation ausgehende Darstellung über die innere Notwendigkeit der thatsächlichen Verhält- nisse leicht hinweggeht, dafür aber elegant und leicht verständlich ist und wohl auch didaktische Vorzüge besitzt. Die Helmholtz’sche Obertontheorie, wie wir sie bisher wieder- gegeben haben, erklärt die Gesetze des Zusammenklanges dahin, dass Konsonanz das Fehlen unangenehm empfundener Schwebungen sei; man hat ihr deshalb vorgeworfen, sie erkläre den Wohllaut nur negativ, als Mangel der Dissonanz. Triftiger erscheint der Einwand, dass nicht nur für den Zusammenklang, sondern auch für die Folge der Klänge in durchaus einstimmiger, homophoner Musik, dieselben oder fast dieselben Harmoniegesetze gelten wie für den Zusammen- klang. Man muss hier nach Helmholtz einige Hilfshypothesen machen; Helmholtz bezeichnet Töne, welche gemeinsame Obertöne haben, als verwandt. Je mehr Obertöne gemeinsam sind, desto größer sei die Verwandtschaft. Unser Schönheitssinn empfinde und erkenne diese Verwandtschaft, weil ja bei jeder Klangempfindung immer die auf die Obertöne abgestimmten Resonatoren mit erregt werden; wenn die Ok- tave auf den Grundton folgt, so werden gar keine neuen Nervenbahnen eıregt, nur vorher schwächer erregte (des ersten, dritten und über- haupt aller ungeraden Obertöne) werden stärker erregt, während die andere Hälfte der bisherigen Erregungen schwindet. Folgt die Quarte dem Grundton, so dauert die Empfindung des 3., des 7., 11. Obertones u. s. w. fort, während alle übrigen Erregungen sich ändern. Dieses Fortklingen des schon bekannten werde als angenehm em- pfunden, das Auftreten durchaus neuer Erregungen unangenehm, als Dissonanz. Mit dieser Annahme und der weiteren, dass ein musi- kalisch gebildeter Gehörsinn auch die entfernte, nur durch Mittelglieder bestehende Verwandtschaft zweier Klänge unmittelbar zu empfinden Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. 679 vermöge, lassen sich dann alle Regeln für den Wohlklang der Ton- folge ableiten. Aus diesen Anschauungen von Helmholtz folgt dann zweierlei: erstens, dass für den Zusammenklang reiner Töne und von Klängen mit sehr wenigen und schwachen Obertönen, zweitens dass für die Tonfolge in rein einstimmiger, homophoner Musik die Gesetze der Har- monie viel laxer und weniger bestimmt sein müssen, als für die har- monische moderne Musik. Helmholtz hebt hervor, dass uns Musik- stücke auf Instrumenten mit wenig Obertönen, wie Flöten und ungedackten Orgelpfeifen, ausgeführt, leer und langweilig klingen, die auf anderen Instrumenten schön und voll ertönen und dass sich mit solchen Instrumenten sehr kühne Tonverbindungen erzeugen lassen, ohne unerträglich zu werden. Er sieht dies als Bestätigung des ersten Satzes an. Auch die zweite Folgerung glaubt er bei der Untersuchung der Tonleitern solcher Völker, die nur einstimmige Musik kennen, der orientalischen Kulturvölker und der alten Griechen, bestätigt zu finden. Leider sind unsere Kenntnisse in dieser Richtung so mangelhaft, dass zuverlässige Schlüsse aus ihnen kaum gezogen werden dürfen; jeden- falls spielen die Hauptintervalle, wie Quint und Quart, große Sext, große und kleine Terz auch in der homophonen Musik aller Völker die wichtigste Rolle. Dass die einstimmige Musik der europäischen Kulturvölker in den Tonstufen mit den Gesetzen des harmonischen Zusammenklangs durch- aus übereinstimmt, beweist in keiner Richtung viel, denn hier kann es sich um eine allmähliche Anpassung an die festgestimmten Instru- mente und an die Gewohnheit, auch ein einfaches Lied mit harmo- nischer Begleitung zu versehen, handeln. Ob aber die anders ge- arteten Tonleitern der Willkür oder bestimmten, von uns bisher nur noch nicht erkannten Gesetzen ihr Dasein verdanken, das ist eben die Frage. Es heißt, dass einem musikalisch gebildeten Japaner unsere Musik ebenso unschön, barbarisch und unverständlich erscheine, wie uns die japanische; die alten Griechen, in allen bildenden Künsten noch heute unsere nicht übertroffenen Vorbilder, pflegten als hohe Kunst auch die Musik; sie haben uns eine ausgebildete Musiktheorie hinterlassen, die wir nur leider aus Mangel der lebendigen Beispiele nicht genügend verstehen. Nur soviel wissen wir, dass sie eine Be- gleitung der Melodie nur in der Oktave, höchstens noch in der Quint erträglich fanden. Da hat die Vermutung Goldschmidt's etwas be- stechendes, unsere Tonleiter sei mit Rücksicht auf die harmonische Musik bei einem geringeren Grade der Komplikation stehen geblieben, die Musik orientalischer Völker jedoch, die uns unverständlich und un- schön erscheine, und thatsächlich eine weitergehende Teilung der Oktave besitzt, sei in dieser Hinsicht vielleicht vollkommener als unsere einstimmigen Melodien. Für seine Komplikationstheorie be- 680 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. ansprucht er aprioristisch allgemeine Geltung auch für die homophone Musik. Es wäre eine lohnende Aufgabe für einen musikalisch hochbegabten Reisenden, durch genaue Aufzeichnung orientalischer Melodien diese Vermutung Goldschmidt’s auf ihre Berechtigung zu prüfen. Gold- schmidt selber hat den Versuch gemacht, fand aber sein musikalisches Gehör nicht fein genug, um die gehörten Melodien mit der nötigen Genauigkeit aufzuzeichnen; am besten wäre wohl phonographische Fixierung und spätere Untersuchung. Im Zusammenhang mit diesen Problemen steht es, dass Helm- holtz auch die polyphone Musik des Mittelalters, die er gewiss mit Recht als ein Mittelglied zwischen der eigentlichen homophonen Musik und unserer harmonischen betrachtet, für unvollkommen und regellos im Vergleich zur letzteren hält. Wir sahen oben schon, dass Gold- schmidt einen streng geregelten, sinngemäßen Bau eines solchen alten Kirchengesanges nachweist, dessen Gesetze freilich beträchtlich von denen des modernen Generalbasses abweichen. Das beweist zum mindesten, dass Goldschmidt’s Darstellungsmethode des harmonischen Baues eines Musikstückes wirklich geeignet ist, die diesem innewohnenden Gesetzmäßigkeiten aufzufinden. Nicht ohne Interesse ist es auch, dass Goldschmidt in diesen polyphonen Gesängen den Grundton der Harmonie jedesmal in der Mitte der einzelnen Abschnitte an betonter Stelle findet und dass dies übereinstimmt mit einer Angabe des Ari- stoteles über die antike Musik, die von Helmholtz eitiert wird. Auch für einstimmige homophone Melodien scheint dem Referenten die Goldschmidt’sche Art der Untersuchung geeignet zu sein. So giebt Helmholtz Beispiele von Liedern, die sich in einer höchst alter- tümlichen fünfstufigen, bis zur Neuzeit bei den schottischen Gälen und den Chinesen gebräuchlichen Tonleiter bewegen. Als besonders auf- fällig führt er ein gälisches Liedehen an, in dem die Quint beinahe fehle, nur flüchtig auf unbetontem Taktteil berührt werde; er schreibt ihm den Grundton fis zu. Wird es mit Hilfe der Goldschmidt’schen Darstellungsweise untersucht, so ergiebt sich, dass das Liedchen aus Abschnitten aufgebaut ist, die sich abwechselnd auf fis in fallender und h in steigender Harmonie aufbauen, es moduliert also fortwährend von fis-moll nach h-dur und wieder zurück. Mit Berücksichtigung der Wiederholungen ergiebt sich folgender Aufbau auf Grundtönen: 07.10.09) 0270207101,097 0° 0 wenn man fis, oder umgekehrt 2.0. 54.,74 21,740 23,100 0 wenn man h als Grundton des Ganzen ansehen will, und die einzelnen Abschnitte enthalten immer nur die harmonischen Zahlen DI Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. 681 nur je einmal, im zweiten Abschnitt des Mittelsatzes auch die beiden Zahlen !/, und 3. Die Quinte h-fis spielt also auch hier die bedeu- tendste Rolle, nur dass zu fis dann nicht die höhere Quinte hinzu- kommt, sondern die Harmonie immer wieder zur Unterquinte = Quart h zurückkehrt; und auch im übrigen zeigt sich ein einfacher, gesetz- mäßiger Bau. II: Wir wollen nun mit Goldschmidt annehmen, dass sich die Vor- züge seiner Darstellungsweise durchaus bewährt hätten und die Ge- setze der Harmonie durchaus identisch seien mit dem Gesetze der Komplikation und wollen sehen, welche Folgerungen er für die Physio- logie des Gehörorganes aus dieser Voraussetzung zieht. Goldschmidt stellt fest, dass erstens jeder beliebige Grundton dem Ohr gleich willkommen sei, aber zweitens, sobald einmal ein Grundton aufgenommen sei, nur ganz bestimmte in einem rationalen Verhältnis (Goldschmidt sagt „nach dem Gesetz der Komplikation“) zu diesem Grundton stehende andere Töne gleichzeitig oder rasch da- nach angenehm, alle anderen aber unangenehm seien. Daraus folgert Goldschmidt: das Ohr sei im stande, beliebige Töne aufzunehmen; das könne geschehen entweder, indem es für alle diese Töne besondere Aufnahmeorgane besitze, oder wenn es auf jeden beliebigen Ton akkomodieren könne. Die Aufnahme des Grundtones aber befähige das Ohr zum vorzugsweisen Aufnehmen anderer, zum Grundton harmonischer Töne. Die Helmholtz’sche Annahme von den vielen voneinander un- abhängigen Resonatoren erkläre nun diese Eigenschaft des Gehör- organes nicht genügend; danach könnten die verschiedensten Töne zugleich unabhängig voneinander aufgenommen werden und der Unter- schied zwischen Konsonanz und Dissonanz müsse erst im Gehirn zu stande kommen. Goldschmidt zieht die Vermutung vor, das Ohr selbst sei „nach dem Gesetz der Komplikation“ gebaut, es müsse selber ein harmonisches Organ sein. Ein solches harmonisches Organ müsste folgende Eigentümlichkeiten haben: sich an jeden beliebigen Grundton zu akkomodieren und sich dann harmonisch (nicht im mathematischen Sinn dieses Ausdrucks, sondern nach dem Gesetz der Komplikation) zu teilen. Diesen Vorgang stellt er sich folgendermaßen vor: ein herankommender Ton lässt das harmonische Organ mitschwingen in Wellenlängen, die dem Tone entsprechen; damit sind eine Anzahl Knoten, Primärknoten, festgelegt und mit diesen auch der Ort für ab- geleitete Knoten; auf Wellenlängen, die diesen abgeleiteten Knoten ent- sprechen, spricht das Organ nun besonders leicht an. Goldschmidt selbst weist in einer Anmerkung darauf hin, dass diese Anschauung, zu der er durch seine Musiktheorie gelangt sei, im 652 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. wesentlichen übereinstimme mit der, die Ewald in seiner Arbeit „eine neue Hörtheorie“ (1899) veröffentlicht hat und die Goldschmidt erst bekannt wurde, als er seine Arbeit schon abgeschlossen hatte. Wir wenden uns deshalb nun zu einer Wiedergabe des wesent- lichen Inhalts von Ewald’s Arbeit. J. Rich. Ewald geht aus von einer Kritik der Annahme, dass im Ohre eine große Zahl von Resonatoren vorhanden sei, die auf die ein- zelnen Töne abgestimmt sind, und dass etwa ebensoviel Nervenfasern vorhanden seien, die jede einzelne Tonempfindung dem Gehirn zuleiten; er führt eine ganze Reihe von Erfahrungen und Beobachtungen an, die nach ihm mit dieser Theorie schlecht vereinbar sind. Diese Einwände sind teils mehr, teils weniger treffend, unter anderen finden wir auch den von Goldschmidt in den Vordergrund gestellten, dass der wesent- liche Unterschied von Konsonanz und Dissonanz nicht genügend erklärt werde. Nur derjenige der übrigen, der dem Referenten der aller- wichtigste erscheint, soll hier noch wiedergegeben werden, nämlich das Vorhandensein der Intermittenztöne. Wenn mit einer Sirene ein Ton erzeugt wird, und dann aus dem Zahnrad der Sirene ein Zahn ausgebrochen wird, so kann, neben dem ursprünglichen Ton, auch ein Ton erkannt werden, dessen Höhe den Umdrehungen des Zahnrades, also der Häufigkeit, mit der die Lücke an der Zunge vorbei passiert, entspricht. Ewald untersucht nun die Möglichkeit, dass nicht einzelne Re- sonatoren im Ohre vorhanden seien, sondern die ganze Membrana basilaris der Länge nach in Schwingungen versetzt werden könne. Jeder einzelne Luftstoß würde auf einem solchen langen, schlaff ge- spannten Band eine laufende Welle erregen, regelmäßige Ton- schwingungen aber müssen darauf stehende Wellen mit Knoten und Bäuchen an bestimmten, einerseits durch Art und Spannung des Bandes, andererseits durch die Tonhöhe bestimmten Stellen erzeugen. Ewald hat Gummimembranen in einer Weise aufgespannt, die der Befestigung der Membrana basilaris in der Schnecke entspricht, und konnte, wenn er sie z. B. mit Stimmgabeln berührte, auch wirklich stehende Wellen auf ihnen erzeugen und diese „Schallbilder“ sichtbar machen. Man konnte dann regelmäßig abwechselnde Streifen erkennen, die den Bäuchen und Knoten der Wellen entsprachen. Ueberträgt man nun zwei gut konsonante Töne auf dieselbe Membran, so bekommt man etwas verwickeltere, aber ebenso regelmäßige Bilder: bei Grundton und Oktave schiebt sich immer ein neuer Streifen in die Mitte zwischen je zwei Streifen des Grundtones, die zugleich verstärkt werden, bei Grundton und Quinte wird jeder Streifen des Grundtones abwechselnd verstärkt oder von zwei schmäleren Streifen in die Mitte genommen. Die anderen Konsonanzen müssen verwickeltere Streifensysteme er- Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie, 683 zeugen, die sich regelmäßig wiederholen, aber je weiter wir in der pythagoreischen Reihe der Zahlenverhältnisse fortschreiten, um so größeren Raum beanspruchen die Streifensysteme, ehe sie sich wieder- holen; bei vollkommenen Dissonanzen wiederholen sie sich überhaupt nicht mehr. Musikalische Klänge erzeugen sofort ein solches regel- mäßiges System stärker und schwächer ausgebildeter Streifen, wie es dem Grundton und seinen Obertönen entspricht, und bei zwei oder mehr konsonanten Klängen vereinigen sich diese beiden Systeme zu einem neuen, ebenso regelmäßigen. Nicht regelmäßige Luftstößeerregen immer neuelaufende Wellen, aber auch regelmäßige sehr starke und kurze explosionsartige Luftstöße können nur laufende Wellen erregen, während im gleichen Zeitmaß sich wieder- holende, langsam ablaufende Schwingungen stehende Wellen erzeugen; so hören wir auch kurze regelmäßige Luftstöße nur als Geräusch, regelmäßige Schwingungen der gleichen Frequenz aber als tiefe Töne. Nach Ewald’s Auffassung würden überhaupt alle laufenden Wellen als Geräusch, alle stehenden als Ton empfunden; dadurch erkläre sich auch, warum man bei gewissen Geräuschen doch eine ungefähre Ton- höhe erkennen könne und dass schon zwei in irgend einem kleinen Zeitintervall aufeinanderfolgende Schwingungen genügen, eine Ton- empfindung von bestimmter Höhe auszulösen. Wir sehen also, dass sich Ewald’s Vorstellung von der Funktion der Membrana basilaris vollständig deckt mit den Anforderungen, die Goldschmidt an ein „harmonisches Organ“ stellt. Eigentümlich und ein ebenso wichtiger Teil von Ewald’s Hörtheorie, die er selber recht treffend „Schallbildertheorie“ getauft hat, ist seine Anschauung, wie diese verschiedenen Schwingungsweisen der Membrana basilaris zum Bewusstsein gelangen. Er nimmt, wie schon Helmholtz, an, dass im Corti’schen Organ viele Endorgane vorhanden sind, die durch die Nervenfasern des N. cochlearis mit dem Gehirn in Verbindung stehen. Nun könne zwar nicht jede einzelne dieser Fasern oder jede eng bei- einander liegende Gruppe derselben eine gewisse Tonempfindung aus- lösen, wie es die Annahme vieler einzelner Resonatoren voraussetzt, wohl aber werde jeder einzelne Ton eine anders geartete Empfindung erregen: es werden jedesmal alle die Nerven erregt, deren Endorgane den Wellenbäuchen entsprechen und jene unerregt bleiben, die den Knoten anliegen oder vielleicht auch umgekehrt. Jeder Ton, jeder Klang, jeder konsonante Akkord wird deshalb eine bestimmte regel- mäßig geordnete Gruppe von Erregungen zum Gehirn senden, während vollkommene Dissonanzen unregelmäßig verteilte Erregungen, mit der Möglichkeit unendlicher Mannigfaltigkeit, erzeugen werden. Ewald zeigt nun noch an einem technischen Beispiel, wie man sich denken könne, dass jede andere Gruppierung der anlangenden Erregungen im Centralorgan andere Empfindungen auslöse; auf weitere Vermutungen, 684 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. wie wohl in der Hörsphäre diese Aufgabe gelöst sei, lässt er sich nicht ein. Während also seine Annahme über die Funktion der Membrana basilaris mit Goldsehmidt’s Vermutung, das Ohr selbst sei ein „har- monisches Organ“, vortrefflich übereinstimmt, so verlegt er doch den Unterschied zwischen der Empfindung von Konsonanz und Dissonanz in das Gehirn. Ja er scheint dies als einen Vorzug seiner Hypothese anzu- sehen, denner betont, damit werde der Unterschied zwischen musikalischen und unmusikalischen Menschen, die beide alle Töne und Klänge gleich gut hören und unterscheiden könnten, darauf zurückgeführt, dass jene die regelmäßige Anordnung von Knoten und Bäuchen auf ihrer Mem- brana basilaris als etwas angenehmes empfinden, während es für diese keinen wesentlichen Unterschied ausmacht, ob sich die Knoten auf der Membrana basilaris regelmäßig oder unregelmäßig anordnen. Ewald zeigt dann noch besonders, dass sich mit seiner Annahme auch die Intermittenztöne erklären lassen: denn eine diesen ent- sprechende Zahl von Knoten bildet sich auf einer solchen Membran fest aus, während alle übrigen, dem ursprünglichen Ton entsprechenden Knoten und Bäuche infolge des Ausfallens ‚der einen Schwingung mit schwankender Intensität auftreten. Auf weitere Einzelheiten im Vergleich der Ewald’schen und Helm- holtz’schen Hörtheorie, die für und gegen die eine und die andere sprechen sollen, einzugehen verzichten wir und untersuchen zunächst, wie weit sich Goldschmidt’s Gesetz der Komplikation mit Ewald’s Theorie verträgt. Wir sehen bald, dass sich die Schallbilder aller der Töne zum Teil decken und gut ineinander fügen müssen, deren Schwingungszahlen im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen zueinander stehen, dass aber desto verwickeltere Schallbilder entstehen müssen, je größere Zahlen nötig sind, dies Verhältnis auszudrücken. Ewald’s Theorie bietet daher, sobald man nur die Voraussetzung zugiebt, dass die Regelmäßigkeit der Schallbilder empfunden werde, eine unmittel- bare Erklärung der pythagoreischen Harmoniegesetze. Die Abweichungen, die das Gesetz der Komplikation von der Reihe der einfachsten Ver- hältnisse zeigt, stimmen dagegen mit Ewald’s Annahme nicht überein. Dagegen hat diese vor Helmholtz’ Musiktheorie zwei Vorzüge, wie sie auch Goldschmidt für seine Theorie in Anspruch nimmt: sie er- klärt die Gesetze der Konsonanz ohne Zuhilfenahme von Obertönen, also nicht nur für Klänge, sondern auch für reine Töne, und sie er- klärt, warum auch nacheinanderfolgende konsonante Töne soviel an- senehmer sind als dissonante: denn im ersteren Fall bleiben eine ganze Reihe Knoten der beiden Schallbilder bestehen, und auch die ver- schwindenden und neu auftretenden passen zueinander, während, wenn zwei dissonante Töne einander ablösen, die Schwingungsart der ganzen Membrana basilaris sich auf einmal ändern muss, wobei wohl Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. 685 eine verworrene Erregung fast aller Fasern des N. cochlearis im Augen- blick des Uebergangs eintritt. Nach Helmholtz würde der Unter- schied zwischen dem Aufeinanderfolgen zweier konsonanter und zweier dissonanter Klänge nur sein, dass im einen Fall einige leise Obertöne fortklingen würden, im anderen nicht. Eine Dissonanz zweier reiner Töne, die aufeinanderfolgen, aber könnte nach Helmholtz kaum un- mittelbar empfunden werden. Die von Helmholtz aufgefundenen Einflüsse der Klangfarbe, d. h. der Obertöne, auf die Schönheit der Akkorde, können bei einem Vergleich der verschiedenen Hörtheorien außer Betracht bleiben, denn diese Einflüsse müssen sich immer geltend machen; auch bei den Schallbildern werden zwei nicht nah verwandte einfache Töne ein verhältnismäßig einfaches Streifensystem erzeugen, dies wird aber um so verworrener und unregelmäßiger werden, je mehr Obertöne sich jedem der Grundtöne zugesellen. Kehren wir nun zu Goldschmidt’s Erörterungen zurück, so sehen wir freilich eine große Uebereinstimmung in seiner Vorstellung von einem harmonischen Organ, und der Anschauung, die Ewald über die Funktion der Corti’schen Basalmembran entwickelt, aber doch auch einen sehr wesentlichen Unterschied: Goldschmidt spricht von einer Akkomodation des Gehörorganes im strengsten Sinne. Nicht jeder herankommende Ton teile die Basalmembran in Schwingungsknoten ab, wie Ewald meint, sondern nur ein solcher, auf den das Gehör- organ akkommodiert sei; auf den ersten herankommenden Ton akkomodiere es unwillkürlich, und damit sei es nun auch eingestellt auf alle zu diesem ersten Ton barmonischen Töne, zwei dissonante Töne aber könne es zugleich oder rasch nacheinander nur aufnehmen durch raschen Wechsel der Akkomodation. Die Anstrengung dieses raschen Wechsels der Akkomodation sei das Quälende beim Aufnehmen von Dissonanzen. Goldschmidt weist darauf hin, dass es im Ohr zwei Muskeln gebe, deren Funktion noch nicht aufgeklärt sei: den M. tensor tympani und den M. stapedius; auf die weitere, seinem Forschungsgebiet fern- liegende Untersuchung, wie eine solche Akkomodation an den aufzu- nehmenden Grundton der Harmonie aber technisch und physiologisch möglich sei, verzichtet er vollständig. Dafür führt er aus, wie sich mit dieser Annahme alle Eigentümlichkeiten des musikalischen Hörens gut erklären ließen; und es ist wirklich bestechend, wie sich dann die Erkenntnis der absoluten Tonhöhe aus dem Spannungsgefühl der Akkomodation, die Erkenntnis der Tonart, der musikalischen Harmonie, unabhängig von der absoluten Tonhöhe, aus der Teilung des Aufnahme- organes erklären lassen. Auch für die, freilich höchst selten bisher, festge- 686 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. stellten Anomalien des musikalischen Gehöres, dass z. B. ausgebildete Musiker mit dem einen Ohr alle Töne um einen bestimmten Grad tiefer hörten als mit dem anderen, oder den Uebergang von einer Tonart in die andere als Zuhörer nicht vollziehen konnten, würde sich aus Goldschmidt’s Annahme leicht eine Erklärung ergeben. Da Goldschmidt selbst auf diesen Teil des Problems kaum ein- geht, sei hier auch nur ein Einwand gegen die Möglichkeit seiner Auf- fassung angeführt. Jede Akkomodation auf einen herankommenden Ton müsste ein Reflex sein; erst müsste der Ton, wenn auch noch nicht musikalisch scharf, pereipiert sein, dann könnte erst durch den Reflexbogen die Akkomodation mit Hilfe der Muskeln des Mittelohres erfolgen. Nun kann aber ein musikalisches Ohr auch zwei arg disso- nante Töne jeden für sich in kürzester Zeit genau erkennen; Gold- schmidt glaubt, dass hierzu ein Wechsel der Akkomodation nötig und die Anstrengung dieses raschen Wechsels das Quälende der Dissonanzempfindung sei. Für jeden Wechsel der Akkomodation ist dann jedenfalls soviel Zeit nötig, wie zum Zustandekommen eines Re- flexes; dieses Zeitmaß, die Reflexzeit der höheren Tiere, kennen wir ungefähr, sie beträgt vermutlich etwas weniger als !/,, Sekunde. Es dürften also, wenn es sich um eine Akkomodation handelt, zwei disso- nante Klänge, die zugleich oder nacheinander, aber nur für ein kürzeres Zeitmaß als '/. Sekunde ertönen, nicht mehr beide erkannt werden können. Auf diese Weise ließe sich vielleicht entscheiden, ob Gold- schmidt’s Vorstellung von der Hörakkomodation berechtigt sein kann. Wir haben den kurzen Abschnitt, den Goldschmidt seinen Schlussfolgerungen über das Funktionieren des Gehörorganes widmet, ausführlicher wiedergegeben, wollen aber den weiteren Inhalt seiner Arbeit dafür nur kurz andeuten. Goldschmidt wendet sich zunächst psychologischen und erkenntnistheoretischen Fragen zu und erörtert die Harmonie in psychologischem Sinne, wobei er von der Musik und seiner Komplikationstheorie der Harmonie ausgeht. Dann geht Goldschmidt zu einem anderen Gebiet über, zu der Harmonie der Farben; er geht von der bekannten Thatsache aus, dass das Aufnahmsgebiet unseres Auges für Lichtschwingungen etwa eine Oktave umfasse; er findet dann, dass sowohl die auffallendsten, zuerst mit Buchstaben bezeichneten Frauenhofer’schen Linien, als auch die als die wichtigsten anerkannten „und mit allgemeinüblichen Be- zeichnungen versehenen Farbtöne“ (Purpur, Scharlach, Rot, Gelb, Grün, Blau, Violett) einer Teilung dieser Oktave nach dem Gesetz der Kon- plikation entsprechen. In einer Wahrscheinlichkeitsberechnung weist er nach, dass das Zusammentreffen der Frauenhofer'schen Linien mit der harmonischen Teilung der Oktave kaum ein zufälliges sein könne; eine ähnliche Anordnung findet er übrigens auch für die Spektral- Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. 687 linien des Wasserstoffes.. Nach alledem glaubt er von Linienakkorden des Sonnen-, des Wasserstoffspektrums reden zu dürfen und von har- monischen Farben und Farbenakkorden, nicht im Sinne eines willkür- lichen subjektiven ästhetischen Urteiles, sondern auf Grund der Zahlen- verhältnisse der Lichtschwingungen. Die den wichtigsten musikalischen Harmonien entsprechenden Farbenzusammenstellungen, blau-goldgelb, grün-rot und blau-rot, immer unter Einfügung von weiß, seien aber thatsächlich die allgemein beliebtesten Farbenzusammenstellungen, wie sich sowohl an den Nationalkostümen wie an den Nationalflaggen zeigen lasse. Goldschmidt entwickelt nun eine eigentümliche Theorie des Farbensinnes, die auf der Grundlage des Komplikationsgesetzes ausge- arbeitet ist. Da aber alle eigene prüfende Untersuchung der gemachten Annahmen fehlt, kann sie nur als eine kühne Vermutung gelten, und wir müssen die Leser auf die Originalarbeit verweisen. Nur soviel sei angedeutet, dass Goldschmidt annimmt, die Zapfen seien die farbenempfindlichen Elemente, jeder Zapfen aber für die Aufnahme verschiedener Farben geeignet; das sei möglich durch „Knotenbildung“ der Lichtwellen innerhalb der Zapfen. Diese Differenzierung der Zapfen habe sich entwickelt durch den Einfluss der hauptsächlich auf- genommenen Farben, daher die Uebereinstimmung des Sonnenakkordes und des ästhetischen Farbenakkordes. Die Differenzierung der Zapfen aber variiere im selben Auge und bei verschiedenen Menschen: daher die verschiedene Ausdehnung der Erkennungskreise für die Grund- farben auf der Netzhaut, die verschiedenen Grade des Farbensinns und der Farbenblindheit. Eine Bestätigung dieser Theorie, wonach Gelb die „Dominante der Farbenharmonie“, Blau die zuletzt allgemein erworbene der Haupt- farbenempfindungen wäre, findet Goldschmidt in der Entwicklung der Farbenbezeichnungen und also auch des Farbensinnes bei den indogermanischen Völkern. Diese in ganz bestimmter Richtung fort- schreitende Komplikation der Farbbegriffe ist bekanntlich von hervor- ragenden Philologen behauptet, freilich auch von anderen ebenso leb- haft bestritten worden. Aber Goldsehmidt zieht auch die Entwicklung des Farbensinnes beim Kinde und die Rangordnung der Farben der Blüten und Früchte zur Stütze seiner Hypothese an: überall herrsche dasselbe Gesetz der Komplikation, im letzteren Fall, weil es sich ja um Anlockung von Tieren handle, deren Farbenempfindung ebenso entstanden sei wie unsere menschliche. In einem letzten Teil seines Werkes handelt Goldschmidt vom Gesetz der Komplikation noch auf anderen Gebieten; ebenso wie bei den Krystallen die abgeleiteten Flächen, so schieben sich bei dem Wachstum der hexameren Korallen die neugebildeten Septen und Strahlen in einer diesem Gesetz entsprechenden Reihenfolge und Aus- 688 Neue Beiträge zur Musik- und Hörtheorie. bildung zwischen die ursprünglich angelegten ein. Sollen einfache Ornamente gebildet, Zahlenverhältnisse übersichtlich dargestellt, ein Maßstab leicht erkenntlich eingeteilt werden, überall entspricht die Größe der einzelnen verwendeten Elemente ganz oder beinahe ganz ihrer Rangordnung nach dem Gesetz der Komplikation. Daraus entwickelt sich dann naturgemäß bei Goldschmidt eine erkenntnistheoretische Schlussbetrachtung, deren Hauptsätze wir wieder- geben wollen. Man könne Harmonie auf vier Weisen verstehen und definieren: psychologisch als Auswahl von Tongruppen (eder anderer Sinneseindrücke), die dem Gemüt einen Genuss gewähren; physiologisch als die Wirkung solcher wohlthuender Tongruppen einerseits auf das Ohr, andererseits auf das Gehirn; physikalisch als eine mechanistische Charakterisierung solcher Tongruppen, die psychologisch und physio- logisch harmonisch wirken; Goldschmidt glaubt nachgewiesen zu haben, dass das Gesetz der Komplikation die Schwingungszahlen aller harmonischen Tongruppen charakterisiere; und endlich erkenntnis- theoretisch, wenn man frage, warum diese, nach bestimmten Gesetzen gruppierten Empfindungen, nun auch dem Gemüt einen Genuss ver- schaffen, welches gemeinsame Band die ersten drei Definitionen der Harmonie zu einem einzigen Begriff verbinde? Goldschmidt findet die Antwort auf diese letzte Frage in der Annahme einer Parallelität der Sinnesthätigkeit und Gehirnthätigkeit einerseits, der Vorgänge im Gehirn und in der Psyche andererseits. Auf die Sinne wirkten solche äußere Vorgänge vorzugsweise anregend, die dem Bau der Sinnesorgane angepasst seien; den Vorgängen in den Sinnesorganen aber entsprechen parallele Vorgänge in den Central- organen, denn beide sind ja nur in gemeinsamer Thätigkeit entwickelt worden; so wirken also jene äußeren Vorgänge auch auf die Gehirn- thätigkeit anregend, und dies werde psychisch als wohlthuend em- pfunden. Andererseits sind die Sinnesorgane den Vorgängen der äußeren Welt angepasst, daher wir in dieser dieselben Gesetze wirk- sam finden, die die schöpferische Thätigkeit der menschlichen Psyche beherrschen. Daher kommt Goldschmidt zu dem Schlusssatz, der den allge- mein gehaltenen Titel seiner Arbeit rechtfertigt: „Das Gesetz der Kom- plikation charakterisiert den Begriff der Harmonie als Genuss, als Em- pfindung und als Gruppierung, d. h. psychologisch, physiologisch und physikalisch, und auch genetisch. Als Genuss in der Psyche, als Empfindung in den Sinnesorganen und als Gruppierung in der Physik; genetisch nach der gemeinsamen Entwicklung unseres Geistes und Körpers und der Mannigfaltigkeit in der Natur.“ Auf diese in das Grenzgebiet der Philosophie und der biologischen Wissenschaften gehörenden Schlusskapitel von Goldschmidt’s Werk Näcke, Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen. 689 sollte hier nur kurz die Aufmerksamkeit der biologischen Forscher gelenkt werden, die den erkenntnistheoretischen Fragen besonderes Interesse entgegenbringen. Einen sicheren Gewinn aber scheint dem Referenten Goldschmidt’s neue Methode der Darstellung musikalischer Harmonien und des Baues eines Musikstückes zu bedeuten. Denn ganz unabhängig von der Berechtigung der übrigen Annahmen Gold- schmidt’s ermöglicht sie, den Aufbau einfacherer Musikstücke so übersichtlich und fast unabhängig von ästhetischen Vorurteilen darzu- stellen, dass dadurch die wissenschaftliche Untersuchung dieses Baues sehr gefördert werden muss. Aber auch die Hypothesen über die Funktion des Gehörorganes, wie sie in experimentell kritischer Untersuchung Ewald und in rein deduktiver Weise Goldschmidt aufgestellt haben, verdienen allge- mein beachtet zu werden. Aus beiden ergeben sich eine größere An- zahl von Folgerungen, die nicht ganz übereinstimmen mit jenen, die aus der Helmholtz’schen Hörtheorie zu ziehen sind, und so sollten sie anregen zu vielerlei verfeinerten Beobachtungen, z. B. auch über den Gesang der Vögel, die Musik der Naturvölker, und neuen, experi- mentellen Untersuchungen, die jedenfalls für unsere Kenntnisse frucht- bar sein müssen, auch wenn keine der hier wiedergegebenen Hypo- thesen volle Bestätigung durch sie finden sollte. [71] Werner Rosenthal. P. Näcke. Einige innere somatische Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen, zugleich als Beitrag zur Anatomie und Anthropologie der Variationen an den inneren Hauptorganen des Menschen. (Sonderabzug aus der Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. LVIH, S. 1009— 1078.) Mit diesen Zeilen will ich die Aufmerksamkeit der Biologen auf eine Arbeit lenken, die, in der Zeitschrift für Psychiatrie abgedruckt, den Ana- tomen und Physiologen nicht bequem zugänglich ist. P. Näcke hat — nach „inneren“ Degenerationszeichen suchend, eine große Anzahl Leichen in Betreff des anatomischen Verhaltens der Eingeweide untersucht: er hat geprüft, inwieweit die einzelnen Eingeweide in ihrer äußeren Ge- stalt und Form von der sogenannten „Norm“ abweichen. Die von Näcke festgestellten Resultate sind selbstverständlich für die Anatomen von großer Bedeutung, und deshalb soll von diesen Ergebnissen hier die Rede sein. Etwas ganz anderes ist es mit den Gründen, aus denen Näcke sich zu dieser Arbeit veranlasst sah — etwas anderes ist es mit der Deutung, die Näcke seinen Resultaten giebt: mit der Auffassung der Abweichungen von der Norm — als Degenerationszeichen. Ich lasse zunächst die ganze Angelegenheit in Betreff der Degene- XXI. 45 690 Näcke, Degenerationszeichen 'bei Paralytikern und Normalen. rationszeichen bei seite und bleibe nur bei den rein anatomischen Resul- taten stehen. Näcke untersuchte 121 Paralytikerleichen, von denen freilich nur 104 zur Verwertung gelangten, und außerdem 108 normale Leichen (d. h. in diesem Fall Leichen von nicht paralytisch erkrankten Individuen). Das Material von 108 Leichen wurde ihm durch Prof. Nauwerck- Chemnitz geliefert; durch Nauwerck wurden nach einem bestimmten Schema die Ergebnisse der Sektionen für Näcke aufgezeichnet. Näcke untersuchte bei 212 Individuen vor allem die Varietäten der Lunge, des Herzens, der Milz, der Niere und der Leber; daneben wurden einige andere Organe gelegentlich berücksichtigt. Was fand Näcke? 1. Die Lungen. In Betreff der Lungen inte- ressierte ihn besonders der Zerfall der Lungen in eine größere Anzahl von Lappen, als gemeinhin gefunden werden, die sogenannte Mehrlappig- keit der Lungen. Er versteht unter einem überzähligen Lappen einen solchen, der durch Spaltung eines normalen Lappens, womöglich bis auf den Hilus, entstanden ist (Typus I); ferner bezeichnet Näcke die durch unvollständige Spaltung entstandene unvollständige Lappenbildung als Typus II, und schließlich nennt er das Vorkommen abgesprengter Stückchen und zerstückelter kleiner Anhänge Typus II. Ich bin mit der Bezeichnung „überzählige Lappen“ und dem Unterschied dreier verschiedener Typen nicht einverstanden; denn obgleich es sich um eine Vermehrung der Lappenzahl resp. um eine größere Zahl von Lappen als gewöhnlich (eine Ueberzahl) handelt, so ist die Vermehrung doch nicht das Wesentliche, sondern der Spalt, die Furche, durch welche die 'Teilung des einen größeren TLappens hervorgerufen wird. Ich hätte demnach lieber gesagt, statt Ueberzahl der Lappen vollständige oder unvollständige Spaltung der primären Lappen in sekundäre: Ich will hier auf die heute wieder aufgetauchte Frage nach dem Vergleich der beiden Lungen- hälften (Aeby, Narath und andere) nicht "eingehen, nur eins möchte ich aussprechen:, der Spalt, der an beiden Lungen den oberen Lappen abtrennt, ist ein primärer; der Spalt, der an der rechten Lunge den oberen Abschnitt in einen mittleren und einen oberen Lappen teilt, ist schon ein sekundärer — in der linken Lunge fehlt dieser Spalt. Sollte man nun sagen, die rechte Lunge hat im Vergleich zur linken Lunge einen überzähligen Lappen? Das wäre meiner Ansicht nach durchaus falsch. Bleiben wir bei Näcke’s Ergebnissen stehen. Wie oft findet er eine Spaltung der Lappen, oder, wie er es ausdrückt, wie oft kommt ein über- zähliger Lappen vor? Mehrlappigkeit wurde beobachtet bei Normalen sechs, bei Para- lytikern fünfmal; und zwar bei Normalen rechts viermal und links zweimal, bei Paralytiker rechts zweimal, links dreimal; d. h. es fanden sich an der rechten Lunge statt drei Lappen vier oder füuf, an der linken Lunge statt zwei Lappen drei. Wenn wir von den Unterabteilungen in den drei Typen absehen, so ergiebt sich, in Prozenten berechnet, für Normale (108) — sechsmal — 5,55 °],, für Paralytikern (104) — fünfmal — N Sldls (Ich bemerke, dass Näcke nicht überall Prdeenkahlen giebt, ich füge die berechneten Zahlen bei.) Näcke, Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen. 691 Von einem Versuche, die einzelnen Zahlen der drei Typen gesondert aufzuführen, muss ich abstehen, da die gelieferten Schilderungen dazu keinen festen Anhalt bieten. Näcke schreibt aber: „Wir sehen also, dass die echte, vollständige Lappenbildung (Typus I) an der rechten Lunge seltener war als an der linken, und zweitens, was viel wichtiger erscheint, dass echte Lappen viel häufiger bei Paralytikern als bei Normalen auftreten. Was Näcke in Betreff der Basalfurchen und Basallappen sagt, glaube ich übergehen zu können. Ferner schreibt Näcke, dass der Mittellappen ganz oder fast ganz fehlen könne — bei Normalen fehlt er nie, bei Paralytikern fehlt er selten, unter 104 fünfmal (—4,8°/,). Ich fürchte, dass die Bezeich- nung Fehlen des Mittellappens ein nicht ganz korrekter Ausdruck ist, — es sollte heißen: das Fehlen des Einschnittes. Es wird heißen müssen: bei Normalen fehlt ein Spalt (in der rechten Lunge) niemals, bei Para- lytikern dagegen in 4,8°/,. Dass ich mit dieser Erklärung Recht habe, geht aus einer kleinen Bemerkung Näcke’s hervor. Er sagt: Bei Nor- malen fehlt er (d. h. der Mittellappen) nie, bei Paralytikern ganz oder fast ganz, fünfmal. Einmal schieu es ferner so, doch war er nur ver- klebt. Die Verklebung kann sich doch nur auf den Spalt, auf den Ein- schnitt zwischen dem mittleren und unteren Lappen beziehen. Ueber die Schwere, d.h. über das Gewicht der Lunge macht Näcke keine Zahlenangaben. 2. Das Herz. Hypoplasie des Herzens fand sich bei Para- lytikern unter 104 Fällen achtmal (= 7,6°/,); freilich ist dabei zu be- merken, dass in vier Fällen auch andere Organe, Milz, Niere, Leber relativ zu klein waren; die Hypoplasie des Herzens geht also oft der Kleinheit der übrigen Organe parallel. Die Herzspitze kann sehr breit erscheinen oder gespalten sein. Ein wirklicher Doppelspalt zeigt sich einmal bei Normalen (in 0,92°/,); ein- mal bei Paralytikern (— 0,96°/,); bei Paralytikern fand sich auch vier- mal eine breite Spitze (= 3,8°/,). In Betreff des Foramen ovale (resp. der sichtbaren Oeffnung im Sept. atriorum sagt Näcke, dass er eine eiförmige Oeffnung bei Paralytikern kein einziges Mal, bei Normalen viermal (3,7°/,), einen Spalt als Rest der eiförmigen Oeffnung bei Normalen 43mal (—39,8°/,) gefunden hat. Zählen wir beide zusammen, so giebt es 47mal (—43,5°/,). Da unter diesen 47 Fällen einige jugendliche Personen sind, welche auszuschließen sind, so zählt N. nur 37 Fälle (— 28 °/,). 3. Die Milz. Ueber das Gewicht der Milz macht Näcke keine An- gaben. Eine zur Körpergröße abnorm kleine Milz fand sich bei Nor- malen keinmal, bei Paralytikern drei- bis viermal (= 2,8—3,8°/,), und zwar waren alle Durchmesser gleichmäßig verkleinert. In Betreff der Gestalt meint Näcke, dass bei der Untersuchung der Normalen hierauf nicht besonders geachtet worden sei, weil nichts darüber erwähnt werde, — fährt dann fort: „Jedenfalls kann ich nach meiner Erinnerung wohl be- haupten, dass ich früher bei den Normalen nie solche und so verschieden gestaltete Milzen sah wie bei den Paralytikern. Er beobachtete eine ab- norme Gestalt 18mal, nämlich 16mal bei 104 (= 15,4°/,) und außer- dem noch zweimal. ei, 45* 692 Näcke, Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen. Eine Nebenmilz fand sich bei 108 Normalen 11mal (=10,1°/,) bei 104 Paralytikern sechsmal (= 5,7°/,). Er setzt hinzu, dass letztere Zahl jedenfalls zu niedrig sei, da noch nie auf diesen Punkt geachtet wurde, wes- halb auch diese beiden Zahlen nicht miteinander verglichen werden können. Lappen an der Milz fanden sich unter den’ 108 Normalen viermal (= 3,7 °/,), unter 104 Paralytikern neunmal (= 8,6°/,). Einschnitte, namentlich am scharfen Rande (margo crenatus) sind häufiger. Bei Normalen wurden nur sechsmal Einschnitte notiert (= 5,5°/,), bei Paralytikern 38mal (= 36,5°/,); der bedeutende Unterschied liegt offenbar in der subjektiven Auffassung, was unter Einschnitt zu verstehen ist. An der Zwerchfellseite wurden bei Normalen 12 mal Einschnitte ge- sehen (= 11,1°/,), bei Paralytikern 18mal (= 17,3°/,); noch seltener sind die Einschnitte am stumpfen Rand, hier finden sich bei 108 Normalen wie bei 104 Paralytikern je sechsmal (d. h. bei Normalen 5,5 °/,, bei Paralytikern 5,7°/,). 4. Die Niere. Auffallende Kleinheit der Niere bei Paralytikern nur einmal, bei Normalen gar nicht verzeichnet. Die Gestalt war abnorm fünfmal bei Paralytikern (= 4,8°/,), keinmal bei Normalen. Die bei Paralytikern beobachteten Formen waren: zweimal war die Niere sehr lang und relativ schmal, einmal war die Niere oben rechtwinkelig abgestumpft, zweimal war der Hilus tief ausgehöhlt, einmal in Hufeisenform. Ueber die notierten Gefäßanomalien gehe ich hinweg. Unter den Normalen ist in einem Falle ein doppeltes Nierenbecken und ein doppelter Ureter beob- achtet worden. In Betreff der Lappung. Spuren von Furchen sind sehr oft, deut- liche Furchen selten, — es ist ganz subjektiv wie man zählen soll. Bei den Normalen sind in 20 Fällen Furchungen notiert (= 18,5°/,), Wenn man aber berücksichtigt, dass unter diesen 20 Individuen sieben im Alter bis zu 10 Jahren standen, so muss dadurch das Vorkommen bedeutend seltener erscheinen. Ueber das Gewicht der Niere. macht Näcke keine Angaben. 