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Biologisches Centralblatt.

iologisches Gentralblatt,

Unter Mitwirkung

Dr. K. Goebel uud Dr. R. Hertwig

Professoren in München,

herausgegeben

von

Dr. J. Rosenthal,

Professor der Physiologie in Erlangen.

Buntendzwanzisster Band

1905.

Mit go Abbildungen,

Leipzig. Verlag von Georg Thieme.

1905.

Inhaltsübersicht

des fünfundzwanzigsten Bandes.

Or=r0Orieinal; R— Referat.

Seite

Boecker, E. Über das Vorkommen von Limnocodium im Münchner botanischen Garten. O0. . ..x.:, er HRO0D Carlgren, Oskar. Noch einmal Polyparium mbulane Koran. OEL INR 2233

Über die Bedeutung der Flimmerbewegung für den Nahrungstransport bei den Actiniarien und Madreporarien. © 308

Czäpek, Fr. Biochemie der Pflanzen. R . . ! 157 Davenport, ©. B. Statistical Methods with nal N efenintee to Bl variation.e R. . DEREN SH MD Delbrück, M. und Schrohe, nr Here Ce und ale Do Kan ES Deo Carl Über direkte Anpassune Ra nn en. .226 Doflein, F. Beobachtungen an den Weberameisen. (Occophylla smarag- dina.) On. ne a gE

Dutton, J. Everett, Tood ir v und En Guthbert The Congo Floor-Maggot. A bloodsucking Dipterons larva found in the

Congo; Eree; State. I: 2... ..0. BT 431

Ernst, Christian. Einige Beobachtungen an Einstlichen en 0 7

Forel, Aug. Naturwissenschaft oder Köhlerglaube? O0 . . .. . .. 485, 519 Einige biologischen Beobachtungen des Herrn Prof. Dr. E. Göldi

an brasilianischen Ameisen. O . ad

Fruhwirth, © Die Züchtung der ar enatindien Kultunpflansen Reold

Ganglbauer, L.. Die Käfer von Mitteleuropa. R\ . 2. „0.2.0. 0.,271

Gaupp, E. Eckers und Wiedersheims Anatomie des Frosches. R. . . . 271

Goebel, K. Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie. O0. . 65 Goldschmidt, Richard. Amphioxides, Vertreter einer neuen Acranier

Hanne OT ae 235

Gorjanovi6-Kramberger. Der diluviale Mensch von Krapina und sein Verhältnis zum Menschen von Neandertal und Spy. 0 . . . 805

VI Inhaltsübersicht.

i Seite Grassberger, R. und Schattenfroh, A. Über die Beziehungen von Toxin

und-Antitoxin. BR. . ame .. 654 Haberlandt, G. Über den Begriff een in as Tier- ind Planen!

physiologie“., (O7 EEE Er ER ee

Die Sinnesorgane der Elan, De Sr te E30

_ Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter. R . . 580 Hansemann, v. Einige Bemerkungen über die angeblich hete Zeil-

teilungen in bösartigen Geschwülsten. O0 . ee

Hartog, Markus. Die Doppelkraft der sich teilenden Zelle [: Die achro- matische Spindelfigur erläutert durch magnetische „Kraftketten“. 0 387 Heei, G. und. Danziger, GS Alpenlorat ans ver! 528 Heinz, R. Handbuch der experimentellen Pathologie und Ehernkolbeie R 63 ken. Martin, E. Eine biologische Station zu Grönland. O0. . . 558 Hollrung, M Jahresbericht über die Neuerungen und Leistungen auf dem Gebiete der Pflanzenkrankheiten. R . 2 Re Hubert, Jakob. Über die Koloniegründung bei Ada erden. 022%: 2606,2628 en Alexander. Geschlechtsbestimmende Ursachen bei den

Daphniden. O0 . . 529 Iwanoff, E. Untersuchungen über ar ner chebarkeit, von Febsandeh (Ai: briden von Pferden und Zebra. O0 .... 789 James, S. P.and Glen Liston W. A Monograph of the Adophele- Mos- ! quitoesunelndiaraR Euer BE > 5 Jennings, H. S. The Movements and Rbachonz of Menschen el 12 Jordan, Hermann. Einige neuere Arbeiten auf dem Gebiete der „Psycho- logie‘ „wirbelloser.. Theressn Or pe ET en eu ee AT . Kassowitz, Max. Vitalismus. und Teleologie. © .:. 2... 2... 2... 7253 Kienitz-Gerloff, F. Anti-Reinke. O0 .. IR Kranichfeld, Herm. Die Wahrscheinlichkeit der Hrhaltına End, > Konti- nuität günstiger Varianten in der kritischen Periode. O0». . . 657 Kuckuck Pr: Der Strandwanderer., Ar „as a eu Mar HB Lebedinsky, J. Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars. O REP SS ERS ERENTO ER ENETDD Legahn, ERy alebche Che R Dr EEE EEE Lendenfeld, Robert von. Über die ann Ber nbankies. De BA Loeb, der Studies in General Physiology. R . . . . 527 Lotsy, J. P. Die x-Generation und 2 x-Generation. Eine Arbeitshypoene 0 98 Luciani, Luigi. Physiologie des Menschen. R .... 2. 2900 Lucka, Emil. Otto Weininger, sein Werk und seine Persönliiien R . 588 Marcus, Harry. Ein Rachiskern bei Ascariden. O0 . A 479 Mereschkowsky, ©. Über Natur und Ursprung der Om im Pflanzenreiche. 0... . . $ MAR ae Nachtrag zu meiner Akne Über a. and U der Chromatophoren im Pflanzenreiche. O0... ‚Ban 126 14080) Michaelis, L. Die Bindungsgesetze von Toxin und Antitoxin. en IR L.18.2099 Müller, R. Jahrbuch der landwirtschaftlichen Pflanzen- und Tierzüchtung. AR 635 Nagel, W. Handbuch der Physiologie des Menschen. R. . . . . .. . 557 Nencki, Marcellus. ‚Opera omniae. R.... RL EBOS

Oliver, F. W. Über die neuentdeckten Samen der SR 0 . 401 Prandtl, Hans. Reduktion und Karyogamie bei Infusorien. O0... . . 144

Inhaltsübersicht. vI Seite Rädl, Em. Über das Gehör der Insekten. O 1 Reinke, Johann. Philosophie der Botanik. R IL er 329 _ Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Bolt 1%) 433 Retzius, Gustaf. Zur Kenntnis der Entwickelung der Körperformen des Menschen während der fötalen Lebensstufen. R 482 Rosa, Daniel. Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der sen bilität. O0. RN a A 397 Rosenthal, J. Physiologie el Psyahulogie WB ITRIST TOR SE 213. 741 Rössle, Robert. Die Bedeutung der Immunitätsreaktionen für die Ermitte- lung der systematischen Verwandtschaft der Tiere. 0 . 394, 418 Sehillings, €. G. Mit Blitzlicht und Büchse. Neue Beobachtungen und Erlebnisse in der Wildnis inmitten der Tierwelt von Aequatorial- Ostafrika. R ek 464 Schmidt, Heinrich. Das Bisgenetische Grnndiische Ö, N Schneider, Guido. Zur Frage von der Entstehung neuer Arten bei Cestoden. O. ARE 349 Schneider, K. C. Vitalismus. 2 Be leer 00) Grundzüge der vergleichenden Ber chelonie. OF 222225 ,666,1.402 Schröder, Chr. Die Zeichnungsvariabilität von Abraxas grossulariata L. ä (Lep.) zugleich ein Beitrag zur Deszendenztheorie. O0 30 Eine Kritik der Erklärungsversuche der lebhaften Hinterflügel- färbung im Genus Catocala Schr. (Lp.) ©. 51 Schultz, Eugen. Über Verjüngung. O de 465 Schwangart, F. Zur Entwickeltngs he de Ton GO: 721, 777 Semon, Richard. Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. & RA 365 _ Über die Erblichkeit der Tagesperiode. O N TR ea DT Simroth, Heinrich. Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren. O0 . . 216 Abriß der Biologie der Tiere. R. a De 560 Skorikow, A. S. Beobachtungen über das Planklon ne Neal Um 5 Thon, Karel. Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Ed chniden. O tes Walkhoff, O. Studien über die Eninckelarenneehanik de Ben keleien I. Das Femur des Menschen und der Anthropomorphen in seiner funktionellen Gestaltung. AR 182 Wasmann, E. Ursprung und Entwickelung de are hs 2 Mansken. ER AER 2 317 3129,161,1935 256,273 Die moderne ln rd Ei Berner R 159 Wissenschaftliche Beweisführung oder Intoleranz? O0 621 Nochmals zur Frage über die temporär gemischten Kolonien Sn den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen. O0 re. HA Weinberg, Richard. Biologische Faktoren in Staat und eis . BR 548 Weininger, Otto. Geschlecht und Charakter. KR 588 Üben die letzten Dinge. R 588 Wery, Jos@phine. Quelques exp@riences sur Eatraction > ee par lESCHlenres ee a ke as eu, ‚200 Wheeler, William Morton. Some Remarks on Temporary Social Para- sitism and the Phylogeny of Slavery among Ants. O 637

VIII

Inhaltsübersicht.

Wille, N. Über die Schübelerschen Anschauungen in betreff der Verände-

Wolft, Max. Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. O0 . . 679, 691,

rungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. O

Zacharias, Otto. Beobachtungen über das N. von Üeratium

Zierler,

tripos (Müll.) O : s Über eine Wasserblüte von ol minor nd Waller globator, 0) Richtigstellung Die moderne Hydiobiölee an ir erkaltais zu SERenAcht and

Fischerei. ‚Olsen BON Se N LE DE Zur Benachrichtigung . Le Forschungsberichte aus der bielbeischen, Son zu Plön. Pr Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde. R Ad:

F. E. Beiträge über die Differenzierung des Gebisses aus se

der fossilen Suiden. 0

Berichtieung‘. et 9%, 192, 272, "100, 496, Deutscher Ver Fr Horrentlrche Gesundheitspflege. Jahresver-

sammlung in Mannheim .

Seite

561 729

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, )

j >

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwiekelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

XXY. Bd. 1. Januar 1905. 1.

Inhalt: Rädl, Über das Gehör der Insekten. Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa. Zacharias. Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos (Müll.). Schröder, Die Zeiehnungsvariabilität von Abraxas grossulariata L. (Lep.), zugleich ein Beitrag zur Deszendenztheorie.

Über das Gehör der Insekten. (Vorläufige Mitteilung.) Von Dr. Em. Raädl.

Wie oft auch in neuerer Zeit Zweifel über das Hörvermögen der niederen Tiere, insbesondere der Evertebraten ausgesprochen worden ist, immer wurden bestimmte Gruppen der Insekten von diesem Zweifel ausgenommen: von den Heuschrecken und einigen anderen Insektengruppen glaubt jedermann, dass sie ein Gehör haben. Nicht nur zeugt dafür ihre Tonproduktion, welche einen wesentlichen Teil ihrer Lebensäußerungen bildet, sondern es sind auch Sinnesorgane bei ihnen vorhanden, die nach allgemeiner Über- zeugung als Gehörorgan funktionieren sollen. Zwar gibt es kein unzweideutiges Experiment, welches direkt beweisen würde, dass die Sinnesorgane in den Vorderfüßen der Locustiden und im ersten Abdominalsegment der Acridier Gehörorgane sind Graber'!) glaubt im Gegenteil gefunden zu haben, dass die Locustiden auch dann noch hören, wenn ihnen die Vorderfüße weggeschnitten wor- den sind doch lässt der Bau dieser Organe keine andere Deu- tung zu, als die auf Gehörorgane.

1) V. Graber, Die chordotonalen Sinnesorgane und das Gehör der Insekten LE I. Arch. f. wiss. Anat: Bd. 20, 21. 1882.

XXV. 1

Rädl, Über das Gehör der Insekten.

>

Graber hat in der erwähnten Abhandlung versucht, auch an- dere Sinnesorgane der Insekten als Gehörorgan zu deuten. Er hat gefunden, dass dieselben Elemente, welche in den Gehörorganen der Locustiden und Acridier vorkommen, auch bei anderen In- sekten vorhanden sind, nur in einer wesentlich vereinfachten Form; als das Charakteristische und Gemeinsame derselben hat er stark lichtbrechende Körperchen, Gehörstifte betrachtet, welche ım Ge- hörorgan der Locustiden im großer Anzahl und in bestimmter An- ordnung vorkommen, bei anderen Insekten vereinzelt oder in kleineren Gruppen an verschiedenen Körperstellen zerstreut sind. Die mit solchen Stiften versehenen Apparate hat Graber Chor- dotonalorgane genannt, da sie meistens saitenartig im Inneren des Körpers gespannt sind.

Dass die Chordotonalorgane Gehörorgane sind, hat Graber erstens aus ihrer unzweifelhaften Analogie mit den Gehörorganen in den Vorderfüßen der Locustiden geschlossen, zweitens aus der Form dieser Organe, indem sie saitenartig gespannt in leicht be- greiflicher Weise eine Elementarform des CGortisschen Organs der Wirbeltiere (im Sinne der Theorie von Helmholtz) darstellen, drittens aus der Art der Befestigung der Ohordotonalorgane im Körper. Stets sollen sie nämlich nach Graber zwischen zwei solchen Punkten des Integuments ausgespannt sein, die gegen- einander relativ unbeweglich sind, bezw. „die trotz der verschie- denen Lageveränderungen der einzelnen Körperteile stets die gleiche Entfernung von einander haben!). Graber hat auch eine Reihe von Versuchen ausgeführt, welche ihn zu dem Schlusse geführt haben, dass die Insekten wirklich hören und dass ıhr Gehör kein bloßes Tasten ist.

Nach Graber hat die Chordotonalorgane, sofern mir bekannt, nur A. B. Lee untersucht; einmal hat er nachgewiesen ?), dass die von Graber sogenannten poriferen Chordotonalorgane in den Halteren der Dipteren keine chordotonalen, sondern dass es anders gebaute Sinnesorgane sind, und in einer anderen Arbeit?) hat er die Angaben Graber’s über die feine Struktur der „Gehörstifte*“ korrigiert; wie Graber hat auch er angenommen, dass diese Or- gane dem (Gehör dienen. Ich finde nebstdem in der Abhandlung von E. Weinland) in einer Anmerkung die Vermutung ausge- sprochen, dass die Chordotonalorgane in den Schwingern der Dip- teren und wahrscheinlich auch die sonst vorkommenden Chor- dotonalorgane „die Empfindung der verschiedenen Stärke der Zu-

Deize. 1.8.2949:

2) Les balanciers des Dipteres. Rec. Zool. Suisse II, 1885.

3) Bemerkungen über den feineren Bau der Chordotonalorgane. Arch. f. mikr. Auat., 23. Bd., 1883.

4) Über die Schwinger der Dipteren.. Zeitschr. f. wiss. Zool. 51, 1891.

Rädl, Über das Gehör der Insekten. hi}

sammenpressung, welche der verschiedenen Weite der Bewegung des Schwingers nach hinten entspricht, vermitteln könnten“,

Ich habe a priori an der Annahme Graber’s gezweifelt, dass die Chordotonalorgane Gehörorgane sind, habe mich aber nach der anatomischen Untersuchung derselben und nach einer Reihe von Versuchen überzeugt, dass diese Organe wirklich höchstwahrschein- lich dem Gehör dienen, nebstdem jedoch und zwar an den niedrigen Entwickelungsstufen ausschließlich oder vorwiegend Organe des Mantelsinnes sind, analog denjenigen, welche in den Sehnen der Wirbeltiere vorkommen. Folgende Gründe sprechen für diese meine Annahme.

1. Es ist erstens unrichtig die Behauptung Graber’s, dass die Chordotonalorgane zwischen gegeneinander unbeweglichen Punkten der Körperbildung befestigt sind, im Gegenteil, wo immer es mög- lich ist, die chordotonalen Organe mit der nötigen Genauigkeit zu untersuchen, immer sind sie mit dem einen (proximalen) Ende an einem indifferenten Punkt der Körperoberfläche, mit dem distalen Ende jedoch in der nächsten Umgebung der Insertion eines oder mehrerer Muskeln. Ich habe dies an Chordotonalorganen bestätigen können, welche in den Antennen, im Kopfe, in den Rumpfsegmenten, in den Füßen, in den Analanhängen vorkommen.

2. Die Chordotonalorgane können nicht als gespannte, auf irgend einem Ton gestimmte Saiten funktionieren, da sie je nach der Lage des Körperteiles, in dem sie liegen, verschieden stark gespannt sind; es lässt sich namentlich an den durchsichtigen Corethralarven direkt sehen und messen, wie die Chordotonalorgane bald mehr gespannt und verlängert, bald wieder verkürzt werden.

3. Mit Ausnahme der Subgenualorgane, welche ich noch nicht histologisch untersucht habe, kann ich von allen wie immer gebauten Chordotonalorganen behaupten, dass sie an ihren beiden Enden am Chitingerüst befestigt sind und dass der Nerv von der Seite in dieselben eindringt, nicht, wie es Graber dargestellt hat, dass es nebst solchen auch anders gebaute Chordotonalorgane geben solle, welche anstatt der proximalen Befestigung nur ihren Nerv hätten.

4. Die Chordotonalorgane haben einige Ähnlichkeit mit den- jenigen Muskeln, welche besonders ın den Gliedmaßen an Arthro- poden vorkommen und welche an ihrem distalen Ende in eine lange Sehne auslaufen; einige Tatsachen scheinen dafür zu sprechen, dass es direkte Übergänge zwischen solchen Muskeln (und ihren Sehnen) und den Chordotonalorganen gibt.

5. Umsonst habe ich die Chordotonalorgane bei den Myriapoden und den Arachniden gesucht.

6. Die Chordotonalorgane befinden sich auch bei solchen Insekten, für welche das Gehör offenbar gar keine Bedeutung haben kann:

4 Rädl, Über das Gehör der Insekten.

sie sind sehr gut bei den Raupen entwickelt, auch bei den Tor- tricidenraupen, welche während ihres ganzen larvalen Lebens in verschiedenen Früchten eingeschlossen bleiben, sie finden sich ferner in guter Entwickelung auch bei den parasitisch im Inneren anderer Insekten lebenden Puppiparenlarven.

7. Es fallen alle Versuche negativ aus, durch welche man be- weisen wollte, dass die Insekten (die zirpenden nicht ausgenommen) auf reine und einfache Töne reagieren, es ist aber mehr oder weniger leicht, bei den Insekten Reaktionen auf solche Geräusche hervorgerufen, welche wir „fühlen“ können. Namentlich die Töne, weiche dem. Zirpen der Heuschrecken ähnlich sind und durch das Reiben einer Feile an einem Grashalm oder an einem Eisen- oder (Glasstäbchen hervorgebracht werden, sind wirkungsvoll. Die Re- aktionen an dem Tier sind kein Tasten, denn die Reaktionen auf die Berührung fallen anders aus!).

8. Es lässt sich kein Anhalt dafür finden, dass die Töne oder Geräusche auf die Insekten irgendwie orientierend wirken. Das Zirpen scheint mehr der Ausdruck der inneren Zustände des Tieres zu sein (wie das Singen der Vögel) als ein Anlocken der Weibchen durch die Männchen.

9. Alle diese Tatsachen weisen darauf hin, dass der Gehörsinn bei den Insekten vorhanden ist, wohl aber viel einfacher entwickelt als bei den höheren Wirbeltieren. Seine anatomischen wie physio- logischen Grundlagen sind jedoch .nicht in den Tastorganen und Berührungsreizen zu suchen, sondern anatomisch in den Sinnesorganen, welche die Muskeltätigkeit registrieren und physiologisch in den Gemeingefühlen. Das Gehör der Insekten ist ein verfeinertes Muskelgefühl.

Vielleicht wird sich diese Schlussfolgerung auch auf das Gehör der Wirbeltiere erweitern lassen, ich glaube wenigstens, dass da- durch viele Erscheinungen ihrer Erklärung genähert würden, so die große Bedeutung, aldi das Gehör (die Sprache und die Musik) für das innere Leben des Menschen hat, die Tatsache ferner, dass man sich durch das Gehör nur mangelhaft, ım Raume nein: und endlich der anatomische Zusammenhang zwischen dem eigent- lichen Gehörorgan und den halbzirkelförmigen Kanälen, indem die letzteren die Spannung der Muskeln so sehr beeinflussen, das erstere wieder seiner histologischen Verwandtschaft nach mit den Sinnesorganen in den Muskeln zusammenhängt.

Wohl wird man aber vor das Problem gestellt, auch bei an- deren Evertebraten ein ähnliches inneres Sinnesorgan in den

1) Es ist viel Verwirrung durch die Unbestimmtheit angestellt worden, mit welcher man die Worte Tasten, Tastorgan anwendet. Das „Fühlen“ (Gemeingefühle) ist physiologisch wie histologisch etwas ganz anderes als das Tasten.

Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa. 5

Muskeln oder in deren Nähe anzugeben, wie es die Chordotonal- organe der Insekten sind. Bis jetzt habe ich umsonst nach solchen Organen bei Krustazeen gesucht, es sei denn, dass man als solche innere Sinnesorgane die kompliziert verlaufenden Fasern wird be- trachten können, welche sich z. B. ın den Basalgliedern der Ruder- antennen bei den Oladoceren und einigen Gopepoden finden; es ist mir jedoch bis jetzt nicht einmal gelungen, die Innervation dieser Fasern zu ermitteln. [73]

Beobachtungen über das Plankton der Newa. Von A. S. Skorikow (St. Petersburg.)

Die Newa schien mir in der Beziehung sehr interessant zu sein, dass dieser Fluss nach seinem hydrologischen Charakter als typisch „lakustrer“ Fluss allgemein anerkannt wird, und, indem ich an die Untersuchung des Newaplanktons ging, hoffte ich aufzu- klären, in welchem Maße die hydrologischen Eigentümlichkeiten des Flusses auf die Zusammensetzung seines Planktons einwirken. Meine ersten Planktonuntersuchungen begannen am 18. Juli (alt. St.) 1902 und waren am 5. September beendigt. Während dieser Zeit gelang es mir, genügend vollständig sowohl die Zusammensetzung des Planktons in der gegebenen Jahreszeit, wie auch im allgemeinen dessen Verhältnis zum Plankton des Ladogasees und eines von den Hauptnebenflüssen der Newa der Tosna aufzuklären. Die Re- sultate meiner Sommerbeobachtungen sind schon in meiner Arbeit: „Über das Sommerplankton der Newa und aus einem Teile des Ladogasees“!) veröffentlicht worden.

Diese Beobachtungen zeigten, dass das Newaplankton über- haupt von besonderem Interesse ist und eine große Wichtigkeit für die Theorie des „Potamoplanktons“ hat, und es schien mir deswegen höchst wünschenswert, meine Beobachtungen auch auf die kältere Jahreszeit auszubreiten, um jenen Veränderungen, die der Winter in dem Leben des Flusses hervorruft, nachzuforschen. Unter diesen Umständen habe ich: mich an die Gesellschaft der Naturforscher zu Charkow gewandt mit der Bitte, diese etwas kostspieligeren Untersuchungen zu unterstützen. Die Gesellschaft hielt es für mög- lich, die für die Belohnung eines Gehilfen und eines Arbeiters, der bei den schwierigen Fängen unter dem Eise auch unbedingt not- wendig war, nötigen Summen mir zu bewilligen, und, da auf diese Weise die Beendigung meiner angefangenen Arbeit vollständig von der erwähnten mir seitens der Gesellschaft zuerteilten Hilfe abhängt,

1) Diese Zeitschr. Bd. XXVI, 1904, Nr. 11—12, p. 353—391.

>

6b Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa.

halte ich es für eine angenehme Pflicht, der Charkowschen Ge- sellschaft der Naturforscher meinen innigsten Dank hiermit auszu- sprechen.

Vom 3. Oktober 1902 an erneuerte ich die Planktonfänge in der Newa und sie wurden mit wenigen Ausnahmen alle 5—8 Tage bis zum 4. Mai 1903, als schon der Frühling in dem Flusse eingetreten war, vorgenommen.

Während der beinahe monatelangen Unterbrechung in den Planktonfängen (vom 5. September bis zum 3. Oktober), war das Leben im Flusse stark gesunken. Am besten werden die aufge- tretenen Veränderungen ersichtlich, wenn wir sie mit den Resul- taten der Sommerfänge vergleichen. Vollständiger sind sie in der „l. Tabelle der Periodizität im Leben des Rotatorienplanktons der Newa in den Sommermonaten“ in meiner russischen gleich der vorliegenden betitelten und bald erscheinenden Arbeit!) zusammen- gestellt.

In den während der Monate Juli und August und teilweise auch im September vorgenommenen Fängen nehmen in quantitativer Hinsicht folgende Arten den Hauptplatz ein: Gastropus stylifer, Polyarthra platyptera, Synchaeta stylata und Anuraea cochlearis,; in geringerer Menge, aber beinahe ebenso beständig, kamen vor: Floseularia pelagica, Notholca longispina, Synchaeta grandıs, Anapus testudo und Coelopus porecellus; in kleiner Quantität aber häufig genug wurden Kuchlanis oropha, Ploesoma truncatum und Mastigocerca minima gefangen. Zu den angeführten Rotatorien können in den einzelnen Planktonproben noch 7—9 Arten, die sporadisch in sehr geringer Quantität und ganz vereinzelt vorkamen, hinzugerechnet werden; ein gewisser Teil dieser Arten kommt wahrscheinlich im Newaplankton als ganz zufälliges Element vor.

Selbst die Quantität der beständigen Planktonelemente bleibt während der Sommermonate nicht immer beständig dieselbe. Einer- seits kann man eine allgemeine und allmähliche Verminderung der Ro- tatorıienanzahl gegen das Ende der angegebenen Periode beobachten, sehr ersichtlich ist diese Verminderung bei Polyarthra platyptera und besonders bei Synchaeta stylata. Andererseits erscheinen auch mit der vorschreitenden Jahreszeit in immer größeren und größeren Mengen die Notholca acuminata und besonders Synchaeta vorax.

Schon die ersten Oktoberfänge zeigten, dass der Herbst sich in der Beziehung im Leben des Flusses bemerkbar machte, dass eine allgemeine Lebensverminderung eintrat. Einige von den im Sommerplankton sehr häufigen Rotatorien, wie Synchaeta stylata,

1) „Irudy‘“ d. Gesellsch. d. Naturforsch. zu Charkow. 1904. Dieser Arbeit ist auch eine Liste aller während der Untersuchungsperiode in der Newa gefundenen Organismen beigelegt.

Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa.

_

Gastropus stylifer, Floscularia pelagica waren aus dem Plankton ver- schwunden, die anderen (Polyarthra platyptera, Synchaeta grandis) waren in ihm selten geworden. Nur Synchaeta vorax hat sich stark vermehrt und ist zu einer im Plankton dominierenden und die ausgefallenen Elemente substituierenden Form geworden. Stark - vermindert war auch die Anzahl der Algen und beinahe vollständig verschwunden waren die Krustazeen. Die nunmehr nicht selten vorkommenden Panzerteile der Krustazeen und der überhaupt an- gewachsene Tier- und Pflanzendetritus verwiesen noch mehr dar- auf, dass in dem Flusse in dieser Jahreszeit der Tod überhaupt über das Leben die Oberhand gewinnt. Dies ist auch gut begreif- lich, wenn wir das in Betracht ziehen, dass die Temperatur, ein überhaupt für das Planktonleben höchst wichtiger Faktor während jenes Monats, als meine Planktonfänge ausblieben, sehr beträchtlich gesunken war. So war die Temperatur der Oberschichten der Newa nach den Beobachtungen mit einem einfachen, auf keine besondere Präzision Anspruch machenden Thermometer, am 5. Sep- tember + 8,5° R., wogegen sie am 3. Oktober auf + R., und gegen das Ende. des Or bis auf + 0,5° R. gesunken war.

In den weiteren Proben sehen wir, dass derselbe Prozess noch weiter in derselben Richtung vorschreitet. Einerseits sehen wir, dass die Abnahme der Rotatorienanzahl immer weiter geht, so ver- schwand nach dem 10. Oktober Synchaeta grandis, nach dem 3. No- vember Polyarthra platyptera vollständig. Andererseits aber ver- größerte sich die Anzahl von Synchaeta vorax stetig und erreichte am 18. Oktober ihr Maximum, welches besonders ersichtlich dank der geringen Anzahl anderer Rotatorienarten ıst. Am 25. Oktober begann auf der Newa nachts das Ladogaeis hinab zu treiben; den 27. erschien es in nicht sehr großer Menge ın St. Petersburg; dank seiner Anhäufung an den Brücken bildeten sich große Eisflächen, welche die Schiffahrt jedoch nicht unterbrachen. Den Tag über war das Eis den Fluss weiter hinabgetrieben und verschw nd aus Petersburg.

Hier muss noch bemerkt werden, dass die Newa ım Winter nicht von ihrem eigenen Eise, sondern von dem aus dem Ladogasee hin- getriebenen bedeckt wird, deswegen also soll die Newa nach dem Ausdruck einiger Autoren nicht „einfrieren“, sondern „vom Eise gespeert“ werden. Dank der großen Stromgeschwindigkeit des Flusses wird der südliche, seichtere Teil des Ladogasees früher vom Eise bedeckt, als die Newa selbst einfrieren kann, es geschieht dies gewöhnlich Anfang November oder manchmal Ende Oktober beı einer Lufttemperatur von ungefähr 5’R. Die auf diese Weise entstandene dünne Eisschicht wird leicht von dem Winde zerbrochen und von der Newa hinausgeführt und so bildet sich auf diesem Flusse der Herbsteisgang, der aber nicht sehr lange dauert. Manchmal ge-

5 Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa.

schieht es zwei- oder sogar dreimal (das letztere zwar selten) in demselben Herbste. Von einer festeren Eisschicht wird der See erst später bedeckt, wenn die Fröste stärker werden, sein mittlerer Teil aber friert nur sehr selten zu. Das aus dem Ladogasee ge- kommene Eis sperrt nun die Newa vollständig, indem nur ganz unbedeutende Zwischenräume zwischen den großen zusammenge- frorenen Eisschollen bleiben. Diese Zwischenräume frieren später auch vollständig zu, indem sie allmählich von dem an den Rändern der Eisschollen anwachsenden Eise überzogen werden.

Im Herbste 1902 wurde der Eisgang auf der Newa zweimal beobachtet. Der erste Eisgang, den ich schon oben erwähnte, war unbedeutend und auch von keiner Bedeutung für das Planktonleben, da er das Wasser nur bis auf 0,5°R. abkühlte. Das zweitemal er- schien das Eis am 3. November, und am folgenden Tage ging es schon in dichten Massen. Am 5. November fror der Fluss, da der Frost ziemlich stark war, so fest zu, dass in Petersburg am 8. und 10. November die beiden Pontonbrücken (Palaisbrücke und Troitzky- brücke), die während des Eisganges am Quai entlang lagen, schon wieder eingefahren wurden. Das während dieses zweiten Eisganges erschienene dichte Eis hatte die oberen Wasserschichten des Flusses bis auf abgekühlt, dennoch unterschied sich die zu dieser Zeit zwischen den schwimmenden Eisschollen genommene Planktonprobe sehr wenig von der vorhergehenden.

Der nächstfolgende, besonders vom Eisbrecher aus an der Börsenbrücke an einer noch nicht gefrorenen Stelle am 10. No- vember gemachte Planktonfang ergab schon sehr kärgliche Resul- tate: es wurden unter den wenigen Algen nur drei durch geringe Individuenanzahl repräsentierte Rotatorienarten, einige Copepoden und eine Chironomus-Larve gefangen. Wie es mit dem Plankton- leben weiter ging, kann auf der beiliegenden Periodizitätstabelle verfolgt werden. Ich werde hier nur erwähnen, dass am 19. No- vember unser freier Raum zwischen den Eisschollen, wo wir früher gefischt hatten, zugefroren war und wir ein Loch in die Eisdecke durchzuschlagen genötigt waren; dieses Loch wurde auch jedesmal einige Stunden vor dem Planktonfange erneuert. Das quantitative Planktonnetz von Apstein wurde an einer langen Leine in die tieferen Wasserschichten heruntergelassen; die Tiefe des Plankton- fanges zu bestimmen ist jedoch unmöglich, da die ungemein starke Strömung das Netz bedeutend stromabwärts zog.

Je näher der Winter kam, desto stärker und stärker verminderte sich die Organısmenmenge ım Plankton, und sogar die Synchaeta vorax augenscheinlich eine speziell für den Herbst typische Form wurde so selten, dass man sie gewöhnlich nur in wenigen Exem- plaren ın jeder Planktonprobe fing.

Es hörte jedoch sogar während der ungünstigsten Jahreszeit

Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa. 3)

das Leben in den Wasserschichten der Newa nicht vollständig auf. Das Lebensminimum fällt auf Ende Dezember und auf die erste Hälfte des Januars.

Die Periodizität im Leben des Planktons ist noch nicht gut genug erforscht; es scheint, dass überhaupt das Meer und Schwinden Anmran Arten bedeutend nach den Jahren varıert, was noch mehr das Vergleichen dieser Angaben erschwert. je den Seen Deutschlands wird das Plankton im Winter bedeutend ärmer, stirbt aber doch nicht vollkommen aus. Sein Minimum fällt (im Plönersee) auf Ende Februar und auf den größten Teil des März (n. St.). In den Flüssen sind diese Erscheinungen noch weniger erforscht worden. Soviel mir bekannt ist, wird das Plankton- leben in den Flüssen Mitteleuropas im Winter nicht unterbrochen, sondern stark vermindert. Am wenigsten ist das Plankton quan- titativ und qualitativ in der Oder!) im Oktober bis Dezember (n. St.) entwickelt. In dem Flusse Schoschma fällt das Planktonminimum auf den März (alt. St.)?); zu dieser Zeit (16. Ill. 1899) fand Sernow in diesem Flusse von den Rotatorien nur Synchaeta sp. Nach den Untersuchungen von Zykoff?), enthielt die Januar-Planktonprobe (5. I. 1905) aus der Wolga auch sehr wenig an Tieren, nämlich nur 6 Arten Rotatorien.

Wenn wir nun diese Angaben mit der Periode der schwächsten Lebensentwickelung in der ee vergleichen, so werden wir be- merken, dass sie eine Mittelstufe zwischen dem Plöner- und dem Schoschmaplankton bildet, was auch vollkommen der geographischen Lage des von uns untersuchten Flusses entspricht.

Von Januar an tritt in das Plankton ein neues, aber beständiges Element Notholca striata -—- auf; dieses Rädertier verändert eb das Bild nur unbedeutend, da es nur in geringer Anzahl auftritt. Zu den Wintererscheinungen im Plankton muss noch ein starkes Anwachsen von Krustazeenlarven und von Tintinnidium fluniatile, wie auch die verhältnismäßig bedeutende Mannigfaltigkeit an In- fusorien gezählt werden.

Noch hält der Winter die ganze Natur in seinen starren Fesseln, wenn unter dem Eise schon ganz unerwartet das Er- scheinen von immer neuen und neuen Tierformen bemerkbar wird. Besonders deutlich wird diese Erscheinung aber im Februar

und März.

1) ©. Zimmer. Das tierische Plankton der Oder. Forsch.-Ber. Biol. Station Plön. T. 7, 1899, p. 1—14.

2) 8. Sernow. Notizen über das tierische Plankton der Flüsse Schoschma und Wjatka. Isvest. Obschtsch. Ljab. Estestw. Moscau, Zool. Abt. Bd. III, Nr. 2, LIOTL LT SD:

3) W. Zykoff. Bemerkung über das Winterplankton der Wolga bei Saratow. Zool. Anz. Bd. XXVI, 1903, Nr. 703, p. 544—546.

10 Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa.

Die im Februar erscheinenden Rotatorien können aber den im März erscheinenden nicht gleichgestellt werden. Die ersteren sind von einem unbestimmten Charakter und ıch bin nicht imstande, ihren Ursprungsort anzugeben. Die aber im März erscheinenden neuen, wenn auch nicht zu lange ausdauernden Planktonelemente stellen einen ziemlich gut ausgeprägten Formenkomplex vor, welches in 2 Gruppen zerfällt. In die erste Gruppe werden wir Pterodina patina, Synchaeta pectinata und Triarthra longiseta unterbringen alles Arten, die dem Newaplankton nicht eigen und wahrscheinlich dem Flusse aus ihren Zuflüssen zugebracht sind. Aus den späteren Planktonproben werden wir dieser Gruppe noch Dinocharis tetractis, Anuraea aculeata und Asplanchna brightwelli beifügen.

Eine andere scharf ausgeprägte Gruppe bilden:

(allidina elegans Adineta oculata Rotifer vulgarts Diglena grandis. Adineta gractlis

Diese Forınen sind alle, wie speziell dazu ausgewählt, typische Bodenformen und gehören keinenfalls dem Plankton an. Es ge- sellen sich ihnen noch in geringer Quantität freilebende Nematoden hinzu.

Das Erschemen von Repräsentanten der Phelodinidae und Notommatidae ım Plankton, wie auch der verschiedensten Nematoden und Insektenlarven, mit einem Worte, dem Plankton vollständig fremder Elemente, wird ın den Flüssen während der Zeit der Früh- lingsüberschwemmungen beobachtet, wenn das Schneewasser ın mächtigen Strömen dem Flusse zufließt und eine Unmasse von Schlamm und zugleich auch von verschiedenen Tieren, die im Fluss- plankton sonst nie vorkommen, mit sich bringt. In jedem anderen Flusse würde auf diese Weise das Auftreten solcher dem Plankton fremder Formen gut begreiflich sein, in der Newa aber war diese Erscheinung für uns ganz unerwartet, da dieser Fluss als ein typisch „lakustrer* keine Frühlingsüberschwemmungen hervorruft. Die Fläche des Ladogasees ist so groß, dass das Anwachsen der Wassermenge ım Frühling keinen besonderen Einfluss auf das Wasser- niveau der Newa hat. Zugleich ist aber auch die sich in Bewegung befindende Wassermenge ungeheuer groß ım Verhältnis zur Quan- tıtät des unmittelbar zum Flusse hinzukommenden Schneewassers. Alle diese Betrachtungen lassen uns die Erklärung für die Anwesen- heit ım Plankton einer bedeutenden Anzahl von Bodenformen außer- halb jener Erscheinungen, die im Flusse selbst vorgehen, suchen.

„Der Eisgang beim Aufgehen des Ladogasees!) nimmt seinen Anfang ebenso wie beim Einfrieren zuerst an seiner Südküste

1) Brockhaus u. Efron. Enzyklop. Lexikon. Bd. XVII, 1896, p. 239.

Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa. kal

Ende März oder Anfang April (alt. St.), gleichzeitig mit dem Eis- gange der südlichen Zuflüsse des Sees und mit dem Steigen des erwärmten Wassers; das letztere hat auch einen unmittelbaren Ein- fluss auf den Eisgang der Newa, der stets von seinem Oberlaufe bei Schlüsselburg beginnt. Man beobachtet an diesem Flusse zwei Frühjahrseisgänge: einen eigentlichen Flusseisgang, der nicht zu lange dauert, und einen sehr lange dauernden Ladogaeisgang, der fast nie mit einem Male endet.“

Diesem aus den südlichen seichteren Ladogaseezu- flüssen zuströmenden Wasser, das auf den Eisgang der Newa Einfluss hat, hat, nach unserer Meinung, das Er- scheinen der ihm so fremden Formen im Frühlings- plankton der Newa zu verdanken.

Der allgemeine Gang der Ereignisse im Flusse während des Frühlings scheint diese Meinung zu unterstützen.

Den 22. März war die Newa schon 16 Kilometer von ihrem Ausflusse vom Eise frei, am 29. begann der Eisgang bei St. Peters- burg und am 31. ging das Eis dort schon in dichten Massen. Auf diese Weise fällt der Eisgang, der als ein Resultat der Tätigkeit der südlichen Zuflüsse vom Ladogasee erscheint, mit der Zeit, wo im Newaplankton ın bedeutender Anzahl die Repräsentanten der Philodiniden und Notommatiden beobachtet wurden, zusammen. Es war zwar möglich, dass das Planktonnetz, obgleich es immer auf eine bestimmte Tiefe niedergelassen wurde, zufälligerweise zu nahe an den Flussboden kam, -— um diese Möglichkeit auszuschließen, wurden einige Kontrollversuche unternommen und das Netz dabei in den Oberschichten des Wassers auf eine Tiefe von ungefähr 1 Meter von der Oberfläche niedergelassen. Und dennoch fanden sich in diesen Fängen dieselben Formen, zwar ın einer kleineren Anzahl, vor. In der folgenden Tabelle sehen wir eine typische Zusammensetzung des Frühlingsfanges vom 26. März:

Codonella lacustris Notholca acuminata Tintinnidium fluviatile e triarthroides Stentor roeseli Adineta gracilis Drei andere Infusorienrten 5 oculala Synchaeta vorax Diglena grandis Anuraea cochlearis Krustazeen-Larven Notholca striata Ziemlich große Nematoden 5 1 var. labis Große Oligochäten 2 longispina

Synchaeta vorax und die Krustazeen-Larven herrschen vor; Algen sind auch in großer Menge vorhanden.

Auf diese Weise bringt der Eisgang, der schon zu den Früh- lingserscheinungen unserer Natur gehört, eine temporäre Belebung

1 Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa.

und Vermehrung der Mannigfaltigkeit in das Plankton. Diese Be- lebung entwickelt sich weiter schon auf vollständig natürlichem Wege: es beginnen solche Formen zu erscheinen, die die Annäherung des Sommers verkünden. So erschien den 26. März Notholca acu- minata und ihre Menge begann Tag für Tag immer größer und größer zu werden; in den Maifängen erschienen auch Synchaeta grandis, Anuraea cochlearis, Conochilus unicornis und verschwand das Winterelement des Newaplanktons Notholca striata. End- lich begann Synchaeta vorax, nachdem sie ein zweites Maximum am 27. April hatte, quantitativ in den Hintergrund zu treten.

Wenn wir über die Frühlingserscheinungen im Newaplankton sprechen, so können wir nicht umhin, noch einer Beobachtung zu erwähnen. In der Planktonprobe vom 10. März fällt ein besonderer Reichtum an grünen Algen auf, die schon ın den Februarproben stark an Zahl gewachsen waren, obgleich damals noch die Eisdecke fest war und in den Umgebungen der Stadt die Schneedecke, wenn auch von Wasser durchtränkt, noch unversehrt über dem Eise da lag. Es muss wohl vorausgesetzt werden, dass die Durchsichtig- keit einer solchen Decke nicht zu groß sein konnte, und doch ge- langten dessen ungeachtet ins Wasser schon die für das Gedeihen der Algen so unumgänglich notwendigen Lichtstrahlen und zwar schon in genügender, wenn auch minimaler Menge, und übten ihre belebende Wirkung aus.

Wenn wir in dieser Tatsache den Anfang des Frühlings im Flusse erblicken wollen und zu den ın St. Petersburg regelmäßig vorgenommenen phänologischen Beobachtungen greifen, so werden wir gewahr, dass die von uns beobachtete Erscheinung beinahe vollständig mit der Ankunft der Saatkrähen zusammenfällt, welche von Prof. Kaigorodow!') für den eigentlichen Frühlingsanfang in Petersburg angenommen wird. Die Ankunft dieser Vögel wird in Petersburg normal durchschnittlich am 7. März beobachtet, wurde aber 1903 schon am 19. Februar bemerkt. Es scheint mir, dass alle Frühlingserscheinungen, sowohl im Wasser wie auf dem Lande, von denselben Ursachen abhängend, auch ungefähr gleichzeitig ihren Anfang nehmen.

Jedoch ist der fortschreitende Gang der Temperatur das Hauptelement des Klimas jeder Landschaft —, wegen verschie- dener Wärmekapazität des Wassers und der Luft für diese beiden Elemente verschieden. Wenn wir schon von dem Winter absehen, wo die Wassertemperatur unter dem Eise nur im geringsten Grade schwankt und die ganze Zeit über bleibt, so kann der Unter- schied auf folgende Weise charakterisiert werden: im Frühling

1) D. Kaigorodow. Tagebuch der Petersburger Frühlings- und Herbst- natur für 1888—1897. St. pp. Pbg. 1899, 8°, 137.

Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa. 13

und in der ersten Hälfte des Sommers ist die durchschnittliche Wassertemperatur um einige Grad niedriger und während der übrigen Zeitperiode etwas höher als die Lufttemperatur, wobei von dem Momente des Einfrierens des Flusses diese Differenz noch größer wird. Diese im Verhältnis zur Luft sehr hohe Temperatur in den Wasserschichten des Flusses während des Winters unter- hält jenes Lebensminimum des Flussplanktons, das durch die lebens- zähesten und speziell nur im Winter auftretenden, d. h. nur kaltes Wasser liebenden Formen, wie z. B. Notholca striata und wahr- scheinlich auch Synechaeta vorax, repräsentiert wird.

Während der übrigen Jahreszeiten sind die Differenzen zwischen den Wasser- und Lufttemperaturen nicht so bedeutend. Ziehen wir nun dies in Betracht und nehmen provisorisch die Grenzen der Jahreszeiten so an, wie sie durch langjährige phänologische Beobachtungen für St. Petersburg aufgestellt sind, so sind auf Grund dieser Beobachtungen die durchschnittlichen Jahreszeiten- grenzen wie folgt angegeben:

(Alt. St.) Beginn des Frühlings (Ankommen der Saatkrähen) . . . 7. März 4 Sommers (Abblühen der Syringe) . . . . . 4 Juni 5 ‚„ Herbstes (Gelbwerden des Laubes). . . . . 1. September r » Winters (Einfrieren der Newa) . . . . . .13. November.

Für die von uns untersuchte Periode (1902—1903) wichen die angegebenen Termine sowohl nach der einen wie nach der andern Seite von den mittleren ab und waren tatsächlich an folgenden Tagen beobachtet worden:

Beginn des Herbstes 1902 5. September (4 Tage später als normal) > Winters 1902 4. November (9 Tage früher als normal) n Frühlings 1903 19. Februar (16 Tage früher als normal) in Sommers 1903 10. Juni (6 Tage später als normal).

Versuchen wir jetzt, die Periode unserer Beobachtungen nach den Jahreszeiten einzuteilen, indem wir die angeführten Angaben dieser Einteilung zugrunde legen, und dann wollen wir näher die allgemeinen Veränderungen in Zusammensetzung und Charakter des Planktons untersuchen. Zu diesem Zwecke war von mir eine Tabelle der Periodizität des Rotatorienplanktons in einer etwas gedrungenen Form zusammengestellt. Es sind in ihr die Rotatorien- arten in systematischer Reihenfolge angegeben und durch verschie- dene Zeichen ist ihre maximale Anzahl, die während jedes Monats beobachtet wurde, bezeichnet. Ihre Bedeutung wächst von dem Zeichen *, das nur vereinzeltes Vorkommen der Form angibt, in

folgender Reihenfolge auf: X, +, O, ©, OD, ®.

Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa.

Periodizität im Leben des Rotatorienplanktons der Newa bei St. Petersburg, 1902—1903.

1902 1903 Rotatoria | 5 ae ER ee er = SIR [#8 1S1= [FIR IE [PIE Rotifer vulgaris Schr. ae | Callidina elegans Ehrb. | x = Adineta gracilis Janson |) = * 5; oculata Milne.. . . | Er * 8 Asplanchna priodonta Gosse (Weibehen) IE 33 (Männchen) | = | | 5 briehtwelli Gosse Ele - = » herricki De Guerne Ir = DS i a Conochilus unicornis Rouss. In Pe - F a a er Floscularia pelagica Rouss. DS a ee RN er el "EN # mutabilis Bolt. . I 3 5 proboscidea Ehrb. . Kalt ee a Br CORNUtaaWobIer ee IX | a liberay Zach. a Rey. nr ae | = Synchaeta grandis Zach. Io) EINS 2 * H stylata Wierz. "++ x en vorax Rouss. 1—1X JO!» I0OJO|IX!xIHl DI pectinata Ehrb. |—|— x * Notops pelagicus Jenn. = I ee | | | Notommata collaris Ehrb. | | * Il monopus Jenn. I a le | Proales laurentinus (Jenn.) . I] 12 NE: * vn » petromyzon (Ehrb.) . u 5 ser Diglena grandis Ehrb.. | a Anurea aculeata Ehrb., f. pr. | = 2 ak 5 25 var, brevispina (Gosse) || —| * * * * Ss 15 var. testudo (Ehrb.). * | %* al 2ER x I var. a (Ehrb.) | & —— za es 3 serrulata Ehrb. a I * * ee | N] ar ns cochlearis Gosse, u pr: @ NE © ler x le ee ss var. tecta (Grosse) I ni Notholca longispina (Kellic.) + +1 14 [41 #1 1x] * In | #1 a foliacea Ehrb. . . . a N 1 a a ne I mn 1 55 striata (OÖ. F. Müll.) nn ll N + aa 7 var. Jugosa ((Gosse) es ae «| * | 5 var. labis (Gosse) kt 0 2 EEE ER 1 n acuminata (Ehrb.) IS FA en * * triarthroides Skorikow le gen E * Er: Mastigocerca capucina Wierz. et Zach. | (*) x 2 55 elongata Gosse . BSH IR 1 BL a ar) 53 birostris Mink.. | | ER ei minima Skorikow | * x|*|* BER Coelopus porcellus (xosse xx Ix|* a ee Dinocharis tetractis Ehrb. | g ee * Diaschiza tenuior (Gosse) . | * ur. K ventripes Dix.-Nut. . | *# En. Bor rat em 5 lacinulata (OÖ. F. M.) (1er * * LA Euchlanis oropha (Gosse . IX| * Ban en n deflexa Gosse . I * | * ii ges Er | Sommer | Herbst] Winter | Frühling |

| 1902 1903 Rotatoria VCH LE rar Kar E7 7 = | = h a 4 | Fans = 2ER” a > | | Euchlanis triquetra Ehrb. . . ... . I ®|* | I u | & Pyilormis>Gosse,..y....; © Fern | Er per Golurus eaudatussEhrbr 2... % 1 * 11 |-/— || /—|—1— Metopidia solidus Gose . . - » . . |OIG) 1 - er rhomboides Gose . . . . 1— |) |— || Fer —-|- Cathy pnaslenay Bhrbi); 3%, „er | = | —_ | | Monostyla cornuta Ehrb. var... . . | *| * | - = R, IhinanswEhrbyeere er Be = 1-1 K areuatapBrycess Heu et) eo Pterodina patina Ehrb: 2. eg N ee Folyarthra platyptera Ehrb. . © O1l-+ *]*|- I-|-1—-|- |] - 35 var. euryptera Wi ierz. | | Eee apieranEHoad?y "=... * - 5 I [1 11 Triarthra longisetagEihrh.2 X 22 age || - = * 2 Ploesoma hudsoni (Imh.) . .... | *| * | | as truncatum (Levand) . . . . le | ee Anapus testudo (Lauterb.) -. . . . - IxI *1I* | Fr | a: Gastropus; stylifer, Imh... 2 20... 1 EN | | | al ER Sommer] He | Winler | Frühling |

Wir wollen nun betrachten, was uns diese Tabelle Neues bieten und erklären kann.

Von den 66 in der Tabelle angeführten Rotatorıenformen kann nur die Hälfte (33 Kursiy gedruckte Arten) als mehr oder weniger echte Mitglieder des Newaplanktons gelten. Die anderen Formen gelangten offenbar ın das Newaplankton, nur ganz zufällig, da sie gewöhnlich nur in 1—2 Exemplaren irgend einereinzigen Plankton- probe auftraten. Die der ersten Gruppe von uns zugezählten Arten (und Varietäten) nahmen am Plankton auch nicht alle ganz in ein und demselben Grade Anteil. Die einen von ihnen wurden eine mehr oder weniger lange Zeitperiode im Flusse beobachtet und unterlagen bestimmten quantitativen Veränderungen, indem ihre Anzahl allmählich stieg, dann sich wieder verminderte und sie am Ende gänzlich verschwanden. Nur Notholca longispina konnte un- veränderlich in jeder Probe beobachtet werden, obwohl sie die ganze Zeit nur in geringer und wenig schwankender Anzahl auf- trat. Weiter gehören zu den beständigsten Repräsentanten: Anu- raea cochlearis, dıe ım April ausfiel, und Synchaeta vorax, die im Juli nicht beobachtet wurde. Die anderen Formen nahmen in der Zusammensetzung des Newaplanktons einen geringen Anteil, da sie entweder nur 2—4 Monate lang in den Fängen vorkamen, oder nur ganz sporadisch auf eine kurze Frist und nur wenige Male während der Untersuchungsperiode auftraten. Für diese Rotatorien-

16 Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa.

kategorie ist ein starkes Überwiegen der echten Planktonformen charakteristisch; die Uferformen kommen hier selten vor. Die zweite Kategorie besteht schon, wie oben gesagt, aus Formen, die selten und nur in kleinen Quantitäten vorkommen. Vollständig im Gegensatz zu den ersterwähnten überwiegen hier die typischen Ufer- und Bodenformen. Im allgemeinen haben die beiden Rota- toriengruppen einen ganz verschiedenen und in gewisser Beziehung entgegengesetzten Uharakter.

Die einen wie die anderen Rotatorien kommen im Newa- plankton in keinen beständigen Verhältnissen vor, wie aus dem Folgenden ersichtlich wird:

vr : Echte Zufällig er a en vorkommende

rten = ,

formen Arten IMS Sommers > 27 15 Imsrlerbste:un Kar 222020022 17 5 ImsyVintereg et! 10 4 ImeBrühling: (aan 00:0 2223 12 11

Aus den angeführten Angaben kann man sich eine deutliche Vorstellung über die Veränderungen in der Zusammensetzung des Newaplanktons während verschiedener Jahreszeiten machen. Auch ist der allgemeine Lebensgang in dem Flusse ersichtlich. Im Sommer wird in dem Flusse parallel mit einem bedeutenden faunistischen Reichtum an beständigen Planktonformen auch eine besonders große Anzahl der zufälligen Formen beobachtet. Gegen den Herbst hin sinkt das Planktonleben, „welches jedoch auch wäh- rend des Winters fortwährt; dabei nehmen die zufälligen Elemente, wie es scheint, viel schneller ab als die beständigen. Im Frühling nimmt das Leben im Flusse wieder zu, wobei jetzt, in den oben- erwähnten Jahreszeiten, dem entgegen, einen großen Anteil die zu fälligen Planktonelemente nehmen, die massenhaft gleichzeitig mit dem Schneewasser in die Newa eintreten. Diese Menge der zufälligen Elemente, die dem echten Plankton gar nicht eigen sind, ist für das Frühlingsplankton der Newa, wie auch mehrerer anderen Flüsse, sehr charakteristisch und in die Augen springend.