5. Die Leber. Abnorme Größe oder Kleinheit der Leber ist bei Normalen nicht notiert, bei den Paralytikern war in einem Fall die Leber klein. In Betreff der abnormen Gestalt ist zu bemerken: Linker Leber- lappen. Die hintere Ecke läuft in eine scharfe, bisweilen geschwungene Spitze aus; der ganze Lappen erscheint schmal und lang ausgezogen, zungenförmig — bei 108 Normalen achtmal (=7,4°/,), bei 104 Para- lytikern 15mal (=14,4°/,). In sechs Fällen unter den 15 Paralytikern zeigte sich eine wirklich scharf nach hinten gehende Spitze der hinteren Ecke des linken Leberlappens, bei übrigens normaler Größe und Kon- figuration, nur eben mit Verdünnung der Spitze. Am rechten Leber- lappen fand sich eine Art Zunge in der hinteren Ecke nur einmal bei einem Paralytiker. Eine sehr große Menge von Einschnitten und infolge- dessen Läppchenbildung kommen in der Leber vor. Sie befinden sich am Rande, auf der freien Fläche, sind verschieden tief, gerade oder gekrümmt, einfach und mehrfach, dringen senkrecht oder schief in die Lebersubstanz ein. Manchmal erscheinen sie wie narben- oder furchenähnliche Ein- schnitte. Randeinschnitte sind seltener als Flächeneinschnittee Am linken Leberlappen sind Einschnitte und Läppchenbildungen viel seltener als am rechten Leberlappen. Näcke, Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen. 693 An 108 Normalen: Linker Leberlappen Einschnitte neunmal (= 8,3°/,), Läppchen sechsmal (= 5,5 °/0), zusammen 15 mal (— 13,8°/,); bei 104 Paralytikern acht Einschnitte, zwei Läppchen, in Summa 10 Fälle (— 9,6°/,). Am rechten Leberlappen sind Einschnitte und Läppchen zahl- reicher: bei 108 Normalen: 13mal Einschnitte am Rande (e42,002/5); 71 mal Einschnitte auf der Fläche (65,7 2 außerdem 14 Läppchen e12I6N): Die Randeinschnitte waren tief bis zu 6 cm Länge. Speziell hervor- zuheben ist die sogenannte Schrägfurche unter 108 Normalen, in der Hälfte aller Fälle, 59mal (=54,6°/,). Sie liegt in der Verlängerung des 'Tubereulum caudatum, läuft von Hilus aus schräg abwärts nach rechts am Halse der Gallenblase weiter. Bisweilen sind 1—2 oder mehrere tiefe Parallelfurchen vorhanden. Bei 104 Paralytikern wurden notiert: 10mal Randeinschnitte (= 9,6°/,), Schrägfurchen allein oder mit anderen Furchen zusammen 46 mal (= 44,2°/,). Das variabelste Gebilde der Leber ist der Lobus Spigelii (Lobus posterior). Der Lobus posterior variiert so sehr, dass es vielleicht nicht zwei ganz gleiche Exemplare giebt — alle Beschreibungen in den Lehr- büchern sind nur Schemata. Er ist nach links zu etwas beweglich, von seinem Ende läuft rechts vorn meist schräg nach dem Hilus zu ein ge- wöhnlich dicker Wulst — Tuberculum caudatum (Processus caudatus, Cauda Lobuli Spigelii). Gestalt und Größe, wie Beweglichkeit sind wechselnd — in der Beurteilung spielt die Subjektivität eine große Rolle. Unter 108 Normalen war der Lob. Spig. sechsmal abnorm groß (= 5,5°/,), zweimal war der Lob. quadratus groß; in einem Falle der Lob. Spig. lang, in anderen Fällen fast viereckig, in vielen anderen Fällen rundlich; sehr beweglich in zwei Fällen. Am vorderen Rand des Lob. Spig. kommt sehr häufig — (nach Näcke fast normal — ich will lieber sagen regelmäßig), ein kleiner senkrechter Einschnitt vor, bisweilen mehrere ganz seichte. Bisweilen ist dieser Einschnitt tief und lang, so dass der Lob. Spig. wie gespalten erscheint. Bei 108 Normalen fand sich dieser tiefe Einschnitt 21 mal (= 19,4°/,), in vier Fällen (= 3,70°/,) erreichte er fast die Hälfte des Lappens, einmal sogar zwei Drittel des Lappens, zweimal war der Schnitt schräg gerichtet. Unter 104 Paralytikern wurde notiert: Abnorme Größe des Lob. Spig. 15mal (= 14,4°/,), abnorme Kleinheit sechsmal (=5,7°/,), in Summa 20 mal; das vergrößerte Organ war nicht sehr beweglich und viel- fach abnorm gestaltet, einmal dreieckig, einmal abgeplattet, einmal nach dem hinteren freien Rand eingerollt, 11mal plump viereckig, einmal war die Basis tief eingeschnürt, einmal trug der Lappen links unten einen langen flottierenden Zipfel, einmal erschien er infolge eines tiefen Einschnittes zweigeteilt. Einmal waren statt des Lob. Spig. zwei nicht zusammen- hängende kleine runde Protuberanzen vorhanden, die untere Protuberanz war größer, Tub. caudatum nicht vorhanden. Einmal bildete der Lob. Spig. eine obere, lange, breite, vertikale Zunge, während die kleinere untere Hälfte wie ein langer, schmaler, abgerundeter Zapfen aussah. Ein- mal trug der Lob. Spig. hinten eine scharfe Spitze, zweimal war er drei- 694 Näcke, Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen. eckig, zweimal fehlte der Proc. caudatus. Sehr beweglich war der Lob. Spig. 10mal (= 9,6°/,). Viel weniger variabel als der Lob. Spig. ist der Lob. quadratus (Lob. anterior); er ist meist rechteckig, mit den kurzen Seiten nach vorn und hinten; bisweilen ist er sehr breit aber niedrig, das Rechteck ist liegend. Zum Lob. Spig. steht er bezüglich der Größe gewöhnlich in umgekehrtem Verhältnis. Unter den 108 Normalen ist nur einmal ein sehr großer und besonders langer L. quadr. bei sehr kleinen Lob. Spig. notiert. Einmal läuft er in einen zugespitzten Lappen aus, und der rechts liegende, kurze Anteil zeigt unten einen kurzen, sagittalen Einschnitt. — Einschnitte finden sich 11mal (= 10,2°/,), darunter auf der inneren Fläche dreimal, einmal ein querer nach unten zu, einmal ein kurzer longitudinaler oben, einmal einer unten, einmal eine quer verlaufende Bogenfurche; einmal trennte ein Querschnitt den ganzen Lappen in zwei Teile, so dass ein oberer und ein unterer Lappen entstand. Lappen- bildungen finden sich 31mal (= 28,7°/,) erwähnt. In Betreff der Paralytiker ist zu bemerken: abnorme Größe des linken L.-Lappens in 16 Fällen (=15,3°/,), davon war in fünf Fällen die ganze Leber größer als gewöhnlich. (Unter abnormer Größe versteht Näcke hier offenbar die Abweichung von der Norm, ganz einerlei, ob die Abweichung unter oder über der Norm liegt; es ist das wohl nicht ganz genau, denn einer abnormen Größe oder Vergrößerung steht eine abnorme Kleinheit gegenüber.) Unter den abnorm kleinen linken L.-Lappen war ein Fall beson- ders bemerkenswert; der Lappen war hinten schmal und vorne breit, er- schien also etwa dreieckig gestaltet; in einem anderen Fall war der Lappen etwa auf die Hälfte oder den dritten Teil des gewöhnlichen Um- fanges reduziert. Die übrige Beschreibung der einzelnen Fälle muss hier bei seite bleiben. Unter „Brücke“ versteht man die gewöhnlich parenchymatöse, selten fibröse, Ueberbrückung des Ligamentum teres. Eine solche Brücke findet sich in der Hälfte aller Fälle, aber in verschiedener Ausdehnung. Bei Normalen (108) fehlte die Brücke in 53 Fällen (= 49,90°/,) und war vorhanden in 55 Fällen (= 50,10°/,), darunter 33mal unvollständig, 15 mal fibrös und siebenmal vollständig oder fast vollständig parenchymatös, Einmal fanden sich zwei kleine getrennte parenchymatöse Brücken vor. Bei den (104) Paralytikern fehlte eine Brücke 42mal (— 40,97 °/,), folg- lich vorhanden in 62 Fällen (= 59,03 °/,); vollständig ausgebildet in 14 Fällen, hatte eine Länge von 2 cm in 27 Fällen. Schließlich sind noch einige Mitteilungen über die Gallenblase ge- macht. Die Gallenblase ist gewöhnlich in eine seichte Nische (Furche) eingebettet, selten nach rechts durch einen scharfen Einschnitt von der Substanz des R. Lappens getrennt. Der Fundus der Gallenblase soll nahe an den vorderen Rand der Leber heranreichen; in gefülltem Zustand kann die Blase über den Rand der Leber hinausragen. Unter den 108 Normalen ist eine zu kurze Blase erwähnt in 15 Fällen (= 14°],), eine zu lange in vier Fällen (= 3,70 °/,). Unter den Para- Iytikern sind notiert 29 Fälle (—=28°/,) von zu kurzer Blase, 10 Fälle mit zu langer Blase (—=9,1°/,). Ein eingeschnürter Hals ist bei Para- lytikern dreimal notiert. Was Näcke in Betreff der Angaben anderer Autoren mitteilt, kann Näcke, Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen. 695 hier nicht mitgeteilt werden; es erscheinen die sehr fleißig von Näcke gesammelten Notizen auch für die mich beschäftigende Fragen nicht so wichtig. Ich habe im Eingang dieser Mitteilung darauf hingewiesen, dass die Ergebnisse der Untersuchungen Näcke’s in anatomischer Hinsicht sehr interessant sind: es ist der Versuch gemacht, die statistische Methode auf gewisse innere Organe (Eingeweide) anzuwenden. Es sind 212 Indi- viduen genau untersucht und die einzelnen Organe miteinander verglichen worden, um festzustellen, worin sie voneinander abweichen. Es ist mir nicht bekannt, dass ähnliche Versuchsreihen vorliegen. Zu bedauern ist, dass Näcke nicht bei dieser Gelegenheit auch das Gewicht der Einzel- organe bestimmt hat. Es liegen freilich darüber Arbeiten von Vierordt, Thoma u.a. vor, aber bei derartigen Untersuchungen sind große Zahlen- reiben sehr notwendig, um sichere Schlüsse zu ziehen. Man könnte gegen die Schlüsse, die Näcke aus seinen Zahlen zieht, wohl einweinden, dass nicht ein, sondern zwei Beobachter in Betracht kommen, — aber das ist meiner Ansicht nach gleichgültig; ich fasse den Sachverhalt anders auf. Es liegen zwei Untersuchungsreihen vor, eine von Nauwerck in Chemnitz, die andere von Näcke in Hubertus- burg. Was können die Anatomen und Biologen daraus lernen? Dass ein- zelne Organe, wie z. B. die Lungen, in ihrer Form und Gestalt sehr gleichmäßig sind, dass Abweichungen selten vorkommen — natürlich von pathologischen Veränderungen abgesehen. Wir lernen aber auch, dass gewisse Organe, wie z. B. Leber und Milz, außerordentlich variieren, in Form, Gestalt, Aussehen u. s. w. Ich sage ausdrücklich: die Organe variieren, weil dieser fremde Terminus mehr in sich schließt als das deutsche „verschieden“. Es ist eine außerordentlich große Variation der Organe durch Näcke's und Nauwerck’s Untersuchungsreihen festgestellt. Allein ich will es gleich hier offen aussprechen, meiner Ansicht nach ist ein weiteres Ergebnis den Untersuchungen nicht zu entnehmen. Was hat die Variabilität der Lebergestalt, frage ich, zu bedeuten? Die Antwort lautet kurz „Nichts“ — die Funktion, die Leistung der Leber wird durch die verschiedene Gestaltung weder verändert noch beeinträch- tigt. Das ist meine subjektive Anschauung, meine persönliche Ansicht. Ob der Lobus Spigelii etwas größer oder kleiner ist, ob eine Brücke da ist oder nicht, das ist für die Funktion der Leber — meiner Ansicht nach — völlig gleichgültig. Ob die Gallenblase kurz oder lang ist, muss gleichgültig sein, wenn sie nur die gehörige Kapazität besitzt. Diesen einfachen Schluss, dass alle Organe -— unbeschadet ihrer Funktionen, ihrer Leistungen — stark variieren, macht Näcke nicht. Er hat aber seine Untersuchungen keineswegs begonnen, um nur zu diesem Schlusse zu gelangen. Es sind ganz andere Beweggründe gewesen, die ihn veranlasst haben, seine eigenen Untersuchungen auszuführen und Nauwerck (Chemnitz) zu derartigen gleichen Studien anzuregen. Näcke wollte vom Standpunkt der Degenerationslehre aus prüfen, inwieweit sich „Normale“ (Uutersuchungsreihe Nauwerck’s) und Paralytiker (Unter- suchungsreihe Näcke’s) in Betreff der Variationen verhalten. Näcke meint nun, dass aus seinen Resultaten einiges. zu Gunsten 696 Näcke, Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen. der Degenerationslehre sich ableiten lässt — und hierin muss ich ihm direkt widersprechen. Morel hat die Lehre von den Degenerationszeichen (Stigmata) erfunden; ob auch von ihm das Wort Stigma für ein Zeichen herrührt, weiß ich nicht. Morel lehrte, dass die Menschheit, richtiger die ein- zelnen Glieder der Menschheit, infolge fortgesetzter schädlicher Einwir- kungen „degenerieren“, hinfällig werden sowohl in physischer wie psychischer Beziehung. Die bedauernswerten Opfer der Degeneration sind nun die Träger der physischen Zeichen der Degeneration, d. h. sie besitzen eine Reihe geringerer oder bedeutender Varietäten im Bau, in Beschaffenheit, Form und Aussehen der inneren wie äußeren Organe. Zu den äußeren „Degenerationszeichen“ (Stigmata) rechnet er z. B. Abnormität der Öhrmuschel, äußerlich sichtbare Abnormität des Schädels, Asymmetrie des Kopfes u. s. w. Solche mit äußeren physischen Degenerationszeichen versehenen Individuen sollen auch psychisch degeneriert, d. h. im gewöhnlichen Ausdruck geisteskrank — oder psychisch nicht in Ordnung — sein. Auf dieser allgemeinen Grundlage hat Lombroso weiter gebaut, hat seine Verbrechertypen konstruiert u. s. w. Diese Lehre hat unter den Psychiatern viel Anhänger — aber auch Gegner (Forel). Näcke gehört zu den Anhängern der Degenerationslehre. Er hat die Aufmerksamkeit seiner Fachkollegen auf eine Anzahl von anatomischen Varietäten gelenkt, er hat viele Varietäten als Degenerationszeichen in Anspruch genommen. Näcke hat Torus palatinus, die Lücke zwischen den mittleren Schneide zähnen, die Depressio parieto-occipitalis (Fossa praelambdoida) u. s. w. als Degenerationszeichen gedeutet. Er hat diesen sogenannten äußeren „Degenerationszeichen“ bei Psychisch-Kranken eine besondere Abhandlung gewidmet (A. Z. f. Psychiatrie — Bd. LV, 1898). Näcke suchte nun die Lehre von den Degenerationszeichen weiter durch Untersuchungen zu begründen; er meinte, dass bisher nur die äußeren Kennzeichen berücksichtigt seien — man müsse aber auch nach inneren Degenerationszeichen suchen. Man müsse die Eingeweide der Paralytiker ins Auge fassen — ob auch bei ihnen vielleicht mehr Ab- weichungen von der Norm vorkommen als bei Normalen. Das war die Veranlassung zu der Untersuchung der Eingeweide von Normalen (Nau- werck) und von Paralytikern (Näcke). Näcke ist nun zu der Ansicht gelangt, dass thatsächlich einige der oben aufgezählten Varietäten innerer Organe für Stigmata zu er- klären sind. Er rechnet dazu 1. Lunge: Abnorme Größe oder abnorme Kleinheit; die echte Mehr- lappigkeit; die höheren Grade des Basallappens; das Fehlen eines Haupt- lappens. 2. Herz: Deutliche Hypoplasie; Hyper- und Hypoplasie der Gefäße; die doppelte, eventuell breite Spitze; Loch im Sept. atriorum (offenes for. ovale); Offenbleiben des Ductus Botallii. 3. Leber: Abnorme Größe, abnorme Kleinheit; abweichende Form des ganzen Organs oder der beiden Hauptlappen, insonderheit des linken Lappens; Anwesenheit vieler tiefer Furchen; Fehlen des Lobus Spigelii oder des Lobus quadratus. 4. Gallenblase: Abnorme Kürze, abnorme Länge; Divertikel; Ein- schnürungen. Näcke, Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen. 697 5. Milz: Abnorme Größe und abnorme Gestalt; Lappenbildung; tiefe Einschnitte. 6. Niere: Abnorme Größe und Gestalt; Tiefstand; doppeltes Nieren- Becken, doppelte Ureter. Näcke sieht sich veranlasst, die genannten Variationen als „Degene- rationszeichen“ zu deuten, 1. weil sie bei Paralytikern (Geistes- kranken) häufiger seien als bei Normalen, 2. weil sie bei den ersteren gehäuft, d. h. viele gleichzeitig, in stärkerem Grade, im Körper ver- breitet, vorkommen, 3. weil die selteneren, also die wichtigeren Anomalien bei Paralytikern eher anzutreffen sind als bei Normalen. Näcke schreibt (l. c. p. 1069): Die „inneren“ Degenerations- zeichen sind alle nur seltenere Abweichungen, und ihre Wich- tigkeit bekunden sie dadurch, dass sie häufiger, verbreiteter und in stärkerem Grade auftreten als bei den Normalen — bei den Paralytikern, übrigen Geisteskranken etc., also bei solchen, die wir eventuell den Ent- arteten zurechnen dürfen. — Und in Betreff der „äußeren“ Zeichen hatte Näcke bereits früher (1899) geschrieben: „Das, was zur Zeit als Degenerationszeichen hingestellt wird, ist meist patho- logisch, auf Grund von Ernährungsstörungen allgemeiner Art oder von Entwicklungshemmungen, gewiss nur selten als echter Rückschlag zu be- zeichnen. Diese Zeichen besagen an sich nichts oder wenig, und nur, wenn sie in der Mehrzahl, in weiter Ausbreitung, in höherem Grade und in der richtigsten Form vorkommen, können sie einen Hinweis auf Minder- wertigkeit des Trägers liefern. Doch ist bei der Beurteilung stets die größte Vorsicht geboten. Wo es darauf ankommt, sind stets noch die viel wichtigeren sogenannten psychischen und physiologischen Stigmata auf- zuführen.“ An einer anderen Stelle sagt Näcke, dass bei dem Begriff der De- generation stets der Hauptnachdruck auf die persönliche Minder- wertigkeit, also auf psychische und physiologische Momente, zu legen sei, weniger auf das rein Leibliche. Ferner betont er, dass die Aufstellung oben erwähnter innerer Stigmata zum Teil nur eine vorläufige ist, da wir bei der unendlichen Variationsfähigkeit auch der inneren Organe zum Teil nicht immer wissen können, was normal, was abnorm er- scheint. „Auch ist der ethnische Faktor“ — heißt es bei Näcke weiter — nicht zu vergessen, daher hat fast jedes Stigma selten einen absoluten, sondern einen relativen Wert, d. h. für ein besonderes Volk, zu einer besonderen Zeit. Einen absoluten Wert kann ein „inneres“ wie ein äußeres Stigma nur dann beanspruchen, wenn dadurch wirklich ein greif- barer Schaden des Organismus erwächst.“ In den hier mitgeteilten — wörtlichen — Aeußerungen Näcke’s liegen die schwachen Seiten der Lehre von den Degenerations- zeichen meiner Ansicht nach offen vor. Von meinem anatomischen Standpunkte aus verwerfe ich die Lehre von den Degenerationszeichen oder den Stigmata vollständig. Die Degenerationszeichen (Stigmata) sollen Zeichen „persönlicher Minderwertigkeit“ sein — das ist die erste Behauptung. — Zu den Stigmata werden zum Beispiel gerechnet: das Tubereulum Darwinii, der Torus palatinus, angewachsene Ohrläppchen, fehlende Ohrläppchen, abweichende Ohrform. Was hat das alles mit der „Minderwertigkeit“ eines 698 Näcke, Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen, Menschen zu thun? Wer von den Lesern dieses Blattes kennt nicht eine oder mehrere Personen, die dergleichen Kennzeichen aufweisen — ohne dass die betreffenden Personen auch nur die geringste Spur von „Minder- wertigkeit“ erkennen lassen? Und nun gar die inneren Degenerations- zeichen und ihre Bedeutung! Was hat die Gestalt des Lobus Spigelii oder des Lobus quadratus der Leber wohl mit „Minderwertigkeit“ zu thun? Näcke ist sehr vorsichtig — ein Zeichen allein bedeutet nichts —, es müssen mehrere sein. Wenn demnach jemand ein 'Tuberculum Dar- winii an seinem Ohr hat, so bedeutet das für die Beurteilung seiner Per- sönlichkeit Niehts — allein wer kann wissen, ob er nicht an inneren Degenerationszeichen reich ist? ob nicht vielleicht sein Lobus Spigelii rundlich statt viereckig ist, ob er nicht vielleicht eine Spalte in der Lunge zu viel hat? ob er nicht vielleicht eine zu kurze Gallenblase, eine ge- spaltene Milz oder gar eine Nebenmilz hat? Wie groß muss die Zahl der Stigmata sein, damit der Träger derselben als persönlich minder- wertig zu bezeichnen ist? So lange nur von äußeren Stigmata die Rede war, konnten die Anhänger jener Lehre mit Leichtigkeit eine bestimmte Zahl als notwendig nennen. Aber jetzt, wo Näcke auch „innere“ Stigmata erfunden hat, ist das schwieriger. Man kann doch bei einer notwendigen Untersuchung auf Stigmata die betreffenden Personen nicht sofort sezieren, um etwaige Anwesenheit von Stigmata in den Eingeweiden festzustellen. Die Lehre von den Stigmata steht auf schwachen Füßen. Näcke sagt: bei dem Begriff Degeneration ist der Hauptaccent auf die persönliche Minderwertigkeit, also auf psychisch-physiologische Momente zu legen. . Mit diesem Satz hat Näcke selbt die ganze Lehre von den Degene- rationszeichen in Frage gestellt. Niemand wird daran zweifeln, dass die sogenannten psychischen Vor- gänge an das Gehirn gebunden sind, wie die Harnsekretion an die Nieren — ich sage nur kurz: „gebunden“ sind —, der Zusammenhang ist ja gleichgültig. Wenn das Gehirn nicht in Ordnung ist, wenn Fehler im Bau vorhanden sind, wenn Störungen in der Ernährung eintreten, so wird das Gehirn nicht richtig funktionieren. — die Folge wird unter Umständen eine „persönliche Minderwertigkeit“ sein. Aber was hat das Tubereulum Darwinii des Ohres damit zu thun? Was ein Torus pala- tinus? Was eine zu große Gallenblase? Die Anhänger der Degenerations- lehre sind geneigt, alle Abweichungen von der Norm als Degenerations- zeichen zu erklären. Was ist denn die Norm? Werfen wir schließlich noch einmal einen Blick auf die verschiedenen Degenerationszeichen. Viele derartige sogenannte Zeichen sind entschieden pathologisch — sie fallen von vornherein fort. Andere derartige Zeichen sind Entwicklungshemmungen, d.h. es sind bei erwachsenen Individuen die Formzustände erhalten, die sonst vorüber- gehend bei der Bildung der Individuen beobachtet werden; — inwiefern sollen diese Zeichen auf Degeneration hinweisen ? Viele der sogenannten Zeichen gelten als Tierähulichkeit — das hat Näcke, Degenerationszeichen bei Paralytikern und Normalen. 699 natürlich gar nichts zu bedeuten, denn unser ganzer menschlicher Körper ist tierähnlich, — was macht dabei eine Kleinigkeit mehr aus? Nichts. Was bleibt denn schließlich noch übrig? Es bleiben noch diejenigen Zeichen, die als abnorm gelten, ohne pathologisch zu sein. Was ist aber Norm? Ich behaupte, hiebei ist der Ausdruck „abnorm“ vielfach willkür- lich und falsch gebraucht. An einem bestimmten Beispiel will ich das klar machen. Wenn jemand an einer Hand oder einem Fuße statt fünf Finger oder Zehen sechs, oder nur vier Finger oder Zehen hat, so ist seine Hand oder sein Fuß abnorm; der Mensch selbst ist deshalb noch nicht abnorm,. Weder eine solche Hand noch ein solcher Fuß, noch weniger einen solchen Menschen darf man als pathologisch bezeichnen, denn Pathologisch be- zeichnet das Krankhaftee — Ob derartige Abnormitäten körperliche Störungen herbeiführen, ist meiner Ansicht nach hier gleichgültig. Die Beantwortung der Frage, wie derartige Abnormitäten, z. B. Vermehrung oder Verminderung der Finger und Zehen, zu stande gekommen sind, scheint mir hierbei auch gleichgültig. Wenn jemand aber eine Leber hat, deren rechter Lappen klein und deren linker Lappen groß ist, oder um- gekehrt, so ist die Leber nicht abnorm, es ist eine solche Leber eine Varietät; die Funktion der Leber braucht deshalb nicht im geringsten verändert oder gestört zu sein. Wenn jemand einen M. biceps nicht mit zwei, sondern mit drei Köpfen besitzt, so ist das kein abnormer Muskel, sondern es ist eine Varietät oder eine Variation. Sollten dem einem oder dem anderen diese Beispiele nicht genügen, so verweise ich auf das Ge- biet der Blutgefäße, insonderheit der Arterien, um den Begriff der Varietät gegenüber dem falschen Ausdruck „Abnormität“ klar zu machen. Eine Arteria mediana im Vorderarm ist keine Abnormität, son- dern eine Varietät; der hohe Ursprung der Art. ulnaris und radialis ist keine Abnormität, sondern eine Varietät. — Ich könnte diese Beispiele noch bedeutend vermehren, aber die angeführten dürften genügen. Wenn sich die Anhänger der Degenerationslehre erst dieser Varie- täten der Blutgefäße bemächtigen werden, was für ein reiches Feld der Thätigkeit stellt sich ihnen entgegen! Allein Näcke hat selbst schon zugegeben, dass viele sogenannte Degenerationszeichen, namentlich die inneren Zeichen nur Variationen der Organe darstellen; wo ist die Grenze? Er hat selbst zugegeben, dass wir zur Zeit nicht wissen können, wie sich bei der unendlichen Variations- fähigkeit der Orgaıte feststellen lässt, was „normal“ oder „abnorm“ ist. Er gebraucht hier den Ausdruck abnorm meiner Ansicht nach durchaus unrichtig. Ich komme zum Schluss: Die sogenannten Degenerationszeichen sind anatomisch sehr verschieden zu beurteilen nach ihrer Entstehung und ihrer Bedeutung. Es sind aber weder die Abnormitäten noch die Bildungs- hemmungen, noch die Varietäten einzelner Organe als Degenerations- zeichen (Stigmata) zu deuten. Ein Zusammenhang zwischen ihnen und den Hirnfunktionen besteht nimmermehr. Auf das Bemühen, gerade diese Behauptung durch die vergleichende Untersuchung von sogenannten „Nor- malen“ und Paralytikern (richtiger von Geistesgesunden und Geistes- kranken) zu beweisen, gehe ich hier nicht ein. Das einzige Organ, das 700 Zacharias, Ergrünung der Gewässer durch mikroskopische Organismen. hier in Betracht kommt, ist das Gehirn, das Organ der psychischen Thätigkeit. Der Wert der Untersuchungsreihen von Näcke (und Nau- werk) liegt darin, dass sie uns die großen Schwankungen, die Varie- täten vieler Körperorgane deutlich vor Augen geführt haben. Dass diese Varietäten als Degenerationszeichen eine Bedeutung haben, ist nicht bewiesen. L. Stieda, Königsberg i. Pr. [62] Ueber die Ergrünung der Gewässer durch die massenhafte Anwesenheit mikroskopischer Organismen. Von Dr. Otto Zacharias (Plön). Während der Frühjahrs- und Sommermonate lässt sich nicht selten an manchen stehenden Gewässern eine intensive Grünfärbung beobachten, welche oft Wochen lang andauert, dann aber gewöhnlich rasch zu verschwinden pflegt, so dass das Wasser binnen wenigen Tagen sein normales Aussehen wieder- erlangt. Diese Ergrünung rührt stets von der übermäßig starken Vermehrung gewisser mikroskopischer Organismen her, die sich durch den ganzen Teich oder See verbreiten. Meist sind es pflanzliche Wesen (Algen), die hier in Frage kommen und in der Mehrzahl der Fälle ist es auch immer nur eine be- stimmte Art, die ein solches Uebergewicht über die anderen erhält, welche außerdem noch in dem betreffenden Wasserbecken vorhanden sind. Es ist nicht die Erscheinung der sogenannten „Wasserblüte“, um die es sich hier handelt, denn bei dieser schweben die Algen in unmittelbarer Nähe der Ober- fläche und drängen sich dort so zusammen, dass sie vielfach eine rahmartige Decke auf dem Spiegel des Gewässers bilden. Ein derartiges Blühen des Wassers wird häufig erzeugt von Olathrocystis aeruginosa, Anabaena flos aquae, Aphanizomenon flos aquae oder auch von Gloiotrichia echinulata. Letztere Alge ist namentlich in den norddeutschen Seen häufig und erreicht dort im Monat August ein Maximum ihrer Vegetation. Die gleichförmige Ergrünung des Wassers wird aber nicht durch Ver- treter dieser Gattungen, sondern durch andere Algenspecies hervorgerufen, die sich durch alle Wasserschichten, bis zu denen das Licht dringt, verbreiten und nicht bloß für die oberen eine ausgesprochene Vorliebe bekunden. Eine solche Alge ist z. B. Chlorella vulgaris Beyr., deren winzige Kügelchen in manchen Jahren so üppig gedeihen, dass in einem ziemlich weiten Bezirk alle Tümpel, Lachen und Teiche davon erfüllt und grün gefärbt sind. Dieselbe Erscheinung wird gelegentlich auch von Carteria cordiformis (Cart.) verursacht, also durch ein Geißelinfusorium, welches einen schön saft- grün gefärbten Chromatophor besitzt und sonst ähnlich wie die bekannte Chlamydomonas pulvisculus gebaut ist, die in kleinen Wasserpfützen ebenfalls Grünfärbung erzeugt. Nach einem Berichte von Professor A. Fri6 (Prag) wurde in einem Altwasser der Elbe, welches den Namen „Labice“ führt, die Ergrünung durch drei ver- schiedene Euglenen-Species, die zu gleicher Zeit in erstaunlicher Anzahl auftreten, bedingt. Es waren das Kuglena viridis, acus und deses. Dazwischen kam auch noch Phacus longicaudus (Ehrb.) vor‘). 1) A. Fri6: Untersuchung des Elbflusses ete., 1901. Zacharias, Ergrünung der Gewässer durch mikroskopische Organismen. 701 Ein anderes Mal wurde dasselbe Gewässer durch eine Planktonalge (Go- lenkinia fenestrata Br. Schr.) in denselben Zustand der Ergrünung versetzt. Es war das namentlich im Juni und Juli der Fall. In den Promenadenteichen Hamburgs fand ich gelegentlich Kudorina elegans in so riesiger Menge (Juli, August), dass jene Ziergewässer ganz dunkel- grün gefärbt erschienen, wenn man aus einiger Entfernung auf dieselben blickte. In einem Goldfischbassin des Botanischen Gartens zu Marburg war die Ergrünung lediglich auf Pediastrum boryanum zurückzuführen, welches hier eine zeitlang in ungeheurer Anzahl vorkam. Ein Teich des Palmeugartens zu Frankfurt a.M. enthielt eine winzige Pleurococcacee als Urheberin der grünlichen Wasserbeschaffenheit. Es war Poly- edrium papilliferum, var. tetragona Br. Schr. (Ende Mai1898). Die sichere Bestim- mung dieser Species verdanke ich Herrn Dr. Bruno Schröder, der eine genaue Untersuchung derselben vornahm und auch die neue Varietät(tetragona) aufstellte. Im Riesengebirge fand ich (1896) in einem Felsenloche bei den Drei- steinen ganz hellgrünes Wasser und entdeckte darin massenhaft eine Des- midiacee, die ganz ungewöhnlich klein war. Sie erregte mir — weil sie an so abgelegener Stelle vorkam — sofort den Verdacht, dass sie neu sein könnte, und das war auch wirklich der Fall. Der schon oben genannte Algolog bestimmte dieses kleine Wesen, das die Gestalt einer winzigen Semmel hat, als zur Gattung Staurastrum gehörig und nannte es St. Zachariasi'). Außer der Grünfärbung kommt übrigens auch, aber viel seltener, eine Rötung der Gewässer durch Organismen vor. Eine solche kann z. B. durch die Flagellatenspecies Astasia haematodes Ehrb. entstehen, wie ich an einem Fischteiche zu Herne in Westfalen beobachtete, der durchweg blutrot von der Menge dieser Geißelträger geworden war (Juli). Schlecht gereinigte Fisch- teiche, welche auf ihrem Grunde Schwefelwasserstoff entbinden, werden sehr leicht von einem bakterienartigen Wesen heimgesucht, nämlich von Chromatium Okeni, welches ebenfalls in ungeheurer Anzahl auftritt und das Wasser grell- rot färbt. Dies geschieht manchmal sogar im Winter unter dem Eise, Im Züricher See tritt zu manchen Zeiten eine Erscheinung auf, welche die Anwohner das „Burgunderblut“ nennen. Der See wird dann streckenweise ganz dunkelrot und sieht aus, als hätte man große Mengen Blut in ihn hineinfließen lassen. Diese intensive Färbung rührt stets von einer Alge (Oscillaria rubescens) her, welche in manchen Jahren und zu gewissen Perioden in geradezu staunenswerter Ueppigkeit auftritt. Im obigen sind nur diejenigen Organismen berücksichtigt, die am häufigsten eine Färbung der freiliegenden Gewässer bewirken; es giebtaber sichernoch andere von gleicher Eigenschaft, hinsichtlich deren nur nicht so offenkundige Erfahrungen betrefis ihrer Beteiligung an dem Phänomen der Wasserfärbuug vorliegen. [59] Zur biologischen Charakteristik des Schwarzsees bei Kitzbühel in Tirol. Von Dr. Otto Zacharias (Plön). Westlich von Kitzbühel und in geringer Entfernung von diesem Orte liegt ein kleiner See, welcher in Betreff seiner Planktonbeschaffenheit ver- 4) Die Beschreibung erfolgte in den Plöner Forschungsber. Teil V, 1897. Dort ist auch eine Abbildung beigegeben. 702 Zacharias, Biol. Charakteristik des Schwarzsees bei Kitzbühel in Tirol. schiedene Eigentümlichkeiten aufweist. Herr Prof. Hans Molisch (Prag) hatte die Güte, mir zwei Proben dieses Planktons, welche vom 21. und 29. Juli a. c. datiert sind, zur Verfügung zu stellen und mir deren mikroskopische Analyse zu gestatten. Beide Proben waren spärlich hinsichtlich der Quantität des aufge- fischten Planktons, enthielten aber doch eine größere Anzahl Arten von Rädertieren und Urustaceen. Von ersteren waren vorhanden: As- planchna priodonta Gosse, Polyarthra platyptera Ehrb. und deren breitflossige Varietät euryptera Wierz. (= latiremis Imhof), Bipalpus vesiculosus Wierz. und Zach., Conochilus dossuarius Hudson, Flos- cularia sp. (wahrscheinlich mutabilis Bolton), Anuraea cochlearis Gosse, Anapus ovalis Bergendal, Rattulus bicornis Western und Masti- gocera capucina Wierz. und Zach. Von Crustaceen gelangten folgende Arten zur Beobachtung: Sehr zahlreich Oeriodaphnia pulchella Sars und Bosmina longirostris O.F.M., sowie deren Varietät cornula. Etwas weniger häufig war Daphnella brachyura Liev. vertreten. Von OCyclopiden sah ich nur Larven- zustände, namentlich Nauplien. Auch einen Diaptomus (d') bemerkte ich und Alonella pygmaeaSars, die kleinste aller Cladoceren, war gleich- falls in einigen Exemplaren anwesend. Die planktonischen Flagellaten waren durch Dinobryon elongatum Imhof, Ceratium macroceros Schr. und Ceratium cornutum Ehrb. vertreten. Von den beiden genannten Ceratien ist die Ehrenbergische Art ein äußerst seltenes Mitglied des Planktons. Sie wurde zuerst von Asper und Heuscher als limnetische Form in den Schwendiseen (Kanton St. Gallen) beobachtet. Neuerdings ist sie auch von Dr. Karl v.Keissler im Wolfgangsee (Oberösterreich) und im Lunzersee (Niederösterreich) plank- tonisch vorkommend angetroffen worden ?): in beiden Fällen zusammen mit dem großen vierhörnigen Ceratium. Der Schwarzsee von Kitzbühel ist nun ein weiteres Beispiel für das Zusammenauftreten dieser beiden Peridineen im Plankton. Charakteristisch für den Schwarzsee ist auch das häufige Vorkommen von Trachelophyllum apiculatum als Schwebform. Ich habe dieses eiliate Infusorium nur noch im Neustädter See zu Plön als Mitglied der Planktonfauna vorgefunden. Die hiesigen Exemplare sind ebenso wie die des Schwarzsees mit einer dicken Gallerthülle umgeben. Ihre Länge be- trägt 172, die Breite 60 u. Im Innern der Tiere gewahrt man dicht an- einander gedrängt zahlreiche Zoochlorellen. Bisher scheint diese Species überhaupt noch nicht als Plauktont registriert worden zu sein und sie kommt vielleicht auch nur an wenigen Orten pelagisch lebend vor. Ihrem äußeren Habitus nach, der etwas Schwerfälliges an sich hat, würde man ihr kaum die Fähigkeit zutrauen, sich längere Zeit im Wasser schwebend zu erhalten, und doch ist dies in ganz ausgezeichneter Weise der Fall, wie die Beobachtung des 'Tierchens im hängenden Tropfen lehrt. Das pflanzliche Plankton des Schwarzsees war in den untersuchten Proben nur durch zahlreiche dünne Melosira-Fäden (von 100 bis 600 u Länge) 1) v. Keissler: Das Plankton des Lunzersees. Verh. der Zool.-Botan. Gesellschaft in Wien. 50. Bd., 1900. — Derselbe: Ueber das Plankton des Aber- oder Wolfgangsees. Ibid. 52. Bd., 1902. A. Fritsch u. V. Vävra: Untersuchung des Elbflusses u. seiner Altwässer. 705 und außerdem durch wenige zerstreute Flocken von Olathrocystis aeruginosa vertreten. Hinsichtlich des großen, vierhörnigen Ceratiums möchte ich zum Schluss noch bemerken, dass sein Vorderhorn 160 u, sein mittleres Hinter- horn 100 u, das linke Seitenhorn 48 u, das rechte 75 u lang ist und dass die Panzerbreite desselben in der Querfurchengegend 60 u beträgt. Ein besonderes Merkmal dieses Ceratiums besteht noch darin, dass seine beiden Seitenhörner stets etwas nach der Körperachse zu gekrümmt sind und zwar ist diese Krümmung am linken Seitenhorn immer ein wenig stärker aus- geprägt als am rechten. Das mittlere Hinterhorn verläuft fast ganz in der Richtung des Vorderhorns, während die beiden Seitenhörner beträcht- lich vom Mittelhorn divergieren. Nach einer von Dr. Otto Amberg in Zürich hergestellten Zeichnung eines Ceratiums aus dem Lago di Muzzano (bei Lugano), welche ich einzusehen in der Lage war, stimmt die letztere Form fast völlig mit der aus dem Schwarzsee überein. Auch die leichte Einwärtskrümmung der Seitenhörner ist bei dem Muzzano-Ceratium vor- handen, so dass eine überraschende Aehnlichkeit zwischen beiden stattfindet. 168] Prof. Dr. A. Fritsch (Frie) und Dr. V. Vävra: Untersuchung des Elbflusses und seiner Altwässer. Mit 119 Abbildungen im Texte. Archiv der naturwiss. Landesdurchforschung von Böhmen. Bd. XI, Nr. 3, Prag 1901. In dem vorliegenden Hefte, welches 154 Seiten umfasst, behandeln die beiden genannten Prager Zoologen die Fauna der Elbe und einige ihrer Alt- wässer. Von letzteren hauptsächlich das, welches unter dem Namen „Skupice“ bekannt ist. Zunächst ergab sich aus einer Planktonuntersuchung des Elb- stromes, dass derselbe nur wenige pelagische Arten enthält. Es wurden als häufiger vorkommend nur die folgenden konstatiert: Diaptomus gracilis, Cy- clops oithonoides, Bosmina cornuta, Anuraea aculeata ur.d Anuraea stipitata. Als pflanzliches Schwebwesen erschien zwischen diesen Crustern und- Rädertieren ziemlich häufig die Grünspanalge (Clathrocystis aeruginosa). Auch Ohydorus sphaericus und Sida erystallina wurden beobachtet, aber diese sind nicht als Planktonbestandteile anzusehen. Im Vergleich hierzu war die Ufer- und Boden- fauna bei weitem reichhaltiger. Sie bestand (soweit sie festgestellt wurde) aus 8 Protozoen, 13 Rädertieren und 6 anderen Würmern, 21 Crustern, 4 Wasser- milben, 17 Insektenlarven und 14 Mollusken. Die Altwässer erwiesen sich an Grund- und Ufertieren aber noch viel reicher, insofern sich z. B. in dem oben genannten (Skupice) 182 Species von solchen ermitteln ließen. Auch Drainage- Gräben beherbergten eine ziemlich große Anzahl von Arten (61), darunter Apus productus. Nicht minder ergiebig zeigten sich Tümpel und Gräben in der Nähe des Elbufers (bei Podibrad). Die hier vorgefundenen Species sind, 80- weit sie ein allgemeines Interesse darbieten, durch Abbildungen veranschau- licht ($. 80-93). Daum folgt eine Aufzählung der an der zoologischen (über- tragbaren) Station in Podibrad beobachteten Tiere, welche gleichfalls von Abbildungen begleitet ist. Es handelt sich dabei um Fischparasiten (Helminthen), Krebse, Hydrachniden, Insekten, Bryozoen und Mollusken. In einem Anhange sind auch die zahlreicher vorkommenden Grünalgen und Diatomeen erwähnt. Für alle diejenigen, welche sich mit faunistischen Untersuchungen im Süßwasser 704 Emil Selenka’s wissenschaftlicher Nachlass. beschäftigen, dürfte die hier kurz charakterisierte Publikation von Interesse sein. Nähere Beobachtungen über die einzelnen Arten sind aber darin nicht enthalten; es liegt vielmehr zunächst nur ein reichhaltiges und mit vielen Illustrationen versehenes Verzeichnis vor, welches den Leser rasch über die von Fritsch und Vävra erhaltenen Resultate informiert. Die biolog. Beob- achtungen werden erst später in einem anderen Hefte nachfolgen, nachdem das Material selbst noch eingehender bearbeitet worden ist. Die Untersuchungen der böhmischen transportablen Süßwasserstation verdienen insofern die Aner- kennung aller Fachgenossen, als sie bisher mit einem nur sehr geringen Kosten- aufwande (800 Kronen pro Jahr) und unter Zuhilfenahme der Ferienzeit, neben anderen Berufsarbeiten, betrieben worden sind. Dr. 0. Zacharias (Plön). [58] — Emil Selenka’s wissenschaftlicher Nachlass. Mitten aus der Arbeit wurde im Januar dieses Jahres Emil Selenka ab- berufen. Er hat das Werk, welches seine Lebensarbeit abschliessen und krönen sollte, die Bearbeitung der Affen, besonders der Menschenaffen und ihrer Ent- wicklung, nicht abschliessen können. In Selenka’s Hinterlassenschaft fand sich ein fast vollendetes Manuskript nebst Abbildungen, welches die Herausbildung der Körperform der Affen behandelt und das als fünfte Lieferung seiner „Menschenaffen“, als erstes Heft seiner Studien über Entwichlungsgeschichte der Tiere bereits zu Ostern 1902 erscheinen sollte; ausserdem ein reiches Material an Affenembryonen und Uteri, dessen wissenschaftliche Bearbeitung noch auf Jahre hinaus ihm und anderen reiche Früchte versprach. Es ist Selenk a nicht vergönnt gewesen, die Ernte einzuheimsen, zu der er mit grossen Opfern von Mitteln, Kraft und Gesundheit den Grund gelegt hat. Nach Selenka’s Hin- scheiden ist es die treue Sorge seiner Gattin gewesen, so weit als möglich die Hinterlassenschaft Selen ka’s für die Wissenschaft fruchtbar zu machen. Frau Selenka hat es ermöglicht, dass die „Studien über Entwicklungsgeschichte der Tiere“ weiter erscheinen, und besonders die Bearbeitung des „Menschenaffen“ nach dem von Selenka bereits vorliegenden Plane fortgesetzt wird. Das Se- lenka’sche Werk wird unter dem bisherigen Titel unter der Redaktion der Herren Hubrecht, Strahl und Keibel weiter erscheinen. Besonderer Dank gebührt für die Ermöglichung der Fortführung des Werkes auch Selenka’s langjührigem Verleger, Herrn L. Bergmann in Wiesbaden. Als nächstes (zehntes) Heft der Studien (fünftes der Menschenaffen) wird das hinterlassene Manuskript nebst einer Zahl noch vorliegender Zeichnungen unter der Redaktion von Keibel erscheinen. Dasselbe wird ausserdem eine Biographie Selenka’s aus Hubrecht’s Feder enthalten. Voraussichtlich wird dieses Heft im Herbst 1902 zum Drucke fertig sein. In einem weiteren Hefte wird dann eine Arbeit von Herrn Dr. F. Huber, einem Schüler von Prof. Joh. Ranke, abgedruckt werden, die den Titel führt: „Der Hirnschädel des Gibbon, verglichen mit denen der Anthropomorphen und des Menschen“. Diese Arbeit ist noch unter den Augen Selenka’s gemacht worden. Die Bearbeitung des Placentamaterials hat Herr Strahl übernommen. Die Herausbildung der äusseren Körperformen der‘ Affen, besonders der Menschenaffen, wird Herr Keibel behandeln. Herr Prof. Walkhoff wird einen Beitrag liefern unter dem Titel: „Die funktionelle Gestaltung der Schädelknochen und der Zähne bei den Anthropomorphen*. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz a, Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Oentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. XXI. Band. 15. November 1902. Nr. 23. Inhalt: Shibata, Experimentelle Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. — Wasmann, Einige Bemerkungen zu J. Sjöstedt’s „Monographie der Termiten Afrikas“. — Thilo, Die Vorfahren der Schollen. — Rädl, Ueber die Lichtreaktionen der Arthropoden auf der Drehscheibe. — Loew, Zur Theorie der primären Protoplasma-Energie, Experimentelle Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. (Vorläufige Mitteilung.) Von K. Shibata. Als ich im letzten Jahre, auf Veranlassung von Herrn Professor Miyoshi, die Befruchtungsvorgänge bei Monotropa uniflora L. einem näheren Studium unterzog, habe ich mancherlei Vorzüge dieses Ob- jektes für die Verfolgung der sich im lebenden Embryosack abspielen- den Vorgänge kennen gelernt. Schon damals tauchte in mir der Ge- danke auf, dass es hier vielleicht nicht unmöglich wäre, einen Weg für die experimentelle Erforschung solcher einschlägiger Fragen, die bisher der Behandlung ermangelten, anzubahnen und damit ein tieferes und richtigeres Verständnis der Geschlechtsprozesse der höheren Pflanzen zu erlangen. Diese Hoffnung wurde nun, wenn auch nur teilweise, in vorliegenden Studien erfüllt. Ich habe in diesem Sommer eine heihe von diesbezüglichen Experimenten mit blühenden Pflanzen von Mono- tropa uniflora L. angestellt, wobei mehr als 140 Blütenstücke zur Verwen- dung kamen. Außerdem wurden noch einige nahe verwandte Pflanzen, Monotropa hypopitys L., Pyrola rotundifolia L. und Chimaphila Japonica Mig. zum Vergleich herangezogen, Auf die von mir benutzten Me- thoden kann hier nieht näher eingegangen werden und sei nur folgendes erwähnt: Die etwa 6-8 em hohen Blütenstöcke wurden einzeln oder gruppen- weise in geeigneten Glasschalen, die kleine Mengen befeuchteten Torf- mooses enthielten, eingepflanzt und mit Glasglocken bedeckt. XXI. 46 706 Shibata, Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. Sie kamen dann nach Umständen in den Thermostat, Eiskästchen, Dunkelschrank ete. Um die Bestäubung vollkommen zu verhindern, wurden. die Narben der noch geschlossenen Blütenknospen oder ‘der eben im Laboratorium sich entfaltenden Blüten sorgfältig mit ge- schmolzenem Paraffin bestrichen, oder sie wurden zuerst mit der Schere abgeschnitten und die Schnittfläche sogleich mit Paraffin verschlossen. Man kann zahlreiche Samenanlagen aus einem und demselben Frucht- knoten nacheinander im bestimmten Zeitintervall untersuchen, indem man jedesmal mit sterilisiertem Messer ein beliebig großes Stück vom Fruchtknoten abschneidet und die übrige Schnittfläche sofort mit Paraffin bestreicht. Die Fruchtknoten ertragen ganz wohl derartige operative Eingriffe und lassen keine Spur von Beschädigung bemerken. Die Lösungen verschiedener Chemikalien wurden mittelst einer Pravaz’- schen Spritze in den Fruchtknoten injiziert, dann wurden sie im ka- pillaren Raum zwischen Placenta und unzähligen, einfach gebauten Samenanlagen festgehalten, so dass sie ihre Einflüsse auf die Embryo- säcke auszuüben vermochten. Die Versuchsobjekte wurden teils im lebenden Zustande untersucht und teils in verschiedenen Fixierungs- flüssigkeiten einlegt, um Kontrolstudien an gefärbten Schnittpräparaten vorzunehmen. Was das Studium an lebenden Objekten anbetrifft, so gelangte meine Arbeit schon jetzt zu einem gewissen Abschluss, und erachte ich es als zweckmäßig, hier vorläufig eine kurze Ueber- sicht über einige wichtigere Ergebnisse zu geben. Die ausführlichere Darstellung der Versuchsresultate mit den nötigen Figuren beabsichtige ich demnächst an einem anderen Orte zu veröffentlichen. Ehe ich auf die Darstellung meiner Versuchsergebnisse eingehe, will ich einiges über den Verlauf der normalen Befruchtungs- und Bestäubungs- vorgänge bei Monotropa uniflora angeben. Die Zeitdauer von der künst- lich vorgenommenen Bestäubung bis zur stattfindenden Befruchtung ist, wie ich schon früher hervorhob (Shibata 1902), von der Temperatur der Versuchszeit abhängig. Nach den zahlreichen Versuchen, die ich von Mitte Juni ab ausgeführt habe, vollzog sich die Befruchtung schon am fünften Tag; an demselben und nächsten Tage werden zwei bis vier Endospermzellen durch die rasch nacheinander folgenden Teilungen des befruchteten Centralkernes gebildet. Nachher erfahren oft die gebildeten Endospermzellen noch einige Längsteilungen, so dass schließlich sechs oder mehr Endospermzellen, die durch Ab- lagerung von körnigen Reservestoffen ganz undurchsichtig werden, zu stande kommen. Die befruchteteEizelle verlängert sich schlauch- förmig und durchbohrt die’ oberste Endospermzellwand. Die Ausbil- dung des Embryos erfolgt lann in ähnlicher Weise, wie von L. Koch (1882) für Monotropa hypopüys angegeben. Die Verdickung der Zell- wände des einfachen Integumentes beginnt etwa am neunten Tage, und die fertigen Samen mit gelbbraunen, derben Samenschalen Shibata, Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. 707 werden schon nach 15 Tagen von der Bestäubung an reichlich ange- troffen. Die Reste der Pollenschläuche sind stets in den mikropylaren Stellen der reifen Samen leicht nachweisbar. Die jungen Endospermkerne dieser Pflanze sind ein recht dank- bares Objekt für das Studium der Karyokinese im lebenden Zustand; sie übertreffen vielfach in ihren Dimensionen die von Monotropa hypo- pitys (vergl. Strasburger, 1900, p. 299). Ich konnte in diesem Jahre die „doppelte Befruchtung“ bei Monotropa hypopitys L. (Strasburger, 1900) und Pyrola rotundifolial. feststellen, während der Embryosack von Chimaphila japonica sich durch die frühzeitige Ablagerung von grobkörniger Substanz zum Stu- dium im lebenden Zustand durchaus ungeeignet erwies. Im nachfolgenden sollen die Versuchsergebnisse mit M. uniflora kurz angeführt werden!). Einfluss äußerer Faktoren auf die Befruchtung und die nachfolgenden Entwicklungsvorgänge. Darüber sei zu- nächst erwähnt, dass das Licht, der Luftdruck und die necha- nischen Verletzungen der Fruchtknoten und der anderen Pflanzen- teile keinen wesentlichen Einfluss auf die betreffenden Vorgänge ausüben. Anders aber mit der Temperatur. Es ist bekannt, aus den Er- fahrungen bei niederen Thallophyten, dass die obere Temperaturgrenze für die Geschlechtsvorgänge wesentlich niedriger ist als die des vege- tativen Wachstums: so zum Beispiel verlieren die Schwärmer von Protosiphon, nach Klebs (1896, p. 210), ihre Kopulationsfähigkeit schon bei einer Temperatur von 25°—27°C., und die Zygoten von Sporodinia werden nicht mehr bei 260°—27° C. gebildet (Klebs, 1593, p. 48; 1900, I, p. 136)?). Bei meinen Versuchen mit Monotropa ver- liefen die Befruchtung und die darauf folgenden Entwicklungsvorgänge bei 28°C. ganz gleich wie bei Zimmertemperatur; auch bei 30°C. können die Teilungsvorgänge der befruchteten Endospermkerne noch ausgeführt werden. Aber schon bei 31°—-32°C. werden die Be- fruchtungsvorgänge und die darausresultierenden Kernteilungen völlig unterdrückt. Dabei bemerkt man auch eine weitgehende Struktur- veränderung des Inneren des Embryosackes: man sieht keine Spur mehr von schönen Plasmasträngen, die vom Centralkern allseitig aus- strahlen, vielmehr wird das Embryosackinnere ganz und gar von einem ‘großen Saftraum eingenommen und das Plasma bildet einen dünnen, 4) M. hypopitys weicht merkwürdigerweise in dem Bau der Fruchtknoten und Samenanlagen von M. uniflora bedeutend ab und stimmt in dieser Hin- sicht vielmehr mit Pyroloideen (Pyrola und Chimaphila) überein. Wegen der geringeren Dimension und Dauerhaftigkeit der Fruchtknoten waren ähnliche Versuche mit M. Tiypopitys bisher nicht mit gleichem Erfolg angestellt worden. Darauf will ieh noch in meiner ausführlicheren Arbeit zurückkommen. 2) Vergl. hierzu auch Sachs, 1860, p: 75. 46* 708 Shibata, Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. wandständigen Schlauch, in welchem der dislocierte Centralkern irgendwo eingebettet liegt. Man bekommt dabei den Eindruck, als ob hierbei infolge der Einwirkung von höherer Temperatur der osmotische Druck des Embryosackes wesentlich gesteigert würde. Da schon mäßig niedrige Temperatur dem Wachstum von Pollen- schläuchen entgegenwirkt, kann man das Zeitintervall zwischen Be- stäubung und Befruchtung nach Belieben verlängern. Ich konnte be- reits bei 8°— 10°C. eine fast vollständige Unterdrückung der Befruchtung erzielen. Diese Versuche beweisen die Richtigkeit meiner schon früher ausgesprochenen Ansicht (Shibata, 1902, p. 65). . Die Bedingungen der Polkernverschmelzung. Die Ver- schmelzung zweier Polkerne im angiospermen Embryosack ist ein höchst rätselhafter Vorgang, der angesichts zahlreicher morphologischer Daten, vorläufig noch einer zutreffenden Erklärung harrt. Es ist bei- nahe erwiesen, dass die Verschmelzung der Polkerne ganz unabhänig von der Befruchtung geschieht!). Aber ob das Gleiche auch von der Bestäubung, i.e. dem von wachsenden Pollenschläuchen ausgeübten Reize, gilt, darüber weiß man, so zu sagen, gar nichts. Die neueren höchst interessanten Arbeiten über die Apogamie und Parthenogenese (Treub, 1898; Juel, 1900; Murbeck, 1901) geben bekanntlich in dieser Hinsicht keine übereinstimmende Antwort. Es ist jedenfalls eine Frage, die bei einer -normal sexuellen Pflanze experimentell festgestellt werden muss. Meine darauf gerichteten zahlreichen Versuche ergaben, dass erstens: die Polkernverschmelzung sich beim Mangel an jedemPollenschlauchreiz vollziehen kann, und zweitens: der Vorgang aber durch die Bestäubung beschleunigt oder regu- liert wird. Wenn man irgend eine eben geöffnete Blüte künstlieh polli- niert, so sieht man ganz regelmäßig nach 3—5 Tagen die Verschmelzung der Polkerne. Jedoch bei den gleichen, aber vor der Bestäubung be- hüteten Blüten erfordert die Ausbildung der Centralkerne zumeist mehr als zehn Tage, und selbst nach drei Wochen kommen hie und da noch aneinander angeschmiegte Polkerne vor. Die Wirkung des einfachen Be- stäubungsreizes kann auch derart geprüft werden, dass man die künst- lich pollinierten Narben nach etwa 30 Stunden mit sterilisierter Schere abschneidet und die Schnittflächen mit geschmolzenem Paraffin be- streicht. Ich konnte auch in dieser Weise die Beschleunigung der Polkernverschmelzung bewirken, obschon freilich keine Befruchtung nachher stattfand. Bei den parthenogenetischen Alchemilla-Arten er- folgt, nach Murbeck (1901, p. 31), zwar die Verschmelzung der Pol- 4) Das scheinbar davon abweichende Verhalten bei einigen Liliaceen (Guignard, 1899, 1900 ete.) ist aber anderer Erklärung zugänglich. Man ver- gleiche hierüber meinen früheren Aufsatz (Shibata, 1902, p..65). 2) Die Erörterung der morphogenen Wirkungen des Bestäubungsreizes findet man bei Goebel, 1901, p. 793 ff. Shibata, Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. 709 kerne, jedoch in sehr ungleichen Zeitpunkten; bald vor der Teilung der Eizelle, bald nach fortgeschrittener Embryobildung. Dieses be- merkenswerte Verhalten kann, wie mir scheint, wohl dem Mangel an regulierender Wirkung des Bestäubungsreizes bei jenen Pflanzen zurück- geführt werden. Ferner ist das Ausbleiben der Polkernverschmelzung bei Dalanophora (Treub, 1898, p. 15) und Antennaria alpina (Juel, 1900, p. 23) nunmehr als eine Folge apogamer, resp. parthenogenetischer Fortpflanzungsweise neu erworbene Eigenschaft aufzufassen. Nach meinen Versuchen üben zwar das Licht, starke Schwan- kungen des Luftdrucks und mäßige Steigerung und Erniedrigung der Temperatur (32°—8°C.) keinen merklichen Einfluss auf die Vor- gänge der Polkernverschmelzung aus, während dieselben bei einer höheren Temperatur von 35°— 37°C. vollständig unterdrückt werden !). Es wäre von Interesse, zu untersuchen, ob die Temperaturgrenze für die Verschmelzung vegetativer Kerne im allgemeinen einen weiteren Spielraum als die Kopulation sexueller Kerne aufweisen werden. Ich habe gelegentlich die Beobachtung gemacht, dass bei den aus unvollkommen verschlossenen Karpellen bestehenden Fruchtknoten die nackt gelegenen Samenanlagen, die sonst gesund und kräftig entwickelt waren, nie zur Ausbildung von Öentralkernen kamen. Die Ursache lässt sich natürlich nicht leicht herausfinden; doch vermute ich vorläufig, dass die anomale Transpirationsbedingung, der die betreffenden Samenanlagen widernatürlich ausgesetzt waren, hier- bei eine gewisse Rolle gespielt haben dürfte. Vergrößerung und Auswachsen der Antipoden. Die morphologische Natur der Antipoden ist bisher nicht völlig aufgeklärt; man vergleicht sie bald mit dem funktionslosen Eiapparat, bald mit einem Teil von Prothalliumgewebe. In neueren Zeiten sind auch die sekundär erworbenen Funktionen der Antipoden, die bei gewissen Pflanzen oft eine ansehnliche Größe und Gestalt besitzen, der Gegen- stand von lebhafter Diskussion geworden (vergl. Goebel, 1901, p. 805). Ich untersuchte nun, von rein entwieklungsphysiologischem Gesichts- punkte aus, ob die Veränderung der Form und Größe der Anti- poden durch bestimmte experimentelle Eingriffe induciert werden kann. Dies erreichte ich zunächst bei den reifen Samenanlagen durch die bloße Unterdrückung der Befruchtung. Die dreizelligen Antipoden von M. uniflora sind sehr klein und zeigen keine Besonderheiten in ihrem Bau, wie es bekanntlich auch bei M. hypopitys der Fall ist. Nach stattgefundener Befruchtung schen diese Antipoden stets ohne jede weitere Veränderung allmählich zu 1) Es verdient einmal experimentell erprobt zu werden, ob bei den kälterem Klima angepassten Orchideen (vergl. Strasburger, 1900, p. 295) dasselbe Verhalten, das Nawaschin (1900, p.229) bei tropischen Orchideen beobachtet hat, durch die Temperaturerhöhung künstlich hervorgerufen werden. 710 Shibata, Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. Grunde. Aber bei den Versuchspflanzen, die vollkommen vor der Be- stäubung geschützt waren, fangen etwa nach einer Woche die Anti- podenzellen in der Mehrzahl von Samenanlagen mehr oder minder auszuwachsen an. In extremen Fällen begegnet man den enorm vergrößerten, bald kugeligen, bald blasenförmigen Antipodenzellen, die die Embryosackkerne seitwärts verdrängend, den ganzen Raum des Embryosackes in Anspruch nehmen. Die Antipodenkerne vergrößern sich auch dabei und zeigen oft eine besondere Struktur, darauf will ich in meiner ausführlicheren Arbeit näher eingehen. Es ist aber begreiflich, dass den Antipoden, die in der Hauptbahn der im Embryosack zugeführten Nährstoffe ein- geschaltet sind, eine gewisse Tendenz zum Auswachsen innewohnt, die beim Mangel an hemmendem Einfluss der in rechter Zeit zu- treffenden Befruchtung oft zum vollen Ausdruck kommt. Ob dieser hemmende Einfluss der Befruchtung lediglich vom Beschlagnehmen der disponiblen Nährstoffe durch das sich entwickelnde Endosperm her- rührt, ist nicht leicht einzusehen!). In dieser Hinsicht ist folgende Er- fahrung von einiger Bedeutung: bei den Kulturen?) in höherer Tem- peratur (über 30°C.) habe ich die Antipodenvergrößerung gar nicht oder nur selten nachgewiesen. Wie schon angedeutet, wird der Turgor- druck des Embryosackes durch die höhere Temperatur anscheinend gesteigert, wie es sonst bei normal erfolgter Befruchtung geschieht. Man meint dann unwillkürlich, dass die Hemmungen des Antipoden- wachstums durch die Befruchtung und die höhere Temperatur gerade in diesem Punkte ihre gemeinsame Ursache besitzen möchten. Parthenogenetische Entwicklung desEndosperms. Seit der überraschenden Entdeckung der „doppelten Befruchtung“ durch Nawaschin und Guignard haben nach und nach die Beispiele sich aus 'verschiedenen Pflanzenfamilien bereichert. Man bezweifelt heute kaum mehr die Allgemeinheit der nämlichen Erscheinung bei den Angio- spermen; oder wenigstens haben wir keinen Gegengrund gegen diese Annahme. Speziell für unsere Versuchspflanze, die Gattung Monotropa, haben schon Strasburger (1900) und ich (1902) den sicheren Nach- weis dieses Vorganges geliefert. Diese unerwartete Entdeckung hat zur lebhaften Diskussion über das Wesen der Befruchtung überhaupt und die morphologische Natur des Endosperms Anlass gegeben. Be- züglich der ersteren Frage wurde unsere Auffassung dadurch immer mehr präzisiert: hierüber vergleiche man die Aufsätze von Stras- burger (1900), Winkler (1901) u. A. Was den zweiten Punkt an- betrifft, so bestehen augenblicklich zwei verschiedene Ansichten. Nach 1) Der einfache Bestäubungsreiz reicht nicht aus, das Auswachsen der Antipoden zu verhindern. 2) Ebenfalls vor der Bestäubung geschützten. Shibata, Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. 711 der von Nawaschin (1900 ete.) vertretenen Meinung stellt das Endo- sperm einen zweitenEmbryo vor, der dem anderen aus der Eizelle hervorgegangenen schließlich als Nahrung dient und dementsprechend umgestaltet ist. Nach einer anderen von Strasburger (1900, p. 310), Goebel (1901, p. 793) u. A. ausgesprochenen Ansicht, ist das Endo- spermgewebe nichts anderes als das Prothallium, dessen Ausbildung von der jeweiligen Befruchtung abhängig gemacht wurde. Die Ver- schmelzung der zweiten Spermakerne mit dem Centralkern bezweckt also das Verschaffen des nötigen Entwicklungsreizes, nicht aber die Uebertragung des „Idioplasmas“; der Vorgang, der auch als „vege- tative Befruchtung“ bezeichnet wurde. Ich ging nun von den Gedanken aus, dass, falls die letzterwähnte Ansicht eine richtige ist, zwischen dem eigentlichen Sexualkern (Ei- kern) und dem Embryosackkern (vegetativer Prothalliumkern) ein gewisser Unterschied in ihrer Neigung zur parthenogenetischen Entwicklung, oder in anderen Worten, in ihrem Bedürfnis nach dem Entwicklungsreiz, der die Befruchtung regelmäßig hervorbringt, irgend nachgewiesen werden muss. Das ist eine Frage, die einem experi- mentellen Studium zugänglich ist. Die Ergebnisse meiner diesbezüg- lichen Versuche lassen sich kurz in folgenden Worten zusammenfassen: unter bestimmten Versuchsbedingungen kanndiepartheno- genetische, d. h. von der Befruchtung unabhängige Ent- wicklung des Endosperms hervorgerufen werden. Wenn man die in oben angegebener Weise ‘an der Bestäubung verhinderten Pflanzen längere Zeit im Zimmer oder im Thermostat kultiviert, so bemerkt man nach etwa 2--3 Wochen die Embryosäcke in zahlreichen Samenanlagen allmählich absterben, während bei den übrigen eine starke Volumzunahme eintritt. Nur in solchen ver- srößerten Embryosäcken beginnt der Centralkern ganz spontan sich wiederholt zu teilen, so dass nach wenigen Tagen dort ein par- thenogenetisches Endospermgewebe zu stande kommt. Die Eiapparate und vielfach auch die Antipoden, die dabei früher oder später kollabierten, wurden in gelbe, stark lichtbrechende Massen um- gewandelt!). Diese spontan eintretenden Teilungen der Centralkerne oder die parthenogenetische Entwieklung der Endospermgewebe tritt gewöhnlich etwa bei 35°, der Samenanlagen auf. Ich konnte jedoch den Prozentsatz auf 6-12 steigern, durch die länger fortgesetzte Kulti- vierung bei 28°C. und auch durch die vorherige Behandlung mit osmotischen Lösungen (%/,,—’/ı, Mol.) von Traubenzucker, Harnstoff, 4) Ich will ausdrücklich bemerken, dass bei dem normal bestäubten Fruchtknoten einzelne unbefruchtet gebliebene Samenanlagen ausnahmslos abortierten. 712 Shibita, Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. MgÜOl,, KNO, ete. Ich habe ferner oftmals die karyokynetische Teilungsfigur im parthenogenetischen Endosperm beobachtet, wobei die Chromosomenzahl sich augenscheinlich geringer als bei dem normalen Endospermkerne erwies. Das parthenogenetisch entstandene Endospermgewebe unterscheidet sich von dem normal durch die Befruchtung hervorgebrachten, wenn man von der steten Abwesenheit des Embryos absieht, noch in einigen anderen Punkten: so zum Beispiel ist die erstere durch die häufig eintretende Vielkernigkeit, schiefe Lage der Zellwände, geringere Ab- lagerung der Reservestoffe und mehr oder minder unvollkommene Aus- bildung der Samenschale charakterisiert. Diese kleinen Verschieden- heiten reichen jedoch keineswegs aus, die Gleichwertigkeit beider Ge- bilde zu bezweifeln; der Schwerpunkt liegt darin, dass es sich hierbei um einen aus dem Oentralkern hervorgegangenen vielzelligen Gewebe- körper handelt. Vor allem scheint es mir sicher zu sein, dass der Centralkern von vornherein mit einer selbständigen Entwieklungs- kraft begabt ist, die jedoch beim äußerst langsamen Ablauf der Ruheperiode schließlich nur bei einer geringeren Anzahl von den im günstigen Zustande befindlichen, überlebenden Embryosäcken zur vollen Entfaltung kommen kann!). Der von der höheren Temperatur und den osmotischen Lösungen ausgeübte Reiz bedingte jedoch im ge- wissen Grade die Beschleunigung dieses Entwicklungsprozesses, die sonst durch die Befruchtung unfehlbar bewirkt wird. Die hochinteressanten Untersuchungen von G. Klebs haben er- geben, dass bei niederen Thallophyten die künstliche Parthenogenese oft ohne Schwierigkeit gelingt: so zum Beispiel bei Spirogyra durch die Einwirkung vier bis sechsprozentiger Rohrzuckerlösung (1896, p. 247), bei Protosiphon durch die höhere Temperatur (1896, p. 209) u.s. w. Bei den höheren Pflanzen kennt man aber bislang nur den einzigen Fall bei den Marsilia-Eiern, die Nathansohn (1900) durch die höhere Temperatur zur parthenogenetischen Entwicklung zwingen konnte. Die bekannten neueren Erfahrungen aus dem Tierreich (Loeb, 1599; Winkler, 1901) sprechen aber dafür, dass auch bei den Blüten- pflanzen in Zukunft vielleicht eine künstliche Parthenogenese gelingen könnte ?). Ich habe zwar in einzelnen Fällen die Zweiteilung der vergrößerten Eizelle und ferner die Vermehrung der Antipodenzelle beobachtet; je- doch konnte ich leider die dabei wirksamen Ursachen nicht näher 1) Es ist noch nicht sicher, ob die isoliert liegenden Polkerne auch zu dieser parthenogenetischen Entwicklung befähigt sind; ich habe aber einige Male dafür sprechende Fälle beobachtet. 2) Vergl. hierüber Pfeffer (1901, p. 177) und Klebs (1900, IH, p. 212) In allerneuester Zeit wurde der dritte Fall von habitueller Parthenogenese von Overton beschrieben (Parthenogenesis in Thalictrum. Bot. Gaz. 1902, Nr. 5). Shibata, Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. 713 präzisieren. Es ist sehr interessant, zu bemerken, dass bei künstlicher Parthenogenese ein gewisser Antagonismus zwischen Eizelle und Embryosackkern zu existieren scheint. Wenn der letztere zur Ent- wicklung fortschreitet, so geht der Eiapparat unfehlbar zu Grunde, wie es schon oben angedeutet wurde. Wir erinnern an die berühmten Fälle von Balanophora (Treub, 1898) und Coelebogyne vlieifolia (Strasburger, 1878), wo die habituelle Parthenogenese von Endo- spermgeweben auch stets von der Zerstörung der eigentlichen Ei- apparate begleitet wird. Nach obigen Versuchsresultaten kann es allerdings als erwiesen gelten, dass zwischen Eikern und Gentralkern ein bedeu- tender Unterschiedinder Neigung zurparthenogenetischen Entwieklung besteht, obwohl sie sonst in ganz gleicher Weise durch die Verschmelzung mit je einem Spermakerne den nötigen Ent- wieklungsreiz bekommen'!). Ich muss mich nunmehr der Meinung Strasburger’s anschließen, dass wir es bei der Endospermbefruch- tung mit einer „fraktionierten Prothalliumbildung“ zu thun haben. Inwieweit die spezifische Befähigung zur parthenogenetischen Endospermbildung bei verschiedenen Pflanzen ausgebildet ist, darüber müssen künftige experimentelle Studien Auskunft geben?). Doch möchte ich das Verhalten von Monotropa, einer streng sexuellen Pflanze, vorläufig als ein typisches, für die Mehrzahl der Angiospermen geltendes betrachten. Obschon die vorstehenden bescheidenen Erfolge keineswegs meinem ursprünglichen Ziel entsprechen, bin ich doeh nunmehr überzeugt, dass die feineren Vorgänge der sexuellen Fortpflanzung bei den Blüten- pflanzen auch einer experimentell-physiologischen Forschung zugänglich sind. Ich hoffe, dass damit zugleich eine tiefere Einsicht in den Aufbau und die Entwicklung angiospermer Gametophyten ge- wonnen werden wird. [73] Tokyo, Botanisches Institut, Ende Juli 1902. Litteratur. 1901. Goebel, K. Organographie der Pflanzen, II, 2, 2. 1901. 1899. Guignard, L. Sur les antherozoides et la double eopulation sexuelle. Rev. gen, bot. 189. 4) Dass die befruchteten Embryosackkerne stets eine viel raschere und energischere Teilung als die Eikerne ausführen, ist, von diesem Gesichtspunkte aus, leicht erklärlich. 2) Es ist noch nicht ganz sicher, ob bei der von Treub (1891) studierten Casuarina zahlreiche Endospermkerne wirklich vor der Befruchtung gebil- det werden (vergl. Goebel, 1901, p. 804). Gleiches gilt auch von einer gelegent- lichen Beobachtung von Coulter bei Ranunculus (Bot, Gaz., 1898, XXV, p. 83). 1901. 1900. Shibata, Studien über die Entwicklung des Endosperms bei Monotropa. Ders. L’appareil sexuel et la double f&condation dans les Tulipes. Ann. se. nat. bot. ser. 8, t. XI, 1900. Juel, H. ©. Vergleichende Untersuchungen über typische und par- thenogenetische Fortpflanzung bei der Gattung Antennaria. Kong]. Svens. Vetens.-Acad. Handl. Bd. XXXVIII, Nr. 5, 1900. Klebs, G. Die Bedingungen der Fortpflanzung bei einigen Algen und Pilzen. 1396. Ders. Zur Physiologie der Fortpflanzung einiger Pilze, I. Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. XXXII, 1898. I. Ders. Ditto, III. Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. XXXV, 1900. II. Ders. Einige Ergebnisse der Fortpflanzungsphysiologie. Ber. d.D. Bot. Gesells., Bd. XVIII, 1900. Koch, L. Die Entwicklung des Samens von Monotropa hypopitys L. Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. XII, 1882. Loeb, J. On the nature of the process of fertilisation and the artifieial production of normal larvae from the unfertilised eggs of the sea- urchin. Amer. Journ. Physiol., III, 1899. Murbeck, Sv. Parthenogenetische Embryobildung in der Gattung Alchemilla. Lunds Univ. Arsskr., Bd. XXXVI, Nr. 7, 1901. Nathansohn, A. Ueber Parthenogenesis bei Marsilia und ihre Ab- hängigkeit von der Temperatur. Ber. d. D. Bot. Gesellsch,, Bd. XVII, 1900. Nawaschin, S. Ueber die Befruchtungsvorgänge bei einigen Dicotyle- donen. Ber. d. D. Bot. Gesellsch., Bd. XVIII, 1900. Pfeffer, W. Pflanzenphysiologie, II, 1, 1901. Sachs, J. Physiologische Untersuchungen über die Abhängigkeit der Keimung von der Temperatur. 1860. (Gesammelte Abhandlungen, I.) Shibata, K. Die Doppelbefruchtung bei Monotropa unifloraL. Flora, Bd. XC, Heft 1, 1902. Strasburger, E. Ueber Polyembryonie. Jenaische Zeitschrift, Bd. XII, 1878. Ders. Einige Bemerkungen zur Frage nach der doppelten Befruchtung bei den Angiospermen. Bot. Zeitung, II, 19/20, 1900. Treub, M. Sur les Casuarinees et leur place dans le syst&m. naturel. Ann. jard. bot. Buitensorg. Vol. X, 1891. Ders. L’organe femelle et ’apogamie du Balanophora elongata Bl. Ann. Jard bot. Buitensorg. Vol. XV, 1898. Winkler, H. Merogonie und Befruchtung. Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. XXXVI, 1901. Einige Bemerkungen zu J. Sjöstedt's „Monographie der Termiten Afrikas‘'). Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). Die Monographie Sjöstedt's über die Termiten Afrikas ist ein schönes und verdienstvolles Werk, durch welches das Studium der 1) Separat aus: K. Svensk. Akad. Handl. Vol. XXXIV, n° 4, Stock- holm 1900. Wasmann, J. Sjöstedt’s „Monographie der Termiten Afrikas“. 715 afrikanischen Termiten wesentlich erleichtert wird. Es ist verfasst auf Grund eines reichen Materiales afrikanischer Arten und sorgfältiger Vergleichung der Typen der von Haviland und dem Referenten früher beschriebenen Arten. Die Beschreibungen der Gattungen und Arten sind eingehend, durch tabellarische Uebersiehten und durch die Ab- bildungen auf Taf. I--V erläutert. Auch biologische Angaben sind beigefügt; die Taf. VI--IX geben gute Abbildungen der Nestbauten verschiedener afrikanischer Termiten. Die Zahl der von Sjöstedt aufgeführten Termitenarten Afrikas beträgt 80, die auf die Gattungen Calotermes Hag., Hodotermes Hag., khinotermes Hag., Acanthotermes Sjöst., Termes (L.) Hag. und Eutermes (Heer) Hag. verteilt werden. Bezüglich dieser Gattungs- einteilung möchte ich hier einige kritische Bemerkungen beifügen. 1897!) hatte ich den Versuch gemacht, auf Grund der Soldaten- kaste das Formenchaos der alten Gattung Termes (inkl. Eutermes) in eine Reihe von Untergattungen aufzulösen, von denen ich jetzt jedoch die meisten eher als Gattungen bezeichnen möchte. G. D. Haviland, dessen „Observations on termites“?) nur wenig später erschienen, hatte denselben Gedanken, indem er die alte Gattung Termes in eine Reihe von „Sektionen“ auf Grund der Soldatenform zerlegte). Die von mir früher aufgestellte Untergattung Coptotermes erklärte er für ein „un- doubtedly good genus“; von meiner neuen Gattungseinteilung konnte er noch keine Kenntnis haben, sonst wäre er ihr vielleicht gefolgt. Sjöstedt erkennt in seiner vorliegenden Monographie (S.8) ebenfalls die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer natürlichen Einteilung der Gattungen Termes und Eutermes an, aber er glaubt, dass unsere Kennt- nis der einschlägigen Formen dafür noch zu unvollständig sei. Daher sucht er bloß Termes und Eutermes auf Grund der Fühlerbildung und der Flügeladerung der Imago zu trennen und verwertet die Soldaten- form nur für eine Bestimmungstabelle beider Gattungen. Meinem Vor- schlage, die Soldatenform als Schlüssel zur generischen Unterabteilung jener beiden Genera zu benutzen, glaubt er nicht folgen zu können, weil die Soldatenform nur eine sekundäre Larvenform und überdies eine Anpassungsform sei und daher die natürlichen Verwandtschafts- beziehungen nicht genügend zum Ausdrucke bringe. Gegen diese Anschauung Sjöstedt’s möchte ich folgende Punkte geltend machen: 1. Die Gattungen Termes und Eutermes lassen sich auf Grund der Imagoform in der von Sjöstedt angegebenen Weise nicht trennen. 4) Termiten von Madagaskar und Ostafrika (Senkenb. Nat.-Ges., XXI, 1, S. 137 ff.). 2) Linn. Soe. Journ., Zool., Vol. XXVI, p. 358fl. 3) Die fünf letzten derselben entsprechen der Gattung Eutermes Wasm. (sensu restricto). 716 Wasmann, J. Sjöstedt’s „Monographie der Termiten Afrikas“. Weder die Fühlergliederzahl noch die Flügeladerung erweist sich als durchgreifend (vergl. zum Beispiel Termes incertus Hag. und T. uni- dentatus Wasm.). 2. Die Soldatenform ist die hochgradigst spezialisierte Kaste im Termitenstaate; man könnte sie sogar, da ihr eine mit Kopfmaske ver- sehene Larvenform vorhergeht, die dem Nymphenstadium der Imago entspricht, als eine sekundäre Imagoform bezeichnen. Daher ist sie zur Bildung von generischen oder subgenerischen Unterabteilungen besonders geeignet. : 3. Die Soldatenform ist nicht bloß eine biologische Anpassungs- form, sondern sie bringt auch die natürlichen Verwandtschafts- verhältnisse zum Ausdruck. Dies zeigt sich namentlich beim Ver- gleich der Termiten verschiedener Erdteile. Die Gattung Capritermes Wasm. mit ihrer sonderbaren Soldatenform, die durch gewundene, asymmetrische Oberkiefer ausgezeichnet ist, kommt auf Madagaskar, in Westafrika, Ostindien und Südamerika vor; und zwar hat sie überall nicht bloß eine äußerst ähnliche Soldatenform, sondern auch eine ent- sprechend ähnliche Imagoform und Arbeiterform. Dasselbe gilt auch für die Gattung Mirotermes Wasm. in Südamerika, Mittel- und Süd- afrika und Ostindien, für die Gattung Coptotermes Wasm. in Afrika, Östindien und Brasilien, ete. Die Soldatenformen der zu diesen Gaitungen gehörigen Arten sind also nicht bloß zufällig durch analoge Anpassungsverhältnisse (Konvergenz) einander so ähnlich geworden, sondern ihre Aehnlichkeit beruht wie jene der Imagines auf uralter Abstammung von einem gemeinsamen Stamme. Wir müssen annehmen, dass die Entwicklung der eigentümlichen Soldatenform be- reits in dem ursprünglichen Schöpfungseentrum (Entstehungscentrum) dieser Gattungen durch Vererbung fixiert worden ist. Also haben die natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse, durch welche die auf ver- schiedene Weltteile zerstreuten Arten jener Gattungen miteinander ver- bunden werden, gerade in der Soldatenform ihren prägnantesten Ausdruck erhalten. 4. Wenn man die morphologischen Eigenheiten der Soldatenform als generisches Einteilungsmoment nicht verwerten dürfte, so dürfte man es auch dann nicht thun, falls jene Eigentümlichkeiten durch Ver- erbung auch auf die Imagoform teilweise übertragen worden sind. So bei den Gattungen Rhinotermes Hag. und Acanthotermes Sjöst., welche Sjöstedt deshalb für gattungsberechtigt hält, weil die Imagines Spuren der eigentümlichen Kopf- bezw. Thoraxform ihrer Soldaten zeigen. 9. Wenn bei ein und derselben Termitenart mehrere qualitativ verschiedene Soldatenformen vorkämen, so würde das allerdings einen stichhaltigen Grund gegen die Verwertung der Soldatenform für die generische Einteilung bilden. Aber dies ist thatsächlich nie der Fall. Wo zwei (oder selten drei) verschiedene Soldatenformen Thilo, Die Vorfahren der Schollen. 11% bei ein und derselben Art vorkommen, handelt es sich überall nur um quantitative, nicht um qualitative Verschiedenheiten, d. h. es handelt sich nur um verschiedene Größenstufen derselben Soldaten- kaste, wobei mit der absoluten Körpergröße auch die relativen Längen- verhältnisse des Kopfes, der Fühler ete. sowie die Fühlergliederzahl variieren kann. Daher scheint es mir vollkommen berechtigt, ja sogar praktisch notwendig, die Verschiedenheit der Soldatenform bei den Termiten gleichsam als Wegweiser für die generische und subgenerische Ein- teilung der Termiten zu benützen. Dass dabei auch die übrigen Stände berücksichtigt werden müssen, ist selbstverständlich. Neuerdings ist Silvestri in seinen Studien über südamerikanische Termiten!) auf dem von mir 1897 betretenen Wege weitergegangen. In einer soeben in den „Zoologischen Jahrbüchern“ (System. Bd. XVII) erscheinenden Arbeit über die Termiten von Ostindien werde ich eben- falls neues Material zur generischen Charakteristik der Termiten auf Grund der Soldatenform bringen. Es sei noch bemerkt, dass der Name Eutermes latifrons SJöst. (Monogr., p. 209) für eine Termitenart Westafrikas geändert werden muss, da es bereits einen Termes latifrons Ha vil. (Observations, p. 428) aus Borneo giebt, der gleich jenem zur Gattung Kutermes Wasm. (sensu strieto) gehört. Ich schlage daher für erstere Art den Namen Eutermes Sjöstedti vor. [65] Die Vorfahren der Schollen. Von Dr. med. Otto Thilo in Riga (Autoreferat)?). Die Schollen gehören zu jenen auffallenden Erscheinungen des Tier- reichs, welche zu den zahlreichsten Sagen und Fabeln Veranlassung gaben. So erzählt u. a. Klunzinger (Litt. Anhang)?) von einer Schollen- art des roten Meeres, dass sie von den Arabern Mosesfisch genannt werden, weil sich folgende Sage an sie knüpft: „Als Moses einst einen Fisch backen wollte, gelang es ihm nur auf einer Seite: erzürnt darüber warf er ihn in diesem Zustande wieder ins Meer, und so blieb der Fisch und seine Nachkommenschaft einseitig bis auf den heutigen Tag.“ Nach einer alten halbverklungenen Sage der Letten haben die 4) Nota preliminare sui Termitidi sud-americani (Boll. Mus. Torino, XVI, 1901, n°. 389). .2) Thilo, Otto. Die Vorfahren der Schollen. Bulletin de l’Academie Imperiale des Sciences de St. Pötersbourg. Mars 1901. 3) Die Namen der Forscher sind im Anhang alphabetisch geordnet. 18 Thilo, Die Vorfahren der Schollen. Butten deshalb ein schiefes Maul, weil sie Gott lästerten. Hierauf bezieht sich der lettische Vers Nabak butt Schkihba mutt Wir sehen also, seit uralten Zeiten haben die verschiedenartigsten Völker sich bemüht, zu ergründen, weshalb die Schollen auf der Seite schwimmen und weshalb ihr Kopf so missgestaltet ist. — Auch sehr zahl- reiche Schriften sind über diese Frage erschienen. Dunker (4) stellt allein 227 Abhandlungen zusammen, die über die Flunder und den Gold- butt (Pleur. platessa) seit dem Jahre 1551 veröffentlicht wurden. Leider mussten aber alle derartige Bemühungen vergeblich sein, so lange die Ent- wicklungsgeschichte der Schollen uns unbekannt war. Erst in der Jetzt- zeit können wir erfolgreich an die Beantwortung derartiger Fragen gehen, seit wir wissen: 1. Schollen entstehen aus Eiern, die an der Oberfläche des offenen Meeres schwimmen. 2. Die ausgeschlüpften Jungen sind genau so ebenmäßig gebaut wie andere Fische. Sie tragen zu jeder Seite des Kopfes ein Auge und schwimmen genau so aufrecht wie alle übrigen Fische. In dieser Gestalt führen sie den Namen „pelagische Formen“ oder „Oberflächenformen“. 3. Wenn die Schollen etwa eine Länge von 1 cm erreicht haben, fangen sie an, auf der Seite zu schwimmen und den Boden aufzusuchen. Es beginnt dann das eine Auge auf die andere Seite des Kopfes hinüber zu „wandern“. Aus den „Oberflächenformen* bilden sich dann die „Boden- formen“. Daher findet man gewöhnlich bei Schollen von 1,5 em Länge ein Auge auf der Stirn sitzend. Bei einer Länge von 2 cm haben die Schollen meistens schon beide Augen auf einer Seite. Das Wandern des einen Auges dauert nach Stephen Williams (16) nicht länger als drei Tage. Dieses sogenannte „Wandern der Augen“ wurde in neuerer Zeit sehr genau beobachtet und beschrieben. Pfeffer (9) hat sehr genau jene Umformungen geschildert, welche die Knochen der Augenhöhle beim „Ueberwandern“ eines Auges erleiden. Williams hat in diesem Jahre (1902) im wesentlichen Pfeffer’s An- gaben bestätigt. Außerdem hat er das Hirn und die Hirnnerven junger Schollen genauer beschrieben und abgebildet. Trotzdem sind noch immer — so weit mir bekannt — zwei sehr wichtige Fragen unbeantwortet geblieben. I. Warum schwimmen die Schollen auf der Seite ? II. Welche Kräfte bewirken das Wandern des einen Auges ? Die Beantwortung dieser beiden Fragen war die Aufgabe meiner Ab- handlung „Die Vorfahren der Schollen“, welche ich 1901 im Bulletin de l’Academie des sciences de St. Petersbourg (deutsch) veröffentlicht habe. Hier an dieser Stelle fasse ich nur kurz meine Antworten auf die erste Frage zusammen. Warum schwimmen die Schollen auf der Seite? Zuerst scheint es mir erforderlich, zu untersuchen, ob auch andere Fische auf der Seite schwimmen und warum sie dieses thun. Thilo, Die Vorfahren der Schollen. 719 Day (3) giebt an, dass der Häringskönig (Zeus faber) sehr häufig die Seitenlage einnimmt, „wenn er schwimmt und sich von den Strö- mungen des Meeres treiben lässt, aber auch, wenn er sich gegen einen Stein lehnt“. Smitt sagt geradezu „die Seitenlage ist seine gewöhnliche Stellung (usual position) sowohl beim Schwimmen als auch beim Anlehnen an einen Fels“. Die Gründe, welche ihn zwingen, die Seitenlage einzunehmen, scheinen mir folgende zu sein. Wenn der sehr breite und flache Fisch (Fig.1) sich in das flache Wasser am Ufer einer sandigen Küste begiebt, um dort seine Nahrung zu suchen, so gerät er bald auf den Grund und legt sich dann auf die Seite, wie ein Kielboot, welches aufgerannt ist. — Schwimmen kann er natürlich im seichten Wasser nur auf der Seite, und hierzu ist er oft gezwungen, da er häufig sandige Häfen aufsuchen muss, weil er dort kleine Fische in Menge findet (Day). Auch wenn er seine Beute im tiefen Wasser vom ebenen Boden er- haschen will, so gelingt ihm dieses am besten, wenn er sich auf die Seite legt. Hiervon kann sich ein jeder leicht durch einen Versuch mit seiner eigenen Hand überzeugen. Will man einen kleinen Gegenstand, der auf einem Tische steht, mit dem Zeige- und Mittelfinger erfassen, so gelingt dieses bei gestreckten Fingern am besten, wenn man die Hand flach auf den Tisch legt. Den sandigen Boden soll übrigens der Häringskönig haupt- sächlich aufsuchen, weil er dort seine Nahrung findet, sonst soll er nach Day den rauhen Boden vorziehen. Er ist eben nicht recht darauf ein- gerichtet, auf ebenem Boden zu leben. Er hat ja mehr den Bau jener flachen Klippfische, die so breit wie lang sind (Fig. 5). Diese Fische leben in den Spalten und Vertiefungen klippenreicher Küsten, wo sie zur Aufrechterhaltung ihres Körpers stets ausreichende Stützung finden. Klunzinger sagt von diesen Fischen: „sie sind schlechte Schwimmer, leben meistens auf dem Grunde und kommen in schaukelnden Bewegungen heraufgeschwommen, wenn sie ihre Beute wittern“. Wenn man den breiten und flachen Körper dieser Fische betrachtet, so wird man wohl zugeben müssen, dass der Name „Flachfische“ (Flat- 720 Thilo, Die Vorfahren der Schollen. fisches) auf sie ebensogut passt wie auf die Schollen, welche heutzutage recht allgemein Flachfische genannt werden. Man vergleiche doch nur z. B. den ‚Zeus (Fig. 1) mit einem Steinbutt (Fig. 3@). Ja manche Stachelflosser sind sogar noch breiter und ebenso flach wie die Schollen (siehe Psettus Fig. 5), daher wird man wohl sagen müssen, es sind alle diese Fische „Flachfische“, und die Schollen unterscheiden sich vom Zeus hauptsächlich durch die Ungleichheiten ihres Kopfes, durch ihre eigen- tümliche Augenstellung und durch die helle Färbung ihrer augenlosen Seite. Alle diese höchst auffallenden Merkmale rühren wohl daher, dass die Schollen stets auf einer und derselben Seite schwimmen oder am Boden liegen; denn bei Fischen, die abwechselnd bald auf der einen, bald auf der anderen Seite liegen, kann doch unmöglich die eine Seite heller als die andere sein und ebensowenig können bei wechselnder Seitenlage ihre beiden Augen auf eine Seite des Kopfes gelangen. Das sieht man auch sehr deutlich an jenen Uebergangsformen, die nach Dunker (4) bei den Flundern häufig vorkommen. Nach Dunker findet man nicht selten Flundern „mit mehr oder weniger vollständig ausgefärbter Blindseite, mit unvollständig gewanderten Augen“. Seine sehr zahlreichen Messungen zeigen bei einigen Flundern eine Annäherung zur symmetrischen Form, indem „die Körperhöhe niedriger und der Unterschied zwischen gewissen paarigen Organen geringer ist“. Da 25°, von ihnen die Augen auf der Thilo, Die Vorfahren der Schollen. 