Es kann auch bemerkt werden, dass die Übergangsperioden zwischen zwei Jahreszeiten, wie die Monate August und März, ein viel mannigfaltigeres Plankton aufweisen als sonst, was, wie es scheint, dadurch erklärt wird, dass während dieser Periode noch nicht alle Formen der zu Ende gehenden Jahreszeit verschwunden sind, dagegen aber auch schon einige Vorläufer der antretenden Jahreszeit erscheinen.

Beiläufig waren von uns einige Beobachtungen über die Zeit der Eiablage der häufigsten Rotatorienarten gemacht worden. Bei Polyarthra platyptera wurde die größte Anzahl eitragender Exem-

Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa. 47

plare am 23. Juli, gerade bei Beginn des Häufigkeitsmaximums dieser Spezies beobachtet. Bei Anuraea cochlearis fiel auch das Maximum ihres Erscheinens im Plankton mit der Zeit der inten- sıvsten Eiablage zusammen, den 5. August erreichte die Anzahl der eitragenden Individuen 30°/,, sodann sank aber die Anzahl sehr rasch und schon nach dem 3. November wurden die eitragenden Individuen gar nicht mehr beobachtet. Die Notholca longispina zeigte ein sehr lange dauerndes und mäßiges Maximum; diese Art wurde die ganze Zeit mit Eiern gefangen, die allergrößte Anzahl fällt aber auf den 18. Oktober, als sie 31°/, erreichte; von Dezember an fanden wir gar keine eitragende Notholca longispina vor und nur Ende April erschienen wieder vereinzelte Exemplare dieses Rädertieres, die Eier trugen. Synchaeta vorax endlich, obgleich sie auch massenhaft im Plankton auftrat, war selten mit Eiern beobachtet worden, wobeı das stets während ıhrer beiden Massen- fänge geschah. Die größte Häufigkeit von eitragenden Individuen überstiegen jedoch bei ihr nicht 7°/, (28. Oktober).

Von faunistischen Eigentümlichkeiten des Newaplanktons muss folgendes hervorgehoben werden: 1. die Menge von Floseularia-, Synchaeta- und Notholca-Arten; 2. das ungewöhnlich schwache Auf- treten von Asplanchna-Arten; 3. die Abwesenheit einer so weit verbreiteten Art wie Triarthra longiseta (nur ein Exemplar, wahr- scheinlich ein zufälliges, war am 18. März gefunden worden); 4. die absolute Abwesenheit der überall (besonders z. B. in der Wolga) so reich repräsentierten Brachionus-Arten; 5. die Anwesenheit einiger amerikanischer Formen (aus den großen Seen Nordamerikas) im Plankton, die zum erstenmal in Europa beobachtet wurden, nämlich: Notops pelagieus, Notommata monopus, Proales laurentinus, wie auch die Anwesenheit von sehr seltenen Formen, wie Polyarthra aptera, Monostyla arcuata und Kuchlanis oropha; 6. das Vorkommen von zwei neuen Arten (Notholca triarthroides und Mastigocera minima), deren Diagnosen hier folgen.

Beschreibung der drei neuen Rotatorienarten.

Floseularia discophora n. Sp.

Körper länglich, konisch, geht allmählich in einen sehr dünnen und langen Fuß, der keine Falten selbst im vollständig ausge- breiteten Zustande bildet, über. An der Körperbasis, wo der Körper an den Fuß grenzt, wird eine diskoidale Erweiterung (wo- her auch die von mir gegebene Artbenennung) und unter ihr eine ringförmige Verdickung beobachtet. Der Körper geht ohne Verengung in ein sehr breites Räderorgan, das aus fünf Lappen besteht, über. Der Dorsallappen ist schmaler und bedeutend länger als die anderen; er ragt wie eine Nase hervor, selbst

XXV. 2

15 Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa.

wenn das Räderorgan kontrahiert ist und erinnert an F. cornula Dobie.

Von dieser Art wurden von mir zuerst im Plankton der Schlüsselburgbucht (Ladogasee) am 16. August 1902 drei Exem- plare gefangen. Später wurde ein Exemplar am 28. August 1902 im Newaplankton bei Petersburg (Kleine Newa) gefunden.

Notholca triarthroides n. Sp.

Die Anwesenheit von drei beweglichen Fortsätzen verleiht dieser Art eine solche Originalität, dass man sie vom Hause aus für einen Repräsentanten eines neuen Rotatoriengenus halten könnte und nur ıhr nach dem Notholca striata-Typus gebauten Rückenschild mit sechs Hörnchen an dem Vorderrande und mit einem ovalen Hinterrande lässt sie mit unbestreitbarer Sicherheit dem Genus Notholca zuzählen. Zwei lange Seitenfortsätze ragen unter dem Rückenschilde von dem Kopfrande ungefähr auf ?/, Körperlänge entfernt hervor; diese Fortsätze sind ziemlich dünn und bogenförmig in der Lateralfläche gebogen; ihre Basıs ıst stark erweitert. Das Rädertier setzt diese Fortsätze ın Be- wegung und springt wie die Triarthra-Arten. Die gebogene Form dieser Fortsätze ist, wie es scheint, eine Anpassung an das Ab- biegen derselben nötigenfalls unter den Rückenschild parallel seinen Rändern. Der unpaare Schwanzfortsatz sitzt an einem breit-koni- schen und, wie es scheint, zweigliedrigen Vorsprunge, der etwas unter dem Rückenschilde hervorragt; dieser Fortsatz ist dünn, spitz und sieht wie ein gerader, etwas nach unten gebogener Dorn aus. Seine Bewegungen habe ich nicht beobachtet.

Die Länge der Seitenfortsätze im gebogenen Zustande ist un- gefähr °/, der Panzerlänge, die Länge des Schwanzfortsatzes unge- fähr !/, derselben gleich.

Ein Exemplar dieser Art wurde von mir im Newaplankton bei St. Petersburg (Kleine Newa) am 26. März 1905 unter dem Eise beobachtet.

Die der eben beschriebenen nächstverwandte Art Notholea bire- mis Ehrb. war bis jetzt nur im Meerwasser beobachtet worden; sie besitzt zwei kurze, bewegliche Seitenfortsätze. Ehrenberg be- schreibt bei ihr auch vier Hörnchen an dem Kopfende. Gosse hat eine von ihm gefundene Form mit denselben Fortsätzen, aber mit sechs Hörnchen, als eine neue Spezies N. spinifera beschrieben. Mir scheint es aber keinem Zweifel zu unterliegen, dass diese Form ein Synonym der zuvor erwähnten N. biremis ist, da an der von Ehrenberg gegebenen Abbildung, wo das Tier im Profil ge- zeichnet ist, ganz klar drei Paar Hörnchen hervortreten, der Unter- schied in ihrer Form aber wohl keine besondere Bedeutung bei so stark varnerenden Formen haben kann.

Skorikow, Beobachtungen über das Plankton der Newa. 19

Mastigocerca minima n. sp.').

Diese Art stellt tatsächlich eine der kleinsten aller Mastigocerca- Arten vor. Ihr Panzer ist in dorso-ventraler Richtung gebogen, verengt sich zu seiner Hinterspitze, wo das kurze konische Fuß- sliedchen als seine unmittelbare Fortsetzung erscheint. Der Finger ist 2—2!/,mal kürzer als der Panzer, zuerst etwas nach unten, dann in demselben Grade nach oben gebogen. Die Panzerform an seinem Vorderende zu untersuchen ist an dem lebendigen Tierchen wegen seiner Kleinheit und großen Beweglichkeit nicht möglich. An dem mit Osmiumsäure getöteten schrumpft das Vorderende immer in Falten zusammen, wie das auch oft bei den anderen Mastigocercen beobachtet wird; weiter aber gehen die Falten an dem freien Rande in große und scharfe Zacken über, was auch für diese Art sehr charakteristisch zu sein scheint. Einige Male gelang es mir, acht solche Zacken zu zählen, wobei sie ziemlich symmetrisch zu vier an jeder Panzerhälfte gelagert waren. Die geringe Größe des Tierchens und die gebogene Form desselben können auch als seine Unterscheidungsmerkmale gelten. Die Länge des Panzers beträgt 0,113 mm, dessen Breite ist an seinem Vorder- ende ungefähr '/, seiner Länge gleich.

Zuerst war von mir diese Art im Newaplankton bei St. Peters- burg gefunden worden, wo sie in kleiner Anzahl im Sommer auf- trat; das letztemal war sie schon vereinzelt am 18. Oktober 1902 angetroffen worden. Sie war auch in geringen Mengen am 16. August 1902 in dem Südteile des Ladogasees gefangen worden und endlich wurde sie von mir auch oft im Plankton der Wolga bei Saratow angetroffen, wo sie ebenfalls in. nicht sehr großen Mengen auftrat. Wenn wir diese Funde in Betracht ziehen, so sind wir berechtigt, zu erwarten, dass nach sorgfältigeren Unter- suchungen diese Art auch weit verbreitet in Russland sein wird.

1) Jennings hat in seiner letzten Arbeit (‚Rotatoria of the United States. II. Monograph of the Rattulidae.“ Bull. U. S. Fish Commission for 1902 [1903], pp. 275—352, pl. I-XV) unsere ganze Nomenklatur der Fam. Rattulidae umgeändert. So z. B. existieren nicht mehr die Benennungen für die Gattungen Mastigocerca und Coelopus, deren Arten wir beständig im Plankton finden. Nun muss (oelopus porcellus Gosse jetzt Diurella porcellus (Gosse) heißen. Zu der- selben Gattung Diurella gehören jetzt noch einige Mastigocerca-Arten. In unserer Arbeit sind folgende Arten dieser Gattung vertreten: Mastigocerca birostris Minx. Diurella stylata (Eyferth); Mastigocerca minima Skorikow= Diurella rousseleti (Voigt), letztgenannte Art wurde auch früher von Hr. Voigt fälschlich zur Gat- tung (Coelopus gezogen, wodurch er auch mich irreleitete. Einige Mastigocerca- Arten gehören zur Gattung Rattulus. In unserer Arbeit sind folgende Arten dieser Gattung vertreten: Mastigocerca capucina W ierz. etZach. Lattulus capucinus (Wierz. et Zach.) und M. elongata Gosse— R. elongata (Gosse).

20 Zacharias, Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos.

Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos (Müll.). Von Dr. Otto Zacharias (Plön).

Spezielle Untersuchungen über die bei €. tripos, der bekannten marinen Peridinee, sich vorfindende Fähigkeit zur Lichtentwicke- lung erstrecken sich über einen Zeitraum von etwa 70 Jahren. Sie beginnen (1830) mit einer Arbeit des Kieler Arztes Dr. S. A. Michaelis!) und schließen mit einem Berichte des Pflanzenforschers J. Reinke (Kiel), welcher ım Jahre 1898 sich mit demselben Gegenstande befasst hat?). Ganz neuerdings (Oktober 1904) habe ich auch meinerseits Gelegenheit gehabt, das, Leuchten jener Dino- flagellatenspezies zu beobachten. Meine Wahrnehmungen sind dazu. geeignet, die Feststellungen Reinke’s teils zu bestätigen, teils aber auch zu ergänzen. Ich werde im Nachstehenden die von mir eruierten Tatsachen zusammenstellen und die daraus sich ergeben- den Schlussfolgerungen mitzuteilen mir gestatten.

I. Zur Kenntnis des feineren Baues von Ceratium tripos.

Die bilateral asymmetrische Körperform der in Frage kommen- den Spezies ist hinlänglich bekannt; ebenso die Zusammensetzung der Panzerhülle aus einzelnen Stücken (Apikalplatten, Äquatorial- platten, Gürtelband). Desgleichen die komprimierte Gestalt des ganzen Wesens, welche an die einer breitgedrückten Kugel erinnert. Von allen diesen Einzelheiten hat Stein?) vorzügliche Abbildungen geliefert. Vorher waren auch schon von R. S. Bergh einige gute Zeichnungen publiziert worden®). Was die Struktur der Panzer- hülle speziell bei ©. tröpos betrifft, so ergibt die Behandlung der- selben mit Jodjodkalium und Schwefelsäure (zum Zwecke des Nach- weises der darın vorherrschenden Zellulose) gleichzeitig auch die deutliche Anwesenheit zahlreicher Poren auf der Vorderfläche des- selben, wogegen die Hinterseite davon gänzlich frei ist. Ich be- tone diesen Umstand, weil ich ıhn nirgends besonders erwähnt finde. Sicher gilt dieses Merkmal wenigstens von den Oktober- exemplaren aus der Kieler Föhrde, an denen ich meine mikro- skopischen Beobachtungen gemacht habe. Bei einer langhörnigen Varietät aus der Südsee (Peridinium macroceros Ehrb.) scheint Stein (l. c. Taf. XVI, Fig. 9) auch auf der Hinter-, resp. Unter- fläche Poren vorgefunden zu haben, wie seine Abbildung erkennen

1) Über das Leuchten der Ostsee. 1830.

2) Uber das Leuchten von Ceratium tripos. Wissensch. Meeresuntersuchungen. III. Bd. (Abteil. Kiel), 1898.

3) Der Organismus der Infusionstiere, III. Abteil. 1883.

4) Der Organismus der Oilioflagellaten. Morph. Jahrb., VII. Bd., 2. Heft, 1851.

Zacharias, Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos. 21

lässt. Dies dürfte aber eine Ausnahme sein. Ich habe bei vielen Exemplaren genau auf diesen Punkt geachtet, fand aber immer wieder meine Wahrnehmung vom Fehlen jener winzigen Öffnungen auf der Ventralseite des Panzers bestätigt. Die Durchlöcherung setzt sich selten auch auf die Hörner fort, und da, wo sie vor- kommt, reicht sie selten weiter als bis ins erste Drittel dieser Ver- längerungen. Der Abstand der winzigen Öffnungen beträgt 2-3 u. Gewöhnlich zeigen sie eine unregelmäßige Anordnung; doch habe ich manchmal auch mehrere parallele Reihen von Poren konstatiert. Ja eine ununterbrochene Serie von Poren findet man fast aus- nahmslos am oberen und unteren Rande des Gürtelbandes. Die beiden Seitenhörner zeigen bei allen von mir untersuchten Ceratien eine spitz zulaufende Endigung, wogegen das Apikalhorn stets wie abgeschnitten aussieht. An diesem größten Horn glaube ich auch eine Eigentümlichkeit wahrgenommen zu haben, die keiner der bisherigen Untersucher von (. tripos hei vorschalen hat: näm- lich das Vorhandensein einer Öffnung am Ende desselben, die deutlich zu beobachten ıst, wenn man ein schräg nach as gerichtetes Apikalhorn zu Gesicht bekonımt. Dann vermag man dessen röhrenförmige Beschaffenheit ohne weiteres zu konstatieren und gewinnt den Eindruck, als blicke man in ein sehr fein aus- gezogenes Glasröhrchen direkt von vorn her hinein. Da man aber nur ziemlich selten, selbst unter sehr vielen Ceratien, ein für diesen Zweck günstig gelegenes Exemplar anzutreffen die Chance hat, so mag es gekommen sein, dass auch geübten Beobachtern die Existenz einer solchen Öffnung bisher entgangen ist. Das (. tripos der Kieler Bucht hat eine Gesamtlänge von 220-230 u und eine Panzerbreite (in der Querfurchengegend) von 70—75 u. Es besitzt eine große Anzahl rundlicher Chromatophoren von rotbrauner Fär- bung, welche dicht unter der dünnen Panzerhülle gelegen sind. Beim langsamen Absterben des Zellinhaltes verändern diese Farb- stoffträger ihr Kolorit in ein fahles Gelb. Gleichzeitig tritt aber jener Inhalt teilweise aus der ventral gelegenen Geißelspalte hervor. Nach meinen Wahtnehmüngen dient er ann hauptsächlich den im Plankton mit anwesenden Rädertieren (Synchaeta baltica Ehrb.) und den Öopepoden ‚zur Nahrung.

II. Die Bedingungen, unter denen das Leuchten von Ceratium tripos stattfindet.

Wenn man die Schilderung Ferd. Cohn’s!) liest, so bekommt man eine nicht völlig zutreffende Vorstellung von der Betätigung des Leuchtvermögens der Ostsee-Öeratien. Es heißt in der Be-

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1) F. Cohn: Die Pflanze, 1897, S. 372.

99 Zacharias, Beobachtungen über das Leuchtvermögen von (eratium tripos.

schreibung des Genannten: „Am Tageslichte zeigen die Peridinien nichts außergewöhnliches, aber in der Finsternis gewähren sie ein wunderbares Schauspiel. Ihr Körper wirft Blitze durch das Dunkel; bei jedem Drehen und Wenden schließt Strahl auf Strahl hervor. Nicht der Dreizack des Neptun, Jupiters Donnerkeil ist es, nach dessen Bilde sie gemacht scheinen.“ Im Vergleich hierzu ist die Schilderung, welche v. Stein in der Einleitung zu seiner Mono- graphie der arthrodelen Flagellaten von dem Leuchtphänomen ent- wirft (S. 16 und 17 daselbst) bei weitem naturgetreuer und hin- sichtlich der Details der ganzen Erscheinung den von mir selbst beobachteten Tatsachen vollkommen entsprechend. Meine eigenen Wahrnehmungen beziehen sich auf den Monat Oktober des laufen- den Jahres (1904), also auf diejenige Jahreszeit, ”wo bekanntermaßen das 0. tripos im Bereiche der Kieler Bucht in maximaler Anzahl zu finden ist. "Trotz dieser üppigen Wucherung (und bei 8-10°C. Wassertemperatur) war aber ım Hafen selbst keine Spur einer Lichtentwickelung zu entdecken. Auch beim Hin- und Herbewegen der Ruder oder beim raschen Fortführen einer Stange durchs Wasser zeigte sich keinerlei Aufblitzen der massenhaft die Flut durchsetzenden Peridineen. Anders aber verhielt sich die Sache mit emem Planktonfange, der im verdunkelten Zimmer beobachtet wurde. Hier zeigte sich schon nach wenigen Minuten ein leb- haftes Aufblitzen einzelner Punktwesen, welches ım Verlaufe einer Stunde sich zu einem Sternschnuppenfall en miniature ge- staltete.. Stein nennt es ein „prachtvolles Feuerwerk“ und ich muss ıhm in dieser ebenso richtigen wie naheliegenden Bezeichnung beistimmen. Scheinbar tritt das Funkeln der einzelnen Peridinien ganz spontan auf und man möchte glauben, dass die Aussendung von Licht seitens dieser klenen Wesen eine bloße Begleiterschei- nung Ihres Lebensprozesses und ebenso relativ selbstverständlich sei, als etwa die Atmung und die Fortbewegung dieser Organısmen ım Wasser. Dies ist aber nicht der Fall, wie folgendes Experiment lehrt. Ich verschaffte mir mit Hilfe eimes sehr feinen Gazenetzes eine recht bedeutende Menge ÜOeratien-Plankton und füllte damit ein großes, weithalsiges Glasgefäß an. In diesem begann in der Dunkelheit alsbald wieder jenes Blitzen und Funkeln, welches oben bereits geschildert wurde und es trat in diesem Behälter, der besonders reichlich mit Ceratien beschickt war, ın einer der An- zahl derselben proportionalen Großartigkeit auf. Dies brachte mich auf den Gedanken, diesen konzentrierten Sammelfang sozusagen als Stammlösung zu benutzen und Verdünnungen daraus herzu- stellen. Mischte ich nun 100 cem solchen Ceratienwassers mit demselben Volumen gewöhnlichen Föhrdewassers, so traten die Funken schon weniger oft in dem betreffenden Glase auf, als ın dem Stammgefäße. Setzte ich die Kontrolle in der Weise fort, dass

Zacharias, Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos. 25

ich eine Reihe von kleineren Glaszylindern (4 Stück) nebeneinander stellte, in denen jeder folgende immer 50 cam mehr gewöhnliches Seewasser enthielt, als der vorhergehende, so ergab sich ein dem- entsprechendes Seltenerwerden des raketenartigen Aufblitzens der Ceratien, aber ohne Verminderung der Intensität der einzelnen Lichteffekte. Es lag nun nahe, jetzt den umgekehrten Versuch zu machen und die Verdünnungen wieder rückgängig zu machen, indem man den Inhalt aller 5 Zylinder mittels des Gazefilters min- der stark konzentrierte und ın einem Literglase vereinigte. Als- bald (nach etwa 10 Minuten) war die frühere Häufigkeit des Auf- tretens leuchtender Punkte (der „Sternschnuppenfall“) wieder erzielt und das brillante Schauspiel aufs neue in völliger Integrität her- gestellt.

Dieses Experiment zeigt ganz unwidersprechlich, dass das Blitzen und Funkeln kein spontan eintretender Vorgang sein kann, sondern dass es öfter oder minder oft eintritt, je nachdem viel oder weniger ÜCeratien in einer bestimmten Wasser- quantität enthalten sind. Wenn nun aber 3000 Ceratien in sagen wir 50 em Wasser schweben und schwimmen, so wer- den sıch weniger Zusammenstöße von zweien oder mehreren der- selben ereignen, als wenn zehn oder zwanzig Tausend ın derselben Quantität zugegen sind dies ist ein ganz selbstverständliches Axiom der Wahrschemlichkeitsrechnung. Dass Stöße aber das Aufleuchten der CGeratien bewirken, ergibt sich schon aus dem grob- mechanischen Versuche, bei dem man ceratienhaltiges Wasser ein- fach aus 20—30 cm Höhe in eine leere Schale herabgießt. Hier zeigt sich (in der Dunkelkammer), dass beim Aufschlagen des Wassers auf den Schalenboden sofort viele leuchtende Punkte zu erglänzen beginnen. Dass es aber nicht Stöße von starker Inten- sität zu sein brauchen, welche diese Wirkung erzeugen, geht aus dem weiteren Umstande hervor, dass frische, lebenskräftige Ueratien schon dann aufleuchten, wenn man den Teller, worin sıe sich (in Wasser suspendiert) befinden, bloß an einer Seite aufkippt und wieder niedersenkt. Diese letztere Wahrnehmung, in Verbindung gebracht mit der Tatsache, dass die Anzahl der auftretenden Licht- blitze mit dem größeren oder geringeren Gehalte eines Wasser- volumens an ÜÖeratien zu- oder abnımmt, liefert den bündigen Beweis dafür, dass die blitzartige Lichtwirkung erst bei dem Zu- sammenstoße zweier oder mehrerer dieser winzigen Wesen ın die Erscheinung trıtt dass sie somit durch den Reiz, den der Stoß auf die lebende Protoplasmamasse des (eratiem ausübt, erst inner- halb der letzteren ausgelöst wird. Die Lichtblitze und das Funkeln machen sich aber immer nur bei solchen Öeratien bemerklich, welche ganz frischen Fängen entstammen; schon nach 24—30 Stunden lässt die Lebenstätigkeit der in Glasbehältern aufbewahrten Ceratien

24 Zacharias, Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos.

erheblich nach und viele sinken zu Boden, ohne darum schon tot zu sein. Diese geschwächten Individuen reagieren bei Erschütte- rung und Stoß auch nicht mehr mit intensiver, blitzartiger Licht- produktion, sondern bei ihnen tritt das sogen. „ruhige Leuchten“ ein, von dem manche Autoren in ihren Berichten gesprochen haben. Dieses Leuchten ist nicht intermittierend, sondern ununterbrochen und hat einen mehr grünlich-weißen Schein, im Gegensatz zu den von frischen Ceratien ausgehenden Lichtwirkungen, die dem nächtlichen Sternengefunkel vollkommen ähnlich sind. Jenes ruhige Licht überdauert den mechanischen Anstoß, auf den hin es erfolgt, etwa um 20--30 Sekunden, und oft ıst es so stark, dass man dabei die Zeiger einer Taschenuhr deutlich zu erkennen vermag.

Was die Lebensdauer der ÜÖeratien in den Behältern des La- boratoriums anbelangt, so habe ich sie 3-4 Tage nie übersteigen sehen. Es ist deshalb ganz unbegreiflich, wenn Ehrenberg!) er- zählt, dass er das Peridinium tripos, welches ihm Dr. Michaelis aus Kiel in Menge zusandte (1838), einen Monat lang zu Berlin am Leben und leuchtfähig erhalten habe. Wie er das fertig gebracht hat, kann ich mir nicht erklären. Auch Stein berichtet, dass es ihm nicht möglich gewesen seı, das ıhm zu Untersuchungen dienende Üeratienmaterial länger als 4-5 Tage lebendig aufzu- bewahren.

Ich möchte hier auch noch eine Wahrnehmung anschließen, die ich an C'eratien gemacht habe, welche ich am 28. Oktober morgens im Kieler Hafen (bei Holtenau) auffischte, mit nach Plön nahm und dort alsbald untersuchte. Ich brachte die mit den be- treffenden Planktonfängen angefüllten Gläser in meine gänzlich ver- finsterte photographische Dunkelkammer, ließ sie dort erst eine Stunde stehen und wollte dann mit meinen Beobachtungen be- ginnen. Aber siehe da, nicht ein Fünkchen war in irgend einem der Behälter zu erspähen. Dieser Streik der kleinen Wesen dauerte bis nachmittags 5 Uhr; dann wurden sie leuchtfähig und blieben es bis spät in die Nacht. Am anderen Tage kontrollierte ich den Inhalt der Gläser zwischen 6 und 7 Uhr morgens, dann um 10 Uhr vormittags und schließlich um 3 Uhr nachmittags aber weder durch Schütteln noch durch Anstöße war ein Leuchteffekt hervor- zubringen. Dagegen trat ziemlich lebhaftes Funkeln wieder gegen Abend nach 5 Uhr ein. Dasselbe erfolgte am dritten Tage zu gleicher Tages-, resp. Abendstunde. Offenbar waren die Üeratien des 28. Oktober nur vor Eintritt der Dämmerung an disponiert, ihre Leuchtkraft zu betätigen. Hierzu im Gegensatz leuchteten die Ceratien eines Fanges vom 21. Oktober sofort nach meiner Rückkehr

1) Die Infusionstierchen als vollkommene Organismen, 1838, S. 255.

Zacharias, Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos. 25.

aus Kiel, als ich die Gläser in die Dunkelkammer gebracht hatte. Auch das noch ziemlich feuchte Netz wurde über und über leuch- tend, wenn ich im Finstern sanft mit den Händen darüber hinstrich und es behielt diese Fähigkeit etwa 2 Stunden, bis die Gaze sich kaum mehr feucht anfühlen ließ. Möglicherweise hängt diese Ver- schiedenheit in der Disposition zum Leuchten mit der Wasser- temperatur zusammen. Diese betrug am 21. Oktober 9 und 10° C.; am 28. Oktober aber nur 7 und ©. Erfahrungsgemäß ist eine höhere Temperatur dem Auftreten des Meeresleuchtens im allge- meinen günstiger, wie aus den Beobachtungen der verschiedenen Forscher hervorgeht.

IH. Beeinflussung der Leuchtfähigkeit durch chemische Wirkungen.

Als Spallanzanı seinerzeit gewisse Quallen der Meerenge von Messina bezüglich ihrer „Phosphoreszenz“ untersuchte, belebte er das scheinbar erloschene Leuchtvermögen einzelner dieser Tiere mit Kuhmilch und Urin. Nach solchem Vorgange gerät man leicht auf den Gedanken, es bei den Ceratien mit anderen, resp. stärkeren Reizmitteln zu versuchen. Auch Michaelis hat schon Experimente solcher Art angestellt und die Kieler Ceratien mit Säuren, Alkalien und Metallsalzen behandelt, wodurch das Leuchtvermögen in der verschiedensten Weise beeinflusst wurde. J. Reinke hat gleich- falls mehrere Versuche dieser Art ausgeführt und dazu Natronlauge, Jod, Eisenchlorid, Äther, Amylalkohol ete. benützt. Dieser Autor wandte übrigens auch die elektrische Reizung an und rief durch den konstanten elektrischen Strom, den er durch ceratienhaltiges Seewasser leitete, ein intensives Leuchten dieser Wesen hervor.

Ich selbst habe mit einer ganzen Reihe von Chemikalien, die mir gerade zur Hand waren, experimentiert. Das Verfahren dabei war folgendes. Die Säuren (Schwefelsäure, Eisessig, Chromsäure (als konzentrierte Lösung) kamen in der Weise zur Verwendung, dass immer 4 ccm davon mit ebensoviel Wasser verdünnt wurden. Diese Dosis brachte ich in eine Kochschale von mittlerer Größe und dahinein wurde das Ceratienwasser von geringer Höhe (10— 15 cm) herab aus einem weithalsigen Gefäße gegossen. Von den Salzen wurden konzentrierte Lösungen hergestellt, welche zur Hälfte mit Wasser versetzt und dann ebenso verwendet wurden, wie die Säure und der absolute Alkohol. Die Ergebnisse gestalteten sich wie folgt:

a) Schwefelsäure. Viele einzelne Sternchen rasch auf- blitzend, aber schnell wieder erlöschend. Im ganzen schwache Wirkung (vergl. Michaelis |. c.).

b) Eisesssig. Ähnlich wie die vorige, aber noch schwächer

ım Effekt.

26 Zacharias, Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos.

c) Chromsäure. Ebenfalls ohne besonders markante Wirkung. d) Kalıumkarbonat (Pottasche). Mehrere Sekunden an-

dauerndes starkes Leuchten des ganzen Schaleninhaltes und viele blitzende Sterne.

e}) Bromkalium. Aufleuchten von mittlerer Intensität und viele Sternchen; rasche Abnahme der Wirkung.

f) Kupfervitriol. Geringer Leuchteffekt, wenige, winzige Sternchen.

g) Rhodanammonıum. Ganz unbedeutende Wirkung.

h) Eisenvitriol. Dem voriger sehr ähnlich, einige wenige Lichtblitze in der Flüssigkeit,

ı) Natriumsulfit. Schwaches, rasches Aufleuchten zahl- reicher UCeratien, flüchtige Wirkung.

k) Kreosot (einige Tropfen in 4ccm Wasser). Großer Effekt; mildes, lange anhaltendes Phosphoreszieren.

l) Holzessig. Von ähnlicher, nur etwas schwächerer Wir- kung wie Kreosot.

m) Phenolphthalöin. Viele Sternchen, rasch aufblitzend und wieder verschwindend.

n) Offizinelle Jodtinktur. Große Wirksamkeit, viele

Funken in Öeratienwasser von starker Intensität. Ich erzielte einen ähnlichen Erfolg mit alkoholischer Jodlösung wie Reinke (l. c.) sie von seinem Versuche mit Jodjodkalıum meldet.

o) Absol. Alkohol. Starkes Aufleuchten mit vielen Sternen. Intensives und andauerndes Nachschimmern des ganzen Schalen- inhaltes. S. A. Michaelis schildert den Effekt desselben Reagens wie folgt: „Schönes, 10 Minuten dauerndes Leuchten. Dann ver- löschen die einzelnen Punkte allmählich und 15 Minuten lang be- merkt man noch einen schwachen, milchigten Schimmer. Nach genauer Betrachtung entdeckt man immer, dass auch dieser von einzelnen sehr schwach erhellten Punkten ausgeht.“ Reinke (l. c.) berichtet ebenfalls in diesem Sinne und sagt: „Acetylalkohol rief schönes, starkes Leuchten hervor; es bedurfte eines sehr starken Zusatzes, um dasselbe erlöschen zu machen.“

p) Salmiakgeist (Liqu. ammoniı). Plötzliches starkes Aufleuchten; hellen Schimmer von vielen Lichtpunkten hervorrufend, aber kurzdauernder Effekt.

q) Quecksilberchlorid. Außerordentlich starker Leucht- effekt! Maximales Funkeln und Blitzen: Feuerwerksähnlicher An- blick. Michaelis scheint dieselbe Beobachtung gemacht zu haben, denn er sagt vom Sublimat: „In wenigen Sekunden verlöschendes starkes Leuchten, kein Phosphoreszieren.“

vr) Formalin. Die Wirkung der verdünnten 40prozentigen Lösung des Formaldehydes stellte alle bisher verwendeten Reagentien

Zacharias, Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos. 27

wd

in den Schatten und erzielte einen geradezu wundervollen Leucht- effekt, der als solcher nur noch mit demjenigen des Quecksilber- chlorids verglichen werden kann, obgleich er denjenigen dieses giftigen Salzes zweifellos noch übertrumpft.

s) Urannitrat. Dieses Reagenz war von einzigartiger Wir- kung insofern, als es ein sehr andauerndes mildes Leuchten ver- ursacht, welches auf das Erglühen zahlreicher Üeratien zurückzu- führen war, die aber dem Auge nur ganz punktähnlich erschienen. Ein intensiveres Aufblitzen konnte nicht beobachtet werden. Eine so andauernde Leuchterscheinung hat keines der vorher benutzten Reagentien aufzuweisen gehabt.

Zuletzt machte ich noch einen Versuch mit Seewasser von 50° C., von welchem ich etwa 50 cem in einen Suppenteller mit Ceratienwasser schüttete. Diese Prozedur zeitigte aber keine große Wirkung. Ich bemerkte das Aufblitzen nur wenigen Sternchen und dann trat rasch wieder tiefste Finsternis en. Nach allen diesen Versuchen muss ıch dem Jod, dem Quecksilberchlorid und dem Formalin also den notorisch stärksten Proto- plasmagiften die Hauptwirkung hinsichtlich des Her- vorrufens eines intensiven Leuchteffektes zuschreiben, während das Urannitrat diesen dreien in bezug auf die längste Dauer des erzielten Lichtscheines an die Seite zu stellen ist.

J. Reinke meint (bei Besprechung der auch von ihm erprobten Jodwirkung), er habe den Eindruck erhalten, dass die Üeratien, gerade bevor sie absterben, „gleichsam in der Todeszuckung, noch soviel Leuchtstoff verbrennen, wie nur möglich ist“ (l. e. S. 3). Dieser Satz bildet aber doch bloß eine Umschreibung der nackten Tatsache, dünkt mich, dass die Ceratium-Zellen beim schnellen Ge- rinnen ihrer Leibessubstanz einen maximalen Lichtstrom aussenden, der wenn ihre Anzahl groß ist sogar noch die nächste Um- gebung des Versuchsgefäßes kräftig zu erhellen vermag. Warum sie sich jedoch in den obigen Fällen gerade im Augenblicke ihres Verscheidens mit einem besonderen Nimbus umgeben, wird durch Reinke’s Kommentar dazu nicht klargestellt und lässt sich über- haupt nicht ohne weiteres verstehen. Eine wirkliche Erklärung für das Auftreten stärkeren oder schwächeren Leuchtens (sowie des Leuchtens der Ceratien überhaupt) kann aber vielleicht an der Hand des Nützlichkeitsprinzips im Darwin’schen Sinne gewonnen werden, wenn wir folgendes bedenken.

Nach Jules de Guerne!) werden die Mägen der Sardinen oft so vollgepfropft (litteralement gorges) von Ceratiuum gefunden, dass man nicht umhin kann, diese Peridineenspezies als ein direktes

1) Nourriture de la Sardine (La Nature), 1887.

98 Zacharias, Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos.

Nährobjekt jener Fische zu betrachten. Der bloße Augenschein lehrt hinsichtlich des von Baron de Guerne festgestellten Be- fundes, dass die Ceratien zu Milliarden und aber Milliarden von den Sardinenschwärmen vertilgt werden, abgesehen davon, dass sie auch noch vielen anderen kleineren Seetieren zur Stillung ihres Nahrungs- bedürfnisses dienen dürften, so z. B. nach Hensen’s Versuchen den massenhaft im Meere lebenden Gopepoden!'!). Wenn sich nun auch die Sardınen schwerlich durch das nächtliche Aufblitzen der kleinen Wesen in der Befriedigung ihres Appetites stören lassen werden, so ist es aber doch sehr wahrscheinlich, dass die Spaltfußkrebse, welche bekanntlich lichtscheu sind, die von den Ceratien erhellten Wasserschichten?) fliehen und in dunklere Re- gionen hinabflüchten. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, hätte das Leuchtvermögen dieser kleinen Wesen die Bedeutung eines Schreckmittels, und da es als solches während der ganzen Nacht wirksam bleibt, so würde mit Eintritt der Dämmerung eine bis Tagesanbruch dauernde natürliche Schonzeit für die Ceratien eintreten, in welcher sie vor der Vertilgung durch die Copepoden gesichert sind. Die biologische Wichtigkeit einer solchen längeren Schutzfrist wird sofort verständlich, wenn wir uns die hinlänglich bekannte Tatsache vor Augen stellen, dass gerade die Fortpflanzung der Ceratien in die Nachtstunden fällt, wo die Assimilationstätig- keit, zu der nur das helle Tageslicht den Anstoß geben kann, ruht. Indem nun die Scharen der Copepoden durch den intensiven Licht- schein, den jene winzigen Nahrungsproduzenten ausstrahlen, zeit- weilig weggebannt werden, ıst zugleich ein wirksames Schutzmittel für die zahlreichen in Teilung befindlichen Ceratium-Zellen gegeben, welche dadurch in den Stand gesetzt sind, durch eine massen- hafte Vermehrung ihrer Anzahl, der tagtäglich über sie herein- brechenden Vertilgungsgefahr wirksam zu begegnen. Welche außer- ordentliche Bedeutung der Besitz des Leuchtvermögens für die Lebensökonomie dieser kleinen, nach Pflanzenart sich ernährenden Wesen hat, geht aus einigen Ziffern hervor, welche wir Hensen verdanken; dieselben beziehen sich gerade auf die Öeratienvertilgung durch die Copepoden. Dass letztere die Ceratien wirklich fressen, stellte Hensen?) durch eine ganze Reihe von Versuchen völlig außer Zweifel. Er fand dabei rechnerisch, dass 1 Copepode in 24 Stunden etwa 8 Ceratien vernichtet. Nehmen wir diese letztere

1) V. Hensen: Über die Bestimmung des Planktons, 1887, S. 94 u. 9.

2) Nach Reinke soll das Meerleuchten im Kieler Hafen während des Spät- sommers und Frühherbstes oft von großer Stärke sein. Ich selbst habe es an frischen Oktoberfängen nur in der Dunkelkammer gesehen. H. Molisch (Leuch- tende Pflanzen, 1904) berichtet, dass er im Hafen von Triest intensives Leuchten beobachtet habe, welches dort von Peridinium divergens herrührte,

3).l. e. S. 94 und 9.

Zacharias, Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos. 29

Zahl, die gewiss nicht übertrieben hoch ist, als durchschnittlich richtig an, so beläuft sich die Nahrung eines emzigen Uopepoden im Jahre auf 4370 Stück. Jeder Planktonforscher, der Erfahrungen an Meeresfängen gemacht hat, weiß nun aber, dass die Annahme des Vorhandenseins von 1 Million Copepoden per (Quadratmeter Seeoberfläche keinesfalls zu hoch gegriffen ist. Dies würde dann eine Jahreszehrung für dieselbe Flächeneinheit von 4370 Millionen ergeben. Hieraus lässt sich entnehmen, in welchem Grade die Ceratien fortgesetzt der Vernichtung durch Copepodenfraß ausge- setzt sind. Dass ihnen also von Natur aus die Anlage (Disposition) zur Erlangung des Leuchtvermögens eingepflanzt war und dass dieses Vermögen sich namentlich auf geringe mechanische Anstöße hin betätigt beide Vorkehrungen sind demnach so nützlich und lebenswichtig wie nur möglich für die betreffende Spezies und auch genau den Verhältnissen, unter denen sie im Meere lebt, angepasst.

Dass sich, wie wir sahen, das Leuchtvermögen durch chemische Reize gleichfalls anregen und sogar über das in der freien Natur vor- kommende Maß steigern lässt, bleibt fürs erste unerklärlich. Aber wenn das Protoplasma der Ceratienzelle überhaupt auf äußere Reize reagiert und diese zeitweilig und in verschieden hohem Grade durch Lichtaussendung beantwortet, so darf erwartet werden, dass stärkste Reize auch die stärkste Lichtproduktion auslösen. Und dass über- mäßige Reize das Leben vernichten, wogegen solche von mittlerer Intensität es heben und fördern, ist eine uralte Erfahrung der Physiologie, welche durch die ärztliche Praxis tagtäglich neue Be- stätigungen erhält. Der Sublimatreiz ruft, wie unser Versuch zeigte, einen der stärksten Lichteffekte hervor; derselbe erlischt aber in kürzester Zeit, weıl „dadurch gleichzeitig die Zelle getötet wird. Die Zerstörung der mit Quecksilberchlorid überschütteten Ceratien setzt der Lichtproduktion in demselben Augenblicke ein Ziel, wo der Zellenleib der Gerinnung anheimfällt. Dies ist aber ein ganz zufälliger Umstand, denn wir beobachten bei Anwendung von For- malın dieselbe Stärke des Aufleuchtens, ohne dass die Erscheinung so rasch zu Ende geht, wie beim Sublimat. Wir gewahren ferner bei Behandlung der Ceratien mit Urannitrat einen sehr anhaltenden intensiven Lichtschein, mit dem ein relativ langsames Absterben der Zelle Hand in Hand geht. Ich will mit diesen Anführungen nur sagen, dass die Stärke des hervorgerufenen Leuchteffektes nicht an die Kürze seiner Dauer geknüpft ist, womit Reinke’s Ansicht, dass gerade die „Todeszuckung“ es sei, welche das Maximum des Aufblitzens bedinge, nicht in Einklang zu bringen ist.

Wenn aber Prof. Reinke am Schlusse seiner Abhandlung be- sonders darauf hinweist, dass mechanische, thermische und che- mische Einwirkungen also ganz verschiedene Reize eine identische Reaktion bei der Ceratium-Zelle auslösen und dass damit

30 Schröder, Die Zeichnungsvariabilität von Abraxas grossulariata L. (Lep.).

eine bemerkenswerte Analogie zu den spezifischen Sinnesorganen tierischer Nervenendigungen zu erblicken sei, so müssen wir ıhm betreffs dieses Punktes im wesentlichen beistimmen. Ein gewisser Unterschied waltet allerdings bei dieser Parallele darin ob, dass die Öeratien zu manchen Zeiten überhaupt nicht auf dergleichen äußere Reize zu reagieren scheinen, wie mir das Material vom 28. Oktober d. Js. bewies. Die damals gefangenen Üeratien be- tätigten ihre Leuchtfähigkeit nur in den Abend- und Nachtstunden, also zu der Zeit, wo sie dem Copepodenfraße am meisten ausge- setzt zu sein pflegen. Ihre spezifische Eigenschaft, der Einwirkung von sie treffenden Reizen mit Lichtaussendung zu beantworten, schlummerte also während des Tages, woraus zu entnehmen ist, dass vielleicht auch eine Anpassung dieser biologisch-wichtigen Funktion hinsichtlich der Zeit besteht, wo sie als Schreck- und Schutzmittel menschlich zu reden am erwünschtesten sem muss.

Hierin besteht also ein charakteristischer Unterschied zwischen den anımalischen Sinnesenergien und dem damit parallelisierten Leuchtvermögen der Üeratien. Nichtsdestoweniger hat Reinke aber das Verdienst, auf die zwischen beiden Klassen von Phäno- menen offenbar bestehende Verwandtschaft zum ersten Male hin- gedeutet und betont zu haben, dass die Aktion der spezifischen Sinnesenergien in einer ähnlichen Rückwirkung ihre Grundlage haben müsse, wıe das Leuchten der Peridineen.

Meinerseits glaube ich durch die obige Argumentation (unter Zugrundelegung und Kombiation notorischer Tatsachen) an dem speziellen Falle der Oeratien in befriedigender Weise gezeigt zu haben, worin die Lebenswichtigkeit resp. Nützlichkeit des Leucht- vermögens für diese Panzerflagellaten liegt, und inwiefern dasselbe als eine sehr wirksame Waffe im Kampfe ums Dasein, den diese winzigen Organismen Tag für Tag innerhalb ihres Lebenselementes zu bestehen haben, betrachtet werden muss. [76]

Biologische Station, 31. Oktober 1904.

Schröder, Chr.: Die Zeichnungsvariabilität von Abraxas grossulariata L. (Lep.), zugleich ein Beitrag zur

Deszendenztheorie. In: Allg. Zeitschr. f. Entomologie (Neudamm), Bd. VIII, 1903, p. 105—11S, 145—157,

177—192, 228233.

Eine neue bedeutende Arbeit, welche sich der im vorigen Jahre hier von mir besprochenen über ein paralleles Thema (Bd. XXI,

Schröder, Die Zeiehnungsvariabilität von Abraxas grossulariata L. (Lep) 51

Nr. 10 v. 15. Mai 1903, p. 387-389) mindestens ebenbürtig an die Seite stellt, was die Resultate anlangt. Solche ergeben sich nach drei Richtungen hin, kritisch nach der Seite der Zeichnungs- theoretiker und der E. Fischer’schen Anschauungen über Ver- erbung und neues wichtiges Material schaffend nach der Seite der experimentellen Erforschung von Vererbungsgesetzen. Abraxas grossulariata L., der Stachelbeer spanner, variiert schon im Freien häufig und in verschiedenem Sinne, bald seine Zeichnung, schwarz mit einigen orangegelben Elementen auf weiß, reduzierend, bald sie mehr und mehr Ei zu fast völliger Schwärzung ausbr eitend. Exem- plare letzterer Tendenz wurden zu den Versuchen benutzt, unter- einander und mit der Stammform gekreuzt, und zwar sowohl, wenn sie aus völlig unbeeinflussten, ım "Freien aufgesammelten Puppen entstammten, als auch, wenn sie das Ergebnis künstlicher Beein- flussung durch erhöhte Temperatur (an drei Tagen täglich dreimal 1 Stunde auf 38° ©.) waren. Graphische Darstellungen der Er- gebnisse lassen klar erkennen, dass Paarungen der verdunkelten Varietäten unter sich eine immer mehr erhöhte Neigung zu weiterer Verdunkelung ergeben, aber nur dann, wenn es sich um spontan verdunkelte Eltern handelte. War bei den Eltern die Verdunke- lung durch Temperatureinflüsse hervorgerufen, so zeigte sich diese Tendenz nicht. Und ebenso wie bei diesen Formen, die gewisser- maßen ohne vorherige organische Vorbereitung in der Aszendenz durch die Temperatur veinflüsse sprunghaft zur Entwickelung gebracht waren, so fand sich auch bei den ohne Zweifel ebenfalls spr unghaft, aber sua sponte entstandenen ganz extrem dunkeln Indiv iduen eine solche Labilıtät, dass diese Se reme Verdunkelung nur in ganz ge- ringem Prozentsatze vererbt wurde. Aus der Summe dieser Be- obachtungen ist Verf. wohl zu dem Schlusse berechtigt, dass „auch die Mutationstheorie, so sehr wie der Darwinismus, unfähig ist, das einzige Prinzip für die Erklärung des organischen Seins und Werdens zu liefern,“ dass „die Mutationstheorie eine auf zu ein- seitiger Basis gewonnene Hypothese“ ist, „die für die Erklärung der organischen Entwickelung im ganzen unzureichend ist“. Es ist zwar auch bei Schmetterlingen die Beobachtung gemacht worden, dass eine exzessiv geschwärzte Aberration sich konstant erhielt, während selbst fortgesetzte Zuchten der Zwischenformen niemals diesen exzessiven Grad der Schwärzung erreichten es handelt sich um die konstante aberr. melaena Gross des Spinners Aglia tau L. (Saturnidae) und die stets noch von ihr weit entfernt bleibende var. ferenigra Th.-Mieg. —, das allgemeine Resultat viel- fältiger Beobachtungen aber, von denen außer den hier und in der eingangs erwähnten Adalia-Arbeit mitgeteilten Verf. noch eine Reihe nicht veröffentlichter zur Verfügung stehen, ist der, dass die Sprung- weite der Variation nicht das “Kriterium für die Konstanz liefert, sondern „die Konstitution des Organismus in Verbindung mit den Außenfaktoren“.

Was nun die kritischen Ergebnisse der inhaltreichen Arbeit anlangt, so sei zunächst der Bemerkungen gegen die v. Linden’-

32 Schröder, Die Zeichnungsvariabilität von: Abraxas grossulariata L. (Lep.).

schen Anschauungen über die Flügelzeichnung der Lepidopteren gedacht. v. Linden betrachtet mit ihrem Lehrer Eimer die Binden vom Vorder- zum Innenrand des Flügels als „Längsbinden“ und sieht in ihnen die primäre Lepidopterenzeichnung, aus der sich andere ableiten lassen. Verf. widerspricht der Auffassung dieser Binden als Längsbinden auf Grund von Analogien bei Coleopteren und allgemeinen Erwägungen ontogenetischer Natur. Das Eimer’sche (Gesetz, dass sich die Tierzeichnung aus Längsbindenzeichnung durch Gitter- oder Tupfenmuster zu Querbindenzeichnung umgewandelt habe resp. umwandle, findet aber gerade dann seine Bestätigung in den Experimenten. Bei gewissen Aberrationen, die man als Rückschlagsformen aufzufassen berechtigt ist, treten deutliche Pigmentanhäufungen an den Längsadern entlang auf, bei Abrazxas werden verloren gegangene Längsaderstücke noch heute durch Pig- mentflecken angedeutet etc. Für die von v. Linden angenommene ursprüngliche Netzaderung der Flügel ıst ein Anhaltspunkt in der Ontogenie nicht zu finden, und auch, wo ein netzartiges Geäder vorliegt, wie z. B. bei Ortho- und Neuropteren, stehen die An- schauungen, dass dort die Zeichnung sich entlang und entsprechend den Queradern angelegt habe, auf sehr schwachen Füßen. Ge- naueres muss ım Original eingesehen werden.

Endlich den Hypothesen und Deduktionen E. Fischer’s, der aus Temperaturexperimenten und Spekulationen auf Grund von Schutz- und Trutzfarben und deren Verteilung dazu gekommen war, dem Lamarck’schen Prinzip anscheinend gute Stützen zu leihen, setzt Verf. eine andere Theorie entgegen, welche in einer späteren Arbeit ausführlicher dargestellt werden soll. Nicht die oft haarscharf in einer Art Versenkung abgegrenzten und plötzlich entfalteten Schreckfarben sind die neuen Erwerbungen ihrer Träger, sondern das düster pigmentierte Oberflächenkolorit. Man kann dieses düstere Kolorit eventuell als Schutzfarbe, die der Umgebung ähnlich macht, auffassen, mehr aber leistet dıe Erklärung als Wärme- sammler. Die dunklen Farben absorbieren mehr Wärmestrahlen und finden sich daher gerade da immer angehäuft, wo diese Wärme- sammlung erwünscht ist, bei Tagfaltern, die mit nach oben zu- sammengeklappten Flügeln ruhen, auf der Unterseite. Diese hier wie auch in den mehr andeutenden als ausführenden Sätzen des Originals ganz kurz skizzierten Anschauung ermöglicht auch eine andere Auffassung der Ergebnisse von Temperatur experimenten. Man wird auf die eingehende Ausführung des Gedankens gespannt sein dürfen. [68]

Dr. P. Speiser (Bischofsburg, Ostpr.).

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Umiv.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt,

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwiekelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

45. Januar 1905. MR 2.

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Inhalt: Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke. Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisen- nestern. Sehröder, Eine Kritik der Erklärungsversuche der lebhaften Hinterflügelfärbung im Genus Catocala Sehr. (Lep.). Heinz, Handbuch der experimentellen Pathologie und

Pharmakologie.

Anti-Reinke., Von F. Kienitz-Gerloff.

Motto: „Der Verfasser, ein umsichtiger Botaniker, erklärt die physiologi- schen Phänomene nach. teleologi- schen Ansichten, welche die unseri- gen nicht sind noch sein können.“ Goethe in Besprechung von J. Vaucher, Histoire physio-

logique des plantes d’Europe.

In einem vor kurzem ın dieser Zeitschrift veröffentlichten Auf- satz, betitelt „Der Neovitalısmus und die Finalıtät ın der Biologie“ !), bringt J. Reinke in etwas erweiterter Darstellung den Inhalt seines auf dem internationalen Philosophenkongress in Genf (8. Sept. 1904) gehaltenen Vortrages. Er bestimmt darin die beiden seiner Ansicht nach gegenwärtig miteinander rıngenden Naturanschauungen da- hin?): „der Mechanismus behauptet, die Gesamtheit der Lebens- erscheinungen muss sich ohne Rest mechanisch bezw. energetisch erklären lassen: dem neuen Vitalısmus erscheint dies ungewiss.

1) Bd. XXIV, Nr. 18, 19. 15. Sept. 1904. ) £)

4 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke.

Was der Mechanismus als Dogma!) verkündigt, ist dem Neovitalis- mus Problem.“

Ich meine, dass in diesem Satze der Standpunkt des Neovita- lismus nicht richtig dargestellt und dass andererseits eine dritte Richtung, die unter den heutigen Biologen nicht wenige Anhänger haben dürfte, überhaupt nicht berücksichtigt ist.