21 linken Seite tragen, 75°/, auf der rechten, so muss es unter ihnen auch welche geben, die bald rechts, bald links schwimmen und auch aufrecht. Noch viel wahrscheinlicher ist es, dass der Zeus beim Schwimmen bald rechts, bald links liegt. Auffallend sind die großen Flossen vieler Klipp- fische. Auch der Zeus hat ähnliche. Er soll sie dazu benutzen, um seinen breiten Körper schnell zu wenden und um ihn aufrecht zu balan- cieren. Wir haben gesehen, dass ihm dieses auf die Dauer nicht gelingt, selbst wenn er in Bewegung ist. Lässt er sich aber auf den Grund nieder, so muss er sich in den Sand eingraben, um aufrecht zu stehen (Couch, Day). Es ist also der klippenreiche Boden die eigentliche Heimat derartiger Fische, und solange sie abwechselnd auf Felsengrund oder Sandboden leben können, behalten sie auch ihre ursprüngliche Form, da sie im stande sind, bald an Klippen gelehnt aufrecht zu stehen, und bald liegend, bald aufrecht zu schwimmen. Werden sie jedoch weit von ihrer ursprünglichen Heimat verschlagen!) und genötigt, nur auf flachem Sandboden zu leben, so gewöhnen sie sich schließlich daran, immer nur auf einer und derselben Seite zu liegen. Sie bedürfen dann nicht mehr ihrer großen Flossen, diese schwinden allmählich und werden bei ihren späteren Nachkommen gar nicht mehr in der frühesten Jugend angelegt. Daher sieht man denn - auch, dass junge Schollen, die dem Ei entschlüpfe sind, nur so lange aufrecht llmen. als ihr Körper langgestreckt ist, Fig. 2; wird jedoch der Körper allmählich breiter und flacher, so beginnen sie am der Seite zu schwimmen. Wir haben also gesehen, dass der Zeus durch seine Art zu schwimmen und durch seine Körperform lebhaft an die Schollen erinnert. Diese Aehnlichkeit des Körpers ist nicht bloß äußerlich. Das erkennt man leicht, wenn man den Knochenbau beider Fischarten miteinander vergleicht (Fig. 7, 8, 9, 11, 12). Schon ein flüchtiger Blick zeigt, dass re Achaliehkeit chen diesen Fischen besteht. Hingegen zeigt ein Blick auf Fig. 10, dass der Dorsch im Knochenbau wohl Fo an ee Schollen erinnert. Areirdem wurde er von Joh. Müller mit dem Schollen zu- sammengestellt und nicht selten liest man auch jetzt noch die Behauptung, Schellen sind in der That nichts anderes als assymetrische Schellfische“. Die Zahl der Bauchwirbel. beträgt bei den meisten Schollen 10—13, bei den verschiedenen Zeuus- Arten 13—14, bei den Schellfischen 22. Dementsprechend haben auch die Schellfische eine langgestreckte Bauchhöhle (Fig. 10), während man am Zeus (Fig. 7) und bei den Schollen (Fig. 8 und 9) eine kleine, kurze Bauchhöhle bemerkt, die hinten von einem höchst eigentümlichen, gekrümmten Knochen begrenzt wird. Dieser Knochen ist der Träger der Afterflosse. Beim Dorsch sind die Stützen der Afterflossen dünne Gräten, die nur in lockerer Verbindung mit den Wirbelfortsätzen stehen. Beim Stein- butt, Flunder, Zeus, wird der vordere Teil der Afterflosse von einem stark 4) Das Auswandern konnte bedingt sein: 1. Dureh Nahrungsmangel, 2. durch Verpestung des Wassers durch Tiere oder Pflanzen, 3. durch Hebung der Küste und Verflachung des Wassers. XXI. 47 122 Thilo, Die Vorfahren der Schollen. entwickelten Knochen getragen, der mit zwei Wirbelfortsätzen so fest ver- bunden ist, dass es selbst mit dem Messer schwer fällt, sie voneinander zu trennen. Auch die Form und die Aneinanderfügung dieser beiden Wirbelfortsätze ist bei Zeus, Flunder und Steinbutt dieselbe. Die dünnen, schwachen Gräten, an denen die Afterflosse des Dorsches hängt, ent- sprechen genau den Flossenträgern anderer Weichflosser, während die Afterflossenträger der Schollen und des Zeus ganz den Bau jener starken Knochenpfeiler haben, auf denen die starren Stachelstrahlen der Hart- flosser ruhen. Ich habe schon mehrfach in anderen Abhandlungen (Litt.-Anhang 12, 13, 14) darauf hingewiesen, dass die schlanken, grätenartigen Träger weicher Flossen zu festen, starken Knochenpfeilern sich umbilden, wenn aus weichen, knorpelhaften Flossenstrahlen jene starren, dolchartigen Stachel entstehen, die an vielen Harttlossern so sehr auffallen. Umgekehrt bilden sich die Knochenpfeiler zurück, wenn sich die Strahlen zurück- bilden. Dieses Gesetz findet man auch an den Flassenträgern der Schollen betätigt. Die stark gebauten Flossenträger der Schollen weisen darauf hin, dass die Schollen von Hartflossern abstammen, vergleicht man sie jedoch mit jenen starren Knochenpfeilern, auf denen die Stacheln der Stachelmakrelen (Carangiden) ruhen, so bemerkt man an ihnen deutliche Spuren der Rückbildung. Die Knochenpfeiler der Stachelmakrelen (Acan- thurus, Platax u. a.) sind fest ineinander gefügt, ja bisweilen sogar so vollständig miteinander verknöchert, dass sie ganze Knochenwände bilden. Schon bei Zeus findet man die Verknöcherung gelockert und bei den Schollen liegen die einzelnen Flossenträger frei nebeneinander da. Am meisten fällt unter den Trägern der Afterflosse der erste auf (Fig. 7, 8, 9). Er ist besonders stark entwickelt und sehr bedeutend gekrümmt. Untersucht man die Krümmung genauer mit dem Zirkel, so erkennt man, dass sie genau einen Kreisbogen bildet. Derartige kreisförmige Krümmungen habe ich an jenen Knochen nachgewiesen, welche die Luft- säcke der Kugelfische (14) umschließen. Sie erklärt sich dort folgender- maßen: Elastische Hüllen, die mit Flüssigkeiten oder Luft angefüllt sind, nehmen nach den Gesetzen der Mechanik stets die Kugelform an, und starre Stäbe, die derartigen Hüllen fest angefügt sind, werden daher kreis- förmig gebogen. Thilo, Die Vorfahren der Schollen. 123 Bei den Fischen’ liegen die Verhältnisse ähnlich, denn ihr Einge- weidesack bildet eine Hülle, die Flüssigkeiten und Gase enthält. Je mehr nun der Eingeweidesack gefüllt wird, um so mehr nimmt er die Kugelform an und die ihn umgebenden Knochen werden dann kreis- förmig gebogen. Gewöhnlich wird die untere Bauchseite am meisten „ausgebaucht“, da sie am wenigsten widerstandsfähig ist, Besonders deutlich tritt dieses an den Kugelfischen (Tetrodon) hervor, die ich eingehend geschildert habe in meiner Abhandlung „Die Entstehung der Luftsäcke bei den Kugelfischen‘‘ (14). Bisweilen jedoch ist die untere Bauchseite sehr unnachgiebig. So findet man z.B. bei Amphacanthus (Fam. Theut.) unten am Bauche einen vollständigen Knochenring, welcher durch die Aneinanderfügung der Träger der Brust-, Bauch- und Afterflosse ge- bildet wird. Selbstverständlich ist solch ein Knochenring sehr unnach- siebig und daher wird denn auch. bei Amphacanthus die Bauchhöhle nach hinten „ausgebaucht“. Infolgedessen ist sein Afterflossenträger sehr stark kreisförmig gekrümmt. Aehnliche Verhältnisse und ähnliche kreis- föormige Afterflossenträger finde ich auch noch bei anderen Fischen, z. B. beim Chirurgen (Acanthurus), bei den Stachelmakrelen Chorinemas und Trachynotus, sowie bei den ausgestorbenen Fischen Dorypterus (Kupfer- schiefer) und Acanthonemus (Monte Bolea). Zittel, Litt.-Anhang 17. Bei allen diesen Fischen liegen die Träger der Brust-, Bauch- und Afterflossen sehr nahe aneinander und bilden daher eine sehr unnach- giebige Kette. Auch beim Zeus ist die untere Bauchkante sehr „zugfest“, denn sie wird aus kleinen Knochenschildern der Haut gebildet, die fest aneinander gefügt sind. So erklärt die widerstandsfähige Bauchkante auch hier die kreisförmige Krümmung des Afterflossenträgers. Die Krümmung beträgt bei Zeus 60—70°, Flunder 70—80°, Seezunge 140°. Hieraus ersieht man, dass bei den hochentwickelten Seitenschwimmern (den Seezungen), die Krümmung am meisten entwickelt ist. Infolge dieser bedeutenden Krümmung (140°) ist bei der Seezunge die Bauchhöhle für die Eingeweide zu eng geworden. Einige Darmschlingen sind aus der Bauchhöhle über den Afterflossenträger getreten und haben so eine Art Bruch gebildet (vergl. die schönen Abbildungen von Cunningham, Litt.- Anhang 1). An jungen Schollen von 5 mm bemerkt man noch gar keine Krümmung (Ehrenbaum 5), erst an Schollen von 10-15 mm tritt sie deutlich hervor. Jedenfalls wird die Krümmung durch das Vorrücken der Afterflosse gesteigert. Das erkennt man leicht, wenn man Flunder mit den Steinbutten (Fig. 8 und 9) und Seezungen vergleicht. Mit dem Vorrücken der Afterflosse ist auch ein Vorrücken des Afters verbunden. Beim Steinbutt ist zwischen Bauch und Afterflosse kaum noch etwas Raum für den After vorhanden. Bei einer Scholle des Eismeeres (Platysoma- tichthys hippoglossoides) besteht zwischen Bauch und Afterflosse ein Raum von A—5 cm, und der After liegt an der Bauchflosse, nicht an der After- flosse, so dass man sich fast versucht fühlen könnte, bei diesem Fische die Bauchflosse als Afterflosse zu bezeiehnen. Diese eigentümlichen Lage- verhältnisse erklären sich folgendermaßen: Die erwähnte Scholle ist zu beiden Seiten dunkel gefärbt, gehört also wohl zu jenen Fischen, welche größtenteils auf dem Bauche schwimmen. Infolgedessen ist auch die 47° 124 Thilo, Die Vorfahren der Schollen. Afterflosse weiter nach hinten gerückt als bei hochentwickelten Seiten- schwimmern (Steinbutt, Seezungen). Während nun die Afterflosse nach hinten rückte, blieb der After am Träger der Bauchflosse liegen. Bei unseren Flundern, die ja auch häufig auf dem Bauche schwimmen und an ihrer blinden Seite oft größere dunkle Hautstellen zeigen, liegt der After in der Mitte zwischen Bauchflosse und Afterflosse. Der Träger der Bauchflosse der Schollen. erinnert sehr an den Bauchflossenträger des Zeus. Beim Zeus (Fig. 7) wird jede der beiden Bauchflossen von einem pfeilerartigen Knochen ge- tragen, dessen oberes Ende zwischen die beiden Träger der Brustflossen hineinragt und stark an ihnen befestigt ist. Eine wagerechte Spitze ragt nach hinten (Fig. 7,s). Die Träger der rechten und linken Bauchflosse liegen vollständig aneinander und sind so fest aneinandergefügt, dass sie auf den ersten Blick wie ein einziger Träger aussehen. Der Bauchflossenträger der Flunder (Fig. 8) hat denselben Bau. Auch bei ihr ist der rechte und linke Bauchflossenträger fest aneinander- gefügt, nur die Spitze s erscheint als stark zurückgebildet. Noch kleiner findet man die Spitze s beim Steinbutt (Fig. 9). Bei der Seezunge fehlt sie. Ueberhaupt ist bei dieser der Bauchflossenträger stark verkrümmt, und sein oberes Ende hängt nur ganz locker am unteren Ende des Schultergürtels. Bei Plagusia japonica sind beide Bauchflossen zu einer vereinigt, und bei einigen Schollen fehlt überhaupt die Bauchflosse voll- ständig. Man bemerkt also ein allmähliches Schwinden der Bauchflosse, wenn man den Zeus mit den Schollen vergleicht. Mit dem Schwinden der Bauchflosse ist aber ein Vorrücken des Afters und der Rückenflosse verbunden, ja dieses Vorrücken ist geradezu ein her- vorstechender Zug der Schollen. Man betrachte doch nur die kleinen, knorpelhaften Stäbchen, welche vor dem Träger der Bauch- und After- flosse des Steinbutt liegen (Fig. 9), man werfe nur einen Blick auf Para- plagusia (Fig. 4). Dieser Fisch hat nur eine Bauchflosse, die mit der Afterflosse vereinigt ist. Die Brustflossen fehlen ihm vollständig. Es hat daher den Anschein, als wenn dieser hochentwickelte Seitenschwimmer die paarigen Brust- und Bauchflossen nicht nötig hat, da sie ihm durch seine weit vorgerückten Rücken- und Afterflossen ersetzt werden. Die Träger der Bauchflossen bei den Schellfischen. Sie bilden kleine, dreieckige Plättehen, die vollständig vom Schulter- gürtel getrennt, zwischen Bauchmuskeln eingelagert sind. Sie liegen wag- recht beide in einer Ebene, und nur ihre vorderen Spitzen findet man an- einander befestigt. Da bei den Schollen die Träger der Bauchflossen senkrecht stehen und ihre inneren Flächen fest aneinandergefügt sind, so haben sie weder ihrer Lage noch ihrer Form nach eine Aehnlichkeit mit den Bauchflossenträgern der Schellfische. Das Urohyale (Fig. 8 u. 9). hat bei den Schollen eine höchst auffallende Form. Man kann sogar sagen: findet man einmal einen derartigen Knochen im Zusammenhange Thilo, Die Vorfahren der Schollen. 725 mit anderen Fischüberresten, die sonst unbestimmbar sind, so weiß man ganz genau, dass dieser Knochen einmal einer Scholle angehörte, Mir scheint dieses für den Paläontologen von.Wichtigkeit zu sein, da bisher nur wenig Ueberreste von Schollen aufgefunden wurden (nach Zittel’s Paläontologie nur vom Steinbutt und der Seezunge). Ganz besonders auffallend ist das Urohyale des Steinbutt (Fig. III). Es bildet eine flache, dünne Knochenplatte mit einem tiefen Einschnitte, dessen Ränder stark gewulstet sind. Ich erkläre mir die Entstehung dieses Einschnittes folgendermaßen: Wenn die Scholle auf der Seite am Grunde liegt und atmet, so wird der obere freie Kiemendeckel höher gehoben als der untere am Grunde befindliche. Hierdurch wird der scharfe Rand der Kiemenhaut an der vorderen Seite des Urohyale hin- und hergezerrt. Mit seinen spitzigen Kiemenhautstrahlen wirkt er dann sozusagen wie eine Kettensäge, und so entsteht denn ein tiefer Einschnitt mit gewulsteten Rändern. Bei der Flunder ist dieser Einschnitt weniger tief, da sie — wie oben erwähnt — häufig in aufrechter Stellung schwimmt und atmet. Beim Zeus hat der Drun butte Druck der Kiemenhaut nur eine leichte Einbuchtung hervorgerufen, da dieser Fisch jedenfalls noch weniger in der Seitenlage atmet wie die Flunder. Bei den Schellfischen (Fig. V) hat das Urohyale eine ganz an- dere Form. Es bildet ein ganz dünnes, unscheinbares Knochenplättchen, welches vollständig von der Kiemenhaut bedeckt wird und also weder seiner Form noch seiner Lage nach an das Urohyale der Schollen erinnert. Bei der Seezunge (Fig. IV) ist das Urohyale stark verkümmert. Bei dieser Scholle sind die Kiemendeckel nur wenig beweglich und die Kiemen- spalten halb verwachsen, wie bei vielen anderen in Schlamm lebenden Fischen. Offenbar können solche Schlammfische ihre Kiemendeckel nicht so ausgiebig bewegen wie Fische, die im freien Wasser leben, und daher verengern sich ihre Kiemenspalten. Die Veränderungen, welche bei den Schollen durch das Seitenschwimmen sich entwickelt haben, sind kurz zusammengefasst folgende: 1. Vorrücken der After- und Rückenflosse zum Kopfe hin, 2. Verdrängung des Afters nach vorn hin durch die Afterflosse, 726 Thilo, Die Vorfahren der Schollen. Rückbildung der Bauch- und Brustflosse, . Einkerbung des Urohyale, Das Wandern eines Auges, Am Gehirn und an den Hirnnerven sind nach Stephen Williams (16) folgende Ungleichheiten wahrnehmbar: a) An symetrischen Larven ist nur die Lagerung der Seh- nerven zu einander ungleich. b) An jungen Schollen von 7 cm Länge ist der Sehhügel und Sehnerv des gewanderten Auges der schwächere. Des- gleichen ist auch der Riechkolben der augenlosen Seite schwächer. Diese Veränderungen sind gewiss geringer als jene Veränderungen, welche wir an vielen Teleskopfischen bemerken, wenn wir sie mit den Goldfischen vergleichen, ja die Augen vieler Teleskopfische haben oft wohl noch größere Umbildungen erlitten als die Augen einer Scholle im Ver- gleich zu den Augen eines Zeus. ap w Die gemeinsamen Merkmale bei Zeus, Flunder, Steinbutt sind andererseits sehr bedeutende; denn diese Fische zeigen große Ueber- einstimmungen in ihrer ganzen Körperform (Fig. 1, 2, 3,11, 12), in der Zahl der Bauchwirbel (S. 721), im Bau des Trägers der Afterflosse (S. 721, Fig. 5,6, 7), im Bau des Trägers der Bauchflosse (S. 724, Fig. 5, 6,7), im Bau des Trägers der Brustflosse, in der Aneinanderfügung der Bauch- und Brustflosse (Fig. 5, 6,7), im Bau des Urohyale (S. 724, Fig. I, II, III). Außer diesen be- sonders deutlichen Merkmalen ist noch zu berücksichtigen: 8. Die zweiteilige Schwimmblase der Jugendformen des Steinbut er- innert an die zweiteilige Schwimmblase des Zeus. 9, Junge Steinbutten und Glattbutten von etwa 9—10 mm Länge zeigen an ihrem Kiemendeckel zahlreiche Dornen (Fig. 13), die bei Jugend- formen von etwa 30 mm meist schon geschwunden sind. Diese Dornen deuten auf eine Abstammung von Fischen hin, die während des ganzen Lebens mit Dornen bewehrt sind (Stachelmakrelen). Auch an Jugend- formen des Zeus findet man zahlreiche Dornen (Smitt, p. 306) in der Nähe des Auges und am Kiemendeckel. Bei älteren Fischen sind die Dornen geschwunden. Also auch hierin gleicht der Zeus dem Steinbutt und Glattbutt. Ganz ausdrücklich erkläre ich hier: Alle diese Uebereinstimmungen beweisen nicht, dass die Schollen einen Zeus als Ahnherrn hatten, wohl aber weisen sie darauf hin, dass die Schollen den Stachelmakrelen näher stehen als den Schellfischen und dass sie von Klippfischen herstammen, die dem Zeus ähnlich waren. Ich halte den Zeus für eine Uebergangs- form, die sowohl aufrecht als auf der Seite schwimmen kann. Seine Ab- stammung von Klippfischen verrät er dadurch, dass er den klippenreichen Boden aufsucht, weil er dort Stützung für seinen flachen und breiten Körper findet. Auf Sandboden verschlagen (s. Anmerkung p. 721), gräbt er sich Vertiefungen, um in diesen das Aufrechtstehen sich zu erleichtern SANOUTPODH Thilo, Die Vorfahren der Schollen. 727 (Day, Couch). Da es ihm auf Sandboden nicht gelingt, dauernd sich aufrecht zu erhalten, so nimmt er häufig die Seitenlage ein und bildet sich zum Seitenschwimmer aus. Junge Schollen beginnen auf der Seite zu schwimmen, weil ihr ursprünglich rundlich und länglich gebauter Körper jene flache und breite Form annimmt, die an erwachsenen Schollen (Fig. 2 u. 3) so sehr auffällt. Andere ähnlich gebaute Fische können aufrecht schwimmen, weil sie sehr große Flossen besitzen, mit denen sie ihren Körper aufrecht balancieren. Den jungen Schollen fehlen derartige Flossen, da sie mangel- haft entwickelte Flossen ererbt haben (Fig. 1 und 3). Die Neigung zur Seitenlage wird bei den jungen Schollen bleibend, wenn sie am Grunde zu leben beginnen, da sie auf dem ebenen Sandboden keine Stützung zur Aufrechterhaltung ihres breiten und flachen Körpers finden. Die Entwicklung der Schollen und der Teleskopfische zeigt uns ge- wiss ganz besonders deutlich, dass äußere Lebensverhältnisse den ganzen Bau eines Tieres vollständig umbilden können und dass hierdurch Tier- arten entstehen und vergehen, Litteratur. 4. Cunningham, J.F. A. Treatise on the Common Sole. Plymouth 1590. Cunningham, J. F. The Natural History of the marketable marine fishes of the Brithis Islands. London 1896, p. 321. Viele Angaben über die Lebensweise von Zeus faber. Angabe, dass über Eier und Larven des Zeus nichts bekannt. 3. Day. The tishes of great Brit and Irland. 4. Dunker, Georg. Variation und Verwandtschaft von Pleur. fles. und Pleur. plat. Wissensch. Meeresuntersuchung d. Kommiss. zu Kiel. Neue Folge, Bd. I, Heft 2, p.5. 5. Ehrenbaum, Dr. Ernst. Eier und Larven von Fischen der deutschen Bucht. Wissensch. Meeresuntersuchung der Kommiss. u.s. w. Neue Folge, II. Bd., 1. Heft, Abt. 1, 1896, p. 255. 6. Günther. Handbuch der Ichthyologie. Uebers. von Gustav v. Hayer Wien, Geroldsohn, 1886. 7. Klunzinger, Dr. C.B. Synopsis der Fische des Roten Meeres. 8. Müller, Joh. Ueber den Bau und die Grenzen der Gaeriden und über das natürliche System der Fische. Berlin 1846, Druckerei der kgl. Akad. d. Wissensch. 9. Pfeffer, Dr. Georg. Ueber die Schiefheit der Pleuronectid. Referat über einen Vortrag, gehalten im Naturwissensch. Verein zu Ham- burg. Vorläufige Mitteil. Abhandl. aus d. Gebiete d. Naturwiss. IX. Bd., Heft 1. 10. Smitt, Prof. F. A. Stockholm. Skandinavien, Fishes Stockholm. Nord- stedt, Berlin, Friedländer. Sehr genaue Mitteilungen über die Lebensweise von Zeus faber. Abbildungen von Platysomatich. hippogl. 11. Steenstrup, Japetus. Forstatte Bidrag til en rigtig opfattelse of viestillinger hos Flyndrene. Oversigt over det Kongelige Danske Videnskabernes Selskabs Forhandlinger, og dets Medlemers Arbejder i Aaret 1876, Kjebenhavn, Bianeo Lunos 1876—1878. 728 Rädl, Ueber die Lichtreaktionen der Arthropoden auf der Drehscheibe. 12. Thilo, Dr. 0. Die Umbildung a. d. Gliedern der Fische. Morph. Jahrb., 1896. Autoreferat. Biolog. Centralblatt, 1897. 143. Thilo, Dr. OÖ. Die Sperrvorrichtungen im Tierreiche. Biol. Centralblatt, Bd. XIX, 1. Aug. 1899. Ergänz. ebenda, 1900. Journ. of Anat. and Physiol. Jan. 1901. 14. Thilo, Dr.O. Die Entstehung der Luftsäcke bei den Kugelfischen. Anat. Anz., Bd. XVI, Nr. 3 u. 4, 1899. 145. Thilo, Dr. O0. Das Ankern der Fische. Korrespondenzblatt des Rigaer Naturforschervereins 1900. 16. Williams, Stephen. Changes accompannying the Migrat. of the eye and observat. on the tract. opt. and tect. obtie. in Pseudopleuronect. american. Bullet. of the Mus. of Comparat. Zoology at. Harvard College. Vol. XL, Nr. 1, Cambridge, Mars. U.S A. May 1902. 17. Zittel, Karl A. Handbuch der Palaeontologie, I. Abt., III. Bd., Verte- brata. München und Leipzig, R. Oldenbourg, 1887—189%. Ueber die Lichtreaktionen der Arthropoden auf der Drehscheibe. Von Dr. Em. Rädl. Wenn sich ein Insekt (eine Ameise z. B.) auf einer Drehscheibe bewegt und wenn diese dabei nicht zu langsam und nicht zu schnell rotiert, so läuft das Insekt der Richtung der Drehung entgegen, fort- während auf der Scheibe Kreise von verschieden großem Durchmesser beschreibend, oder, falls die Scheibe etwas schneller rotiert, dreht sich das Insekt auf derselben Stelle ebenfalls im entgegengesetzten Sinne als die Scheibe rotiert. Analoge Erscheinungen sind auch von den Crustaceen, welche im Wasser leben, ermittelt worden. Es ist auch beobachtet worden, dass die Reaktion im dunklen Raume ausfällt. Ueber die Ursache dieser Erscheinungen ist man sehr uneinig, ja meistens sieht man dieselben in kaum vorstellbaren Eigenschaften der Insekten — dies darum, weil sich eine Aehnlichkeit dieser Reaktionen mit den Reaktionen der Wirbeltiere an der Drehscheibe nicht verkennen lässt. Man glaubt im Gehirn der Insekten unbekannte Strukturen suchen zu müssen, welche jenen Reaktionen zu Grunde liegen, wie dies J. Loeb!) thut; oder man schreibt den Insekten eine nicht näher de- finierbare oder wenigstens nicht definierte Fähigkeit der Orientation im Raume zu, wie dies eine Reihe von Autoren thut, welche auf diese Art die Thatsache der Heimkehrfähigkeit vieler Insekten erklären wollen, oder endlich man glaubt, dass (bei den Wassertieren) die Strömung oder eher der ungleichmäßige Druck auf die verschiedenen Flächen 1) Pflüger’s Archiv 1897. Rädl, Ueber die Liehtreaktionen der Arthropoden auf der Drehscheibe. 729 des Körpers jene Bewegungen und ÖOrientierungen hervorrufen kann, wie es A. Bethe!) und Th. Beer?) thun. Ich habe mir die an der Hand liegende Frage vorgelegt, ob die Bewegungen auf der Drehscheibe nicht einfach Erscheinungen des Phototropismus der untersuchten Arthropoden sind, denn es müssen aus dem Zusammenwirken der phototropischen Orientation des Tieres und der Rotierung seiner Unterlage eben die Erscheinungen hervor- kommen, welche als charakteristisch für die Insekten auf der Dreh- scheibe gelten. Es ist mir thatsächlich gelungen, den größten Teil dieser Reaktionen auf Phototropismus zurückführen, und oft scheint es mir, dass es eben nichts als Phototropismus ist, welcher die Erschei- nungen hervorruft. Ich will hier die Thatsachen, welche dies be- weisen sollen, zusammenfassend mitteilen; der ausführliche Bericht und die Besprechung der Litteratur soll demnächst veröffentlicht werden. Da die Thatsache feststeht, dass die Insekten phototropisch sind d. h. die Fähigkeit haben, ihre Stellung und Bewegung gegen eine Lichtquelle bestimmt zu orientieren, so ist es a priori klar, dass die phototropische Reaktion bei der Drehung des Insektes um seine verti- kale Axe — wodurch seine Orientierung gegen die Lichtquelle (gegen das Fenster) von Punkt zu Punkt verändert wird, auf irgend eine Art zur Geltung kommen muss. Wenn zum Beispiel das Insekt fortwährend eine solche Lage einzunehmen sucht, dass sein Kopf gegen das Fenster gerichtet ist, so muss sich dasselbe bei der Rotation seiner Unterlage auch drehen und zwar im entgegengesetzten Sinne; oder wenn der Phototropismus darin besteht, dass das Insekt gegen das Fenster läuft, so wird es auch auf der langsam rotierenden Scheibe laufen und zwar, wie es leicht vorzustellen ist, wieder der Drehung der Scheibe ent- gegen. Ich habe sehr verschiedene Arthropoden auf der Drehscheibe be- obachtet: Coceinella, Tenebrio, Apis, Vespa, Chalicodoma, Musca, Eristalis, Pentaloma, Forficula, verschiedene Locustiden und andere Insekten; ferner Larven der Coceinelliden und verschiedene Spinnen; von den Wassertieren die Notonecta und Corixa, ferner die Corethra-Larven, dieHydrachniden und die Cladoceren. Da- bei habe ich gefunden: 1. Wenn die Drehscheibe nicht zu schnell rotiert (einmal in 1—15 Sek.), so reagieren alle (von mir untersuchten) Insekten in der Art, dass sie, falls sie sich überhaupt bewegen, bei lang- 4) Arch. f. miter. Anat. 1897 (die Reaktionen von Carcinus; in Bezug auf die Ameisen hat Bethe eine andere Hypothese ausgesprochen in Pflüger’s Archiv 1898. 2) Pflüger’s Archiv 1899 in der Anmerkung auf 8. 372. 730 Rädl, Ueber die Lichtreaktioneu der Arthropoden auf der Drehscheibe. samer Rotation der Drehrichtung entgegen laufen, bei schneller auf ein und demselben Ort sich drehen. Wenn das Insekt beim Beginn der Rotation ruhig sitzt, so bleibt es in den meisten Fällen auch während der Rotation ruhig, d. h. es kann sich bewegen, aber es ist nicht die Rotation, welche die Bewegung hervorruft. In einigen Fällen ist es aber wirklich die Rotation selbst, welche das Insekt zur Bewegung nötigt. Dies ist der Fall zum Beispiel bei Locusta, welche bei ruhiger Scheibe stillsteht, am Anfange der Rotation langsam mit den Antennen zu bewegen beginnt und dann (nicht immer) sich zu drehen anfängt; beim Aufhalten bleibt sie wieder stehen. 2. Die Insekten reagieren nur solange, als sich ihre Unterlage dreht; bleibt sie stehen, so halten sie entweder ebenfalls auf oder laufen gerade; niemals ist es mir gelungen, nur eine Spur einer Nachwirkung bei ihnen zu sehen. 3. Wenn man genügend langsam rotiert, so sieht man, dass das Insekt thatsächlich eine bestimmte Orientation gegen die Lichtquelle (das Fenster) einzuhalten sucht. Das Insekt stellt sich zum Beispiel mit dem Kopf gegen das Fenster, und durch die drehende Unterlage aus dieser Stellung gebracht, sucht es wieder in dieselbe zurückzu- kehren. Diese fixe Orientierung wird durch raschere Rotation ver- wischt, wohl darum, weil das Tier nicht mehr im stande ist, die Geschwindigkeit der Drehscheibe durch eigene Bewegung zu kom- pensieren. 4. Es ist keineswegs nötig, gleichmäßig zu rotieren; man kann auch folgendermaßen vorgehen: man lässt das Insekt (Coceinella passt dazu sehr gut, da sie nicht zu schnell läuft) auf ruhiger Drehscheibe laufen; sie läuft gerade auf das Fenster hin (oder auch in einer an- deren Richtung). Nachdem sie einige Centimeter von dem Rande der Scheibe entfernt ist, dreht man um 180° und die Coecinella dreht sich ebenfalls und gleichmäßig und läuft jetzt zurück, man drehe um 90° und die Coccinella kompensiert auch diese Drehung; auf diese Weise kann man sich z. B. die Aufgabe stellen, die Coceinella auf einer be- liebig auf der Drehscheibe vorgezeichneten Bahn laufen zu lassen und man bringt dies durch geeignete Drehung der Scheibe unter der sich bewegenden Coceinella bis zu gewissen Grenzen der Genauigkeit zu stande. 5. Wenn man alles an den Seiten auf die Drehscheibe einfallende Lieht auffängt und dasselbe nur von oben einfallen lässt, fallen auch bei sonst guter Beleuchtung alle Kompensationen aus; das Insekt läuft gerade oder auch in einer irgendwie gekrümmten Bahn auf der, sei es langsam oder rasch rotierenden Scheibe. 6. Bedeckt man die Drehscheibe mit einer Glasglocke und rotiert, während sich ein Insekt auf der Seitenwand dieser Glocke befindet, so reagiert das Insekt ganz in derselben Weise als wenn es sich an der Rädl, Ueber die Lichtreaktionen der Arthropoden auf der Drehscheibe. 731 Scheibe selbst bewegt, obwohl jetzt das Insekt um seine anteropheriore Axe gedreht wird; sehr deutlich habe ich dies bei Eristalis und bei der Wespe gesehen, ich weiß aber nicht, ob es für alle In- sekten gilt, da die glatten Wände der Glasglocke bei der Untersuchung störend einwirken. Ebenfalls reagieren durch die Drehung in entgegengesetztem Sinne die Insekten (Coceinella, Eristalis, Wespe), welehe sich auf der ebenen Decke einer Glasgloeke — mit dem Rücken nach unten gekehrt — befinden. "ARE Ferner sah ich, dass Eristalis sich in entgegengesetzter Richtung wie die Drehscheibe dreht, wenn ich diese Scheibe um eine horizontale Axe gedreht habe, so dass die Lichtstrahlen senkrecht auf die Axe der Scheibe fielen. Es ist also wie die Orientierung des Insektes gegen die Drehungsaxe, so auch die Richtung dieser Axe gleichgültig, nur wenn das Insekt bei der Drehung seine Lage gegenüber der Licht- quelle ändert. 7. Regelmäßig dreht sich das Insekt der Drehung der Scheibe entgegen, dass aber seine Drehung nur den Zweck hat, das Insekt gegen die Lichtquelle zu orientieren, folgt ferner daraus, dass das Insekt auch in der Richtung der Drehung sich umkehren kann, wenn es auf diese Weise leichter in die Normalstellung gegen die Lichtquelle gelangt. Ich habe nämlich bereits erwähnt, dass, solange man lang- sam dreht, das Insekt im stande ist, durch Gegendrehung seines Kör- pers dieselbe Orientation gegen das Licht einzuhalten. Wenn man nun etwas rascher dreht, wird das Insekt — ich habe das sehr deut- lich an Locusta sehen können — bei jeder Umdrehung der Scheibe um einen mehr oder weniger großen Betrag in der Drehrichtung der Scheibe getragen, nämlich um den Betrag, den zu kompensieren es nicht mehr im stande ist. Bei der zweiten Umdrehung wird diese Ablenkung größer, dann noch größer, bis sie mehr als 130° beträgt. Da nun das Tier, die Zocusta, nur darum sich dreht, um mit dem Kopfe dem Licht gegenüber stehen zu können, so ist es offenbar, dass sie aus der letzt- erwähnten Lage auf kürzerem Weg in die geforderte Orientierung ge- langt, wenn sie sich in der Drehrichtung der Scheibe bewegt. als wenn sie ihr Bemühen sich gegenüber ‘der Drehrichtung zu bewegen fort- setzt. Thatsächlich kann man durch eine geeignete Drehungs- geschwindigkeit die Locusta (und ebenfalls andere Insekten) sehr leicht dazu bringen, dass sie von Zeit zu Zeit auf einmal ihre Drehung in einem Sinne unterbrechen, einen Bogen in entgegengesetzter Richtung beschreiben, um wieder in der ursprünglichen Richtung sich weiter zu drehen. Ich weiß nicht, wie man diese Unterbrechungen anders er- klären könnte als dadurch, dass das Insekt die Orientation gegen etwas außerhalb der Scheibe einzuhalten sucht. 732 Rädl, Ueber die Lichtreaktionen der Arthropoden auf der Drehscheibe. 8. Ich habe mich bisher umsonst bemüht, bei den Spinnen deut- liche Reaktionen auf der Drehscheibe zu bekommen. Ich glaube, dass dies nur in ihrer für die Versuchsanordnung ungünstigen Bewegungs- art seine Ursache hat, nicht darin, dass auf sie das Licht überhaupt nicht orientierend wirken würde. Die Spinnen, die ich bisher unter- sucht habe, stehen entweder stumpf, ich kann rotieren oder nicht, oder sie laufen pfeilschnell und gerade über die Drehscheibe fort. Es ge- lang mir aber bei sehr langsamer Rotation, die geradlinige Bewegung eines Phalangium in eine bogenförmige umzuwandeln. Auch bei den Coceinellidenlarven habe ich mich mit einem solchen Resultate befriedigen müssen. Wahrscheinlich orientieren sich diese Tiere sehr langsam und sind nicht im stande, bei etwas rascher Drehung ihre Orientation den sich schnell ändernden Richtungen an- zupassen. 9. Auch die Wasserinsekten, ferner die Hydrachniden und die Cladoceren reagieren in einer ganz ähnlichen Weise auf der Drehscheibe. Man beobachte dabei diese Tiere in einem runden Glas- gefäß, welches man langsam auf der Drehscheibe rotieren lässt und zwar so lange, bis sich das Wasser gleichmäßig mit dem Gefäß be- wegt, was sich durch leichte im Wasser suspendierte Körperchen kontrollieren lässt; erst dann tritt die Reaktion der Wassertiere deut- lich hervor, und dann ist man auch vor dem Einwande sicher, dass die Reaktion durch strömendes Wasser hervorgebracht worden ist. Wenn man auf diese Art die Cladoceren untersucht, bekommt man (bei einer Umdrehung in 1!/),—25 Sek., Optimum etwa in 15 Sek.) überaus deutliche Reaktion: Die Cladoceren sind 2—5 cm von der Drehungs- axe entfernt und suchen durch starke Schläge ihrer Antennen die Drehung zu überkompensieren. An der Hydrachna eruenta kann man ebenfalls sehr deutlich sehen, wie sie sich bemüht, fortwährend gegen- über dem strömenden Wasser zu schwimmen. Die ganze ungemein deutliche Reaktion fällt aus, wenn man das von den Seiten einfallende Licht ablenkt, welches ein genügender Beweis ist, dass es nicht die Centrifugalkraft ist, welche diese Erscheinung hervorruft. Ob neben der phototropischen Reaktion noch andere Lichtreaktionen bei den Versuchen auf der Drehscheibe sich ermitteln lassen, ist mir bisher nieht ganz klar geworden; jedenfalls spielt aber dabei der Phototropismus die Hauptrolle. Ich weiß ebenfalls noch nicht, wie sich diese Erscheinungen verändern bei Tieren, welche neben den Augen noch die Statocysten haben; trotzdem ist es schon jetzt klar, dass auch bei diesen Tieren, und ich glaube, dass auch bei den Vertebraten mit ihrem Bogengangapparat, wenigstens ein Teil der Erscheinungen auf der Drehscheibe auf die Rechnung des Phototropismus kommt. [64] Loew, Zur Theorie der primären Protoplasma-Energie. 133 Zur Theorie der primären Protoplasma-Energie®). Von Oskar Loew. Neue Ideen brechen sich in der Regel nur langsam Bahn, da ein- gewurzelte Meinungen einen mächtigen Widerstand bilden. Deshalb ist es auch zumeist nur die jüngere Generation von Forschern, welche, noch nieht unter dem Banne von Vorurteilen stehend, das Neue ein- gehender prüft und berücksichtigt. Es kommt aber auch vor, dass jüngere Kollegen, ohne nur den Versuch zu machen, das Neue auch genügend zu verstehen, ein abfälliges Urteil in die Welt schleudern. Das Maxim, lieber zu schweigen als zu streiten, lässt sich dann nicht immer durchführen, besonders wenn die anstößigen Stellen in einem Buche sich finden, welches in wenigen Jahren drei Auflagen und vier Uebersetzungen erlebt hat, sich also wahrscheinlich einer sroßen Verbreitung erfreut. Dieses Buch ist die „Allgemeine Physio- logie“ von Max Verworn. Es enthält in der jüngst erschienenen dritten Auflage einige Stellen, welche sich auf meine Anschauung über die primäre Energie der lebenden Materie beziehen, welche ich aus- führlich in meiner Schrift?2): „Die chemische Energie der lebenden Zellen“ dargelegt habe. Jene Stellen geben nun meinen Standpunkt ganz unriehtig wieder und enthalten ein gänzlich unbegründetes Urteil, welches die Leser deshalb irreführen kann, weil Verworn die That- sachen totschweigt, welche meiner Auffassung als Fundament dienen. Auf S. 507 jenes Buches steht: „In einer Reihe von Arbeiten... hat Loew die Hypothese vertreten, dass im Biogenmolekul Amido- gruppen und Gruppen von Aldehydnatur miteinander vereinigt seien.“ Hiergegen wäre zunächst zu bemerken, dass ich die Bezeichnung der aktiven Proteinmolekule des Protoplasmas mit dem neuen Namen Biogen für nicht passend erklärt habe?), einmal weil nicht ein ein- heitlicher, sondern mehrere Proteinstoffe beim Aufbau der lebenden Materie beteiligt sind, und dann, weil diese schon längst mit Namen belegt sind. Man spricht z. B. vom Plastin und Chromatin des Zellkerns und den Nukleoproteiden des Cytoplasmas. Den Zustand dieser Körper in der lebenden Zelle kann man einfach durch Bei- fügung des Wortes labil oder aktiv bezeichnen. So geht das aktive oiler labile Chromatin beim Absterben der Zelle in: stabiles oder passives über. Wie soll man nun Verworn’s Biogen nennen, wenn die Zelle 4) Unter primärer Protoplasma-Energie verstehe ich diejenige, welche die Respirationsthätigkeit des Protoplasıas herbeiführt, unter sekundärer diejenige, welche durch diese Respiration gewonnen wird. Letztere ist natür- lich quantitativ bedeutender als erstere, 2) München 1899; jetzt im Verlag von Fr. Grub, Stuttgart. 3) Vergl. meine oben genannte Schrift, S. 39. 734 Loew, Zur Theorie der primären Protoplasma-Energie. stirbt? Der Ausdruck: passives oder stabiles Biogen könnte zu einer ganz irrigen Auffassung verleiten, der Ausdruck totes Biogen wäre geradezu lächerlich. Die Physiologen dürften das Wort Biogen ebensowenig adoptieren wie das Wort Dominante'). Jener Satz enthält aber auch eine chemische Unrichtigkeit, welche zugleich beweist, dass Verworn mich nicht verstanden hat. Ich habe nirgends behauptet, dass Amido- und Aldehydgruppen in den aktiven Protoplasmaproteinen miteinander vereinigt seien; denn dann wäre überhaupt die von mir angenommene Labilität und Energieäußerung gar nicht möglich. Ich habe vielmehr deut- lich hervorgehoben, dass Amido- und Aldehydgruppen getrennt darin vorkommen, und dass, wenn sich diese Gruppen miteinander ver- einigen, der stabile Zustand, der Tod derZelle bedingt wird?). Der nächste Satz lautet: „Beide Arten von Körpern sind in der That sehr aktive Verbindungen, und es würde sich die große Labilität des Biogenmolekuls auf Grund dieser Annahme wohl verstehen lassen.“ Wenn wir diesen Satz in die richtige Sprache der Chemie übersetzen, so muss er heißen: „Beide Arten von Atomgruppen bedingen, wenn sie in ein und demselben Molekul vorkommen, einen sehr labilen Zu- stand, und es würde sich die große Labilität der aktiven Proteinstoffe im Protoplasma auf Grund dieser Annahme wohl erklären lassen.“ Die große Labilität, ja spontane Veränderliehkeit von Amidoaldehyden und verwandten Amidoketone habe ich in meiner eitierten Schrift an mehreren Beispielen erörtert. Weiter heißt es bei Verworn: „Indessen sind die Argumente, die Loew zur Stütze seiner Hypothese anführt, doch vorläufig noch so vager Natur, dass sich daraus kaum irgend welche positive Anhalts- punkte ergeben. Es handelt sich auch bei der Annahme von Loew nur um eine Möglichkeit, die nicht mehr und nicht weniger Wahr- scheinlichkeit hat, wie manche andere Vermutung, die sich über die Natur der Atomgruppen im Biogenmolekul äußern lässt.“ Dieses ist ein recht ungerechtfertigtes Urteil, da ich eine Reihe toxikologischer Fakta zur Stütze meiner Ansicht herangezogen habe, Fakta, welche für die chemische Natur des lebenden Zustandes recht charakteristisch sind und wohl als ein Naturgesetz aufgefasst werden dürfen. Dieses lautet: „Substanzen, welche bei großer Ver- dünnung und in neutraler Lösung in Amidogruppen eingreifen, und Substanzen, welche unter diesen Be- dingungen mit Aldehydgruppen reagieren, töten selbst bei sehr großer Verdünnung die lebende Materie.“ 1) Einige Bemerkungen hierüber finden sich in diesem Centralblatt, Oktober 1899. 2) Vergl. Kap. 3 u. 11 meiner oben eitierten Schrift. Cr u ee re re Loew, Zur Theorie der primären Protoplasma-Energie. 35 Die einschlägigen Erscheinungen habe ich in Kap. 11 meiner Schrift: „Die chemische Energie der lebenden Zellen“ ausführlich er- örtert; ebenso auch in Kap. 4 von „Ein natürliches System der Gift- wirkungen“. Einerseits gehört hierher die Giftwirkung von Dicyan, salpetiger Säure und vielen Aldehyden, andererseits die von Cyan- wasserstoff, Schwefelwasserstoff!), Hydroxylamin, Diamid, Phenylhydra- zin, ete. Toxikologische Thatsachen gehören in eine „Allgemeine Physiologie“ hinein, weil sie zur Charakterisierung der lebenden Ma- terie dienen; Verworn aber ignoriert sie samt und sonders. Wenn die Labilität im lebenden Protoplasma durch das gleich- zeitige Vorkommen von Amido- und Aldehydgruppen im aktiven Protein- molekul bedingt ist, so begreift man leicht jene Giftwirkungen. Die Giftsubstanz braucht nur in die labilen Gruppen einer gewissen Anzahl von aktiven Molekulen in einem Protoplasten einzugreifen; die dadurch herbeigefübrte Umwandlung aktiver Molekule in relativ stabile Ver- bindungen mit der Giftsubstanz reicht dann hin, das Gleichgewicht im labilen Bau des Protoplasten so weit zu stören, dass der Zusammen- bruch der Struktur, der Tod, erfolgt, bei welchem die von Gift noch nicht angegriffen gewesenen Molekule nun in normaler Weise Atom- umlagerung erleiden. Das Molekularvolum wird kleiner, die Poren des toten Plasmaschlauches größer, die osmotische Membran ist damit zum bloßen Filter geworden. Wir wissen ja, dass der tote Plasma- schlauch nieht mehr als osmotische Membran funktionieren kann, und aus der absterbenden Zelle die gelösten Substanzen nach außen treten. Das Protoplasma ist ein labiler Bau aus labilem Material und ver- dankt seine Aktivität der chemischen Labilität seiner Molekule. Diese Labilität ist freilich Verworn nicht ganz klar geworden, wie aus seinem Vergleich der lebenden Zelle mit einer explosiven Substanz hervorgeht. Dieser Vergleich hinkt deshalb, weil explosive Substanzen chemische Energie intramolekular nur im potentiellen, nicht im kine- tischen Zustande enthalten wie die Aldehyde. Ich habe zuerst darauf hingewiesen, dass man bei labilen Substanzen potentiell-labile und kinetisch-labile zu unterscheiden habe’). 4) Die Wirkung des Schwefelwasserstoffs ist jedenfalls eine mehrfache. 2) Ich habe in meiner Schrift ein spezielles Kapitel dem Zusammenhang von Labilität und Aktivität gewidmet, worin die Natur der chemischen Labilität erörtert und an vielen Beispielen die darauf beruhenden chemischen Umlage- rungen erklärt sind. Die Frage nach der primären Energie der lebenden Sub- stanz ist eine rein chemische und konnte vonder heutigen Entwicklung der orga- nischen Chemie gar nicht in Angriff genommen werden. Die im vergangenen Jahre erschienene Schrift von Franz Hofmeister: „Die chemische Organi- sation der Zelle“, welche manche neue Gesichtspunkte bringt, lässt die Frage nach der primären Energie unberührt. 736 Loew, Zur Theorie der primären Protoplasma-Energie. Eine „Allgemeine Physiologie“ sollte ferner das häufige Vorkommen einer sehr labilen Reserveproteinsubstanz in Pflanzenzellen nicht gänz- lich ignorieren, welche fast ebenso leicht koaguliert, als das Proto- plasma abstirbt und daher nahe Beziehungen zur lebenden Materie verrät. Th. Bokorny und ich haben an zehn Jahre lang unsere Musestunden dem Studium dieses Körpers gewidmet und, nach Zurück- weisung mancher unberechtigter Angriffe, in Kap. 9 und 10 meiner obenerwähnten Schrift alles darauf Bezügliche systematisch zusammen- gefasst. Obgleich die Eigenschaften jener Substanz geeignet wären, das Interesse jedes chemisch gebildeten Physiologen zu erregen, findet sie fast gar keine Berücksichtigung. Doch das Interesse für manche Thatsachen entwickelt sich manchmal erstaunlich langsam. Hatte ja doch, um nur ein Beispiel zu erwähnen, Th. Saussure schon im Jahre 1805 die Atmung grüner Pflanzen einwandfrei erwiesen, und doch war es erst Sachs im Jahre 1866, welcher dieser Thatsache Anerkennung verschaffte. In welchem Lichte erscheinen uns nun jene Pflanzenphysiologen, welche den Beweis Saussure’s so konsequent ignorierten, ja welche es nicht einmal der Mühe wert fanden, den ein- fachen, so überzeugenden Versuch Saussure's auch nur zu wieder- holen? History repeats itself. Jeder, der die nötige Uebung in mikrochemischen Untersuchungen besitzt, könnte sich so leicht von der Richtigkeit unserer Beobachtungen überzeugen, — aber es ist ja be- quemer und für manche vielleicht auch profitabler, sie totzu- schweigen! Da der chemische Teil der Physiologie von so einschneidender Be- deutung ist, so würde Verworn’s Buch wesentlich gewinnen, wenn bei weiteren Auflagen und Uebersetzungen!) die Dienste eines che- mischen Fachmannes in Anspruch genommen würden; denn es ist für einen Physiologen von heutzutage schwierig, alle die einschlägigen Hilfswissenschaften in allen Fortschritten eingehend zu verfolgen. Es würden so manche „unchemische“ Aeußerungen vermieden, sowie che- mischen Gesetzen widersprechende Ansichten (z. B. auf S. 320) als das gekennzeichnet, was sie sind. [69] Universität Tokyo, Japan, im Juli 1902. 4) In englischer Sprache existiert bereits ein ganz vortreffliches Werk, welches außer dem in Verworn’s Buch enthaltenen Thatsächlichen noch viel mehr enthält und somit wohl auch den Titel „Allgemeine Physiologie“ führen könnte. Es ist das Werk von Charles B. Davenport: Experimental Morphology, New-York und London 1897. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Üentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. @oebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prot. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. nd. 15. Dezember 1902. Nr. 24. Inhalt: Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. — Wassilieil, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. — Friedmann, Zur Physio- logie der Vererbung. — Friedmann, Ueber die Chromosomen als Träger der Vererbungssubstanz. — Triepel, Einführung in die physikalische Anatomie. Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. Von Dr. F, Werner (Wien). I. Die Tropismen. Durch das Studium der Arbeiten von J.Loeb angeregt, habe ich meine Aufmerksamkeit gewissen Erscheinungen in der Biologie jener beiden Wirbeltierklassen, mit denen ich mich vorzugsweise beschäftige, zugewendet und mich bemüht, einige dieser Erscheinungen auf be- stimmte Tropismen zurückzuführen; das vorläufige Resultat meiner Beobachtungen ist nachstehend wiedergegeben. a) Heliotropismus. Die meisten Reptilien, vielleicht mit Ausnahme der im hohen Grade stereotropischen, sind mehr oder weniger stark heliotropisch. Die Tiere begnügen sich vielfach nicht damit, die Sonnenstrahlen auf- zusuchen, sondern viele bemühen sich direkt, der Sonne nach Möglich- keit näher zu kommen, indem sie auf Bäume (Lacerta viridis), Sträucher (Mabuia vittata), Pfähle (L. muralis), Hausdächer (Agama colonorum) und Felsspitzen (Lacerta oxycephala) steigen. Es giebt nur wenige rein nächtliche Formen unter den’Reptilien, auch unter denen mit vertikaler Spaltpupille. Viele Schlangen jagen bei Nacht, weil ihre Beute (Mäuse, Geckos) erst bei Nacht zum Vorschein kommt, pflegen sich aber bei Tage regelmäßig zu sonnen. Reine Tagtiere sind alle echten Landschildkröten ( Testudo, Cinixys),alle Agamiden, die meisten Iguaniden (Anolis lineatopus scheint aber ein Dämmerungstier zu sein), alle Vara- niden (von denen nur Varanus griseus ausnahmsweise in der Nacht XXI. 48 138 Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. und häufig in der Morgendämmerung auf Raub ausgeht), alle Lacertiden, Tejiden, Seineoiden und Chamaeleonten, soweit bis jetzt bekannt ist, ebenso anscheinend Anguiden, Zonuriden, Gerrhosauriden; von den Schlangen in erster Linie die Baumschlangen mit horizontaler Pupille (Dryophis und wahrscheinlich alle verwandten Formen), die mit kon- zentrisch kontraktiler Pupille (gewisse Coluber- und Zamenis-Arten) und alle Wüstenschlangen mit Ausnahme der Viperiden und Ery.ı. Tagtiere, welche gelegentlich auch Nachts auf Raub ausgehen, sind die Colubriden mit runder, nicht konzentrisch kontraktiler Pupille. Nachttiere, welche sich regelmäßig sonnen, sind: die meisten Wasserschildkröten, Krokodile, Sphenodon, einige Geckoniden (z. B. Tarentola), Boiden, Colubriden mit vertikaler Pupille (auch die Am- blycephaliden ?) und die meisten Viperiden (exkl. Atractaspis ?). Ausschließlich Nachttiere sind die meisten Geekoniden, einige Boiden (z.B. Ungalia), von Schildkröten die Chelydriden, Cinosterniden und Trionychiden. Die stereotropischen Reptilien können keiner dieser Kategorien zu- gerechnet werden. Der Heliotropismus fällt durchaus nicht vollständig mit dem Wärmebedürfnis zusammen. Viele Reptilien sind heliotropisch, ohne aber das Maximum der Wärme des betreffenden Tages zu bedürfen, wie fast alle Nacht- und Dämmerungsschlangen, die in den Morgen- und Nachmittagsstunden sich sonnen; auch kann man z.B. an kalten, aber sonnigen Sommertagen im Hochgebirge mehr Eidechsen im Freien sehen als an warmen Tagen bei bedecktem Himmel, ebenso wie in Gefangenschaft im Winter viele Arten, namentlich Eidechsen und Land- schildkröten, auch bei der möglichsten Warmhaltung des Käfigs aus ihren Schlupfwinkeln zum Vorschein kommen, wenn die Sonne scheint, obwohl die Wintersonne nicht im stande ist, die Temperatur des Käfigs auch nur um einen Grad zu erhöhen. Geradezu auffallend und in dieser Beziehung dem Hydrotropismus der Batrachier an die Seite zu stellen ist der Heliotropismus der Landschildkröten. Exemplare von Testudo tabulata, argentina und anderen tropischen und subtropischen Arten, die wochenlang in einem absolut finsteren Winkel meines Zimmers Winterschlaf hielten, kamen an jedem sonnenhellen Tage zum Vorschein, obwohl in ihr Versteck kein Lichtstrahl dringen konnte und die Temperatur an diesen Tagen infolge der geöffneten Fenster gewöhnlich noch niedriger war als an anderen Tagen. Weit weniger merkbar ist der Heliotropismus bei den Batrachiern, wo er bei Ranaesculenta, mascareniensis, catesbyana, agilis, Hyla arborea, Bom- binator, Discoglossus am deutlichsten ist; weniger entwickelt fand ich ihn bei R. arvalis, graeca und den Tritonen, sowie Bufo viridis, mauritanicus und regularis, am wenigsten bei R. temporaria, Bufo vulgaris und Sala- mandra, wenn man hier überhaupt noch von Heliotropismus sprechen Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. 139 kann. Da das Wärmebedürfnis wenigstens der paleaarktischen und nearktischen Arten im Vergleiche zu den Reptilien gering ist, so ist das Aufsuchen der Sonnenstrahlen fast nur auf Heliotropismus zurück- zuführen, Die Paarung erfolgt bei vielen Arten nur bei Sonnenschein, wenn auch kaltes Wetter herrscht, wie dies bei den braunen Rana- Arten und Dufo vulgaris der Fall ist. b) Negativer Geotropismus. Wohl zu unterscheiden vom Heliotropismus, der ähnliche Erschei- nungen hervorruft. Eidechsen steigen an Bäumen und Pfosten auf- wärts, um der Sonne näher zu kommen; aber sie denken nicht daran, z. B. deswegen einen Baum bis zum Gipfel zu besteigen. Dagegen dürfte Hyla, welche nach der Paarungszeit die Baumkronen so hoch als möglich hinaufsteigt, als negativ geotropisch zu betrachten sein. Versuche mit verschiedenen Hyla-Arten ergaben, dass die Tiere, wenn sie nicht erschreckt wurden, durchwegs die Richtung nach aufwärts einschlugen und ihren Weg unaufhaltsam fortsetzten. Nur selten findet man Laubfrösche nach der Paarungszeit auf Sträuchern, es sind dies vielfach solche, die von Bäumen abgestürzt sind, ihre Anzahl mag kaum einen per Mille der auf den Bäumen lebenden betragen. Auch Dryophis von den Schlangen, Anolis und Ohamaeleon unter den Ei- dechsen sind nach meinen Erfahrungen unter normalen Umständen als negativ geotropisch zu bezeichnen. e) Positiver Geotropismus ist stets mit d) Stereotropismus verbunden. Stereotropisch sind die Amphisbaenen, Typhlopiden (wohl auch Anelytropiden, Dibamiden, Glauconiiden), gewiss manche Seincoiden (Chaleides-, Scincus-Arten) und manche Schlangen aus anderen Gruppen (Eryx, Lytorhynchus, Cemophora, schließlich wohl auch teilweise Pityo- phis), die Batrachia apodat. Es giebt zwar eine erkleckliche Anzahl von Eidechsen, namentlich unter den Seincoiden und ähnlichen eyeloid- schuppigen Formen, welche unterirdisch leben und einen großen Teil ihres Lebens in selbstgegrabenen Erdlöchern verbringen, aber das Be- dürfnis, ihren Körper rundherum mit dem umgebenden Medium in Be- rührung zu bringen, ist nur zeitweilig vorhanden; diese Eidechsen, wie Eumeces, Mabuia, Lygosoma, sind im wesentlichen supraterran und wühlen sich nur dann ein, wenn sie verfolgt werden oder wenn sie nicht auf andere Weise sich ein Versteck suchen können, was schließ- lich auch viele Lacertiden (Lacerta viridis, Acanthodactylus), manche Geekoniden (Stenodactylus) und Iguaniden (Liolaemus) gelegentlich thun. Das charakteristische Merkmal des positiven Geotropismus, sich 48* 740 Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. unter allen Umständen seinen Weg in der Richtung gegen das Erd- centrum zu suchen, ist bei den obenerwähnten, meist blinden Rep- tilien und Batrachiern ebenso deutlich zu erkennen, wie der negative Geotropismus bei Ayla, welchem nur im Herbst das Bedürfnis des Winterschlafes entgegenwirkt. Dass bei den positiv geotropischen Reptilien und Batrachiern die Bewegungsrichtung durch die dem Graben mehr weniger Widerstand entgegensetzende Beschaffenheit des Bodens allmählich in eine horizontale übergeht, ist durchgehend zu beobachten. e) Hydrotropismus. Einer der merkwürdigsten und bisher noch wenig gewürdigten Tropismen ist der bei gewissen Batrachiern und Reptilien auftretende Hydrotropismus, also einebesondere Form desChemotropismus, durch welchen Wasser, welches durch keinen der uns bekannten Sinne wahr- genommen werden kann, also weit entfernt ist, aufgefunden werden kann. Hydrotropismus ist am höchsten, ja in geradezu erstaunen- erregendem Grade entwickelt bei den Wassermolehen der Gattung Molge (Triton) und bei den, den Urodelen in mancher Beziehung nahestehenden Discoglossiden, speziell bei Bombinator zu beob- achten; er ist aber in geringerem Grade auch bei vielen Eidechsen und Schlangen bemerkbar, von denen das Vorhandensein von Wasser nicht, wie thatsächlich bei den Wassermolchen, auf Kilometerweite, sondern nur auf geringe Distanzen wahrgenommen wird, ja bei denen sich die Erscheinung darauf beschräuken kann, dass ein von den Tieren absolut unbemerkt in den Käfig gestelltes Gefäß mit Wasser nach kurzer Zeit alle Käfiginsassen zum Trinken herbeilockt, obwohl die Mithilfe irgend eines uns bekannten Sinnes vollständig ausgeschlossen scheint, wenn hier nicht etwa doch der Geruchssinn im Spiele ist. Eine solche Art ist z.B. Ungalia semicincta, die kubanischeZwerg-Boide, aber auch Lygosomen und Gerrhonotus coeruleus zeigten die Erscheinung ganz deut- lich. — Der Hydrotropismus bringt im Frühling die paarungsbedürftigen Batrachier aus Gebieten von Hektargröße und darüber in einem be- stimmten Sumpf, Teich oder Tümpel zusammen; ein antagonistisch wirkender Tropismus existiert hier nicht, denn die Tiere suchen beim Verlassen des Wassers durchaus nicht immer wieder dieselben Ver- steckplätze auf. Freilich lässt sich ein Orientierungssinn bei Batrachiern manchmal recht einfach erklären. So fand eine Kröte (Bufo viridis), die ich öfters gefangen und in einem Gefäß im Garten verwahrt hatte, nachdem sie die Freiheit wieder erlangt hatte, immer wieder ihre Wohnstätte, ein Kiefernwäldehen in der Entfernung von wenigstens einem Kilometer vom Garten; bei Beobachtung ihres Verfahrens zeigte sich aber, dass das Tier den ganzen Weg in dem tief ausgefahrenen Geleise, welches die Sandwagen in der Straße verursacht hatten, welche die beiden Punkte (Garten und Wäldehen) verband, zurück- Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. 74 legte und so schnurgerade heimkam. Wieso es kam, dass es nie die entgegengesetzte Richtung einschlug, ist mir allerdings nicht klar ge- worden. II. Die Sinneswahrnehmungen der Reptilien und Batrachier. Es ist nicht eben leicht, sich von der Schärfe der Sinneswahr- nehmungen mancher Tiere einen Begriff zu machen, wenn man nicht beständig mit ihnen zu thun hat, und ganz falsche Vorstellungen hat man gemeiniglich von der Funktion der Sinnesorgane innerhalb der obenerwähnten Wirbeltierklassen, namentlich infolge des Umstandes, dass die Fehlerquellen und die Beeinflussung des Urteiles durch vor- gefasste Meinungen hier besonders groß sind. Man ist nur zu leicht geneigt, bei Versuchen über das Gehör der Reptilien die Reaktion, nehmen wir an, eine heftige Bewegung, auf Rechnung eines heftigen Hammerschlages, Glockengeläutes oder Pfiffes zu setzen, während das beobachtete Tier nur vielleicht die Handbewegung des Experimentators gesehen hat und darüber erschrack, ja vielleicht sogar die Luft- erschütterung als solche wahrnahm; man sieht die Brillenschlange beim Gequitsch eines indischen Musikinstrumentes „tanzen“ und glaubt die „Musik“ mit dem „Tanzen“ inZusammenhang bringen zu müssen u. s. w. Ich habe gegen 186 Reptilien und Batrachier, davon etwa ein Drittel in der freien Natur, zu beobachten Gelegenheit gehabt und mit den meisten mehr oder weniger genaue Versuche anstellen können. Alle diese Versuche wurden nicht mit frischgefangenen oder -importierten, sondern mit gut eingewöhnten, vollkommen gesunden und ganz be- ruhigten, oder aber freilebenden Tieren angestellt; niemals ließ ich von mir etwas sehen), die Versuchsexemplare konnten sich steis un- beobachtet glauben. Ich habe bei den meisten Arten mit mehreren Exemplaren experimentiert. I. Gesichtssinn. Der Gesichtssinn ist derjenige, von dem sich vielleicht alle Rep- tiiien und Batrachier in erster Linie leiten lassen, sowohl bei Er- beutung von Nahrung, als auch bei der Erkennung von Feinden. Die Entfernung, in welcher Nahrung wahrgenommen wird, hängt sehr merklich von der Größe des zur Beobachtung kommenden Reptils oder Batrachiers ab. Ich habe daher, um einen besseren Vergleich der Sehschärfe zu ermöglichen, die Maximalsehweite auf die Total- länge des beobachteten Tieres bezogen, wobei sich freilich für die Schlangen erheblich andere Zahlen ergeben als für die anderen Ordnungen. Auch ist das Ergebnis der Beobachtungen wesentlich von 4) Außer bei einer bestimmten Versuchsreihe, wo es sich eben gerade darum handelte, festzustellen, auf welche Distanz die beobachteten Tiere den Menschen noch sehen können, 142 Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. dem spezifischen Sehvermögen abhängig. Hatteria sieht am besten nach aufwärts, die Krokodile seitwärts; selbstverständlich kann man auch nur gesunde und hungrige Tiere zu Versuchen verwenden, da andere die ihnen gebotene Nahrung auch in der geringsten Entfernung keines Blickes würdigen. a) Krokodile. Die Krokodile sehen, wie schon erwähnt, am besten seitwärts, weniger, aber immerhin noch gut, nach vor- oder aufwärts, ja auch noch ziemlich weit (45°) nach rückwärts. Ihre Sehweite beträgt für Nahrung (Fische) kaum mehr als die Hälfte ihrer eigenen Länge, für einen sich ihnen nähernden Menschen wenigstens das Zehnfache derselben, im Freien gewiss noch mehr. (Beobachtet Alligator missisippiensis, Cro- codilus nilotieus, Osteolaemus tetraspis, Caiman latirostris.) b) Schildkröten. Hier fand ich im allgemeinen die Sehschärfe für nahende Menschen meist geringer als die für Nahrung. Exemplare von Testudo marginata, ibera und graeca ließen mich (in Freiheit) auf 3—4fache Körperlänge (Schalenlänge)') und noch geringere Entfernung nahe- kommen, bevor sie zischend Kopf und Beine einzogen und sich dabei mit einem klappernden Laut auf den Boden fallen ließen. Exemplare von Olemmys caspia gaben dagegen auf viel größere (8—25 fache Körperlänge) Entfernung Zeichen, dass sie mich bemerkten (Budua in Dalmatien; Zante; Magnesia; freigelassene Exemplare bei Ludmer- feld, Niederösterreich), weniger weit sieht dagegen Emys orbicularis (höchstens 10fache Körperlänge), kann daher unter gleichen Um- ständen viel eher mit der bloßen Hand gefangen werden als Olemmys caspia. Ein ähnliches Verhältnis zwischen Land- und Wasserschildkröten dürfte auch bei außereuropäischen Formen bestehen. Was nun die Sehschärfe für Nahrung anbetriflt, so ist sie weit größer als bei Krokodilen. Schon bei Landschildkröten (in erster Linie Testudo tabulata, dann T. graeca, radiata, elegans, weniger T. ibera, horsfieldi, leithi, calcarata, argentina, polyphemus, marginata) konnte ich beobachten, dass sie auf 4—5fache Körperlänge ihr Futter erblickten. Ge- ringer war die Sehschärfe bei Cinixys homeana und belliana, und bei den fleischfressenden Cistudo-Arten (C. carolina, cinosternoides und ornata (höchstens doppelte Körperlänge). Bei Wasserschildkröten vieler Gat- tungen (Eimys, Clemmys, Chrysemys, Malacoclemmys, Damonia) war siedie 1) Alle hier mitgeteilten Längenangaben sind, wie sich dies bei der Schwierigkeit des Nachmessens von selbst versteht, nicht genau, umso weniger, Je größer die Entfernungen sind und je kürzer die Zeit ist, welche zwischen dem Erblicken und der Reaktion verstreicht. Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier, 743 5—10fache Köperlänge, bei Emyda, Trionyx, Chelydra, Kachuga, Cyelemys, Oinosternum, sowie bei Pelomedusiden und Chelydiden (mit Ausnahme von weit besser sehenden Hydraspis hilarii und Chelodina longicollis) aber erheblich geringer (!,—1 fache Körperlänge). Ich will im Nachfolgenden die Sehschärfe bloß mit Zahlen und Buchstaben bezeichnen, 10 bedeutet also die Fähigkeit, auf 10 Körperlängen, M.= einen Menschen, F.—= Futter zu sehen. ec) Eidechsen. Wenn die Angabe von J. v. Fischer einigermaßen genau ist, so muss der Leguan (/guana tuberculata) zu den weitestbliekenden Ei- dechsen gerechnet werden, denn er soll einen kriechenden Mehlwurm auf 3'/z m Entfernung erblicken; dies wäre, die Länge eines erwachsenen Exemplares zu 1—1';; m angenommen, eine Sehweite für F. 21/,—3!],. Aehnliche, doch niedrigere Zahlen fand ich für mein Iguana-Exem- plar, ferner Otenosaura und Metopocerus, welche die kleinsten von ihnen sonst auch in der Nähe beachteten Nahrungsbrocken auf 1'/;—2'/; m erblickten (Sehweite, da beide Exemplare ziemlich genau einen Meter Länge haben mussten — beide hatten defekte Schwänze und musste die Totallänge daher nach dem Durchschnitt berechnet wer- den — F. 1!/,—2!/,). Sehr gut sehen die Varaniden, V. griseus, varius, salvator, bengalensis (F. 1,5—2 — ein 66 em langer V. yriseus sieht eine Maus auf einen Meter, ein meierlanger V. bengalensis oder V. va- rius auf 2 m Entfernung). Auch die großen Lacertiden (L. viridis, ocellata) (Sehweite für Mehlwürmer 60—100 em, d. i. F. 2—2,25) sehen gut, weit besser aber als alle vorerwähnten Arten die Geckoniden: Stenodactylus petrii und elegans (F. 4—5), Phyllodactylus europaeus (ebenso), Piyodactylus lobatus (F.3—4). Hier reihen sich nun die ver- schiedenen kleineren Lacertiden (F. 2-3), gewisse Sceincoiden (Mabuia, Eumeces, Lygosoma) mit F.2—3, Gerrhonotus (2), Anolis (2—4) und Chamaeleon (3—5) an, während Uromastix, die großen Seincoiden (Tiliqua, Egeonia, Trachysaurus), die schlangenähnlichen Anguiden und die subterranen Seineoiden (Scincus, Chalcides) den Schluss bilden. Auch Tupinambis, Physignathus, Agama, habe ich verhältnismäßig kurzsichtig gefunden. Was ihr Verhalten dem Menschen gegenüber anbelangt, so habe ich nur in Bezug auf einige Familien (Geekoniden, Agamiden, Lacer- tiden, Seineiden, Anguiden, Amphisbaeniden) Erfahrung aus dem Frei- leben. Es ist aber, namentlich bei den Lacertiden, schwer zu erkennen, ob sie den nahenden Menschen nicht sehen oder ihn im Vertrauen auf ihre Schnelligkeit und die Unzugänglichkeit ihres Versteckes so nahe an sich herankommen lassen, da man sich manchen, wie Algiroides nigropunctatus und moreotieus, Lacerta graeca, depressa, oxycephala, muralis u. a., aber auch Psammodromus algirus und blanei, Mabuia 144 Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. quinquetaeniata, Piyodactylus, Tarentola, bis auf 10 cm Entfernung nähern kann; es sind dies durchaus Arten, welche in Mauerlöchern und Felsspalten wohnen, während Bewohner von Büschen und Erd- löchern viel früher ihren schützenden Schlupfwinkeln zueilen { Acantho- dactylus, Agama, Lacerta peloponnesiaca u. a.). Dagegen habe ich beobachtet, dass man sich den größeren Lacertiden nicht auf 5m, den kleineren nicht auf 2—3 m nähern kann, ohne sie zu verscheuchen, wenn man beim Herankommen jede Vorsicht außer acht lässt. Aehn- liches fand ich bei Tarentola mauwritanica (2—3 m), Piyodactylus lobatus (2—3 m), Hemidactylus turcieus (2 m), Gymnodactylus Kot- schyi (2 m — die drei letzteren Arten nur abends so vorsichtig), Agama stellio (bei Alexandrien 2—4m, bei Smyrna 1—2 m). Mabui« vittata und septemtaeniata (1',—2 m), quinguetaeniata (2—2', m). Ophisaurus apus entflieht bei 1—1'I,m, Anguwis bei ',—1m, Chaleides tridactylus bei 1',—2 m Entfernung von einem herannahenden Menschen; bei Ohaleides ocellatus, Ophiops elegans und occidentalis schwankt diese Zahl von 1—1'l, m. d) Schlangen. Der Gesichtssinn der Schlangen ist meist ziemlich stumpf. Am besten entwickelt fand ich ihn bei Dryophis, Coluber und einigen Boiden, wo die Sehweite für Nahrungstiere der einfachen Körperlänge gleichkommt. Im übrigen fand ich folgende Zahlen: PYLonmolurust in NE Lioheterodon (1 Art) . . . 5 er Sebae u. spilotes . !], Psammophis: (1. Art) 22722 ine Boa 'constrietor , u... wi! Driyophis (1 AH), di yes „ oceidentalis u. madagas- Chrysopelea:(4, Art)... 12.8215 GATIENBISS vo erresie ale Macroprotodon (1 Art) . . !% Epicrates striatus u. angulifer °/, Larbophis’(1 Art)? . .... 2 21, Eunectes notaeus . . . . Yo Eteirodipsas (1 Art) . . . 1! Unralia semiemeta 2 at... 2, Ithyeyphus (1 Art). 1—!, Eryx jaculus, conieusu. johni |, Hypsirbina (HeArtyn 2, Fropidonotus‘(d Arten) „an, —ls »Cerberusitt Art na an. Zamenis (3.Arten): u, =) 2], la.» vElaps- (DAH)E I7.na Coronella, (6,-Arten) ..... a..u ua... Vipera (8, Arten) IS nn. sl: Coluber. (5. Arten) '. . .... 2/,—1 Gerastes. (2 Arten) 2 2.2. 72er Beterodon (1 Art) 2. 0... Ancistrodon (1 Art) - - . 1! In absoluten Zahlen: Am besten sah von allen beobachteten Schlangen Dryophis myeterizans, die ich mehrfach auf Mauereidechsen aus einer Entfernung von über einen Meter reagieren sah. Von den Boiden bemerkten die Epierates-Arten Ratten auf die ganze Käfig- länge (110 cm), desgleichen Ooluber longissimus, guttatus und quadri- virgatus auf die ganze Länge eines anderen Käfigs (etwa 1m). Einen nahenden Menschen gewahren die meisten Nattern auf 2—3 (am weitesten Zamenis dahlii), die Riesenschlangen und Viperiden erst Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. 745 auf 1—2 Körperlängen Entfernung, und zwar finde ich bei letzteren ebenso wie bei vielen anderen Reptilien mit senkrechter Pupille keinen erheblichen Unterschied zwischen der Sehschärfe bei Tag und Nacht (gilt auch natürlich für die Aufsuchung der Nahrung). e) Froschlurche. Eine ziemlich große Sehweite besitzen viele Anuren, und manche von ihnen können auch, ohne sich umzudrehen, nach rückwärts sehen, bis zu einem Winkel von 60° (Rana esculenta, Bufo, Bombinator). Die Sehweite für Nahrung (Fliegen, Mehlwürmer) beträgt in Körperlängen 15—20 (Kana esculenta, Bufo calamita), 8—12 (Bufo vulgaris, Hyla arborea), 6—10 (Bufo viridis, mauritanicus, regularis, Rana agılis, ar- valis, temporaria, graeca, latastii, Discoglossus pictus), 5—7'l, (Bom- binator, Pelodytes), 4—6 (Pelobates). Die Entfernung, aus welcher ein Mensch gesehen wird, ist bei kana escılenta am größten, nämlich 30—50, geringer bei R. agilis 20—36, bei AR. arvalis 20—580, bei KR. temporaria 16--20, bei Discoglossus pictus aber 18—25, bei Bombinator 30—40 (mehr bei pachypus als bei igneus); gering ist die Zabl für die Bufoniden (10—20) und für Hyla (4—10). Ausschließlich kurzsichtige Tiere sind dagegen die Schwanzlurche. Von ihnen konnte ich nur bei Amblystoma tigrinum (Landform) eine Sehweite feststellen, die gleich der vollen Körperlänge war. Dagegen konnte von allen anderen beobachteten Arten (13 Molge, 2 Salamandra, Necturus, Megalobatrachus) kein Exemplar etwas Fressbares auf seine eigene Totallänge weit erkennen und betrug die Sehweite im besten Falle 0,5 der Totallänge (verschiedene Molge-Arten), im mindesten Falle 0,2 der- selben: Megalobatrachus). Noch geringer war die Sehweite bei jungen Proteus mit noch deutlichen Augen (0,02 der Totallänge). Im Freien konnte ich nur die bei uns einheimischen 3 Molge- und 2 Salamandra-Arten auf ihre Sehweite in Bezug auf das Erblicken eines Menschen untersuchen. Salamandra maculosa bemerkte mich auf etwa 1‘, m Distanz. Von den Molge-Arten, die ich im Wasser watend aufsuchte, ließ mich M. eristata selten auf mehr als einen Meter heran- kommen, dagegen konnte ich M. alpestris und vulgaris vielfach direkt mit der Hand ergreifen, ohne dass sie einen Fluchtversuch gemacht hätten, was wohl für eine einzig dastehende geringe Sehweite spricht, da bei allen anderen hier in Betracht kommenden Tieren, bei welchen kein Fluchtversuch beobachtet wird (und es kommt dies bei Reptilien und Froschlurchen, die z.B. unter plötzlich aufgehobenen Steinen oder Brettern aufgedeckt und dadurch von der Finsternis in die Tageshelle versetzt werden, durch die momentane Blendung, bei Landschildkröten 746 Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier, im Gefühle der Unfähigkeit zu entfliehen, häufig vor), wie man sieht, ganz andere Gründe für die Erscheinung vorliegen. ll. Gehörssinn. Soviel meine Beobachtungen ergaben, sind alle Reptilien ohne Ausnahme taub oder zum mindesten ziemlich schwerhörig, und nur die Krokodile reagieren auch auf weniger laute Geräusche, wie dies bei Alligator allerdings weniger als bei Orocodilus bemerkbar ist. Ein besonders feines Gehör konnte ich bei den im Terrarium gehaltenen Krokodilen allerdings nieht konstatieren, und es gehörte z. B. schon ein sehr heftiges Geräusch dazu, um meinen etwa 60 cm langen Alli- gator aus seinem Schlafe zu erwecken. Es mag allerdings das Gefühl der Sicherheit vor Gefahren, sowie überhaupt die bei Terrarientieren, die sich wohl fühlen und relativ wenig Bewegung machen, oft unver- meidliche Mästung die Schärfe des Gehörs abschwächen, bezw. die Tiere veranlassen, den Gehörs-Wahrnehmungen nicht soviel Aufmerk- samkeit zuzuwenden, als sie dies in Freiheit thun würden. Ich will daher gerade für die Krokodile gerne zugeben, dass das Gehör (ebenso wie das Gesicht) bei freilebenden Exemplaren schärfer ist. Dass die Krokodile hören, vermutete ich von vornherein schon aus dem Um- stande, dass sie im stande sind, laute Töne auszustoßen, welche wohl schwerlich nur geäußert werden, um dem Tiere selbst eine Unterhaltung zu gewähren — wie mir dies für das gesellige Gequack der Frösche außer Zweifel zu sein scheint — sondern um andere Tiere derselben Art auf etwas aufmerksam zu machen. So wird ja die erste Laut- äußerung des noch im Ei befindlichen madagassischen Krokodils von, der auf dem Neste liegenden Mutter gehört und veranlasst dieselbe die Eier auszuscharren und dadurch den Jungen das Auskriechen zu ermöglichen (Voeltzkow), und ebenso dürften in anderen Fällen die ausgestoßenen Töne zur Warnung der Genossen dienen, wenn sie auch meist nur Aeußerungen von Erregung (Hunger, Unwillen über Misshand- lung durch andere Tiere, durch Treten, Kratzen, Beißen u. dergl.) sind. Alle jungen Krokodile, die ich bisher hören konnte (aus 4 Gattungen), quacken ganz gleich. Wenn wir nun die anderen Reptilien auf ihr Gehör prüfen, so finden wir, wie dies Darwin schon von den Galapagos-Schildkröten erwähnt (Reise eines Naturforschers um die Erde, p. 419) undv. Tom- masini für die bosnisch-herzegowinische Reptilienwelt angiebt (Skizzen aus dem Reptilienleben Bosniens und der Herzegowina, p. 28), dass sie fast ausnahmslos stocktaub sind, trotz des oft mächtig entwickelten, freiliegenden Tympanums. Das ursprünglich funktionierende Gehör- organ muss demnach für diese Reptilien gänzlich bedeutungslos ge- worden und durch einen anderen Sinn (wohl Gesicht) vollständig sub- stituiert worden sein. Dass das Gehör in Rückbildung begriffen ist, Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. Ta7 ergiebt sich schon daraus, dass gerade ursprüngliche, alte Reptilformen, wie von den Schlangen die Boiden, von den Eidechsen die Geekoniden noch Spuren von Gehör erkennen lassen, obwohl z. B. meist schon ein unmenschliches Gebrüll oder entsprechendes anderes Geräusch dazu gehört, um eine Riesenschlange zu einer ganz kleinen Reaktion zu veranlassen (am ehesten Boa und Epicerates). Die übrigen Schlangen sind wohl durchwegs ganz taub. Die Geckoniden, welche Töne von sich geben können (obwohl ich von 13 Arten trotz jahrelanger Ge- fangenhaltung nie einen Laut vernahm, so dass die Fähigkeit der Lautäußerung wohl auf gewisse tropische und subtropische Arten: Ptenopus garrulus, Hemidactylus frenatus, Gecko vertieillatus u. a. be- schränkt sein dürfte), hören nach den Krokodilen noch am besten. Nicht viel besser steht es mit den Urodelen unter den Batrachiern, welebe auch niemals ein freiliegendes 'Trommelfell erkennen lassen. Dagegen ist die Hörfähigkeit der Froschlurche außer Zweifel. Schon das einfache Experiment, dass Laubfroschmännchen zum Quacken zu bewegen sind, wenn man in ihrer Nähe laut spricht, hämmert, oder auch ihr Gequack nachahmt, spricht dafür. Bei anderen Froschlurchen (z. B. Rana esculenta) gelingt dieses Experiment freilich selten oder gar nicht; bei diesen ist aber ihr Chorgesang am Abend, den sie auch außerhalb der Paarungszeit und gewiss nur zu ihrem Vergnügen er- tönen lassen, genügender Beweis. Ob allerdings die Froschlurche mit völlig verdecktem Trommelfell gut hören, kann ich wegen Mangel an genügendem Material nicht entscheiden. III. Geruchssinn. Scharfriechende Stoffe, wie Alkohol, Formol, werden wohl von allen Reptilien und Batrachiern sofort wahrgenommen und mehr oder weniger heftig abgewehrt. Die Ringelnatter unterscheidet bloß nach dem Ge- ruch Rana escılenta von den braunen Fröschen, ebenso Bombinator igneus von B.pachypus; ob dagegen von säugetierfressenden Schlangen Ratten und Kaninchen nach dem Geruch oder durch den Gesichtssinn unterschieden werden, konnte ich bisher nicht feststellen (das Faktum steht aber fest; Ratten werden stets mit Vorsicht und vorn an der Schnauze gepackt, Kaninchen und Meerschweinchen dagegen ganz sorglos an irgend einem Körperteil (über Wahrnehmung von Wasser siehe auch p. 740 unter Hydrotropismus). IV. Geschmackssinn. Fehlt wahrscheinlich keinem Reptil oder Batrachier gänzlich. So- gar die Schlangen mögen immerhin am Zungengrunde oder Gaumen Geschmacksempfindungen haben. Krokodile und Wasserschildkröte unterscheiden frische und lange verendete Fische sicher durch diesen Sinn, ebenso frisches und altes Fleisch. Am besten ausgebildet ist er 748 Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. bei den Eidechsen (Lacertiden, Seineiden, besonders die großen austra- lischen Egernia, Trachysaurus, Tiligua, noch mehr bei Agamiden |Uromastix] und am besten bei Iguaniden [Iguana, Metopocerus, Oteno- saura]); alle sind sehr erpicht auf Zucker, süße Fruchtsäfte, Kom- pot und süßes Obst, Zuckerwaaren sogar mit überwiegender Mehl- grundlage (Backwerk), wenn sie nicht zu hart und trocken sind; doch unterscheiden sie nicht zwischen Rind- und Schweinefleisch, wie dies manche Urodelen thun. Saure Früchte werden ungern oder gar nicht genommen, ebenso faulige. In der Nahrungsauswahl verhalten sich obige Eidechsen ganz so wie gewisse, an die Gesell- schaft des Menschen gewöhnte Stubentiere, indem sie viele seiner gc- kochten Speisen ohne Schaden und sogar mit sichtlichem Behagen zu sich nehmen, dagegen dürfte es keinen Allesfresser unter den Reptlien geben. Bei Fröschen ist zu beobachten, dass sie widerlich schmeekende Insekten (Coccinella) nicht verzehren, sondern, wenn sie irrtümlich einen solchen Käfer mit der Zunge gefangen haben, dieselbe so lange aus dem Rachen heraushängen lassen, bis er weggekrochen ist. Dass sie oft gefangene Mehlwürmer auswerfen, ist nicht immer (wie z. B. bei absterbenden, in fauligen Stoffen gezüchteten) auf Rechnung eines etwaigen üblen Geschmackes, sondern ihrer Härte zu setzen, Bei Schlangen spricht für die Fähigkeit einer Geschmacksempfin- dung folgendes: Batrachierfressende Schlangen, welche irrtümlich nach Bombinator pachypus schnappten, zeigten hierauf sofort Zeichen des Ekels und wischten sich oftmals den Rachen auf dem Boden ab. An- dere zeigten dieselbe Erscheinung, wenn sie Triton (Molge) cristatus gefressen hatten. Wie verschieden übrigens die Drüsenausscheidungen der Batrachier auf ihre Feinde unter den Schlangen wirkt, beweist die Thatsache, dass Bufo viridis, dessen Sekret dem von Bombinator pachyp«s an Schärfe nicht nachsteht, von Tropidonotus-Arten gerne gefressen wird, dagegen auf Lioheterodon madagascariensis in kurzer Zeit tötlich wirkte. Manche Schlangen, denen man an ein lebendes Futtertier gebunden eine Anzahl toter derselben Art vorwirft, erbrechen die ganze Serie sofort, wenn sie an eines derselben geraten, das nicht frisch ist (Lioheterodon). Solche Riesenschlangen, welche frisch getötete Futtertiere ohne weiteres aus der Hand nehmen, nehmen auch einen Kidaver älteren Datums an, behalten ihn aber nur wenige Sekunden im Rachen, schleudern ihn durch heftiges Schütteln des Kopfes heraus; auch Tiere, die zu anatomischen Untersuchungen gedient hatten (ohne aber mit irgendwelchen Konservierungsflüssigkeiten oder dergleichen in Berührung gekommen zu sein), und ihres Kopfes beraubt eder auf- geschnitten waren, wurden wohl genommen, sofort aber wieder aus- geworfen. Andere Beobachtung über die Geschmacksempfindung konnte ich bisher nicht machen. Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. 749 V. Tastsinn. Aus diesem Kapitel möchte ich nur eine einzige Thatsache, die sehr merkwürdig ist, hervorheben; nämlich die, dass Schlangen zweifel- los durch das Tastgefühl ihrer Zunge Kenntnis von Gegenständen erhalten, die sie mit der Zunge noch gar nicht berührt haben. In solchen Fällen wird die Zunge außerordentlich schnell bewegt und es scheint, dass die Intensität des Rückpralles der an den zu untersuchen- den Gegenstand anprallenden bewegten Luft der Schlange genügende Kenntnis über die Entfernung des Gegenstandes von ihr geben würde. Mit der Zunge tasten viele Reptilien, wie die Schlangen, Varaniden, Teiiden, Lacertiden, Seineiden, Anguiden, am wenigsten die Agamiden, Iguaniden, Geckoniden, gar nicht die Krokodile, Schildkröten und Rhyncehocephalen, so dass also diese Eigentümlichkeit auf die so- genannten Plagiotremen oder Squamaten unter den Reptilien, be- schränkt ist. Dass das Züngeln ein Tasten ist, kann aus der Beob- achtang durchaus nicht so ohne weiteres erschlossen werden. Denn auch sehr gut sehende Reptilien züngeln, ohne irgendeinen Gegen- stand zu berühren, bei jedem Schritt und Tritt (Varaniden, Teiiden), so dass man nicht annehmen kann, dass sie ihre ohnehin scharfe Ge- sichtswahrnehmuug durch das Züngeln noch kontrollieren wollen. Ich möchte es eher für eine Gewohnheit, einen Ausdruck des Behagens erklären, da Reptilien in eiliger Flucht (mit Ausnahme der Schlangen) niemals züngeln und bei Krankheiten (auch bei solchen, "die nicht den Rachen betreffen) sehr bald das Züngeln einstellen. Davon möchte ich das Bezüngeln von Nahrungsmitteln, Flüssigkeiten, Tieren der gleichen oder verwandten Art, des gewohnten Schlupf- winkels als eigentlichen Tastvorgang unterscheiden; und ich, möchte hier gleich bemerken, dass diejenigen Eidechsen, welehe die Zunge als Fangapparat in größerem oder geringerem Grade (ersteres z. B. bei Chamaeleon, letzteres bei Agamiden und Iguaniden, welche Mehlwürmer und dergleichen bloß an der wenig vorgestreckten Zungenspitze an- leimen) benützen, dieselben niemals außerhalb der Nahrungsaufnahme vorzustrecken pflegen. Dagegen besitzt die Zunge der Schlange neben der Tastfunktion vielfach noch eine andere, nämlich eine Reaktion sich tot stellender Tiere hervorzurufen. Wer schon je eine Ringelnatter beobachtet hat, die einen regungslos mit geschlossenen Augen da- sitzenden Frosch umkreist, seine empfindliche Haut fortwährend durch das Bezüngeln kitzelnd, bis er endlich durch ein Zucken, welches seine Muskulatur durchläuft, durch Veränderung seiner Stellung kundthut, und hierauf sofort abgefasst wird — wer dasselbe Spiel bei einem Python mit einem ruhig schlafenden Kaninchen oder Meerschweinchen gesehen hat, wird diese Funktion nieht unterschätzen. 750 Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. VI. Gefühls-(Haut-)Sinn. Im Wesentlichen dem höherer Wirbeltiere zu vergleichen. Am feinsten an der Konjunktiva des Auges, bei Reptilien mit Gliedmassen, welche immer in der Umgebung ihres Ansatzes viel feinere Schuppen oder eine nackte, von feinen Furchen durchzogene Haut besitzen, in der Achsel- und Inguinalgegend. Panzerung schließt eine Gefühls- empfindung an der betreffenden Stelle nicht aus, wie man bei Schild- kröten bei Berührung des Panzers oft sehen kann. III. Maximal- und Minimaigrössen bei Reptilien und Batrachiern. Es ist eine bekannte Erscheinung, dass für die tierischen Indi- viduen eine Wachstumsgrenze existiert, nach deren Erreichung, welche in der Regel mit der Erreichung der Geschlechtsreife zusammenfällt, das Wachstum eine zeitlang stille steht, worauf schließlich das Zu- srundegehen des betreffenden Organismus erfolgt. Ich möchte hier nur einige Erscheinungen besprechen, welche mir bei der Untersuchung großer Mengen von Reptilien und Batrachiern aufgefallen sind und welche im Zusammenhange wohl kaum erwähnt worden sind. Eine dieser Erscheinungen ist das Nichtzusammenfallen der (auch nur durchschnittlichen) Maximallänge mit der Geschlechtsreife bei Reptilien. Wir sehen bei zahlreichen Formen, dass die Geschlechtsreife oft schon in einem Alter eintritt, in welchem wir die betreffenden Tiere in Bezug auf ihre sonstige körperliche Entwicklung als halbwüchsig bezeichnen würden. Solche halbwüchsig erscheinende, aber geschlechts- reife Exemplare finden wir z.B. beimanchen Chamaeleons (Ch. basiliscus, Fischeri) und bei vielen Schlangen. Wir haben also eine untere Wachs- tumsgrenze zu unterscheiden, das ist die geringste Länge, bei welcher eine Art schon fortpflanzungsfähig ist (Minimallänge) und eine obere, die Maximallänge, die höchste, welche von derselben Art überhaupt erreicht werden kann. Wir sehen aber bei zahlreichen Arten, dass eine Maximallängen- angabe deswegen nicht aufgestellt werden kann, weil die Lebensdauer uns fast unbegrenzt scheint; sie wachsen, so lange sie leben, und sie leben so lange, bis sie irgendeiner gewaltsamen Todesart erliegen, sie scheinen die Altersschwäche nicht zu kennen. Wir finden solche Riesenformen mitunter in einer und derselben Art, bei einer Varietät, während die anderen bestimmte Grenzen ein- halten. So erreicht von der südeuropäisch-westasiatischen Zamenis gemonensis die typische Form nur äußerst selten über einen Meter Länge; die auf Mittelfrankreich, die Süd- und Westschweiz, Mittel- italien, Korsika und Sardinien beschränkte var. atrovirens erreicht fast 1: m, die melanotische Form des Typus (var. carbonarius) wenigstens 2 m und die südöstliche var. caspius sicherlich über 2’; m Länge. Die bunte Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. Tl Form der eircummediterranen Eidechsennatter (Coelopeltis monspessu- lana var. insignitus) erreicht selten auch nur 1m, die oberseits einfarbig braune var. Neumayeri dagegen oft 1'/;m und mitunter über 2m Länge; Tropidonotus tessellatus wird in den gewöhnlichen Farbenvarietäten etwa 1 m, in der transkaspischen var. Zineatocollis 1'!/; m, in der dal- matinischen var. flavescens dagegen kaum ®/;m lang. Von den beiden Formen des Ooluber guatuorlineatus Gmel. wird die Stammform (sau- romates Pall.) niemals über 1'/; m, die gestreifte Form dagen über 2 m lang. Um auch von Eidechsen Beispiele zu geben, so ist von den Varietäten des Chaleides ocellatus die typische Form stets die kleinste sowohl in Nordafrika, als in Attica, auf Kreta, Cypern oder in Westasien (Syrien, Persien); viel größer wird überall, wo sie vorkommt, die var. tiligugu (Sardinien, Algerien, Tunis), am größten aber die marokkanische var. polylepis. Die sogenannten Varietäten der Lacertu viridis und muralis will ich an dieser Stelle nicht erwähnen, weil ich von mehreren davon die Ueberzeugung gewonnen habe, dass sie als Arten zu trennen sind, was an anderer Stelle nachgewiesen werden soll. Eine noch auffallendere Differenz zeigen oft Arten derselben Gatttung. In derselben Gattung, in welche eine der größten jetzt lebenden Schlangen- arten, Python reticulatus, gehört, welche sicherlich mehr als8 m, wahr- scheinlich aber 9—10 m erreicht, finden wir zwei Arten (P. regius und curtus), die von manchen Ringelnattern, wie man sie gelegentlich im Wienerwald findet, in der Länge übertroffen werden, indem sie meist nicht über 1'!/, m erreichen. Weniger auffallend ist der Unterschied in der Gattung Boa, in welcher Boa constrictor angeblich bis 6 m er- reichen soll, obwohl ich unter zahlreichen Exemplaren nie eines ge- sehen habe, welches über 4m lang war; dagegen erreicht, soweit bisher bekannt, keine andere Art der Gattung auch nur 3 m. — Bemerkens- wert ist vielfach das Längenverhältnis eben ausgeschlüpfter junger Tiere zu den Maximallängen bei lebendig gebärenden und oviparen Boiden. Es beträgt bei Neugeboren Erwachsen Verh. Boa constrietor . -» . . 350 3355 4.526 Fu Sumperaton. 2 2.5, ,.600 2800 1,242 „ madagascariensis. . 680 2400 1.732, Epierates anguliter. . . 460 2170 1.542]; „ inormatus . . 440 1500 132% 5 eenchris . . . 