Der erste Teil meiner Behauptung lässt sich, wie mir scheint, ziemlich leicht aus den Äußerungen der Neovitalisten erhärten. Denn einer ihrer Hauptvertreter, Hans Driesch, erklärt auch in einer seiner neuesten Schriften wieder ganz direkt, dass „das sich auf Basis harmonisch-äquipotentieller Systeme abspielende Form- bildungsgeschehen kein maschinelles, chemisch-physikalisches Ge- schehen sein kann“?). Karl Camillo Schneider sagt: „Wir können zweckmäßiges Geschehen, das ja die Anpassungen der leben- den Substanz charakterisiert, unmöglich physikalisch-chemisch er- klären... .?)* und auch Reinke selbst spricht sich dahin aus, dass wir neben einer Reihe rein physikalischer und rein chemischer Vorgänge, die sich ın den Organısmen abspiele, den Ablauf an- derer Erscheinungen verfolgen, „die wir mechanisch nicht analy- sieren können“).

Sollen diese Aussprüche besagen, dass wir, d. h. die augen- blicklich lebenden Menschen, diese Aufgabe nicht erfüllen können, so haben ja die Neovitalisten recht, aber das wäre eine Binsen- wahrheit, die man nicht als ein novum et imaudıtum verkündigen sollte. Sollen sie hingegen besagen, dass die Erfüllung der Auf- gabe auch für alle Zukunft unmöglich sei, dann enthalten sie eine unbeweisbare Prophezeiung. Solche Prophezeiungen sind aber um so misslicher, wenn sie Aussagen rein negativer Natur enthalten. Ergötzliche Beispiele von Misserfolgen derartiger negativer Aus- sprüche großer Gelehrten führte schon Karl Vogt an: „Es sind kaum 30 Jahre her, dass Cuvier sagte: ‚Es gibt keinen fossilen Affen und kann keinen geben; es gibt keinen fossilen Menschen und kann keinen geben‘ und heute sprechen wir von fossilen Affen wıe von alten Bekannten und führen den fossilen Menschen nicht nur in die Schwemmgebilde, sondern sogar bis in die jüngsten Tertiärgebilde hinein, wenn auch einige Verstockte behaupten mögen, Uuvier’s Ausspruch sei eine That des Genies und könne nicht umgestoßen werden).“ Ähnliche Auslassungen berichtet

1) Im Original nicht gesperrt.

2) „Die Seele als elementarer Naturfaktor.“ Leipzig 1902. S. 74. Das „kann“ im Original nicht gesperrt.

3) „Vitalismus“,. Leipzig und Wien 1903. S. d. „Das „unmöglich“ im Ori- ginal nicht gesperrt.

4) A. a. O. S. 582. Das „können“ jm Original nicht gesperrt.

5) „Vorlesungen über den Menschen.“ Gießen 18653. II. 8. 269.

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke. 3

Vogt auch von Agassız. Oder man erinnere sich an die Be- hauptung der alten Vitalisten, dass bestimmte Stoffe, die man aus- schließlich im lebendigen Organismus gefunden hatte, auf chemisch- physikalischem Wege nicht darstellbar wären. Wie recht hat demgegenüber Goethe, wenn er sagt: Liege die Welt „anfang- und endlos vor uns, unbegrenzt sei die Ferne, undurchdringlich die Nähe; es sei so; aber wie weit und wie tief der Menschengeist in seine und ihre (Geheimnisse zu dringen vermöchte, werde nie be- stimmt, noch abgeschlossen“ !).

Auf alle Fälle aber enthalten diese Prophezeiungen das, was man in des Worts verwegenster Bedeutung ein Dogma nennt, und Reinke hat deshalb sehr unrecht, wenn er sich über den Dogma- tısmus der Mechanisten beklagt.

Nun will ıch ja durchaus nicht bestreiten, dass es unter den Mechanisten ebenfalls arge Dogmatiker gegeben hat und noch gibt. Moleschott, L. Büchner und unter den Lebenden E. Haeckel sind warnende Beispiele. Aber man darf doch nicht alle diejenigen, die den neovitalistischen Standpunkt nicht teilen, mit diesen übrigens äußerst verdienstvollen Männern ın einen Topf werfen. Der Standpunkt, den vielleicht die Mehrzahl der heutigen Biologen einnimmt und den ich seldst durchaus teile, ist in den von Reinke zitierten Worten Goethe’s ausgesprochen: „Der Mensch muss bei dem Glauben verharren, dass das Unbegreifliche begreiflich sei er würde sonst nicht forschen.“ In diesem Satze befindet sich leider eine Unklarheit, die ich übrigens nicht Goethe’s eigentlicher Meinung, sondern nur seiner Ausdrucksweise zuschreiben möchte: sie legt in dem Worte „Glauben“. Denn dabei denkt man un- willkürlich an den Glauben des Bibelgläubigen, der ohne Kritik etwas als positiv sicher annimmt, was in keiner Weise festgestellt ist. Freilich scheint Reinke auf diesem letzteren Standpunkt zu stehen, insofern er sagt: „ın der Physik und in der Chemie glauben wir sehr viel?).“ Für meine Person muss ich nun bekennen, dass ich ihm darin nicht folgen kann. Ich „glaube“ weder an Mole- küle, noch an Atome oder den Weltäther oder an die Wellen- bewegung des Lichts u. a. m., überhaupt an keinen einzigen Be- griff, der nur auf Spekulation beruht. Für mich sind alle diese Dinge äußerst nützliche und für uns augenblicklich ganz unentbehr- liche Arbeitshypothesen, aber auch nichts, auch gar nichts weiter. Auf diesen Standpunkt führt m. E. schon ganz notwendig die Ein- sicht in die Geschichte der Naturwissenschaften, in denen fort- während eine Theorie und eine Hypothese die andere abgelöst hat,

1) Morphologie: „Freundlicher Zuruf.“ Cotta’sche Ausgabe 1858. Bd. XXXVI,

2) A: 2.08 579. 3)) Alone (OB SB

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36 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke.

um später selbst wieder in Nebel zu zerfließen. Was haben wir nicht schon alles erlebt: die Emanationshypothese des Lichts und der Wärme, die Phlogistontheorie und vieles, vieles andere!

Und in dieser Ansicht weiß ich mich einig mit einer ganzen Anzahl nicht unbedeutender Männer, von denen einige wenige Aus- sprüche hier zitiert werden mögen, aus denen gleichzeitig, obwohl es sich um Mechanisten handelt, ıhr Gegensatz zu dem Dogmatis- mus der Neovitalisten klar hervorgeht.

E. Mach sagt: „Den Denkmitteln der Physik, den Begriffen Masse, Kraft, Atom, welche keine andere Aufgabe haben, als öko- nomisch geordnete Erfahrungen wachzurufen, wird von den meisten Naturforschern eine Realität außerhalb des Denkens zugeschrieben. Ja man meint, dass diese Kräfte und Massen das eigentlich zu Er- forschende seien, und wenn diese einmal bekannt wären, dann würde alles aus dem Gleichgewicht dieser Massen sich von selbst ergeben. Wenn jemand die Welt nur durch das Theater kennen würde, und nun hinter die mechanischen Einrichtungen der Bühne käme, so könnte er wohl auch meinen, dass die wirkliche Welt eines Schnürbodens bedürfe, und dass alles gewonnen wäre, wenn nur dieser einmal erforscht wäre. So dürfen wır auch die intellek- tuellen Hilfsmittel, die wir zur Aufführung der Welt auf der Gedankenbühne brauchen, nicht für Grundlagen der wirklichen Welt halten!).

Heinrich Hertz stellt folgendes und nur folgendes, der Er- fahrung entnommene Grundgesetz der Mechanik auf?) (309): „Jedes freie System beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleich- förmigen Bewegung in einer geradesten Bahn“. Dieses Gesetz wendet er auf drei Klassen materieller Systeme an, von denen uns die beiden ersten hier weniger interessieren als das dritte. Von diesem heißt es (318): „Die dritte Klasse der Körpersysteme enthält solche Systeme, deren Bewegungen sich nicht ohne weiteres als notwen- dige Folgen des Grundgesetzes darstellen lassen und für welche auch keine bestimmten Hypothesen angegeben werden können, durch welche sie unter das Gesetz gefügt würden. Hierher ge- hören z. B. alle Systeme, welche organische oder belebte Wesen enthalten.“

Sowohl bei der mechanistischen wie bei der neovitalistischen Auffassung kann es sich nur um heuristische Prinzipien handeln, um gar nichts sonst, und es würde demnach zu untersuchen sem erstens, inwiefern die beiden Auffassungen überhaupt berechtigt

1) „Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-kritisch dargestellt.“ Leipzig 1883. S. 476.

2) „Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt.“ Leipzig 1804. Die beigefügten Nummern sind die von Hertz seinen Sätzen und Definitionen gegebenen.

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke. N.

sind, zweitens darum, mit welchem Prinzip man in der Forschung weiter kommt. Denn mit Recht sagt H. Hertz: „Es ist die nächste und in gewissem Sinne wichtigste Aufgabe unserer bewussten Naturerkenntnis, dass sıe uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen, um nach dieser Voraussicht unser gegenwärtiges Handeln einrichten zu können“!).

Die Berechtigung der mechanistischen Auffassung will ich hier nicht erst verteidigen, weil Reinke selbst sie bis zu einer gewissen Grenze zugibt: „Aber auch dem neuen Vitalismus gilt es als heuristisches Prinzip, als Forschungsgrundsatz ersten Ranges, soviel als möglich die Lebensvorgänge auf mechanisch erklärbare Prozesse zurückzuführen?).“ Reinke behauptet also nur, dass die Mechanisten die ihnen gezogene Grenze überschreiten, während die Neovitalisten neben dem mechanistischen Prinzip „die objektive, reale Gültigkeit der Finalbeziehungen anerkennen“?). Wie steht es also mit diesen Finalbeziehungen? Zunächst: ist es notwendig, sie anzunehmen? Das müsste ja doch nach Reinke der Fall sein, da er ausdrücklich erklärt, er „halte es für eine der vornehmsten Auf- gaben der Biologie...., mit einem Minimum von Vorstellungen auszukommen“®). Ich will hier die Fortsetzung der vorher aus Heinrich Hertz angeführten Stelle hinsetzen, wo er von den organischen und belebten Wesen spricht. Er sagt (318): „Unsere Unkenntnis aller hierher gehörigen Systeme ist aber so groß, dass auch der Beweis nicht geführt werden kann, dass solche Hypothesen (durch welche sie nämlich unter sein Grundgesetz gefügt würden) unmöglich seien, und dass die Erscheinungen an diesen Systemen dem Gesetz widersprechen. Hin- sichtlich dieser dritten Klasse von Körpersystemen trägt also das Grundgesetz den Charakter einer zulässigen Hypothese°).“ Ferner (321): „Könnte der Nachweis geführt werden, dass die belebten Systeme dem Satz widersprechen, so ‘würden diese dadurch aus der Mechanik ausscheiden. Zugleich würde dann, aber auch erst dann, unsere Mechanik eine Er- gänzung erfordern in bezug auf diejenigen unfreien Systeme, welche zwar selber leblos, aber doch Teile solcher freier Systeme sind, welche belebte Wesen enthalten. Nach allem, was wir wissen, könnte diese Ergänzung dann auch geleistet werden, und zwar durch die Erfahrung, dass belebte Systeme auf unbelebte niemals

1) A. a. ©. Einleitung. 2) 22232 0.18.3580. 3A. >a..0.75: 1582. 4) A. a. O. 8. 578.

5) Man vergleiche auch diesen Ausspruch wieder mit Reinke’s Klagen über den angeblichen Dogmatismus der Mechanisten. Die gesperrten Sätze im Original übrigens nicht gesperrt.

38 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke.

einen anderen Einfluss auszuüben vermögen, als welcher auch durch ein unbelebtes System ausgeübt werden könnte. Danach ist es möglich, jedem belebten System ein unbelebtes unterzuschieben, welches jenes in den gerade behandelten Problemen zu vertreten vermag, und dessen Angabe wir verlangen dürfen, um das gegebene Problem zu einem rein mechanischen zu machen.“

(Gegenüber diesen Ergebnissen, zu denen einer der größten und am meisten philosophisch denkenden Naturforscher unserer Zeit gekommen ist, sind für mich die übrigens recht widerspruchs- vollen und von verschiedenen Autoren verschieden gedeuteten Äußerungen Kant’s, die Reinke zitiert!), und diejenigen seiner übrigen Autoritäten, wie z. B. J. Herschels, belanglos. Ja, ich wage es zu behaupten, dass Kant, wenn er ın unserer Zeit lebte, sich ganz anders äußern würde, als er es damals getan, wo die Wissenschaft von den Organismen noch viel mehr in den Kinder- schuhen steckte als heute. Statt sich immer auf derartige wört- liche und aus dem allgemeinen wissenschaftlichen Standpunkt seiner- zeit erklärbare Äußerungen eines großen Mannes zu berufen, sollte man sich heber bemühen, in seinem Geiste weiterzuwirken. Das tut man aber vielfach mit Kant ebensowenig wie z. B. mit Luther.

Den Nachweis nun, den Hertz fordert, dass die belebten Systeme seinem Grundgesetz widersprächen, vermisse ich bei Reinke, ich finde bei ıhm in dieser Hinsicht nur unbewiesene Be- hauptungen und Gefühlsperorationen.

Zweitens: Ist es überhaupt erlaubt, in der Natur finale Be- ziehungen anzunehmen ?

Reinke sagt: „Finalbeziehungen können wir überall mit Sicherheit feststellen: wenn wir sagen, wozu das Auge, das Ohr, der Magen, die Zähne, ein Chlorophylikorn, eine Wurzel, ein Pollen- korn dienen, so enthüllen wir damit Finalbeziehungen?).“

Ich erlaube mir zu entgegnen, dass wır in Wirklichkeit nicht

einmal bei menschlichen Handlungen die Zwecke immer ohne weı- '

teres durchschauen, während die ursächlichen Beziehungen ganz klar zutage liegen. Denn wenn ich einen Menschen irgend etwas tun sehe, dann ist der Mensch unzweifelhaft die Ursache der betr. Tätigkeit, welchen Zweck er aber damit verbindet, weiß ich sehr häufig nicht, sondern muss es mir erst von ihm sagen lassen. Viel-

1) Fr. Alb. Lange (Geschichte des Materialismus, 3. Aufl., Bd. III, S. 277) deutet z. B. dieselben Äußerungen nur dahin, dass die mechanische Erklärung der Organismen ein „ins Unendliche verlaufender Prozess sei, bei welchem stets noch ein ungelöster Rest bleiben wird, ähnlich wie bei der mechanischen Erklärung des Weltganzen“. Um aber Mıssverständnisse auszuschließen, vergleiche man in dem- selben Werk auch die Ausführungen auf S. 157, 158.

2) A. a. ©. 8. 582. Die betr. Worte im Original nicht gesperrt. Übrigens heißt das alles nach Reinke nicht dogmatisch geredet!

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke. 3)

leicht handelt er auch ganz zwecklos, das kommt ja auch vor. Nun aber erst in der Natur! Nehmen wir einfach eines von Reinke’s eignen Beispielen, etwa die Pollenkörner. Bei weitem die meisten von ihnen gehen nutzlos verloren, besonders bei Windblütlern, andere werden von Insekten fortgetragen und gefressen, die Blumen locken jene geradezu dazu an, sie zu holen, und sie haben dann den Nutzen, indem sie sich selbst opfern, die Bestäubung der Blüte zu ermöglichen, einige ganz wenige gelangen an den Ort, für den sie nach Reinke eigentlich bestimmt sind, nämlich auf die Narbe. Welches ist nun also ıhr wirklicher Zweck? Ich erwarte hierüber Aufklärung von Reinke, denn ich kann nur finden, dass die Pollen- körner bald so, bald so verwendet werden. Das aber ist eben der fundamentale Fehler, den Reinke begeht, dass er beständig das „zu etwas gebraucht werden“ und „zu etwas bestimmt sein“ miteinander verwechselt. Woher weiß er denn und woher weiß Voltaire, auf den er sıch beruft, dass das Auge dazu gemacht ıst, um zu sehen, das Ohr dazu, um zu hören, dass dies mit Sicher- heit feststellbare Finalbeziehungen sind? Ein Zweck erfordert auch einen Zwecksetzer, dieser ist in unserm Falle der Schöpfer; haben Reinke und Voltaire mit diesem etwa Rücksprache genommen? Gewiss, das Auge wird zum Sehen, das Ohr zum Hören gebraucht, das ist der Wert dieser Organe. Darum aber auch ihr Zweck? Der Unterschied, den Voltaire macht zwischen echter und falscher Teleologie ist gänzlich hinfällig, denn ebenso wie die Nase ge- braucht wird, um zu riechen und ihren Wert darın hat, so wird sie auch gebraucht, um eine Brille oder einen Kneifer darauf zu setzen, und hat auch damit für denjenigen, der auf diese optischen Hilfs- mittel angewiesen ist, einen unbestreitbaren Wert. Ich sehe also durchaus nicht ein, warum man nicht, von Reinke’s Standpunkt aus, auch dies für einen Teil ihres Zweckes erklären könnte, einer Brille oder einem Kneifer als Unterstützungspunkt zu dienen. Frei- lich könnte man dann auch mit demselben Rechte sagen, ein ge- wisser Körperteil des Kindes seı unter anderem auch dazu bestimmt, mit Ruten gestrichen zu werden, oder mit Talleyrand, die Sprache sei dazu da, um die Gedanken zu verbergen. Sonst ist man ja im allgemeinen der Ansicht, sie sei dazu da, vernünftige Gedanken anderen zu übermitteln, aber freilich wird sie nicht selten auch dazu gebraucht, zu verbergen, dass Gedanken.nicht vorhanden sind, und nur inhaltslose Phrasen zu verkünden. Welches ist ihr Zweck?

Zwecke sind in der Natur für uns ein für allemal unnachweis- bar. Oder sollte etwa doch der Abbe Galianı recht haben mit seiner Behauptung: „Die Würfel der Natur sind gefälscht, und dort oben spottet unser der größte Taschenspieler?})*

1) „Darwin versus Galiani,“ Rede von E. du Bois-Reymond. Berlin 1876 SD.

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Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke.

„Wer naturphilosophische Befriedigung erstrebt,* sagt Reinke auf S. 599, „wird nicht umhin können zu sagen: wo wir zweck- mäßige Einrichtungen erblicken, wie in den Pflanzen und Tieren, müssen sie uns erscheinen als Ausfluss der Handlung einer höchsten und mächtigsten Intelligenz, die wir uns nur nach Analogie mit menschlichen Handlungen vorstellen können.“ Auf S. 591 steht aber zu lesen, die organische Finalıtät sei auf eine unbewusste Intelligenz der Entwickelung zurückzuführen. Also es gibt „unbewusste Intelligenz“, aber: „ein unbewusstes Empfinden gibt es nicht“ finden wir wieder auf S. 594, und auf S. 593 heißt es, dass die Gedanken aus den unbewussten Tiefen der Seele in uns aufsteigen und an das Licht des Bewusstseins gelangen. Dann müssen also die Gedanken, die Reinke hier übrigens substanzuert, doch wohl schon vorhanden gewesen sein, ehe sie bewusst wurden. Wie ich mir alle diese einander widersprechenden Behauptungen zu- sammenreimen soll, weiß ich nicht, wohl aber schmeckt die mäch- tige Intelligenz, die doch wohl mit Gott identisch ist und die dennoch nach Analogie mit menschlichen Kategorien wirkt, stark nach Blasphemie, die übrigens auch in dem biblischen „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde“ enthalten ist. Denn wer ist mehr Blasphemist, derjenige, der sich das Ebenbild Gottes dünkt und seiner Geheimnisse teilhaftig zu sein meint, oder derjenige, der in aller Bescheidenheit sich für viel zu gering einschätzt, als dass er jene höchste Intelligenz je erkennen könnte, der das Unerforsch- liche ruhig verehrt und nur danach strebt, sich das Weltall so weit verständlich zu machen, als es seine schwachen Kräfte eben zulassen ?

Eine wunderliche, höchste und doch der menschlichen analoge Intelligenz, die ihre Zwecke bei den Pollenkörnern in den bei weitem meisten Fällen verfehlt! Und ja durchaus nicht bei ihnen allein, denn „der Untergang der Lebenskeime, das Fehlschlagen des Begonnenen ist“, wie Fr. Alb. Lange sehr richtig sagt!), „die Regel, die naturgemäße Entwickelung ist ein Spezialfall unter Tausenden“. „Wenn ein Mensch,“ führt der genannte Philo- soph an derselben Stelle aus, „um einen Hasen zu schießen, Millionen Gewehrläufe auf einer großen Haide nach allen beliebigen Richtungen abfeuerte; wenn er, um in ein verschlossenes Zimmer zu kommen, sich zehntausend beliebige Schlüssel kaufte und alle versuchte; wenn er, um ein Haus zu haben, eine Stadt baute, und die überflüssigen Häuser dem Wind und Wetter überließe: so würde wohl niemand dergleichen zweckmäßig nennen und noch viel weniger würde man irgend eine höhere Weisheit, verborgene Gründe und überlegene Klugheit hinter diesem Verfahren vermuten.“ Wıigand

1) A. a. O. II, 8. 246.

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke. 41 freilich, der einen ähnlichen Standpunkt einnimmt wie Reinke, hat selbst diese Stelle bei Lange, wie letzterer nachweist, total missverstanden.

Und wie sollen wir uns dieser Intelligenz gegenüber die rudi- mentären Organe erklären, die dereinst E. du Bois-Reymond in seinem berühmten Abendkolleg im Auditorium VI der Berliner Universität als die klassischen Zeugnisse gegen jede Teleologie weniger geschulte Zuhörer verstanden „Theologie“ anführte? Wie die Missbildungen, wie die ausgestorbenen Tiere und Pflanzen, wie die von Helmholtz aufgedeckten Unvollkommenheiten des menschlichen Auges, von denen man nach ihm geradezu sagen könnte, „dass die Natur daran ein Gefallen gefunden hat, Wider- sprüche zu häufen, um alle Grundlagen zu einer Theorie einer präexistierenden Harmonie zwischen der äußeren und inneren Welt zu beseitigen“? Wie die zahlreichen Disharmonien beim Menschen und den übrigen Geschöpfen, die vor kurzem wieder Metschnikoff zusammengestellt hat?!). Wo bleibt da der Zweck, wo bleibt er bei so manchen direkt schädlichen, bei anderen mindestens über- flüssıgen, auch ım normalen Zustande vorkommenden Reflexen? Für alle diese Tatsachen habe ich sowohl in Reinke’s Vortrag, als auch in seiner „Einleitung im die Biologie“ vergeblich nach Erklärungen gesucht, und eine höchste Intelligenz, die einmal nach Zwecken schafft und handelt, das anderemal nicht, vermag ich wenigstens nicht mir vorzustellen.

Es ist also nach allem uns Bekannten nicht einmal statt- haft, finale Beziehungen ın der Natur anzunehmen, weil wir uns dadurch in die ärgsten Widersprüche verwickeln würden. Ange- nommen aber selbst, die finalen Erklärungen wären erlaubt, was ist denn bis jetzt mit ihnen erreicht worden und was kann man mit ihnen überhaupt erreichen ?

Allerdings, Christian Konrad Sprengel war „überzeugt, dass der weise Urheber der Natur auch nicht ein einziges Härchen ohne eine gewisse Absicht hervorgebracht hat“, und dachte infolge- dessen darüber nach, wozu denn wohl die Haare auf den Kronen- blättern des Waldstorchschnabels dienen könnten. Er machte sich also derselben Verwechslung zwischen Zweck und Wert schuldig wie Reinke und legte damit den Grund zur heutigen Blüten- biologie. Aber hier war die finale Betrachtung nur der Ausgangs- punkt, von dem die Forschung ihren Anfang nahm, später hat man diesen naiven Anthropomorphismus beiseite gelassen. Alle unsere jetzigen „biologischen Erklärungen“ sind anerkanntermaßen nur einseitige in bezug auf den Nutzen, mit denen wir uns nur so lange begnügen, bis wir auch die physiologischen zu geben imstande sind.

1) Studien über die Natur des Menschen. Leipzig 1904.

42 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke.

Haben aber beispielsweise die Erklärungen mittelst der In- stinkte oder die mittelst der Lebenskraft irgendwelche Fortschritte in der Wissenschaft gezeitigt? Meines Wissens keine, sie haben die Wissenschaft vielmehr aufgehalten. Was die Instinkte anlangt, so ist dafür ein klassisches Beispiel die Art und Weise, wie man, von ihnen ausgehend, über die Entstehung der Bienenzellen ge- schwatzt hat. Sind doch nach Reaumur die Bienen ebenso ge- schickte Mechaniker, wie sie Mathematiker sind. Zu einer Einsicht sind wir erst gekommen durch K. Müllenhoff, der bei seinen Untersuchungen, anknüpfend an Buffon, von rein mechanischen Voraussetzungen ausging!). Man kommt eben nicht weiter mit Worten, mit denen sich kein klarer Begriff verbindet, wie es früher die Instinkte waren, bevor man sie mit Loeb als Kettenreflexe auf- fasste, und wie es die Lebenskraft ıst. Nicht anders aber steht es mit Reinke’s Ausdrücken „Systemkräfte“ und „Dominanten“. Von ersteren sagt er, dass man sie gewöhnlich Maschinenbedingungen genannt habe?). Nun ich meine, das war ein verständlicher Aus- druck, und ich sehe nicht ein, warum Reinke dafür den ganz irre- führenden „Kräfte“ gesetzt hat. Von den Dominanten aber heißt es bei ıhm: „Dass es Systemkräfte sind, ist nicht auszuschließen, doch liegen keine Tatsachen vor, die dafür sprechen?).“ Aber auch keine, füge ich hinzu, die dagegen sprächen, wie er ja selbst zugibt. Wozu also wieder ein neues, unklares Wort? Dass von Menschenhänden gemachte Maschinen nicht wachsen und sich nicht fortpflanzen, dass die Organismen sich überhaupt in vieler Hinsicht von den Hervorbringungen menschlicher Technik unterscheiden, ist ja nichts neues. Wenn aber in den Organismen Dominanten tätig sind, dann sind sie auch im Kristall tätig, der sich zwar nicht fort- pflanzt, wohl aber wächst und sich regeneriert und zwar in einer chemisch-physikalisch vorläufig unbegriffenen Weise).

Ich meine aber, wir haben in Ausdrücken wie „Kraft“, „Polari- tät“ u. s. w. schon genug Worte, deren Bedeutung kein Mensch an-

1) Pflüger’s Archiv Bd. XXXII, S. 589—618. Ich verweise ferner nachträg- lich auf K. Goebel’s schöne Arbeit in diesen Blättern (Bd. XXIV, Nr. 21-—24), „Die kleistogamen Blüten und die Anpassungstheorien.“

2)EA. a..0..,8: 590:

SER 3.10.. 8,591:

4) Hierüber sagt Reinke in seiner „Einleitung in die Biologie“ S. 74 Anm.: „Es muss den Vertretern der Kristallographie überlassen bleiben, zu entscheiden, inwiefern auch in der Kristallisation Finalität hervortritt. Es würde damit eine Brücke zwischen biologischer und anorganischer Morphologie geschlagen sein.“ Nun cut. Dann sehe ich aber auch nicht ein, warum man nicht die Bewegung der Planeten um die Sonne in Ellipsen oder die Ellipsoidgestalt der Erde als Zweck- mäßigkeitseinrichtungen deuten soll, wobei man denn freilich damit in Konflikt kommt, dass die Erde nach Pythagoras aus Schicklichkeitsrücksichten (0. Peschel) eigentlich eine Kugel sein müsste,

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke. 46

geben kann!), dass wir sie ohne dringendste Not, die hier nicht vor- liegt, nicht noch vermehren sollten. Dazu kommt, dass Reinke der- artige Begriffe fortwährend hypostasiert und damit den devil-devil der Australneger wieder einführt, mit dem Fr. Alb. Lange das „Unbewusste* von Reinke’s Verbündetem v. Hartmann so ergötz- lich vergleicht?).. Es ist mir also geradezu unbegreiflich, wie Reinke dazu kommt, sich über die alte Lehre von der Lebenskraft aufzuhalten und sie als eine „biologische Auffassung von höchster Naivetät* zu bezeichnen). Seine Dominanten sind Annahmen von mindestens derselben Naivetät.

„Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff u. s. w.“, schreibt Reinke‘), „besitzen in ihren Eigenschaften nicht die Kraft, einen Organismus zu bilden“ und er meint damit der mechanistischen Auffassung einen Stoss zu versetzen. Ja, kennt er denn wirklich schon alle Eigenschaften jener Elemente und ihrer Verbindungen? Und das müsste er doch, wenn er ihnen jene Fähigkeiten so apodiktisch ab- spricht. Er verkündet also wiederum das schönste Dogma. Und hilft uns sein Vitalismus und seine Finalität auch nur eine Spur weiter zu der Erkenntnis, wie die Organismen entstanden sind? M. E. nicht im mindesten. Durch die „objektive Teleologie wird“, wie Fr. Alb. Lange richtig sagt’), nichts erklärt, und Natur- wissenschaft reicht ein für allemal nur so weit, als die mechanisch- kausale Erklärung der Dinge.“

In der Tat ist ja auch aus der finalen Erklärung meines Wissens bis jetzt nicht eine einzige Entdeckung entsprungen. Wie- viele aber aus der mechanisch-kausalen! Auf die Entstehung der vielbewunderten Bienenzellen habe ich schon oben hingewiesen. Fügen wir noch einige Beispiele hinzu. Auf Grund rein physikalisch erklärbarer Änderungen in der Öberflächenspannung haben Ber- thold®) und später Bütschli’) die Protoplasmabewegungen unserm Verständnis näher gerückt. Mit einem Ohloroformtropfen, der einen Schellackfaden aufnimmt, hat Rhumbler die Aufrollung eines

l) Joseph Petzold („Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung.“ Leipzig 1900, Bd. I, S. 29) sagt: „Was ist... dies Wirkende, dies geheimnisvoll und rätselhaft im ewig dunkeln Hintergrunde Weilende? Es ist die Kraft, so recht ein Wort für einen fehlenden Begriff. Noch keiner hat sagen können, was eine Kraft ist, noch keiner, wie es denn anfängt zu wirken und was das Wirken im letzten Grunde ist. Und trotzdem halten wir solche Begriffe für geeignet, alles Geschehen verständlich zu machen.“

21,4 2:02 1558-279.

3) „Einleitung in die Biologie“ S. 50.

4) A. a. ©. S. 588.

DER AS OFT STD:

6) Studien zur Protoplasmamechanik. Leipzig 186.

‘) Untersuchungen über mikroskopische Schäume und das Protoplasma, Leipzig 1892,

44 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke.

Oscillariafadens, mittels eines von Schellack überzogenen Glas- fadens das Miswerfen des unverdaulichen Diatomeenpanzers seitens einer Amöbe!), mit einem Öltropfen und Quarzkörnchen das Ge- häuse einer Difflugia, vermöge Quecksilberoxydulchromat ver- wickelte Schalenbildungen von Forminiferen bis zu täuschender Ähnlichkeit nachgeahmt?). Bütschli hat die karyokinetischen Figuren in flüssiger Gelatine?), Rhumbler und Bernstein haben künstlich chemotropische Bewegungen hervorgerufen). Entstehen und Vergehen von Vakuolen im Körper von Rhizopoden lassen sich auf Grund der osmotischen Gesetze erklären’), und selbst die Gerüstbildungen der Radiolarien spotten seit Dreyer’s Unter- suchungen‘) nicht mehr der Gesetze der Flüssigkeitsmechanik. Auf alle das wäre man auf dem Wege der vitaliıstischen Heuristik kaum gekommen. Ja, Driesch schemt sich mir mit seinen vita- listischen Anschauungen in direkten Widerspruch zu setzen mit seinen eignen schönen an Echinodermen- und Ascidieneiern er- haltenen Venen. ). Denn wenn in den Organismen überhaupt final mia Kräfte tätig sind, dann muss auch die Anordnung der Zellen bei den I nm sr final bestimmt sein, und es ist nicht einzusehen, wie es möglich ist, dass man diese Zellen beliebig durcheinander werfen kann, ohne dass die normale Entwickelungsfähigkeit darunter leidet.

Und was die Entstehung der Organismen, die Urzeugung von lebensfähigem Protoplasma anlangt, die Reinke für unmöglich erklärt®), so kommt es eben darauf an, dass die richtigen Be- dingungen erfüllt sind, dann dürften die chemischen Verbindungen und a: rein physikalischen Faktoren noch allerhand Unerwartetes und gänzlich Überraschendes leisten. Damit erledigt sich denn auch der von Reinke zitierte Einwand Henle’s®): „Man wird doch nicht sagen wollen, dass Kräfte, die heute das Beben vernichten, in noch gesteigerter Intensität dazu gedient hätten, es zu er- wecken er Nein, nicht in gesteigerter Intensität, wohl aber in

1) PRvsıkalsche Analyse von Lebenserscheinungen der Zelle. Archiv für Ent- wickelungsmechanik Bd. VII, 1898. S. 103—-350.

2) Archiv für Protistenkunde. Bd. I, 1902. S. 193—296 und Zeitschr. f. allg. Physiologie. Bd. II, 1902. S. 181—340.

3) Verh. d. naturh.-med. Vereins zu Heidelberg. N.F. Bd. V, S. 28—41 und Untersuchungen über Strukturen u. s. w. Leipzig 1898.

4) Physikalische Zeitschr. 1. Jahrg. 1899—1900. S. 43—47 und Archiv f. d. ges. Physiologie. Bd. LXXX, 1900. 8. 628—637.

5) K. Brandt in Zool. Jahrb. Bd. IX, 1895. S. 27—74,.

6) Jenaische Zeitschr. f. Naturw. Bd. XXVI, 1592. S. 204—468.

7) Zeitschr. f. wissensch. Zoologie LIII, LV. Biol. Centralbl. XIII, 1893. Anat. Anz. VIII, 1893.

S) A. a. O. S. 597 und anderwärts.

9) A. a. O. S. 598.

10) Anthropologische Vorträge II S

1 w

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke. 45

einem uns noch unbekannten Zusammenwirken, in einer eigentüm- lichen Kombination. Denn durch die oben erwähnten Versuche mit nicht organisierter Materie entstehen, wenn man nur Stoffe und Verbindungen unter geeigneten Bedingungen aufeinander wirken lässt, ohne Dominanten und andere inhaltslose Schemen wie Driesch’s Entelechien oder sein Objektalpsychoid auffallend orga- nismenähnliche Bildungen. Freilich darf man solche Untersuchungen nicht damit anfangen, gleich einen Homunkulus in der Retorte er- zeugen zu wollen. Wenn man damit anfängt, dann wird man freilich mit Reinke daran verzweifeln, dıe verwickelten Harmonien im Körper des höheren Tieres jemals zu erklären. Dann kommt man zu solchen Widersprüchen wie Reinke, der sich ausdrück- lich als Anhänger der herrschenden phylogenetischen Vorstellungen bekennt!) und am Schlusse derselben Seite es als wahrscheinlich hinstellt, dass Ranunculus repens von einer anderen Urzelle ab- stamme als R. bulbosus. Denn warum er gerade bei den Gattungen stehen bleiben will, ist mir unerfindlich?).

Mögen also die jetzigen Mechanisten der Ausdruck selbst- verständlich im dem Sinne angewendet, wie ich ihn oben gekenn- zeichnet habe in Einzelheiten geirrt haben und das ıst ja nicht zu bezweifeln mögen sie darin auch weiter irren, ihr Forschungsprinzip ist das einzige, welches uns zu einer tieferen Einsicht in die Natur verhilft.

„Die Gesetzmäßigkeit der lebenden Wesen,“ sagt Reinke?), „tritt uns vor allem ın der wunderbaren Ordnung und Harmonie ihrer Körper, sowie in ihrer Anpassung an die Außenwelt ent- gegen. In jener Harmonie erkennt die neuere Biologie ein funda- mentales Prinzip. Dies Prinzip der Harmonie bringt es mit sich, dass dem wissenschaftlichen Studium der Nachweis und die Kon- struktion von Kausalbeziehungen zwischen den Lebenserscheinungen nicht genügen kann, sondern dass Finalbeziehungen hinzutreten müssen, wenn wir an eine Erklärung, d. h. vollständige Beschrei- bung der Lebensvorgänge denken wollen.“

DAR a1 0.78..596:

2) A. a. O. S. 596, 597”. Um dem Vorwurfe zu entgehen, als ob ich etwa falsch oder ungenau zitiere, will ich lieber die betr. Stelle noch wörtlich hierher setzen: „wahrscheinlicher dünkt mich das letztere, dass eine sehr große Zahl ähn- licher Urzellen im Anfang diejenigen Erdstriche bevölkerte, in denen die Bedingungen für Leben überhaupt vorhanden waren. Geben wir dies zu, so kann jede heute lebende Spezies von einer anderen Urzelle abstammen, z. B. R. repens von einer anderen als R. bulbosus; nur untergeordnete Rassen entstanden dann später durch Abänderung oder ‚Mutation‘. Wenigstens würde jede Gattung auf eine andere Urzelle zurückzuführen sein. Geben wir uns dieser Vorstellung hin, die zweifellos näher liegt als die ursprüngliche Entstehung einiger weniger Zellen, wie Darwin sie sich dachte, dann hat in vieler Beziehung die Deszendenzlehre an Interesse ver- loren.“ Letzteres vielleicht nicht so, aber sie wird geradezu auf den Kopf gestellt.

DERSAMOFESTHEL:

46 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke.

Kehren wir noch einmal zurück zu dem früher angeführten Grundgesetze von Heinrich Hertz, dann muss auch die Anpassung, wie H. Matzat ausführt !), unter diese Prinzipien fallen: „Ein System passt sich (se) einem andern an“ heisst dann: es ändert sich so, dass es von dem andern weniger gehindert oder gestört und mehr gefördert wird als ohne die Änderung. Und „ein System passt sich (sıbi) ein anderes an“ heisst: es ändert das andere so, dass es von demselben weniger gehindert oder gestört und mehr gefördert wird als ohne die Änderung, Anpassung ist demnach eine Veränderung, durch welche etwas auf kürzerem Wege, in kürzerer Zeit, mit kleinerem Aufwand von Energie und mit kleinerem Zwang geschieht als ohne die Veränderung“ 2).

Es ist klar, dass in diesen Anpassungsvorgängen eine fort- schreitende Vervollkommnung aller körperlichen Systeme, zu denen Hertz, wie gesagt, auch die Lebewesen rechnet, einbeschlossen sein muss, und dass wir auf diesem Wege zu einer Erklärung der Ordnung und Harmonie in der Welt gelangen, die den Eindruck der Zweckmäßigkeit macht, ohne dass wir dazu eines metaphysischen Faktors wıe Zielstrebigkeit oder dergl. benötigt wären). Denn man bedenke, dass Hertz zu seinem Grundgesetz gelangte sich stützend auf reine Erfahrung und auf mathematische Erwägungen. Und so könnte man es denn, da es sich hier um Mathematik handelt, von Reinke's Standpunkt aus auch als eine Zweckmäßigkeitseinrichtung hinstellen, dass das rechtwinklige Dreieck es gestattet, seine Hypo- tenuse aus den Katheten leicht zu berechnen. Dass das absurd ist, wird heutzutage jedermann zugeben. Aber in der Tat hat man früher ähnlichen Auffassungen gehuldigt, über die sich E. Mach auf S. 420—-438 seiner „Mechanik in ihrer Entwickelung* ausspricht. Maupertuis erklärte z. B. sein „Prinzip der kleinsten Wirkung“ für dasjenige, welches der Weisheit des Schöpfers am besten ent- spräche. „Maupertuis war geistreich, aber kein starker Kopf“ sagt Mach. Jedenfalls können in unseren Tagen solche Anschau- ungen nicht mehr bestehen, mit ihnen ist es, seit wir die Hertz’schen Ableitungen besitzen, ein für allemal zu Ende.

In dem Matzat’schen Buche wird der Nachweis zu führen ver- sucht, dass wir sogar imstande seien, die Rechtsverhältnisse und die Organisation der Staaten auf Anpassung zurückzuführen. In

DLR: 2.0..8:,75%

3) Auch J. B. Stallo (Die Begriffe und Theorien’ der modernen Physik. Leipzig 1901. S. 304) kommt ohne Einführung metaphysischer Faktoren zu dem ürgebnis, „dass alle Bewegungen von Elementen endlicher materieller Systeme, die von der gegenwärtigen Wirkung solcher Elemente abhängen, infolge irgend welcher ständiger Beeinflussungen oder Beschränkungen dieser Bewegungen von außen von Unordnung und Unregelmäßigkeit zur Regelmäßigkeit und Ordnung streben“.

4) A. a. ©. S: 578.

Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. 47

einer Zeit, in der also sogar die Geisteswissenschaften beginnen, sich von dem Zweckbegriff loszuringen, kann ich es daher nicht als einen Fortschritt ansehen, wenn Vertreter der Naturwissenschaft auf diesen alten Begriff zurückkommen. Denn die finalen Er- klärungen sind ja schließlich nichts Neues, sie sind vielmehr die urältesten, die jemals gewesen sind, sie sind die naivsten, die es gibt. Ich kann ihnen also in keiner Weise zugestehen, was Reinke von ihnen behauptet, dass sie zeitgemäß wären. Im Gegenteil, sie sind gründlich veraltet.

Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. Von Christian Ernst in Metz.

Im folgenden veröffentliche ich einige der Beobachtungen, die ich seit mehreren Jahren an künstlichen Ameisennestern gemacht habe, und deren Zuverlässigkeit zunächst daran gemessen werden möge, dass ich von Anfang an über alles Gesehene und Erlebte gewissenhaft Tagebuch geführt habe. Die Anregung zu dieser Ver- öffentlichung erhalte ich durch das mir eben erst bekannt ge- wordene Buch von v. Buttel-Reepen, die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienenstaates, sowie einige ermunternde Zeilen von E. Wasmann S.J., dem ich die Einführung in dieses Gebiet ver- danke. Ob alle Beobachtungen, die ich mitteile, ganz neu sind, vermag ich nicht zu beurteilen, da ich abseits der Straße wohne und den neuesten Forschungen nicht so unmittelbar zu folgen ver- mag wie andere, begünstigtere.

1. Bildung einer Kolonie durch eine Königin von Lasius flavus. Am 25. Oktober 1902 fand ich am sonnigen Süd- hang von Le Chenois bei Saulny in verhältnismäßig trockener Lage unter einem dünnen Kalkstein ein befruchtetes, einsames Weibchen von Lasius flavus, das sich dorthin verkrochen und eine kleine ovale Kaule zum Überwintern zurechtgemacht hatte, gerade groß genug, um sich bequem darin umwenden zu können. Ich nahm das Tier mit nach Hause mit der Absicht, die natürlichen Bedingungen, unter denen es überwintern wollte, so gut es ging nachzuahmen und abzuwarten, was daraus werden würde.

Obschon ich damals je nach Art und Größe der unterzubringen- den Kolonien versuchsweise bereits die verschiedenartigsten Nester hergestellt hatte, stellte mich diese isolierte Königin vor eine neue Aufgabe, wo mir Schwierigkeiten, eingebildete oder wirkliche, an allen Enden entgegentraten. Infolgedessen habe ich das Tier in 1°/, Jahren mehr als ein Dutzendmal umgebettet und in neues Nest übertragen. Grundform des Nestes blieb ein kleines Holz- kästchen von der Größe eines Streichholzkästchens, an dem ich nach Bedarf später die verschiedensten Abänderungen vornahm.

48 Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern.

Da das Weibchen, zuerst auf reichliche feuchte Erde gesetzt, sich sofort eingrub, musste ich mich auf eine ganze dünne Schicht Erde beschränken, wenn ich etwas sehen wollte. Dadurch wurde aber Erhaltung einer genügenden Feuchtigkeit ungemein erschwert, so dass ich in der ganzen Zeit einen unaufhörlichen Kampf gegen zu große Nässe, Trockenheit, Schimmel u. s. f. zu führen hatte. Auch die Bedeckung und Lüftung musste hiernach geändert werden. Am besten bewährte sich, dass ich das Kästchen auf nasse Watte stellte und zwar so, dass es nur mit einer Schmalseite die Watte berührte, während die andere Schmalseite, die zugleich als Fütte- rungsseite in Aussicht genommen war, durch ein untergeschobenes Uhrglas luftig und trocken gehalten war. Die erstere Wand wurde innen noch mit einer dünnen Schicht fest zusammen- gedrückter Watte bekleidet, die durch Kapillarıtät verschiedene Grade von Feuchtigkeit bot und später mit der oberen Fläche der bevorzugte Platz der Bewohnerin wurde.

Verhältnismäßig leichter wurde es mir, einen befriedigenden Fütterungsmodus zu finden. Nach einigen Versuchen bheb ich da- bei, dass ich auf der trockenen Seite des Behälters ein kleines Blättehen Kautschukpapier lose auf die Erde legte und einige Krümcehen Zucker darauf streute. Aufbewahrt wurde das Nestchen ım Winter mit meinen übrigen künstlichen Nestern in einem frost- freien Raum, dessen Temperatur vom Dezember ab täglıch ge- messen und notiert wurde. Während die Außentemperatur zwischen 4- 13° C. und 10°C. schwankte, oft mit sehr beträchtlichen Änderungen, ging die Temperatur dieses Raumes langsam zwischen + 10°C. und + 6!/,°C. hin und her.

Gegen das Frühjahr 1903 zeigte das Weibchen auf einmal einen auffallenden Bautrieb. Als ich nach einer mehrtägigen Ab- wesenheit zurückkam, hatte das Tier, da es sich in dıe dünne Erd- schicht nicht einwühlen konnte, einen Teil der Erde domartig über sich gewölbt, so dass dieser Teil wie eine beulenartige, geschlossene Höhle aussah. Da der Behälter damals noch keinen Glasboden hatte, öffnete ick nach einer Woche die Höhle, um zu sehen, ob das Tier noch lebte. Ich fand nichts besonderes. Am 5. April hatte das Tier zum zweitenmal einen solchen Dom über sich vollendet, bis auf ein rundes Loch oben, das am folgenden Tag auch geschlossen war. Als ich am 22. April das Gewölbe vor- sichtig ein wenig öffnete, sehe ich, wie die Königin von 2 auf dem Boden liegenden weißen Klümpchen rasch eines mit den Kiefern aufnimmt und damit in der kleinen Höhle umherirrt. Mit der Lupe erkenne ich deutlich 4-5 zusammengeklebte Eier. Das zweite weiße Klümpchen wird mit der Lupe als kantiges Zucker- krümchen festgestellt.

Am 22. August musste ich die Königin wieder umbetten und

Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. 4)

fand eine gut entwickelte Larve und 3-4 Eiklümpcehen, von denen mir beim Übertragen mit einem angefeuchteten Pinsel ein großer Teil verloren ging. Im neuen Nest hatte die Königin Larve und Eier bald wieder gefunden und zusammengetragen und nahm bei Erhellen des Nestes die Larve bald die Eier auf; Vier Tage darauf hatte sie sich mit der Brut wieder vollständig eingewölbt. Am 3. Oktober wurde der Glasboden, den ıch dem neuen Nest gegeben hatte, mit der Lupe sorgfältig abgesucht. Nach kurzer Erhellung hebt die Königin einen größeren weißen Körper auf. Es ist eine hellweiße Arbeitergruppe mit deutlichem bräunlichen Hinter- fleck. Daneben liegen 1 Larve von mittlerer Größe und 2 Eı- klümpchen von 4—5 und 7—5 Eiern. Wegen zuviel Nässe um- gebettet am 1. November, wobei ich außer der Königin nur 2 Puppen übertragen konnte.

Am 9. November eben ausgekrochenes, kleines, weißes Ameis- chen, das sich nur unvollkommen bewegt. Die Königin geht unruhig darum herum, leckt, betastet, geht zu einer feuchteren Stelle, saugt und kehrt zu der kleinen Arbeiterin zurück. Eme Woche ungefähr, bis die Arbeiterin sich verfärbte, dauerte diese besondere Sorge der Mutter für den Sprössling, nicht unähnlich der Sorge einer Kuh für das Kälbehen. Während dieser Zeit ging die Arbeiterin nicht von der Königin weg, hielt sich mit Vorliebe unter deren Leib auf und tastete öfters hinauf nach der Mutter. Diese tastete ihrerseits mit den Antennen bisweilen nach dem Sprössling und

liebkoste ihn ich muss den Ausdruck für den Vorgang wirk- lich gebrauchen mit leichten, leisen, langsamen Fühlerschlägen.

Ich hoffe nicht, dass man mich der Übertreibung bezichtet, wenn ich sage, dass mir diese eigenartige Fühlersprache als ein Ausdruck der Gemütsbewegung, und zwar des Gefühls der Beruhigung und Befriedigung erschienen ist.

Vom 17. November ab gehörte die ganze Sorge der Königin der Puppe, um die sich dagegen die Arbeiterin gar nicht kümmerte. Am 20. November war der Kokon zur Hälfte aufgeschnitten und die Königin hielt bei Aufdecken des Nestes die neue Arbeiterin, die glasig-weiß war und leblos schien, zwischen den Kiefern. Am folgenden Tag war von der 2. Arbeiterin bis zum letzten Kokonrest alles verschwunden, jedenfalls vergraben. Die 1. Arbeiterin, die sich in den letzten Tagen weiter von der Mutter entfernt hatte, fand ich an diesem Tage zum erstenmal 3 cm von ihr entfernt. Einige Augenblicke nach der Erhellung wird das Weibchen auf einmal unruhig, geht ganz gegen seine Gewohnheit hastig herum mit aufgeregten kurzen Fühlerschlägen. Zuerst glaubte ich, sie suche das 3 cm entfernte Junge, sah aber mit Erstaunen, dass ihre Aufregung sich nicht änderte, als sie dieses gefunden und berührt hatte. Für dieses sonderbare Gebaren des sonst sehr ruhigen

XXV. 4

50 Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern.

Tieres habe ich nur die eine Erklärung, dass ihm die Puppe ein- eingefallen war und dass es nach dieser suchte.

Von nun an stellte sich sonderbarer Weise dasselbe intime Verhältnis zwischen den 2 Tieren wieder her, wie es in der ersten Woche gewesen war, und zwar Monate lang, genau 5 Monate, in denen diese 2 Tiere ganz allein auf sich angewiesen waren, wo die Mutter nur diesen einen Sprössling hatte, und die Arbeiterin über- haupt von keinem Wesen etwas wusste, als von dieser Mutter. Der ständige Aufenthalt beider war die obere horizontale Fläche des Wattefutters, das von der Königin mit kleinen Erdkrümchen geebnet worden war, und fast immer saß die Arbeiterin unter dem Leib der Königin. Am 28. März 1904 fand ich die Arbeiterin zum erstenmal in größerer Entfernung von der Königin auf dem Boden des Kästchens. Bei Erhellung des Nestes wurde die Königin auf dem Wattefutter unruhig, ging auf demselben suchend hin und her und kletterte zuletzt von der Höhe herab der Arbeiterin nach. Der früher beklagte Verlust der bei dem vielen Umbetten verloren gegangenen Brut wurde so für mich die ungewollte Ursache der seltenen und merkwürdigen Erscheinung, dass diese 2 Tiere 5 Monate lang eine Anhänglichkeit aneinander zeigten, wie sie sonst nur von höheren Tieren bekannt ist.

Eine neue, nicht weniger interessante Periode begann am 16. April. Auf dem gewöhnlichen Standort lag ein Klümpchen von 4 Eiern. Weder Königin noch Arbeiterin heben bei Erhellung die Eier auf. Am 17. April liegen die Eier unter dem Maul der Königin, werden von ihr betastet, gestreichelt, beleckt. Die Arbeiterin ist gänzlich gleichgültig. Nach einiger Zeit erst nimmt die Königin die Eier auf. Dasselbe wiederholt sich die folgenden Tage. Am 21. April liegen die Eier ziemlich nass zwischen Arbeiterin und Königin, die die Eier lebhaft streichelt. Die Arbeiterin kümmert sich um nichts. Nach langem Warten hebt die Königin die Eier auf und trägt sie auf ein trockenes Plätzchen. Bald darauf zählte ich 12 große Eier mit schon etwas umgebogener Spitze, die von Königin und Arbeiterin lebhaft betrittert wurden.

Am 4. Mai verlor ich zuerst die Arbeiterin, die, von der ge- ringsten bei laws vorkommenden Größe, auf dem Kautschuk- papier in einem Zuckertröpfehen ertrank. Ich möchte daraus schließen, dass die Fütterung bis dahin von der Königin besorgt wurde, obschon ich das Tier in 1°/, Jahren nie am Futterplatz ge- sehen habe. Einige Wochen beobachtete ich nun wieder genau dieselben Vorgänge, wie zur selben Zeit des vorhergehenden Jahres, dann ging mir während einer mehrtägigen Abwesenheit durch einen unglücklichen Zufall auch die Königin ein. Sie wurde von einer Anzahl Lasius niger, die nachts ausgebrochen waren, gefressen.

Als ich mein erstes künstliches Nest mit F\, sangrinea und

Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala. 51

fusca anlegte, hatte ich in dem Fangglas 7 unbefruchtete Weibchen. Von diesen ging nur ein einziges ohne Hilfe durch das Verbindungs- röhrchen zum Nest hinüber. Die 6 anderen mussten von den Ar- beiterinnen an den Kiefern gepackt und hinübergezogen werden. Ich habe damals hierin eine Bestätigung der oft hervorgehobenen, von Forrel auch anatomisch nachgewiesenen relativen Dummheit der Königinnen gefunden. Nach den Erfahrungen, die ich oben be- schrieben habe, habe ich meine Ansicht jetzt etwas geändert.

Eine Kritik der Erklärungsversuche der lebhaften Hinterflügelfärbung im Genus Catocala Schr. (Lp.). Von Dr. Chr. Schröder (Husum).

Die Nr. 15/16 (XXIV. S. 514—520) des „Biol. Centralbl.“ bringt eine oe ‚neue Erklärung der roten Färbung ım Hinter- flügel bei Chtocala Schr.“ von Ch. Schaposchnikow. Die bisherige Auffassung sprach sie in selektionstheoretischem Sinne entweder als „S Schreek-“ oder als „Lockfarbe*“ an. Gegen beide Hypothesen führt der Verfasser ältere und eigene Einwände vor, die auch ich für vollkommen hinreichend zur Widerlegung dieser Hypo- thesen erachte. Ich wolllte, ich könnte ihn dazu beglückwünschen, sie nunmehr endgültig der Geschichte überliefert zu haben.

Leider aber macht der neue Erklärungsversuch auf mich keinen günstigeren Eindruck, als seine beiden Vorgänger; ich halte ihn für ebensosehr verfehlt. Die Gründe meiner Ablehnung sind folgende; ich schließe sie zunächst an eine knappe Wiedergabe der Darlegung von Ch. Schaposchnikow an.

„Der Bau der Flügel ...., sowie die verhältnismäßige Größe und die Form ihres Körpers geben ihrem Träger die Fähigkeit eines starken und schnellen Fluges.“ Dieser durch nichts gestützten Be- hauptung halte ich entgegen, dass die Form der Catocalen keinerlei Besonderheiten gegenüber vielleicht der Mehrzahl der übrigen Noctuen aufweist. Als einziges präpariertes Vergleichs- material besitze ich leider nur 2 fraxini L., 3 nupta L., 1 pacta L.., lconversa Esp. Die durchschnittlichen Größenverhältnisse finde ich bei nupta L.: Vorderflügellänge zur Körperlänge zur größten Thorax-

breite = 1,15 :1:0,23: Vorderflüselläinee zu ihrem Hinterrande I 9 fe) Oo

zum es Zi 2,2; bei fraxini L.: wie 1,23: 1:0,27 bezw.

wie 4:3,1:2,15. Bei der einzigen Noctue, welche ich w egen ihrer ähn-

lichen unse für diese Kritik zum Vergleic he heran-

gezogen habe, der Brephos parthenias L., sind die Zahlen fast ge-

nau die gleichen. Als beste Flieger unter den Lepidopteren sind

seit langem die großen Sphingiden bekannt, die ganz und gar von

denen der Catocalen abweichende Körper- und Flügelform besitzen. 4*

59 Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala.

„Bei Tage sieht man unsere Catocala meistens auf einem Baum- stamm sitzen; sie ist überaus scheu und flattert (sic.! Schr.) bei der leisesten Annäherung empor; ihr Flug ist kein regelmäßiger, viel- mehr ein unterbrochener; sie wirft sich von der einen Seite zur andern, setzt sich plötzlich auf einen Baum, flattert wieder auf... ., diese unregelmäßigen, unterbrochenen Bewegungen erschweren den Fang des fliegenden Tieres ungemein.“ Auch E. Hoffmann („Die Großschmetterlinge Europas“ 2. Aufl., p. 147. Stuttgart 1894) schreibt: Sie (die Catocalen) sind sehr scheu und flüchtig. L. Glaser („Die Ordensbänder“. Entom. Nachr. 1896, p. 94), dagegen be- richtet: „... und Kenner unter den Sammlern suchen dann die ruhenden Falter bei Tag unter Brücken und Straßendurchgang- gewölben, in Badehäusern, an Planken und Alleestämmen des freien Feldes, oder an Eichenstämmen des Waldes auf. Sıe bemächtigen sich der Schmetterlinge, indem sie durch einen raschen leichten Schlag mit dem Stockknopf oder -Griff auf den Thorax den ruhig- sitzenden Schmetterling zum Herabfallen bringen.“ Diesen Wider- spruch kann ich auf Grund meiner Erfahrungen dahin lösen, dass die GCatocalen bei sonnigem Wetter allerdings recht scheu sind, obwohl sıe einer sich vorsichtig nahenden, geschickten Hand wohl regelmäßig zur Beute fallen, während sie bei trübem, regne- rischen Wetter zum Abschlagen fest zu sitzen pflegen; ich habe sie vor Jahren so ın großer Zahl unter dem Strohdach an Bauernhäusern gesammelt. Eine gleichsinnige Beobachtung gibt auch Ad. Rössler („Die Schuppenflügler des Kgl. Regierungs- bezirkes Wiesbaden“, p. 69. Wiesbaden, 1881) für paranympha L. an: „Der Schmetterling fliegt zuweilen bei Tage. In dem 1822er Jahr beobachtete ich einmal ım Nerotal ein Paar, das ın der Nach- mittagssonne in den Ästen eines großen Apfelbaumes einander nach- jagte, wobeı das Weibchen öfter an größeren Zweigen sitzend, die Flügel wıe ein Tagfalter bald halb zusammenfaltete, bald wieder auseinanderlegte.“

„Der Umstand, dass unser Scchmetterling beim Herannahen eines Feindes nicht, wie andere mimetische (sie.! Schr.) Arten zu tun pflegen, ruhig sitzen bleibt, sondern durch sein Fortfliegen sich zu retten trachtet, deutet bestimmt darauf hin, hier komme zur Selbsterhaltung des Tieres dem Fluge eine größere Bedeutung zu, als der mimetischen Färbung.“ Diese geschickt gegebene Weiter- führung der Färbungsdeutung darf ich nach dem Vorhergehenden als „bestimmt“ unzulässig bezeichnen. Die Catocalen teilen ın ge- wisser Beziehung vollkommen die Gewohnheiten der Rhopaloceren, deren lebhafter, gewandter Flug im Sonnenschein bei trübem Wetter, bei einzelnen Arten selbst, sobald eine Wolke die Sonne bedeckt, einer derartigen Unbeweglichkeit weicht, dass sie mit den Händen zu greifen sind; jedem Lepidopterophilen ist diese Er-

Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala. 5.)

scheinung bekannt. Das Ruhenbleiben bezw. Fortfliegen der Catocalen von ihrem Ruheorte stellt sich demnach als vom Wetter abhängig dar. Diese Lücke in den Folgerungen von Ch. Schaposchnikow würde genügen, dem ganzen Aufbau die Anerkennung versagen zu müssen. Ich will es aber nicht unter- lassen, auch meine weiteren Einwände mitzuteilen.

Diese „größere Bedeutung“ des Fluges charakterisiert der Ver- fasser weiter dahin: (Er) „erreiche den Zweck, den Verfolger irre zu leiten und alsdann ein durch die Färbung unterstütztes, unbemerktes Niedersetzen zu ermöglichen. Der charakteristische Flug unserer Oatocala nötigt den Feind zu einer besonderen Anstrengung seines Sehapparates, um seine Beute im Gesichtskreise zu behalten; diese verfolgend, fixiert der Vogel den hellen Gegenstand, als welcher ihm die fliegende Catocala erscheint. Je heller ihre Färbung wirkt, um so schwieriger wird infolge des Farbenkontrastes der graue Fleck zu erkennen sein, in welchen der Schmetterling im Augen- blicke des Niederfallens besonders auf grauer Rinde sich verwandelt; wäre er ganz grau gefärbt, so würde der Verfolger diesen grauen (egenstand fixierend hauptsächlich seine Umrisse, nicht aber seine Farbe beachten; und demnach bliebe dieser dem Feinde stets sıcht- bar und die Stelle, an der er sich niedergelassen, bliebe ihm eben- falls augenfällig.“ Ch. Schaposchnikow nennt den Flug der Catocalen für sie charakteristisch. Das ist er aber nicht; ıhn zeigen viele tagsfliegende Heteroceren, ich erinnere nur an die etwa gleich große Aylia tau L. Ich vermisse ferner eine Erklärung dafür, was der unregelmäßige Flug für einen Sinn haben kann, da ıhn die „Kontrastfärbung ganz zwecklos macht; mir würde es eher einleuchten, wenn das Bestreben der Natur dahin gegangen wäre, die Catocala durch ihren unterbrochenen Flug, dem der Feind nur mit „besonderer Anstrengung seines Sehapparates“ soll folgen können, und schließlich noch durch den „Seitensprung“ beim Ansetzen zu schützen, als sie zunächst recht sichtbar zu machen und einzig durch den Seitensprung, der mir bei meinen früheren Beobachtungen übrigens nicht aufgefallen ist, zu retten, wenn die Catocalen also zu- gleich schwer zu verfolgen und aufzufinden gewesen wären. Denn wenn der Verfasser meint, dass die Feinde bei einer gänzlich grau- gefärbten (atocala „hauptsächlich die Umrisse fixiert“ hätten, so übersieht er, dass die, wie er p. 513 selbst schreibt, „während des Fluges in schneller Bewegung befindlichen Flügel“ im einen wie anderen Falle ein Fixieren der Umrisse nicht gestatten, dass auch sonst an eine Trennung von Form und Farbe für den Gesichtssinn an sich nicht zu denken ist; nur bei gleichfarbigem Hintergrund kann die Form unscharf werden, eine: von der Umgebung ab- stechende Farbe aber hebt notwendigerweise gleichzeitig die Form hervor.

54 Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala.

So gelingt es Ch. Schaposchnikow auch hier nicht, seine Folgerungen hinreichend zu begründen, und es lässt sich voraus- sehen, dass die, nunmehr folgende Prüfung des Schlussergebnisses auf seine Richtigkeit nur durch neue Unrichtigkeiten eine zu- stimmende Antwort geben kann; so ist es in der Tat. Der Ver- fasser beweist folgendermaßen: „Angenommen dem Schmetterlinge sei seine Kontrastfarbe unbedingt notwendig, so ıst offenbar, dass 1. Schmetterlinge, die zu der oben beschriebenen Flugweise ihre Zuflucht nehmen, die hellste Färbung besitzen müssen; 2. dass die- jenigen, welche helle Hinterflügel aufweisen, auch eine helle Färbung der Unterseite aller Flügel haben müssen, um den Effekt dieser Färbung ım Fluge noch mehr wirken lassen zu können.“ Es würde nicht auffallend sein, wenn sich die Hypothese, welche der Ver- fasser von den Catocalen hergeleitet hat, umgekehrt von ihm wieder auf diese anwenden ließe; doch kann ıch überdies bemerken, dass alle (!)tagsfliegenden Heteroceren, auch die ohne „ablenkenden* Flug (Arituden), „hellste Färbung“ gegenüber den anderen Heteroceren zeigen und dass eine „helle Färbung“ der Flügel- unterseite gerade bei den Noctuen ebenso häufig ist, wie eine oberseitliche Hellfärbung der Hinterflügel. „Da ferner der Schmetterling“, so fährt der Verfasser fort, „je größer er ist, desto weniger Nutzen von seiner mimetischen Färbung zu ziehen vermag, andererseits aber um so besser durch seine Flugkraft sich retten kann, so müssten nach diesen beiden Voraussetzungen die größten Catocala-Arten auch die grellste Färbung zeigen.“ Die größte paläarktische Catocala ist fraxini L., das „blaue Ordensband‘*, dessen keineswegs „grelles“ blaues Hinterflügel-„Band“ von nur etwa !/. Breite der Hinterflügelläinge meist bemerkenswert ver- düstert ıst und bei dem wurzelwärts die Aufhellung der roten und gelben Ordensbänder zugunsten einer schwarzen Pigmentierung der Schuppen überhaupt fehlt. „Die rote Outocala bewohnt vorwiegend die verschiedenen Laubwälder.* E. Hoffmann nennt ]. c. als Futter- pflanzen für die von ıhm aufgezählten „roten Catocalen*“ 5mal Weiden, 2mal Pappeln, 3mal Eichen, Imal Kastanien. Jeder Lepi- depterophile weiß, dass sıch die Falter vorwiegend nahe der Nahrung ihrer Brut aufhalten; aber weder Weiden, noch Pappeln oder Ka- stanien bilden „in der nördlichen Hälfte Europas“ Wälder. An Eichen kommen nach E. Hofmann I. ce. dilecta Hb., sponsa L. (von mir in Holstein [Rendsburg] von Eschen gesammelt) und promissa Esp- vor; die von Ch. Schaposchnikow „als charakte- rıstische Vertreterin für die hier untersuchte Färbung“ hingestellte elocata Esp., deren Raupe auch nach Rössler l. c. an Weiden und Pappelarten“ lebt, hätte demnach „ın Laubwäldern“ eigent- lich nichts zu suchen. „In der Perspektive erscheint ein Wald im allgemeinen als grüner Grund (Laub und Gras) mit einigen

Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala. 55

hellen und dunklen Streifen (Baumstämmen und deren Schatten); folglich gehört als Kontrastfarbe das Rot hierher, welches als Er- gänzung des Grünen dient.“ Die Feinde sehen weder den Wald noch die fliegende Catocala „in der Perspektive“; Wälder von „weniger großer Dichtigkeit“ zeigen aber, innen besehen, wo sich doch die Vorgänge wenigstens teils abspielen sollen, nicht die vorausgesetzte Grünfärbung. Und dann wäre die Wirkung nicht ausgeblieben, wenn der Verfasser selbst darauf hingewiesen hätte, dass zu den „blauen Ordensbändern“ als Kontrast-{Komplementär-)farbe eine orangefarbene, zu den „gelben Ordensbändern“ eine violette Um- gebung gehöre; hier sind es grelle Farben so gut wie dort, nur dass orangene oder violette Wälder gar zu hohe Anforderungen an den wissenschaftlichen Glauben stellen. „Und diese rote Fär- bung muss wiederum besonders an den robustesten Vertretern ihrer Gattung zur Beobachtung kommen.“ Die kleinste von E. Hof- mann 1. c. Taf. 53 abgebildete „rote Ontocala* lupina H.-S. hat 2,3 cm, die größte drlecta Hb. 4 cm Vorderflügellänge; ich empfinde gerade hier den Mangel an präpariertem Material, nach der Ab- bildung aber ıst das Rot bei lupina H.-S. weit lebhafter. Das größte „gelbe Ordensband“ neonympha Esp. 1. c. misst 2,6 cm, die „Kontrastfärbung“ ıst ockergelb; aus welchem Grunde sollte diese Färbung an sich weniger grell wirken als das matte Zinnoberrot einer nupta L., da doch das Maximum der Lichtstärke des Spektrumsüber Gelb liegt. .‚Als Kontrast- farbe der hellen und dunklen Waldstreifen erscheinen ferner die schwarz und weiß gebänderten Unterseiten der Vorder- und Hinter- flügel unseres Schmetterlings, welche die leichte Wahrnehmbarkeit desselben sowohl in hellen als in dunklen Zwischenräumen des Waldes bewirken.“ Weiß kann als Kontrastfarbe nur zu Schwarz wie umgekehrt gestellt werden; „die Unterseite kennzeichnet“ aber „eine von zwei schwarzen Binden begrenzte (sic! Schr.) helle (teils reinweiße Schr.) Grundfärbung.“ Ausgesprochen weiße und schwarze Färbungen wird man im Walde nicht leicht bemerken; man braucht nicht sezessionistischer Maler zu sein, um in ihm gleichermaßen auch die verschiedensten anderen Färbungen zu entdecken und jede „helle und dunkle* Unterflügelfärbung könnte so zu einer Kontrastfarbe kommen. Und diese winzigen hell und dunkel gefärbten Flügelteile gegenüber starken Baumstämmen und ihren Schatten! Mir wäre die Natur nach der Ch. Schaposchni- kow’schen Auffassung weiser vorgekommen, wenn sie die Unter- seiten gleichfarben rot wie die Grundfärbung der Hinterflügelober- seite ausgebildet hätte.

„Mit diesem Auftreten der Catocalen mit roten Hinterflügeln*, fährt dann der Verfasser in einem folgenden Abschnitte fort, „steht auch ihre geographische Verbreitung im Zusammenhang. Besonders

56 ‚Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala.

charakteristisch ist für sie ihr Vorherrschen in der nördlichen Hälfte Europas .. .“ Hieraus hätte der Verfasser richtiger auf einen Zusammenhang zwischen der Temperatur und Färbung ge- schlossen und sich danach an die mancherlei selbst experi- mentellen Beobachtungen erinnern sollen, welche über diese Erscheinung vorliegen. So schreibt M. Standfuß (Handbuch der paläarktischen Großschmetterlinge p. 207, Jena 1896): „Nemeo- phila plantaginis L. erhält in der zweiten Generation an wärmer gelegenen Flugorten öfter auch im männlichen Geschlechte gerötete Hinterflügel (diese beim Typus gelb, bei der ab. hospita Schiff. [Amur, südöstliches Sibirien und Holstein Schr.] weiß, bei der ab. matronalis Fır. [Algen] fast ganz schwarz), die bei der Zucht in erhöhter Temperatur noch häufiger auftreten. Bei der Gattung Catocala sind es umgekehrt die gelben Formen, welche in süd- licheren Klimaten vorherrschen. Nicht einmal das aber ıst ıhr eigentümlich. So kommt der Typus von Callimorpha dominula L. mit roter Grundfärbung der Hinterflügel im mittleren und südlichen Europa vor, die vars. italica Stdfs. und persona Hb. mit ockergelber Grundfärbung der Hinterflügel gehören dagegen wesentlich dem Süden an. „Die in dem erwähnten Gebiete ihr dargebotenen Ver- hältnisse sind folgende: die Wälder zeigen weniger große Dichtig- keit als ın wärmeren Ländern, so dass gewöhnlich genügender Raum bleibt, der dem Schmetterling ermöglicht, seinen Flug aus- zunutzen ...“ Dass die Wälder etwa ın Holstein „weniger dicht“ seien als in Mitteleuropa, wo manche der gelben Arten nicht selten sind, wusste ich nicht; je nach der Beforstung sind sie dichter oder dünner. Wohl wußte ich aber, dass ım Urwald überhaupt kein Leben herrscht und dass gerade die Lepidopteren dunkle (dichte) Wälder überhaupt meiden.

Ich möchte, wenigstens vorläufig, darauf verzichten, auch die letzten beiden Seiten der Ausführung Ch. Schaposchnikow’s so eingehend zu kritisieren. Bei unbefangener Prüfung wird sich mit Sicherheit bereits ergeben haben, dass auch dieser dritte Deutungs- versuch auf mangelhaften oder fälschlich als charakteristisch für das Genus Catocala angenommenen Beobachtungen und Annahmen beruht. Nur noch auf einen sehr wichtigen Punkt will ich hın- weisen. Der Verfasser empfindet sehr richtig die Notwendigkeit, die Feinde zu nennen, gegen welche der „ablenkende Flug“ und „die Kontrastfärbung“ gerichtet sein könnten. Er kommt in einem geistreichen Für und Wider, welches die Hälfte der noch übrigen Darlegung kostet, zu dem Ergebnis, dass es nur „die an den Stämmen kletternden und solche genau absuchenden Vögel (Pieus, Sitta)“ sein können. Die „neue Erklärung“ muss von Anfang bis Ende vor- aussetzen, dass diese Vögel die Gewohnheit haben, die vom Stamm abfliegenden Falter zu verfolgen. Diese Voraus-

Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala. 57

setzung aber ist wiederum völlıg irrtümlich. Mein Kollege J. Rohweder, Mitarbeiter an der Neubearbeitung von Naumann „Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas“, nimmt auf Grund seiner reichen Erfahrungen die Behauptung auf sich, dass Spechte wie Spechtmeisen abfliegende Insekten nicht verfolgen. Es ist daher eigentlich überflüssig, wenn ich dem für die Spechte die Worte „aus Meyer’s Konversationslexikon (16. Bd., p. 189, 5. Aufl.) hin- zufüge, welche sich mit den ausführlichen Mitteilungen in deni ge- nannten Werke völlig decken: „Sie (die Spechte) bewegen sich fast nur kletternd, hüpfen auf dem Boden ungeschickt und fliegen un- gern weit. Sie suchen ıhre Nahrung, hauptsächlich Kerbtiere, hinter Baumrinde ... .“, oder wenn ich bezüglich der Gewohnheiten von Sitta nach Naumann II, p. 304 und 306 anschließe: „Die meiste Zeit hält er sich auf großen alten Bäumen auf, und er kann sich stundenlang auf einer alten Eiche beschäftigen... . An den Bäumen sucht er hauptsächlich im Moose und in den Rissen der Borke ver- steckte kleine Käferchen, Zangenkäfer, die Larven und Nymphen dieser, der Bockkäfer . . .* Vielleicht aber haben die Feinde, gegen welche Flug und Farbe sich wenden, einmal in früheren Erdepochen gelebt, wie man z. B. bei der Mimikryhypothese aus- zuweichen sucht.

Jedenfalls läge es im Interesse Ch. Schaposchnikow’s, wenn er den Aufbau seiner „neuen Erklärung“ einer scharfen Prüfung unterzöge, bevor er daran geht, die vorläufige Mitteilung zu einer endgültigen umzugestalten. Er wird dann auch nicht umhin können, sich über die in Frage kommenden phylogenetischen Beziehungen zu äußern. Denn wenn die „natürliche Zuchtwahl“ all das geschaffenhabensoll, so ist für die Färbung zum mindesten der Nachweis zu verlangen, dass das Rot die phylogene- tisch jüngste Bildung sei. Die außerordentliche Übereinstim- mung der Unterseitenzeichnung (Vorderflügel: Zellenbinde [linea discoidalis], Queraderbinde []. transversalis], Randzellenbinde [l. mar- ginalis], die Zellenbinde am Hinterrande zur Queraderbinde ver- laufend; Hinterflügel: die beiden äußeren) und die weißliche Grund- färbung wenigstens der Vorderflügel weisen auf eine nahe Ver- wandtschaft der verschiedenen Formen hin. Im allgemeinen kann es nicht zweifelhaft sein, dass Rot phylogenetisch jünger als Gelb ist, zu dem es z. B. bei sponsa L. in wenigen Wochen im Sonnen- lichte verblasst, um weiterhin weißlich wie die Vorderflügelunter- seite zu werden; die ontogenetischen Befunde z. B. im Genus Vanessa und chemisch-physikalische Untersuchungen (vgl. M. v. Lin- den, „Die gelben und roten Farbstoffe der Vanessen.“ Biolog. Uen- tralbl. 1903) haben diese Farbenfolge bestätigt. Dem würde ent- sprechen, dass sich bei einzelnen der gelben Arten noch Reste einer ursprünglicheren Längszeichnung erhalten haben, beispiels-

58 Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala.

weise bei paranympha L. und disjuneta H.-G. Allerdings wäre dann die rezentere Form die durchschnittlich größere; doch würde man eine solche Ausnahme gelten lassen können, wie auch M. Stand- fuß 1. ce. p. 153 zutreffend ausführt: „Bei anderen Typen wiederum gehen die Unterschiede der Temperatur Hand im Hand mit einer verschiedenen Dauer des Raupenlebens, so dass sich letztere in der niederen Temperatur stets länger, in der höheren aber kürzer ge- staltet. Es übertrifft in diesem Falle die in niederen Temperatur- graden herangewachsene Form die der höheren an Größe... .* Andererseits liegt auch die umgekehrte phylogenetische Folge der Formen durchaus nicht im Bereiche des Unmöglichen, und ich neige dieser Auffassung zu. Es darf aus der geographischen Verbreitung des Genus Cniocala auf eine Heimat in nördlicheren Klimaten ge- schlossen werden, in denen gegenwärtig die roten Arten weit über- wiegen; ihre verhältnismäßige Größe und die geringe Variations- amplitude ihrer Zeichnung (und Grundfarbe) kennzeichnen sie gegen- über den kleinern, auch in der oberseitlichen Vorderflügelzeichnung variabeleren gelben Arten, deren gelegentliche phylogenetisch ältere Zeichnungselemente auf den Hinterflügeln als Rückschläge gedeutet werden könnten (vgl. Chr. Schröder, „Die Variabilität von Abraxas grossulariata 1.* Allg. Zeitschr. Ent., 1903), als phylogenetisch älter (vgl. Chr. Schröder, „Die Variabilität von Adalia bipunctata L.* Ib. 1901/02). Die gelbe Kontrastfarbe der südlicheren Formen würde dann einem Stehenbleiben auf einer phylogenetisch älteren Stufe während der Entwickelung zur roten Kontrastfarbe gleichkommen, wie es z. B. E. Herrmann für Vanessa urticae L. ın der „Entomol. Zeitschr.“ 1901, p. 54 mitteilt: „Die (unter normalen Zucht- bedingungen in 19 völlig gleichen Individuen erhaltene) Aberration.... zeigt anstatt derüblichen feurigroten Grundfarbe einen gleichmäßigen, ganz hellen ockergelben Farbenton.“ Die strukturell blaue fraxini L., die also eines entsprechenden Schuppenpigmentes entbehrt, sonst aber der Gruppe der roten Arten sehr nahe steht, könnte ihrem Habitus nach der Ausgangspunkt der ganzen Formenreihe gewesen sein, zu- mal O. Staudinger (und H. Rebel: „Catalog der Lepidopteren des paläarktischen Faunengebietes“, p. 247, 3. Aufl., Berlin 1901) ihr eine sehr weite Verbreitung gibt: „Europa centralis, Italia septen- trionalis, Scandinawia meridionalis, Rossia s. m. et m. Rumaenia, Armenia, Altai montes, Terrae Amurenses“; Pigmentlosigkeit würde allerdings an sich auch wohl der Endpunkt einer Reihe sein können. Aus dem mehr als dürftigen vorliegenden Untersuchungsmaterial und besonders dem Mangel an Literatur über die nordamerikanı- schen Catocalen vermag ich einen endgültigen Entscheid in diesen Fragen nicht zu treffen; ich werde die erste Gelegenheit benutzen, um ein größeres Museumsmaterial daraufhin zu studieren. Ch. Scha- posehnikow wird sich über die Bedeutung dieses Entscheides klar

Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala, 59

gewesen sein; ich muss es ihm einstweilen überlassen, den Nach- weis zu erbringen, dass die „roten Catocalen“ die rezentesten Formen darstellen. Sein Erklärungsversuch wäre hiermit natürlich nicht gerettet, ebensowenig die Annahme einer Selek- tionswirkung Denn da sich die gelben Formen in manchen Arten, bisweilen nur örtlich, ebenso zahlreich zeigen, wie die unter gleichen biologischen Verhältnissen lebenden und mit denselben Gewohnheiten ausgestatteten roten, könnte der Färbungswechsel einer „natürlichen Auslese® im Kampfe ums Dasein nicht zuge- schrieben werden, so wenig wie die Nemeophila plantaginis L. abs. oder Callimorpha dominula L. abs. Und würden die roten wie die gelben Arten (vielleicht mit der blauen Art) direkt von einer dritten Form abstammen, so ließe sich von einer Selektionswirkung ebensowenig sprechen, da sich beide Formenreihen in gleicher Vollkommenheit nebeneinander weiter entwickelt hätten.

Will Ch. Schaposchnikow in den Färbungsverhältnissen des Genus Catocala die Tätigkeit der natürlichen Auslese erkennen, so wird er die fernere Notwendigkeit des Nachweises empfinden, dass das rote Pigment der Hinterflügel auch gegen das schwarze Pigment dominiere. Bei fraxrini L. findet sich das strukturelle Blau unterseits zwar auch vorwiegend auf etwa zwei Drittel der Fläche des Hinterflügelsektors am Innenrande, wenn auch in sehr viel schwächerer Ausprägung als oberseits, doch zeigen auch die übrigen Teile der unterseitlichen Grundfarbe mehr oder minder deutliche Spuren des Blau. Die einzige mir vorliegende gelbe Art conversa Esp. zeigt ein ähnliches Verhalten des gelben Pigments, doch mit starker Verdüsterung. Dagegen ist bei den 3 untersuchten »upta 4. das rote Pigment auf der Vorderflügel- unterseite nicht nachweisbar; doch tritt es noch deutlich auf dem vorderen Drittel des Hinterflügelsektors hervor, besonders auch auf dem schmalen Grundfarbenreste am Apex der Hinterflügelunterseite, den die saumwärts verbreiterte Randzellenbinde frei lässt (nicht so bei pacta L.). Es ist aber sehr wohl möglich, dass sich bei anderen Arten rotpigmentierte Schuppen auch in der Grundfärbung der Vorderflügelunterseite werden antreffen lassen!). In jedem Falle wäre hervorzuheben, dass Ober- und Unterseite der Lepidopteren ursprünglich gleiche Färbungsverhältnisse besessen haben werden, unterseits vielleicht in matterer Ausführung; eine derartige Ab- hängigkeit beider erweisen z. B. die zahlreichen experimentell ge- wonnenen und fast bis zum vollständigen Melanismus schreitenden Aberrationen von Abrazas grossulariata L., die ich 1. ec. zum Teil beschrieben und abgebildet habe. Die m. E. in früheren Erdepochen

1) Diese Voraussage haben mir Einblicke in das Catocalen-Material der Mu- seen zu Straßburg i. Els. und Hamburg inzwischen vollauf bestätigt.

60 Schröder, Kritik der Eıklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala.

ganz allgemein lebhafteren Lepidopterenfarben sind allmählich mit dem Abkühlen der Erde der Zeichnung gewichen, die bereits in manchen Fällen bis zur schwärzlichen Zeichnungseimfarbigkeit ge- langt ist. Diese im Gegensatz zu dem grellen als sympathische be- zeichneten Farben treten nach den Untersuchungen von M. Stand- fuß, E. Fischer, J. Th. Oudemans, mir u. A. gerade dort auf, wo das Tageslicht die Flügelspreite zu erreichen vermag. Ich erkenne die Bedeutung dieser sympathischen Färbung - auf Grund umfangreicher experimentell-biologischer und physikalischer Studien, an deren ausführliche Publikation ich demnächst herantreten werde, in dem physiologischen Bedürf- nis (der Lepidopteren) nach Wärmebindung. Es liegen dieser Auffassung die von G@. Kirchhoff über die Beziehungen zwischen dem Emissions- und dem Absorptionsvermögen der Körper für Licht und Wärme 1859/62 aufgestellten Gesetze unter (vgl. „Ab- handlungen über Emission und Absorption von G. Kirchhoff.“ Ostwald’s Klassiker, Nr. 100). So müssen zwar die Erschei- nungen der Schutzfärbung auf die dem Vorstellungsver- mögen reiche Nahrung bietende selektionstheoretische Deutung verzichten, die meinige hat aber den Vorteil, dass sie sich hinreichend begründen lässt.

Dass die sympathische Färbung auf dem Lepidopteren- flügel als Regel rezenteren Ursprungs ist, bestätigt auch die im letzten Jahrzehnt besonders bemerkte Zunahme melanisti- scher Formen von teils ausgeprägtester Eigenart und bisweilen unter völligem Zurückdrängen des Typus. Für den phylogenetisch jüngeren Ursprung der Melanine um solche dem Sepienpigment nahe stehende Farbstoffe handelt es sich hierbei nach meinen Unter- suchungen (vgl. Otto von Fürth: „Vergleichende chemische Physio- logie der niederen Tiere, p. 371 u. a. O., Jena 1903) im Genus Catocala ergeben des weiteren die von N. J. Kusnezow (Revue Russe d’Entom. 1901, Nr. 6) mitgeteilten experimentellen ZJuchten von fraxini L. den Nachweis, der auf dem bekannten Wege durch Einwirkung extremer Temperaturen auf die Puppen- formen erzielte, bei denen die dunkle oberseitliche Bestäubung der Hinterflügel zwischen der Queraderbinde und der Flügelwurzel durch blau erscheinende Schuppenfelder ganz bedeutend aufgehellt ist. Dieses Ergebnis verdient um so höhere Beachtung, als aus dem normalen Fehlen dieser dunklen Bestäubung an entsprechender Stelle der Hinterflügelunterseite nach dem Vorhergesagten auf eine sehr rezente Bildungszeit derselben geschlossen werden musste. Dass die Natur über die Kontrastfärbung auch sonst mit der Melaninfarbe einfach hinwegfährt, lehren die Catocala- Aberrationen mit melanistischer Färbung der Hinterflügeloberseite, z. B. sponsa L. ab. rejecta F. d. W. (,„alis posticis nigricantibus“,

Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala, 61

Ö. Staudinger-H. Rebel, |. c., p. 248), das zeigen vor allem aueh die „schwarzen Arten“ des Genus, die namentlich der Fauna Nordamerikas angehören. Niemand, der der Zeichnungs- phylogenie einige Aufmerksamkeit geschenkt hat, wird in Rück- sicht ziehen, dass diese Arten den Ausgangspunkt einer Formen- reihe darstellen könnten.

Ich bin also der Ansicht, dass sich die lebhafte Grundfärbung des Stammes der Catocalen infolge der Neigung, am Tage zu fliegen, oberseits dort erhalten und vielleicht selbst weitergebildet hat, wo sie von der sympathischen Färbung unberührt gelassen wurde. Das ıst eine mehr oder minder allen tagsfliegenden Heteroceren zukommende Eigentümlichkeit; so ist z. B. auch bei der schon ge- nannten, im System nahe den Catocalen stehenden Brephos par- thenias L., die „im Sonnenschein zu fliegen“ liebt (A. Rössler, l. e., p. 70) die Grundfarbe der Hinterflügel und der ganzen Unterseite ein lebhaftes Ockergelb. Unterseits findet sich, ım Gegensatz zur eben angeführten Art, das (rote) Pigment z. B. bei nupta L. wesentlich nur dort, wo es infolge „des fächerförmigen Zusammenfaltens dieses Flügelteiles“ während der Ruhestellung des Falters „vollständig geborgen“ ist (E. Fischer: „Weitere Unter- suchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften“, p. 167. „Allgem. Zeitschr. Entomol.“, 1902; vgl. auch J. Th. Oudemans: „Etude sur la position de repos chez les l&epidopteres“ Amster- dam 1903); nur auf dem vorderen, der Unterlage des ruhen- den Falters direkt zugewendeten Drittel des Hinterflügelsektors haben sich noch Spuren desselben erhalten. Wollte man die „Kontrastfarbe“ als Endpunkt der Entwickelung auffassen, wäre es auch unverständlich, warum diese durch die rein äußeren Verhältnisse der Ruhestellung des Falters selbst unterseits, wo sie doch die „Schutzfärbung“ der Oberflügel nicht in ihrer Wirkung gefährden könnte, so scharf begrenzt wird. Selbst die Zeichnung ist an den entsprechenden Flügelstellen verloschen, nach allen Be- obachtungen nicht die ursprüngliche Erscheinungsform derselben; hier darf auch darauf hingewiesen werden, dass eine derartige ver- loschene Färbung besonders den Noctuen unterseits überhaupt eigen- tümlich ist. Dieser Vorgang des Verdrängens der Kontrastfarbe hat bei nupta auf der Vorderflügelunterseite bereits sein Ende er- reicht, vielleicht deshalb schneller, weil sie durch die oberseitliche sympathische Färbung nicht gebunden wurde. Wie leicht übrigens das rote Pigment verblasst, ist schon bemerkt.

Ich habe hiermit meine Ansicht von dem Verlauf der Ent- stehung der Färbungsverhältnisse des Genus Catocala in allgemeinen Zügen gegeben. Bei hinreichendem Untersuchungsmaterial hoffe ich eine mehr ins einzelne gehende Lösung dieser Fragen zu er- reichen, wenn auch wohl keine restlose, da die Färbungsverhält-

62 Schröder, Kritik der Erklärungsversuche der Hinterflügelfärbung bei Catocala.

nisse von verschiedenen, teils vielleicht für immer unbestimmbaren, z. B. konstitutionellen Ursachen abhängen. Doch würde ich diese Unkenntnis lieber eingestehen, ohne damit das Streben nach weiterer Erkenntnis preiszugeben, als zu Hypothesen greifen, denen jeder sichere Halt fehlt. Einer Deutung der Färbungsverhältnisse ım besonderen des Genus (atocala auf selektionstheoreti- scher Grundlage kann ich solange nicht den geringsten Wert bemessen, als nicht einmal der Versuch gewast wird, die notwendigsten Voraussetzungen für eine solche Erklärung streng wissenschaftlich zu prüfen. Ich habe in zwölf Jahren etwa 25000 Insekten unter experimentell veränderten Außenfaktoren gezogen, um mich unter anderem über die Färbungs- verhältnisse und deren Gesetzmäßigkeiten zu unterrichten; ich sehe für die Selektion bei ihnen keine Stätte.

Schon Ch. Darwin fürchtete, dass sich der Selektionsgedanke in seinem „Geiste stereotypieren“ möchte (Darwin, Fr.: „Leben und Briefe von Charles Darwin.“ 3. Bd., p. 33. Stuttgart 1887), so sehr, dass ıhm die gerechte Würdigung der gegen ihn vorge- brachten Einwände verloren ginge, und es ist auffallend, wie selbst bedeutendste Forscher bei ıhren selektionstheoretischen Aus- führungen gesicherten Tatsachen völlig widersprechende Behauptungen kritiklos als Beweisglieder verwenden. Ich habe kürzlich („Kritische Beiträge zur Mutations-, Selektions- und zur Theorie der Zeichnungsphylogenie bei den Lepidopteren.“ Allgem. Zeitschr. Entomol. 1904) einen derartigen Vorwurf gegen Aug. Weismann’s Darstellung der „Mimikryerscheinungen bei der afrıkanischen Papilo merope en („Vorträge über Deszendenz- tkeorie“, I. p. 107 u. f.) erheben müssen, von der Aug. Weis- mann ]. c. meint, „dass alle diese Tatsachen mit der Erklärung durch Selektion in schönstem Einklange stehen, jeder anderen Er- klärung aber spotten“; bei einer vorurteilsfreien Prüfung der von mir gleichzeitig gegebenen Deutung dieser Färbungsverhältnisse wird man mit dem Spott, denke ich, nicht weit kommen. Unüber- troffenes ın dieser Beziehung Eimer) über die Tatsachen unbeküm- mert hinwegschreitenden Darstellung leistet sich für dieselbe Pa- pilio sp. R. Woltereck („Die Mimikry und die Enstehung der Arten“. „Polit.-Anthropol. Revue‘ 1904, p. 65), der einen geı radezu klassischen „Beweis“ der artbildenden Tätigkeit der Selelkhıen liefert, für den er doch wohl einen zu rein Leserkreis voraussetzen wird. Allerdings enthält diese ‚„Monatsschrift für das soziale und geistige Leben der Völker“ auch sonst gelegentlich höchst bedenk- liche Urteile. So „erscheint es“ ım Juliheft 1904, p. 219 F. B. Lauertz „fast komisch, wenn allerhand gelehrte Leute‘ bezüglich der Vererbungsfragen anderer Ansicht Sierd als Aug. Weismann. [ch kann mich Mir nicht mehr getroffen fühlen als einer der an-

Heinz, Handbuch der experimentellen Pathologie und Pharmakologle. 63

erkanntesten Autoren auf diesem Gebiete, Yves Delage, der p- 868 seiner „L’Heredite‘“ (Paris 1903) in bezug auf Aug. Weis- mann's Vererbungstheorien schreibt: „Nous croyons avoir montre qu'il est bätı d’hypotheses fragiles, invraısemblables, et, tout en ren- tant justice au talent de son architecte, nous conseillons de l’admirer de loın et de construire ailleurs“. Gegen die Einseitigkeit derartiger wissenschaftlicher (?) Glaubenseiferer mag ein Kampf von vorn- herein nutzlos erscheinen. So lange aber noch Streiter von ernstem Erwägen auf der Gegenseite stehen, wie es sich z. B. in L. Plate’s „Über die Bedeutung des Darwin’schen Selektionsprinzips“ (Leip- zig 1903) ausspricht, der l. e..in der Selektionstheorie schließlich nur noch eine ım einzelnen nicht zu beweisende „logische Folgerung aus allgemeinen Grundsätzen“ erblickt, darf aus einer gesunden Kritik ein Fortschritt unserer Erkenntnis erhofft werden.

Ich habe nicht daran denken können, meine Anschauungen hier in aller Ausführlichkeit zu entwickeln; immerhin glaube ich bereits ım vorhergehenden ein Material an Einwänden vorgebracht zu haben, das ernster Prüfung wert ist. Ich erwarte eine Wider- legung oder ein endliches, endgültiges Fallenlassen der m. E. un- haltbaren und fruchtlosen selektionstheoretischen Spekulationen im besonderen über die Färbungsverhältnisse im Genus Catocala.

R. Heinz. Handbuch der experimentellen Pathologie und Pharmakologie. Bd. 1. Erste Hälfte. Gr. 8. 479 S. G. Fischer, Jena 1904.

Es braucht wohl kaum eingehend nachgewiesen zu ‚werden, dass ein Buch mit dem angegebenen Titel auch für den Biologen, für den Leser dieses Blattes, von großem Interesse sein kann. Wenn auch das Objekt der experimentellen Pathologie und Pharma- kologie ın erster Linie der kranke lebende Organısmus ist, das Objekt der Biologie dagegen ım allgemeinen der normale Organis- mus, so sei nur daran erinnert, dass die physiologische Methodik vielfach darin besteht, ein Organ auszuschalten, d.h. unter anderem: krank zu machen oder es in einen abnormen Tätigkeitszustand zu versetzen, um den Wert seiner Funktion für den ganzen Lebens- haushalt zu erfahren; es sei an die Bedeutung des Curare für die Muskelphysiologie, der Narkotika für das Studium der nervösen Verrichtungen, des Pilokarpin für die Physiologie der Drüsen, der Cytolysine, besonders der Hämolysine für die Aufklärung des Organstoffwechsels, des Fluornatriums für die Fermentstudien er- innert. Daraus ergibt sich, dass es ebenso notwendig für den ex- perimentierenden Pathologen und Pharmakologen ist, sich um die

64 Heinz, Handbuch der experimentellen Pathologie und Pharmakologie.

Leistungen der Physiologen zu kümmern, wie der Biologe auf die Forschungen jener zu achten hat.

In dem vorliegenden ersten Band des Handbuches von Heinz finden sich nun in sehr bequemer Form vereint die Forschungs- ergebnisse im Gebiet der experimentellen Pathologie und Pharma- kologie, die zum Teil ohne weiteres das Interesse des Biologen in Anspruch nehmen. Die vier ersten Kapitel, die von den Salz- und Ionenwirkungen (1), von den Aetz-, adstringierenden und antisep- tischen Wirkungen (2), von der Protoplasmagiftwirkung (3) und von der Entzündungserregung (4) handeln, bringen das, was man viel- leicht als eine allgemeine experimentelle Pathologie und Pharma- kologie bezeichnen sollte, insofern als diejenigen Eingriffe zur Be- sprechung gelangen, die allgemein, unabhängig von der speziellen Funktion und Organisation der Protoplasten, wirksam sind. Im fünften Kapitel folgt dann als erster Abschnitt der speziellen ex- perimentellen Pathologie und Pharmakologie die Besprechung des Blutes. Aus diesen fünf Kapiteln möchte ich als besonders wichtig für den Biologen herausheben das Referat über Ionenwirkungen, die Erörterung der antiseptischen Wirkungen, die Abschnitte Che- motaxis und Phagozytose.

Allem vorangestellt ist eine kurze physikalische Chemie der Zelle. Es ist natürlich vollkommen berechtigt, wenn der Verf. von den normalen Eigenschaften der Protoplasten zuerst etwas sagt; denn ohne deren Kenntnis sind die pathologischen Erzeugnisse ja doch nicht zu begreifen. Aber die Kenntnis der Physik und vor allem der Chemie der Zellen ist schließlich ebensogut Vorbedingung, wie die Kenntnis der physikalischen Chemie, und so hätte nach der Meinung des Ref. die letztere (resp. einige Kapitel aus der letzteren, nämlich: osmotischer Druck, Permeabilität, Leitfähigkeit, Ionenwirkungen) nicht für sich allein behandelt werden sollen. Die getroffene Auslese aus der Physiologie ist nur dann begreitlich, wenn es dem Verf. allein darauf ankam, auf die allerneusten For- schungsergebnisse und -methoden der verwandten physiologischen Wissenschaft aufmerksam zu machen.

Jedem Kapitel ist, ein methodologischer Abschnitt einge- gliedert, der sehr brauchbare Anleitungen zum Experimentieren enthält.

Das Werk kann allen, die sich orientieren wollen, warm em- pfohlen werden. [67]

R. Höber (Zürich).

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer.

Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen,

Biologisches Centralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

XXYV.Ba. 1. Februar 1905. Me 8.

Inhalt: Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie. Thon, Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden. Jennings, The Movements and Reactions of Amoeba. Zacharias, Uber eine Wasserblüte von Volvor minor und Volvor globator. Riehtigstellung. Berichtigung.

Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie'). Von K. Goebel.

Vor einigen Monaten war ich in Jena, um der Enthüllung des Denkmals von M. Schleiden beizuwohnen. Nun gibt es wohl kaum eine andere Stadt, welche für die Entwickelung der Pflanzen- morphologie so von Bedeutung war, wie diese kleine deutsche Universitätsstadt. Dort hat Goethe, der Schöpfer der Bezeichnung „Morphologie“ oft sich mit morphologischen Studien beschäftigt und die bis in unsere Tage wenn auch oft unbewusst nach- wirkende idealistische Morphologie begründet. Dort hat Schleiden in ausgesprochenem Gegensatze gegen die Begrifiskonstruktionen der idealistischen Morphologie, die von Kaspar Friedrich Wolff in dem benachbarten Halle in der Mitte des 18. Jahrhunderts be- gründete Entwickelungsgeschichte neu belebt und so den Weg zu den glänzenden Entdeckungen Wilh. Hofmeister’s gebahnt. Und wer wüsste nicht, welche Bedeutung Jena als Hochburg phylo- genetischer Morphologie in Deutschland gewonnen hat? Zunächst

1) Vortrag gehalten auf dem ‚International congress of arts and science“ in S. Louis, 21. Sept. 1904. Das Thema wurde von der Kongressleitung vorgeschlagen ; da die Dauer der Vorträge auf 45 Minuten festgesetzt war, konnten alle Fragen nur angedeutet werden. XXV, 5

66 Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie.

durch Haeckel in der Zoologie, dann aber durch Strasburger auch in der Botanik. In einer so morphologischen Atmosphäre drängt sich von selbst die Frage auf: wie verhalten sich die morpho- logischen Probleme der Gegenwart zu denen der Vergangenheit? Sind es, trotz der ungeheuren Vermehrung des empirischen Materiales noch dieselben und nur die Methoden zur Lösung der Probleme andere geworden, oder haben sich die Probleme selbst geändert?

Die Beantwortung dieser Frage ıst nicht leicht, und sie muss je nach dem Standpunkt des Beantworters verschieden ausfallen. Denn die Morphologie ıst noch weit davon entfernt, eine exakte Wissenschaft zu sein, deren Resultate mit zwingender Notwendig- keit sich ergeben. Es hängt dies mit der Schwierigkeit des Gegen- standes zusammen, welche vielfach uns noch auf Hypothesen und andere subjektive Hilfsmittel hinweist. Dies bedingt, dass die An- sichten nicht nur über das Ziel der Morphologie, sondern auch über die Frage, auf welchen Wegen das Ziel zu erreichen ist, ausein- andergehen, und meine Ansicht über die Grundprobleme der Morpho- logie ist sicher weit davon entfernt, von allen Morphologen ge- billigt zu werden.

Wir können wohl sagen, dass von kleineren Differenzen abge- sehen derzeit zwei Hauptrichtungen sich wenigstens scheinbar ın der Morphologie gegenüberstehen, von denen wir die eine als der formalen, die andere als die der kausalen Morphologie bezeichnen können. Als kausale Morphologie bezeichnen wir die Richtung, welche die Ursachen (im weitesten Sinne) für die Gestaltungs- verhältnisse zu ermitteln sucht; diese Richtung ist die jüngste, und viel weniger verbreitet als die formale Morphologie. Dem Ferner- stehenden mag es als ein wunderliches Pleonasmus erscheinen, wenn von „formaler Morphologie“ gesprochen wird. Morphologie heisst ja: Lehre von der Gestaltung, oder Form, also scheint jede Morphologie von vornherein eine formale sein zu müssen und ist es der historischen Entwickelung nach auch tatsächlich gewesen. Aber trotz diesem Bedenken ist jener Ausdruck gerade historisch berechtigt, denn er bezeichnet die Richtung der Morphologie, welche die Gestaltungsverhältnisse als etwas für sich bestehendes betrachtet und sich weder um die Funktion der Organe, noch um die Bedingungen, unter denen sie entstanden sınd, kümmert. Diese formale Morphologie ging ursprünglich aus von den Bedürfnissen der Systematik. Sie sollte dieser zunächst eine brauchbare Ter- minologie für die Unterscheidung und Beschreibung der einzelnen Pflanzenformen schaffen. Über diese Aufgabe ging die Morphologie aber bald hinaus, sie wurde zu einer selbständigen Disziplin, die ıhrerseits der Systematik viel wertvollere Dienste geleistet hat, als man ursprünglich erwarten konnte. Denn während die Systematik, um sich in der Mannigfaltigkeit der Pflanzenformen zurechtfinden

Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie. 67

zu können, auf die Unterscheidungsmerkmale, auf das Trennende der einzelnen Formen vonemander zunächst ausging, sah sich die Morphologie genötigt, gerade das den verschiedenen Formen Ge- meinsame zu suchen und herauszufinden, sie ward naturgemäß auf allgemeinere Fragen hingewiesen; die Morphologie lernte, wie Goethe sich ausdrückt, „Die Glieder der Pflanzen im Zusammen- hange zu betrachten, und so das Ganze in der Anschauung ge- wissermaßen zu beherrschen.“ Sie gelangte dabei zu der Erkenntnis, dass, wenn wir die einzelne Pflanze betrachten, die Mannigfaltigkeit der Gestaltungsverhältnisse doch auf einige wenige Grundformen zurückgeführt werden könne, und ferner ergab die morphologische Erforschung, dass der Zusammenhang der einzelnen Pflanzenformen am einfachsten sich verstehen lasse unter der Annahme, welche wir als die Deszendenztheorie bezeichnen. Die Aufstellung der Deszendenztheorie war das Resultat morphologischer Forschung. Das ist hier besonders zu betonen, denn es zeigt, welche Bedeutung die Morphologie für unsere Gesamtauffassung der Organismen ge- wonnen hat. Aber die Deszendenztheorie hat auch sehr tiefgreifend auf die morphologische Forschung zurückgewirkt, so sehr, dass man als die Aufgabe der Morphologie teilweise ausschließlich deszendenz- theoretische Forschungen aufgestellt hat. So sagt z. B. Scott (Address to the botanical section, British association for the ad- vancement of science, Liverpool 1896). „The object of modern morphological botany is the accurate comparison of plants, both living and exstinct, with the object of tracing their real relationships with one another, and thus of ultimately constructing a geneo- logical tree of the vegetable kıngdom. The problem is thus a purely historical one, and is perfectly distinet from any of the questions with wich physiology has to do.“

Diese Auffassung ist gewiss berechtigt vom Standpunkte des Paläontologen aus. Für ihn, dem nur totes Material zur Verfügung steht, bleibt tatsächlich nichts anderes übrig, als durch sorgfältige vergleichende Untersuchung Bau und Verwandtschaftsverhältnisse der Organismen, welche uns Reste hinterlassen haben, zu ermitteln. Diese Aufgabe ist eine sehr wichtige. Die schönen Resultate phytopaläontologischer Forschung, wie sie namentlich in England und Frankreich in den letzten Jahrzehnten gewonnen worden sind, haben unsere Kenntnis der Pflanzenformen sehr wesentlich er- weitert und längst von der Erdoberfläche verschwundene Typen selbst in minutiösen Einzelheiten ihrer Struktur in überraschender Weise wieder vor unserem Auge aufleben lassen.

Aber gilt diese, dem Paläontologen auferlegte Beschränkung morphologischer Forschung auf die vergleichend phylogenetische Methode auch für die morphologische Untersuchung lebender Pflanzen?

DZ

08 Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie.

Mit Scott sind viele dieser Ansicht, ja man hat sogar von einer besonderen „phylogenetischen Methode* gesprochen, welche für die moderne Morphologie charakteristisch sein soll.

Wäre dies der Fall, so würde der einzige Unterschied der heutigen Morphologie von der früheren, der idealistischen Morpho- logie darin bestehen, dass an Stelle der allgemeinen Begriffe, mit denen diese operierte, wie z. B. „Typus“, „Organisationsplan“ u. s. w. phylogenetische Vorstellungen traten. Solche allgemeine Abstraktionen sind aber auch jetzt noch schwer zu vermeiden, da wir in den wenigsten Fällen wirkliche Deszendenzreihen aufstellen, also auch die Stammformen nicht in Wirklichkeit nachweisen können. "Sagt doch selbst Darwin!): „Wir haben gesehen, dass die Glieder einer und derselben Klasse, unabhängig von ihrer Lebensweise, einander ım allgemeinen Plane ihrer Organisation gleichen. Die Übereinstimmung wird oft mit dem Ausdruck „Einheit des Typus“ bezeichnet; oder man sagt die einzelnen Teile oder Organe der verschiedenen Spezies einer Klasse seien einander homolog. Der ganze Gegenstand wird unter dem Namen Morphologie be- griffen. Das ıst einer der interessantesten Teile der Naturgeschichte und kann deren wahre Seele genannt werden.“

Nachdrücklicher als dies Darwin getan hat, konnte man die Bedeutung der formalen Morphologie kaum hervorheben. Und doch sehen wir, dass ın Deutschland wenigstens das Interesse an morphologischen Problemen sehr abgenommen hat. Morphologische Abhandlungen sind verhältnismäßig wenig zahlreich geworden, morphologische Bücher, selbst so vortreffliche wie z.B. Eichler’s „Blütendiagramme“* erleben keine zweite Auflage, während ana- tomische und physiologische Handbücher in wiederholten Neuaus- gaben erschienen, also offenbar dem Bedürfnis des botanischen Publikums mehr entsprechen, als morphologische Werke. Das kann Gründe haben, die außerhalb, und solche, die innerhalb der Morpho- logie liegen. Beides trifft wohl zu. Histologie, Zellenlehre und Experimentalphysiologie haben sich mächtig entwickelt, neue Me- thoden versprechen in diesen Disziplinen neue Resultate; einzelne Richtungen aber wie die deskriptive Anatomie sind dadurch beliebt geworden, dass die Vervollkommnung der Untersuchungsmethoden die Durcharbeitung des umfangreichen Materials ganz außerordent- lich erleichtert hat, selbst für solche, die andern Aufgaben der Botanik mehr oder weniger fremd gegenüberstehen.