390 1700 177427, Eunectes murinus . . . 840 10000 4:12 Enygrus carinatus . . . 230 900 #54 Corallus caninus.. - . . 525 1450 2a, » hortulanus. . . 675 1800 132%, Corallus cooki -» „ .: ».. 995%) 1550 u212% 1) Dieses Exemplar ist wohl älter als die übrigen und dürfte sich bei Neugeborenen noch eine niedrigere Zahl ergeben, 7152 Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. Neugeboren Erwachsen Verh. Corallus madagascariensis 445 2000 1:4 Python molurus‘. ... ....660 9000 1.414 5 TELIUS . ; =... 420 1240 ') 13 1 SseDaon a a ZU 7000 4.6 5 reticulatug.ı =. 2 1835 9000 1:41 s Bpilotes. „N. 22.0.2090 2000 422215 Nardoa boan.; Hua 300 1260 46:131 15 Liasii childreni . . . 620 1200 41132 Es ergiebt sich hieraus: dass bei Boa die größte Art die kleinsten, die kleinste die größten Jungen zur Welt bringt; dass bei Corallus die langschwänzigen Arten größere Junge werfen als die kurz- schwänzigen (beides sowohl absolut als auch im Verhältnis zur Länge der Erwachsenen); dass bei den kleinen und zwar sowohl bei den oviparen als auch bei den ooviparenen Boiden die Jungen der kleiner bleibenden Arten weit größer im Verhältnis zu den Alten sind als bei den großen Arten. Die verglichenen jungen Exeinplare meiner Samm- lung sind entweder in Europa geboren (P. molurus, Corallus und Boa madagascariensis, Epicrates angulifer) oder sonst (durch Sichtbarkeit einer Nabelspalte) als wenigtägig erkennbar. Aehnliche große Unterschiede findet man auch in der Gattung Crocodilus, wo die Maximallänge der kleinsten Art (C. rhombifer) etwa sechsmal in der der größten Art (vermutlich porosus oder robustus mit 10m) enthalten ist. Leider fehlt mir das Material, um konstatieren zu können, wie sich in dieser Beziehung die neugeborenen Jungen ver- halten. Ich besitze solche oder wenigtägige Junge nur von den groß- werdenden Arten; und diese lassenwesentliche Größenunterschiede, wie auch zu erwarten war, nicht erkennen. Wie schon vorhin erwähnt, kann man bei solchen abnorm großen Individuen keine Spur einer senilen Degeneration erkennen. Ich habe von ziemlich vielen Arten Individuen untersucht und teilweise auch lebend gehalten, die als Riesen ihrer Art betrachtet werden müssen; den- noch war an keinem Exemplar eine Abnahme der Körperkräfte oder ein Verblassen der Farben zu bemerken — es war im Gegenteile mit dem Maximum der Größe auch ein Maximum der Kraft und Farbenpracht verbunden; bei Pythouen (molurus, reticulatus) mit einer stärkeren Pig- mentierung und dadurch Verdunklung der Grundfarbe in Zusammen- hang. Dass viele Reptilien, namentlich Schlangen, im Alter einfarbig werden, wenn sie auch in der Jugend deutlich gezeichnet sind, hat mit dem Problem nichts zu thun; denn die Einfarbigkeit tritt ja durch- gehends nicht erst bei Erreichung der Maximalgröße, sondern schon bei eintretender Geschlechtsreife ein, ganz abgesehen von den soge- nannten Nigrinos, die schon früher durch Ueberpigmentierung einfarbig 1) Nach Boulenger (wird aber sicher länger). Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. 153 schwarz werden (Vipera berus var. prester, Coluber obsoletus, elima- cophoruis Zamenis constrictor, gemonensis var. carbonarius). Ich füge hier einige Maßangaben über selbstgemessene Maximal- längen bei europäischen Schlangen an: Tropidonotus tessellatus 1130 mm. 4 viperinus 945 mm (Verh. Zool. Bot. Ges. 1897, 8.-A. p. 12). Zamenis dahlii 1200 mm (Wiss. Mitt. Bosn. Herzeg., VI, 1899, p. 825). Coluber leopardinus 1040 mm (ich besitze aber ein zweites Exemplar mit verstümmeltem Schwanz, welches 1080 mm gemessen haben dürfte). Coronella austriaca 890 mm (Wiss. Mitt. Bosn. Herzeg., VI, 1899, p. 824). . girondica 736 mın (Reptilien und Amphibien Oesterr.-Ungarn, 1897, p. 68). Finden wir so bei gewissen Arten ein ganz schrankenloses Wachs- tum, so dass wir von manchen wohlbekannten Arten in dem ihnen mehr Schutz, Nahrung und Wärme bietenden Süden ganz kolossale Exemplare beobachten können (ich erinnere mich hierbei namentlich an eine ungeheure Ringelnatter aus Sizilien, die ich 1892 im Museum Senkenbergianum zu Frankfurt a/M. gesehen habe, an zwei ebenfalls riesige Exemplare von Coelopeltis monspessulana (Koll. Sehreiber in Görz und Koll. Bedriaga in Nizza) — so sind andere Arten wieder von auffallender Kurzlebigkeit, darin manchen Insekten nieht unähnlich. Unter den Schlangen werden wir Beispiele vergebens suchen; auch die winzigen Wurmschlangen können sicherlich ein ganz respektables Alter erreichen, wie man aus der sehr verschiedenen und oft verhältnismäßig recht bedeutenden Länge ersehen kann; auch Schildkröten, Krokodile, Rhynchocephalen und Chamaeleons enthalten solche kurzlebige Formen nicht in ihren Reihen. Dagegen finden wir unter den Eidechsen nicht wenige, die es wahrscheinlich auf nicht mehr als 1—2 Jahre bringen, namentlich unter den Lacertiden. Sammelt und beobachtet man z. B. zahlreiche Exemplare von Psammodromus hispanicus und blanei (auch P. mierodactylus gehört wohl noch hiezu), von Ophiops elegans oder ocei- dentalis zu einer bestimmten Jahreszeit, z. B. im Frühling, so findet man, dassman nur zweierlei Größen unterscheiden kann; im Vorjahre geborene, also etwa dreivierteljährige Junge und Erwachsene; im Herbste findet man nur Erwachsene und ganz junge (2—3 Monate alte). Die Alten haben fast alle dieselbe Größe, und die geringen Differenzen in dieser Be- ziehung können durch verschieden günstige Lebensverhältnisse viel eher als durch Altersverschiedenheiten erklärt werden. Auch Lacerta parva, die kleine anatolische Steppeneidechse dürfte ihr Leben auf nicht mehr als zwei Jahre bringen. Ein etwas höheres, wenngleich noch immer geringes Alter erreichen vermutlich auch die drei Zwerg- eidechsen der europäischen Fauna Phyllodactylus europaeus, Algiroides Jitzingeri und Ablepharus pannonieus. Wir können also unter den Reptilien neben Arten von enormer XXII. 49 154 Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. Lebensdauer, solehe von sehr geringer finden, und das ist ein wesent- licher Unterschied von den meisten Wirbeltieren der beiden höheren Klassen, wie mir scheint. Ich kenne wenigstens kein Beispiel, dass hier in einer Gattung 1-2 jährige neben solchen mit einer Lebens- dauer von mehreren Jahrzehnten vorkommen, wie bei Lacerta, ja auch Gruppen größeren Umfangs, wie in Familien dürften solche Erschei- nungen nicht häufig sein. Die kleinen Arten sind ein Jahr nach ihrer Geburt oder sogar noch früher fortpflanzungsfähig, die großwerdenden brauchen mehrere Jahre dazu. Die kleinen Arten sind, wenn sie fortpflanzungs- fähig sind, völlig ausgewachsen und die beobachteten Größenditfe- renzen sind auf die Verschiedenheit der Lebensbedingungen zurück- zuführen, die großwerdenden wachsen, solange sie leben, immer fort und bleiben geschlechtsreif, die Weibehen bringen auch eine von Jahr zu Jahr sich ein wenig steigende Zahl von Eiern oder Jungen zur Welt. Dieser Unterschied ist allerdings nur ein scheinbarer. Denn auch die kleinen Arten wachsen, solange sie leben, da sie aber eine be- schränkte Lebensdauer besitzen, so ist auch ihr Wachstum beschränkt. Was aber ist nun die Ursache davon, dass oft so nahe verwandte For- men eine so verschiedene Größe erreichen, so dass z. B. eine erwachsene Testudo leithi aus Aegypten neben einer alten jonischen 7. yraeca als ein wahrer Zwerg erscheint? Bei den phytophagen Formen scheint wohl die Vegetation der Heimat von ausschlaggebender Bedeutung zu sein, denn es ist klar, dass in einem pflanzenreicheren, und zwar an nahrungs- reichen Pflanzen reicheren Gebiete ein Tier eine bessere Nahrung finden wird als in einem dürren, pflanzenarmen. Dass aber diese Folgerung doch noch einen Haken haben muss, beweist die Thatsache, dass von den unter ziemlich gleichen Verhältnissen lebenden Uromastix-Arten eine (U. spinipes) gegen Meterlänge erreicht, während unter den übrigen afrikanisch-arabischen Arten keine auch nur halb so lang wird. Hier dürften doch noch anderweitige Verhältnisse obwalten, welche die Sache komplizieren und welche nur durch genaue Erforschung der Lebens- weise einer Aufklärung zugeführt werden können. Die zoophagen Reptilien scheinen aber vielfach, was die Größe anbelangt, Funktionen ihrer Nahrungstiere zu sein. Wenn von zwei ganz gleich großen Schlangen die eine in einer Gegend lebt, in welcher Nagetiere von einer ganz bestimmten Größe ihre Hauptnahrung sind, so ist es wahrscheinlich, dass sie selbst keine größeren Dimensionen erreichen wird, als nötig ist, um die größten Nager dieser Art mit Leichtigkeit zu bewältigen; also wenn diese Nager Rattengröße haben, so dürfte eine Länge von höchstens 2 m (bei Boiden, deren Schling- vermögen ein viel größeres ist als bei Colubriden, sind 11, m — Python regius — ausreichend) genügen. Dass dies richtig ist, geht schon daraus hervor, dass Schlangen von einer gewissen Größe es ver- Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. 755 schmähen, unverhältnismäßig kleine Tiere anzurühren, selbst wenn diese einer ihren normalen Beutetieren nahe verwandten Art ange- hören (so nehmen Pythonen von über 2m Länge kaum je eine Maus an, obwohl sie Ratten gerne verschlingen). Andererseits ist eine zwei- Jährige Boa constrictor bereits im stande, Tauben von einer Größe und einer Anzahl zu verschlingen, wie dies einer erwachsenen Boa oceidentalis oder madagascariensis kaum besser gelingt. Diese Schlangen haben aber mit 2'/, m ihre Maximallänge erreicht, Boa constrictor wächst noch weiter. Ist eine Schlange nun auf solche Beutetiere von bestimmter Größe eingerichtet, so wird, wenn sie einmal erwachsene Tiere dieser Art verschlingen kann, ein weiteres Wachstumsbedürfnis nieht bestehen; sie hat ihre Maximallänge erreicht und es besteht kein Hindernis, dass sie die Geschlechtsreife erlangt, sobald sie erstere erlangt hat. Coro- nella austriaca, die von Lacerta agilis lebt, braucht nicht so groß zu werden, als Zamenis gemonensis, die auch Lacerta viridis angreift; und es besteht für mich kein Zweifel, dass in Gegenden, wo nur die noch kleinere L. vivipara vorkommt, Coronella nicht dieselbe Größe er- reichen wird, als in agilis-Gegenden, obwohl ich — in einer vivipara- armen Gegend lebend — hierfür keine Belege sammeln konnte; die Coronella-Arten, die bloß Mauereidechsen oder noch kleinere Lacertiden verzehren (C. girondica, amaliae) bleiben normalerweise kleiner, Anders aber wird sich eine Schlange verhalten, die bei gleicher Art der Nahrung (z. B. Säugetiere) in einem artenreicheren Gebiete sich befindet. Artenreichtum ist in der Regel mit einer gewissen Indi- viduenarmut verbunden. Die Schlange würde also manchmal lange warten müssen, bis ihr ein Opfer von einer bestimmten Art in die Nähe kommt; sie nimmt daher auch, der Not gehorebend, was ihr eben unterkommt; nicht nur eine Ratte, sondern auch ein Kaninchen; nicht nur eine Taube, sondern auch beispielsweise ein Feldhuhn, eine Krähe; und da sie Beutetiere mancherlei Art bekommen kann, so versucht sie es auch mit größeren, als gerade normalerweise für ihren hachen passen !); es gelingt, einmal, öfters, der reichlichen Nahrungsaufnahme folgt reichliches Wachstum ?); die Nachkommenschaft wird’schon bei der Geburt größer sein als es die Eltern waren etc. — Dass auch dies wieder richtig ist, geht aus der nicht anzuzweifelnden Thatsache her- vor, dass kleinere Schlangen eine unverhältnismäßig enger begrenzte Nahrungsauswahl haben als große, sogar unter ganz gleichen Lebens- 4) Es ist ganz unglaublich, welch große Beutestücke manche Schlangen noch verschlingen können. Eine junge, etwa zweijährige Boa constrictor verzehrt z.B. ohne Schwierigkeit drei erwachsene Lachtauben (Tortur risorius) hintereinander. Eryx johnii Ratten, deren Volumen das 12- bis 16 fache des Eryx-Kopfes beträgt. 2) Bei Boa constrictor und Python sebae beobachtete ich nach reichlicher Nahrungsaufuahme ein geradezu auffallendes (sprunghaftes) Wachstum, bei der boa mehr in die Dicke, beim Python auch in die Länge. 49* 756 Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. verhältnissen. Die aquatischen Colubriden sind ausschließliche Fisch- und Lurchfresser, obwohl manche groß genug werden, um auch höhere Wirbeltiere, die im und am Wasser leben, mit Erfolg angreifen zu können. Die aquatischen Boiden, vor allem Eunectes, fressen Wirbel- tiere aller Klassen, vom Fisch bis zum Säugetier. — Dass die Schlangen keine Insektenfresser sind, hängt damit zusammen, dass die Insekten unverhältnismäßig viel unverdauliche Hartteile (Chitin) enthalten, was eine oftmalige Nahrungsaufnahme nötig macht (vergl. die insekten- fressenden Lacertiden und Seineiden, die bei günstigen Temperatur- verhältnissen täglich Nahrung benötigen), die mit ihrer sonstigen relativ geringen Lebensenergie unvereinbar ist. Es würde also für Schlangen theoretisch nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass Exemplare verschiedener Varietäten einer Art, ver- schiedener Arten einer Gattung, bloß infolge Verschiedenheit der Nahrungsmaxima eine verschiedene Größe erlangen. Bei Anpassung an das Verzehren von Nahrungstieren einer bestimmten geringen Größe begrenztes Wachstum, baldiges Erlangen der Geschlechtsreife (dabei ziem- lich konstant bleibende Zahl der jährlichen Nachkommenschaft); bei allmählicher Anpassung an verschiedenartige und immer größere Beute stärkeres Wachstum des Körpers (wobei die Geschlechtsentwicklung meist etwas zurückbleibt) und fast unbegrenztes Wachstum bei steigen- der Zahl der jährlichen Nachkommenschaft. — Dies könnte man, viel- leicht mit Berücksichtigung von speziellen klimatischen Anpassungen (wie Tropidonotus natrix nach Süden, Zamenis gemonensis nach Osten an Größe zunimmt, so Vipera berus und ammodytes nach Norden) auch auf die übrigen Reptilien anwenden. Aber könnte man den Spieß nieht umdrehen und sagen: weil die betreffenden Formen klein geblieben sind, nehmen sie kleinere Nahrungs- tiere zu sich? Wir müssten uns demnach um eine andere Ursache des Kleinbleibens umsehen; solche Ursachen wären, soweit bekannt: Kälte, Trockenheit des Klimas, Nahrungsmangel. Was die klimatischen Verhält- nisse anbelangt, so können sie nicht in Betracht kommen, da oft Riesen- und Zwergformen derselben Gattung unter genau denselben klimatischen Verhältnissen (nebeneinander?) vorkommen: Python regius und sebae, P. curtus und retieulatus, Uromastix ocellatus und spinipes, Chamaeleon minor und bifidus, Crocodilus rhombifer und americanus u. 8. w. Auf Kälte reagieren verwandte Formen in denselben Gebieten in ähnlicher Weise, bleiben entweder alle in der Größe zurück (Tropi donotus, natrix und tessellatusin Deutschland) oder werden alle erheblich größer ( Vipera berus und ammodytes in Kärnthen). Trockenheit ergiebt keine Veränderung (Eryx jaculusundthebaicus in Aegypten; conicus und johniinN.-O.-Indien; Jaculusund .conicus stetskleiner bleibend unter gleichen Verhältnissen wie die beiden anderen). Wenn diese Formen auch einander vielfach vertreten, also vikarierende Arten vorstellen, so können die klimatischen Verhältnisse Werner, Beiträge zur Biologie der Reptilien und Batrachier. 157 doch unmöglich so verschieden sein; und da diese Arten ja nicht bloß auf die Größenverschiedenheiten, sondern auf zahlreiche andere Merkmale ge- gründet sind, so wäre es ja sehr wohl denkbar, dass Python regius alle diese Merkmale mit der Größe des Python sebae verbunden, besitzen würde. Da aber der in Afrika weitverbreitete Python sebae unter recht verschiedenen klimatischen Verhältnissen seine Dimensionen (etwa 5 m) beibehält, andererseits aber unter denselben Verhältnissen neben einer Zwergform der Gattung vorkommt, so können ungünstige Temperatur- verhältnisse nicht in Frage kommen; und dasselbe wird man auch sonst überall in diesen Fällen finden. Nahrungsmangel kann auch nicht die Ursache des Kleinbleibens sein; Zamenis gemonensis typica ist in Dalmatien und Griechenland überall geradezu umgeben von Nahrung und ein Exemplar, welches täglich hundert Eidechsen verzehren wollte, würde sich dieselben wahrscheinlich in vielen Gegenden Dalmatiens ohne erhebliche Mühe verschaffen können. Die riesige var. caspius Kleinasiens aber lebt in weit ungünstigeren Verhältnissen. Große, ihren Dimensionen entsprechende Eidechsen (L. viridis major) sind weit seltener und ungleich flinker als die dalmatinischen grünen Mauer- eidechsen (ZL. serpa), und die Jagd auf Säugetiere und Vögel ist weit weniger ergiebig. Der wahre biologische Unterschied besteht aber darin, dass gemonensis typica ihren Magen mit kleinen Eidechsen, kleinen Nagern und Schlangen füllt — wie Coelopeltis monspessulana var. insignitus —, während Z. gemonensis caspius wie Coelopeltis monspessulana var. Neumayeri unbedenklich Tiere angreift und bewäl- tigt, die in ihrem Durchmesser die normale Rachenweite der Schlange weit mehr übersteigen als dies bei der Nahrung der typischen Form der Fall ist. Ich habe in einem 2?/, m langen, zerschmetterten Exem- plare des Z. caspius nächst Petrota (gegenüber Smyrna) Reste von mehreren vollkommen erwachsenen Ratten gefunden, welche die Hals- weite der Schlange trotz ihres im Magen sehr gestreckten Zustandes noch um mehr als das anderthalbfache im Durchmesser übertrafen. Schon die Säugetiernahrung an sich bedingt eine größere Rachenweite und damit im Zusammenhang größere Dimensionen, und fast noch mehr ist dies bei Vogelnahrung der Fall. Die größten Schlangen und besten Schlinger sind Vogelfresser, wenigstens zum großen Teile. Obige Betrachtungen lassen sich mit Variationen auch über die übrigen Reptilien machen. Die größten Fleischfresser und die größten Pflanzen- fresser unter den Eidechsen erreichen etwa dieselbe Länge (2m). Aber in derselben Familie, welcher die größten Fleischfresser angehören (Varanidae) finden wir auch, unter fast identischen Lebensbedingungen, Arten (derselben Gattung!!), die höchstens oder kaum halb so groß werden. Dass Arten, welche wie Varanus rugicollis, Termiten fressen, nicht sehr groß werden, kann man begreiflich finden. Aber andere Varaniden, deren Lebensweise nicht im mindesten von der des riesigen 7158 Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. V. salvator abweichen, wie V. dumerilii, bleiben weit unter diesem Maß zurück u. s. w. Bei manchen Eidechsen, z. B. den Geckoniden, bleibt die Zahl der Eier konstant (2), trotzdem das Wachstum durchaus nicht beschränkt ist. Tarentola annularis, Rhacodactylus leachianus, Gehyra oceanica erreichen ganz erstaunliche Größen, doch ist mir von einer Vermehrung der Eierzahl nichts bekannt geworden; doch ist es möglich, dass bei so alten Exemplaren die in den letzten Jahren abgelegten Eier größer sind als die früheren. Sonst ist, wie schon erwähnt, die Nachkommen- schaft alter Exemplare in einem Wurf zwar größer an Zahl, die Indi- viduen selbst aber nicht größer. Die Jungen einer alten, halbmeterlangen Blindschleiche, etwa zwei Dutzend, sind nicht größer als die acht eines halbwüchsig aussehenden Exemplares und die 2—5 Jungen einer mittel- großen Coronella austriaca wur unwesentlich kleiner als die 9—16 eines alten, starken Exemplares (dasselbe auch bei Salamandra maculosa). Unter den Schildkröten zeigen, nach meinen Beobachtungen namentlich Clemmys caspica und leprosa, Chrysemys ornata, concinna und seripta, alle drei europäischen Testudo-Arten, Hydraspishilarii und Hydromedusa tecti- fera ein außerordentlich lang dauerndes Wachstum. Dagegen ist dieses bei Oinosternum, Kachuga teetum, Chrysemys pieta und cinerea, Clenmys gut- tata u. a. ein begrenztes. Da mir über das Freileben dieser Arten nicht allzuviel bekanntist, vermag ich aus vorstehenden Daten nichtszu machen. Es ergiebt sich demnach aus vorstehenden Betrachtungen mit großer Wahrscheinliehkeit, dass die verschiedene Größe, welche verschiedene Varietäten einer Art oder verschiedene Arten einer Gattung erreichen können, in erster Linie oder fast ausschließlich von der Nahrung, d.h. bei Fleischfressern von der Größe der Beutetiere abhängt, dass solche Arten, welche kleine Tiere fressen, früher geschlechtsreif werden und früher ihre Wachstumsgrenze erreichen als solche, welche sich von größeren oder ganz großen ernähren. In der Fähigkeit, immer größere Bissen auf einmal verschlingen und dadurch auf längere Zeit vom Vor- handensein von Nahrung unabhängig zu sein, liegt entschieden ein Fortschritt, der sich darin bekundet, dass die seltener, aber dann reich- lich fressenden Schlangen in der Größe durchschnittlich weit die meist täglich aber wenig fressenden Eidechsen übertreffen, ebenso wie die die schlangenähnlieh sich nährenden Varaniden die übrigen fleisch- fressenden Eidechsen in der Länge zu überragen pflegen. Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. (Aus dem Zoologischen Institut zu München.) Von Alexander Wassilieff (aus Kieff, Russland). Die Teilungserscheinungen in unbefruchteten Eiern unter dem Ein- flusse äußerer Agentien sind erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit be- Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. 759 kannt geworden. Die Versuche von Richard Hertwig waren die ersten in dieser Richtung. Er zeigte, dass in unbefruchteten Seeigel- eiern bei Einwirkung von Strychninlösung Teilungserscheinungen am Kern auftreten, welche zu einer Halbspindel, in einzelnen Fällen auch zu einer Ganzspindel, doch ohne Bildung eehter Centrosomen führten. Einen wichtigen Schritt in der Erkenntnis der Entwieklungsfähigkeit unbefruchteter Seeigeleier weiter kam Loeb, von dem der Namen „künstliche Parthenogenesis“ stammt. Er behandelte unbefruchtete Eier zwei Stunden lang mit 20), nMgCl,-Lösung und erzielte hierdurch eine bis zum Pluteus-Stadium führende Entwicklung. Die Forschungs- ergebnisse dieses Gelehrten erstreeken sich hauptsächlich auf die Lösung der Frage der Befruchtung vom physikalisch-chemischen Stand- punkte aus; er erblickt das Wesen der Befruchtung in der Einführung von „Jonen“ in das Ei, welche ihm zu seiner Entwicklung nötig sind, unter gewöhnlichen Bedingungen aber ohne die Befruchtung fehlen; die histologische Seite der Frage dagegen berührt er gar nieht. Außer- dem sind noch zu erwähnen die Versuche Morgan’s, die zwar mit der Beobachtung histologischer Erscheinungen verknüpft sind, aber vielfach in unvollkommener Weise. Nach dem Rate meines ver- ehrten Lehrers Prof. R. Hertwig entschloss ich mich, die Loeb’- schen Experimente nachzumachen in der Absicht, die bei ihnen vor- kommenden histologischen Vorgänge genau zu untersuchen. Ich be- schränkte mich aber nicht auf die Chlormagnesiumlösung, sondern wandte auch andere Agentien an, zunächst das von R. Hertwig be- nutzte Strychnin. Von neuen Agentien prüfte ich Nikotin, Hyoseyamin und Ergotin. Diese Versuche wurden teils in München im Laboratorium des Prof. R. Hertwig im Laufe des Monats Mai 1901, teils auf der Russischen Zoologischen Station Villefranche surMer im Nov. 1901 angestellt. Die genauere Untersuchung des gesammelten Materials wurde in München ausgeführt. — Als Objekte der Untersuchung dienten mir die Eier von Strongylocentrotus lividus. Was die Versuche mit der von Loeb benutzten Lösung betrifft, so gelangen sie mir nur teil- weise — die Eier teilten sich und gelangten bis zum Gastrula-Stadium. Plutei habe ich nie bekommen, weder in München noch in Villefranche am Meerufer. Boveri, der dieselben Versuche in Villefranche aus- führte, spricht ebenfalls von solchen negativen Resultaten‘). Es ist schwer zu sagen, woher das kommt: in München vielleicht von unge- nügender Frische der Seeigel, welche eine dreitägige Fahrt von Rovigno durchzumachen hatten, die ungünstigen Resultate in Villefranche dürften am wahrscheinliehsten zurückzuführen sein auf die niedere Temperatur des Wassers zur Jahreszeit der Untersuchung (November). Bei der Behandlung der Eier 'mit Stryehnin, Nikotin und Hyoscyamin 4) Boveri, Zellenstudien, Heft 4, S. 9. 160 Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. werden Teilungen ausgelöst, hierbei vollzieht sich die erste Teilung regelmäßig, die folgenden tragen einen mehr pathologischen Charakter. Nur dem Ergotin gegenüber verhielten sich die Eier indifferent, wenigstens gegenüber der Lösung, welche ich anwende — 2°/,Ergotin 1Ocem + 100cem Wasser. Eine konzentriertere Lösung konnte ich nicht erproben infolge Mangels an dem nötigen Ergotin. Die übrigen Gifte besaßen folgende Konzentration: Strychnin — 0,1°,, Nikotin 1 Tropfen auf 100 eem Wasser, Hyosceyamin 0,25%, — ein Teil, Wasser drei Teile. Die Ein- wirkung all dieser Reagentien dauerte zwei Stunden; dann wurde die Flüssigkeit abgegossen und durch reines Seewasser ersetzt, das zuvor dureh Erwärmung sterilisiert und allmählich abgekühlt worden war; das Wasser wurde beim Auswaschen der Lösungen 2—3mal gewechselt. Die Eier wurden in kurzen Zwischenräumen von 15—20 Minuten ab- getötet und zwar in 3°, Sublimatlösung, welche 1°, Essigsäure ent- hielt. Zur Untersuchung dienten Schnittserien von 3 w« Dicke, die Sehnitte wurden mit Eisen-Haematoxylin nach Heidenhain mit schwacher Vorfärbung in Bordeaux-Rot gefärbt. Diese Färbung giebt die besten Resultate, während Borax-Karmin, Haematoxylin nach Delafield und andere Farbstoffe keine so deutlichen Bilder geben. /u der Zeit, als ich mit meinen Untersuchungen schon ziemlich weit fortgeschritten war, erschien die Arbeit von E. Wilson'), in welcher die histologische Seite künstlicher Parthenogenesis überaus eingehend gewürdigt worden ist. Wilson beschränkt sich bei seinen Untersuchungen über künstliche Parthenogenese auf die Anwendung von Magnesiumchlorid; er fand, dass stets Centrosomen gebildet werden, dieselben lässt er völlig neu im Protoplasma entstehen. Einen Beweis für den protoplasmatischen Ursprung des Centrosoma erblickt er darin, dass es auch in kernlosen Eifragmenten auftritt. Bei Behandlung der Eier mit Strychnin und Nikotin ergiebt sich ein ganz anderes Teilungsbild, als es Wilson beschrieben und auch ich bei Verwendung der Loeb’schen Lösung erhalten habe. Bei der Behandlung mit Nikotin vollzieht sich die Teilung gänzlich ohne Mit- wirkung von Centrosomen oder irgend eines centrosomaähnlichen Ge- bildes. Bei Behandlung mit Strychnin bildet sich zwar ein centro- somenähnliches Gebilde aus, aber auf späteren Teilungsstadien und zwar aus Kernmaterial hervorgehend. Ich erlaube mir, jetzt eine Be- schreibung der Umbildungen des Kernes unter der Einwirkung der genannten Reagentien zu geben und werde erst später auf eine Ver- sleichung und allgemeine Beurteilung der Befunde zurückkommen. Ich beginne mit den durch Nikotin erhaltenen Resultaten. Wie ich bereits erwähnte, blieben die Eier in Nikotinlösung zwei Stunden lang; im Verlaufe dieser Zeit bemerkt man keinerlei Ver- a 1) E. Wilson. Experimental Studies in Cytologie, I. Archiv für Ent- wicklungsmech. XII. Bd., 4. Heft, 1901. Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. ul änderungen am Ei; erst nach einigem Aufenthalt in reinem Seewasser sind Veränderungen schon an lebenden Eiern bemerkbar: zuerst näm- lich verschwinden die Umrisse des Kernes, dann erscheint Protoplasma- strahlung. Das volle Bild der Umwandlungen des Kernes kann man nur an Schnitten beobachten. Diese Umwandlungen beginnen damit, dass der Kern seine Membran verliert, sie löst sich wahrscheinlich auf. Wenn man von der Membran spricht, so drängt sich unwillkürlich die Frage auf, ob dieselbe nicht in den Eiern der Seeigel ebenfalls als eine Ver- diehtung des achromatischen Kernnetzes anzusehen ist, wie das R. Hertwig bei Aetionosphaerium annimmt. Ich bin geneigt, diese Frage zu bejahen. Nach Auflösung der Kernmembran kann man Protoplasma "und Kernmaterial nur noch nach ihrer verschiedenen Beschaffenheit unter- scheiden; man bemerkt einen kleinen Nueleolus und 2—3 schon gebildete Chromosomen (Fig. 1)'). Mit der weiteren Bildung der Chromosomen legen sich letztere ohne jegliche Ordnung zusammen, manchmal in mehr geschlossener Masse auf etwas körnigem Felde (Fig. 2); dieses Feld ist nach R. Hertwig’s?) Ansicht nichts anderes ar das Linin- gerüst des Kernes, während der Kernsaft in das Protoplasma ausge- stoßen ist. Sodann beginnen zwischen den Chromosomen die Fasern der zukünftigen Spindel sich zu zeigen; die Fasern zeigen bei ihrem ersten Auftreten eine wirre Anordnung (Fig. 3); es entstehen ähnliche Bilder, wie sie nach der Beschreibung der Botaniker bei der Spindel- bildung von Equisetum (W.J. W.Osterhaut)?) und in den Pollen- mutterzellen einiger dikotylen und monokotylen Pflanzen (D.Mottier)?) entstehen. Allmählich nehmen diese ordnungslos durcheinander gehen- den Fasern eine bestimmte Anordnung an — sie laufen einander parallel und bilden eine tonnenförmige Spindel; die Chromosomen sind auf dem Aequator in der Form rundlicher Körner gelagert (Fig. 4). Es er- giebt sich eine Spindel, die an die Bichtungsspindel bei Ascaris megalocephala erinnert (Boveri, Zellenstudien, Heft 1, Tafel 1, Fig. 125 und andere). Die Fig. 4 ist noch darum bemerkenswert, dass man an ihr er- kennen kann, dass die Spindelfasern ohne Unterbrechung von Pol zu 4) Die Fig. 1—8 stellen die Kerne nach Nikotinbehandlung, Fig. 9—13 nach Strychnin, und Fig. 14—19 nach MgCl,-Behandlung dar. Alle Abbildungen wurden mit Abb &@schem Zeichenapparat gemacht, bei der Vergrößerung Zeiss’sche Apochr. Oel-Immers. 1,5 und Comp. oce. 8, nur Fig. 8, 9 und 19 mit Comp. oce, 12. 2) R. Hertwig. Ueber die Entwickl. des unbefr. Seeigeleies. Festschr., f. Gegenbaur. II. Bd., 1896. 3) Cytologische Studien aus dem Bonner Botan. Institut von E. Stras- burger, 1897. 762 Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. Pol verlaufen. Später schließen diese Fasern, indem sie konvergierende tichtung zueinander einnehmen, mit ihren Enden zusammen, so dass eine typische Spindel entsteht, sei es mit zugespitzten oder eiwas ab- gestumpften Enden (Fig. 5 u. 6). Sowohl bei der zugespitzten wie bei der tonnenförmigen Spindel zeigen sich an den Polen Verdickungen, welche aus den verschmolzenen Enden der Spindelfasern bestehen. Bei der etwas abgestumpften Spindel nimmt diese Verdiekung die Gestalt einer Polplatte an. — Alle Umbildungen des Kernes, welche wir bisher beschrieben haben, voll- Fig. 1. Fı2. 2: Kiez 3. 5 8 5 Ex fe | a ; ER ; YA Be Ne | AL‘ Ba | SEEN OR Ve PC er * NIS | RP 4 y.« | re WE | | A Niet | 2 4 % er, | Ra WU j For > | "7 \ | | pe x | A, | CE - | | | > EEE rl L ET EEE N Fig. 4 Rie.h Fig. 6. rn SE TTT 7 - = — - m 7 ERS, | | | Ze RE | R IRINA AMLE | | ars nn RE AS TERN } 2 h f } | ziehen sich ohne Mitwirkung des Protoplasma, die Spindel liegt wie ein Fremdkörper im Protoplasma, und nur mit der Teilung der Chromo- somen und der Verlagerung der Tochterchromosomen nach den Polen hin nimmt das Protoplasma allmählich Anteil an den Prozessen: es entstehen Polstrahlungen, als deren Ausgangspunkt die Vereinigung der Enden der Spindelfasern erscheint (Fig. 7). Die Strahlungen wachsen und erreichen ihre höchste Intensität, wenn die Chromosomen an den Polen angelangt sind. Hier nehmen die Chromosomen Flüssig- keit auf und verschmelzen untereinander zur Bildung von Tochter- kernen (Fig.8). Wie ich schon sagte, sind zuerst die verschmolzenen Enden der Spindelfasern, dann die aufgequollenen Chromosomen und PN | Wassilieff, Ueber künstiche Parthenogenesis des Seeigeleies. 763 endlich die Tochterkerne die Centren der protoplasmatischen Strahlung, aber niemals ist ein Centrosoma oder ein centrosomaähnliches Gebilde zu beobachten. Von anderen Beobachtungen, die ähnliche Spindeln beschreiben, sind noch außer den schon erwähnten Beobachtungen Boveris, anzuführen die Bilder, welche Carnoy!) und Sala?) für Fig. 7. Fig. 8. ar) Fig. 10. ri = N | N Be Ve 9 | H'\ | | a | ya,® Bert Re . | Zi 4 2 | ih WINE; .® if; T 5 \ x a #, | { \ ir 9. | | Ulf : | i be x ‘ Ascaris megalocephala bei der Richtungskörperbildung geben, ersteres unter normalen Verhältnissen, letzteres unter Einwirkung von Kälte. Außerdem sind bei den Pflanzen solche Spindelbildungen eine gewöhn- liche Erscheinung (Strassburger und Mottier)?). 4) Carnoy. La Cytodierese de l’oeuf, 1886. 2) Sala. Experim. Untersuch. über die Reifung und Befrucht. der Eier bei Ascaris meg. 1893. 3) The Cell v. Wilson. 8. 266—268. 764 Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. Damit schließe ich die Beschreibung der Veränderungen an den Eiern der Seeigel unter dem Einfluss der Nikotinlösung und zähle im Kürze deren Hauptmomente auf: Der Kern des Eies erhält unter dem Zinfluss des durch das Gift bedingten Reizes den Trieb, eine Spindel zu bilden; alle Erscheinungen, welche die Spindelbildung begleiten bis zum Auseinandergehen der Chromosomen nach den Polen hin, voll- ziehen sich durch den Kern automatisch, ohne Mitwirkung des Proto- plasma; dieses wird erst spät von dem Kernmaterial zur Strahlen- bildung veranlasst. Ich gehe zu den Resultaten der Stryehninbehandlung über. Kie. 11; Fig. 12. Bei der Einwirkung von Stryehninlösung tragen die Veränderungs- erscheinungen einen komplizierteren Charakter an sich. Vor allem be- obachten wir hier eine Spindelbildung zweifacher Art — die Spindel bildet sich ganz nach dem Typus der Nikotineier (der Kürze halber nenne ich die Eier, welehe in Nikotinlösung waren — Nikotineier, ebenso Stryehnineier, MgCl,-Eier), d. h. die Membran des Kerns löst sich auf, das achromatische Netz wandelt sich in Fasern um; diese, anfänglich ordnungslos, nehmen allmählich eine bestimmte Anordnung an und bilden eine Spindel ohne jede Strahlungserscheinungen an den Polen; letztere treten nur in der Folge bei dem Auseinandergehen der Chromosomen auf (Fig. 9). Aehnliche Bilder hat schon R. Hertwig beschrieben, nur mit dem Unterschiede, dass in der Regel die Tochter- Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. 769 kerne sich nicht bildeten und alles auf eine regressive Metamorphose der Spindel abzielte; nur in seltenen Fällen erhielt er Tochterkerne und die erste Furchung. In der von mir soeben geschilderten Weise entsteht die Spindel in den Eiern, welche schon nach 1—2 Stunden Aufenthaltes in reinem Seewasser Teilungserscheinungen aufweisen. Nicht auf gleiche Art verläuft der Prozess in dem Falle, wenn die Eier erst nach 3—4 Stunden Aufenthaltes in reinem Seewasser eine Spindel zu bilden beginnen. Damit kommen wir zum zweiten Typus der Spindelbildung. Fig. 13. Fig. 14. “ > @= ? $ 3 Es R he ; + l RD BE x t Ra Ya r bi Per“: “‘ A en Ba 9a ade. A A Be: 7 f 4" v Mo x y an a # Fig 15 ! srl, ir y “ıyY > \s ia I “ A el BT Ye 4 \ yet Ar SUN KR # : b\ m 5 + \ Ar |} & 1 N eg AA 3 / ws = R: , Er ee > = : \% & Pine et Me Mr T — we Fr ZP=E x Ne, In diesem Fall bildet sich die Spindel auf folgende Weise: im ersten Anfang des Prozesses kann man noch das achromatische Netz- werk des Kerns deutlich unterscheiden, dessen Maschen sich allmählich in die Fasern der Spindel ausziehen. Gleiehzeitig verdiekt sich das Netzwerk an der Oberfläche membranartig, an manchen Stellen stärker als an den anderen. Die besonders verdiekten Stellen wirken wie Spindelpole, insofern von ihnen aus die Spindelfasern in das Kern- innere ausstrahlen; sind sie in Zweizahl vorhanden, so entsteht eine normale Spindel; sind mehrere vorhanden, so bildet sich eine mehr- 766 Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. polige Spindel. Auf diese Weise erhält man einen vom Protoplasma scharf abgegrenzten Kern, in dessen Innern sich die Spindelbildung vollzieht (Fig. 10). Sodann verschwindet die scharfe Abgrenzung vom Protoplasma, und die Spindel erscheint frei gelagert im Proto- plasma (Fig. 11), wobei die Spindelenden ungewöhnlich breite Pol- platten darstellen. Was das Chromatin betrifft, so nimmt es bereits die Gestalt der Chro- mosomen an, obwohl man stets auf dem Aequator ziemlich beträchtliche Anhäufungen von Chromatin, in Gestalt einer etwas vakuolisierten kompakten Masse beobachten kann — das ist wahrscheinlich Chro- matin, welches noch nicht in Chromosomen individualisiert ist. Fig. 16. Fig. 17. \ NN # - Auf diesem Stadium ist keine protoplasmatische Strahlung wahr- zunehmen, sie zeigt sich erst in der Folge und entsteht auf folgende Art. Wie ich eben erwähnte, bilden sich die Spindelfasern aus dem achromatischen Netzwerk; dieses Netzwerk bewahrt zum Teil seine Struktur in der Nähe der Pole (Fig. 11) und beginnt später, wahr- scheinlich infolge von Einsaugen von Flüssigkeit (aus dem Proto- plasma?) zu wachsen (Fig. 12); zu dieser Zeit tritt zum erstenmal die protoplasmatische Strahlung auf. Wenn dann die Chromosomen bei ihrer Annäherung an die Pole aufquellen, so beobachtet man ein eigen- tümliches Bild (Fig. 13). Eine Spindel mit centrosomenähnlichen An- schwellungen an den Polen. ee Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. 767 Diese centrosomenartigen Bildungen haben kugelförmige Gestalt, mit netzförmiger Struktur im Innern; ihre Membran, oder besser ge- sagt, ihre Abgrenzung vom Protoplasma, wird teils durch Verdichtung des erwähnten Netzwerkes, teils durch Verdichtung des Protoplasma selbst gebildet. Die protoplasmatische Strahlung verteilt sich rings um die ganze Oberfläche dieser Bildung vollkommen regelmäßig, ohne dass irgend ein bestimmter Punkt vorhanden wäre, nach dem sie stärker konzentriert wäre. Und so kann man schon bei dieser kurzen Beschreibung der Ver- änderungen, die sich in den Eiern unter dem Einfluss der Strychnin- lösung vollziehen, einen gewissen Fortschritt in der Spindelbildung wahrnehmen. Offenbar besitzt das Strychnin eine stärkere, anregende Wirkung, und veranlasst daher Eier, welche eine geringere Wider- standskraft besitzen und daher rascher von dem Reagenz beeinflusst werden, in verhältnismäßig kurzer Zeit ihren Kern in eine Spindel nach dem Nikotintypus umzubilden. Widerstandsfähigere Eier dagegen werden langsamer zur Entwicklung angeregt, dafür wird die Entwick- lung vervollkommnet, indem die Spindeln in den Endstadien der Karyo- kinese eentrosomaähnliche Körper erzeugen, welche aus dem achro- matischen Teile des Kerns hervorgehen. Ein Schritt weiter in der Vervollkommnung des Teilungsapparates wird durch die Magnesiumlösung erzielt, indem es auf früheren Stadien der Teilung zur Bildung echter Centrosomen kommt. Ich gehe zur Schilderung ihrer Entstehungsweise über. Vor allem muss ich sagen, dass die Bildung des Centrosoma, wie ich sie an meinen Präparaten beobachtete, sich anders vollzieht, als Wilson sie beschreibt. Das erste Auftreten des Centrosoma stellt sich nach Wilson folgendermaßen dar: „The centrosome can first be certainly distinguished as a minute granule lying on the nuclear mem- brane in the perinuelear zone“ (S. 568). Mir gelang es nicht, ein solches Auftreten des Centrosomen in der Form „eines kleinen Körn- chens“ zu sehen; ich sah folgendes Bild. Vor allem bemerkt man rings um den Kern eine besondere Struktur des Protoplasmas, dasselbe ist körnehenreich, färbt sich intensiver als die Umgebung und unter- scheidet sich so in ganz auffallender Weise von dem übrigen Proto- plasma; die dunklere Zone liegt manchmal rings um den Kern herum, manchmal nur an einem, zwei oder drei Punkten; sodann erscheint mitten in diesem perinukleären Protoplasma auf der Kernmembran ein homo- genes Feld (Fig. 14), um welches der körnige Teil des Protoplasma sich radial anordnet, so dass eine schwach angedeutete Strahlung ent- steht; aus ihr entwickelt sich später jene Strahlung, welche rings um die schon gebildeten Centrosomen herum wahrzunehmen ist. Allmäh- lich nimmt dieses homogene Feld, das so auffällig an das Bild Fig. 1 Taf. IV bei Actinosphaerium (R. Hertwig) erinnert, bei seiner weiteren 768 Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleics. Entwicklung eine mehr bestimmte, abgerundete Form an, es wird etwas körnig, die Strahlen des Protoplasmas, welche es umgehen, werden feiner; gleichzeitig löst sich die Kernmembran auf und die Verbindung des Kerns mit diesem Feld, das schon die Gestalt des Centrosoma an- senommen hat, wird deutlich bemerkbar auf Fig. 15 sind auf der einen Seite schon drei Spindelfasern zu sehen, welche vom Kern aus in das Centrosoma hineingehen. Die Zahl der Centrosomen, welche in dieser Weise an einem Kerne entstehen können, ist eine wechselnde. Auf Fig. 16 ist ein Kern mit drei Centrosomen dargestellt, aus welchen sich in der Folge eine dreipolige Spindel entwickelt haben würde, aber auch an ihm ist die Struktur der Centrosomen vortreftlich zu sehen, Fig. 18 Fig. 19. | ; I “ | | : \ 3 | E | | | | \ f ; j I | | mir wie an einer zweipoligen Spindel oder auch an einer einpoligen (Fig. 15 und 19). Wie aus den zwei letzten Figuren zu ersehen ist, stellt sich das Cen- trosoma deutlich als ein spongiöser Körper dar, um ihn herum befindet sich eine hellere Zone wahrscheinlich infolge der Anhäufung von Flüssig- keit zwischen den Strahlen; gegen die Peripherie zu liegt die typische protoplasmatische Strahlung. Auf Fig. 19 sind außer der Strahlung dicke Fasern einer Halbspindel zu ersehen, und an ihren Enden Chromo- somen — ein Bild, welches ganz der Strychninhalbspindel R. Hert- wig’s entspricht, nur mit dem Unterschiede, dass im vorliegenden Fall noch ein Centrosoma vorhanden ist. Ich halte es für wichtig, hier auf den Unterschied in der Ent- stehungszeit des centrosomaähnlichen Gebildes bei Anwendung von Strychnin und der Entstehungszeit des echten Centrosoma bei Anwen- Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. 