Aber auch in der Morphologie selbst liegende Gründe lassen sich deutlich für die bezeichnete Erscheinung erkennen. Einige Gebiete der Morphologie sind wesentlich ausgebaut, wie z. B. die Lehre von den gröbern Gestaltungsverhältnissen der Pflanzen, auch

1) Ursprung der Arten, deutsche Übersetzung 6. Aufl. p. 516.

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die Homologien sind wenigstens in großen Zügen festgestellt, wenn auch im einzelnen noch manches unklar und für eingehende entwickelungsgeschichtliche Untersuchungen noch ein weites Feld bleibt. Immerhin tragen diese mehr das Gepräge von Nachunter- suchungen und Ergänzungen, denen der Reiz der Neuheit häufig mangelt, oder sie sind nur ausführbar an schwer erreichbarem Material. Die Konstruktionen der idealistischen Morphologie aber erwiesen sich vielfach als unhaltbar.

Aber auch die ersten Versuche, zu einer kausalen Morphologie zu gelangen, brachten Enttäuschung. Nur kurze Zeit glänzte die Hoffnung, morphologische Probleme, wie z. B. die Frage. nach den Anordnungsverhältnissen der Blätter durch Einwirkung mechanischer Faktoren lösen, oder die Gestaltungsverhältnisse auf die direkte Einwirkung von Schwerkraft und Licht auf die Pflanze zurück- führen zu können. Bald stellte sich heraus, dass mit so einfachen Mitteln so verwickelte Probleme nicht zu lösen seien, und eine solche Erkenntnis mag mit dazu beigetragen haben, das Interesse an der Morphologie überhaupt in den Hintergrund zu drängen.

Da schien die phylogenetische Morphologie neues Leben zu verheissen. Dieses aber ist in der Naturwissenschaft geknüpft an das Auftreten neuer schöpferischer Gedanken einerseits, an die Auffindung neuerer Methoden andererseits. Nun hat die Deszendenz- theorie zweifellos die morphologische Forschung mächtig angeregt. Aber hat sie ihr, wie z. B. Strasburger annahm, eine neue Me- thode, die phylogenetische Methode gebracht? Schon Al. Braun hat mit Recht diese Frage verneint.

Auch Scott hebt hervor, dass die historische Morphologie (sowohl was die fossilen als was die lebenden Pflanzen anbelangt) auf vergleichende Untersuchung angewiesen sei, also dieselbe Methode anwende, wie sie schon vor dem Durchbruch der Des- zendenztheorie vorhanden war; sind doch die wichtigsten Homo- logien im Pflanzenreich durch Hofmeister erkannt worden zu einer Zeit, in welcher der Deszendenzgedanke von allgemeiner An- erkennung, wie er sie erst durch Dar win’s Lebensarbeit fand, weit entfernt war.

Die Methode ist also vorher wie nachher dieselbe geblieben: die möglichst allseitiger und umsichtiger Vergleichung nicht nur der fertigen Zustände, sondern auch der Entwickelungsgeschichte. Eine besondere „phylogenetische Methode“ gibt es also nicht, sondern nur eine phylogenetische Fassung morphologischer Probleme. Diese aber sind eben zunächst ebenso wie bei der idealistischen Morphologie rein formale. Die moderne Morphologie in meinem Sinne aber unterscheidet sich gerade dadurch von der älteren, dass sie über die Methode des bloßen Vergleiches hinausgeht und die Aufstellung von Stammbäumen einstweilen auf sich beruhen lässt, zumal diese

70 Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie.

bei unseren jetzigen Kenntnissen vielfach auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt und uns fast ebensoviele Enttäuschungen ge- bracht hat, als die idealistische Morphologie. Gerade deshalb, weil wir überzeugt sind, dass auch bei der phylogenetischen Entwickelung keine andern Kräfte wırksam waren, als die, welche jetzt noch die Entwickelung jedes einzelnen Organismus beherrschen, wollen wir zunächst diese näher kennen lernen. Es handelt sich dabei nicht nur um die Feststellung der einzelnen aufeinander folgenden Ent- wickelungsstadien. Diese hat selbstverständlich zunächst zu er- folgen, aber außerdem wollen wir auch alle unseren Beobachtungs- mitteln zugänglichen Veränderungen, welche mit der Entwickelung verknüpft sind, kennen lernen, sowohl die direkt mit dem Mikroskop sichtbaren als die, welche die chemische Analyse erkennen lässt. Wir können also auch sagen: das Grundproblem der heutigen Morpho- logie ist nicht die Erforschung der phylogenetischen Entwickelung, sondern das der Entwickelung überhaupt. Dabei haben wir natur- gemäß auszugehen von der Untersuchung der Einzelentwickelung, der Ontogenie, denn nur diese liegt uns vollständig und lückenlos vor und namentlich erlaubt nur die ontogenetische Forschung eine experimentelle Fragestellung. Ein Verständnis der Entwickelung aber ıst nur möglich, wenn wir die Vorstellungen, zu welchen uns die Beobachtung der Entwickelungsvorgänge geführt haben, experi- mentell prüfen, wenn wir mit anderen Worten an die Natur Fragen stellen und Antwort auf diese erhalten können.

Jeder kleine Schritt und nur um solche kann es sich zu- nächst handeln über die bloß beschreibende Betrachtung der Entwickelung hinaus ist hier von Bedeutung und bietet die Mög- lichkeit weiterer Fortschritte, so klein auch diese zunächst denen erscheinen mögen, die noch von der Jugendzeit der phylogenetischen Morphologie her sich den Mut bewahrt haben, den Sisyphusblock der Stammbaumphylogenie, der so oft schon den Berg hinabgerollt ist, unermüdlich wieder bergauf zu wälzen.

Es mag versucht werden, das Verhältnis zwischen phylogene- tischer und kausaler Morphologie an einigen Einzelbeispielen näher zu erörtern.

Eine der Veränderungen, welche die phylogenetische Morpho- logie mit sich gebracht hat, ist die, dass sie zu ermitteln sucht, welche Formen „primitiv“ sind, welche abgeleitet. Die idealistische Morphologie hatte zu dieser Fragestellung keine Veranlassung, da sie alle Gestaltungsverhältnisse von einem, nur als Begriffskonstruk- tion vorhandenen Typus ableitete. Die phylogenetische Morphologie aber muss einerseits stets mit der Möglichkeit polyphyletischer Ent- wickelung rechnen, andererseits kann sie nicht nur mit Rück- bildungen operieren, wie dies die idealistische Morphologie tat, sie muss vielmehr bestrebt sein, innerhalb der Reihen, welche sıe auf-

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stellt, diejenigen Formen zu ermitteln, welche dem gemeinsamen Ausgangspunkte näher stehen, als andere. Sie sucht also mit Eifer nach „primitiven“ Formen. Aber dies Suchen stößt auf große Schwierigkeiten. ° Wir werden zunächst geneigt sein, einfache Ge- staltungsverhältnisse mit wenig ausgeprägter Arbeitsteilung als primitive zu betrachten. Allein derartige Formen können auch durch Rückbildung entstanden sein, und wenn man die botanische Literatur betrachtet, so sieht man, dass wenigstens was den Zu- sammenhang der größeren Truppen anbelangt, keinerlei Überein- stimmung darüber besteht, welche Formen als primitive zu betrachten sind, welche als abgeleitet, vielfach wechselt die Auffassung wie die Mode. So hat man bisher die thallosen Lebermoose als primitiver betrachtet, als die foliosen, weil der Vegetationskörper der ersteren viel einfacher geformt ist, als der der letzteren, und zudem zwischen beiden sanft abgestufte Übergänge vorhanden sind. Neuerdings aber ist der Versuch gemacht worden, die thallosen Formen von den foliosen abzuleiten. Es ist hier nicht der Ort, die Gründe, welche für oder gegen eine solche Ableitung sprechen, zu erörtern. Wie schwankend der Standpunkt ist, von welchem aus beurteilt wird, welche Formen primitiv seien, das zeigt auch die verschiedene Stellung, welche man den apetalen Dikotylen im Laufe der Zeit angewiesen hat.

Die alte Morphologie betrachtete sie, weil ıhre Blüten unvoll- ständiger ausgestaltet sind als die der meisten übrigen Dikotylen als reduzierte Formen. Schon Eichler hebt aber hervor, dass für die „Julifloren“ und einen Teil der „Zentrospermen“ kein Grund vor- liege, die Verkümmerung der Blumenkrone anzunehmen, und darın wird man ihm nur beistimmen können. Aber müssen sie deshalb, weil die Blütenhülle einfachere Gestaltungsverhältnisse aufweist, und auch die Zahlenverhältnisse innerhalb der Blüten nicht immer konstant sind, primitiv sein? Selbst wenn wır annehmen, dass diese Gruppen ein hohes geologisches Alter haben, so ist damit nicht bewiesen, dass sie in ıhrer Gesamtorganisation auf einer niederen Stufe der Entwickelung stehen; alte und primitive Formen wären nur dann dasselbe, wenn sich zeigen ließe, dass die ersteren den Stammformen der Angiospermen näher stehen als andere. Ist das nicht nachweisbar, so können jene alten Formen ebenso das Ende einer langen Entwickelungsreihe sein, wie andere, nur dass die Organgliederung nicht dieselbe Höhe erreicht hat, wie bei an- deren. Nun kennen wir die Stammformen der Angiospermen nicht und werden sie vielleicht auch nie kennen lernen. Aber selbst wenn wir uns begnügen, sie uns auf Grund vergleichender Unter- suchungen zu rekonstruieren, kann ich keinen Grund finden, z. B. die Kupuliferen als primitive Formen zu betrachten, wohl aber viele, dies nicht zu tun. Dahin gehört die Chalazogamie, welche auch

72 Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie.

sonst bei Formen auftritt, die sich als rückgebildete betrachten lassen, dıe Tatsache, dass von den Samenanlagen nur wenige sich weiter entwickeln, dass sie zur Zeit der Bestäubung bei manchen Formen noch gar nicht vorhanden sind und endlich die Dikline der Blüten. Man hat sich vielfach darüber gestritten, ob Zwitter- blüten für diese Formen als ursprünglich anzunehmen seiten oder nicht. Betrachten wir z. B. die Kupuliferen. Die meisten Formen haben durchaus dikline Blüten. Bei Castanea vesca aber kommen Zwitterblüten regelmäßig vor und in den männlichen Blüten sind häufig Rudimente des Fruchtknotens, in den weiblichen Staminodien nachweisbar. Wir wissen aber, dass für verkümmerte Organe alle Stufenfolgen bestehen von nahezu vollständiger Ausbildung bis zum vollständigen Verschwinden. Man wird hier also vom formalen Standpunkt aus die Zwitterblüten mit mindestens ebensoviel Recht als primitive betrachten können, als man in neuerer Zeit die Di- klinen dazu stempelt. Gerade diese Frage aber ist geeignet, den Unterschied zwischen rein phylogenetischer und zwischen kausaler Morphologie zu erläutern. Die letztere sagt: mit dem bloßen Ver- gleichen der Formen lassen sich die morphologischen Fragen über- haupt nicht entscheiden. Wir müssen das zu Vergleichende vor allem näher kennen lernen, indem wir die Bedingungen zu ermitteln suchen, unter denen sich bei den lebenden Pflanzen die Form- gestaltungen vollziehen. Bei den Blüten der Kupuliferen fragt es sich also zunächst: ıst das Auftreten von männlichen und weiblichen Blüten an verschiedene Bedingungen gebunden und sind diese andere als die für die Zwitterblüten? Tatsächlich lässt sich z. B. bei der Eiche erkennen, dass die weiblichen Blüten stets in solchen Teilen der Jahrestriebe auftreten, welche kräftiger, also besser ernährt sind als die, welche männliche Blüten hervorbringen. Das ist zunächst nur ein Anhaltspunkt für eine eingehendere Fragestellung und Unter- suchung. Wenn wir aber den Zusammenhang der Blütenbildung mit dem Gesamtleben dieser Bäume näher kennen werden, wenn wir es ın der Hand haben, sıe willkürlich zur Hervorbringung von männlichen, weiblichen oder Zwitterblüten zu veranlassen, wenn wir ferner wissen, wodurch es bedingt ist, dass die Eiche von sechs Samenanlagen nur eine auszubilden pflegt, und warum der Pollen- schlauch hier einen anderen Weg einschlägt als sonst, dann wollen wir die Frage weiter erörtern, ob die Kupuliferen primitiv sind oder nicht denn dann werden wir eine bessere Basıs für phylo- genetische Schlüsse haben als jetzt, und die Veränderungen, welche mit jenen Organen höchst wahrscheinlich vor sich gegangen sind, erkennen als Folgeerscheinungen der Änderungen in der ganzen Organisation dieser Pflanzen.

So wie die Sache jetzt liegt, können wir uns nicht darüber täuschen, dass die Konstruktionen der alten Morphologie, welche

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fast ausschließlich Rückbildungsreihen waren, doch vielfach festeren Boden unter den Füßen hatten, als die modernen Spekulationen über primitive Formen. Von einer vollständig ausgestatteten Form ausgehend können wir die Rückbildungen durch Übergänge und durch Nachweis von Organrudımenten oft mit überzeugender Sicher- heit verfolgen. Aber woran sollen wir werdende Organe beurteilen ? Ist es mehr als eine wiıllkürliche Annahme, wenn neuerdings ein Botaniker die Lodiculae der Gräser nicht als Perigon, sondern als „Ansatz“ zu einem Perigon bezeichnet? Woran erkennt man denn einen „Ansatz“ d.h. den Versuch, etwas Neues zu bilden, ein Ver- such, der aber ein Versuch geblieben ist. Woran unterscheiden wir einen derartigen „Ansatz“ von einem rückgebildeten Organ? Ist es schließlich, wenn man den alten Rückbildungsreihen nicht mehr traut, nicht für die formale Morphologie ersprießlicher, wenn sie sich damit begnügt, die Gestaltungsverhältnisse in Reihen an- zuordnen und dahin gestellt sein lässt, an welchem Ende der Reihe jeweils die primitiven und an welchem die abgeleiteten Formen stehen? Jedenfalls würde eine solche Beschränkung den wirklichen Stand unserer Kenntnisse besser zum Ausdruck bringen, denn eine solche Anordnung in Reihen ist das einzige, was die formale Morpho- logie wirklich zu leisten vermag. Und diese Leistung ist gewiss keine kleine, sie erfordert allseitige kritische Vergleichung und ist deshalb, wo sie erfolgreich ist, stets das Resultat harter Arbeit. Aber der Wunsch, über diese Anordnung in Reihen hinaus zu einer ge- netischen Verknüpfung zu gelangen, hat vielfach zu nicht haltbaren Vor- stellungen und Deutungen geführt. So wenig wir die Kupuliferen als primitive Formen betrachten können, so wenig hat sich eine solche Stellung auch für die Casuarinen als haltbar erwiesen, welche ein neuerer Systematiker an die Spitze seines Systems gestellt hat, weil man geneigt war, in ihnen eine Art „missing link“ zwischen Angiospermen und Gymnospermen zu finden. Ich darf wohl an- führen, dass ich eine solche Auffassung als unberechtigt bezeichnet habe, schon ehe durch die Untersuchung eines amerikanischen Botanikers (Frye) der Nachweis geführt wurde, dass Casuarina offenbar sich in nichts wesentlichem von andern Angiospermen unterscheidet. Manche Fachgenossen werden geneigt sein, auch die von mir als primitiv betrachteten Bryophyten als weiteres Beispiel für die Erfolglosigkeit des Suchens nach primitiven Formen anzuführen, und ich will gerne zugeben, dass auch hier von einem wirklichen Nachweis einer primitiven Stellung keine Rede sein kann, sondern nur von einer größeren oder kleine- ren subjektiven Wahrscheinlichkeit. Zahlreiche andere Beispiele (namentlich auch die angeblich primitiven Monokotylen) ließen sich anführen, welche zeigen, dass die phylogenetische Morpho- logie bei dem Suchen nach primitiven Formen, so anregend dieses

TA Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie.

gewiss auch gewirkt hat, die Aussichten auf Erfolg stark über- schätzt hat.

Das zeigt sich auch, wenn wir die Stellung der phylogenetischen Morphologie zu dem Problem betrachten, welches die alte Morpho- logie mit einem nicht sehr glücklich gewählten Namen als das der Metamorphose, die historische als das der Homologien bezeichnet. Auch hier lässt sich zeigen, dass die Probleme dieselben geblieben sind und nur die Versuche, zur Lösung zu gelangen, sich geändert haben.

Die idealistische Morphologie glaubte alle Organe der höheren Pflanzen auf Caulome, Phyllome und Trichome zurückführen zu können, fasste aber diesen Vorgang nicht etwa als einen wirklichen auf, sondern begnügte sich mit einer begrifflichen Einordnung der verschiedenen Pflanzenorgane in diese Kategorien, welche nichts als Abstraktionen waren.

Dass dabei die Fortpflanzungsorgane ganz außer acht gelassen

waren sie wurden auf Umbildungen der Vegetationsorgane zu- rückgeführt erklärt sich teils daraus, dass sie bei den höheren

Pflanzen weniger als eigene Teile hervortreten und bei Missbildungen, welche mit Vorliebe zu theoretischen Betrachtungen verwendet wurden, oft ganz verschwinden, teils aus der Ansicht, dass für die Morphologie die Funktion ganz gleichgültig sei, es also für die morphologische Betrachtung keine Bedeutung habe, ob ein Organ als Drüsenhaar, als Sporangium, als Spreuschuppe oder als Archegonium entwickelt sei, wenn es nur aus der äußersten Zellschicht des Pflanzenkörpers entspringt! Dieser Standpunkt bedarf als ein jetzt wohl überwundener keiner besonderen Erörterung mehr. Sehen wir dagegen, wie die phylogenetische Morphologie sich mit dem Metamorphosenproblem abgefunden hat. Als Beispiel führe ich eine Stelle aus einem hervorragenden amerikanischen Werke an. Coulter und Chamberlain!) sprechen sich über die Blattgebilde der Blüten folgendermaßen aus:

„While sepals and petals may be regarded as often leaves more or less modified to serve as floral envelopes, and are not so diffe- rent from leaves ın structure and function to deserve a separate morphological category, the same claım cannot be made for stamens and carpels. The are very ancıent structures, of uncertain origin, for it is quite as likely that leaves are transformed sporophylis as that sporophyllis are transformed leaves ... To call a stamen a modified leaf is no more sound morphology than to call a sporangium derived from a single superficial cell a modified trichome. The cases of „reversion* cited are easily regarded as cases of replace- ınent. Lateral members frequently replace one another, but this does not mean that one ıs a transformation of the other.“

l) Coulter and Chamberlain, Morphology of Angiosperms p. 22.

Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie. 7%)

Wir sehen, dass in diesem Ausspruch. das Hauptgewicht auf die geschichtliche Entwickelung gelegt, zu gleicher Zeit aber diese als eine uns unbekannte bezeichnet wird. Mit der letzteren Aul- fassung stimme ich vollständig überein, aber die Betonung des ge- schichtlichen phylogenetischen Momentes hat andererseits zu einer Auffassung des ontogenetischen Problems geführt, in welchem ich gegenüber der alten Morphologie keinen Fortschritt erblicken kann, denn es wird dem Problem, um welches es sich handelt, eher aus- gewichen als ein Versuch zu seiner Lösung gemacht. Das aber hängt wieder zusammen mit der rein formalen Auffassung, wie sie die phylogenetische Morphologie handhabt. Sehen wir zu, um was es sich handelt. Seit langem wissen wir, dass vielfach an Stelle der Staubblätter um uns auf diese zu beschränken in den Blüten Blumenblätter oder Laubblätter, gelegentlich auch Frucht- blätter auftreten. Die idealistische Morphologie sagt, dies beweist, dass die Staubblätter „Blätter“ seien, denn diese können sich ın- einander verwandeln; Coulter und Chamberlain aber leugnen, dass eine Staubblattanlage sich in ein Blumenblatt umwandeln könne, sie finden nur ein „replacement“ (einen Ersatz) eines „la- teral member“ durch ein anderes. Zunächst sei bemerkt, dass es in der Natur ebensowenig „Blätter“ als „lateral members“ gibt. Beide Begriffe sind nur Abstraktionen unseres Verstandes, nicht etwa der Ausdruck von Beobachtungstatsachen. Von einem Ersatz eines Organes durch ein anderes können wir sprechen, wenn beide nichts weiter mitemander gemeinsam haben als den Entstehungsort. So sehen wir bei den foliosen Lebermoosen an Stelle eines Blatt- lappens oft einen Seitenzweig auftreten. Niemand hat je zwischen diesen beiden Organen Mittelformen beobachtet, der Seitenzweig nimmt tatsächlich nur den Platz des Blattlappens ein. Ganz an- ders ist aber das Verhältnis zwischen den Staubblättern und den Organen, die sie „ersetzen“. Wir werden dann von einer Um- wandlung eines Organs a in ein Organ b sprechen, wenn b nicht nur an der Stelle von a steht, sondern auch ın seiner Entwicke- lung in den ersten Stadien mit a übereinstimmt und erst später andere Wege einschlägt. Ist dies der Fall, so werden wir zwischen a und b auch Mittelformen erwarten können, welche verschieden sind, je nach dem Entwickelungsstadium, auf welchem a veranlasst wurde, sich als b weiter zu entwickeln. Um eın Gleichnis zu gebrauchen: Ersatz und Umbildung verhalten sich wie zwei Flüssigkeiten, die sich nicht, und solche, die miteinander sich mischen; im ersten Falle ıst ihr innerer Aufbau ein verschiedener, im zweiten zeigt er eine Übereinstimmung. Der Vergleich hinkt wie alle Vergleiche, gibt aber ein anschauliches Bild.

Tatsächlich finden wir alle Mittelstufen zwischen Staubblättern und Blumenblättern und können nicht daran zweifeln, dass diese

78 Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie.

dadurch zustande gekommen sind, dass ein noch nicht fertiges Staubblatt oder mit anderen Worten eine Staubblattanlage auf ver- schiedenen Stadien ihrer Entwickelung den Antrieb erhalten hat, der sie veranlasste, sich zum Blumenblatt auszubilden, wir finden dementsprechend, dass die ersten Entwickelungsstadien eines Staub- blattes und eines Blumenblattes durchaus übereinstimmen, während in dem oben angeführten Beispiel eines Zweiges und eines Blatt- lappens einer Jungermaniacee die Entwickelungsvorgänge von An- fang an, wie schon die Zellenanordnung zeigt, verschieden sind. Es liegt also für die Staubblätter zweifellos nicht ein Ersatz, son- dern eine Umbildung vor. Und zwar eine begrenzte. Nicht be- liebige „lateral erabers können statt der Staubblätter auftreten, sondern immer die, welche wir eben deshalb, weil sie offenbar ge- meinsame Eigenschaften haben, unter dem Begriff Blatt zusammen- fassen. Ausserdem zeigen uns ja auch normale Blüten wie z. B. die von Nymphaea alle Übergänge von den Blumenblättern zu den Staubblättern. Erstere ließen Coulter und Chamberlain als Blätter gelten, letztere nicht; wo aber ist die Grenze?

Für die kausale Morphologie geht aus der begrenzten Um- wandlungsfähigkeit der Organe hervor, dass das Problem zunächst nicht ein phylogenetisches, sondern ein ontogenetisches ist. Ob Sporophylle oder Laubblätter phylogenetisch älter sind, lässt sie zunächst dahingestellt. Denn es erscheint ihr wichtiger, zunächst zu ermitteln erstens warum die Umwandlungsfähigkeit eine be- grenzte ist, also ein Sprossdorn oder eime Sprossranke sich nur in einen Spross, ein Staubblatt oder Fruchtblatt nur in ein anderes „Blatt“ umwandeln lässt, und zweitens, welche Bedingungen dabei maßgebend sind.

Der erste Schritt zur Beantwortung dieser Probleme ist, dass man lernt, derartige Umwandlungen, wie man sie früher nur ge- legentlich als „Missbildungen“ beobachtete, experimentell, also will- kürlich hervorzurufen.

Das ist der experimentellen Morphologie auch in einer größeren Anzahl von Fällen gelungen und wird ihr in noch viel mehr künf- tig gelingen. Zwar können wir noch nicht z. B. Staubblätter will- kürlich in Blumenblätter verwandeln es ist nur eine Täuschung, wenn man glaubt, dass dies der Kunst der Pflanzenzüchter ge- lungen sei, denn in Wirklichkeit haben diese nur die in der Natur entstandenen mit mehr oder weniger „gefüllt“ Blüten versehenen

Rassen isoliert und wir stehen darin zurück gegenüber den Pilzen und Insekten, deren Tätigkeit, wie Peyritsch und andere gezeigt haben, vielfach freilich unbewusst eine solche Um-

wandlung hervorruft. Aber es ist doch gelungen, Niederblätter und Sporophylle i in Laubblätter, aim in vegetätive Triebe und umgekehrt) plagiotrope Sprosse in orthotrope, unterirdische in

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Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorpholosgie. TR

oberirdische überzuführen, ganz zu schweigen von den interessanten Resultaten, welche Klebs bei der Untersuchung niederer Pflanzen erhalten hat.

Nehmen wir als Beispiel die soeben angeführten Umbildungen der Niederblätter im Laubblätter, ferner der Sporophylle in sterile Blätter. Hier greifen entwickelungsgeschichtliche Untersuchung und Experiment unmittelbar ineinander ein. Die Entwickelungs- geschichte hatte gezeigt, dass z. B. die Knospenschuppen mancher Bäume, welche in ausgebildetem Zustand von den Laubblättern sehr verschieden sind, doch entwickelungsgeschichtlich mit diesen außerordentlich übereinstimmen, und dass viele Knospenschuppen die Anlage einer Blattspreite besitzen, die sich nicht weiter ent- wickelt, sondern verkümmert. Ebenso stimmen z. B. die Anlage eines Laubblatts und eines Sporophylis von Onoclea bis auf em ziemlich spätes Stadium, in welchem beide sich verschieden ent- wickeln, überein. Diese Tatsachen gaben Anlass zu der Frage, ob es nicht möglich sei, die Entwickelung willkürlich zu ändern, aus einer „Blattanlage“, welche zu einem Niederblatte oder einem Sporophyll geworden wäre, ein Laubblatt zu machen? Es zeigte sich, dass eine solche Umbilduug auf einfache Weise sich erzielen lässt, die entwickelungsgeschichtliche Übereinstimmung lässt eine solehe begrenzte Umwandlung ohne weiteres verständlich er- scheinen. Und da die Keimpflanzen, abgesehen von den Kotyle- donen und bestimmten Anpassungen bei hypogaeischer Keimung zunächst nur Laubblätter heranbringen, welche die Assimilations- arbeit zu verrichten haben, da ferner sich zeigte, dass alle Laub- blätter einer und derselben Pflanze so verschieden sie auch äußer- lich erscheinen mögen, doch im wesentlichen ein und demselben Entwickelungsgange folgen, der, wie wir sehen, auch bei Nieder- blättern und Sporophyllen sich erkennen lässt, so gelangte ich zu der Ansicht, dass die anderen Blattorgane durch eine früher oder später eintretende Entwickelungsänderung aus den Laubblattanlagen hervorgehen. Diese Auffassung hat viele Gegner gefunden. Einige davon haben sie bekämpft, weil sie sich von der rein historischen Auffassung des Problems nicht losmachen konnten.

Aber die historische Fragestellung kann uns über das onto- genetische Problem nicht hinweghelfen, ebensowenig als die Lösung des letzteren allein die historische Frage entscheiden kann. Selbst wenn in allen Fällen nachgewiesen wäre, dass Sporophylle, Blumen- blätter, Kelchblätter etc. umgewandelte Laubblätter sind, wäre da- mit noch nicht gesagt, dass diese phylogenetisch älter sind als jene. Dieses phylogenetische Problem aber ist mit unserem jetzigen Hilfsmitteln und Kenntnissen mit Sicherheit zunächst nicht lösbar, wohl aber das ontogenetische. Lösbare Probleme aber scheinen mir wichtiger zu sein als unlösbare.

1 Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie.

Freilich ıst auch die Lösung des ontogenetischen Problemes mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Denn die bisher erhaltenen Resultate, so wertvoll sie auch an sich sein mögen, gewinnen doch ihre Hauptbedeutung dadurch, dass sie die Grundlage abgeben für die weitere Fragestellung: welche Veränderungen gehen bei der Umwandlung vor und von welchen äußeren und inneren Be- dingungen sind sie abhängig? Wir können uns nicht mehr wie einst Goethe mit der Annahme begnügen, dass die Blüte den vege- tativen Sprossen gegenüber durch eine Verfeinerung der Säfte sich unterscheide, wir wollen wissen, welche stofflichen und sonstigen Veränderungen mit der Aufeinanderfolge der einzelnen Entwicke- lungsstadien einer Blüte verknüpft sind. Diese uns jetzt noch so gut wie ganz fehlende Kenntnis soll uns dann einen tieferen Ein- blick in das Wesen der Entwickelung geben, als wır ıhn derzeit besitzen. Gerade die Pflanzen sind dazu besonders geeignet, denn die Erfahrung hat uns gezeigt, dass die Entwickelung einer Pflanze nicht etwa verläuft, wie die einer Melodie in einem Musikwerk, welche ın bestimmter Reihenfolge sich abspielt, sobald die äußere Kraft für den Betrieb vorhanden ıst, die Versuche der letzten Jahre ergeben vielmehr, „dass die Gestaltungsverhältnisse chlorophyl- haltıger Pflanzen nicht von vornherein in den Keimzellen angelegt, sondern im Verlauf der Entwickelung bestimmt werden!)“. Wir können demzufolge nicht nur die einzelnen Entwickelungsstadien ihrer Reihenfolge nach verschieben, sondern auch Anlagen, die nur „latent“ vorhanden waren, zur Entfaltung bringen. Die historische Morphologie hat sich auch für die Entfaltung latenter Anlagen mit der geschichtlichen Deutung der Tatsache begnügt. Die Beobach- tung z. B., dass statt der Fruchtschuppen der Abietineen unter bestimmten Umständen Achselsprosse auftreten, haben hervor- ragende Vertreter dieser Richtung benützt zu der Annahme, dass die Fruchtschuppe phylogenetisch aus einem Sprosse hervor- gegangen sei. Eine solche Annahme würde über den Rang einer bloßen Hypothese hinausgelangen, wenn sich eine lebende oder fossile den Abietineen sicher verwandte Form nachweisen ließe, deren Zapfen in den Achseln der Deckschuppen mit Makrosporo- phyllen besetzte Sprosse tragen. So lange ein solcher Nachweis nicht gelungen ist, stehen wir einer phylogenetischen Deutung der soeben angeführten Beobachtung „kühl bis ans Herz hinan“ gegen- über. Wir suchen vielmehr auch hier die Bedingungen zu er- gründen, unter denen die sonst zur Fruchtschuppe werdende Anlage sich zum Sprosse entwickelt, und behalten dabei die Mög- lichkeit ım Auge, dass auch die Vorfahren der Abietineen ihre Samenanlagen auf axillaren Wucherungen der Deckschuppen tragen

1) Goebel, in Flora 1895, p. 115.

Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie. 79

konnten, welche zwar die Fähigkeit besaßen, unter Umständen, welche die normale Entwickelung störend beeinflussen, zu Sprossen auszuwachsen, aber phylogenetisch niemals ein Achselspross ge- wesen zu sein brauchen.

Die Frage nach der Bedeutung der Metamorphose führt uns auf ein anderes Feld der Morphologie. Die oben angeführten Bei- spiele von Umbildung zeigen, dass mit der Umbildung der Organe stets eine Funktionsänderung Hand in Hand geht. Dies gibt uns Veranlassung auf ein weiteres Problem der modernen Morpho- logie einzugehen: den Zusammenhang zwischen Gestalt und Funk- tion. Die alte Morphologie glaubte von dieser Frage absehen zu müssen, weil sie gefunden hatte, dass die Funktion eines Organs mit seiner „morphologischen Bedeutung“ nichts zu tun hat; noch neuerdings hören wir, dass die Morphologie es nur mit den „Gliedern“, nicht mit den „Organen“ der Pflanze zu tun habe. Schon die Tatsache, dass „Glieder“ und „Organe“ ein und dasselbe bedeuten, und dass es für die Organismen gerade charakteristisch ist, dass ihre Glieder Organe, Werkzeuge sind, zeigt, dass hier eine rein künstliche und deshalb nicht haltbare Abstraktion vorliegt. Die Morphologie erstarrt zu einem toten Schematismus, wenn sie nicht die Pflanze als das betrachtet, was sie in Wirklichkeit ist, als einen lebenden Körper, dessen Funktionen sich in innigster Beziehung zur Außenwelt vollziehen. Es war namentlich der mächtige Einfluss des Darwinismus, der dazu führte, der Funktion der einzelnen Pflanzenorgane wieder mehr Aufmerksamkeit zuzu- wenden, denn nach einer Auffassung, welche zahlreiche Anhänger hat, sind alle Gestaltungsverhältnisse durch „Anpassung“ entstanden. D. H. Scott hat dieser Auffassung klaren Ausdruck gegeben in dem Satz „all the characters which the morphologist has to com- pare are, or have been, adaptıve.“

Dies ist eine weit verbreitete, aber keineswegs allgemein an- genommene Auffassung. Vor allem ist hervorzuheben, dass sie nicht das Resultat von Beobachtungen, sondern eine Theorie ist, die sich keineswegs allgemeiner Zustimmung erfreut. Freilich hängt ihre Beurteilung ab von der Bedeutung, welche man dem Worte „adaptive“ gibt. Aber wie man es auch fassen mag, ob im Lamarck’schen oder im Darwin’schen Sinne, stets stoßen wir bei Betrachtung der Anpassungserscheinungen auf das Problem: sind die Gestaltungsmerkmale lediglich fixierte Anpassungsmerk- male, oder haben wir zu unterscheiden zwischen ÖOrganisations- und Anpassungsmerkmalen ? Zwei Gründe sind es wohl, welche zu der Annahme geführt haben, dass Organisations- und Anpassungs- merkmale zusammenfallen. Einmal die glänzenden Erfolge, welche die Forschung nach der funktionellen Bedeutung der Gestaltungs- verhältnisse sowohl bei den Blüten als bei den Vegetationsorganen

so Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie.

in den letzten Jahrzehnten gehabt hat. Es zeigte sich, dass Ge- staltungsverhältnisse, denen man früher keinerlei funktionelle Be- deutung zuschrieb, eine solche dennoch haben. Und wenn man keine fand, blieb ja immer noch die Möglichkeit anzunehmen, dass betreffende Strukturverhältnisse früher einmal als Anpassung nütz- lich gewesen. Es ıst aber klar, dass wir uns damit der Gefahr nähern, etwas, was erst zu beweisen wäre, als bewiesen voraus- zusetzen. In Wirklichkeit scheint mir die morphologische Ver- gleichung sowohl als das Experiment zu zeigen, dass die Unter- scheidung zwischen Organisations- und Anpassungsmerkmalen eine berechtigte ist, und dass die Meinung, der Scott Ausdruck gegeben hat, zustande gekommen ist, unter der Annahme, dass die spezi- fischen Merkmale entstanden seien durch Anhäufung nützlicher fluktuierender Variationen bewirkt durch Überleben des Passendsten. Nun sehen wir aber in zahlreichen Fällen, dass spezifische Merk- male nicht adaptıv sind. Verfolgen wir z. B. die systematische Gliederung der Lilufloren, so sehen wir, dass die einzelnen Gruppen derselben sich namentlich dadurch unterscheiden, ob der Fruchtknoten oberständig oder unterständig ist, und später zu einer Kapsel oder einer Beere wird, und wenn Kapselfrüchte vorhanden sind, ob diese sich loculicid oder septicid öffnen. Von diesen Merkmalen könnte man allenfalls die Frage, ob Beerenfrucht oder Kapselfrucht mit der Frage dann mit Anpassung im Zusammenhang bringen, wenn sich nachweisen ließe, dass die beerenfrüchtigen Lilufloren vorzugsweise in Gegenden vorkommen, oder entstanden seien, wo viele Vögel sich vorfinden, welche die Beeren verzehren und so die Samen verbreiten. Eine solche Beziehung lässt sich aber derzeit nicht nachweisen, und wer würde wohl die Frage, ob eine Kapsel sich septicid wie bei den Öolchicanen oder loculieid (wie bei den Liliaceen) öffnet als eine, die mit Anpassung in Be- ziehung steht, betrachten wollen? Die Öffnungsweise ist bedingt durch den Fruchtbau der Oolchicaceen und der Liliaceen, für die Ausstreuung der Samen aber ıst es offenbar ganz gleichgültig, wie die Kapseln sich öffnen. Sollen wir annehmen, dass es in der Vergangenheit anders war?

Auch hier hat sich gezeigt, dass wir am weitesten kommen, wenn wir ausgehen von der Beobachtung der uns umgebenden Pflanzen, nicht aber von theoretischen Voraussetzungen und weit- gehenden phylogenetischen Hypothesen. Die von de Vries mit so glänzendem Erfolge vertretene Mutationstheorie ist das Resul- tat solcher geduldig Sa schrittweise sich mit der jetzt lebenden Pflanzenwelt beschäftigenden Beobachtungen. Sie zeigen uns, dass spezifische Merkmale nicht durch Häufung kleiner nützlicher Vari- ationen, sondern sprungweise entstehen, und mit direkter Anpassung nichts zu tun haben. Solche, die im Kampfe ums Dasein unvorteil-

Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie.

(0.0) =

haft sind, werden ausgejätet. Aber die Selektion kann auf die Entstehung der spezifischen oder Organısationsmerkmale als solche nicht einwirken und. das macht uns verständlich, warum mensch- lich gesprochen ein und dieselbe Aufgabe auf so verschiedene Weise gelöst werden kann.

Die de Vries’sche Mutationstheorie beschränkt sich auf das, was der Beobachtung heutzutage bis jetzt allein zugänglich ist, auf die Entstehung der sogenannten „kleinen Arten.“ Wie aber die Gliederung des Pflanzenreiches in große Gruppen zustande ge- kommen ist, wie es kommt, dass einzelne „Archetypen“ eine so mächtige Entwickelung erreicht haben, andere ausgestorben oder zurückgeblieben sind, das ist ein weiteres Problem, dessen Lösung wir nıcht so bald erwarten dürfen, für das aber die nähere Kennt- nis der Faktoren, welche die Einzelentwickelung von der Eizelle bis zur Fruchtbildung regulieren, eine der fundamentalen Voraus- setzung bildet. Die Pflanzen sınd für derartige Untersuchungen ganz besonders geeignet, da sie einerseits durch den Besitz von Vegetationspunkten auch ım späteren Lebensalter noch mit em- bryonalen Gewebe versehen, andererseits in ihrer Formgestaltung mehr den Einflüssen der Außenwelt ausgesetzt sind, als die meisten Tiere.

Als ein besonders wichtiges Hilfsmittel für das kausale Stadium der Entwickelung hat sich die Untersuchung der Erscheinungen er- wiesen, welche wir als Regeneration der Neubildung infolge von Verletzungen bezeichnen. Die Fragen: was geht eigentlich vor sich, wenn eine embryonale Zelle zur Dauerzelle wird, die gegen- seitige Beeinflussung der einzelnen Pflanzenorgane, welche wir als Korrelation bezeichnen, ferner das Problem der Polarität treten beı den Regenerationserscheinungen besonders klar hervor. Doch kann ich hier nur Probleme andeuten, nicht aber ausführen, welche Schritte schon zu ihrer Lösung geschehen sind. Ein weites Feld liegt hier noch vor uns. Um so mehr muss es verwundern, dass von den zahllosen botanischen Arbeiten, welche alljährlich er- scheinen, wohl nicht mehr, als etwa ein Dutzend sich mit dem Entwickelungsproblem beschäftigen.

Fasse ich diese Ausführungen kurz zusammen, so sollten sie zeigen, dass die Morphologie, welche ursprünglich einen Teil der Systematik bildete, dann zur selbständigen Disziplin heranwuchs, nur dann neues Leben erhalten wird, wenn sie diese Sonder- stellung aufgibt. Denn diese ist nur historisch, nicht aber sach- lich berechtigt.

Die früheren Morphologen würden gesagt haben, dass die Morphologie ebensowenig mit der Physiologie wie mit der Ana- tomie der Pflanzen zu tun haben, die man in der Zeit, wo die systematische Botanik vorherrschte, auch zur Physiologie zählte.

XXV. 6

89 Goebel, Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie.

Denn Physiologie war damals alles, was nicht Systematik war. Jetzt hieße es Eulen nach Athen tragen, wenn wir die Bedeutung der Zellenlehre für die Morphologie hervorheben wollten. Für die Beurteilung des Generationswechsels, der Vererbung und anderer für die Morphologie fundamental wichtiger Erscheinungen ist die Zellenlehre von grundlegender Bedeutung geworden. Dasselbe aber gılt in noch höherem Grade für den Zusammenhang zwischen Mor- phologie und Physiologie, denn alle anderen Disziplinen der be- schreibenden Naturwissenschaften sind doch nur vorläufige Orien- tierungsversuche, die schließlich zur experimentellen Fragestellung, zur Physiologie führen, ja man könnte geradezu sagen: Morpho- logisch ıst das, was sıch physiologisch noch nicht verstehen lässt. Die Trennung der einzelnen Disziplinen der Botanik voneinander ist nicht ein in der Natur der Sache gelegene, sondern nur ein vorläufiges Hilfsmittel, um uns ın der Mannigfaltigkeit der Er- scheinungen zunächst zu orientieren. Die Schranken zwischen diesen Disziplinen müssen also bei weiterem Fortschritt naturgemäß fallen. Die Bedeutung phylogenetischer Fragestellung soll nicht geleugnet werden, aber die Resultate, welche sie gezeitigt hat, slichen doch vielfach mehr den Produkten dichterisch schaffen- der Phantasie als denen exakter, z. B. mit sicheren Beweisen arbeitender Forschung. Mag uns die Erkenntnis der geschicht- lichen Entwickelung der Pflanzenformen als Ideal vorschweben, wir werden uns ıhm nur nähern, wenn wir dıe alten Probleme der Morphologie nicht mehr alleın mit der alten Methode, der ver- gleichenden, sondern experimentell in Angriff nehmen, und wenn wir als Grundproblem der Morphologie nicht die phylogenetische Ent- wickelung, sondern das Wesen der Entwickelung überhaupt be- trachten. Selbst wenn uns die phylogenetischen Zusammenhänge klar vor Augen lägen, könnten wir uns nicht mit der einfachen Feststellung derselben begnügen, sondern müssten uns fragen, wo- durch sie bedingt sind. Diese Frage aber würde uns sofort wieder zur Gegenwart zu dem Problem der Einzelnentwickelung zurück- führen. Denn es gibt auch für die Naturwissenschaft kaum ein tiefsinnigeres Wort als das Goethe’s, „was nicht mehr entsteht, können wir uns als entstehend nicht denken. Das Entstandene begreifen wir nicht...“ Es handelt sich also für die moderne Morphologie zunächst darum, die Faktoren näher kennen zu lernen, vor denen jetzt das Entstehen der Gestaltungsverhältnisse ahängt. Es ist ein noch zu wenig erkanntes Verdienst Wilhelm Hof- meister’s, den die meisten nur als vergleichenden Morphologen kennen, auf diese Aufgabe, für welche nur spärliche Vorarbeiten, namentlich einzelne wichtige Versuche des genialen Th. Knight vorlagen, hingewiesen zu haben, noch ehe in der Zoologie die Richtung auftauchte, die unter dem wenig glücklich gewählten

Thon, Uber die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden. 85

Namen „Entwickelungsmechanik* ım wesentlichen dieselben Ziele verfolgt, wie die kausale Morphologie in der Botanik.

Als Motto von Hofmeister’s „allgemeiner Morphologie“ könnte man den Satz betrachten, „es ist ein Bedürfnis des mensch- lichen Geistes, eine Vorstellung sich zu bilden über die Bedingungen der Formgestaltung wachsender Organismen im allgemeinen.“ Das ist zugleich das Grundproblem der heutigen Pflanzenmorphologie. Die vergleichende Betrachtung mit Einschluss namentlich der be- sonders wichtigen Entwickelungsgeschichte liefert uns wertvolle Vorarbeiten zur Inangriffnahme des Problems, vor allem aber auch für die experimentelle Fragestellung.

Dass auch die Zoologen das Bedürfnis gefühlt haben, neben der vergleichend-morphologischen Betrachtung neue Wege einzu- schlagen, zeigt aufs Neue, dass für alle Organismen die Probleme im wesentlichen dieselben sind. Entwickelung sei also unser Losungs- wort, nicht nur als Problem, sondern auch für die Methoden, mit denen wir uns seiner Lösung zu nähern suchen. [81]

Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei

Hydrachniden. Von Dr. Karel Thon (Prag). Aus dem zoologischen Institut der Universität in München.

In einer im Jahre 1897 erschienenen, wenig bekannten Arbeit!) beschrieb Balbıanı einen interessanten Fall von sekretorischer Fähigkeit des Epithels der weiblichen Arachnidengonade. Er fand, dass die Höhlen des weiblichen Geschlechtsapparates bei einer großen Anzahl unserer Spinnen zur Zeit der Eiproduktion mit einer großen Menge merkwürdiger Kügelchen gefüllt waren. Diese Kügel- chen werden von allen Epithelzellen des Ovarıums außer denjenigen, welche zur Follikelbildung dienen, in das Innere der Gonade sezer- niert, füllen den ganzen Raum und gesellen sich zu den Eiern, wenn diese aus dem Stroma in den inneren Raum eindringen. Die Kügelchen schlagen sich dann an der äußeren Eihülle nieder, und werden bei der Eiablage ausgestoßen. Sie sind es, welche den Eiern das bekannte sammetartige Aussehen verleihen, was auch den älteren Autoren bekannt war. „Ües globules ont tous les caracteres chimiques, de la fibroine qui forme la partie essentielle de la soie des Bombycides et des Araignees; ıls sont produits par les cellules &pitheliales qui tapissent toute la surface interne de Fappareil femelle, l’ovaire, les oviductes et l’uterus, mais princi- palement par celles du premier de ces organes. Les globules soyeux sont des corpuscules solides, de taille tres inegale, formes

1) Balbiani: Contribution a l’&tude des seeretions £pitheliales dans l’appareil femelle des Arachnides. Archives d’anatomie mieroscopique. T. I, 1597.

6*

84 Thon, Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden.

d’une partie corticale d’eux, homogene et refringente, ayant peu d’affinite pour les matieres colorantes et d’une partie centrale vösiculeuse, spherique ou polygonale, se colorant fortement par ces matieres; cette partie centrale derive probablement du noyau ou des nucl&ole de la cellule seeretante. Une mince membrane d’en- veloppe, se teignant de meme, s’observe en outre souvent A la peripherie du globule. Les globules de l’appareil femelle des Arandides ont probablement pour elements homologues de l’appareil mäle des granules, dont quelque auteurs ont signal& l’existence dans le testicule de certains Arachnides (Arandides et Phalangides).“ Diese letzterwähnte Homologie dieser Sekretion kann allerdings bloß vom morphologischen Standpunkte aus bestehen, die physio- logische Bedeutung bei beiden Geschlechtern ist wohl eine ganz verschiedene. In den Testikeln stellen Produkte dieser Sekretion eine Nahrungsreserve dar, welche früher oder später verschwindet, dagegen in der weiblichen Gonade beharren die Kügelchen durch alle Phasen der Eibildung und werden erst mit den Eiern nach außen ausgestoßen.

Im folgenden will ich über einen ähnlichen Fall berichten, wo der morphologische Prozess wohl derselbe ist, die physiologische und biologische Bedeutung jedoch ganz verschieden und wichtiger. Bei meinen a nee stieß ich auf eine weibliche Nymphe, bei der die allerersten Oocyten zum Vorschein gekommen waren und begonnen hatten, sich aus dem Verbande der übrigen Zellen des Geschlechtsapparates zu trennen. Das Innere der Go- nade war voll von außerordentlich großen Konkrementen. Die Vorstadien dieser Konkrementen habe ich in einem etwas jüngeren Stadium gefunden, bei welchem von Oocyten noch keine Spur zu erkennen war. An dem inneren Geschlechtsapparat kann man zwei wohl distinkte Teile unterscheiden: Breite, aus ziemlich großen, gleichwertigen Zellen zusammengesetzte, verästelte Schläuche und kleine, dichte Herde von winzigen Zellen, welche den Schläuchen an manchen Stellen ganz oberflächlich, haubenartig ansıtzen. Aus den Schläuchen geht später die eigentliche Gonadenhöhle hervor, die kleinen Zellen, welche die Herde bilden, sind die Oogonien. Die Zellen der Schläuche sind typische Epithelzellen. Ihre basalen, also dem Protocoel zugewandten Enden sind gut abgegrenzt, hie und da kann man eine wohl entwickelte Basalmembran wahrnehmen. Die distalen Enden sind sehr dünnwandig, manchmal verschwommen und mit Haufen von Körnchen umgeben. Das Plasma ist sehr dicht, von sehr zahlreichen, dunklen und körnigen Plasmasomen gefüllt. Die Zellen, nach der Heidenhain’schen Methode behan- delt und nachträglich mit Eosin gefärbt, sehen ziemlich dunkel- violett aus und unterscheiden sich hierdurch auffallend von den übrigen Geweben, namentlich von den Leukocyten und Zellen des

Thon, Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden. 85

Darmtraktus. Auf dem in Rede stehenden Stadium lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden, ob es sich um männliche oder weib- liche Geschlechtszellen handelt; nach dem ganzen Habitus des inneren, sowie hauptsächlich des peripheren Geschlechtsapparates neige ich der Ansicht zu, dass es sich hier um eine weibliche Nymphe handelt.

Im Innern der Ovarialschläuche können wir beim genaueren Zusehen hie und da ganz blasse, kaum bemerkbare, tropfenartige Gebilde erblicken. Sie sind ganz hyalin, durchsichtig, wenig licht- brechend, fast farblos; sie liegen manchen Zellen dicht an und man kann aus ıhrer Lage mit aller Sicherheit schließen, dass sie von den Zellen selbst gebildet werden. Ich fasse dieses Verhalten so auf, dass es sich hier um ein Vorstadium dessen handelt, was wir demnächst zu schildern haben. Die eigentliche Produktion der exkretartigen Konkremente fällt erst mit dem Momente zusammen, in welchem die ersten Oocyten zum Vorschein kommen.

Die Leukocyten in diesem Stadium sind größtenteils an der Körperperipherie unter dem Hypostrakum angesiedelt. Hier bilden sie ein ziemlich kontinuierliches, gut bemerkbares Lager. Einige Haufen von ihnen sind aber im Begriffe, sich in das Innere des Körpers zu begeben. Im Innern des Körpers, also z. B. in der großen freien Region zwischen dem Gehirn, Schlundorgan und Munddrüsen einerseits und dem Darmtraktus und dem peripheren Geschlechtsapparat andererseits findet man demgemäß keine Leuko- cyten. In der Richtung jedoch von der Körperperipherie zu den ein- zelnen Gonadenschläuchen und peripheren Einsenkungen des Darm- traktus, in welchen gewöhnlich die Äste der Gonadenschläuche liegen, sieht man einzelne Gruppen von Leukocyten, welche offenbar die periphere Lage verlassen und sich zu den Gonadenschläuchen begeben. Da die meisten von ihnen noch an der Peripherie liegen und wir schon in den Schlauchhöhlen Exkrettropfen getroffen haben, kann man zu dem Schluss kommen, dass die Exkretion unabhängig von den Leukocyten begonnen hat und dass sie erst dann die Um- gebung der Gonade wie wir gleich sehen werden aussuchen, wenn diese letztere sich zur Exkretion anschickt. Was die innere Struktur der Leukocyten anlangt, haben sie die übliche Gestalt, ihr Plasma färbt sich sehr intensiv mit Eosin und enthält zahl- reiche, ziemlich feine, stark tingierbare Granulationen und einen deutlichen Kern.

Bei der nächstfolgenden Nymphe war der Befund an der Go- nade folgender: Die Oogoniengruppen stehen mit den Ovarial- schläuchen im viel innigeren Verband und an manchen Stellen be- grenzen sie die Gonadenhöhle, manchmal ragen sie ein wenig in das Innere dieser Höhle hinein. Einige wenige von ihnen schienen mir im Zerfall begriffen zu sein; dieselben möchte ich als Auxocyten

S6 Thon, Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden.

auffassen, wie sie öfters im Tierreiche vorkommen (Synapta, Tubularia, Ptychodera ete.). Zugleich erscheinen die ersten Oocyten als rundliche Zellen, welche sich von den Oogonien nur sehr wenig durch die Größe unterscheiden. Sie führen einen wohlentwickelten, bläschen- förmigen Kern mit einem großen chromatischen Nukleolus ohne weiı- tere nennen N done Oocyten sind größer geworden; sie treten aus dem Verbande der Oogonien aus und as: dann Sol ständig frei an der äußeren Oberfläche der Oogoniengruppen oder der Ovarialschläuche. Die älteren Oocyten haben gegen die Gonaden- höhle einen kleinen Ausläufer, der ihnen eine birnförmige Gestalt verleiht und sie mit der Ovarialwand verbindet. Ein engerer Zu- sammenhang wird noch dadurch hergestellt, dass sich einige Binde- gewebszellen den Eiern von außen anlegen und sich mit dem übrigen Bindegewebe, welches die ganze Gonade umspinnt, ver- binden. Die jungen Eier entwickeln dann sehr bald eine ganz feine Eimembran, ihr Kern mit seinem Nukleolus vergrößert sich be- trächtlich, im Plasma bilden sich die Dotterpartikelchen aus. Im Nukleolus sieht man öfters Vakuolenbildung.

Die Ovarialschläuche haben sich beträchtlich vergrößert und unterscheiden sich nach wie vor durch ihre dunkle Färbung von den übrigen Organen. Die Verbindung ihrer dicht mit Körnern gefüllten Zellen ıst viel lockerer als an dem vorher besprochenen Stadium; die Interzellularlücken sind auffallend groß. Es ist mög- lich, dass hier das Fixieren etwas beigetragen hat, aber immerhin sind die Lücken auffallend. Der Kern ist bläschenförmig, ellipsoi- disch oder kuglig, in der Hülle führt er einen Nukleolus von un- regelmäßigen Konturen. In manchen Fällen hat dieser ein körnchen- artiges Aussehen, so dass man an Beziehungen zu den Nukleinkörnern schließen kann. Oft führt er eine Vakuole ım Innern. Der Kern ist auffallend groß, absolut und relativ größer als ın dem vorher- gehenden Stadium. Es kommt hier wieder die Tatsache zur Gel- tung, dass infolge der regen Zelltätigkeit, in unserem Falle infolge der starken Produktion der Konkremente, der Kern größer wird. Diese Verhältnisse wurden in vorzüglicher Weise von R. Hertwig!) besprochen und dadurch erklärt, dass die Stoffe, welche ım Plasma ausgeschieden werden, eine Spaltung erfahren, ın Teile, welche zum Wachstum des Kernes dienen und Teile, welche die Exkretstoffe darstellen. Im Innern der Schlauchzellen kann man hie und da die fertigen Exkrettropfen gut beobachten. Es sind das vakuolen- artige, gut konturierte, mehr oder weniger ovale, gelbliche Ge- bilde, welche dicht am distalen Zellende sitzen. Sie werden dann ausgestoßen und verschmelzen zu den oben beschriebenen großen

) R. Hertwig: Über das Wechselverhältnis von Kern und Protoplasma. München 1903. -—- Ders. Uber physiologische Degeneration bei Aectinosphaerium Eichhorni. Festschr. f. Haekel. Jena 1904.

ER

Thon, Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden. 87

Exkretballen. In den basalen Zellpartien bemerkt man öfters hellere, mehr oder weniger abgegrenzte Stellen, die großen Va- kuolen ähneln und offenbar von einer Flüssigkeit gefüllt sind. Alle Höhlen der Schläuche enthalten große Konkrementmassen, die dem Ganzen ein sehr auffallendes Aussehen verleihen. Die Konkrementballen sind glasartige Gebilde, welche gelblich und stark lichtbrechend sind und sich nicht mit Farbstoffen färben. Sie sehen ganz homogen und solid aus ohne irgendwelche innere Strukturen. An der sonst glatten Oberfläche sieht man seichte gruben- oder rinnenartige Vertiefungen, die mit der Bildungsweise der Konkremente insofern zusammenhängen, als kleine fertige Exkret-

Fig. 1. Anschnitt eines’ Ovarialschlauches einer jungen Eulais-Nymphe. Ein Vorstadium der Gonadensekretion. Im Lumen des Schlauches blasse Tropfen, die der Produktion der Konkremente vorangehen.

Fig. 2. Ein Ovarialschlauch des Oophanstadiums mit einem großen, fertigen Exkrete.

ge —= Oogonien, be = Leukocyten.

körner aus den Schlauchzellen heraustreten und miteinander ver- schmelzen. An solchen Konkrementen sieht man an ihrer Oberfläche ganz gut die Zellgrenzen, welche dann bei den alten Konkrementen teilweise verschwinden. Das also beweist, dass diese Gebilde in den Zellen der Ovarialschläuche durch ihre exkretorische Tätigkeit produziert werden. Schließlich wachsen die Konkremente zu so bedeutender Größe heran, dass der ganze Raum in den Schläuchen gefüllt wird. Der periphere Geschlechtsapparat besteht um diese Zeit aus zwei Ovidukten, welche sich zu einer distalen, unpaarigen Vagina vereinigen. Die Zellen der Ovidukte sind etwas größer als die der Vagina, von keilförmiger Gestalt und polar differen- ziert, in dem die Kerne dicht dem inneren Zellende angelagert

85 Thon, Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden.

und von einem besonders differenzierten Plasma umgeben sind. Auf einem Querschnitt bilden etwa 20 den Oviduktschlauch. Die Wand der Vagina ist lappenartig gefaltet, ihr Epithel geht kon- tinuierlich in das Hypostrakum über. Von außen legen sich dem Epithel der Vagina und der peripheren Oviduktteile sehr viele, kleine Mesenchymzellen an, aus welchen das merkwürdige Muskel- bindegewebe hervorgeht, welches später die Dicke der Scheiden-

Ein Teil eines sagittalen Schnittes durch das Oophanstadium. Man sieht die Konkremente in dem ÖOvarialschlauch, dem zwei Gruppen der Ge- schlechtszellen ansitzen. Die ersten Oocyten, Leukocyten in der Umgebung des Schlauches. be Leukocyten, bd Bindegew®bselemente, c/ = Kutikula, dr Darm- epithel, df = Gruppen von Enzymtropfen, dz = Reste des Darmsekrets, ge = Oogonien, hp Hypostrakum, oc = Oocyten.

wand ausmacht und für die meisten Hydrachniden charakteristisch ist. Außerdem liegen an diesen Zellen noch einige Myoblasten, welche der Muskulatur des peripheren Geschlechtsapparates Ur- sprung geben. Die äußere Geschlechtsöffnung existiert auf diesem Stadium noch nicht, die Kutikula geht kontinuierlich über die Höhle der Vagina hinweg.

Es bleibt uns noch übrig, einen sehr auffallenden Umstand zu erwähnen, dass die ganze Umgebung der Gonadenschläuche mit

Thon, Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden.. 8%

einer immensen Anzahl der Leukocyten gefüllt ıst. Dieselben sind offenbar von der Körperperipherie hierher vorgerückt; sie liegen in großen Gruppen überall herum, manchmal unmittelbar an der äußeren Wand der Ovarıalschläuche. An der Körperperipherie sind fast keine Leukocyten mehr zu sehen (s. Fig. 3). Das Innere der Leukocyten ist dicht mit großen Körnern gefüllt, die sich in- tensiv mit Eosin färben und die Kernverhältnisse verdecken.

Nun wenden wir uns zu einigen späteren Nymphenstadien. Von solchen habe ich einige, welche äußerlich durch die Größe von der gerade besprochenen Nymphe nicht unterscheidbar sind. Die Verhältnisse des weiblichen Geschlechtsorganes sind folgende: Die Größe und Struktur der Eier ist wesentlich unverändert ge- blieben. An den Gonadenschläuchen treffen wir aber Veränderungen. Sie sind vollkommen leer, von den Exkretballen ist keine Spur mehr vorhanden. Ihre Wandungen nehmen allmählich ihre defini- tive Gestalt und Organısation an, insofern als die Herden der eigentlichen Geschlechtszellen mehr und mehr in das Lumen der Schläuche einbezogen werden, die ursprünglich kubischen und hohen Epithelzellen dagegen sich abflachen, womit es zusammenhängt, dass die schlauchartigen Lappen des gesamten Organs sich zu größeren sackartigen, mehr einheitlichen Räumen ausdehnen. Dann bilden sich dıe definitiven Verhältnisse so aus, dass die Wand der Go- nade, welche der Protocoelhöhle zugewendet ist, mehrschichtig wird und ein Stroma darstellt, an welchem die Eier sitzen.

Fast sämtliche Leukocyten dieses Stadiums sind dicht um die Gonadenlappen gruppiert. In großen Haufen bedecken sie von außen die Gonadewand. Sie sind im Innern mit zahlreichen größeren farblosen Körnern gefüllt, welche sich kaum mit Eosin tingieren und lichtbrechend sind. Unwillkürlich denkt man, dass es sich hier um die Exkrete der Gonade handelt, welche auf irgendwelchem Wege von den Leukoeyten aufgespeichert wurden. Zu dieser Vermutung haben wir allerdings keine einwandsfreien Gründe, außer dass ein inniger Zusammenhang zwischen der Gonadentätig- keit einerseits und der Leukocytenbewegung andererseits besteht.

An Schnittserien, welche quer geführt worden sind, kann man gut feststellen, dass die äußere Geschlechtsöffnung vollständig ge- schlossen ist. Die dieke Kutikula überzieht die äußere Vagina- spalte und sendet an dieser Stelle einen chitinösen Fortsatz in das Innere der Vagina hinein. Diese chitinige Spange kommt bei den Hydrachniden oft vor und wurde z. B. in meiner Monographie der böhmischen Hydryphantes-Arten ausführlich besprochen.

Die auffallendsten Punkte m diesem Stadium waren also folgende: Die Exkrete sind vollständig verschwunden, die Eier sind sehr wenig in ihrer Entwickelung vorgeschritten, alle Leuko- cyten liegen dicht an der Gonade.

40 . Thon, Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden.

Bald darauf kommt die Verpuppung. Von dieser Periode wollen wir ein Teleiochrysallisstadium zum Vergleich heranziehen. Die weibliche Gonade ist sehr unbedeutend fortgesetzt. Die Eier haben sehr wenig an Größe zugenommen, ihre Zahl ist etwas größer geworden. In den übrigen Organen sind keine bedeutenderen Veränderungen zu finden. Auch die Munddrüsen sind sehr gut er- halten, in diesem Verhalten also weicht unser Objekt von dem Thrombidium, wo die Munddrüsen nach Henking!) in dieser Periode zugrunde gehen sollen. Bloß die peripheren Teile des Geschlechtsapparates, also die Ovidukte mit der Vagina sind an der Außenseite dicht mit großen Leukocyten bedeckt. Die Leuko- cyten sind auffallend groß, vollgestopft mit großen, rundlichen Plasmosomen, welche sich tief färben. Das ganze elastische Ge- webe, welche die äußere Wand jener Teile bildet, ist zerfetzt und zerfallen. Bloß das innere Epithel der Ovidukte und Vagina ist intakt geblieben. Die äußere Geschlechtsöffnung unter der Puppen- kutikula ist sehr breit, das Hypostrakum, welches sich mit dem Vaginaepithel kontinuierlich verbindet, bildet Falten für die Scham- lippen. Es fehlen mir die diesbezüglichen Stadien, wo sich Schritt für Schritt die ganze Beteiligung der Leukocyten an dem Ausbau des Prosopons verfolgen ließe. Aber aus den Befunden, die mir ınein Material geliefert hat, kann man schließen, dass die Ver- änderungen in der Periode von dem freilebenden Nymphenstadium bis zur Ausbildung des Prosopons bloß unbedeutend sind, viel un- bedeutender als beim Übergange der Larve in die Nymphenperiode, und dass das Teleiophanstadium vielmehr eine einfache Häutung darstellt, durch welche die Ausbildung des äußeren Geschlechts- apparates zustande kommt.

Es handelt sich nur darum, wie wir das Vorkommen der in diesem Aufsatz beschriebenen Konkremente erklären werden. Die erste Frage, welche da auftaucht, ist die, ob es sich um Sekrete handelt, welche dem Tiere vom Nutzen sein können, oder ob es Exkrete sind, die dem Tiere schädlich sind und darum entleert werden müssen. Definitiv könnte es nur die chemische Analyse entscheiden. Aus dem morphologischen Verhalten aber können wir mit gutem Gewissen schließen, dass es sich hier tatsächlich um Exkrete handelt. Dafür spricht ihre außerordentliche Größe, dann ihre konkrementartige Beschaffenheit, welche an die Produkte der Exkretionsapparate lebhaft erinnert. Es sind das so große und zähe Gebilde, dass sie dem Mikrotommesser heftigen Widerstand leisten, sind ganz kompakt, solid, unfärbbar und Jichtbrechend. Übrigens wenn sie für die Gesamtentwickelung von Nutzen sein sollten, müssten wir nach ihrem Verschwinden da sie ın so

1) Zeitschr. f. wissensch. Zool. Bd. XXXVII.

Thon, Über die Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden. 91

großen Massen vorkommen einen deutlichen Fortschritt ın der Entwickelung einzelner Organe, in erster Reihe der Eier, wahr- nehmen. Und das ıst nicht der Fall. Zugunsten der Annahme, dass es sich hier um Exkrete handelt, kann ich ähnliche Befunde an anderen Tieren anführen, deren Kenntnis ich meinem Freunde Boris Zarnik in Würzburg verdanke. Bei den Holothurien fand Russo!) ın der Gonade gelbliche Körnchen, die wahrscheinlich aus „urato acıdo soda“ bestehen und durch den Genitalgang entleert werden. Es herrscht ein Funktionswechsel zwischen Ex- kretion und Vermehrung in der Gonade. Beim Amphioxus handelt es sich nach den Befunden Zarnik’s um gelbliche Körnchen und Schollen, die in dem Keimepithel selbst und zwar ın den Zellen, die sich anfangs von Spermato- oder Oogonien nicht unterscheiden, auftreten. Die Körnchen liegen beim Männchen auf einer Stelle, die man als Exkretleiste bezeichnen kann, zum Teil treten die Körnehen auch in dem Überzugsepithel der Gonade auf, offenbar ein Zeichen, dass es sich um Stoffe handelt, die das Blut infolge seiner langsamen Zirkulation in den Lakunen der Gonade an die Wandung der letzteren: abgibt. Beim Weibchen liegen die Ex- krete auch ähnlich, doch m größeren Ballen, die eine ähnliche Lage einnehmen, wie die reifenden Eier. Sıe sind sonst genau so beschaffen wie beim Männchen. Es handelt sich in fortgeschrittenen Stadien um körnige Massen, die kleine, sich dunkel tingierende Kerne enthalten, welche offenbar einer Degeneration nahe sind. Später lösen sich die Körnchenmassen von ihrem Mutterboden ab und fallen in ihre Keimhöhle, wo sie zwischen den Keimprodukten angetroffen werden. In diesen zwei Punkten also ähneln sie merk- würdigerweise denen, welche Balbıanı bei den Spinnen gefunden hat. Mit der Entleerung der Eier dürfte auch den Körnchen das- selbe Schicksal zuteil werden. Nach der Laichzeit sind sie nicht mehr ın der Keimhöhle zu finden. Die mikrochemische Analyse ergab, dass es sich hier um eine harnsaure Verbindung handelt, denn die fraglichen Körner gaben die Murexidreaktion.

In unserem Falle müssen wır mit der Tatsache rechnen, dass große konkrementartige Massen zum Vorschein kommen und bald darauf vollständig verschwinden und dass dabei kein Ausfuhrgang, keine äußere Öffnung der Gonade besteht. Da haben wir also einen ähnlichen Fall vor uns, der in gewissen Organen der Vertebraten eine ständige Erscheinung ist und den man als innere Sekretion bezeichnet; dieser Gegenstand wurde neulich von Biedl?) ausführlich besprochen. Über den Verlauf des ganzen Prozesses kann

1) Russo: Sulla funzione renale dell’ organo genitale delle oloturie. Ricerche fatte nel Laboratorio di Anatomia norm. d. R. Univers. di Roma ete. Vol. VII. fasc. 1. 1900.

2) A. Biedl: Innere Sekretion (Wiener Klinik 1903). Berlin-Wien 1904.

92 Jennings, The Movements and Reactions of Amoeba.

man bloß Vermutungen aufstellen, das scheint aber sicher zu sein, dass die Leukocyten sich hier in großem Maße beteiligen. Ihre auf- fallende, oben besprochene Lage in verschiedenen Nymphenstadien liefert dafür gute Beweise. Der Umstand ist besonders auffallend, dass die Sekretion mit dem Erscheinen der ersten Oocyten zu- sammenfällt; wahrscheinlich ist die Sekretion von diesem Momente ausgelöst worden. Für dieses Stadium, welches jedenfalls für die Entwickelung von Wichtigkeit ist, schlage ich den Namen Oophan- stadium vor!). [77]

The Movements and Reactions of Amoeba. H. S. Jennings.

The writer has recently published elsewhere?) an extensive study of the movements of Amoeba and its behavior under the action of stimuli. The results of this study are on certain points of such importance as to warrant a brief summary in the present journal. The movements of Amoeba were demonstrated to be of a character differing fundamentally from the accounts usually given. It was found possible to determine the exact movements of the outer layer of the body by causing foreign particles to adhere to it. The movements of these particles showed that the motion of Amoeba is of a rolling character. In an advancing Amoeba a par- ticle which becomes attached at the posterior end moves upward to the upper surface, then forward to the anterior edge. Here it goes over the edge, coming in contact with the substratum, and remains at rest until the body of the animal has passed over it. At the posterior end it passes upward and then forward again; in some cases a single Barucıe was seen to complete the circuit of the body many times (Fig. 1). These observations are made with the greatest ease on Amoeba verrucosa. Particles of finely ground soot mingled with the water containing these animals cling to the surface in numbers, and their movements are cONSpIcuous. "Similar observations were made by the writer on other Amoebae, of the proteus type, though here the partieles do not eling so easily, so that the observations require more patience. The results showed that it is not merely a thin outer layer that moves forward; on the contrary, the whole substance of the Amoeba, save that part which ıs ın contact with the substratum, flows forward in a single stream. This was shown by the behavior of particles that were at first attached to the upper surface, then slowly sank through the ectosare into the endosarec. From beginning to end ol this process such particles move uniformily forward. There is, then,

1) Das Material zu dieser Mitteilung stammt aus dem Unter-Procernitzer- Teiche in Böhmen und wurde auf der ehemaligen biologischen Station, bevor diese kassiert wurde, gesammelt.

2) The Movements and Reactions of Amoeba. Contributions to the Study of the Behavior of the Lower Organisms, sixth paper, pp. 129—234. Publikation Nr. 16, Carnegie Institution of Washington. 1904.

Jennings, The Movements and Reactions of Amoeba. 03

typically no backward current in a progressing Amoeba, though the appearance of one is produced by the contrast between the rapidly moving internal fluid and the lateral margins, in contact with the substratum, which are at rest. A diagram of the movements of Amoeba is shown in Fig. 2.

The same method of study shows that in the pseudopodia the movement of material ıs uniformily outward, both on the surface and within. In a pseudopodium in contact with the substratum the attached surface ıs at rest, while the remainder moves outward.

BieXt.

In a free pseudopodium all parts move outward, new portions of the surface of the body continually passing to the surface of the pseudopodium.

That the movements of Amoeba are of a rolling character was held by Lachmann in 1858, while Wallich in 1863 set forth briefly but clearly and correctly the real nature of the movements. Wallich’s correct statement has been neglected in recent years. Bütschli observed in 1892 that the eurrents of water about Pelomyxa are forward, not backward, as would be expected if the surface moves forward, while Blochmann in 1894 observed distinctly that the surface moves forward in Pelomyxa. Both these authors held however that this forward movement was confined to a thin surface film; experimental study shows that this is not the case in Amoeba.

In accordance with the foregoing account, the movements of Amoeba lose their supposed resemblance to those of a fluid mass moving as a result of a local change in surface tension. In

94 Jennings, The Movements and Reactions of Amoeba.

movements due to this cause there is a surface current away from the region of lower tension, with a central current toward this region, while ın Amoeba surface and central currents are congruent; they are indeed one and the same. Such movements as are shown by Amoeba cannot be produced through local changes in the sur- face tension of a drop of fluid. The commonly accepted expla- nation of the movements of Amoeba, to the effect that they are due to a decrease in surface tension at the anterior end, must then be given up. Such a local decrease of surface tension would produce movements of a character totally different from those which actually oceur!). "The actual movements of Amoeba resemble even in details the movements of a drop of fluid which adheres on only one side to the substratum. But all the movements con- cerned ın the locomotion of Amoeba can take place without such adherence, so that this does not furnish an explanation for the movements of the animal.

All the movements, and the reactions to stimuli, were studied carefully and are described in the original paper in much detail. Special attention was paid to the various physical explanations that have been proposed for the reactions, and it was found that most of these wıll not stand the test of a comparison with what actually occurs ın the organısm. Under some conditions the be- havior was found to be very complex; this was. notably true of the process of food taking. Nlustrated descriptions are given of Amoebae following a spherical cyst of Euglena, which ıs pushed forward by the efforts of the animal to ingest it; in some cases a single Amoeba follows the same rolling eyst for fifteen minutes over an irregular path. The pursuit of one Amoeba by another is described in a number of cases. A twenty minute drama is ıllustrated in detail, wıth sketches made while ıt was in progress. One Amoeba pursued another for a long time, finally capturing and ingesting it. After carrying it away for a short distance, the prey partly escaped, and was recaptured. It again escaped com- pletely, but was pursued, overtaken, recaptured, and again carried away. After five minutes it escaped agamn, and this time comple- tely, so that the hunter Amoeba went on its way without its meal.

University of Pennsylvanıa, Philadelphia, Penn., U. S. A,., Nov. 7, 1904. [SO]

Explanation of Figures.

Fig. 1. Paths of two particles attached to the outer surface of Amoeba

sphaeronucleolus. The animal is moving toward the end marked a; no attempt is

made to represent this movement in the figure. That portion of the paths that is on the lower surface is represented by broken lines. These two partieles were seen to make five complete revolutions about the animal, in the paths shown.

Fig. 2. Diagram of the locomotion of Amoeba, in side view. A, anterior end; P, posterior end. The arrows show the direction of the ceurrents of proto-

1) There remains of course the’ same possibility as for ciliary and muscular movement, that the phenomena result in some way from changes in the sur- face tension of the ultimate protoplasmie elements. This hypothesis is not open to experimental test.

Zacharias, Über eine Wasserblüte von Volvox minor und V. globator. 95

plasm. The lower surface from a to x is attached to the substratum, and is at rest. In the forward movement the thin anterior edge rolls forward, oecupying successively the positions a, b, c, while the body is pulled forward till it oceupies the position shown by the broken outline.

Über eine Wasserblüte von Volvox minor und Volvox globator. Von Dr. Otto Zacharias (Plön).

Es kommt gelegentlich vor, dass gewisse Volvocineen sich in so hohem Grade innerhalb eines Gewässers vermehren, dass das- selbe durchweg eine deutlich grüne Färbung annimmt und ganz durchsetzt mit den kugelförmigen Kolonien dieser Phytoflagellaten ist. Ich habe diese Erscheinung vor einigen Jahren an den Pro- menadenteichen der Stadt Hamburg beobac htet, wo eine solche Er- grünung infolge einer enormen Wucherung von Eudorina elegans auftrat. Neuerdings (zu Beginn des Augustmonats d. Js.) habe ich ein sogen. „Blühen“ des Wassers auch im Pfaffenteiche zu Schwerin bemerkt und die (Gelegenheit dazu benutzt, es etwas näher zu untersuchen. Der genannte Teich ist ein oblonges Becken von 750 m Länge und 200 m Breite; er besitzt dabei eine Tiefe von 4,5 m. Die “mikroskopische Untersuchung des mit einem Gazenetze aufge- fischten Planktons ergab, dass dasselbe zum bei weitem größten Teile aus den Kolonien der bekannten beiden Volvox-Arten bestand und nur wenige kleine Krustazeen außerdem aufwies. Nachdem ich mit Hilfe eines geaichten Maßes 25 ] Wasser von der Ober- fläche des Teiches abgeschöpft und durch einen Gazefilter geseiht hatte, beschloss ich, durch Zählung festzustellen, wie viel Volr 'OX- Kugeln wohl in dieser Flüssigkeitsmenge vorhanden seien. Es er- gaben sich auf diesem Wege 17000 Kolonien ; somit 680 für das Liter.

Das war mittags zwischen 12 und 1 Uhr. Am Abend desselben Tages um 9 Uhr wiederholte ich dieses Wasserschöpfen und seihte abermals 25 I durch. Auch deren Gehalt an Volvox wurde der Zählung unterworfen und es ließ sich konstatieren, dass nur 7000 Kolonien darin vorhanden waren, d. h. also nur 240 Kolonien pro Liter.

Nun wiederholte ich dieselbe Prozedur am folgenden Tage morgens um 9 Uhr und erzielte bei dem gleichen Ermittelungs- verfahren 13000 Stück Kolonien, also eine Ziffer, welche derjenigen, die sich tags zuvor mittags ergeben hatte, ziemlich nahe steht, wogegen das abendliche Ergebnis aber erheblich von den beiden Tagesresultaten abweicht.

Hieraus ergibt sich die Tatsache, dass die reichliche Hälfte der Volvox-Kolonien, welche am Tage direkt an der Oberfläche zu flottieren und zu assimilieren pflegen, bei Einbruch der Nacht spontan tiefer hinabsinken und von dort bei Wiederkehr des Tages- lichtes alsbald emporsteigen, d. h. sie sind positiv heliotro pisch, wie auch längst durch direkte Experimente im Laboratorium fest- gestellt worden ist. Interessant ist es aber immerhin zu wissen, ın welchem Maßstabe diese Flagellatenkolonien auf die Einwirkung

96 Richtigstellung.

von Licht und Dunkelheit reagieren. Bei näherer Nachforschung ergab sich auch noch das weitere bemerkenswerte Faktum, dass die bei Nacht an der Oberfläche flottierend bleibenden Kolonien zu allermeist jüngere und noch nicht in Fortpflanzung begriffene waren, wenn sie auch schon die Anlage der Tochterkolonien in ihrem Innern zeigten. Hiernach scheint es so, dass sich die jüngeren Volwox-Kugeln gegen die Einwirkung der Dunkelheit in- different verhalten, wogegen die mit Sporen oder Tochterkolonien trächtigen Stöcke beim Aufhören der Assimilationstätigkeit infolge Lichtmangels ehebaldigst den tieferen Wasserschichten zustreben. Mindestens verhält sich die Mehrzahl in solcher Weise; eine ge- wisse Minorität freilich, die auch in vorgeschrittener Fortpflanzung begriffen ist, bleibt trotzdem in nächster Nähe der Oberfläche schweben und nimmt nicht teil an der Tiefenwanderung.

Eine Prüfung der zwischen den Volvox-Kugeln vorhandenen Schwebalgen (Asterionella gracillima und Fragilaria crotonensis) auf ihr Verhalten bei Tage und zur Nachtzeit ergab bei der- selben Methode der Zählung ihrer Familienverbände keinen Anhalt für die doch mögliche "Tatsache, dass auch sie bei Einbruch der Dunkelheit eine Tendenz zum Sinken dokumentierten. Es zeigte sich bei den beiden genannten Planktondiatomeen keine passive Wanderung ın die Tiefe, sondern ıhre Anzahl während der Tages- und Nachtstunden schwankte nur innerhalb der Fehlergrenzen, die durch die Methode des Schöpfens und des Auszählens von Stich- proben naturgemäß gegeben sind.

Auch an " Algenmaterial aus dem Gr. Plöner See, insbesondere an Glorotrichia echinulata, die im August mit genügender Massen- haftigkeit in diesem Wasserbecken auftritt, ließ sich keinerlei Hang zur Migration nachweisen: ausgenommen, "dass die mit völlig aus- gebildeten Sporen behafteten Exemplare dieser Algenstöcke “durch ihr eigenes Gewicht am Ende der Vegetationszeit in die Tiefe ge- zogen werden. [75]

Richtigstellung.

In meinem Aufsatze über Ceratium tripos (vgl. Nr. 1 des Biol. Centralblattes von 1905) habe ich eine am Vorderhorn dieser Meeres-Peridinee von mir beob- achtete Offnung angezeigt und die röhrenförmige Beschaffenheit dieses sogenannten Apikalhorns hervorgehoben. Ich war der Meinung, dass diese Verhältnisse von den früheren Beobachtern übersehen worden seien. Dies ist aber nicht der Fall, denn ich entnehme nachträglich aus einer Spezialabhandlung von F. Schütt (Engler und Prantl: Die natürlichen Pflanzenfamilien I, Teil 1, Abteil. 6, 1896, S. 17), dass der genannte Forscher in der allgemeinen Charakteristik der Ceratieae ausdrücklich sagt: „Oberschale (Epivalva) mit Apikalöffnung, Endplatten oft zu einem hohlen Horn verbunden.“ Ich säume nicht, dies hier schleunigst nach- zutragen, um damit dem Prioritätsanspruche des Herrn Prof, Schütt hinsichtlich jener Eigenschaften gewisser Oeratienzellen gerecht zu werden.

8. Januar 1905. Dr. Otto Zacharias (Plön).

Berichtigung. In der Abhandlung von Dr. Em. Rädl 8.3, Bd. XXV, 9. Zeile v. oben soll „Muskelsinnes“ statt „Mantelsinnes“ gelesen werden.

V "erlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz. 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

/R XXYV.DBd. 15. Februar 1905. NM 4. Inhalt: Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation. Wasmann, Ursprung und Entwicke- lung der Sklaverei bei den Ameisen. Delbrück und Schrohe, Hefe, Gärung und Fäulnis.

Die x-Generation und die 2x-Generation. Eine Arbeitshypothese. Von J. P. Lotsy.

Die ersten Lebewesen unserer Erde sind wohl Monoenergide!'), nackte, frei schwimmende Organismen gewesen. Sie müssen im- stande gewesen sein, ihre eigene Nahrung zu bereiten, da sie selbst- verständlich nicht in der Lage waren, sich von organischer Sub- stanz zu ernähren. Meinte man früher daraus schließen zu dürfen, dass diese ersten Organismen Chlorophyll enthielten, die neueren Untersuchungen haben farblose Organismen z. B. Nitromonas kennen gelernt, welche ebenfalls aus unorganischer Substanz orga- nische bilden können, es können also die ersten Organismen auch farblos gewesen sein. Trotzdem können wir die grünen Flagel- laten als sehr primitive, also den ursprünglichen Lebewesen nahe stehende Organismen betrachten.

Das Entstehen und die Fähigkeit sich zu ernähren, genügte aber nicht für die fortwährende Existenz des Lebens. Erst durch die Fähigkeit zur Fortpflanzung wurde diese gesichert.

1) Verf. verwendet Sach’s Nomenklatur, bezeichnet also als Energide die Einheit, welche aus einem Klümpchen Plasma und einem Kern besteht, Zelle nennt er das Gehäuse, worin eine oder mehr Energiden leben.

XXV. 7

98 Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation.

Bei den Flagellaten ist diese Fortpflanzung sehr einfach; sie besteht man denke an Pyramidomonas ın einer einfachen Längsteilung, ein Prozess, wodurch aus einem Individuum zwei Töchterindividuen oder besser zwei Schwestern entstehen. Die Mutter existierte in diesem Stadium noch nicht, nach der Teilung des Individuums bleibt ja nichts zurück. Die neuen Individuen sind dem einen, verschwundenen, Alten gleich, sie sind ja die unab- hängig gewordenen Hälften desselben.

Hätte diesen ersten Organismen nicht die Möglichkeit zur Ver- vollkommnung inne gewohnt, die jetztigen Lebewesen wären ja alle noch Flagellaten hl |

Ein erster Fortschritt lag darin, dass sich an der Oberfläche des nackten Flagellatenleibes eine feste, aus Zellulose bestehende Membran ausschied, ein Gehäuse, welches dem Individuum Schutz verschaffte; die Zelle war entstanden.

Die Fortpflanzung blieb aber zunächst dieselbe, die Membran, die Zelle hat daran keinen Anteil, nur die Energide teilt sich, und die so entstandenen Individuen werden, jeder von einer neugebil- deten Membran umgeben, frei. Von einer Mutter kann man noch nicht reden; dennoch bleibt jetzt bei der Teilung etwas zurück: das leere Gehäuse, die Zelle.

Es ist eben diese Zelle, mit welcher die Lebewesen in ihrer weiteren Vervollkommnung zu rechnen hatten. A priori standen den Organısmen drei Wege zur weiteren Entwickelung offen.

1. Die Schwesterindividuen blieben, unter Beibehaltung ihrer Beweglichkeit miteinander in Verbindung; es entstehen also beweg- liche Kolonien oder Cönobien.

2. Das Gehäuse, die Zelle, wird erweitert, und zumal ver- längert, die Energiden aber vermehren sich; es entstehen also große Zellen, welche von vielen Energiden bewohnt werden.

3. Die Schwesterindividuen bleiben zwar zusammen, verlieren aber ihre Beweglichkeit und werden zu Zellenfäden, Platten oder Körpern.

Diese drei Möglichkeiten wurden in der Tat realisiert. Es entstanden so die Gruppen der Volvocales, der Siphonales und der übrigen grünen Algen, während aus den grünen parallelen Ent- wickelungsreihen in der dritten Weise auch die Braun- und Rot- tange hervorgingen.

Die Entwickelung war soweit eine durchaus honnete, durch eigene Arbeit erschwungene, so entstanden als höchste Formen durch 1 Volvox, durch 2 Caulerpa und Sphaeroplea (bei letzterer Kompartimentenbildung in der Zelle), durch 3 COoleochaete unter den grünen Algen und Freus unter den Braunen, und wenigstens weitaus der größere Teil der Moospflanzen und des Florideenindi- viduums. Das war der ehrliche Weg! Auch ein unehrlicher

Lotsy, Die x-Generation und die ?2x-Generation. ,

stand offen und wurde leider schon von den primitivsten ein- geschlagen. Er bestand darin, dass nicht länger die nötige Nah- rung selber gemacht wurde, sondern lebenden oder toten Natur- genossen entnommen wurde. So entstanden die zur eigenen Ernäh- rung unfähigen, die Saprophyten und Parasiten.

Schon früh entstanden so Flecke auf den Stammbaum der Organismen; Polytoma ist ja schließlich nur ein fauler Chlamydo- monas, im Allgemeinen aber blieb der Stamm der Volvocales seinen Grundsätzen getreu, erreichte aber auch nichts höheres als Volvox.

Es würde diesem Stamme auch nur eine Erleichterung des Daseins, keine Ausdehnung seines Verbreitungsgebietes gebracht haben, denn seine durch Flagellae bedingte Beweglichkeit band ıhn für immer ans flüssige Wasser.

Die Siphonales sn machten von der neuen Gelegenheit ausgiebigen Gebrauch a eröffneten sich dadurch den Weg zum Landleben. Ihren Höhepunkt erreichen sie damit in der Gruppe der Mucoraceae. Damit ging auch eine Änderung in ihrer Fort- pflanzung gepaart, denn während die unbeweglichen Siphonales ihre Abstammung von beweglichen Vorfahren in ıhren Zoosporen zur Schau tragen, konnten die landbewohnenden Siphonomyceten diese Fortpflanzungsart nicht mehr verwenden; es entstanden die un- beweglichen Sporen in den Mucorineensporangien oder gar das ganze Sporangium bildete sich bei gänzlicher Unterdrückung der Sporenbildung, zur Conidie um.

Auch aus der dritten Reihe gingen Saprophyten und Parasiten hervor; aus der braunen Reihe erinnere ich nur an die farblosen Diatomeen.

Wir sehen, dass in diesem Entwickelungsgang für die höheren Organismen, für Pteridophyten und Phanerogamen und für die Metazoen noch kein Platz ıst. Ihr Entstehen beruht denn auch auf einem ganz anderen Prinzip. Während die bis jetzt beschriebenen Organismen, wenigstens ım Prinzip, einelterlich sein können, also Einzelwesen sind, waren für ihre Bildung zwei Eltern nötig; es sind die höheren Org ‚anısmen, wie de Vries es nennt, Doppelwesen; sie verdanken der hehe Fortpflanzung er Dasein. Zwar findet sich bei men der obengenannten Organısmen ebenfalls eine geschlechtliche Fortpflanzung, aber sie hat noch nicht zur Bildung des Körpers dieser Organismen beigetragen, während der Körper der zwei elterlichen Wesen der geschlechtlichen Ver- einigung zweier Energiden sein Dasein verdankt.

Dennoch finden wir auch bei diesen Einzelwesen schon An- deutungen eines Doppelwesenkörpers. Es sei uns darum erlaubt die Entstehung der geschlechtlichen Fortpflanzung nachzuspüren.

Die geschlechtliche Fortpflanzung bestand zunächst in der Ver- einigung zweier gleichwertiger Energiden, welche überdies den un-

7*

100 Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation.

geschlechtlichen Fortpflanzungsenergiden gleichwertig waren. Es zeigte dies Klebs an den Schwärmern von Protosiphon, welche so- wohl ohne Kopulation als nach einer solchen zu einer neuen Pflanze auswachsen können, und von welchen man nicht bestimmt- sagen kann, was sie eigentlich sind, Zoosporen oder Gameten.

Die so entstandenen Zygoten keimen ohne weiteres zu neuen Individuen, in anderen offenbar ähnlichen Fällen aber, z. B. bei Hydrodietyon, bilden sich aus der Zygote zunächst vier große Schwärmer, welche bedeutend von den sonstigen Schwärmern ab- weichen.

Es deutet dies bereits auf einen Einfluss der geschlechtlichen Fortpflanzung, und wenn wir der Sache auf den Grund gehen, so zeigt sich, dass die geschlechtliche Fortpflanzung in allen Fällen einen neuen Zustand ins Leben ruft.

Um dies klar zu machen, sei ein nicht unbeträchtlicher Exkurs gestattet.

Wir sahen, dass bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung eine einzige Energide imstande ist, die Art zu reproduzieren, sie muss also alle erblichen Eigenschaften der Art besitzen. Bei der ge- schlechtlichen Fortpflanzung muss dies wohl mit jeder der Ge- schlechtszellen wenigstens ursprünglich der Fall gewesen sein, denn Klebs wies ja nach, dass die Schwärmer von JProtosiphon zwar kopulieren können, aber auch jeder für sich zur Entwickelung gelangen können.

Aber auch dort, wo bereits eine Differenzierung in Makro- und Mikrogameten stattgefunden hat, besitzt offenbar jede Gamete noch diese Eigenschaft; es zeigen dies Berthold’s Versuche an Keto- carpus. Untersuchungen höherer Lebewesen zeigten weiter, dass der Plasmaleib des männlichen Gameten mehr und mehr abnimmt und der der weiblichen Gamete mehr und mehr zunimmt, wodurch Spermatozoon und entstanden.

Dennoch blieb offenbar die Vererbungskraft des Vaters ebenso groß wie die der Mutter; es zeigen dies z. B. manche Hybriden, wo der Bastard in emer Hinsicht ganz dem Vater, ın anderer Hin- sicht ganz der Mutter gleichen kann.

Dadurch neigte man mehr ‘und mehr der Auffassung zu, es sei nicht die ganze Energide, sondern nur deren Kern der Träger der erblichen Eigenschaften. Aber wie den exakten Beweis zu erbringen ?

Es gelang dies dem genialen Versuche Boveri’s. Er wusste, dass bei Seeigeleiern eine Befruchtung kein sine qua non zur weiteren Entwickelung war, sondern sich diese auch partheno- genetisch zu neuen Individuen entwickeln konnten. Wäre es nun nicht möglich, so sann er, den Eikern einer bestimmten Spezies durch den Samenkern einer anderen zu ersetzen? Falls dies mög-

Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation., 101

lich und falls der Kern in der Tat der Träger der erblichen Eigen- schaften war, musste aus einem solchen Ei ein Tier mit rein väter- lichen Eigenschaften hervorgehen; wir wissen, dass der Versuch gelang und dass damit erwiesen wurde, dass der Kern der Träger der erblichen Eigenschaften ist.

Damit war aber noch nicht erklärt, wie denn das Kind Eigen- schaften vom Vater und von der Mutter zeigen konnte, denn nur bei wenigen Organismen z. B. unter den Pflanzen bei den Uredineen (Blackmann), unter den Tieren bei Cyeclops (Häcker), um aus jedem Reiche nur einen Fall zu nennen, bleiben die beiden Kerne nebeneinander in der Zelle existieren und bleiben auch während der folgenden Teilung der Energiden getrennt. Bei fast allen Organismen aber verschmelzen die Kerne sofort zu einem einzigen, verlieren somit anscheinend ihre Individualität und scheinen dem- nach zum Tragen erblicher Eigenschaften recht wenig geeignet.

Es fragt sich also in erster Linie, gibt es vielleicht im Nu- kleus eine Substanz, welche mehr speziell als Träger der erblichen Eigenschaften angesehen werden darf und bewährt diese Substanz auch nach der Kopulation ihre Selbständigkeit?

Beschäftigen wir uns zunächst mit dem ersten Teil dieser Frage. Man muss ja wohl annehmen, dass sich im Nukleus Träger erblicher Eigenschaften finden, welche wenigstens im vegetativen Leben der Pflanzen ihre Individualität behalten, denn wie ließe sich sonst erklären, dass nicht nur aus der Schwärmspore eines

Dlothrix, sondern aus jeder x-beliebigen Zelle desselben man denke an die Palmellastadien eine neue Pflanze hervorgehen

kann? Der Kern in dieser Zelle ist ja ein Abkömmling des Kernes der Schwärmspore und es muss sich dieser Schwärmsporenkern also durch viele Generationen hindurch so genau geteilt haben, dass die Töchterkerne immer genau den Elterkernen gleich waren.

Da musste also auf eine Substanz gefahndet werden, über deren gleichmäßige Verteilung bei jeder Kernteilung mit größter Sorgfalt gewacht wurde.

Diese Substanz ist schon verhältnismäßig lange bekannt: es ist das Chromatin.

Bekanntlich trifft man im ruhenden Kern das Chromatin in einem Zustande an, welchen man mit dem Namen Netzzustand belegt hat. Bereitet der Kern sich zur Teilung vor, so findet sich das Chromatin, in der Gestalt eines ununterbrochenen vielfach gewundenen Fadens: das sogenannte Knäuelstadium. Dieser Faden brieht nun in eine, für jede Spezies bestimmte Zahl von Stücken aus- einander: die Chromosomen. Es finden sich also im Nukleus in diesem Stadium x Chromosomen, welche sich alsbald in einem Ring um den Äquator des Nukleus herum, anordnen. Bis jetzt ist der Nukleus intakt geblieben, aber nun fängt die Auflösung der

102 Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation.

Membran an und Plasmafäden treten durch Öffnungen an den Polen in den Kern hinein und legen sich an die Chromosomen an. Dann spaltet sich jedes Chromosom durch einen Längsschnitt in zwei gleiche Hälften; es findet also eine gleichwertige Spaltung (Äquationsteilung) statt; die Tochterchromosomen bewegen sich auf die Pole zu, um jede Polgruppe bildet sich ein Membran und es sind zwei Tochterkerne gebildet, deren jeder, ebenso wie der Mutterkern x Chromosomen enthält.

Diese Chromosomen bilden nun Ausstülpungen welche einander gegenseitig berühren und so kommt das sogenannte Netzstadium des ruhenden Kernes zustande.

Die Chromosomen sind also die einzigen Teile des Kernes, welche während der ganzen Karyokinese ihre Individualität behalten haben. Die Tochterkerne erhalten genau so viel Chromosomen wie der Mutterkern, und nicht nur das, sondern sie bekommen je die genaue Längshälfte von jedem Chromosom, das im Mutterkern anwesend war. Auch bei allen folgenden Kernteilungen findet diese genaue Verteilung Platz, sämtliche Kerne eines sich nur un- geschlechtlich fortpflanzenden Wesens sind demnach gleichwertig.

Ein solches Wesen enthält in allen seinen Kernen x Chromosomen, ich nenne deshalb eine solche Gene- ration die x-Generation.

Wir sagten schon, dass sämtliche Kerne der nur ungeschlecht-

lich sich fortpflanzenden Wesen gleichwertig sind. Wie steht nun die Sache mit den geschlechtlich erzeugten Wesen? Wir schlossen zunächst aus der Fähigkeit einer jeden Zelle eines Ulo- thrixfadens die Art zu reproduzieren, dass die Kerne in diesen Zellen den Kernen der Fortpflanzungsenergiden gleichwertig sein müssten und fanden in der sorgfältigen Zweiteilung des Chromatins während der Karyokinese die morphologische Stütze für diese Wahrnehmung. Gibt es nun ähnliche Verhältnisse bei geschlechtlich erzeugten Wesen? Kann also jede Körperzelle eines geschlechtlich erzeugten Wesens unter günstigen Umständen die Art reproduzieren! Die Antwort muss verneinend lauten, kein Teil unseres Körpers außer den Fortpflanzungszellen ist imstande, die Art zu reproduzieren; aber ist dies eine notwendige Konsequenz der geschlechtlichen Fortpflanzung, dürfen wir daraus auf das Vorkommen ungleich- wertiger Kernteilungen schließen?

Die erste Frage kann verneinend beantwortet werden, denn wir wissen aus den Stecklingen, dass ein kleiner Teil des Körpers einer höheren Pflanze zur Reproduktion genügt, ja dass unter günstigen Bedingungen bei Beyonia sogar eine einzige Epidermus- zelle die Art reproduzieren kann.

Wir sehen weiter, dass bei allen Tieren und Pflanzen die

Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation, 105

Karyokinese gleichwertig. ıst, dass die Töchterkerne je die Hälfte von jedem im Mutterkern enthaltenen Chromosom erhalten, und wir schließen daraus auf die Gleichwertigkeit aller Kerne im Körper der geschlechtlich erzeugten Wesen.

Der Umstand, dass unsere Körperzellen nicht imstande sind, die Art zu reproduzieren, suchen wir lieber in der Unmöglichkeit, die nötigen Bedingungen zu beschaffen, als mit Weissmann auf eine Ungleichwertigkeit ıhrer Kerne zu schließen. Für uns sind also sämtliche Körperzellen potentiell imstande, die Spezies zu reproduzieren,

Dennoch gibt es ein Unterschied zwischen dem Körper der geschlechtlich erzeugten Wesen und der ungeschlechtlich erzeugten. Am klarsten tritt dies dort zutage, wo ein Generationswechsel sich findet.

Es sei hier am altbekannten Beispiel der Farne erinnert. Eine Farnpflanze bildet m den Sporangien auf ungeschlechtlichem Wege Sporen. Diese Sporen keimen nicht zu einer neuen Farn- pflanze, sondern zu einem Prothallium, das Geschlechtsenergiden hervorbringt, Spermatozoen und Eier, aus deren Kopulationsprodukt, der Zygote, durch Keimung die Farnpflanze hervorgeht.

Wir haben also habituel sehr verschiedene Pflanzen: Prothal- lium und Farnpflanze, von denen die erstere ungeschlechtlich, die letztere geschlechtlich erzeugt wird und es liegt auf der Hand an- zunehmen, dass die geschlechtliche Fortpflanzung die Ursache dieser Gestaltverschiedenheit war.

Mag dies sein wie es wolle, die nächste Frage ist, muss denn immer die geschlechtlich erzeugte Generation eine andere Gestalt als die ungeschlechtliche zeigen? Eine einfache Überlegung lehrt uns, dass dies nicht der Fall ist; die aus einer Schwärmspore eines Odogoniums oder aus einer Zygote derselben hervorgegangenen Pflanzen sind nicht nur habituel ähnlich, sie sind vollkommen identisch, jede kann sowohl Eier und Spermatozoen als Schwärm- sporen produzieren.

Die geschlechtliche Fortpflanzung braucht also nicht nur keine habıtuelle Verschiedenheit der beiden Generationen zu Bedingungen, auch die örtliche Trennung von ungeschlechtlichen und geschlecht- lichen Fortpflanzungszellen ist keine notwendige Folge der ge- schlechtlichen Fortpflanzung.

Das führt zur Überlegung, ist vielleicht eins von beiden, Pro- thallium oder Farnpflanze, eine Neubildung, und wenn ja, welche?

Eine cytologische Untersuchung führt zum Schlusse, dass die Kerne des Prothalliums halb soviel Chromosomen zeigen als die der Farnpflanze. Vergleichen wir die Kerne des Körpers eines Huhnes mit. demjenigen seiner Eizelle, so finden wir, dass der Eizellkern nur die Hälfte der Chromosomen der somatischen

104 Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation.

Kerne hat. Und so kommen wir zur uralten, für unlöslich ge- haltenen Frage der Philosophen, was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Ich glaube dennoch, dass sich die Frage, phylo- genetisch gesprochen, lösen lässt.

Wir sehen, dass die nur ungeschlechtlich sich fortpflanzenden Wesen x Chromosomen in die Kerne führten. Die Frage ist also, welche der beiden Generationen ist die x-Generation? Falls die Farnpflanze die x-Generation wäre, würde das Prothallium eine !/,x-Generation sein, wäre das Prothallium das Homologon der x-Generation, so wäre die Farnpflanze eine 2x-Generation.

Da wir sahen, dass die ursprünglichen Wesen aus einer x-Gene- ration bestehen, lautet die Frage also, war das Entstehen einer !/,x-Generation oder das Entstehen einer 2x-Generation die not- wendige Folge der geschlechtlichen Fortpflanzung?

Zur Lösung dieser Frage sind Klebs’ Untersuchungen an den Schwärmern von Protosiphon von größtem Interesse. Klebs zeigte, dass ein Schwärmer dieser Pflanze sowohl ohne Kopulation als mit einer solchen zu einer neuen Pflanze auswachsen kann. Wir haben es also dort mit einer sehr primitiven geschlechtlichen Fortpflan- zung zu tun und demnach allen Grund, anzunehmen, dass die ur- sprünglichen Geschlechtszellen unveränderte ungeschlechtliche Zellen sind, beide also der x-Generation angehörig sind.

Die Kenntnis der Vorgänge der geschlechtlichen Fortpflanzung zeigt uns übrigens zur Genüge, dass die Bildung einer 2x-Gene- ration ein notwendiges Postulat der geschlechtlichen Fortpflanzung ist, während wir für die Bildung einer !/,x-Generation gar keine Ursache finden können.

Was geschieht nämlich bei der geschlechtlichen Fortpflanzung? Die Vereinigung zweier Kerne, deren jeder eine bestimmte Zahl Chromosomen mitbringt, was, falls also die Chromosomen ihre In- dividualität behalten, zu einer Verdoppelung der Chromosomenzahl führen muss. Es zeigen uns übrigens, und dies scheint mir sehr wichtig, dass sowohl bei Cyelops wie bei den Uridineen zwar eine Generation mit zwei Kernen in jeder Zelle vorkommt, nicht aber eine mit einem halben Kern.

Die Frage ist also, behalten auch bei der geschlechtlichen Fortpflanzung die Chromosomen ihre Individualität? Kann man also in den Kernen des Kindes väterliche und mütterliche Chromo- somen unterscheiden. In den Zellen von Cyelops lässt sich, wie gesagt, der väterliche und mütterliche Kern unterscheiden und neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich z. B. bei Drachy- stola, eine Heuschrecke, väterliche und mütterliche Chromosomen unterscheiden lassen.

Besonderes Interesse haben aber speziell die Untersuchungen Rosenberg’s über eine Hybride zwischen Drosera longifolia und

Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation. 105 ‘)

D. rotundifolia. Die Fortpflanzungsenergiden von D. longifolia enthalten 20 Chromosomen im Kern, diejenigen von D. rotundifolia 10; es zeigte sich nun, dass im Zygotenkern 30 Chromosomen anwesend waren.

Wir sahen also, dass ein notwendiges Postulat der geschlecht- lichen Fortpflanzung die Bildung eines Kopulationskernes mit 2x Chromosomen ist. Wir sahen ebenfalls, dass die Kernteilung auch im Körper der geschlechtlich erzeugten Wesen eine gleich- wertige ist. Das führt aber zum Schlusse, dass geschlechtlich er- zeugte Wesen Fortpflanzungszellen mit 2x Chromosomen bilden würden, die nächste Generation also 4x besitzen würde, die folgende 8x etc. und schließlich würde der Körper ganz aus Chromosomen bestehen. Dies ist nun offenbar unmöglich und auch die Wahr- nehmung zeigt, dass dem nicht so ist, die Zahl 2x wird nicht überschritten.

Wir kommen also zu diesem Resultat:

Die geschlechtliche Fortpflanzung führte zur Bildung eines Kernes mit 2x Chromosomen, brachte aber zugleich die Notwendig- keit einer nachträglichen Trennung dieser Chromosomen mit sich. Der Grund dazu lässt sich erblicken, es treten bei der geschlecht- liehen Fortpflanzung zum ersten Male Chromosomen verschiedener Organismen zusammen, es kann uns nur natürlich erscheinen, dass diese die Neigung haben, sich wieder zu trennen. Man kann sich vorstellen, dass diese Neigung nach und nach geringer wird und immer weiter hinausgeschoben wird, so dass es uns nicht wundern würde, falls bei den ursprünglichen geschlechtlich sich fortpflanzen- den Wesen die Trennung sehr bald nach der Kopulation, bei den höheren erst viel später stattfand.

Die erste Frage ist also, kennen wir eine Reduktion der Chromosomenzahl bei geschlechtlich erzeugten Wesen? Die Ant- wort ist bejahend; sowohl bei den höheren Pflanzen als bei den höheren Tieren findet sich eine solche Reduktion, z. B. bei den Farnen bei der Bildung der Sporen, bei den Tieren bei der Bil- dung der Eier und Spermatozoen.

Nun werden sowohl bei Tieren wie bei Pflanzen die Fortpflan- zungszellen sozusagen in Paketen von vier abgeliefert, d. h. es ent- stehen immer aus einer bestimmten Art Zellen vier Sexualzellen oder vier Makro- resp. Mikrosporen'). Diese bestimmte Zellenart belegte ich mit einem Namen, welcher sowohl für primäre Oozyte, primäre Spermatozyte als für Makrosporenmutter-(richtiger groß- mutter)zelle verwendet werden kann; ich wählte dafür den Namen Gonotokonten, von yov6roxos, der Nachkommenbildner. Dieser

l) Ich führte für die Sexualzellen und für Makro- und Mikrosporen einen Kollektivnamen ein und bezeichnete beide als Gonen, von yovos, der Nachkomme.

106 Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation.

Gonotokont war dadurch bereits auffallend, dass er eine längere Ruheperiode durchmachen kann; in unserem nördlichen Klıma kann diese Ruheperiode sogar viele Monate anhalten, indem der Gono- tokont (als Sporenmutterzellet) z. B. bei den Farnen) überwintert. Der Chromatinfaden des Gonotokonten hat sich aus 2x Chromo- somen gebildet. Es zeigt sich aber, dass während der Ruheperiode sehr bedeutende Änderungen stattgefunden haben, denn am Ende der Ruheperiode bricht der Faden nicht in 2x, sondern nur in x Öhromosomen auseinander. Die numerische Reduktion der Chro- mosomen findet also ohne jede Vermittlung während der Ruhe- periode des Gonotokonten statt.