769 dung von MgCl, hinzuweisen. Im ersten Falle entsteht dieses Gebilde gegen das Ende des Prozesses, wenn die Spindel schon fertig ist, wenn es durchaus nicht mehr als eine die Teilung des Kernes bestimmende Bildung dienen kann; während beim MgCl], zuerst sich das Centrosoma bildet und dann der Kern sich in eine Spindel umwandelt, so dass in diesem Falle die Centrosomen Centren sind, welche die Teilung des Kernes bestimmen. Für sie ist daher die Aeußerung Boveri’s!), „Der Kern teilt sich nicht, sondern er wird geteilt“, in vollem Maße an- wendbar. Wollen wir etwas verweilen bei der Entwicklung dieses Centro- soma. Vor allem halte ich das Centrosoma für ein Produkt des Zu- sammenwirkens von Kern und Protoplasma, mit anderen Worten, der Kern sondert in das Protoplasma eine gewisse Substanz ab, welche zur Bildung eines Centrums im Protoplasma Veranlassung giebt, und um dieses letztere herum lagert sich die protoplasmatische Strahlung ab. Die Erscheinung des homogenen Feldes auf der Kernmembran ist der Anfang dieses Zusammenwirkens von Protoplasma und Kern; die weitere Entwicklung dieses Feldes führt zur Verdichtung desselben, hierbei ergiebt sich schließlich entweder eine lockere spongiöse Masse wie in unserem Falle, oder auch ein dichtes, scharf umschriebenes Körperehen (Centriole) wie in anderen Fällen. Die Erscheinung der protoplasmatischen Strahlung, welche nach R. Hertwig?) als Kontraktion des netzförmig angeordneten Faden- werkes des Protoplasmas auftritt, ist die direkte Folge der Verdich- tung des Centrosoma, das letztere ruft durch seine Verdiehtung diese Kontraktion hervor. In der Umbildung des Centrosoma in eine dichtere Masse sehe ich eine vollkommene Analogie zur Bildung des Centrosoma bei Actino- sphaerium, während Wilson diese Erscheinungen gerade entgegen- gesetzt schildert — aus dem kompakten Körnchen, welches auf der Oberfläche des Kernes liegt, wird das spongiöse Centrosoma gebildet. Aber woher kommen diese sich stark färbenden dichten Granula ? Aus dem Protoplasma oder aus dem Kern? Nach den Untersuchungen Wilson’s aus dem Protoplasma. Da sie sich aber zuerst auf der Kernmembran zeigen, ist eine Entstehung vom Kern aus sehr wohl denkbar. Zu meinem Bedauern gelang es mir nicht, auch nur ein einziges Mal ein solches Centrosoma zu beobachten, selbst nicht an stark gefärbten Präparaten. — Nun hat aber Wilson in Bestätigung eines zuerst von Morgan angestellten Experimentes bewiesen, dass auch in kernlosen Stücken zertrümmerter Eier Centrosomen gebildet werden. Ich finde darin keinen Beweis, dass das Centrosoma aus dem 4) Boveri. Zellenstudien. Heft 4, 1901. 2) R. Hertwig. Actinosphaerium u. 8. W., 8. 67. XXI. 50 770 Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogenesis des Sceigeleies. Protoplasma ohne Beteiligung des Kernes entstehen kann. Denn wenn wir Eifragmente durch starkes Schütteln erhalten, so wird die Kern- membran wohl schwerlich unverletzt bleiben, und es wird ein Teil des Kerninhaltes in das Protoplasma übertreten,; dieser dient wahr- scheinlich dann in den Eifragmenten zur Bildung des Centrosoma. Auch in unverletzten Eiern fanden Wilson und Morgan Cytaster, Strahlungen im Protoplasma, die mit dem Kern nicht im Zusammen- bang standen. Es ist aber hier denkbar, dass dieselben ursprünglich mit dem Kern zusammenhängen. Ich habe häufig einen solchen Zu- sammenhang feststellen können und verweise zur Erläuterung auf Fig. 17. Hier bemerkt man rings um den Kern herum eine körnige, perinukleäre Zone. An einem Punkte setzt sich dieselbe fort in einen Strang, welcher Kern und Cytaster miteinander verbindet; ich glaube, dass dieser Strang den Weg bezeichnet, auf welchem Teile von Kern- substanz in das Protoplasma übergetreten und an die Stelle geraten sind, wo der Cytaster sich bildete. Wenn wir zum Schluss die Resultate der Teilungserscheinungen des Kerns, die wir bei der Behandlung der Eier mit verschiedenen Lösungen erhalten, betrachten und vergleichen, so können wir leicht eine allmähliche Vervollkommnung in der Entwicklungsweise der Spindel feststellen. Wollen wir ausgehen vom Nikotin. Auf Fig. 8 ist eine Spindel dargestellt mit aufgequollenen Tochter- chromosomen, die bereit sind, zu den Tochterkernen zu verschmelzen; die protoplasmatische Strahlung hat als Ausgangspunkt diese Chromo- somen; es ist unmöglich, auch nur die geringste Spur eines Centro- soma zu unterscheiden; offenbar beginnt unter Einwirkung des Nikotins der Kern sich auf automatischem Wege zu teilen. Sein „Ovocentrum“ nimmt keine individuelle Gestalt an; nachdem das achromatische Kern- material sich geteilt hat und in die Tochterkerne eingegangen ist, ruft es die beobachtete protoplasmatische Strahlung hervor. Die be- schriebenen Erscheinungen entsprechen vollständig dem dritten Punkte der Aufstellungen R. Hertwigs!): „Wenn Centrosomen fehlen, teilen sich die Kerne automatisch, wobei die achromatische Substanz des Kerns ausreicht, um die Teilung zu vermitteln.“ Bei der Einwirkung des Strychnin nimmt man einen Schritt nach vorwärts wahr — hier sehen wir schon an den Polen der Spindel centrosomaähnliche Gebilde mit protoplasmatischer Strahlung (Fig. 13). Aus der Spindelentwicklung schließen wir, dass diese Gebilde aus dem achromatischen Teile des Kerns hervorgehen. Wenn wir uns an das Bild erinnern, welches R. Hertwig in seiner Arbeit?) Fig. 32 giebt, so haben wir zweifellos mit dem nämlichen Gebilde zu thun, nur so 1) R. Hertwig, Actinosphaerium, S. 71. 2) R. Hertwig, Ueber die Entwicklung des unbefr. Seeigeleies. Fig. 32. Wassiliefl, Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies. Tır zu sagen, in etwas höherer Entwicklung, da es hier an den Polen ge- lagert ist und zur Teilung, aber nicht zur Rückbildung des Kerns führt. Ich halte diese Bildungen für individualisierte Ovocentren, welche aus- schließlich aus dem achromatischen Teile des Kerns hervorgehen. Außerdem entsprechen offenbar solehe Spindeln, welche unter dem Einwirken des Nikotins und Strychnins beobachtet werden, der neuen Bezeichnung Boveri’s') „Neetrum“, indem sie ausschließlich aus dem achromatischen Teile des Kernes gebildet sind. Schließlich zeigt sich die Einwirkung des MgCl, auf das Ei als am allergünstigsten für die Spindelbildung, welche hier unter der Teil- nahme echter Centrosomen vor sich geht (Fig. 18). Die Entstehung des Centrosoma aus dem Zusammenwirken der Kernsubstanz und des Protoplasma erscheint mir klar. Noch sicherer ist es, dass das Centrosoma in den Eiern der Seeigel de novo ge- bildet wird. Diese Vergleichung verschiedener Spindeln, die wir an einem und demselben Objekte nur unter dem Einwirken verschiedener Erreger der Kernteilung erhalten, führt auf den Gedanken, eine gewisse Gra- dation in der Kraft der Einwirkung dieser Erreger anzunehmen, und giebt auch die Möglichkeit, eine gewisse Genesis des Centrosoma fest- zustellen. Thatsächlich erweist sich das Nikotin als allerschwächstes Reagenz: es veranlasst den Kern, sich automatisch zu teilen, indem es die Ein- wirkung des Ovocentrum herbeiführt; das Strychnin wirkt etwas stärker — außerdem bringt es das Ovocentrum zur Thätigkeitsentfal- tung und veranlasst es, eine bestimmtere individualisierte Form anzu- nehmen, aber es vermag nicht die Bildung des Centrosoma herbeizu- führen; MgOl, zeigt sich als überaus günstig in dieser Beziehung — unter seiner Einwirkung tritt ein Teil der Kernsubstanz in das Proto- plasma aus und bildet sich so ein echtes Centrosoma. Zum Schlusse einige Worte über den Unterschied der Wirkung der Gifte und MgCl,; mir scheint, dass die Einwirkung der Gifte sich dadurch von der Einwirkung des MgOl, unterscheidet, dass die ersteren nur auf die Kerne wirken, als spezifische Kernerreger dienen; die Teil- nahme des Protoplasma bei diesem Prozesse ist eine sekundäre Erschei- nung und wird durch die Thätigkeit des durch das Gift erregten Kerns bedingt. Magnesiumchloridlösung wirkt dagegen in der Weise, dass ein gewisser Teil des Kerninhalts in das Protoplasma übertritt, mit diesem letzteren in Verbindung tritt und so das Centrosoma erzeugt. Das wird auch bestätigt durch die Beobachtung Morgan’s?). „In the egg from Salt-solutions numerous radiate centers or astrosphaeres, 1) Boveri. Zellenstudien, 4. Heft, S. 182. 2) Morgan, 1900. Archiv für Entwicklungsmechanik, Bd. X, S. 504. 50* 2 Wassilieff, Ueber künstliche Parthenogencsis des Seeigeleies. are formed, but in the eggs from the Strychnin solutions all the rays converge to the nucleus as a center.“ In dieser kurzen Mitteilung habe ich nur einen kleinen Teil meiner Beobachtungen an Seeigeleiern, welche der Einwirkung der erwähnten Reagentien ausgesetzt wurden, mitgeteilt. Von den Hyoseyamineiern habe ich nicht gesprochen, da ich noch zu keinem definitiven Schlusse bezüglich derselben gelangt bin. Immerhin kann ich jetzt schon sagen, dass die Wirkung des Hyocyamin die Mitte zwischen Nikotin und Strychnin einnimmt. Eine genauere Beschreibung aller Erscheinungen werde ich in nächster Zeit zu geben versuchen. Meinem hochverehrten Lehrer Prof. R. Hertwig bringe ich hier aufrichtigen Dank zum Ausdrucke für seine beständigen Ratschläge, die er mir im Laufe meiner Arbeit gegeben hat. Auch dem Assistenten Dr. Scheel, und nicht minder der Direktion der Russischen Zoologischen Station in Villefranche sur Mer, wo ich. in die Lage versetzt wurde, einen Teil meiner Versuche auszuführen, bin ich zu hohem Danke ver- pflichtet. [61] Figurenerklärung. Fig. 41. Eikern, kurz nach der Beendigung der Nikotinbehandlung, Kern- membran aufgelöst. Fig. 2. Weiteres Stadium; die Chromosomen sind fertiggestellt und liegen in einem etwas körnigen Felde. Fig. 3. Kernnetz in Umbildung zu Spindelfasern. Fig. 4. Tonnenförmige Spindel. Fig. 5. Tonnenförmige Spindel in Umbildung zu einer zugespitzten Spindel. Fig. 6. Zugespitzte Spindel mit Verdiekungen an den Polen, welche aus ver- schmolzenen Spindelfasern bestehen. Fig. 7. Erstes Auftreten der Strahlung. Fig. 8. Spindel mit starker Strahlung, Chromosomen verwandeln sich in Bläschen. Fig. 9. Spindel nach dem Nikotintypus bei Strychninbehandlung gebildet. Fig. 10. Spindelbildung im Innern des Kernes, Kernmembran mit Verdickungen. Fig. 11. Spindel frei im Protoplasma liegend. Fig. 12. Bildung der centrosomaähnlichen Gebilde an den Spindelpolen. Fig. 13. Spindel mit centrosomaähnlichem Gebilde und starke Strahlung um desselben herum. Fig. 14. Kern mit homogenem Feld an der Kernmembran. Fig. 15 und 16. Erste Stadien der Spindelbildung, Centrosomen fast fertig- gestellt. Fig. 17. Cytaster in Verbindung mit dem Kern. Fig. 18. Spindel mit Centrosomen. Fig. 19. Halbspindel mit Centrosoma. Friedmann, Zur Physiologie der Vererbung. 118 Zur Physiologie der Vererbung. Von Dr. Hermann Friedmann. Als durch die Descendenzlehre der spekulative Sinn für große Zusammenhänge geweckt worden war, und der in dieser Lehre so wich- tige Faktor der Vererbung gebieterisch seine Erklärung forderte, ent- standen — meist in der Morphologie — mannigfache Vererbungshypo- thesen. Der Physiologie, in deren Kreis umgekehrt das Kleinste, die Zelle und ihre Lebensthätigkeit, als Erklärungsprinzip eingetreten ist, können jene Hypothesen, die trotz eines großen Aufwandes von Cellu- lar- und Molekular- Mechanik weit ausholende und weithin ausgesponnene metaphysische Spekulationen sind, keineswegs genügen. Dagegen musste auch die Physiologie ein besonderes Ergebnis anerkennen, das auf sichere Beobachtung und daran geknüpfte sehr einfache Reflexion ge- gründet schien: die Bedeutung der Chromosomen als derjenigen Kern- elemente, die, in dem väterlichen und dem mütterlichen Kerne in gleicher Quantität vorhanden, eben darum die Träger der väterlichen und der mütterlichen Qualitäten sein mussten, welche erfahrungsgemäß in gleichem Maße auf das Kind überzugehen pflegen. Ich habe aber zu zeigen versucht!), dass diese scheinbar zutreffende Argumentation in ihrer fundamentalen Voraussetzung nicht nur unbewiesen, sondern — sofern aus dem physikalisch-chemischen Experimente Folgerungen für unsere biologische Frage erlaubt sind — auch fehlerhaft ist; ferner habe ich angedeutet, dass wir auf dem von uns eingeschlagenen Wege Erkenntnisse in Bezug auf Methode und System und die feine dyna- mische Natur der in Frage kommenden Vorgänge antreffen dürften. Bevor wir aber den einmal betretenen Weg weiter. verfolgen, müssen wir unsere, vorerst nur hypothetisch zugelassene Grundvoraus- setzung, dass die physikalisch-chemische Methode für unsere Unter- suchung prinzipiell anwendbar ist, zu befestigen suchen. Und zwar kann ein Hinweis auf den allgemeinen Standpunkt der heutigen Physio- logie oder auf ein spezielleres monistisches Urteil nicht ausreichen; sondern es müssen die geforderten Stützen womöglich auf dem Boden der exakten Vererbungsphysiologie selbst stehen. Solche Stützen sind in der That schon zur Zeit vorhanden —- wenn man davon absieht, zwischen Vererbung und Befruchtung eine starre Schranke aufzurichten, wie z.B. Boveri?) es thut, wenn er der Kernvereinigung für die Be- fruchtung Bedeutung abspricht, weil die Kerne an der Differenzierung der Keimzellen sich nieht beteiligen, ihrer gegenseitigen Ergänzung nieht bedürfen, um das Ei entwicklungsfähig zu machen, und ihre Vereinigung kein Mittel bei der Befruchtung, sondern ihr Zweck sei. 1) In dieser Zeitschrift, XXII. Bd., Nr. 24. 2) Vergl. den folgenden Aufsatz. 774 Friedmann, Zur Physiologie der Vererbung. Gerade der Forscher, der der von J. Loeb gestellten Forderung, das Befruchtungsproblem physikalisch-chemisch zu behandeln und zu lösen, entgegengehalten hat, dass dieses Problem nicht nur die fortgesetzte Zweiteilung der Zellen, sondern auch die daran geknüpften Verände- rungen umfasst!), war berufen zu erklären, dass in diesen Verände- rungen zusammen mit einer etwaigen individuellen Teilungsfähigkeit jedenfalls auch eine durch Vererbung bedingte Differenzierungsnotwen- digkeit sich ausdrückt; zeigt die beginnende Kernteilung sich dadurch an, dass das Chromatin in Bewegung gerät, — wie kann der Forscher, der die Chromosomen als Träger der erblichen Qualitäten ansieht, die für die wissenschaftliche Anschauung untrennbaren Vorgänge der Be- fruchtung und Vererbung scharf sondern wollen? Ob diese Sonderung für die Lehre von der Befruchtung von Nachteil ist, haben wir an dieser Stelle nicht zu erörtern; für die Lehre von der Vererbung wäre sie von Nachteil: denn die Einsicht in die Annäherung des ontogene- tischen Grundphänomens an einen physiko-chemischen Vorgang würde uns versagt bleiben. Wir denken dabei nicht sowohl an die Nach- ahmung karyokinetischer Erscheinungen und die Untersuchungen über die künstlichen Astrosphären, sondern an die Feststellungen von Loeb, dass die Wirkung des Spermatozoons durch physikalisch-chemische Agentien ersetzt werden kann. Boveri, der diese Thatsache in be- sonderer Weise ins Auge gefasst hat”), möchte die Konsequenz aus der Loeb’schen Entdeckung so formulieren, dass, wie das Spermatozoon, so auch gewisse physikalisch-chemische Agentien im Eiprotoplasma die Bildung eines Centrosoma bewirken können. Früher hatte er gemeint, dass das Spermatozoon ein Centrosoma ins Ei einführe. Fragt man, was es ist, was ihn früher zu dieser Auffassung bewogen hat, und was ihn jetzt hindert, das physikalisch-chemische Agens für mehr anzu- sehen denn als die äußere Veranlassung zur Neubildung eines „Organs der Zelle“, — so giebt es nur eine Antwort: es ist das biologische Vorurteil, das — mag es seinem Inhalte nach auch richtig sein — deswegen, weil es zur Zeit ohne hinreichenden Grund gefällt ist, doch ein Vorurteil ist. Boveri giebt denn am Ende auch zu, es sei denk- bar, dass wir einmal anstatt von Centrosomen von ehemischen Sub- stanzen sprechen werden. Das Recht, von Chromosomen zu sprechen, ist womöglich noch zweifelhafter. Die ursprüngliche Form, welche die Anordnung des Chromatins im ruhenden Kerne beherrscht, wird dadurch, dass sie nach allen Wandlungen in den neuen Kernen restituiert wird, als auch dadurch, wie es geschieht, mehr als eine passive Disposition, als eine „Form“, gekennzeichnet, welche durch beharrende Kräfte (wie auch 1)-Boveri, a. 3.70, 9.44 2) a. a. O., Anhang. Friedmann, Zur Physiologie der Vererbung. 105 die Physik sie kennt) bedingt sein mag, denn als ein aktives Stabilitäts- gebilde; aber, wie dem auch sei — die mitten auf dem Wege der Wandlungen liegenden Stränge nicht einfach als Kernteile, sondern als „somatische“ Kernelemente aufzufassen, hierfür giebt es nur einen Grund: die Konstanzihrer Zahl für jede Organismenart. Diese Thatsache ist in der That außerordentlich überraschend, und man müsste vor ihr wie vor einem unbegreiflichen Wunder stehen bleiben — wenn nicht die Molekularphysik (die uns schon einmal dazu verholfen hat, die Chromosomen einer ihnen ohne genügenden Grund zugeschriebenen Bedeutung zu entkleiden) neuerdings eine Erklärung darbieten würde, die das Rätsel aufzuhellen und den den Chromosomen gebührenden Rang genau zu bezeichnen scheint; auch ist sie so ein- fach, dass sie mit dem sigillum veri versehen sein dürfte. Wenn die inneren Organisationskräfte eines Krystalls und seine aus ihnen resul- tierenden physikalischen Eigenschaften in einem genauen geo- metrischen Formausdruck sichtbar werden, so liegt es nahe, in der die inneren Organisationsverhältnisse des Kernes und die damit kon- nexen Eigenschaften charakterisierenden Zahl der Chromosomen nicht sowohl ein geheimnisvolles arithmetisches, als vielmehr ein glück- licherweise sehr offenkundiges Formmoment zu erblicken. In der Dis- kontinuität, zu der sich die in zäblbare „Chromosomen“ zusammen- gezogene Chromatinmasse abgewandelt hat, tritt ein „meristisches“ Merkmal hervor — wie die Variation nach Zahlen bei Pflanzen und Aehnliches. Ist aber das „Chromosoma“ nur ein Ausdruck der durch Vererbung — aber auch durch Anpassung — gerichteten Kräfte der Entwiekelung, ist es ferner ein genauer Ausdruck nur der artbilden- den Potenzen, ist es schließlich nur ein Ausdruck neben manchem anderen, der dem Auge unzugänglich sein mag, — so kann man vom Chromosoma als einem Träger der Vererbungssubstanz allerdings noch sprechen, muss aber damit ganz andere Vorstellungen verbinden als früher. Die „Vererbungssubstanz“ hat sich zu einem terminologischen Notbegriff für dynamische Realitäten verflüchtigt, die hinter dem Chromosoma wirken, also nicht in ihm liegen; und jene dynamischen Realitäten werden durch die Vereinigung der Kern-Chromosomen der beiden Geschlechtszellen nieht „einfach addiert“ '), sondern wohl durch eine vollkommenere Methode, als die Synthese der Chromosomen, der viel- leicht sehr unvollkommenen Repräsentanten der individuellen Keim- kräfte, es wäre, in einer höchst verwickelten Weise kombiniert. Die Gleichheit der Chromosomen im herangewachsenen Spermakern und Eikern mag auf eine strukturelle Gleichheit der Organismenart deuten, welehe — ähnlich wie dieselbe Gleichheit bei chemischen Substanzen — die Kombination überhaupt erst ermöglicht ?). 4) Boveri, a. a. O., p. 36. | 2) Hier ist der Ort, einen Einwand zurückzuweisen, der gegen die Be- 776 Friedmann, Zur Physiologie der Vererbung. Wenn dynamische Systeme verändernde Einwirkungen ausüben und erleiden können, so macht es offenbar grundsätzlich keinen Unter- schied, ob jene spezielle Einwirkung stattfindet, die wir „Amphimixis“ oder „Individuenvermischung“ nennen, oder irgend eine andere, die im Ergebnisse weniger evident ist. A priori muss angenommen werden, dass eine Einwirkung auf ein Individualsystem je nach ihrer Intensität entweder konsumiert werden oder prävalieren muss, und dass sie sich im letzten Falle bei einer unter den gleichen Bedingungen erfolgenden Amphimixis notwendig auch dem neugebildeten Individuum mitteilen muss. Das heißt in die Sprache der Biologie übersetzt: erworbene Eigenschaften können vererbt werden, weil die Erwerbung einer Eigen- schaft eine dynamische Veränderung des Systems bedeutet; die Be- hauptung, dass eine solche Veränderung nur dort stattfindet, wo die Einwirkungen das „Keimplasma“ — treffen, scheint mir weniger ge- eignet, etwas zu erklären, als eine aus unzureichender Terminologie hervorgegangene allerdings ziemlich einfache Anschauung zu illu- strieren. Virchow, der unter den Pathologen zuerst die Ansicht Weismann’s vollständig verworfen hat‘), hat sie zum Teil mit ähn- lichen logischen Argumenten bekämpft, und es scheint in der That, dass sie schon vor dem Forum der Logik fallen muss. Doch müssen wir als Naturforscher dem experimentellen Beweis eine entscheidende Bedeutung zugestehen. Aber auch da will es uns scheinen, als ob die Weismann’sche Theorie sich der beständig zunehmenden experimen- tellen Gegenbeweise, von denen ja manche auf Beobachtungsfehlern beruhen mögen, kaum zu erwehren vermag. Dem Physiologen liegt wohl näher als das morphologische Material das besonders beweis- weiskraft der Ergebnisse über die quantitativ-qualitative Beziehung einer iso- morphen Mischung zu ihren Komponenten für unsere biologische Frage gemacht werden kann — und mir von einem hervorragenden Naturforscher auch ge- macht worden ist. Ich hatte nur einen, ganz allgemein auf ein dualistisches Vorurteil gegründeten Einwand als möglich erachtet; der nun erhobene ist scheinbar sehr strenger Natur, aber nicht weniger leicht zu widerlegen. Die Mischung der Chromatinsubstanzen soll mit isomorpher Mischung nicht ver- glichen werden dürfen, weil die Chromatinsubstanz wahrscheinlich nicht kry- stallisiert ist. Darauf ist zu antworten: Chemische Isomorphie ist der Grund dafür, dass chemische Substanzen sich in gegenseitiger Durchdringung zu einem homogenen Körper anordnen; aber sie ist nicht der Grund für die Regel der quantitativ-qualitativen Beziehung der Mischung zu den Komponenten. Die Beziehungsregel kann für eine Mischung homogenen Charakters, die auf Grund einer besonderen biologischen Isomorphie möglich geworden ist, die gleiche sein — auch wenn die biologische Isomorphie nicht in einer noch unerkannten chemischen — oder pro-chemischen — begründet sein sollte. 1) Tageblatt der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte, Straßburg 1886, p. 542, und Descendenz und Pathologie, Virch. Archiv, Bd. 103, 1886, p. 4. Friedmann, Zur Physiologie der Vererbung. Te kräftige pathologische, und innerhalb desselben dürfte der längst be- kannte Brown-S&quard’sche Versuch überzeugend sein: wo die Ein- wirkung eine intensive ist — die Durchschneidung des Nervus ischia- dieus scheint eine solche zu sein —, sind die erworbenen pathologischen Eigenschaften auch vererbbar'). Doch ist zu erwähnen, dass Sommer?) neuerdings die früheren Versuche nicht bestätigen konnte. In der Ent- kräftung der durch die experimentelle Pathologie erbrachten Beweise ist aber weder Weismann, noch einer seiner Anhänger sonderlich glücklich gewesen’). Es ist nicht schwer, die psychologische Fehlerquelle zu zeigen, aus der die Weismann'’sche Anschauung fließt. Im Banne der zweifel- haften Terminologie, die von einer „Vererbungssubstanz“ und deren „Trägern“ spricht, erblickte Weismann im Vererbungsvorgange ein besonderes Problem der Repräsentanz: problematisch schien ihm, wie in einem Organismus erworbene Eigenschaften sich derart auf eine mikroskopisch kleine Zelle reduzieren können, dass die Zelle in jedem Augenblick den ganzen Organismus repräsentiert. Er löste das Prob- lem, wie Probleme häufig gelöst werden, — er schob es einfach zu- rück: das Keimplasma musste zum Untersehied vom Soma Träger der vererbbaren Eigenschaften sein, es von Anfang an gewesen sein und als solcher bis zu einem gewissen Grade durehdauern. Ansätze zu einer ähnlichen Unterscheidung der nm traten fast gleichzeitig auch anderen Orts auf?). Bedenklicher aber als die Einwendungen, die sich auf Logik, Psychologie und die vorläufigen Ergebnisse des Experimentes stützen, dürfte die folgende sein: Es ist nicht zweifelhaft, dass die Embryonal- Entwicklung — trotzdem sie, wie wir jetzt wissen, nicht immer die- selben Wege einschlägt wie die Regeneration — in Bezug auf ihre allgemeinsten Bedingungen doch den gleichen Grundgesetzen unter- liegen muss wie diese. Eines dieser Grundgesetze aber scheint zu sein, dass die Regenerabilität abnimmt mit ehmnde r Differenzierung. Folglich sollte das generative Element weit cher in der en somatischen Zelle gesucht werden als in der jedenfalls hochorganisiert gedachten, mit „Determinanten“ durchsetzten Keimzelle. 4) Vergl.Brown-S&quard, Archiv de physiologie, t. I-IV, 1868— 1872; Westphal, Berliner klinische Wochenschrift, 1871; Obersteiner, Medi- zinische Jahrbücher, 1875. 2) Ziegler, Beiträge, Bd. XXVII, 1900, p. 289. 3) Vergl. Dietrich, Die Bedeutung der Vererbung für die Pathologie, 1902; die hier gebotenen Erklärungen sind kaum überall zureichend. 4) Vergl. Friedrich Hildebrand, Die Lebensdauer und Vegetations- weise der Pflanzen u. s. w. Engler’s Botanische Jahrbücher, Bd. II, 1882, und besonders des! Anatomen A. Rauber Unterscheidung zwischen einem Personalteil und einem Germinalteil. 778 Friedmann, Ueber die Chromosome als Träger der Vererbungssubstanz. Das deutet nun allerdings darauf, dass eine wirkliche Repräsen- tanz durch eine Zelle gar nicht stattfindet, weder so, dass Qualitäten irgendwie auf sie reduziert werden, noch so, dass die Zelle von An- beginn Träger von Qualitäten ist; die Agentien, welche die Vererbungs- erscheinungen bewirken, scheinen außerhalb der Zelle zu liegen. Das „Außerhalb“ könnte, wenn hier topisch gesprochen werden darf, darum doch der Sphäre des einen der beiden sich vermengenden Keime näher sein als der des anderen. Die von der Pathologie vielfach registrierten Thatsachen der placentaren, sogenannten Pseudoheredität geben der Vermutung Raum, dass um den mütterlichen Keim beson- ders wirksame perpetuierende Kräfte walten; Beobachtungen wie die von Correns über den Einfluss der mütterlichen Elternform auf die Farbe der Embryoepidermis bei Kreuzung zwischen Matthiola glabra und M. incana und die von Tschermak über den entscheidenden mütterlichen Einfluss auf die Form bei Kreuzung zwischen Pisum ar- vense und P. sativum‘) komplizieren das Problem. Wir erkennen, dass auch die andere von uns unbeanstandet gelassene Grundvoraussetzung der Chromosomentheorie, väterliche und mütterliche Eigenschaft würden in gleichem Maße dem Kinde zu teil, nichts weniger als gründlich ist. Die wirkliche Qualitätenrepräsentanz muss eine solehe besonderer Art sein, wenn die Speciesmerkmale erst im Laufe der Ontogenie auftreten und die Individualeigenschaften ganz an ihrem Ende. Alles Reden hierüber ist müßig, solange sich nicht aus dem Streite der Prinzipien in der Biologie das Fundament einer sicheren Bio- mechanik erhoben hat. [70] Ueber die Ohromosomen als Träger der Vererbungssubstanz. Von Dr. Hermann Friedmann. Als sicherstes und nahezu gewisses Ergebnis auf dem sonst so dunklen Fragengebiete der Vererbung gilt die Lehre, dass die Chromo- somen die Träger der Vererbungssubstanz sind. Zwischen der Samen- zelle und Eizelle, die bei der Befruchtung verschmelzen, besteht ein ganz bedeutender Größenunterschied. Was aber gleich in beiden ist, das ist die Menge von Chromatin. Es wird also dem Tochterkerne aus dem Kerne der männlichen und der weiblichen Geschlechtszelle die gleiche Menge von Chromatin zugeführt. Diese Erkenntnis wird als genügend erachtet, um die allgemeine Erfahrungsthatsache, dass väterliche und mütterliche Eigenschaften in gleichem Maße auf das Kind überzugehen pflegen, als histologisch begründet und den Schluss 4) S. Biol. Centralblatt, XXII. Bd., Nr. 5, Küster, Die Mendel’schen Regeln u. s. w. Friedmann, Ueber die Chromosome als Träger der Vererbungssubstanz. 779 auf die Stellung der Chromosomen in der Mechanik der Vererbung als notwendig zu erklären. Diese in sich folgerichtige Beweisführung gründet sich auf die un- ausgesprochene Voraussetzung: dass für das Verhältnis zwischen den väterlichen und mütterlichen Eigenschaften im Kinde die quantitative Beziehung zwischen der väterlichen und mütterlichen Substanz im konjugierten Kerne maßgebend ist. Gleichsam als eine apriorische und nicht weniger als eine apodiktische wird diese Voraussetzung eingeführt. Es scheint, dass ihre Richtigkeit in dem Maße als selbst- verständlich gilt, als es für unmöglich gehalten wird, ihr schon zur Zeit mit den Mitteln genauester wissenschaftlicher Bestimmung — dem Experimente und der Berechnung — näher zu treten. Soweit spezifisch biologische Untersuchungsmethoden in Frage kommen, ist die Resignation zur Zeit auch ganz berechtigt. Allein, wenn es erlaubt ist, einen biologischen Vorgang, der unter dem Bilde eines physiko-chemischen begriffen wird, an einem physiko-chemischen Modell zu studieren, so erscheint die Untersuchung weniger aussichts- los. Formulieren wir die Frage, um die es sich hier handeln kann, — wie verhalten sich die Eigenschaften einer Mischsubstanz zu den Eigen- schaften der komponierenden Substanzen ? —, so betreten wir das Ge- biet der Chemie, der physikalischen Krystallographie, der Molekular- Physik, die von P. Groth mit Recht der bestbegründete Teil der ganzen Physik genannt wird; wir betreten einen sehr sicheren Boden, auf dem die Frage mittelst der an isomorphen Mischungen vollzogenen Experimente und Berechnungen mit vielleicht grundsätzlicher Gültig- keit beantwortet werden kann. Da erweist es sich denn, dass — wäh- rend das spezifische Gewicht bei den wirklich isomorphen Mischungen, namentlich in der Plagioklasgruppe, sehr genau mit dem Mischungs- verhältnis variiert (so genau, dass rechnerisch Schlüsse gezogen werden können), und auch der Schmelzpunkt einer Mischung aus den Schmelz- punkten der Komponenten vermöge gewisser Methoden zutreffend be- rechnet werden kann — der Zusammenhang zwischen Komponenten und Mischung in Bezug auf die optische Beschaffenheit schon kein ganz regelmäßiger ist, und in Bezug auf die Form dieser Zusammen- hang im allgemeinen nicht besteht. Der Formcharakter der bei der Mischung quantitativ am meisten beteiligten Grundsubstanz teilt sich nur sehr selten dem der Mischung mit; es giebt auch dafür Beweise, dass dies direkt nicht der Fall ist. Ja, es finden sich Andeutungen, dass hier eine umgekehrte Geseizmäßigkeit mit im Spiele ist: so giebt es rhomboedrische Mischungen von MgCO, und FeCO,, deren Polkantenwinkel um so schärfer wird, je mehr Mg bei der Mischung verwendet ist — und doch ist der Polkantenwinkel der Grundverbin- dung MgCO, stumpfer (107° 30‘) als der von FeCO, (107° 0')! Zum Teil fallen die Winkel überhaupt außerhalb der Differenzen, welche 780 Triepel, Einführung in die physikalische Anatomie. die Grundverbindungen aufweisen. Also, es herrscht keine einfache und selbstverständliche, sondern eine sehr komplizierte und unerwartete Gesetzmäßigkeit. Damit ist die Voraussetzung, welche der Behauptung zu Grunde liegt, dass die Chromosomen die Träger der Vererbungssubstanz sind, in Frage gestellt und folglich auch die auf sie gegründete Behauptung. Dies bestreiten dürfte nur, wer den Unterschied zwischen dem Orga- nismenreich und der Welt der Anorgane als einen so tiefgreifenden erachtet, dass er in dem biochemischen Vorgang der Vermischung der animalischen „Vererbungssubstanzen* — was immer sie auch sein mögen — etwas sieht, was mit dem chemischen Prozess der Ver- mischung von Stoffen außerhalb des Tierkörpers in keiner Hinsicht verglichen werden kann. Wer aber ohne Vorurteil dieser letzten Frage gegenübersteht, das heißt, einsieht, dass über die Homo- oder Hetero- genität zweier Gebiete nicht entscheidend ausgesagt werden kann, be- vor sie nicht in allen wesentlichen Beziehungen miteinander verglichen sind, wird die festgestellte Thatsache registrieren. Was als Vererbungssubstanz anzusehen ist, steht noch nicht fest. Zu diesem Ergebnisse führt nicht nur die von uns angestellte physiko- chemische Untersuchung, die schon aus methodischen Gründen not- wendig schien, sondern auch die spezifisch biologische von Th. Boveri, der im Archiv für Entwicklungsmechanik der Organismen (1895, Bd. II, p. 374) gezeigt hat, dass auch kernlose Seeigeleier befruchtet werden und sich bis zu dem „Pluteus“ genannten Stadium entwickeln können. Wenn bei einer solchen Befruchtung auch mütterliche Eigenschaften vererbt werden, so kann die Vererbungssubstanz schlechterdings nicht im Kerne sitzen; sofern aber, wie man auf Grund von Versuchen mit Bastardbildungen vermuten zu dürfen glaubt, nur väterliche Eigen- schaften vererbt werden, gewinnt die Lehre, dass der Kern Träger der Vererbungssubstanz ist, wieder an Raum. Außer mancherlei anderen Schlüssen für Methode und System scheint mir diese Erörterung im besonderen nahezulegen, dass die Ver- erbung und die analogen — vielleicht verwandten — Erscheinungen in der anorganischen Natur feine dynamische Vorgänge sind, denen näher zu kommen, neben einer unzureichenden Methode auch unsere in die Fesseln einer groben Terminologie geschlagene Denkweise uns hindern mag. [67) Triepel, Hermann: Einführung in die physikalische Anatomie. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1902, X + 232 S., gr. 8°, 23 Textfiguren und 3 lithogr. Tafeln. Die Beziehungen zwischen der Anatomie und Physiologie sind zu mannigfacher Art, als dass sie in den üblichen Hand- und Lehrbüchern Triepel, Einführung in die plıysikalische Anatomie. Ss einen entsprechenden Ausdruck finden könnten. Eines der wichtigsten Grenzgebiete stellt die physikalische Anatomie dar, welche die Lehre von den physikalischen Eigenschaften der Gewebe, ihrer Blasti- zität und Festigkeit umfasst, und die in den anatomischen und physio- logischen Lehrbüchern stets nur sehr stiefmütterlich behandelt wurde. Und doch ist es ein großes Material, das durch die Arbeiten einer großen Reihe von Forschern zu Tage gefördert wurde, das jetzt, wo die Entwicklungsmechanik immer mehr und mehr an Boden gewinnt, erst seine volle Würdigung erfährt. Ohne genaue Kenntnis der physi- kalischen Eigenschaften der einzelnen Gewebe und der daraus aufge- bauten Organe können wir niemals zu einem richtigen Verständnis der Funktionen der Gewebe und Organe gelangen. Andererseits ist aber die möglichst vollständige Kenntnis der Funktion unerlässlich, wenn uns die kausale Beziehung des funktionellen Reizes zur Gestalt der funktionierenden Organe klar werden soll; es ist das ja eines der- jenigen Ziele, dem die moderne Morphologie zustrebt und das mehr denn je wieder das Zusammenarbeiten von Morphologie und Physio- logie erfordert. Es ist deshalb dankbar zu begrüßen, dass Triepel, der schon früher mehrere Fragen der physikalischen Anatomie einer eingehenden Bearbeitung unterworfen hat, sich die keineswegs leichte Aufgabe stellte, das vorhandene Material zu sammeln und zu einem syste- matischen Ganzen umzuformen. Dabei enthält aber das Triepel’sche Buch auch noch eine Reihe neuer Versuche des Autors, die an dieser Stelle zum erstenmale veröffentlicht werden. Ferner hat Triepel die Angaben der früheren Autoren nicht einfach in seine Dar- stellung übernommen, sondern er hat, wo dieses nur halbwegs möglich war, die Messungen der früheren Autoren umgerechnet, um die ver- schiedenen Module abzuleiten, wodurch die Angaben der einzelnen Autoren einer besseren Vergleichung untereinander zugänglich gemacht worden sind. Da eine solehe monographische Darstellung die theoretischen Grundlagen der allgemeinen Rlastizitäts- und Festigkeitslehre unmög- lich umgehen kann, so war es richtig und notwendig, einen kurzen und elementaren Abriss der allgemeinen Elastizitäts- und Festigkeitslehre den eigentlichen anatomisch-physikalischen Be- trachtungen voranzustellen. Triepel lehnt sich in dieser Darstellung wesentlich an C. Bach und F. Auerbach an. Bei der mangelhaften mathematischen und physikalischen Vorbildung der Mediziner im all- gemeinen wäre es wohl gut gewesen, in diesem Teile noch etwas aus- führlieher zu werden. Es bezieht sich diese Bemerkung weniger auf die mathematische Behandlung des Problems, welche fast nie über die Trigonometrie hinausgeht, sondern vielmehr auf physikalische Begriffe. Der zweite Teil ist der Elastizität und Festigkeit der 182 Triepel, Einführung in die physikalische Anatomie. menschlichen Gewebe und Organe gewidmet. Zuerst wird das gelbe Bindegewebe behandelt. Triepel hat diesen aus dem franzö- sischen entlehnten Terminus für elastisches Bindegewebe eingeführt, um auszudrücken, dass dieses Gewebe keineswegs das elastische katexochen sei, wie man auf Grund dieser Bezeichnung erwarten dürfte, wenn man für Elastizität die einzig richtige von den Physikern gebrauchte Definition gelten lässt, die aber mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch vielfach kollidiert. Triepel’s Ausführungen über das gelbe Bindegewebe werden keinen oder nur wenig Anlass zu Meinungs- verschiedenheiten geben; anders ist es mit den Ausführungen über den quergestreiften Muskel, denen die Anschauung zu Grunde liegt, dass Kontraktionskraft und elastische Kraft ihrem Ur- sprung und Wesen nach durchaus verschieden sind. Diese Meinung steht wohl mit der Anschauung vieler Physiologen im Wider- spruch. Es genügt hier, zwei der hervorragendsten Autoritäten auf dem Gebiete der Muskelphysiologie anzuführen, nämlich Eduard Weber und Adolf Fick. Fick’s geistreiche Theorie erfreut sich auch jetzt noch einer weitgehenden Anerkennung unter den Physio- logen, sie ist überhaupt die Grundlage aller modernen Ausführungen über den Kontraktionsprozess, wenn auch die einzelnen Vertreter dieser Theorie über verschiedene Punkte von nebensächlicher Bedeutung ver- schiedener Meinung sind. Auch kann ich es nicht für besonders glück- lich erachten, dass Triepel in seinen Ausführungen über den kon- trahierten Muskel die Kaiser’sche Theorie der Muskelzusammenziehung so sehr in den Vordergrund der Betrachtung stellt, nachdem durch Schenck in einer großen Reihe von Untersuchungen die Unhaltbar- keit der Kaiser’schen Theorie zur Genüge dargethan wurde. Sehr interessant sind die Studien über die glatte Muskulatur, die in ihren physikalischen Eigenschaften so wesentlich von den quer- gestreiften Muskeln abweicht. Diese Erkenntnis verdanken wir haupt- sächlich den Untersuchungen Triepel’s. Ein gleiches gilt auch von den physikalischen Eigenschaften des gelben Bindegewebes. Die wei- teren Abschnitte behandeln das Sehnen-, Knorpel- und Knochengewebe, deren physikalische Eigenschaften nicht nur den Anatomen und Physio- logen, sondern auch den Kliniker, insbesondere den Chirurgen, in her- vorragendem Maße interessieren. Das gilt im besonderen von jenen Kapiteln, in denen die elastischen Eigenschaften ganzer Knochen, des Thorax, Beckens und Schädels behandelt werden. Die mechanischen Bedingungen für das Zustandekommen der verschiedenen Frakturen, Sehnenzerreißungen werden hier sehr sorgfältig analysiert und sind dadurch geeignet, manche irrigen Auffassungen in der Aetiologie dieser Vorgänge zu beseitigen. Ferner werden von ganzen Organen noch die Blutgefäße und Nerven untersucht. Das größte Interesse fordert jenes Kapitel, welches Triepel mit Triepel, Einführung in die physikalische Anatomie, 183 der Aufschrift „Zusammenfassung und Ausblicke“ überschrieben hat, denn darin werden die allgemeinen Gesichtspunkte entwickelt, welche sich aus der Gesamtbetrachtung der einzelnen Detailforschungen ergeben und die für die Biologie von allgemeiner Bedeutung sind. Deshalb wollen wir auch diesen Ausführungen Triepel’s eine genauere Besprechung zu teil werden lassen. Aus einer Vergleichung der verschiedenen Gewebe miteinander ergiebt sich die interessante Thatsache, dass ein Gewebe im allgemeinen eine um so größere statische Festigkeit besitzt, je größer seine Elastizität ist. Eine Ausnahme macht die Zugfestigkeit des kontrahierten Muskels, welche jene des gelben Bindegewebes übertrifft. Dagegen nimmt die Zerreißungsdehnung mit dem Ansteigen des Dehnungsmoduls und der statischen Festigkeit ab. Die Ruckfestig- keiten zeigen keine regelmäßigen Beziehungen zum Elastizitätsmodul E,. Auffallend könnte es nun erscheinen, dass die Knochen bei dyna- mischer Beanspruchung eine relativ geringe Widerstandsfähigkeit besitzen. Namentlich ist ihre Stoßfestigkeit verhältnismäßig klein. Ich glaube, dass sich dieses Verhalten aus der funktionellen Bean- spruchung erklären lässt, da ja die Mehrzahl der Knochen unter physio- logischen Bedingungen hauptsächlich statisch und nicht dynamisch be- ansprucht wird und die eventuell vorhandene dynamische Beanspruchung relativ klein ist. Dementsprechend bildet auch der Knochen nach dieser Richtung hin keine besonders hervortretende Qualitäten aus, weil ein entsprechender funktioneller Reiz fehlt. Ueberhaupt sind die statischen Beanspruchungen der Gewebe die häufigeren, denen gegenüber auch die Gewebe eine ziemlich große Sicherheit bieten. Wenn trotzdem einige Gewebe, wie Muskeln, Sehnen und gelbes Bindegewebe Dehnungen erfahren, die den Zerreißungs- dehnungen sehr nahestehen, während bei Knorpel und Knochen die während des Lebens vorhandenen Zusammendrückungen hinter den maximalen weit zurückbleiben, so besteht doch für die auf Zug bean- spruchten Gewebe innerhalb der normalen Funktionsgrenzen keine erhöhte Zerreißungsgefahr, weil gewisse Dehnungen einfach nicht überschritten werden können, da einer weiteren Verlängerung andere Organe oder Gewebe entgegen wirken. Anders liegen die Ver- hältnisse beim Knorpel und Knochen, wo maximalen Formänderungen keine Hemmungen durch das Dazwischentreten anderer Gewebe ge- boten werden. Da sind die normalen Beanspruchungen weit unterhalb der Festigkeitsgrenzen gelegen, wodurch eine ziemlich große Sicher- heit gegen Kontinuitätstrennungen gewährleistet wird. Bei Geweben, deren Festigkeit und Elastizitätsbreite gegeben ist, kann, wenn keine anderen Hilfen zur Verfügung stehen, eine erhöhte Sicherung dadurch erreicht werden, dass die Menge der Gewebselemente in dem gefähr- deten Körperteile vermehrt wird. Auf Grund dieser Ueberlegung 754 Triepel, Einführung in die physikalische Anatomie. kommt nun Triepel zu dem Schlusse, dass in den Knochen und Knorpeln und vielleicht auch in den Bändern etwas mehr Material angehäuft ist als unbedingt notwendig wäre, um sie zu befähigen, den im gewöhnlichen Leben an sie herantretenden Ansprüchen zu genügen. Es ist, wie Triepel fortfährt, die Natur nicht an ein Gesetz gebunden, auf Grund dessen sie einen bestimmten Erfolg immer unter Aufwand der geringsten möglichen Mittel erzielt. Ich möchte glauben, dass Triepel damit doch zu weit geht. Denn eine große Reihe von Beobachtungsthatsachen weist darauf hin, dass im allgemeinen eine Verschwendung von Material im Ausbaue der Organismen nicht stattfindet. Es gilt dies nicht nur für die morpho- und histogenetischen Vorgänge, sondern auch für andere Lebenserscheinungen. So musste die lange Zeit als bewiesen angesehene Luxuskonsumption der Verdauungsphysiologie auch einer besseren Erkenntnis weichen. Man darf bei derartigen Betrach- tungen nur nicht einen bestimmten Erfolg als von der Natur inten- diert annehmen und dann als Maßstab zu grunde legen. Wir müssen uns unbedingt von diesen teleologisch angehauchten Erklärungen und Schlüssen vollkommen frei machen. Sicherlich kommt für den Ablauf und Umfang der morpho- und histogenetischen Prozesse der Erfolg überhaupt nicht in Frage, er ist für die Natur, wenn ich so sagen darf, gar nicht vorhanden, sondern er wird erst von uns geschaffen, indem wir zwischen verschiedenen Objekten und Eigenschaften be- stimmte Beziehungen herzustellen versuchen. Die Finalität, heiße sienun Teleologie oder Zielstrebigkeit oder sonstwie, ist ein Kunstprodukt, das für die kausale Forschung keine Daseinsberechtigung hat. Die einzig zum Ziele führende Ana- lyse biogenetischer Vorgänge muss sich möglichst physiologischer Grundlagen bedienen, und als solche bieten sich in erster Linie die Beziehungen zwischen Reiz und Reaktion dar. Gerade beim Knochen können wir auf Grund dieser Erfahrungen die thatsächlichen Erscheinungen genügend erklären. Nach Rouxs Gesetz der dimensionalen Hypertrophie nimmt das Dicken- wachstum eines in der Richtung seiner Längsachse gedrückten Knochens zu. Dass dieses Gesetz nicht für alle Gewebe giltig ist, geht aus meinen vor kurzem veröffentlichten Betrachtungen über das Blutgefäß- system!) hervor, die mich zu der Anschauung führten, dass für glatte Muskulatur und Bindegewebe ein Zug eine Wachstumshemmung senk- recht zur Zugrichtung abgebe. Vielleicht spricht sich in diesem gegen- sätzlichen Verhalten eine Anpassung an die funktionellen Reize der auf Zug oder auf Druck beanspruchten Gewebe aus. 1) Zur Physiologie und Wachstumsmechanik des Blutgefäßsystems. II, Mitt. Zeitschrift für Allgemeine Physiologie, II. Bd., 1. Heft, 1902. Triepel, Einführung in die physikalische Anatomie. 