Es zeigt sich dann, dass die aus dem Chromatinfaden hervor- gehenden Chromosomen öfters bedeutend dicker sind als diejenigen, aus welchen sich der Faden gebildet hatte. Da die Zahl der Chromosomen auf die Hälfte reduziert, die Dicke bis auf das Doppelte gewachsen ist, liegt es auf der Hand, die dicken Chromo- somen dadurch entstanden zu denken, dass zwei Chromosomen sich seitlich (mit den langen Seiten) aneinander geschmiegt haben?). Die Reduktion der Chromosomen ist also nur eine scheinbare, denn de facto bestehen diese dicken Chromosomen aus zwei aneinander geschmiegten, sind also bivalent. Auch scheint es vorzukommen, dass die Bivalenz nicht durch seitliche Anemanderschmiegung, sondern durch Hintereinanderliegen zustande kommt (Bivalenz von Häcker)?).

Ich werde also das erste Stadium der Gonotokonten als das univalente, das zweite als das bivalente bezeichnen. Im letzten Stadium, kurz bevor der Gonotokont zur Bildung der Gonen schreitet, finden wir öfters das bivalente Chromosom übers Kreuz gespalten, so dass eine Scheitelansicht uns eine Tetrade zu Gesicht führt. Ich möchte dies das Tetradenstadium des Gonotokonten nennen. Die Zahl der Tetraden ist also die Hälfte der Anzahl univalenter Chromosomen, welche zusammen den Chromatinfaden des Gonoto- konten bildeten. Bei der jetzt stattfindenden Teilung, wodurch sich die Mutterzellen der eigentlichen Gonen bilden, kommt eine dieser Spaltungen zur Perfektion und erhalten die beiden Gonen- mutterzellen je eine Dyade. Fassen wir jetzt einen bestimmten Fall ins Auge und beschäftigen wir uns mit dem Ursprung der Eizellen eines weiblichen Tieres (Fig. 1), dann zeigt sich jetzt ın dieser Eımutterzelle ein ganz eigentümliches und, wie ich meine, höchst wichtiges Verhalten. Die Dyade fängt an, eine Wen- dung um 90° auszuführen, weshalb ich dieses Stadium das

I) Dieser Ausdruck ist eigentlich grundfalsch, es ist die Sporengroßmutterzelle. 2) Dies ist aber keineswegs zwingend, denn es könnte die größere Dicke auch durch Kontraktion entstanden sein.

3) Für diese Fälle siche Lotsy in Flora 1904.

Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation. 107

Wendungsstadium nenne. Bei der jetzt stattfindenden Bildung der reifen Eier tritt die zweite Spaltung des bivalenten Chromosomes ein und erhält jedes Ei resp. Polkörperchen sein univalentes Chromosom.

Soweit die wahrgenommenen Facta; jetzt deren Interpretierung (Fig. 2). Die Hälfte der Chromosomen der Zellen des Kindes stammt vom Vater, die Hälfte von der Mutter. Diese bilden da- durch, dass sie sich der Länge nach aneimander legen, den Kern- faden. Da dieser durch Spaltung (Äquationsteilung) jedesmal auf

Fig. 1.

222 1. Stadium (univalente Chromosomen)

BER 2. Stadium (bivalente Chromosomen) Gonotokont

3. Stadium (Tetradenstadium)

Dyadenstadium AG Gonenmutterzelle

Dyadenwendungsstadium

Gonen (in diesem

Falle reife Eizellen, Richtungs- Sp körperchen)

Wahrgenommenes. Interpretierung.

die Tochterzellen übergeht, befinden sich in den Nukleus des Kindes während des ganzen somatischen Lebens sowohl väterliche wie mütterliche Chromosomen. Da die absolute Zahl für unsere Zwecke ganz nebensächlich ist, wiederhole ich, dass wir einen ganz hypo- thetischen Fall annehmen, wobei die Fortpflanzungszellen je ein einziges Chromosom enthalten. Stellen wir die väterlichen Chro- mosomen durch einen lichten, die mütterlichen durch einen schral- fierten Raum dar, dann wird der Chromatinfaden der somatischen Kerne so: TITL_ | dargestellt. Der Gonotokont erhält also auch

einen solchen aus zwei univalenten Chromosomen zusammengesetzten

108 Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation.

Chromatinfaden. Bei der sogen. numerischen Reduktion legen diese Chromosomen sich z. B. der Länge nach aneinander (Stadium der bivalenten Chromosomen). Jetzt spalten sich beide Chromo- somen, welche zusammen das bivalente Chromosom bilden, der Länge nach, und so entsteht das Dyadenstadium der Eimutterzelle. In der Eimutterzelle befinden sich also de facto noch zwei Chromo- somen, ein väterliches und ein mütterliches, gerade wie in den somatischen Zellen, nur mit dem Unterschiede, dass bei den soma- tischen Zellen diese Ohromosomen hintereinander, hier neben- einander liegen. Es ist nun klar, dass die folgende Teilung (Fig. 2) sehr verschieden sein wird, je nachdem diese in die Ebene a oder in die Ebene £ stattfindet. Eine Teilung in der Ebene a würde nichts Neues bringen, die Deszendenten würden wieder zwei Uhromosomen, ein väterliches und ein mütterliches, erhalten; da- gegen würde eine Teilung ın der Ebene £ eine Trennung zwischen väterlichen und mütterlichen Chromosomen bedeuten und die Tei- lungsprodukte würden je nur ein univalentes Ohromosom enthalten.

Fig. 2a.

I

Ausstoßung der Polkörperchen bei Asterias.

In welcher Ebene findet nun die folgende Teilung statt? Vorläufig tritt sie gar nicht ein. Es vollzieht sich zunächst eine Wendung, die deswegen von so hoher Bedeutung ist, weil sie die Richtung andeutet, in welcher das zweite Polkörperchen ausgestoßen wird, und weil diese Richtung dieselbe ist, in welche das erste Pol- körperchen ausgestoßen wurde. Dass beide Polkörperchen nach derselben Seite ausgestoßen werden, geht aus obenstehender Figur von Hertwig bei Asterias zur Genüge hervor. Die Teilung findet also im zweiten Falle in eine Ebene parallel zu a (Fig. 2) statt. Ohne Wendung würden also beide Teilungen gleich sein; die Wendung bringt den fundamentellen Unterschied zwischen der ersten und zweiten Teilung hervor.

Dass diese Wendung keine zwingende Begleiterscheimung karyo- kinetischer Prozesse bei der Gonenbildung ist, geht aus dem Ver- halten bei der Bildung der Spermatozoiden hervor. Auch dort enthält der Gonotokont am Schluss seiner Ruhezeit eine Tetrade, welche wir uns in ähnlicher Weise entstanden denken.

Es geht aus nebenstehenden Figuren hervor, dass das Dyaden- stadium sich in ganz ähnlicher Weise wie bei der Bildung der

Lotsy, Die x-Generatien und die 2x-Generation. 109

Fortpflanzungszellen bildet. Aber und dies scheint mir wichtig ein Wendungsstadium tritt jetzt nicht ein. Es braucht dieses auch nicht der Fall zu sein, denn die zweite Reifungsteilung findet in einer Richtung senkrecht zur ersten Reifungsteilung statt, wodurch gerade, weil keine Wendung stattgefunden hat, der fun- damentelle Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Tei- lung zustande kommt. Die eine ist auch hier eine Äquationsteilung, die andere aber eine Trennungsteilung, wodurch die vom Vater und von der Mutter beigetragenen Chromosomen sich wieder trennen. Gibt es nun für diese Auffassung, für die Trennung der väterlichen und mütterlichen Chromosomen bei der Bildung der Fortpflanzungs- zellen auch weitere Stützen?

Fig. 3. | Fig. 4.

CK Tetradenstadium 00

Dyadenstadium

Einleitung des Monadenstadiums

[o) Spermatiden, welche sich ohne weitere Teilung zu Spermatozoön heranbilden

Ich meine ja, und erblicke einen solchen in den Mendel’schen Hybriden.

Bekanntlich hat Mendel zuerst die Nachkommen einer Hy- bridenpflanze in Reinkultur verfolgt. Greifen wir einen seiner Fälle heraus: Bei der Kreuzung einer Erbsenform mit lateralen Blüten mit einer solchen mit terminalen zeigte sich, ganz gleich- gültig, welche als Pollenpflanze benutzt wurde, dass der so er- zeugte Hybride laterale Blüten hervorbrachte; kein einziges Exem- plar besaß terminale Blüten.

Es zeigte sich in der Hybride also nur die Eigenschaft des lateralen Elters, dasjenige des terminalen war verschwunden oder wie Mendel es ausdrückt, die Lateralität dominiert, die Termi- nalität war rezessiv.

110 Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation.

Kultiviert man jetzt einen solchen Hybriden unter strenger Selbstbefruchtung weiter, dann zeigt sich schon in der nächsten (eneration das rezessive Merkmal wieder. Trägt man nun Sorge, dass jede Pflanze, mag sie nun das dominierende oder das rezessive Merkmal zur Schau tragen, immer nur von sich selbst befruchtet wird, dann bekommt man, unter Annahme, dass von jeder Pflanze immer vier Samen geerntet und ausgesät werden und auch zur Entwickelung gelangen, folgendes Schema, wobei D die Pflanzen mit dem dominierenden, R diejenigen mit dem rezessiven Merk- mal zeigen.

Es zeigt sich also, dass in jeder Generation eine gewisse An- zahl Pflanzen abgespalten wird, welche wieder das rezessive Merk- mal zur Schau tragen, welche also den einen Elter in voller Rein- heit wiedergeben. Eigentümlich müsste diese Einseitigkeit berühren: weshalb trat nur der eine Elter bei Aussaat der Hybridensamen

4D (die vier ursprünglichen Hybriden)

DEN

12D AR 7a x 40D 8R 16R Z> |

a 144D 16R 32R 64R Ka

544D 32R 64R 128R 256R

wieder rein hervor und blieb bei Selbstbefruchtung konstant, wäh- rend die Pflanze, welche vollständig dem anderen, dem dominieren- den Elter glich, nie konstant zu haben war, sondern in jede Gene- ration wieder Rezessivisten abspaltete, welche wieder sofort nach ihrem Erscheinen sich als konstant erwiesen?

Da lag es auf der Hand, zu meinen, dass auch der andere Elter rein vorhanden war, aber sich dadurch, dass der Hybride nur das dominierende Merkmal zeigte, nicht von diesem unter- scheiden ließ. Die genaue Verfolgung der Abkömmlinge einer jeden dominierenden Pflanze zeigten dann auch in der Tat, dass dies der Fall war. Unter den 12 dominierenden Pflanzen der ersten Generation waren vier vorhanden, welche konstant waren und nie Rezessivisten abspalteten, acht dagegen, welche zwar dem dominierenden Elter glichen, durch ihre Deszendenz sich aber als Hybriden dokumentierten. Es zeigte sich dann auch, dass der ausgearbeitete Stammbaum folgendes Resultat lieferte:

Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation. 11T

4DR (die vier ursprünglichen Hybriden)

4D SDR 4R Bar ee 16.D SD 16 DR SR. 16R 6402732)D7 416:D 32DR IHRER HAN | Baus | | = 2>56D 128D 64D 32D 64DR 32R 64AR 128R 256R

Die DR-Reihe lässt sich nur nicht ohne weiteres erkennen, weil von dem rezessiven Merkmal eben nichts zu sehen ist. Dass beide Resultate übereinstimmen, möge aus der Addierung der letzten Generation unseres Beispieles hervorgehen.

Gefunden wurde im ersten Beispiel:

D = 544 R = 32 4 64 + 128 + 256 480.

Im zweiten Beispiel:

D—=256- 128 4 64-4 32 4 64!) 544 R— 32464 128 + 256 480.

Wie lässt sich nun dieser Fall erklären? Es zeigte sich also, dass die hybriden Pflanzen, die DR-Pflanzen also, sich in jeder Generation im Verhältnis:

1D:2DR:1R spalteten.

Die Lösung fand Mendel in der Annahme, dass die hybriden Pflanzen nicht hybride Fortpflanzungsenergiden, sondern reine Fort- pflanzungsenergiden hervorbrachten und zwar so, dass die Hälfte der Eizellen dem’ Vater, die andere Hälfte der Mutter, die Hälfte der Pollenkörner dem Vater, die Hälfte der Mutter gleich waren.

Nimmt man nun weiter an, dass alle gleich leicht unter sich paaren, dann erhält man folgende Kombination:

(D+R) (D+-R)=D?—+-2RD-+R? und da man das Quadrat einer Eigenschaft nicht sehen kann, erhält man in der Tat: 1D+2DR-+IR oder eine Spaltung im Verhältnis: LDIDREIR, was also mit den gefundenen Werten übereinstimmt.

Da man nun DR nicht von D unterscheiden kann, muss die erste Generation der Hybriden für 75°/, aus dominierenden, für 25°/, aus rezessiven Pflanzen bestehen, was mit den gefundenen

1) Es sind dies die 64DR dieser Generation, welche, da sie nur das domi- nierende Merkmal zeigen, als D gerechnet werden müssen,

143 Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation.

Werten übereinstimmt. Von 16 Pflanzen: 12 dominierend und 4 rezessiv.

Das ergab also eine sehr schöne Übereinstimmung zwischen der Theorie und dem Gefundenen, aber noch eine weitere Stütze wurde aufgefunden.

Mendel sah ein, dass, falls die Auffassung, dass die Hybriden reine Fortpflanzungszellen bildeten, richtig war, eine Kreuzung des Bastardes mit dem einen Elter ein anderes Resultat haben müsste als eine solche mit dem anderen Elter, denn:

(D--R) R gibt ein anderes Resultat als (D+R) D. Kreuzt man mit dem Elter mit dem rezessiven Merkmal, so erhält man theoretisch:

(D+-R)R=DR-+R? und da man bei DR den R-Faktor nicht wahrnehmen kann, bei R2 das Quadrat unsichtbar ıst, bekommt man 1D-+R, also: 50°/, Dominanten und 50°/, Rezessivisten. Das Experiment zeigte, dass solches in der Tat der Fall war.

Kreuzt man dagegen mit dem dominierenden Elter, so müsste

man theoretisch erhalten: (D+-R)D=D?+DR oder da R unsichtbar ist, nur dominierende Pflanzen. Auch hier bestätigte das Experiment die theoretische Voraussetzung.

Es zeigt sich also, dass die Trennungsteilung in Gonotokonten in der Tat eine Trennung zwischen väterlichen und mütterlichen Chromosomen ist.

Es ist dies in so hohem Maße in Übereinstimmung mit oben- stehenden Erörterungen, dass ich darın eine wesentliche Stütze für die entwickelten Ansichten erblicke und demnach folgende Arbeitshypothese aufzustellen wage:

Die ursprünglichen, sich ungeschlechtlich fort- pflanzenden Organismen stellen eine x-Generation dar; ihre Fortpflanzungszellen enthielten also auchx Chromo- somen.

Durch Kopulation ursprünglich ungeschlechtlicher Fortpflanzungszellen, entstand die geschlechtliche Fort- pflanzung und wurde also eine 2x-Generation geboren!)

Dieser 2x-Zustand konnte nicht immerfort existieren bleiben, früher oder später musste die 2x-Generation einen Gonotokonten bilden, in welcher die ursprüngliche Chromosomenzahl wieder hergestellt wurde. Diese Rück- kehr zur x-Generation besteht in der Trennung der väter-

1) Phylogenetisch ist also das Ei älter als das Huhn, das Prothallium älter als die Farnpflanze.

Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation. / ,

lichen und mütterlichen Chromosomen. Ihr voran geht

aber die Paarung dieser Chromosomen welche wäh- rend dem ganzen vegetativen Leben des Kindes getrennt blieben die numerische Reduktion ist der Ausdruck

dieser Paarung.

In diesem Paarungsstadium, den Zygochromosomen Stras- burger’s erblickt de Vries den Moment, in welchem ein Substanz- austausch zwischen mütterlichen und väterlichen Chromosomen stattfindet. Es scheint mir dies ein sehr wahrscheinlicher Gedanke; ein solcher Austausch muss selbstverständlich irgendwo stattfinden; fände er nicht statt, so müssten die Enkel mit den Großeltern identisch sein.

Nach Weismann sind sie dies nicht, weil er annimmt, dass die Fortpflanzungsenergiden zum Teil väterliche, zum Teil mütter- liche Chromosomen erhalten.

Wir sahen schon, dass dies höchstwahrscheinlich bei den Mendel’schen Hybriden nicht vorkommt, doch sprechen gewisse Sachen dafür, dass in der Tat eine Verteilung, wie Weismann meint, vorkommen kann.

Ich meine damit nicht, dass die intermediären Arthybriden per se in den Fortpflanzungsenergiden gemischte Chromosomen enthalten müssen, denn die de Vriese’sche Annahme eines Sub- stanzaustausches genügt selbstverständlich ebenfalls zur Erklärung der intermediären Merkmale, sondern ich ziele damit auf die Rosenberg’sche Droserahybriden.

Drosera rotundifoha besitzt in ihrem Körper Kerne mit 20 Chromosomen, Drosera longifolia solche mit 40. Die eine Spezies hat also 10, die andere 20 Chromosomen in den Kernen der Fortpflanzungszellen.

Demgemäß zählt die Hybride zwischen beiden in ihrem Körper 20 + 10 = 30 Chromosomen. Dies ist also die 2x-Generation, in solchen Fällen vielleicht zweckmäßig als x-+ y-Generation zu be- zeichnen. Falls die oben entwickelte Meinung allgemein gültig wäre, müssten im Gonotokonten des Bastardes, Gonen mit zum Teil 10, zum Teil 20 Chromosomen gebildet werden. Dies ge- schieht auch in der Tat, daneben werden aber solche mit 15 Chromosomen gebildet.

Ich erblicke nun in der Tatsache, dass hier wirklich Gonen mit 10 und andere mit 20 vorkommen, eine gewünschte Stütze für unsere Meinung; dass daneben auch solche mit 15 Chromosomen vorkommen, bin ich geneigt, als eine pathologische Erscheinung zu deuten, verursacht durch die Hybridisation zwischen zwei Arten.

Dennoch deutet das Vorkommen darauf hin, dass man nicht ohne weiteres Weismann’s Meinung verwerfen darf.

XXV, &)

114 Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation.

Regel ist dies aber wohl sicher nicht; wo es vorkommt, er- blicke ich darin einen sekundären Umstand, ursprünglich ist wohl die reine Trennung väterlicher und mütterlicher Chromosomen.

Es fragt sich jetzt, wie hat sich 2x-Generation gebildet, trat sie sofort als 2 x-Generation zutage oder nicht?

Es ist selbstverständlich, dass es ım Prinzip gleichgültig ist, wann die numerische Reduktion der Chromosomen stattfindet. Man kann sich denken, dass die Zygote sofort zum Gonotokonten wird oder dass sich die Zygote erst viele Male teilt und so eine 2 x-Gene- ration bildet, die erst am Ende ihrer Entwickelung Gonotokonten bildet.

In der Tat wird meiner Meinung nach bei den einfachsten sich geschlechtlich fortpflanzenden Wesen die Zygote direkt zum Gono- tokonten, Hydrodietyon, Oedogonium, und bildet so die Gonen, hier vier Schwärmer, später teilte sich die Zygote einige Male gleich- wertig, so dass eine mehrzellige 2x-Generation entstand, welche ja schließlich zu der großen 2 x-Generation der höheren Pflanzen und Tiere führte, wodurch die x-Generation mehr und mehr in den Hintergrund geriet.

Die Gonenbildung braucht also keineswegs, wie jetzt bei Farnen, Phanerogamen und höheren Tieren am Ende der 2x-Gene- ratıon zu geschehen, phylogenetisch hat sie sogar zuerst am Anfang, sofort nach der Bildung der Zygote stattgefunden. Die ganze 2 x-Generation ist eine sekundäre Bildung.

Interessant ist in dieser Hinsicht, dass auch Weismann, auf zoologischer Seite, annımmt, die Bildung der Geschlechtszellen (Gonen) habe ursprünglich am Anfang der Ontogenese stattgefunden.

Die Gelegenheit zur Bildung einer 2x-Generation wurde zu- nächst nur zagend verwendet, doch schon bei den Farnen in vollem Glanze auftretend, verdrängte sie bei den Phanerogamen und höheren Tieren, die x-Generation fast völlig.

Dass unser geologischer Stammbaum so lückenhaft ıst und dass wir gar keine Ahnung haben, wie sich die Farne eigentlich entwickelten, liegt wohl in der zarten Beschaffenheit der primitiven 2x-Generation. Es nimmt ja kein Wunder, dass die Prothallien nicht fossil gefunden werden, ebensowenig darf man aber er- warten, eine auf niederer Stufe stehende 2x-Generation zu finden, da diese erst auf hoher Entwickelungsstufe fossilisiert werden konnte. Dass sogar jetzt die Ausbildung einer großen 2x-Gene- ration nicht notwendig ist, zeigen Lang’s Prothallia mit Sporangien. Eine Kernkopulation muss aber wohl dieser Bildung vorange- gangen sein, etwa wie diese nach Farmer bei den apogam ge- bildeten Farnen stattfindet.

Wie man sieht, ist bei den Pflanzen der Ausdruck x-Generation mit Gametophyt, der Ausdruck 2x-Generation mit Sporophyt gleich-

Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation. 115

wertig. Die hier verwendeten Ausdrücke sind aber einer weiteren Verwendung als diese fähig. Ist es schon misslich, eine Pflanze, welche wie ein Vaucheria z. B. Zoosporen und Gameten fortbringt, mit dem Namen Gametophyt zu bezeichnen, geradezu gefährlich könnte es werden, einen Menschen ein Sporozoon zu schelten!

Zur Begründung oder Widerlegung obiger Hypothese sind ge- naue Untersuchungen der Keimungsgeschichte von Zygoten niederer Algen und Pilze sehr erwünscht, mit anderen Worten, es ist zu bestimmen, wo beı den verschiedenen Lebewesen der Gonotokont liegt. Es ist aus diesem Grunde, dass ich die Hypothese eine Arbeitshypothese nannte.

Es mag vielleicht untenstehende Tabelle ein Hilfsmittel zu solchen Untersuchungen bilden.

Es scheint mir angebracht, zu vermuten, dass folgende Fälle sich nachweisen lassen werden:

A. Bei autotrophen Pflanzen.

l. Die Zygote wird sofort zum Gonotokonten:

a) Bildet vier Gonen: Mesotaeniaceae, Hydrodictyon, Bulbo- chaete, Oedogonium, alle mit vier aus der Zygote hervor- gehenden Schwärmern.

b) Bildet vier Gonen, aber zwei gehen zugrunde: Closterium, Oosmarium und alle Desmidiaceen mit zwei Keimlingen in der Zygote.

c) Die Zahl der ausgebildeten Gonen varııert von 1—3, die Zahl der Zugrundegehenden von 3—1... Stephanosphaera (1—3 Schwärmer werden in der Zygote gebildet).

Nur eine Gone wird ausgebildet, die drei anderen rudi-

mentär... Alle Zygoten, aus welchen nur ein Individuum

der x-Generation angehörig sich entwickelt. Also der ge- wöhnliche Fall bei den Algen. Zytologisch ıst dies noch gar nicht untersucht. Ich erwarte, dass dort drei Kerne zugrunde gehen und nur einer übrig bleibt. Den Fall haben wir nicht unwahrscheinlich bei Spirogyra. Dort teilt sich nach Chmielevsky der Zygotenkern in vier Kerne, von denen zwei zugrunde gehen, zwei sich wieder ver- einigen. *Falls letzteres ein Irrtum wäre und der eine

Kern, welcher übrig bleibt, sein Überleben dem Zugrunde-

gehen der drei übrigen verdankte, hätten wir hier den

theoretisch verlangten Fall.

II. Die Zygote teilt sich in eine ganz in der Zygote be- schlossen bleibende 2x-Generation, sterile Zellen sind in der 2x-Generation noch nicht vorhanden, sondern:

d

S*

416 Lotsy, Die x-Generation und die 2x-Generation.

1. Die einen resp. zwei Zellen der 2x-Generation bilden je vier Schwärmer: Sphaeroplea. 2. Die zwei resp. vier Zellen der 2x-Generation bilden je vier Schwärmer: Coleochaete. . Die zwei Zellen der 2x-Generation bilden unbewegliche Sporen: Bangia, Porphyra. III. Die 2x-Generation tritt aus der Zygote heraus. A. x-Generation und 2x-Generation sind beide frei- lebend und von gleicher Form... Dietyota. B. Die 2x-Generation ist von der x-Generation ver- schieden, die 2x-Generation die kleinere. a) Kann ihre eigene Nahrung ganz oder zum Teil während des ganzen Lebens bereiten... Florideen. ß) Kann, wenigstens in erwachsenem Zustande, ihre Nah- rung nicht bereiten... Musei. C. Die 2x-Generation größer als die x-Generation. a) x- und 2x-Generation wenigstens in einem Geschlecht autotroph. a) Die x-Generation hermaphroditisch .... homospore Filices. ß) Die x-Generation eingeschlechtlich. 1. Die weibliche autotroph, die männliche nicht... z. B. Salvinia. b) Die x-Generation parasitisch und eingeschlechtlich. a) Die weibliche x-Generation deutlich erkennbar .. Gymnospermae. ß) Die weibliche x-Generation stark reduziert... Angio- spermae.

oo

B. Bei nicht autotrophen Pflanzen.

Hier gibt es zunächst Fälle, wo die 2x-Generation zwei Kerne in jeder Zelle führt, welche sich erst im Gonotokont vereinigen, um dann vier Sporen zu bilden, welche zu einem Mycel mit ein- kernigen Zellen sich ausbilden. So bei den Uredineen nach den schönen Untersuchungen Blachmann’s, wo die Telentospore (sonotokont ist. Bei den Basidiomyceten ist wohl die Basidie als (Gronotokont aufzufassen. Bei den Ascomyceten erblicke ich ın den ascogenen Fäden die 2x-Generation, doch liegt dort die Sache noch recht unsicher. Bei den Siphonomyceten halte ich die Pflanze für eine x-Generation, dagegen spricht direkt Trow’s neueste Publi- kation über Achlya, wo nach ihm eine numerische Reduktion bei der Bildung der Eier vorkommen soll. Falls dies richtig, wäre ja die Achlya-Pflanze eine 2x-Generation. Dass ich es, trotz der großen Kompetenz dieses Autors, wage, an der Richtigkeit dieser Wahrnehmung zu zweifeln, hat seinen Grund darin, dass, falls der

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. [17

Achlya-Thallus die 2x-Generation wäre, die Schwärmsporen dieser Pflanze den Gameten nicht homolog sein würden, was ja phylo- genetisch nicht wahrscheinlich ist.

Bei den höheren Tieren ist die x-Generation auf die Geschlechts- zellen beschränkt, der Körper ist ja die 2x-Generation.

Phylogenetisch hat sich also erst die x-Generation ausgebildet, bis z. B. Caulerpa, Fucus etc. Später aber ist die x-Generation mehr und mehr, schließlich fast ganz von der 2x-Generation verdrängt. Die direkte Ursache des Entstehens der höheren Wesen war also die geschlechtliche Fortpflanzung.

Ich will nur noch auf einige Folgerungen dieser Hypothese hin- deuten: die Parthenogenese der Gameten niederer Wesen ist nicht homolog der Parthenogenese von Gameten höherer Wesen. Im ersteren Falle wächst die weibliche Gamete zu einer x-Generation, im zweiten zu einer 2x-Generation aus. Da im letzten Falle aber keine väterlichen Chromosomen vorhanden sind, empfiehlt es sich, in solchen Fällen von einer Pseudo-2x-Generation zu reden.

Vorliegende skizzenhafte Auseinandersetzungen sollen nur zu weiteren Untersuchungen anregen, bei unseren jetzigen mangel- haften Kenntnissen in dieser Hinsicht wären weitere Versuche an- zugeben, wo bei den verschiedenen Klassen der Gonotokont sich findet, wohl kaum lohnend. Es soll dies eben durch neue zyto- logische Untersuchungen bestimmt werden,

Dezember 1904.

Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den

Ameisen. Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). (146. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) 1. Ist eine zufällige Entstehung des Sklavereinstinktes möglich?

Wie ist bei manchen Ameisenarten phylogenetisch die sonder- bare Sitte entstanden, die Puppen fremder Ameisen nicht bloß zu rauben, sondern auch als Hilfsameisen für die eigene Kolonie aufzuziehen?

Die Schwierigkeiten des Problems, an dem schon viele Forscher ihren Scharfsinn versucht haben, liegt im zweiten Teile der obigen Frage. Der erste Teil bietet gar keine Schwierigkeit; denn dass Ameisen die Puppen fremder Arten als Beute rauben, bildet bloß einen Spezialfall des allgemeinen Instinktes der Raublust, der bei der ganzen Ameisenfamilie mehr oder minder stark entwickelt ist. Daher kann es leicht geschehen, dass eine Ameisenart, die haupt- sächlich oder doch teilweise von Insektenraub lebt, ihre Beutezüge auch gegen fremde Ameisennester richtet und die Puppen zum Fraße nach Hause schleppt. Eine solche Raubameise ist sogar

118 \asmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

eine unserer Lasius-Arten, die glänzend schwarze Holzameise (Za- sius fuliginosus). Bereits Forel erwähnt in seinen Fourmis de la Suisse (1874 p. 375) einen Fall, wo Lasius fuliginosus Puppen von Myrmica raubte; ebenso einen anderen Fall, wo dieselbe Ameise die von Formica pratensis zurückgelassenen Kokons in ihr Nest schleppte. Auch Emery hat im Biologischen Centralblatt (XI. 1891 p. 172), einen Fall verzeichnet, wo jene Ameise die Larven und Puppen einer von ıhr vertriebenen Kolonie von Formica einerea forttrug. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich zwei diesbezüg- liche Beobachtungen erwähnen aus Lippspringe in Westfalen und aus Luxemburg. Im ersteren dieser beiden Fälle, der bereits im Zoologischen Anzeiger (1899 Nr. 580 p. 85—87) mitgeteilt wurde, hatte eine ziemlich starke Kolonie von Lasius fuliginosus einen förmlichen Raubzug unternommen gegen eine 20 m von dem Lasius- Nest entfernte Kolonie von Myrmica laevinodis, und kehrte mit einer Menge Larven, Puppen und frischentwickelter Myrmica (meist Männchen und Weibchen) beladen zu ihrem eigenen Neste zurück. Im letzteren Falle, den ich im Sommer 1904 in Luxemburg beob- achtete, raubte Lasius fuliginosus die Larven und Puppen einer Kolonie von Leptothorax avervorum, welche in Rindenspalten am Fuße derselben Tanne ıhr Nest hatte, zwischen deren Wurzeln das Nest von Lasius sich befand. Hier gab demnach eine zufällige Form zusammengesetzter Nester die Veranlassung zum Raub der fremden Brut.

Auf die verschiedenen Möglichkeiten, welche dazu führen können, dass eine Ameisenart die Puppen einer anderen raubt, brauche ich hier nicht weiter einzugehen. Die Schwierigkeit des zu lösenden Problems liegt ja nicht darin, sondern in dem zweiten Teile der obigen Frage: wie kommen die sklayenhaltenden Ameisen dazu, die von ihnen geraubten fremden Arbeiter- puppen als Hilfsameisen aufzuziehen?

Bekanntlich hat Charles Darwin!) dieses Problem für die blutrote Raubameise (Formica sanguinea) folgendermaßen zu lösen gesucht: „Ich will mich nicht vermessen, zu erraten, auf welchem Wege der Instinkt der Formica sangwinea sich entwickelt hat. Da jedoch Ameisen, welche keine Sklavenmacher sind, zufällig um ihr Nest zerstreute Puppen anderer Arten heimschleppen, so ıst es möglich, dass sich solche, vielleicht zur Nahrung aufgespeicherte Puppen dort auch noch zuweilen entwickeln, und die auf solche Weise absıchtslos im Hause erzogenen Fremdlinge mögen dann ihren eigenen Instinkten folgen und das tun, was sie können. Er- weist sich ihre Anwesenheit nützlich für die Art, welche sıe auf- genommen hat, und sagt es dieser letzteren mehr zu, Arbeiterinnen

I) Entstehung der Arten, 7. deutsche Aufl., S. Kap. S. 299.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. ( I 8 g &

zu fangen als zu erzeugen, so kann der ursprünglich zufällige Brauch, fremde Puppen zur Nahrung einzusammeln, durch natürliche Zuchtwahl verstärkt und endlich zu dem ganz verschiedenen Zwecke, Sklaven zu erziehen, blei- bend befestigt werden.“

Angesichts dieser unzweideutigen Worte Darwin’s ist es mir nicht begreiflich, wie Wheeler in seiner verdienstvollen Studie „Ihe compound and mixed nests of American ants“') (American Naturalist 1901 p. 800) sagen konnte: „Darwin.. does not pretend to invoke the principle of natural seleetion in his genetic explanation of the sanguinea-state of dulosis.“ Es ist ferner irrtümlich, wenn Wheeler, um die Schwierigkeiten der Erklärung des Sklavereiimstinktes von F\! sanguinea zu beseitigen, ebendaselbst glaubt, die Hilfsameisen seien bei ihr „a mere by- product“, das ganz zufällig aus der Überzahl der als Nahrung geraubten Puppen resultiere. Es ist eine zweifellos feststehende Tatsache, dass die Sklavenjagden dieser Ameise den objektiven Zweck verfolgen, Hilfsameisen für die eigene Kolonie zu erhalten. Dies erhellt namentlich auch daraus, dass, wie ich durch eine fünfjährige, über 410 Kolonien von F. sanguinea bei Exaten (Holland) sich erstreckende Statistik nachgewiesen habe, diese Ameise um so weniger Sklaven raubt, je weniger sie deren bedarf, d. h. je stärker ihre eigene Kolonie ist, so dass die stärksten Kolonien (1 unter je 40) gar keine Sklaven enthalten. Dieselbe Gesetzmäßigkeit fand ich auch bei Luxemburg bestätigt; unter 39 Kolonien eines bestimmten saenguinea-Gebietes mit fusea als Sklaven war nur die Kolonie Nr. 37, die stärkste von allen, völlig sklavenlos. Es ist daher vergeblich, bei F\ sanguinea den ausgesprochenen Instinkt, Sklaven zur Erziehung zu rauben, ın Abrede stellen zu wollen. Es kann sich nur darum handeln, wie dieser Instinkt phylogenetisch zu erklären ist.

Darwin’s obenerwähnte Hypothese geht also dahin, dass die ersten Sklaven in den sangwinea-Nestern rein zufällig aufgezogen wurden; dieses zufällige Vorkommnis soll sich dann als nützlich im Kampfe ums Dasein erwiesen haben und deshalb von der Natur- züchtung zu einem eigenen erblichen Instinkte ausgebildet wor- den sein. Die Gründe, welche für und wider diese Hypothese

1) Durch diese sehr inhaltreiche Arbeit Wheeler’s ist unsere Kenntnis der Symbiose zwischen Ameisen verschiedener Arten in Nordamerika eigentlich be- gründet worden, da früher nur einige Arbeiten von MeCook und Mary Treat über zwei sklavenhaltende Ameisen jenes Gebietes vorlagen. Überhaupt hat Wheeler durch die zahlreichen vortrefflichen Arbeiten, die er seit 1900 veröffentlichte, die biologische Ameisenkunde Nordamerikas in wenigen Jahren bereits auf eine Höhe gebracht, die der europäischen Ameisenkunde kaum nachsteht. Der Umstand, dass ich in manchen mehr theoretischen Anschauungen von Wheeler abweiche, tut meiner Würdigung seiner Arbeiten keinen Eintrag.

120 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

sprechen, wurden von mir bereits an einer anderen Stelle, in der 1. Auflage meines Buches, „Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen (1891 S. 228ff.) ein- gehend erörtert. Gegenwärtig ist die 2., um das Doppelte ver- mehrte Auflage jenes Buches in Vorbereitung begriffen. Ich will hier nur kurz andeuten, auf welche neue Spur bezüglich der stammesgeschichtlichen Entwickelung des Sklavereimstinktes bei den Ameisen und insbesondere bei Formica meine letztjährigen Beob- achtungen mich geführt haben.

Die von Darwin angedeutete Entstehungsweise der Sklaverei scheint mir aus zwei Gründen nicht annehmbar zu sein. Erstens, wenn einmal oder sogar mehrmals nacheinander in einer Raub- ameisenkolonie die manchmal unbedeckten (kokonlosen) Puppen einer anderen Formica-Art sich zufällig entwickelt hatten, so war es doch falls nicht ein neues Erklärungsmoment hinzukommt höchst unwahrscheinlich, dass die zufällig entwickelten Fremden auch wirklich aufgenommen und dadurch zu Hilfsameisen der Raubameisenkolonie wurden. Zweitens, sollte dies auch zufällig einmal oder einigemal geschehen sein, so konnte doch die Natur- auslese daran keinen Anhaltspunkt finden, um einen erblichen Sklavereiinstinkt heranzuzüchten. Denn selbst wenn der Vorteil, der für die Kolonie aus den zufällig entwickelten fremden Arbeiterinnen sich ergab, groß genug gewesen wäre, um einen wirklichen Selektionswert zu besitzen, so konnte aus diesen zufälligen Vor- kommnissen trotzdem kein erblicher Instinkt entstehen, fremde Puppen als Sklaven zu rauben und erziehen, weil die Königinnen der betreffenden Formica-Kolonie an der Ausübung des neuen In- stinktes unbeteiligt waren. Wir müssten demnach annehmen, der neue Instinkt sei durch indirekte Selektion entstanden, indem jene Königinnen, in deren Keimesanlage die Fähigkeit zur Erzeugung von Arbeiterinnen, welche die neue Instinktanlage besaßen, zufällig vorhanden war, von der Naturauslese bevorzugt wurden. Diese Erklärungsweise ist zum mindesten eine recht umständliche und weit hergeholte.e. Nur ın Ermangelung einer besseren glaubte ich ihr früher!) besondere Beachtung schenken zu müssen. Wie sich unten zeigen wird, steht uns jedoch neuerdings eine viel einfachere und natürlichere Erklärung des Ursprungs des Sklaveninstinktes zu Gebote.

Bevor ich zu derselben übergehe, seien hier noch einige Ver- suche angeführt, aus denen hervorgeht, wie unwahrscheinlich es ist, dass Arbeiterpuppen fremder Arten, die in einem Formica-Nest zufällig sich entwickeln, auch wirklich als Hilfsameisen ange- nommen werden. Diese Versuche wurden 1904 angestellt an einem

1) Die zusammengesetzten Nester ete. 1. Aufl. S. 236 ff.

2

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 121

Wasmann’schen Beobachtungsneste !) von Polyergus rufescens mit Formica rufibarbis als ursprünglichen Sklaven. Diese Ameisen waren im Frühling 1904 der Polyergus-rufibarbis-Kolonie Nr. 1 bei Luxemburg entnommen worden. Um zu prüfen, welche fremde Ameisen in diesem Beobachtungsneste durch die rufibarbis-Sklaven aufgezogen würden, gab ich ıhnen ım Laufe des Sommers zahl- reiche Puppen von folgenden Arten:

Polyergus rufescens Arbeiterin aus den Polyergus-Kolonien Nr. 2, 3u. 4, Weibchen aus Polyergus-Kolonie 4, Männchen aus Polyergus- Kolonie 1,

Formica pratensis Arb.,

Formica rufa Arb.,

Formica truncieola Arb.,

Formica exsecta Arb.,

Formica rufibarbis Arb. und Weibchen.

Formica fusca Arb.,

Formica sanguinea Arb.,

Camponotus ligniperdus Arb.,

Lasius emarginatus Arb.,

Lasius fuliginosus Arb.,

Tapinoma erraticum Arb.

Die ursprünglichen rufibarbis-Sklaven holten alle diese Puppen aus dem als „Abfallnest“ bezeichneten, durch eine lange Glasröhre mit dem übrigen Nest verbundenen Glase ab, in welches ich die fremden Puppen zu legen pflegte. Manchmal, wenn bereits ein sehr großer Puppenhaufen im Hauptneste aufgespeichert war, zögerten sie mehrere Tage mit dem Abholen der neuen Puppen. So konnte sich manchmal eine buntgemischte kleine Allianzkolonie in dem Abfallneste bilden, indem die mit den Puppen eingebrachten fremden Ameisen einige der frisch entwickelten Arbeiterinnen ihrer eigenen und verwandter Arten daselbst aus den Kokons zogen. Nachdem die ersten Streitigkeiten vorüber waren, hausten daselbst in friedlichem Vereine alte und junge Arbeiterinnen von Formica rufa, pratensis, exsecla, sanguinea, rufibarbis und fusca. Die vom Hauptneste gelegentlich herüberkommenden rwfbarbis-Sklaven der Polyergus-Kolonie zerrten sich zwar mit den fremden alten Arbeiter- innen häufig herum, griffen jedoch die jungen fast nie an, sondern duldeten sie ruhig, da ja die frischentwickelten Ameisen über- haupt wegen ihres noch unentwickelten Eigengeruches gewisser- maßen „international“ sind. Noch friedlicher benahmen sich die einzeln aus dem Hauptneste herüberkommenden Polyergus- Arbeiterinnen. Ihr bloßes Erscheinen genügte gewöhnlich schon,

1) Die Abbildung eines solchen Nestes siehe in den „Psychischen Fähigkeiten der Ameisen“ (1899) Taf. I und in den „Vergleichende Studien über das Seelen- leben der Ameisen“ 2. Aufl. (1900) 8. 17.

122 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

um die eingeschüchterten alten Arbeiterinnen der fremden Arten von einem feindlichen Angriffe abzuschrecken, und die Polyergus spazierten dann tagelang ganz friedlich in der buntgemischten fremden Allıanzkolonie umher. In diesem Abfallneste war somit eine vortrefflich günstige Gelegenheit dazu geboten, dass sich zufällig in einem Raubameisenneste Arbeiterinnen der verschiedensten fremden Arten ungestört aus den Puppen entwickeln konnten. Aber von einer „zufälligen Aufnahme“ jener Fremden in die Raubameisenkolonie war trotzdem keine Rede. Spätestens innerhalb einer Woche begannen die alten rufibarbis-Sklaven ım Abfallneste aufzuräumen. Die Puppen und auch manche frischentwickelte Arbeiterinnen wurden in das Hauptnest hinübergetragen, die alten fremden Ameisen dagegen und auch die Mehrzahl der jungen einfach hier umgebracht. Die im Hauptneste aufgestapelten fremden Kokons und die wenigen mitgenommenen jungen Arbeiterinnen hatten dort erst ihr Erziehungsschicksal zu bestehen. Das Ergebnis war folgendes: - a) Endgültig aufgezogen wurden im Hauptneste: 1. Von Polyergus rufescens fast sämtliche Puppen von Ar- beiterinnen, Weibchen und Männchen!). 2. Von Formica rufibarbis gegen 1000 Arbeiterinnen als

Hilfsameisen. 3. Von Formica fusca etwa 500 Arbeiterinnen als Hilfs- ameisen.

4. Von Formica pratensis etwa 1500 oder gegen 2000 Arbeiter- innen, ebenfalls als Hilfsameisen definitiv angenommen. b) Nur zeitweilig im Hauptneste aufgezogen und nach der Ausfärbung noch mehrere Tage oder Wochen freundschaftlich behandelt, dann aber dennoch getötet wurden: 1.3 F. rufibarbis-W eibchen. 2. Etwa 100 r«fa-Arbeiterinnen. 3. Ungefähr ein Dutzend exsecta-Arbeiterinnen. 4. Ungefähr ein Dutzend truneicola-Arbeiterinnen. c) Nur ganz vorübergehend im Hauptneste aufge- zogenundnoch vor der Ausfärbung getötet wurden: 1. Eine Anzahl Arbeiterinnen von F, sangwinea (die übrigen siehe unter d). . Die meisten Arbeiterinnen von F\ rufa, truncicola u. exsecta. 3. Ein Teil der zuerst aus den Kokons gezogenen F. pra- tensis-Arbeiterinnen.

IV

I) Die Männchen und jungen Weibchen lagen jedoch Anfang Oktober sämt- lich als Leichen im Abfallneste. Die einzigen Eierlegerinnen dieses Beobach- tungsnestes sind ein halbes Dutzend gynaikoider Arbeiterinnen von Polyergus, über die ich anderswo berichtet habe (Verh. d. Schweiz. Entomolog. Gesellsch. 1904).

u Pa

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. [295

d) Nur aus den Kokons gezogen, dann aber sofort

getötet wurden:

1. Die meisten sangwinea-Arbeiterinnen.

2. Die Arbeiterinnen von (amponotus ligniperdus (soweit sie nicht als Puppen schon gefressen wurden).

e) Nur eine kurze Zeit aufbewahrt, dann aber, soweit sie nicht gefressen wurden, noch in den Kokons!) fortgeworfen wurden:

Die Puppen von Lasius emarginatus, L. fuliginosus und Tapinoma erraticum.

Also wurden an fremden Formica-Arbeiterinnen in diesem Be- obachtungsneste 1904 nur 3 unter 7 Arten als Hilfsameisen aus- gelesen, nämlich raufibarbis, fusca und pratensis, diese aber in großer Anzahl. Auffallend ist dabei der überwiegende Prozentsatz an pratensis. Die gemischte Kolonie des Beobachtungsnestes, die un- gefähr 4000 Ameisen gegenwärtig umfasst, besteht aus fast 40°), pratensis, 30°), rufibarbis, 15°/, fusca und 15°/, Polyergus. Dass fusca als Sklaven aufgezogen wurden, kann weniger befremden, da diese Art häufig die normale Hilfsameise von Polyergus ist. Dagegen weiß ich für die Auslese, welche unter den frischent- wickelten Arbeiterinnen der nahe miteinander verwandten pratensis, rufa und truneicola ausschließlich zugunsten der ersteren geübt wurde, bisher nur eine Erklärung. Auf demselben Gebiete auf dem „Kuhberg“ bei Luxemburg, wo die Polyergus rufibarbis Kolonie 1 ihr Nest hatte, fanden sich, nur etwa 15—20 m von diesem Neste entfernt, zwei sehr kleine pratensis-Nester. Es ist daher naheliegend, einen bisher verborgenen biologischen Zusammenhang zwischen den rufibarbis jenes Gebietes und der jungen pratensis-Kolonie anzu- nehmen. Wenn die Königin der letzteren Kolonie ihre erste Brut vielleicht mit Hilfe von rufibarbis-Arbeiterinnen aufgezogen hat, so würde sich die Neigung von rufibarbis zur Erziehung von pra- tensis-Arbeiterinnen leichter erklären. Doch darauf werde ich weiter unten noch zurückzukommen haben.

Der Grund, weshalb ich die ebenerwähnten Versuche so aus- führlich hier berichtete, ist, zu zeigen, wie wenig Wahr- scheinlichkeit die Erziehung fremder Puppen besitzt, die sich zufällig in einem Formica-Neste entwickelten. Die obigen Ergebnisse bekunden, dass die Ameisen streng elektiv voran- gehen in der Auswahl ihrer fremden Hilfsameisen?), indem

1) Bei Tapinoma, die stets unbedeckte Puppen hat, selbstverständlich ohne Kokons. Sonst waren unter den in dieser Liste erwähnten Puppen unbedeckte nur unter sanguinea und rufibarbis vertreten.

2) Dass ich hiermit den Ameisen kein „bewusstes, auf Verstandesgründen be- ruhendes“ Wahlvermögen zuschreibe, sondern nur ein instinktives, das aus der sinnlichen Wahrnehmung und dem sinnlichen Strebevermögen sich vollkommen be-

I24 Weasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

sogar die bereits seit einer oder mehreren Wochen entwickelten und schon ausgefärbten rufa, truncicola und exserta wiederum ge- tötet wurden. Manche derselben fielen allerdings ebenso wie auch manche pratensis der bekannten Beißlust von Polyergus zum Opfer. Häufig sah ich, wie eine Polyergus-Arbeiterin ihre Kiefer in den Rücken einer großen Formica-Arbeiterin gebohrt hatte und dieselbe stundenlang festhielt, wobei der Körper der (sebissenen oft in krampfhafte Zuckungen geriet. So verfuhren die Polyergus übrigens auch mit manchen jungen Polyergus-W eibchen, die in dieser Kolonie aufgezogen worden waren, ja sogar mit nicht wenigen Polyergus-Arbeiterinnen ihrer eigenen ursprünglichen Ko- lonie. Dass die Polyergus hierbei das Blut ihrer Opfer lecken, das durch die Rinne auf der Innenseite der Säbelkiefer dem Munde zugeführt wird, ist nach meinen früheren Beobachtungen?) sehr wahrscheinlich. Die Auslese der endgültig aufzuziehenden Hilfs- ameisen ist jedoch sicherlich nicht auf Rechnung dieser Beißlust von Polyergus zu setzen, sondern auf Rechnung der ursprünglichen Sklaven, F rufibarbis. Mehrmals sah ich, wie eine bereits völlig ausgefärbte rufa-Arbeiterin von den rafibarbis ım Hauptneste um- hergezerrt, schließlich ın das Vornest gezogen und dort umgebracht wurde.

Ich gehe jetzt zu jenen Beobachtungen und Versuchen über, welche in näherer Beziehung zum eigentlichen Gegenstand dieser Abhandlung stehen, nämlich zur stammesgeschichtlichen Ent- stehung des Sklavereiinstinktes bei den Formica-Arten und bei den Ameisen überhaupt.

Das Ergebnis dieser Studie wıll ich der Klarheit halber schon hier kurz zusammenfässen. Es lautet:

a) Ontogenetisches Resultat: Sämtliche „Raubkolo- nien“ der sklavenhaltenden Ameisen sind bei ihrer Entstehung Adoptionskolonien oder (seltener) Allianz- kolonien°®); denn die isolierten Königinnen der Raub- ameisen gründen ihre neuen Kolonien stets mit Hilfe von Arbeiterinnen bestimmter fremder Arten. Auf dieser friedigend erklären lässt, braucht wohl kaum eigens bemerkt zu werden. Vgl. hierzu meine psychologischen Studien: Instinkt und Intelligenz im Tierreich, 2. Aufl. 1899; Vergleichende Studien über das Seelenleben der Ameisen und der höheren Tiere, 2. Aufl. 1900; Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen, 1899 (Zoologica, Heft 26).

2) Die zusammengesetzten Nester, 1. Aufl. S. 73ff.

3) Eine Adoptionskolonie entsteht durch die Aufnahme einer fremden Königin in einer Kolonie einer anderen Art. Eine Allianzkolonie entsteht ent- weder durch die Vergesellschaftung zweier oder mehrerer Königinnen fremder Arten nach dem Paarungsfluge (primäre Allianzkolonie, Allometrose Forel's), oder durch die Verbindung zweier schon fertiger Ameisenkolonien (sekundäre Allianzkolonie). Auch bei den Adoptionskolonien kann man primäre und sekundäre Formen unter- scheiden, worauf später näher eingegangen werden wird.

tr

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 125

Gründungsweise der Kolonien beruht die instinktive Neigung der Arbeiterinnen der Raubameisenart, später- hin die Puppen eben derselben Hilfsameisenarten zu er- ziehen, mit deren Hilfe ihre eigene Kolonie gegründet wurde und von denen auch die ersten Arbeiterinnen der Raubameisenkolonie erzogen worden sind.

b) Phylogenetisches Resultat: Die Raubkolonien sind aus Adoptionskolonien (bezw. aus Allianzkolonien) her- vorgegangen zu denken, indem die durch die Gründungs- weise der Kolonien bei den Arbeiterinnen schon vorhan- dene Neigung zur Aufzucht bestimmter Hilfsameisenarten zu einem ausgesprochenen Sklavereiinstinkte sich weiter- entwickelte.

An erster Stelle sollen nun die Beobachtungen nd Versuche an Formica truncicola berichtet werden, welche mich im Laufe der letzten zwei Jahre zuerst zu den obigen Ergebnissen führten.

2. Gründung und Entwickelung der Kolonien von Formica truncicola.

Formaca truncicola Nyl. ıst eine mit rufa und pratensis nahe verwandte, aber viel seltenere, mehr sporadisch vorkommende Ameise, welche auch in ihrem Nestbau nicht unerheblich von jenen beiden Rassen abweicht und sich hierin wie in ihrer hellen Färbung mehr der sanguinea nähert. Aus den folgenden Mittei- lungen wird überdies hervorgehen, dass F\. truncieola durch ihre mit F. fusca temporär gemischten Kolonien gewissermaßen die phylogenetische Vorstufe zur Entwickelung des Sklaverei- instinktes der F! sanguinea darstellt.

F. trunecicola ist keineswegs, wie ihr Name andeuten sollte, eine Bewohnerin alter Stämme, obwohl sie manchmal an solchen nistet, und noch weniger ist sie eine eigentliche haufenbauende Ameise wie ihre Verwandten rufa und pratensis. Sie hat ihre Nester am öftesten unter Steinen, namentlich an Örtlichkeiten, wo auch F\. fusca ebendaselbst häufig ıst. Unter den sechs fruncicola- Kolonien, die ich in den letzten fünf Jahren im Großherzogtum Luxemburg fand, ist nur eine, die außer einem Nest unter Steinen auch ein kleines Zweignest mit einem Häufchen von trockenen Blattstücken an einem benachbarten Stämmchen besaß. Allerdings traf ich früher bei Feldkirch in Vorarlberg (August 1890) und am Laacher See (August 1899) wiederholt trumneicola-Nester auch an alten Baumstrünken und zwar mit emem kleinen Haufen Pflanzen- material um den Stamm. Dieselben alten Baumstrünke beher- bergen jedoch auch häufig die Nester von fusca. Im August 1898 beobachtete ich eine truncieola-Kolonie bei Lippspringe in West- falen, welche einen kleinen Nesthaufen von Kiefernadeln in einem

426 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

Kiefernwalde besaß, dann aber 64 Meter weit auswanderte und ein neues Nest unter einer Schicht alter Asphaltplatten (Dachpappe) bezog, über welchem kein Oberbau errichtet wurde!). Auf dem Hummelsberg bei Linz am Rhein traf ich im Juli 1902 Nester von truncicola (und von ewsecta) unter großen Steinen. Von den zweı stärksten, viele tausend Arbeiterinnen umfassenden truneicola- Kolonien im Luxemburger Lande, die ich im August 1904 bei (Göbelsmühl fand, war das eine ın einer verfallenen Mauer an der Landstraße; die Ameisen waren gerade im Umzuge begriffen und wanderten 54 Meter weit zu einer anderen Öffnung desselben Straßenwalls. Das Nest der anderen, noch volkreicheren Kolonie lag am Fuße eines Berges unter großen Steinplatten.