755 Diese Erörterungen leiten uns zu dem Abschnitt „Beanspruchung und Gewebsbildung“ des Triepel’schen Buches über. So be- friedigend auch der Nachweis unmittelbarer mechanischer Beeinflussung für die Entstehung der Gewebe ist, so stellen sich einer solchen Be- trachtung noch viele Hindernisse in den Weg. Vor allem weist Triep el darauf hin, dass im Gefolge der Beanspruchungen nur drei Arten von Spannungen, Zug-, Druck- und Schubspannungen, auftreten können, denen eine größere Menge von Geweben gegenüber steht, dass ferner mit einer beliebigen primären Spannung die beiden anderen als sekundäre verbunden sind und dass endlich an manchen Geweben alle drei Spannungen primär allein oder in Kombination vorhanden sein können. Dennoch können zwei Hauptgruppen von Geweben, die „zieh- fähigen“ und die „drückfähigen“ unterschieden werden, je nachdem ihre Hauptbeanspruchung auf Zug oder Druck stattfindet. Zur ersten Gruppe wären Muskel-, gelbes und kollagenes Bindegewebe zu rechnen, zur zweiten Knorpel- und Knochengewebe. Jedenfalls wird überall dort, wo Druck als Teilbeanspruchung bei Biegung oder Kniekung auftritt, nur drückfähiges Gewebe verwendet. Daraus kann man wohl schließen, dass die Art der Beanspruchung zur Entwicklung eines bestimmten Gewebes in kausaler Beziehung steht; aber außer diesen kommen noch andere Momente, wie z. B. die Größe der Spannungen in Betracht. Die Beanspruchungen, denen die Gewebe während des Lebens unterliegen, zeigen nun, dass mit dem Vor- kommen größerer Spannungen ein größerer Elastizitäts- modul verbunden ist. Aechnliche Anschauungen habe auch ich in meiner voranstehend eitierten Arbeit geäußert, wo ich über den diffe- venzierenden Einfluss der Reizintensitäten sprach?). Obzwar man auch für den Muskel eine ähnliche Betrachtung an- stellen könnte, so meint Triepel dennoch, dass es rätlich sei, bei einer Diskussion, die sich in der Hauptsache auf Gewebe aus der Gruppe der Bindesubstanzen erstreckt, den Muskel aus dem Spiele zu lassen, bei dessen Entwicklung wahrscheinlich noch andere eigen- artige Momente eine Rolle spielen. Ich habe in meiner Arbeit versucht, als dieses Moment die Periodizität, bezw. Rhythmizität einer Dehnungsbeanspruchung darzustellen. Als einen Einwurf gegen die Annahme, dass durch die mecha- nische Beanspruchung ein formativer Reiz gegeben sei, führt Triepel an, dass die Spannungsverhältnisse beim Erwachsenen ganz andere seien als beim Embryo. Wenn wir also das Prinzip der direkten Be- wirkung aufrecht erhalten wollen, müssen wir zur Vererbung der 2) Als ich die betreffenden Abschnitte meiner Arbeit niederschrieb, hatte ich das Triepel’sche Buch noch nicht erhalten. Bei der späteren, nur flüch- tigen Durchsicht des Buches war mir diese Stelle entgangen, weshalb ich Triepel’s Meinung nicht in der gebührenden Weise eitiert habe. XXIlI. 51 786 Triepel, Einführung in die physikalische Anatomie. während der Phylogenese erworbenen Gewebsqualitäten greifen. Dafür spricht nach Triepel auch der Umstand, dass die Gewebe bereits angelegt werden, noch bevor sie Gelegenheit haben, den an sie herantreienden Beanspruchungen Widerstand zu leisten. Auch damit stimmen die Ausführungen in meiner letzten Arbeit vollkommen überein, denn ich habe zu wiederholtenmalen mit Roux betont, dass wir von der Vererbung nicht ganz absehen können. Andererseits muss aber doch auch darauf hingewiesen werden, dass aller Wahrschein- lichkeit nach die Plastizität und Empfindlichkeit embryo- naler Zellen für formative Reize sehr viel größer sein muss als die der erwachsenen Gewebe, sodass eine geringere Intensität in der funktionellen Beanspruchung dadurch reichlich wett- gemacht werden kann. Ueber die mechanische Beanspruchung der Gewebe während der embryonalen Lebensperiode können wir leider nur sehr wenig aussagen. Am besten bekannt ist noch die Bean- spruchung der Blutgefäßwandungen, die zwar quantitativ, aber nicht qualitativ verschieden sein kann von der beim Erwachsenen vorhan- denen. Aber auch andere Gewebe, wie die des Bewegungsapparates sind schon sehr frühzeitig funktionell beansprucht. Wir dürfen nie vergessen, dass die Kindsbewegungen beim Menschen bereits in der 18. bis 20. Schwangerschaftswoche schon von außen fühlbar werden. Diese aktiven Bewegungen müssen aber schon eine ziemliche Intensität besitzen, um durch die Uteruswand und die Bauchdecken hindurch fühlbar zu werden. Infolgedessen muss für das erste Auftreten der aktiven Bewegungen noch ein viel früherer Zeitpunkt des Embryonal- lebens angenommen werden. Außerdem kommen auch noch die passiven Bewegungen der Frucht und jene Spannungen in Betracht, welche mit dem Wachstum des Körpers und seiner einzelnen Organe verknüpft sind. Daraus geht unmittelbar hervor, dass die Gewebe des embryonalen Körpers auch mannigfachen mecha- nischen Beanspruchungen unterworfen sind, nur kennen wir deren Richtung und Intensitäten nicht, oder nur zu ungenau, um mit ihnen rechnen zu können. Wir können deshalb in Uebereinstimmung mit Roux auch nicht sagen, wie viel einer Struktur auf Vererbung und wie viel auf direkte Beanspruchung während der Ontogenese zu- rückzuführen ist. Triepel glaubt, dass wegen der Kleinheit der Spannungen, die in den ältesten Organismen als Folge ihrer Lebenserscheinungen auf- traten, durch direkte Bewirkung nur Gewebe mit sehr niedrigem Elastizitätsmodul entstanden sein können. Später wurden diese Gewebe bei Erhöhung der Beanspruchung durch Meta- plasie in Gewebe mit höherem Modul verwandelt, wobei die während des individuellen Lebens erworbenen Gewebsqualitäten vererbt wurden. Für eine derartige Auffassung sprechen viele Erscheinungen der auf- Triepel, Einführung in die physikalische Anatomie. 187 steigenden Tier- und Pflanzenreihe. Da wir zur Gewebsbildung immer Zellthätigkeit voraussetzen müssen, so muss die mechanische Be- wirkung, welche während der Phylogenese zur Metaplasie führt, in erster Linie die Zellen treffen und nicht die Differenzierungsprodukte. Die sich dabei in den Zellen abspielenden Vorgänge entziehen sich unserer Kenntnis. Nur vermutungsweise wird von Triepel die An- sicht geäußert, dass durch die Beanspruchung eine Veränderung in der ursprünglichen Bewegung der einzelnen Moleküle oder Molekular- komplexe auftritt. Durch diese Annahme können wir erwarten, dass die größte Dimension der gebildeten Gewebselemente mit der Bean- spruchungsrichtung zusammenfällt. Diese Hypothese findet nun that- sächlich in der Ausbildung der funktionellen Strukturen eine weit- gehende Bestätigung. Freilich kommt hierbei noch ein weiteres Moment mit in Frage, nämlich die Partialauslese, der Kampf der Teile nach Roux. Wenn Triepel meint, dass das Roux’sche Prinzip nur dann zu Hilfe gerufen werden soll, wenn wir die Beeinflussung durch äußere Bedingungen nicht mehr zu erkennen vermögen, wenn also das Prinzip der direkten Bewirkung versagt, so glaube ich, dass er die Roux’schen Ausführungen anders auffasst, als Roux selbst. Triepel schränkt damit das Geltungsbereich des Roux’schen Prinzips ein; ich glaube aber, dass eine solche Einschränkung nicht gerechtfertigt ist, weil Roux’s Kampf der Teile im wesentlichen auf dem Einfluss der di- rekten Beanspruchung beruht, die als funktioneller Reiz wirkt. Ein Vorkommen embryonaler, d. h. ontogenetischer Meta- plasien durch Spannungserhöhungen erscheint Triepel zweifelhaft. So hält er es für ausgeschlossen, dass zu der embryonalen Umbildung von Knorpel in Knochen Spannungsänderungen die Veranlassung geben sollten. Als möglich wird dagegen ein solcher Vorgang für gewisse Gewebsvorstufen (gelbes Bindegewebe) hingestell. Wenn aber selbst im postembryonalen Leben solche Umwandlungen im Gefolge von Aenderungen der Beanspruchung eintreten können, wie die bekannten Exerzier- und Reitknochen, sowie Altersveränderungen zeigen, worauf auch Triepel hinweist, dann erscheint mir ein Gleiches für das em- bryonale Gewebe durchaus nicht ausgeschlossen, zumal während des Embryonallebens relativ bedeutende Spannungsänderungen vor- kommen, wobei immer an die große Plastizität embryonaler Zellen und deren größere Empfindlichkeit für formative Reize zu denken ist. Ich könnte mir sehr wohl vorstellen, dass eine Verknöche- rung der knorpelig vorgebildeten Skelettstücke durch eine Druckerhöhung in folgender Weisezu stande kommt. Wie bei den Blutgefäßen durch die Differenz des Eigenwachstumes und des der Unterlage eine Längsspannung sich entwickelt, so stellt sich auch aus den gleichen Ursachen allmählich eine Spannung der Skelett- muskulatur ein. Triepel nimmt auch einen solchen Vorgang an. 51* 188 Triepel, Einführung in die physikalische Anatomie. Dadurch nun, dass der Muskel mit dem fortschreitenden Längenwachs- tum der knorpeligen Unterlage immer stärker und stärker gespannt wird, werden die zwei zwischen seinem Ursprungs- und Insertions- punkte liegenden knorpeligen Skelettstücke immer mehr gegen einander gepresst und so in immer stärkerem Maße auf Druck beansprucht. Ist dieser Druck stark genug, dann tritt die allmähliche Umwandlung des Knorpels in Knochen ein. Für eine solche Annahme scheint auch die Lagerung der Knochenkerne, sowie ihr zeitliches Auf- treten zu sprechen. Natürlich kommen auch hier wieder die Ein- flüsse der Vererbung mit ins Spiel. Dass der Uebergang von Knorpel in Knochen in seinen letzten Ursachen funktionell bedingt sein muss, darüber kann meiner Meinung nach kein Zweifel herrschen. Fraglich und strittig ist nur, ob wir es hier einzig und allein mit einer Ver- erbung einer im Laufe der Phylogenese funktionell erworbenen Eigen- schaft zu thun haben, oder ob wir auch während der Ontogenese ur- sächliche Momente etwa in Form der geschilderten Spannungsänderungen anzunehmen haben. Das gesetzmäßige zeitliche und örtliche Auftreten der Knochenkerne scheint gegen eine ausschließliche Vererbung des ganzen Verknöcherungsprozesses zu sprechen, es weist vielmehr darauf hin, dass auch während der Ontogenese wichtige Faktoren mit ins Spiel kommen. Wie schwer es übrigens ist, beim Verknöche- rungsprozess ontogenetische und phylogenetische Einflüsse voneinander zu scheiden, beweist am besten der Verknöcherungsprozess der Epi- physen, worauf auch Triepel hinweist. Wenn ich noch einmal am Schlusse dieser Betrachtungen ein Ge- samturteil über das Triepel’sche Buch aussprechen möchte, so sei vor allem betont, dass trotz der besprochenen Meinungsdifferenzen das Buch vor allem die gestellte Aufgabe erfüllt, einen abgerundeten Ueber- blick über die bisherigen Ergebnisse der physikalischen Anatomie zu vermitteln und dass es deshalb für jeden, der sich mit den kausalen Problemen der Morphologie und Physiologie beschäftigt, ein wert- volles und sehr willkommenes Werk sein wird. [72] R. F. Fuchs (Erlangen). — Alphabetisches Namenregister. Adlerz, G. 108. Aeby 690. Agassiz 82, 83, 85, 86, 87, 8889, 9052791,292,, 93, 94295..96. Albrecht, E. 439, 440, 441, 458. Amberg, 0. 703. Andrew 82, 83, 94. Apäthy 195. Apstein 665. Aristoteles 466. Arnemann, F. 467. Arnold, F. 466. Arrhenius 603. Askanazy, M. 192. Askenasy 69. Astrakow 557. Athanasiu 286. Attems, v. 121. Auerbach, F. 781. Babäk, E. 316. Babor 146, 148, 267. Bach, C. 781. Bachmetjew, P. 192. Baer, K. E. v. 26, 362. Balbiani 607. Baranetzky 167. Barfurth 361, 362, Bary, de 484. Bates 250. Bateson 183, 508. Baumgarten, P. 192. Beard, J.321, 353, 398, 402. Beer 19. Beer, L. 729. Beijerinck 220, 425, 426, 428,432,433,488,489, 502. Beissner 516. Berge 394. Bergh 256. Bergmann 350. Berkeley 190. Bernard, Cl. 287, 314, 315, 316, 329, 336, 341. Bernhardt, M. 192. Bernoulli, J. 375. Bernstein 610. Berthelot 310. Berthold 173. Berzelius 30. Bethe, A. 193, 195, 234, 513,2914,.019,. 916, 129, Bidder 472, 473, 474, 475, 476. 477, 478, 480. Bidder, F. 475. Bischoff, Th. v. 376, 378. Blanchard, M. R. 192. Blanford, 252. Bock 297. Bogdanow, A. P. 554. Bois-Reymond, E. du 25, 331, 439, 441, 453. Bois-Reymond, Paul du 444. Bokorny, Th. 736. Boltzmann 32. Bonnet 490. Bonnier 69, 185, 533. Bonwill 308. Bordage 362. Bordet 19. Borodin, N. A. 565. Boulanger 363. Bonvier 273. Boveri, Th. 278, 325, 327, 407, 414, 759, 761, 769, 1A, 7713,2.0748,14.19,,,180. Boyd, R. 376, 379, 380. Brandes, G. 19. Branko 308. Brauer 324. Braun, Al. 486. Braun, M. 663, 665. Braun-Schimper 546, 548. Bredig, G. 30, 31, 32. Brefeld, 0. 384. Breitenbach, W. 191. Brindley 361, 362. Brooks, K. W.247, 321, 400. Brown-Sequard 777. Buchner 31. Budge 473. Bunge, G.v.191, 446, 458. Bütschli 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 52,53, 54, 55,56, 57, 58, 59,239, 322,440, 441, 442, 443, 444, 445, 452,457,458, 459,520, 610. Buttel-Reepen, v.193, 195, 41997200, 201, 2027203; 204, 205, 206, 207, 208, 2097210, 2117212213, 214, 215, 234, 235,236, 231,238, 919, 374,529: Calkins, N. Gary 384. Carnoy 763. Carlgren 14. Carter 526. Castle, W. 365. Celakowsky 591. Charlton Bastian, H. Chauveau 314. Chiarugi 381. Chodat, R. 62. Clarke. L. 477. Clautriau, G. 536. Gleriei, E. 191, Cockerell 125. Cohn, R. 192. Cohn, Th. 192. 1%. 790 Cooke 263. Correns 129, 132, 133, 134, 135. Cossmann, P.N. 439, 440. 441, 458. Cotte, J. 192. Couch 721, 727. Coulter 713. Cunningham, J.F. 1, 34,723. Cowan 208. Crüger 487. Cuvier 26, 188, 382. Czapek 12, 13, 14, 15, 66, 68, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 170, 172, 174,475, 176,04177. Dall 85. Dana 87, 89. Danilewsky, B. 192. D’Arsonval 312, 315. Darwın, Ch. 1,73, 7, 49, 20,7 210034,190,° 37,10, 89, 94, 96, 102, 108, 109, 161, 162, 182, 183, 184, 325, 580, 590, 746. Dathe 214. Davenport, C. B. 183, 414, 736. David 83, 9. Davydoff 607, Day 719, 721, 727. Dean, J. 478. De Candolle, C. 427, 586, 588, 589. Deiters 465, 477, 479, 480. Delages, Yves 38, 39. Denny 461. Despretz 284, 285, 286, 314, 329. Dewitz 461. Dickie 485 Dietrich 777. Dollfus 119. Dorner, G. 663, 664, 665. Driesch, H. 151, 181, 192, 360, 385, 413, 414, 439, 442, 448, 452. Duchartre 427. Dühring 151. Dulong 234, 285, 286, 314, 329. Duncker 183, 718, 720. Dutrochet 164. Dybowsky 520, 521, 523, 524,.521,.928, 932. Ehrenbaum, E. 723. Ehrenberg 467, 468. Ehrmann 265. Eimer, Th. G. .H, 64, 192, Eisig 355, 364. Elfving 68. Eliassow, W. 192. Ellinger, A. 192. Emery 638. Engelmann, 11, 21, 49, 72. Engler, A. 258. Erikson, J. 384. Errera, L. 10, 13, 18, 536. Escherich, K. 179, 638. Ewald, J. R. 666, 667, 682. 683, 684, 685, 689. Falck, R. 384. Faussek, V. 324. Fauvel 119. Fedschenko, A. P. 232. Fick 346, 782. Fielde, A. M. 643. Fischer 273. Fischer, A. 259. Fischer, E. 62, 63, 64, 320. Fischer, H. 173. Fischer, J. v. 743. Fletscher 328, 331. Fontana, F. 466, 467. Forel, v. 121, 192, 193, 194, 195, 196, 197..198, 199, 201, 202, 203, 204, 205, 210, 237, 461, 462, 463, A64, A465, 573, 574, 575, 638, 640, 648, 649, 696. Fraisse 39, 607. Frank 218, 220. Fresenius, G. 62. Frie, A. 700, 703. Friedmann, H. 773, 778. Fritsch 485, 703, 704. Frohmann, J. 192. Fruhwirth, C. 289. Alphabetisches Namenregister. Fuchs, Hugo 320. Fuchs, R. F. 32, 224, 302, 784, 785, 788. Funke 480. Gaetano, Grf. 191. Galeb, O. 232. Galeotti 607. Galton 183, 291, 321, 398, 399, 400, 401, 509, 510, 513.2039. Gamgee 7. Gärtner 131. Gaule, J. 286, 339, 340, 372, 373. Gay-Lussac 283. Gebhard 307. Geoffroy St. Hilaire 102, 188, 301. Gerassimoff 607. Gerlach, J. 474, 478. Giard, Alfr. 38, 39, 40, 362. Giesenhagen 173, 229. Godron 549. Goebel, K. 225 385, 386, 389, 417, 430, 435, 481, 486, 488, 490, 496. 513, 516, 585, 591, 709, ek Rare sp Goethe 59, 102. Goldschmidt, V. 668, 670, 672, 675, 676, 677, 680, 681, 682, 685, 686, 687, Goll, Fr. 478. Goltz 345. Götte 100, 239. Graham 30. Gratiolet 475. Grimm, O. 233. Grobben 239, 322. Groom 627. Groth, P. 779. Grunow 215, 216. Guignard 710. Haacke 186, 248. Haberlandt 18, 170, 171, 172,173, 1745 173,176, 1274, 192; 666, 667, 673, 674, 678, 679, 683, 684, 688. 689. Alphabetisches Namenregister. Häckel 103, 105, 191. Häcker: 400, 406, 606. Haller 239, 262, 276. Hallet 511. Hamilton 120. Hannover 471, 472, 473. Hansen, A. 425, 426. Hanstein 496. Harless 473. Hartmann, E. v. 27, 56, 57. Hassal, A. 471. Hatschek 354. Haviland, G. D. 715. Hedley 254, 265. Hegel 451, 187, 444, 447. Hegler 20, 185. Heider, K. 412, Heim, C. 431. Heincke 183. Heinricher 591. Heinsius 550. Helm 346. Helmholtz 55, 313, 331, 345, 472, 473, 666, 667, 672, 676, 677, 678, 679, 680, 681, 683, 684, 685, 689. Henle 471. Henneguy 607. Hepke 29. Herbst 153, 154, 156, 188, 191, 360. 451, 458, 501. Hering 336, 345. Hermann 328, 329. Hertwig, Gebr. 413. Hertwig, O0. 104, 105, 141, 193 213.1821,.322,.923. Hertwig, R. 758, 759, 761, 464,%.1.02, 109, 1.10, 772. Hertz, H. 25,58, 59,60. Hescheler 240, 272, 273. Hesse 297. Heude, P. 382. Heymons 324. Hielscher 483. Hilbert, P. 192. Hildebrand 435, 436. Hildebrand, F. 777. Hiltner 218, 219, 220, 221, 222.10223. Hofmeister, Fr. 192, 341, 410, 578, 735. Hooker 389. Howard 120, 121, 124. Huber, F. 704. Hubrecht, A. A. W. 407, 408, 704. ihering 263. Ikeda 30. Jacobi 219, 223, 234. Jacobson 471. Jacubowitsch 476. Jaffe, M. 192. Jäger, G. 254. Jakobsohn 30. Janet, Ch. 461, 646. Jennings 49, 51, 191. Jensen 18, Johannsen 422. Jönsson 18. Jost, L. 161. Juel 708, 709. Kaiser 782. Kant 53, 182, 447, 451. Kassowitz 316. Keibel 704. Keissler, K. v. 702. Kennel 366. Kepler 26. Kerner, v. 389. Kirchhoff 55, 56, 58. Kirchmann, J. H. v. 190 Klebahn, H. 258, 260, 261. 630. Klebs 52, 186, 707, 712. Kleinenberg 296, 354. Klercker, Af. 20. Klunzinger, Br. C. B. 717, 719. Knight 163, 165. Kobelt 22, 5264. Kobert 31. Koch, L. 706. Kohl 23, 185. Kölliker 140, 159, 160, 191, 472, 473, 474, 478. Kollmann 309. Korschelt, E. 412. 291 Kowalevski, A. 256. Krabbe und Schwendner 43, 51. Kräpelin 120,121, 123, 127. Krause 378. Krüger, L. 119, 123. Kükenthal, W. 81, 82, 320. Künkel 275. Kupffer, C. v. 475. Kusnetzoff, J. D. 233. Küster 129, 778. Lambert 411. Lämmel, R. 368. Landolt-Börnstein 601, 602, 603, 631. Lang 240, 277, 367. Lang, A. 99. Laplace 368. Lassar-Cohn 192. Laulanie 314, 318,319, 329. Lauterborn, R. 519. Lauth 468, 469. Lavoisier 2833, 284, 316. Lawrow, D. 192. Leche, W. 79. Le Dantes 52. Leeuwenhoek 466. Lendenfeld, R. v. 82, 570. Lenhossek, J. v. 477. Leo, H. 415, 416. Lespes 461. Letulle, M. 192. Leuckart, R. 191, 231, 350. Leunis-Frank 246. Leyden, E. v. 192. Leydig,Fr.149,181,475,476. Lhotäk, Lhota v. 331. Liebig 284. Lillie 452. Lindemann, W. 192. Lindemuth 496, Linden, M. Gräfin v. 62, 320. Lindley 589. Linko, A. 567. Linng 26, 582, 585, 586, 587, 588. Lintner 120. Locke, J. 190. Loeb, J. 10, 279, 282, 348. 192 414, 607, 627, 712, 728, 738, 759, 774. Loew, 0. 733. Lombroso 696. Lopriore 432, 434. Lossen, W. 192. Lotze 25, 26,98, 99, 343,457. Lowe u, Parrott 125. Lubbock 205, 461, 465, 640. Ludloff 13. Ludwig 183, 508, 513. 546. Lukasch 425. 465, Maas 324. Mac Leod 513. Mach, E. 56. 444. Malpighi, M. 190, 466. Marchand, F. 376. Mares, F. 282, 310, 328, Mark 357. Marshall, W. 119, 250, 251, 252, 380. Massart, J. 9, 12, 14, 19, 21, 41,249) 7.52, 65,106, 386, 536. Mattirolo 430. Maupas 328. Mauthner, L. 478. Mayer, Rob. 282, 283, 284, 285, 312,313, 316, 329, 338, 346. Meissner 427. Meldola 36, 37, 38, 40. Melnikoff, N. M. 230. Mendel 129, 130, 131, 132, 134, 135, 136,190. Mendelsohn 14. Metschnikoff 322. Meyer, E. 354, 364. Meyer. H. 192. Michel 296, 297. Mies 379. Migula, W. 190, 259. Minot 328. Miyoshi, M. 259, 705. Möbius, M. 190. Mohl 490. Molisch, H. 702. Möllendorff, v. 264. Monro, A. 466. Moquin-Tandon 148. Morel 696. Morgan, Th. H. 385, 440, 452, 453, 454, 489, 490, 497, 501, 607, 759, 769, 770, Morkowin 607. Moll, J. W. 183, 292, D37, Du: Mortillet 308. Mottier, D. 761, 763. Müller, Berneck v. 30. Müller, C. 432. Müller, Fritz 110, 250, 265, 361, 362. Müller, F. ©. 384. Müller, Hermann 586. Müller, Joh. 468, 469, 470, 721. Müller, Otto 216. Murbeck 708. Murray, J. A. 402, 403. 429, 458, 503, web 505, Näcke, P. 689, 690, 691, 692, 694, 695, 696, 697, 698, 699, 700. Nägeli 57, 105, 290, 321. Narath 690. Nathansohn 712. Nathanson 607. Nauwerck 690, 700. Nawaschin 709, Nemeec 18, 170, 172, 173, 174, 475.4277,,.378: Neumann, E. 192, Newport 181. Newton 26. Nobbe 219, 220, 222, 223. Noll 17, 167, 168, 169, 170, 175, 17721823,..404: Nothnagel, H. 19. Nowak 415, 416. Nusbaum, J. 293. Nussbaum 322, 323, 324, 414, 144, 183, 695, 696, 210,711. Oehlert 247. Alphabetisches Namenregister. Oettingen, A. J. v. 190. Oppenheimer 341. Osborn, H. F. 321. Osterhaut, W. J. W. 761. Ostwald, W. 30, 340, 347, 348, 349, 440, 446, 447, 448, 449, 450, 451, 456, 458, 600. Ostwald, Wolfg. 596, Overton, E. 191, 712. Owsiannikow, Ph. 475, 478. 609. Palestrina 672. Parchappe 380. Parona 362. Parrot 379. Pearl 51. Pearson, K. 34, 35, 36, 37. Pelseneer 138, 139, 239. Pembrey 286, 287. Pere, David 252. Perez 40. Petr. 520, 521, 522, 524, 527, 531, 532. Peschel 245. Pfaundler 415. Pfeffer 18, 19, 21, 43, 161, 164, 168, 170, 177, 178, 186, 248, 266, 314, 315, 334,385,432,450,607, 712. Pfeffer, Georg 718. Pfeiffer 269. Pfister 379. Pflüger 315, 328, 3292. Pfuhl, F. 480. Philippi, R. A. 120. Pieralini 607. Pilsbry 269, 270. Planchon, J._E. 233. Planck 187. Plate 182, 191, 239, 255, 256, 267, 269, 275. Plato 190. Poirault 493. Potts 526, 527. Poulton 571. Prochaska 466. Prowazek 570. Przibram 362, 366. Purkinje = Purkyne. Alphabetisches Namenregister. Purkyne146, 345, 468, 470. Pütter 20. Pythagoras 673. Quetelet183, 291, 447, 509, 510, 513, 539, 547. Quinke 610. Rabes, O. 293. Rabl 324. Raeiborski 434, 486. Rädl, E. 188, 728. Rand, E. 362. Ranvier 351. Rauber, A. 365, 777. Rauschenfels, A. v. 191. Regel, F. 426, 427. Regnault 314, 415. Reh, L. 119. Reibisch, P. 240, 241, 244, 246. Reichenbach, H. 461. Reichenow 254. Reichert 473, 474. Reighard, J. and Jennings, HS: 191: Reil 467. Reinders 30. Reinke, J. 23, 24, 52, 54, 440, 446, 454, A455, 456, 457, 458. Reiset 314, 415. Reissner 478. Reitter 119. Remak 467, 468, 469, 470, AA 412, A775 A479: Rhumbler 610. Richter, R. 190. Ridewood, W. 364. Riehl 187. Riley 120. Ritter 322. Ritter, A. u. Rübsamen, H. 191. Robin 473. Rodewald 54. Roeper 486. Rollet 347. Romanes 209, 210, 291. Rörig 218, 219. Rosen. F. 384. Rosenthal 470. Rosenthal, J. 312, 319, 338. Rosenthal, W. 689. Ross, H. 424, 425. Rossbach, 44. Rossinski, D, M. 554, 557, 570. Rostowzew 493. Rothert 20, 21, 22, 48, 49, 70, 162. Roux 152, 153, 157,221, 299, 459, 460, 784, 786, 787. Rubner, M. 312, 313, 314, 315,316, 317,318,319, 329. Rückert 406. Ruge 607. Rysselberghe, van 21, 67, 68, 536. 154,1 156, 413, 439, Sachs 17, 23, 69, 164, 489, 490, 496, 501, 707, 736. Sadebeck 185, Sala 763. Salkowski, E. 192, 410. Sand, R. 216, 217. Sarasin, F.u.P. 266, 275. Sars, M. 357, Saussure, Th. 736. Schaaffhausen 307. Schaer 31. Schäffer 121. Schaffer, J. 350. Schapiro, J. 97, 137. Scheel 772. Scheele, W. 192. Scheler, M. 190. Schenck 782. Schenk 463. Scherer 316. Schilling, E. G. 475. Schimkewitsch, W. 364, 605. Scehleiermacher, Fr. 190. Schmankewitsch 636. Schmidt, Heinr. 191. Schmidt-Nielsen, S. 408, 409. Schober 164. Schönbein 30. 793 Schopenhauer 187, 189, 300, 444. Schostakowitsch 497, 498, 500. Schreiber, L. 192. Schröder, Br. 60, 61, 62, 216, 701. Schroeder, vand.Kolk 476. Schultze, L. 320, 363, 365. Schultze, Max 479. Schultze, 0, 414. Schulz, E. 296, 360, 362, 363, 364. Schütt 599, Schwann 470, 476. Schwarz 68. Schwarze, W. 384, Schwendener u. Krabbe 43, di. Seegen. J. 415, 416. Seelig, A.192. Seeliger, O0. 367. Selenka, E. 97,298, 303,704. Semper 265, 361, 368. Shibata, K. 705, 706, 708. Siegert, C. Th. 190. Silvestri 717. Simroth, H. 98, 125,144,146, 148, .149,.190,7239, 7262: Sjöstedt, J. 714, 715, 716. Skorikow, A. 8. 551, 557, 561, 565, 568, 570. Smith, J. B. 126. Smitt, F. A. 719, 723. Sokolowsky, A. 282. Solms Laubach 592. Sommer 777. Sömmering 465, 466. Sowinski, W.K. 551, 552, 553. Spencer,Herbert 2, 321,429. Spemann, H. 357, 360. Spengel 239. Spuler, A. 480. Stadler 411. Stahl 18, 20, 47, 51, 66. Standfuss 62, 63, 186, 320. Stannius 350. Starke, J. 536. Stehlin, H. G. 79. 794 Stepanow 532. Stephani 246. Stern, S. 192. Steuer 626, 634. Stieda, L. 465, 467, 469, 470, 471, 475, 476, 477, 478, 480, 700. Stilling, B. 471, 472, Stölzle, R. 159. Stone 167. Strahl 704. Strasburger 400, 707, 710,.711,°713, 703. Strassburger 14. Strodtmann 630. Strubell 256. Süss 242. Thayer, A. H.571, 572, 573. Thiele 239, 255. Thilo, '0. 350, 717, 722. Thoma 69. Tigges 380. Tittmann 488, 492. Tomasini, v. 746. Topinard 305. Tornier 307. Torre, G. M. de la 466. Tower 125. Traxler 532. Treub 69, 708, 709, 713. Treviranus, R. 467. Triepel, H., 780, 781,, 782, 783,784,785,786,787, 788. Tschermak, E. 129, 133, 134, 190, 778. Turgenieff 382. 477. 709, Ueberweg, Fr. 190. Uexküll, v. 195, 574, 575. Valentin, G. 468, 471, 473. Vanderlinden, E. 536. Vävra. V. 703, 704. Verworn 14, 18, 20, 21, 22, 344, 445, 446, 733, 7134, 735, 736. Vierordt 378. 379. Vilmorin, L. 59. Virchow, 308, 309, 776. Viviand-Morel 549. Vöchting 17, 426, 488, 499, 500. Voeltzkow 746. Vogt, J. C. 478. Voit 313, 315. Volkmann, 468, 472, 474. Volta, Alessandro 190. Voltaire 26, 348. Vries, H. de 51, 129, 132, 134, 181, 183, 184, 185, 186, 188, 189, 289, 290, 321, 358, 503, 906,.507, 508, 509, 510, 511, 512, 513, 514, 516, 517,518, 519, 537, 538, 539, 540, 542, 543, 544, 545, 546, 548, 549, 550, 577, 578, 579, 580, 581, 582, 584, 586. 588, 589, 590, 591, 592, 593, 594, 595, 596: Wagner, Adolf 191. Wagner, F. v. 218, 298. Wagner, N. P. 229, 231. Wagner, R. 473, 476, 477. Wakker 394, 395, 396, 397, 417, 418, 426, 427, 488, 491, 492, 496, 501, 502. Walkhoff, O0. 298, 704. Wallace 3. Wallach 471. Waller 67. Ward,.H:}B. 551 Wasmann, E. 193, 194, 197, 201,, 3835, 313, 979,640, 644, 645, 646, 649, 650, 653, 654, 656, 659, 660, 661, 662, 714. Wassilieff, A. 758. Webber 16, 136. Weber 15, 256. Weber, Ed. 782. Weber, E. H. 345. Weber, M. 530, 531. Weber van Bosse, A. 530, 531. Weisbach 378. Weismann, A. 1, 2,3, 4, 5,.6.,7, 98, 99, 100,101, 105, 106, 107, 108, 110, Alphabetisches Namenregister. 139, 152, 153, 194, 155, 156, 157, 186, 192, 202, 320, 321, 322, 324, 327, 358,365,366,398,399, 401, 405,406,407,661,776, 777. Weiss, O. 192. Weld 201. Weldon 183. Weltner 519, 522, 528. Werner, F. 363, 738. Wesenberg-Lund 635. Wettstein, v. 389. Wheeler 646. Whitman 357. Wickham Legg 7. Wierzejsky 523, 532. Wiesner 12, 73. Wigand, 57, 182, 184. Wildenow 578. Will 473. Wille, N. 257. Williams Stephen 718, 726. Wilms 360. Wilson, E. B. 253, 354, 355, 356, 357, 402, 408, 760, 767, 760, 770. Winkler 435, 438, 482, 710, 712. Winogradsky, S. 257, 258, 259, 260, 262. Wolff, C. F. 406. Wolff, G. 57, 441, 458. Woodward, M. 273. Yersin 195. Zacharias, O. 173, 215, 216, .535, '608,'665, ‘666, 700, "701, 704, 191, 480. Zander, R. 192. Zernow, S. A. 560, 564,565, 966, 567, 568, 569, 570. Ziegler, E. H. 217, 218, 446, 607. Zimmer, C. 565, 568, 570. Zittel, K. A. 723. Zschocke, F. 190. Zschokke 634. Zykoff, W. 60, 229. Zykow, W.P. 563. Alphabetisches Sachregister. Abstammungslehre 159, 182, 217, 582. Adventivblätter 483. Aethereinwirkung auf Pflanzen 422. Afrika 714. Afterflosse 721. Afteröffnung 294. Agglutination 223. Akkomodation des Gehörorganes 685. Aldehydgruppe 733. Algen 700. Algier 638. Ameisen 4, 193, 461, 573, 640. Amidogruppen 733. Amikalselektion 656. Amphibien 383. Amphimixis 776. Amphiogenie 137. Anastase 361. Anatomie 350, 689, physikalische 780. Anomalien, taxinome 590. Anordnung 487. Anpassung, funktionelle 221, 225, 226, 246, 262, 298, 631, 644, 655, 722. Anpassung, parallele 590. Anthropomorphen, Unterkiefer der 298. Antipoden 709. Antirrhinum majus striatum 542. Archegoniaten, Organographie 225. Arsenige Säure, Einwirkung auf In- fusorien 216. Artbildung, progressive 589, subpro- gressive 590, retrogressive 590, de- gressive 590. Arten, elementare 588. Arten, Entstehung der, siehe Mutations- theorie. Arthropoden, 728. Atavismus 362, 516, 544, 583, 588, 90,5% Atmungs-Gasaustausch 329. Ausläuferblätter 392. Autolyse 408. Autonomie der Lebensvorgänge 154, 442. Axenceylinder 469. Axencylinderfortsatz 479. Bakterien 257, 408. Bastarde 129. Batrachier 737. Bauchflosse 724. Befruchtung 104, 129, 140, 278, 706, 759, 773. Beggiatoa 257. Begonia 426. Bienen 193, 200. Bilanz, energetische 335. Biogen 733. Blätter als Reproduktionsorgane 359, Regenerati»n der 432. Blattspreite 481. Blüte 227, 430. Borstenfollikel 297. Brutpflegeinstinkt 656. Bryophyllum 394. 796 Buitenzorg 383. Buntblätterigkeit 548. Capsella Heegeri 592. Cardamine pratensis 425. Carterius Stepanowi Dyb. 520. Centrosomen 759. Chromosomen 761, 773, 778. Ohrysanthemum segetum plenum 546. Cikaden-Schleim 608. Crustaceen 551, 702. Uyclamen persicum 435. Uystoopsis acipenseri 229. Darmmuskulatur 297. Darwinismus 447. Degenerationszeichen 689. Descendenzlehre 159, 182, 217, 582. Determinanten 777. Diatomeen 215. Dimorphismus, sexueller 36. Dissonanz 667. Dominante (musikalisch) 671. Dominanten 24, 455. Drehreaktion 728. Ei 414, 758, 773. Eidechsen 743. Eihüllen 414. Ektoderm 294. Ektoparasitismus 653. Elbe 703. Elastizität der Gewebe 782. Elementarorganismus 53. Elementestandpunkt 284, 310. Embryologie, vergleichende 412, 605. Embryonalentwicklung 360, 412, 605. Embryonalzellen 141, 428, 605. Enchytraeiden 292. Endosperm 705. Energetik 346, 446. Energie 25, 55, 282, 310, 328, 733. Euergiepotential 330. Energieprinzip in der Physiologie 282, 310, 328. Energievorgänge 448. Energiewechsel 312, 328. Entwicklung 108, 360, 413, 605, 705, des Unterkiefers 298. Sachregister. Entwicklungsgeschichte, vergleichende 412, 605, 705. Entwicklungsmechanik 152, 298, 360, 413, 605, 722, 758, 773, 784. Entwicklungsphysiologie 151, 298, 360, 413, 605, 705, 758, 773, 784. Enzyme 340, 408, 502. Epigenese 413. Erfahrung 348. Ergrünung der Gewässer 700. Ernährung 508. Erregung 12. Evertebraten 551, 554, 557. Evolutionsfaktor 108. Farbensinn 687. Farbenwahrnehmung 686. Farne 388, 431, 503. Faserverlauf 476. Fauna 87, 383. Fermente, anorganische 30, —= Enzyme 340. Festigkeit der Gewebe 783. Fidschiinseln 82. Filaria medinensis 232. Fische 251, 717. Flachfische 719. Flosse 721. Flossenträger 721. Fluchtreflex 464. Flunder 726. Formativreize 153. Formenkreis 589. Formwiderstand 600, 605. Fortpflanzung 100, 103. Fortpflanzungsorgane der Pflanzen 228, 229. Frauenhofer’sche Linien 686. Froschlurche 745. Ganglien 474, Ganglienkugel 471. Gartenvarietät 537, 577. Gastropoden, Entstehung der 239, 272. Gastverhältnis 640. Gasvakuolen 257, 611, 630. Gefühlssinn 750. Gehörssinn 746. Gelenksmechanik 350. Geoästhesie 163. Sachregister. Geologie d. Fidschiinseln 82, Geotropismus 739. Geruchssinn 747. Geschlechtsorgane 239, 240, 277. Geschlechtsreife 750. Geschlechtszellen 101, 321,353, 398, 414. Geschmackssinn 747. Gesetz der Komplikation 668. Gesichtssinn 741. Gewebsbildung und Beanspruchung 785. Gleichgewichte 445. Größenverhältnisse bei Reptilien und Batrachiern 750. Halbrassen 508, 539, 579, Harmonie 670. Hauptflächen 668. Heimkehrfähigkeit der Ameisen und Bienen 193, 234, 573. Heliotropismus 737. Hering 408. Hermaphroditismus 97, 136. Herz 691. Hinterdarm 294. Hirngewicht 376. Homophonie 679. Hörtheorie 666. Hybriden 129. Hydrotropismus 740. Hypertrophie, dimensionale 784. Immunität 219. Infektion bei Pflanzen 219. Infusorien, Einwirkung der arsenigen Säure auf 216, Vorkommen im Ci- kaden-Schleim 608. Insekten 384, 728, Nervensystem 179. Interferenzen 65. Intermittenzton 632. Karyokinesis 605, 707. Katalyse 30. Keimpflanzen, Regeneration 435, 481. Keimzellen 414, Kern 761. Kinnbildung 306, Klang 666. Knöllchenbakterien 219. Knollenbildung 501. Knospung 360, 489. 797 Kohlensäurebildung 285, 328. Kolloide 30. Kombinationston 676. Kommensalismus 656. Komplikation, Gesetz der 669. Konsonanz 667. Korallriffe 82. Körpergröße, Beeinflussung durch die Nahrung 754. Korrelation 421. Kratt?25. Krokodile 742. Kıystalle 444, 668, 779. Kukuksspeichel 608. Kulturpflanzen, landwirtschaftliche 289. Lantermann’sche Einschnürung 469. Leben, kontinuierliches 239, 262. Lebensdauer 97, 753. Lebenskraft, 338. Leber 692. Leitung 13. Leitungsbahnen 420. Lichtreaktionen 728. Linaria vulgaris peloria 577. Lokalvariation 636. Lungenlappen 690. Lurche 745. Magnesium, Einfluss auf die Zelltei- lung 767. Markscheide 470. Maschinenbedingungen 26. Maschinentheorie 439. Massenvermehrung 108. Mechanismus 23, 52, 346, 445. Mensch, Unterkiefer des 298, Hirn- gewicht 376. Metalle, kolloidale 30. Metaplasien, ontogenetische 787. Mikroorganismen 700. Milz 691. Mimikry 250, 570. Minderwertigkeit 697. Mississippi 250. Mitteilungsvermögen d. Bienen 200. Mittelrasse 508, 540. Mittelstrang 179. Mollusken 254, 384. Monotropa 705. 798 Monstruosites taxinomiques 588. Musiktheorie 666. Muskelkontraktion 782. Muskelpotential 331. Muskelthätigkeit 328, 330. Muskulatur 296. Mutationstheorie 181, 289, 505, 537, 577. Myrmecocystus viaticus 640. Myrmecophila 646. Myrmekophilen 638. Nacktschneckenarten 97, 136, 266. Nahrung, Einfluss auf die Körpergröße 754. Nectrum 771. Neigungswinkel 601. Neogenie 361, 364. Neovitalismus 338, 347, 445. Nervenfaser 465. Nervenmark 467. Nervensystem 179, 465, Regeneration des 296. Nervenzelle 465, 479. Nervenreiz 332. Neststoff 199. Niere 692. Nikotin, Einfluss auf die Zellteilung 760. Nymphaea stellata 425. Oberflächengröße 601. Oberflächenspannung 610. Oberflächenwirkung 30. Oberton 666, 676. Oeltropfen 630. Oenothera Lamarckiana 592. Organanlagen 387. Organgewichte, relative 369, 377. Organographie der Pflanzen 225. Ortsbewegung 48. Ostpreußen 6623. Ovocentrum 770. Oxysoma oberthüri Fauvel 640. Paläontologie 246, 262, 717, Paralytiker 689. Parasitismus 649. Parthenogenesis 104, 137, 367, 461, 710, künstliche 758. Partikelkräfte 668. Passer domesticus L. 350. Pelorien 577. Sachregister. Periodicität 518. Peritonaeum 297. Pflanzen, altertümliche 246. Phototropismus 729. Phylogenese 362. Physik, allgemeine des Plankton 597. Physiologie, Verhältnis zur Psycho- logie 344. Plankton 60, 533, 535, 551, 596, 609, 7015..203: Planktonbewegung 617. Planktonphysik 597. Plantago lanceolata ramosa 544. Pleurotomarien 272. Polarisation d. Fußspur 197. Polarität 488. Polkernverschmelzung 708. Polyphonie 679. Potamoplankton 551. Präformation 413. Prämutation 593. Prämutationsperiode 593. Prävalenzregel 130. Primärflächen 668. Primitivband 469. Protoplasmaenergie 733. Protoplasmafortsatz 479. Psyche 28, 573. Psychologie 195, 196, 314, 464, 573, 688. Rana esculenta 369, temporaria 369. Ranunculus bulbosus semiplenus 545. Reaktionen 41, 46, 162, vorbereitende (Tonus) 41, umwandelnde 41, form- bildende 47, motorische 48, chemische 52, Beziehung z. Reiz 51, Beziehung . z. Körper 51, verschiedene 52, Rich- tung, Art, Lokalisation 70, Stärke, Geschwindigkeit 72. Reflexe, nicht nervöse 9, 41,65, Phasen 10, Dauer u. Stärke 12. Reflextheorie 573. Regenerat 361. Regeneration 292, 360, 386, 418, 442, 481. Regeneration hypotypique 362. Reibung, innere 600, 602, 615. Reibungswiderstand, innerer 600. Reize 15, 161, innere 15, unbestimmte 17, äußere 17, mechanische 18, phy- Sachregister. sikalische 19, Nervenreiz 332. Reizperception 161. Reptilien 383, 737. Resonanztheorie 631. Resonatoren 681. Respiratorischer Quotient 285. Rifffauna 87. Rotatorien 559, 702. Russland 551. 161, chemische 21, Sacculina 38. Samenpflanzen, Organ graphie 225. Sauerstoffverbrauch im Körper 285, im Muskel 328. Säugetiere 383. Scenedesmus 528. Schallbildertheorie 683. Schildkröten 742. Schlangen 383, 744. Scholle 717. Schnecken 97, 136, 262. Schwänme 519. Schwanzlurche 745. Schwarzsee 701. Schwebborsten 215. Schwebebedingungen 614. Schwebefähigkeit 598. Schwebungen 667, 676. Schwerereiz 161. Schwerkraft 413, 489. Schwimmen 718. Schwingpole, 240, 241. Schwingungskreis 253. Seeigel 758. Sehschärfe 741. Selektion 109, 182, 507, 511, 656. Simulia 233. Sinkvorgänge 599. Sinneswahrnehmungen 741. Sozialparsitismus 656. Soldatenform (Termiten) 715. Sonorische Region Nordamerikas 252. Spaltung, enzymatische 408. Spaltungsregel 132. Sperling 350. Spermatogenese 414. Sperrschneiden 352. Sperrvorrichtung 350. Spinalganglien 473. 799 Spinalkörper 471. Spongilliden 519, Sporophyli 226, 227, 228. Sprechen 302, 306. Spross 418, 432, 491, 496. Sprungvariation 506. Statistik 368, 377, 591, 689, 750. Steckling 418, Steinaufnahme durch Vögel 223. Steinbutt 726. Stereotropismus 739. Stickstoffumsetzung im Tierkörper 415. Stoffwechsel 285, 312. Strongylocentrotus lividus 759. Strychnin, Einfluss auf die Zellteilung 764. Symbiose 528, 654. Sympathikus 469. Symphilie 640, 654. Symphilieinstinkt 656. Synthese 310, 311. Systematik 582, 714. Tastsinn 749. Teilung 605. Teleologie 343, 439. Temporalvariation 632. Temperatureinfluss auf die Plankton- bewegung 620, auf die Befruchtung 707. Termini, allgemeine 73. Termiten 714. Tiere, altertümliche 247. Tierfärbung 570. Tierverschleppung 119, 533. Tierverbreitung 119, 240, 262, 551, 648, 663, 701, 703. Thiotrix 257. Thorictus forei Wasmann 649. Ton 666. Tonleiter 671. Tonus 41. Trajektorien 303. Trifolium incarnatum quadrifolium 538. Trifolium pratense quinquefolium 539. Tropismen 16, 47, 51, 65, 618, 737. Turbellarien 669. 932, Uebergewicht 599, 610. Umstimmung 396. Ss00 Sachregister. Umwandlungen, qualitative (Reak- Wärmeproduktion 284, 312, 329. tionen) 43, quantitative (Inter-- Wasserbildung im Körper 286. ferenzen) 65. Unterkiefer 298. Urodelen 251. Urohyale 724. Ursache 55. Urzeugung 26, 105. Variabilität 109, 368, 505, 537, 695, meristische 508, transgressive 547. Variation 109, 125, 132, 137, 368, 505, 508, 537, 583, 632,269, Auk- tuierende 507, 510, 582. Vegetationspunkt 428. Veränderlichkeit d. Organismus 339, 368. Verbrennungswärme 310. Vererbung 104, 137, 156, 320, 321, 398, 506, 537, 773, 778, erworbener Eigenschaften 62, 79, 185, 299, 786, eingeshlechtliche 1, 33. Vererbungssubstanz 775, 778. Verknvöcherung des Skelettes 7837. Vermehrung 535. Verteilung, vertikale des Plankton 629. Vertikalwanderung, tägliche 621, jähr- liche 624. Vitalismus 23, 52, 154, 345, 439. Vögel 350, 383. Vorderhornzelle 475. Wachstum 750. Wachstumsgrenze 750. Wellen, laufende 682, stehende 682. Weltanschauung 349. Westchina 252. Winkelbewegung 50. Wirbelsäule 300, 721. Wuchsenzym 502. Würmer 384. Wurzel 418, 421, 489, 491. Xenien 136. Yang-tse-kiang 250. Zahnentwicklung 304, 308. Zehe 350. Zeitfaktor 631. Zellen, somatische 101. Zellkern 761. Zellteilung 758, 605, 707. Zeus 722. Zoogreographie 119, 240, 262, 532, 551, 648, 663, 701, 703. Zoologisches Praktikum, Leitfaden für das 320. Züchtung 289, 658. Zuchtwahl 108, 132, 289, 365, 507, 631, 658. Zufall 57. Zwischenwirt des C'ystoopsis acipenseri 229: Zweckbegriff 56. Zwischenrassen 508. ei AR WH 1887 F 3 = = ie) 15 2 KK R [:=} se ne er hee) va eeie We eren ee n HR Afne enweeee ae re F : ee s k A a en F Ri P 5 - m D 2 x ee re er ner een Sr me nn ne