Der Umstand, dass F. truncicola ihre Nester in frrsca-reichen Gebieten hat und zwar meist unter Steinen, wo auch fusca ge- wöhnlich nistet, scheint mir mit der Gründungsweise der trumcicola-Kolonien innig zusammenzuhängen. Aus den folgen- den Mitteilungen wird nämlich hervorgehen, dass die nach dem Paarungsfluge vom Heimatneste entfernten Königinnen ihre erste Brut nicht allein aufziehen, sondern stets mit Hilfe von fusca-Arbeiterinnen. Die gemischten Kolonien truncicola-fusca sind daher völlig gesetzmäßige, aber nur vorübergehende (temporäre) Formen gemischter Kolonien.

Nach den bisherigen Beobachtungen machen die truncieola- Kolonien folgende Stadien durch:

1. Stadium. Eine trumeicola-Königin mit fusca-Arbeiterinnen als Ammen. Gemischte Kolonie, und zwar Adoptionskolonie. (Erstes Jahr) ?).

2. Stadium. Die trumcicola-Königin mit den fusca-Arbeite- rinnen und mit Eiern, Larven und Puppen von truncieola-Arbeite- rinnen, welche durch die frsca-Ammen erzogen werden. (Erstes Jahr.)?)

3. Stadium. Die truneicola-Königin mit ıhrer Brut und mit den bereits erzogenen fruncicola-Arbeiterinnen zugleich mit den

1) Siehe: Vergleichende Studien über das Seelenleben der Ameisen, 2. Aufl., 1900, S. 78—79.

2) Ich verstehe hierunter das erste Jahr der neugegründeten Kolonie, nicht dasjenige der Königin. In den beiden von mir beobachteten Fällen von Stadium 1, die im April gefunden wurden, handelte es sich offenbar um be- reits zweijährige Weibchen, deren Paarungsflug schon im Sommer des vorigen Jahres stattgefunden hatte. Hier begann die Eiablage und die Erziehung der ersten Arbeiterinnen erst im Frühling des zweiten Lebensjahres der Königin. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass dieselben schon im ersten Lebensjahre beginnen können, da Charles Janet (Öbservations sur les fourmis 1904, p. 34) dies neuerdings bei Lasius niger beobachtet hat. Wann die truncicola-Königin ihre Eiablage beginnt, hängt von der Zeit ihrer Aufnahme bei fusca ab. Im Sommer des ersten Jahres ist dieselbe zweifellos viel schwieriger als im Beginne des Früh- lings des zweiten Jahres, wo eine weisellose fusca-Kolonie das Bedürfnis nach einer neuen Eierlegerin am stärksten fühlen wird.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 127

mw

noch überlebenden fusca-Arbeiterinnen. (Erstes, zweites und drittes Jahr.)

4. Stadıum. Die letzten fusca-Arbeiterinnen sind gestorben und die francieola-Kolonie ist hiermit aus einer gemischten zu einer einfachen Kolonie geworden. (Viertes Jahr.)

5. Stadıum. Weiteres ‚Wachstum der trunecicola-Kolonie durch die Fruchtbarkeit der Königin bis zur normalen Stärke der manch- mal Tausende von Arbeiterinnen zählenden Kolonien dieser Art. Hauptsächlich von jetzt ab (beginnend manchmal schon im Stadium 3 oder 4) werden auch Männchen und Weibchen erzogen. Die befruchteten Weibchen begegnen nach dem Paarungsfluge entweder Arbeiterinnen der eigenen Kolonie, welche sie ın das Heimatnest zurückbringen, oder sie suchen fausca-Nester auf. Finden sie Auf- nahme in einer weisellos gewordenen fausca-Kolonie, so ist das Stadium 1 wieder erreicht, durch welches eine neue truncieola- Kolonie gegründet wird. (Siehe oben.)

Da das Alter einer Formica-Königin 12 Jahre überschreiten kann), auch neue Königinnen in die Kolonie heimgebracht werden können (siehe oben), vermag die Lebensdauer einer trunciecola- Kolonie leicht 20 Jahre zu erreichen. Mit der zunehmenden Stärke der Kolonie ändert sich manchmal auch der Nestbau, indem zu dem Neste unter Steinen oder in alten Strünken ein Haufenbau aus trockenem Pflanzenmaterial hinzutreten kann.

6. Gelegentlich kann die einfache truneicola-Kolonie wieder zu einer gemischten Kolonie truncicola-fusca werden, indem zufällig geraubte fusca-Puppen von den /rumeicola Arbeite- rinnen erzogen werden, welche wegen ihrer eigenen Erziehung durch fasca-Arbeiterinnen eme besondere Neigung beibehalten haben ?), Arbeiterpuppen eben dieser Art zu erziehen. So kann die ursprüngliche Adoptionskolonie die Grundlage zur späteren Bildung einer Raubkolonie werden. Auf diesem Wege ist auch die Entstehung des Sklavereiinstinktes bei Formica sangwinen stammesgeschichtlich zu erklären. (Fortsetzung folgt.)

1) Nach meinen Beobachtungen an F. sanguinea, wo eine Königin 11, eine andere desselben Beobachtungsnestes 13 Jahre alt wurde und bis ins letzte Jahr noch Eier legte, aus denen Arbeiterinnen sich entwickelten. Lubbock hat übrigens in seinen Beobachtungsnestern Ameisenköniginnen sogar 14—15 Jahre lang gehalten.

2) Da nach meinen Versuchen mit verschiedenen Formica-Arten das Alter einer Arbeiterin 3 Jahre (höchstens 3'/, Jahre) erreichen kann, können noch 6 Jahre nach Gründung der truncicola-Kolonie Arbeiterinnen vorhanden sein, die durch F. fusca erzogen wurden. Hiernach würde der unter 6 erwähnte Fall zeitlich in das Stadium 4 oder in den Anfang von 5 fallen. Darüber, ob auch truncicola- Arbeiterinnen aus alten Kolonien, die schen lange selbständig waren, noch die Neigung zur Erziehung von fusca-Arbeiterinnen besitzen, habe ich bisher noch keine Versuche angestellt. Die auf eine truncicola-Kolonie vom Stadium 4 be- züglichen Versuche werden weiter unten mitgeteilt werden.

128 Delbrück und Schrohe, Hefe, Gärung und Fäulnis.

Delbrück, M. und Schrohe, A., Hefe, Gärung und Fäulnis. Berlin 1904, C. Parey. (M. 6.)

Das vorliegende Buch ist historischer Art. Es beginnt mit dem Abdruck der grundlegenden Arbeiten von Schwann (1837), Cagniard-Latour (1837) und Kützing (1837) über Natur und Entwickelung der Hefe; des letzteren Anschauungen sind ein wenig verworren infolge seiner Annahme einer Generatio libera und einer Umwandlung der Hefe in Schimmelpilze. Kap. 4 bringt „Gärungstheoretische Scherze und Derbheiten“, darunter die be- rühmte Satyre von Liebig und Wöhler. Während in den 50er Jahren der heftige Kampf zwischen Chemikern und Biologen tobte, war es für die Praktiker längst entschieden, dass die Hefe nicht Wirkung, sondern Ursache der Gärung sei: Vor Ende des 18. Jahrhunderts wussten die Bierbrauer, dass Hefezusatz zur Er- zielung der Gärung notwendig sei; ja, im Brennereigewerbe waren schon vor 1750 Vorschriften bekannt, wie man Hefe bereiten (nach moderner Bezeichnung: züchten) könne, Vorschriften allerdings, die auf rohester Empirie beruliten und darum recht oft nicht zum Ziele führten. Hier knüpfen die Verfasser sehr beherzigenswerte Betrachtungen an: wie die Technik lange im Dunkeln tappen kann, wenn sie nicht mit der Wissenschaft sich vereinigt, wie aber auch die Wissenschaft aus solcher Vereinigung recht viel Nützliches zu lernen vermag.

Die Verdienste Pasteur’s werden, gegenüber französischen Lobrednern, ins rechte Licht gerückt; Pasteur hat die biologische Anschauung vom Wesen der Gärung fester begründet und sie mit Erfolg gegen die Chemiker verteidigt, aber die Priorität gebührt ıhm nicht, was durch eine ganze Reihe einzelner Daten erwiesen wird; trotz des Widerstandes der Chemiker hatte sich die vita- listische Theorie doch hier und da erhalten. ‘Noch 1856, kurz vor Pasteur’s ersten Arbeiten, findet sich in Trommer’s Lehrbuch der Spiritusfabrikation das Verhältnis der Hefe zur Gärung in ganz bestimmter Form dargelegt, wenn auch über das Wesen der Gä- rung die Vorstellungen recht unklar sind; das hatte aber auch Trommer schon erkannt, dass der Zerfall des Zuckers ın Kohlen- säure und Alkohol nichts mit der Ernährung der Hefezellen zu tun haben könne. Sehr sympathisch berührt ein Brief Pasteur’s (1878) an den greisen Schwann, unterzeichnet: L’un de vos nom- breux et sympathiques disciples et admirateurs. Demgegenüber erinnert der Redestrom eines französischen Laudators stark an die Sprache Don Quixotes. Viele interessante Einzelheiten über die geschichtliche Entwickelung unserer Kenntnis von Gärung und Fäulnis enthält eine im Wortlaut abgedruckte Dissertation (Bonn 1885) von Ingenkamp. Hugo Fischer (Bonn). [82)

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel’ und . Dr. R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

Bav Bar. a

5 NM 5.

Inhalt: Wasmann, Ursprung und Entwiekelung der Sklaverei bei den Ameisen (Portsetzung). Prandtl, Reduktion und Karyogamie bei Infusorien. Hansemann, Einige Bemerkungen über die angeblich heterotypen Zellteilungen in bösartig:n Geschwülsten. Uzapek, Bio- chemie der Pflanzen. Wasmann, Die moderne Biologie und die Entwiekelungstheorie.

Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den

Ameisen. Von E. Wasmann 8. J. (Luxemburg). (146. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) (Fortsetzung. Ich gehe nun auf einige der diesbezüglichen Beobachtungen und Versuche näher ein. Dass Formica truncicola manchmal in gemischter Kolonie mit F. fusca lebt, ist schon längst bekannt. August Forel!) ent- deckte bereits am 3. Juli 1871 unter einem Steine bei Loco im Kanton Tessin eine gemischte Kolonie, die zu °?/, aus fusca und zu !/, aus frumcicola bestand. Die außer den Eiern und Larven vorhandenen Arbeiterkokons und unbedeckten Puppen konnten wegen ihrer Größe nur der truneicola angehören, obgleich sie hauptsächlich von fausca fortgetragen wurden. Eine frumncicola- Königin sah Forel in dem Neste nicht; ihr Vorhandensein ergibt sich jedoch aus der Brut von frumeicola. Schon Forel hatte die richtige Idee, die Entstehung dieser Art von gemischten Kolonien nicht durch Sklavenraub, sondern durch eine Allianz zwischen den

1) Fourmis de la Suisse 1874: XXTI. Fourmilieres mixtes naturelles anor- males p. 372.

XXV, )

130 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

fremden Arten zu erklären. Allerdings ırrten Forel und ich darin, dass wir diese Kolonien für zufällige, anormale Formen ge- mischter Kolonien hielten. In Wirklichkeit sind es gesetzmäßige, aber temporäre Formen, wie ich erst in den letzten Jahren durch die Entdeckung des Stadium 1 (siehe S. 131) und durch die weitere Aufzucht einer dieser Kolonien feststellen konnte.

Die von Forel gefundene trumcicola-fusca-Kolonie stand im Stadium 3 ihrer Entwickelung. Dasselbe Stadium, aber noch etwas weiter vorgerückt, wurde von Otto zur Straßen 1903 bei Wolfersdorf in Sachsen angetroffen und mir auf der Versammlung der Deutschen Zoologischen Gesellschaft zu Würzburg ım Juni 1903 übergeben. Das Nest der gemischten Kolonie, aus der mir alte Arbeiterinnen von truneicola und fusca ım Zahlenverhältnis von 45 zu 30, einige frisch entwickelte truncicola-Arbeiterinnen, eine An- zahl Arbeiterkokons (truncicola) und ein großer Weibchenkokon (truneicola) vorliegen, befand sich unter einem Steine. Aus der bedeutenden Größe (8 mm) der größten trumeicola-Arbeiterinnen)), sowie aus dem Vorhandensein eines Weibchenkokons schließe ich, dass diese Kolonie schon ein Alter von wenigstens 3 Jahren be- sitzen musste. Da die /usca noch in beträchtlicher Zahl lebten, konnte sie noch nicht 4 Jahre alt sein. Wahrscheinlich hatte ın diesem Falle die Eiablage der Königin schon sehr früh, bald nach dem Paarungsfluge, begonnen (siehe oben S. 126 Anm. 2). Sonst müssten wir annehmen, dass der Fall Nr. 6 (S. 127) vorlag, dass nämlich die Kolonie durch Puppenraub ihren Bedarf an fusca nach- träglich ergänzt hatte. (Gegen das Vorhandensein einer fusca- Königin im Neste spricht der Umstand, dass die frischentwickelten Arbeiterinnen und Arbeiterkokons nur der trunecicola ange- hörten; ebenso ist dieser Umstand auch für die Annahme von Fall 6 weniger günstig als für die zuerst gegebene Erklärung, dass es um eine dreijährige Adoptionskolonie truneicola-fusea sich handelte.)

Die Stadien 4 und 5, ın denen die trumnecicola-Kolonie eine einfache, mittelstarke bis starke Kolonie darstellt, sind längst bekannt. Dass diese Stadien am häufigsten gefunden werden, er- klärt sich erstens aus ihrer vieljährigen Dauer und zweitens daraus, dass dieselben wegen der Stärke der Kolonie und des Umfangs ihrer Nester viel leichter zu finden sind als die bescheidenen, verborgen lebenden ersten Stadien truneicola-fusca. Ich kehre jetzt zum Stadıum 1 zurück.

Über dasselbe geben meine letztjährigen Luxemburger Be-

1) Die erste Arbeitergeneration ist auch bei truncicola (nach meinem Zucht- neste) nur klein bis mittelgroß, dann nimmt allmählich die Größe der Arbeite- rinnen zu.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 131

obachtungen und Versuche befriedigenden Aufschluss. Da /rumei- cola überhaupt ziemlich sporadisch vorkommt, kann es nicht be- fremden, dass bisher nur zwei Fälle des Stadium 1 beobachtet worden sind. Das erste fand ich bei Luxemburg (am Schötter- Marial) am 15. April 1900, das zweite etwa 1 km weiter (bei Siechenhof) am 8. April 1901. In beiden Fällen war das Nest unter einem Stein. Es enthielt eine truncicola-Königin mit 100 oder mehr fesca-Arbeiterinnen. Eine fusca-Königin war sicherlich in keinem Falle vorhanden, da ich die Nester genau untersuchte. Beide Kolonien halte ich daher für Adoptionskolonien, d.h. für weisellos gewordene fasca-Kolonien, welche eine Zruncicola- Königin aufgenommen hatten. Die erste der beiden Kolonien (1900) war sicher eine ganz alte fasca-Kolonie, da sie eine beträchtliche Anzahl Pseudogynen enthielt, verursacht durch die langjährige Erziehung der Larven von Atemeles emarginatus ın der betreffenden Kolonie‘). Da ich gar nicht darauf gefasst war, eine trunceola- Königin in einem fasca-Neste zu finden; da ferner dieselben er- heblich kleiner sind als die Königinnen von rufa und pratensis und in ihrer Färbung und Größe den hellsten rufibarbis-Königinnen täuschend gleichen, hielt ich die framneicola-Königin der fusca- Kolonie sowohl 1900 wie 1901 für eine rwfibarbis-Königin und bemerkte meinen Irrtum erst, als in dem Beobachtungsneste der zweiten dieser gemischten Kolonien die ersten frameieola-Arbeite- rinnen sich entwickelt hatten?). Auch wurde mir die Tragweite .der Entdeckung dieser sonderbaren Adoptionskolonien erst im Verlaufe der letzten zwei Jahre allmählich klar.

Ich will nun etwas näher eingehen auf die Beobachtungen und Versuche, die sich auf die zweite Zruncieola-fusca-Kolonie vom Stadium 1 beziehen. Aus meinen stenographischen Tagebuch- notizen wähle ich nur dasjenige aus, was auf die weitere Ent- wickelung dieser Kolonie Bezug hat; dagegen lasse ich die zahl- reichen Versuche über die internationalen Beziehungen von Atemeles, Lomechusa, Dinarda, Hetaerius, Olaviger, Amphotis, Merophysia etc., die ich mit derselben Kolonie angestellt, für spätere Publikationen und berühre sie hier nur so weit, als sie mit der ersteren Frage in Beziehung stehen.

1901. Die am 8. April 1901 gefundene trumneicola-Königin wurde mit 14 ihrer fusca-Hilfsameisen mehr konnte ich wegen der Flüchtigkeit der fusca nicht einfangen nach Hause genommen

1) Neue Bestätigungen der Lomechusa-Pseudogynen-Theorie. (Verhandl. Deutsch. Zool. Gesellsch. 1902) S. 104. Statt rufibarbis-Weibchen muss es daselbst truncicola- Weibchen heißen.

2) Vgl. Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen. (Allgem. Ztschr. f. Entomol. 1901 u. 1902) 1902 8. 100 u. 447 (Separ. S. 20 u. 77).

9*

132 Weasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

und ın ein kleines Lubbocknest?) übergesiedelt. Am 13. Mai er- schien das erste von der Königin gelegte Ei, am 17. war schon ein Klumpen von 7, am 19. ein solcher von 15—20 Eiern vorhanden. Ihre Zahl mehrte sich jedoch nicht weiter und die schon vorhandenen wurden in den nächsten Wochen allmählich aufgefressen durch drei Atemeles-Larven, die von drei Mitte April in diesem Beobachtungs- neste aufgenommenen Atemeles emarginatus stammten?). Am 3. Juni sah ich die ersten 2 ganz kleinen Arbeiterlarven von trumei- cola, die auf den noch übrigen wenigen Eiern lagen. Am 4. Juni waren 5 junge Ameisenlarven vorhanden, die Eier jedoch sämtlich von den 3 Atemeles-Larven aufgefressen, obwohl letztere von den fausca reichlich gefüttert wurden. Am 5. Juli hatten die Atemeles-Larven auch schon die sämtlichen Ameisenlarven verzehrt. Am 10. Juni wurde eine erwachsene Atemeles-Larve, die ım Neste unruhig umherkroch, bei Erhellung desselben von der trumneicola- Königin ins Maul genommen und eilig fortgetragen, während ich nie bemerkte, dass sie eine ihrer eigenen Larven fortgetragen hätte; dies überließ sie stets den fusca-Arbeiterinnen, bezw. später den truncicola-Arbeiterinnen. Am 15. Juni begann die Einbettung der nunmehr völlig ausgewachsenen, 7 mm langen Atemeles-Larven; nun konnte die Ameisenbrut sich ungestört entwickeln. Am 1. Juli war

1) Als Lubbock-Nester bezeichne ich die einfachen Glasscheibennester (2 Glasplatten, durch Holzrahmen um einen entsprechenden Zwischenraum getrennt). So sind die von Lubbock (Ameisen, Bienen und Wespen 1883 S. 2) beschriebenen Nester. Dass dieselben bei ihm offene Ausgänge hatten und auf einem gemein- samen Gestelle standen, das durch eine Wasserrinne die Ameisen am Entweichen verhinderte, ist Nebensache. Ich halte meine ähnlich konstruierten Glasnester meist verschlossen, indem ich die in den Holzrahmen gebohrten Öffnungen mit Glasröhren oder anderen akzessorischen Nestteilen versehe. Daher habe ich auch diese Nester, mit denen ich seit 20 Jahren die besten Erfahrungen mache, stets als Lubbock- nester bezeichnet. Dieselben sind auch vortrefflich tragbar und Escherich be- diente sich derselben nach meinen Anweisungen auch auf seinen Reisen in Nord- afrika. Neuerdings hat jedoch Miss Adele Fielde (Portable ants-nests in: Biolog. sullet. VII no. 4. Sept. 1904) Lubbocknester sogenannte „Inselnester‘“ genannt, „holding the ants on an island by a moat filled with water“ (p. 219). Da dies gar nicht das Wesen der Lubbocknester ist, mache ich hier darauf aufmerksam, damit keine Verwechslungen entstehen.

2) Da zwei von den drei in diesem Neste aufgenommenen Atemeles emarginatus schon am 19. Mai von fusca gefressen worden waren, und da der letzte Atemeles am 26. Mai, als erst eine, winzig kleine, 1,3 mm lange Atemeles-Larve vorhanden war, aus dem Neste herausgenommen wurde, ist essicher, dass von den drei jungen Atemeles-Larven, die am 29. Mai auf dem Eierklumpen der Ameisen sichtbar waren, wenigstens zwei aus Eiern jenes Klumpens sich entwickelt haben müssen, obwohl ich trotz täglicher sorgfältiger Untersuchung mit der Lupe keinen Unterschied zwischen den Ameiseneiern und den bei ihnen liegenden Atemeles-Eiern entdecken konnte. Hiermit dürfte festgestellt sein, dass Atemeles nicht vivipar ist, obwohl der Ei- zustand nur sehr kurze Zeit zu dauern scheint. Die zahlreichen anderen Be- obachtungen und Versuche hierüber (an Atemeles und Lomechusa) werde ich bei anderer Gelegenheit mitteilen.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 133

wiederum ein Klumpen Eier von der Königin gelegt. Da die kleine Kolonie (nur 14 fusca-Arbeiterinnen enthaltend) zu schwach zur Aufzucht einer zahlreichen Brut erschien, verstärkte ich sie, indem ich an diesem Tage das Beobachtungsnest mit einem anderen neuen Lubbocknest in Verbindung setzte, in welches ich ca. 50 Arbeiter- kokons aus einer fremden fxsca-Kolonie gelegt hatte. Die Ameisen zogen durch die verbindende Glasröhre in das neue Nest hinüber und die fusca adoptierten sofort die fremden Arbeiterkokons.

Da ich damals die truneicola-Königin noch irrtümlich für eine ruftbarbis-Königin hielt, wollte ich versuchen, ob eine zweite Königin aufgenommen werden würde. Ich brachte daher am 13. Juli ein nach dem Paarungsfluge frisch gefangenes, bereits entflügelt um- herlaufendes echtes rufibarbis-Weibchen vorsichtig in mein Be- obachtungsnest. Sie wurde jedoch von den fusca heftig angegriffen und umgezerrt und war bereits am 15. Juli getötet. Über das weitere Schicksal des am 1. Juli in jenem Beobachtungsneste notierten Eierklumpens fehlen die Notizen. Von einer fast zwei- monatlichen Abwesenheit zurückgekehrt fand ich am 4. Oktober keine Brut in jenem Neste mehr vor. Die Beobachtungsnester waren zwar während meiner Abwesenheit mit Feuchtigkeit und auch mit Zucker hinreichend versorgt worden, hatten aber keine Insektennahrung (Fliegen u. s. w.) erhalten. Deshalb waren in dem truncicola-fusca-Neste die Eier und jungen Larven wahrscheinlich von den Ameisen selbst verzehrt worden.

1902. Während des ganzen Jahres 1901 war jene Kolonie so- mit im Stadium 2 verblieben. Am 19. April 1902 zeigte sich wieder ein Eierklumpen von der Königin, am 25. Mai waren die ersten, bloß 1,5 mm messenden Arbeiterlarven vorhanden; am 3. Juni waren einige der Larven schon 4 mm lang. Am 9. und 10. Juni wurden die ersten Arbeiterlarven zur Verpuppung ein- gebettet. 6 Larven von Atemeles paradoxus, die ich am 11. Juni in das Nest setzte, wurden von den fasca (welche nur die emar- ginatus-Larven erziehen!) als Beutetiere behandelt. Am 13. Juni lagen schon 3 derselben als halbzerkaute Reste bei den Ameisen- larven. Die fusca fütterten letztere mit den von ihnen getöteten Atemeles-Larven. Am 15. Juni sah ıch 3 halberwachsene Arbeiterlarven von Zrameicola, welche an je einer schon etwas gelblichen und von den Ameisen zerkauten Leiche einer Atemeles- Larve lagen und ihren Kopf in das Fraßstück eingesenkt hatten!).

1) Also sind die truncicola-Larven auch karnivor wie diejenigen von Tetra- mordum und von vielen Lasius-Arten, in deren Nestern ich häufig Insektenreste; z. B. kleine Räupchen, fremde Ameisenleichen ete. auf den Larven als Fraßstücke verteilt fand. Letzteres ist auch von Janet beobachtet worden bei Lasius, Tapinoma und TZetramorium und von Buttel-Rupen bei Zasius niger (Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 1905, 1. Heft „Wie entsteht eine Ameisenkolonie“ Sep.

134 Weasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

So kehrte sich hier das gewöhnliche Schauspiel um, bei dem die Ameisenlarven von den Atemeles-Larven gefressen werden! Am 19. Juni waren bereits gegen 100 Arbeiterlarven von truncieola vor- handen. An demselben Tage setzte ich 3 Larven von Atemeles emarginatus ın das Nest, die aus einer fremden fusca-Kolonie stammten. Anfangs wurden sie scheinbar adoptiert, dann aber mit Ausnahme einer einzigen von den fusca getötet und den trunei- cola-Larven zum Fraße gegeben. Am 20. Juni sah ich wiederum mehrere Ameisenlarven an den zerkauten Leichen der neuen Atemeles-Larven fressen. Eine von den 3 emarginatus-Larven war jedoch endgültig adoptiert worden und wurde von den fusca wie gewöhnlich gepflegt. Am 21. Juni sah ich sie eine bereits ziem- lich große Arbeiterlarve von Zrumeicola auffressen, ebenso auch am 23. Juni; wahrscheinlich sınd noch mehr Ameisenlarven von ihr verzehrt worden.

Von einer Reise zurückgekehrt fand ich am 12. Juli ungefähr 50 Arbeiterkokons im Beobachtungsneste vor. Am 18. Juli wurden die ersten 2 truncicola-Arbeiterinnen von den fusca aus den Kokons befreit, am 19. Juli waren schon deren 6 vorhanden, am 4. August gegen 50 Stück. Erst am 14. August, als die ersten jungen Arbeiterinnen hinreichend ausgefärbt waren, wurde ich endlich darauf aufmerksam, dass es truncicola waren, während ich bisher die Königin mit ihrer Brut für rufibarbis gehalten hatte, wozu auch die Kleinheit der ersten frischentwickelten Arbeiterinnen beigetragen hatte. Aber über die Zugehörigkeit der bereits ausgefärbten Arbeiterinnen mit blutroten Vorderkörper und Hinterleibsbasis und schwärzlichem, kurz goldgelb behaarten Hinterleib konnte kein Zweifel mehr bestehen. Ich nahm einige aus dem Beobachtungs- neste heraus und untersuchte sie näher. Dann verglich ich sofort die in meiner Sammlung befindliche Königin der ersten tramncicola- fusca-Kolonie vom 15. April 1900 und sah nun leicht ein, dass es sich ın beiden Fällen 1900 und 1901 um eine echte truneicola- Königin gehandelt hatte.

Die in Beobachtung gehaltene truncicola-Kolonie hatte jetzt ihr drittes Stadıum erreicht, in welchem außer der truneicola-Königin und ihrer Brut und den fasca-Hilfsameisen auch schon trumeieola-

p- 14—15). Bezüglich der Formica-Arten, bei denen Janet diese Sitte nicht er- wähnt, sei hier noch folgendes bemerkt. In einem Beobachtungsneste von F\ rufibarbis sah ich (am 30. Mai 1904), wie sie ihre Larven mit Leichen der von ihnen getöteten Atemeles-Larven fütterten; in einem anderen Beobachtungsneste von rufibarbis sah ich (am 19. Juli 1902) eine Arbeiterlarve von rwfibarbis eine andere Arbeiter- larve ihrer eigenen Kolonie verzehren; in einem Beobachtungsneste von F, sangwinea sah ich (am 25. Juni 1904) eine Arbeiterlarve an dem Hinterleib einer von den Ameisen zerrissenen Schmeissfliege fressen. Eine vollständigere Zusammenstellung meiner Beobachtungen und Versuche über karnivore Ameisenlarven wird bei anderer Gelegenheit gegeben werden,

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 155 Arbeiterinnen vorhanden sind. Im August 1902 war die Kolonie zu ungefähr gleichen Teilen aus je etwa 50 Arbeiterinnen beider Arten gemischt. Obwohl das Nest während des folgenden Winters im geheizten Zimmer (bei ca. 15° C.) gehalten wurde, so bot es doch in der ersten Hälfte des Winters den Anblick eines typischen Überwinterungsnestes, in welchem die Ameisen eine Art Winter- schlaf hielten. Am 25. Dezember 1902 habe ich notiert: „Die Ameisen sind im Zentrum des Nestes in einer großen Nestkammer versammelt. In der Mitte sitzt die truncicola-Königin, rings um sie her sehr dicht gedrängt und größtenteils radıär angeordnet, die Köpfe der Königin zukehrend, die fruncicola-Arbeiterinnen, um diese herum etwas weiter nach der Peripherie, aber dicht an den trunei- cola, sitzen die frsca-Arbeiterinnen.*

1903. Am 7. März war der erste Eierklumpen der truncieola- Königin sichtbar. An demselben Tage wurde eine große Schmeiss- fliege (Musca vomitoria), die ich als Beutetier in das Nest gesetzt hatte, von den fusca, die sie nicht zu überwältigen vermochten, schließlich mit Erde umgeben und lebendig eingemauert. Die truncieola nahmen keinen Teil an den Angriff, sondern geberdeten sich ziemlich furchtsam. Auch die Brutpflege wurde ım ersten Teile dieses Jahres noch überwiegend durch die fusca besorgt, ebenso auch die Pflege und Fütterung der trumneicola-Königin. Die Be- wachung der Nesteingänge und die Verteidigung des Nestes wurde bis zum Sommer, wo die frsca allmählich ausstarben, ausschließlich durch fasca besorgt.

Sehr interessante psychologische Streiflichter auf den friedlichen Charakter der truneicola und auf den gewalttätigen, kampflustigen Charakter der in ihren eigenen selbständigen Kolonien ziemlich feigen fusca werfen die nun folgenden Versuche über die inter- nationalen Beziehungen von Atemeles emarginatus, die im April 1903 angestellt wurden. Hier können sie nur auszugsweise mitgeteilt werden.

Am 14. April sah ich die ersten bis 1,5 mm langen jungen trunecicola-Larven auf den Eierklumpen. An demselbem Tage wurden 3 Atemeles emarginatus ın das Fütterungsgläschen des Lubbock- nestes gesetzt. Sie wurden von den fusca, deren normale Gäste sie sind, aufgenommen und von den framneicola ebenfalls freund- schaftlich behandelt. Schon am 14. April sah ich, wie ein Atemeles in der Mitte einer Gruppe truncicola saß, die ihn sanft und an- haltend beleckten, worauf der Käfer durch lebhaftes Fühlerwedeln reagierte. Das gastliche Benehmen der trumeicolat) gegenüber den

l) Da F. rufa und pratensis, die mit truncicola zunächst verwandt sind, die kleinen Atemeles-Arten (emarginatus und paradozus) regelmäßig feindlich angreifen und töten, ist das friedliche Verhalten der truncicola gegenüber At. emarginatus darauf zurückzuführen, dass die truncicola durch fusca erzogen worden waren, deren

136 \Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

ihnen völlig fremden Atemeles blieb sich auch während der folgen- den Wochen gleich, während dasjenige der fusca immer mehr in Gewalttätigkeiten ausartete, denen schließlich alle Atemeles zum Opfer fielen '). Schon am 15. Aprıl wurden die Käfer bei der Beleckung durch fasca so heftig an den gelben Haarbüscheln gezerrt, dass sie das Nest zu verlassen suchten und in das F ütterungsgläschen sich flüch- teten, aus welchem sie von den fusca gewaltsam zurückgeholt wurden, aber alsbald nach ihrer Freilassung wieder ın das Fütterungsgläs- chen liefen, um durch dasselbe ins Freie zu gelangen. Da ich glaubte, dass es vielleicht noch zu früh sei für den Übergang der Atemeles von Myrmica zu Formica?), nahm ich die 3 Atemeles von trunecicola- fusca fort und heß sie in ıhr Nest von Myrmica laerinodis zurück- kehren, wo sie mitten unter den Ameisen ruhig sitzen blieben. Am 16. April wurde ein Atemeles vorsichtig aus dem Myrmica-Neste herausgenommen und ins Fütterungsgläschen des truneicola-fusca- Nestes gesetzt. Er ging ins Nest hinein und verbarg sich in einer Ecke. Bald wurde er jedoch durch einige fusca entdeckt und ge- waltsam umhergezerrt: keine fruncicola beteiligte sich an den Feind- seligkeiten. Aa 17. April morgens lag er bereits tot ın der Mitte des Nestes. Um möglichst natürliche Bedingungen für den Über- gang der Atemeles von Myrmica zu Formica herzustellen, verband ich an demselben Tage das Lubbocknest trumeicola-fusca durch eine lange Glasröhre mit einem Lubbocknest der Myrmica laevinodis, das an Individuenzahl dem Formica-Nest überlegen war und 6 Atemeles emarginatus beherbergte. Beifolgende Skizze (Fig. 1) gibt ein stark verkleinertes Bild der Nesteinrichtung.

Die nun folgenden Vorgänge, deren ausführliche Schilderung in die internationalen Beziehungen von Atemeles gehört, nahmen folgenden Verlauf. Die Atemeles sonderten sich von den Myrmica ab und setzten sich zusammen in die Nestecke a des Myrmica-Nestes. Dies ist die gewöhnliche Vorbereitung ihres Über- ganges zu Formica. Obwohl die fusca des truncicola-Nestes nicht

normaler Gast Atemeles emarginatus ist. (Die Versuche von 1904 werden dies weiter unten noch betätigen.) Bei F. pratensis gelang nur ein einzigesmal die Auf- nahme von Atemeles emarginatus, nämlich in einer gemischten Kolonie pratensis- fusca (vgl. Die zusammengesetzten Nester ete. S. 173ff.), wo dieselben Ver- hältnisse vorlagen wie in der obigen truneicola-fusca-Kolonie.

1) Diese Erscheinung ist wohl am besten zu erklären durch die rücksichtslose Naschhaftizkeit der alten fusca-Arbeiterinnen, welche im Jahre vorher die von ihnen lange zepflegten Atemeles am Schlusse aufgefressen hatten, als ihr aromatisches Fett- produkt, das bei der Beleckung abgesondert wird, erschöpft war. Durch das Ge- dächtnis an diese früheren Erfahrungen verleitet, begannen die alten fusca-Individuen im folgenden Frühling schon in den ersten Tagen die neuen Atemelces als Beutetiere zu behandeln statt als echte Gäste.

2) Derselbe erfolgt je nach der wärmeren oder kühleren Witterung von Mitte April bis Anfang Mai.

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Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. [37

einmal halb so zahlreich waren als die Myrmica, begannen sie doch schon am ersten Tage ihren Angriff auf letztere, schlichen durch die Verbindungsröhre in das Myrmica-Nest hinüber, packten mit einem plötzlichen Sprunge eine Myrmica-Arbeiterin nach der anderen und schleppten sie rasch in das truncicola-fusca-Nest hinüber, wo sie kalt gemacht wurden. Am 20. April lagen in der Mitte des letzteren Nestes schon 15 Leichen von Myrmica laerinodis und eine Atemeles-Leiche gleichsam anfgebahrt. Keine fusca hatte da- bei ihr Leben verloren. Die fruncicola beteiligten sich wenigstens in den ersten Tagen gar nicht an dem Angriffe auf das Myrmica- Nest. In der Nacht vom 20. auf den 21. April hatten die fusca jedoch eine größere Invasion in das Myrmica-Nest unternommen und dasselbe ringsum so heftig angegriffen, dass die Myrmica in die Mitte des Nestes sich zurückzogen und sich dort verschanzten. Am Morgen des 21. waren die Ränder des Lubbocknestes der Myrmica ringsum von den fxsca eingenommen, denen sich auch einige truncicola zugesellt hatten: dass letztere auch zu tätlichen

Fig. 1.

Angriffen auf die Myrmica vorgingen, konnte ich jedoch in keinem einzigen Falle sehen.

Das Verhalten dieser fusca gegenüber den Atemeles emargi- natus des benachbarten Myrmica-Nestes war eın Äußerst schwanken- des. Normale selbständige faxsca-Kolonien überfallen um diese Jahreszeit oft benachbarte Myrınica-Nester, nur um die Atemeles .emarginatuıs zu rauben, die dann mit großem Eifer ın das fusca- Nest getragen und dort als teure Gäste samt ihren später sich entwickelnden Larven gepflegt werden: dies konnte ich schon am 7. April 1890 in meinen damaligen Beobachtungsnestern durch einen klassischen Raubzug einer fasea-Kolonie gegen eine Myrmica scabrinodis-Kolonie konstatieren. Die fusca der fruneicola-fusca- Kolonie im April 1903 benahmen sich jedoch verschieden. Einige Atemeles liefen namentlich während der Nacht freiwillig aus dem Myrmica-Nest ın das Formica-Nest hinüber, andere wurden von den fusca gewaltsam hinübergeholt. Mehrere wurden dort von den fusca vorübergehend als echte Gäste behandelt und eifrig beleckt. bald aber wiederum gewaltsam an den gelben Haarbüscheln ge-

135 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

rıssen oder sogar umhergezerrt wie eine feindliche Myrmica. Nur eine dieser Szenen sei hier näher erwähnt. Am 22. April nach- mittags 3 Uhr saß ein Atemeles emarginatus ım truncicola-fusca- Neste mitten unter den fruncicola, welche die Königin und deren Eierklumpen und junge Larven umgaben. Er saß dort ganz ruhig mit hochaufgerolltem Hinterleib und ringsum trillernden Fühlern und lief auch nach Erhellung des Nestes nicht fort; so benimmt sich nur ein bereits vollkommen aufgenommener Atemeles. Mehrere andere Exemplare liefen zu gleicher Zeit unter den fusca desselben Nestes umher, gleichfalls wie völlig aufgenommene Gäste. Dann begannen jedoch wieder die Gewalttätigkeiten der fusca. Am 23. April wurde morgens 7 Uhr ein dicker und noch keineswegs altersschwach gewordener Atemeles von 5 fusca zugleich an Fühlern und Beinen gefesselt gehalten, während sie an ihm nach verschie- denen Richtungen zogen, als ob sie ıhn zerreissen wollten. Bei Erhellung des Nestes schleppte die ganze Aıneisengruppe den Atemeles gemeinsam fort und suchte sich mit ihm zu verstecken. Die Richtung des Zuges gab eine Ameise an, die den Käfer am rechten Fühler hielt und ıhn rückwärtslaufend mit sich zog. Der- artige Misshandlungen mussten zum Tode der Atemeles führen. Einer lag am 23. morgens schon tot nahe beim Eingange des truncicola-fusca-Nestes. 4 Stück retteten sich in eine leere Ecke des benachbarten Myrmica-Nestes, wo sie nachmittags 4 Uhr bei- sammen saßen, während unter den Formica. keiner mehr sich auf- hielt. In den folgenden Tagen wurden sämtliche nech lebende Atemeles von den fusca schließlich getötet und aufgefressen. Am 30. April lag „der letzte der Mohikaner“ als halbzerrissene Leiche ım Formica-Neste; auch eine frumeicola sah ıch an ıhr lecken. Aber an den Angriffen gegen die lebenden Atemeles beteiligte sich niemals eine truncicola.

Arbeiterpuppen von F\ rufa, die ich den tramecicola-fusca Ende April gab, wurden nicht aufgezogen; die Kokons wurden am 1. Mai von den Ameisen geöffnet und die Puppen gefressen.

Anfang Maı 1903 stellte ich mit dieser trauncr/eola- fusca-Kolonie einige Versuche an über die „internationalen Beziehungen“ von Atemeles pratensoides, einer großen, dunklen und dicht behaarten Atemeles-Art, die ich bei F. pratensis am 30. April desselben Jahres entdeckt hatte!). Diese Gastart ist der Formica pratensis speziell angepasst und wurde auch in fremden pratensis-Kolonien auf- genommen, aber auch fast ebenso bei FM, rufa und sangwinea. Dass /. truneicola ın ihren selbständigen Kolonien diesen Gast ebenfalls aufnehmen würde, steht außer Zweifel. In der gemisch-

1) Vgl. eine neue Atemeles-Art aus Luxemburg (Deutsch. Entomol. Zeitschr. 1904, Heft I S. 9—11).

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 139

ten Kolonie truncicola-fusca wurde er jedoch von den fusca um- gebracht, trotz seiner Aufnahme durch die trumeicola. Einige der betreffenden Beobachtungen dieser Versuchsreihe seien hier an- geführt.

Am 3. Mai wurde der erste Atemeles pratensoides ın die Ver- bindungsröhre zwischen den beiden Lubbocknestern von truncicola- fusca und von Myrmica laevinodis gesetzt (siehe die Fig. 1 auf S. 137), um ihm die Möglichkeit zu bieten, zwischen beiden Ameisen- gattungen zu wählen. Da um diese Jahreszeit die Atemeles bereits die Myrmica-Nester verlassen haben, ging der Atemeles pratensoides bald darauf in das Formica-Nest hinüber, wo ich am Morgen des 4. Mai zwei frrsca um ıhn beschäftigt fand; die eine hielt ihn an einem Fühler fest, während die andere mit großer Anstrengung an den gelben Haarbüscheln seines Hinterleibs zerrte und nagte. Eine vorüberkommende trunciceola berührte den Käfer nur mit den Fühlerspitzen, ohne die Kiefer zu öffnen; sämtliche fasca dagegen, die sich ıhm näherten, schraken vor ıhm wie vor einem Feinde zurück und fuhren ihn mit geöffneten Kiefern drohend an. Am 5. Mai saß der Käfer mitten im Nest, von vorn durch zwei fusca an je einem Fühler festgehalten, während ıhre Fühlerspitzen fortwährend auf dem Kopf desselben spielten, als ob sie ein staatsgefährliches Sub- jekt zu untersuchen hätten. Unterdessen beleckten zwei truncicola den Hinterleib des Gastes sanft und eifrig, ohne ihn an den gelben Haarbüscheln zu zerren. Ich setzte nun ein zweites Exemplar von Atemeles pratensoides in das Fütterungsgläschen des trumnecicola- fusca- Nestes (siehe Fig. 1 auf S. 137), und zwar unmittelbar aus einem pratensis-Neste. Nach 5 Minuten ging er ın das Nest hinein und wurde von mehreren fusca, die ihn begegneten, sofort mit einem heftigem Sprunge und geöffneten Kiefern angefahren wie ein feind- liches Wesen, dann an einem Fühler oder Beine gepackt, weiter in das Nest hineingezogen und wieder losgelassen. Eine andere fuseca begann sogar schon den Käfer zu belecken, nachdem sie ihn erst unsanft am Hinterleib angepackt hatte. Eime trumeicola näherte sich ihm und beleckte sofort die Oberfläche seines aus- gestreckten Hinterleibs, ohne vorher ihre Kiefer drohend zu öffnen oder irgendein anderes Zeichen feindlicher Aufregung zu geben. Als der Käfer nun weiter in das Nest hineinlief, schreckte keine der ihm begegnenden Zruneicola vor ihm zurück, wohl aber mehrere fusca, die ihn vorübergehend angriffen. Unterdessen war der erste Atemeles pratensoides von den beiden fausca, die ihn fest- hielten, losgelassen worden; er drängte sieh sofort in den dich- testen Ameisenknäuel (vorwiegend framercola) hinein wie ein bereits aufgenommener Gast.

Am 6. Mai lag der eine der beiden Atemeles bereits tot im Neste, mit verstümmelten Fühlern und Beinen, während

440) Wasmann, Ursprung und Entwickelune der Sklaverei bei den Ameisen. 4 ) Oo {o}

der andere von mehreren fusca wumhergezerrt wurde. Einige Stunden später (12 Uhr mittags) sah ich 5 fasca zugleich um den noch lebenden Atemeles beschäftigt. Die Ameisen hatten 5 der Beine des Käfers gepackt und standen radiär um ihn herum wie die Speichen eines Rades um dessen Achse und zerrten fortwährend heftig an ihm, während er mit seinen Fühlern ver- geblich auf ihre Köpfe trillerte, um sie zu beschwichtigen. Die Leiche des anderen von den fusca bereits getöteten Atemeles wurde am Nachmittag desselben Tages von einer truncicola umhergetragen. Um 5 Uhr abends hielten zwei feusca den lebenden Atemeles noch immer fest, eine vorn und eine hinten und zerrten an ihm in ent- gegengesetzten Richtungen, während 3 Zruneicola die Oberseite seines Hinterleibes sanft und anhaltend beleckten. Am Morgen des 7. Mai lagen bereits beide Atemeles als Leichen in der Mitte des Nestes; sie wurden bei Erhellung des Nestes zugleich mit einer dort liegenden fusca-Leiche von den truncicola sofort aufgehoben und fortgetragen. Die fusca hatten also die Atemeles pratensoides umgebracht, während die truneicola sie unmittelbar aufgenommen hatten. Da diese Atemeles-Art für I. fusca fremd ist, welche nur den Atemeles emarginatus pflegt, so ist jenes Verhalten der fusca leichter begreiflich. Wäre jedoch ihre Naschhaftigkeit durch das Auffressen der eigenen Atemeles emarginatus nicht kurz vorher so sehr gereizt worden, so würden sie wahrscheinlich von ihren Angriffen auf die weit widerstandsfähigeren Atemeles pratensoides abgelassen haben, nachdem dieselben von den Zramcicola derselben Kolonie wiederholt freundschaftlich beleckt worden waren; denn durch diese Beleckung wird den fremden Atemeles der Nestgeruch der Kolonie mitgeteilt und dadurch das „Bürgerrecht“ verliehen, wie ich an gemischten Kolonien sangrinea-fusca oft beobachtet habe; hier wurden die Atemeles emarginatus von den fesca zuerst beleckt und waren damit auch bei den sanguinea aufgenommen, die sie sonst unfehlbar zerissen haben würden.

Am 8. Mai 1903 war der erste Arbeiterkokon von truneicola in dem Beobachtungsneste vorhanden und an demselben Tage wurden noch weitere Larven zur Verpuppung eingebettet. Am 9). Mai sah ich, wie die Zrumeicola-fusca ihre Eierklumpen und Larven und sich selber in jenem Beobachtungsneste andauernd dem direkten Sonnenlicht aussetzten unter einer 1 cm breiten und 10 cm langen Fläche der oberen Glasscheibe, von der das zum Verdunkeln des Nestes dienende schwarze Tuch sich zufällig verschoben hatte. Die Ameisen hatten sich mit ihrer Brut in den warmen Sonnenstrahlen gelagert, deren helles Licht sie durchaus nicht genierte. Hieraus darf man wohl mit Recht schließen, dass die Ameisen nur deshalb bei plötzlicher Erhellung ihres Nestinnern ın Aufregung geraten, weil dieselbe gewöhn-

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Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 141

lich mit einer feindlichen Störung verbunden zu sein pflegt, nicht aber deshalb, weil die Ameisen in ihren Nestern „negatıv heliotrop* sind. Letztere Auffassung ist eine durch- aus irrtümliche und bildet einen der vielen biologisch unhaltbaren Auswüchse der modernen Reflextheorie, welche das Tier erst will- kürlich in lauter Reflexe zerschneidet und dann selbstverständlich die psychische Einheit des tierischen Seelenlebens nicht mehr finden kann.

Am 11. Mai beobachtete ich, wie die fusca meines trumnecicola- Nestes mehrere bereits fast erwachsene Arbeiterlarven von trunei- cola auffraßen, trotzdem es ıhnen an tierischer Nahrung (Schmeiss- fliegen, rufa-Puppen u. s. w.) nicht fehlte. Dass der rücksichts- losen Naschhaftigkeit der alten fusca-Arbeiterinnen die diesjährigen Atemeles emarginatus zum Opfer gefallen waren, wunderte mich nun weniger, da sie sogar an den Larven ihrer Herren sich ver- griffen. Am 7. Juni waren bereits etwa 50 Arbeiterkokons im Neste vorhanden, am 30. Juni wurden die ersten frischen trumei- cola-Arbeiterinnen aus den Kokons gezogen. Am 5. Juli war sehon ein Dutzend neuer Arbeiterinnen von "trumeicola zu sehen und zwar meist von mittlerer Körpergröße, also größer als die letzt- jährigen. Außer den Arbeiterkokons waren auch noch Arbeiter- larven verschiedener Größe im Neste. Die Zahl der fasca nahm bereits seit Anfang Juni zusehends ab, indem die alten Individuen starben. Nach meiner Rückkehr von einer längeren Reise fand ich am 25. August bereits 50-60 neue fruncieola-Arbeiterinnen vor; die fusca waren nun sämtlich tot. Hiermit hatte die truneicola-Kolonie ıhr Stadıum 4 erreicht, in welchem sie aus einer gemischten Kolonie wieder zu einer einfachen Kolonie geworden ist.

1904. Seitdem die fusca gestorben waren, wurden keine Gänge mehr in der Erde des Nestes gegraben, was die fusca früher getan hatten. Die trumeicola begnügten sich damit, einen einzigen zentralen Hohlraum herzustellen, in welchem sich die ganze Kolonie mit ihren Gästen aufhielt. Der erste Eierklumpen erschien in diesem Jahre erst am 21. April, die ersten jungen Ameisenlarven am 16. Mai, die ersten Arbeiterkokons schon am 27. Mai, die ersten frischentwickelten Arbeiterinnen am 28. Juni. Die Entwickelung der Larven erfolgte wahrscheinlich wegen des warmen Frühlings diesmal so rasch.

In diesem Frühjahr und Sommer wurden mit dieser truncicola- Kolonie hauptsächlich zweierlei Versuche angestellt: erstens über die „internationalen Beziehungen“ der verschiedensten Ameisen- gäste; zweitens über die Aufzucht von Hilfsameisen, durch welche die einfache trameieola-Kolonie wiederum sekundär gemischt wurde.

142 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen,

Über die Beobachtungen der ersten Kategorie fasse ich mich hier nur ganz kurz, da sie ausführlicher in eine andere Arbeit gehören. Bloß dasjenige sei hier erwähnt, was zur psychischen Charakteristik von F. truncicola beiträgt. Im allgemeinen zeigt sich, dass ıhr Charakter ein außerordentlich friedlicher und zur Assoziation mit fremden Wesen sehr geneigter ist.

Dinarda dentata, die in freier Natur bei Zrauncicola nicht vor- kommt, ebensowenig als ın den Nestern von rufa und pratensis, sondern normal nur bei sanguinea, wurde seit der Einrichtung dieses truncicola-fusca-Beobachtungsnestes (April 1901) in demselben gehalten. Sie wurde von den fusca hier ebenso indifferent geduldet wie die fusca in den sangwinea-Kolonien es zu tun pflegen. Ebenso, ja noch friedlicher geduldet wurden sie später von den truncicola- Arbeiterinnen in demselben Neste, obwohl die nächsten Verwandten, F. rufa und pratensis, sich gegen Dinarda dentata (in meinen be- treffenden Beobachtungsnestern) meist sehr unduldsam verhielten und sie heftig verfolgten, sobald sie zahlreich ım Neste erschienen. Die Dinarda dentata kamen in dem truncicola-fusca-Neste auch wiederholt zur Fortpflanzung; ihre Larven wurden noch indiffe- renter geduldet als die Käfer und mehrere derselben gelangten bis zum Imagostadıum.

Nun kommen die Versuche mit Atemeles. Jene Art, welche zu truncicola am besten gepasst hätte und deren Larven (von Rupertsberger in Nieder-Österreich) auch in freier Natur bei dieser Ameise gefunden wurden, nämlich der an F. rufa ange- passte Atemeles pubicollis, wurde bei Luxemburg von mir erst ein- mal gefunden und konnte nicht zu Experimenten verwandt werden. Den Atemeles pratensoides, der in der Größe dem pubicollis gleicht, in Färbung und Behaarung aber der dunkelsten pratensis-Form angepasst ist, würden die truncicola allein ım Jahre 1904 noch leichter aufgenommen haben, als sie es schon 1903 getan hatten, wo die Versuche durch fusca vereitelt wurden. Aber ich fand 1904 leider keinen einzigen pratensoides. Ich musste daher meine diesjährigen Experimente auf die kleineren Arten Atemeles emar- ginatus und paradoxıus beschränken, welche, wie schon oben (S. 155 Anm. 1) bemerkt ward, von rufa und pratensis regelmäßig feindlich behandelt und getötet werden.

Die ersten zwei emarginatus von 1904 setzte ich am 4. April nachmittags in das Fütterungsgläschen des truneicola-Nestes (vgl. die Abbildung Fig. 1 S. 137), nachdem sie vier Tage lang in einem (Quarantänegläschen mit feuchter Erde gewesen waren, um den Myrmica-Geruch zu verlieren. Bei der ersten Begegnung mit den truncicola wurden sie von diesen unter Zeichen großer Aufregung mit den Fühlerspitzen berührt, und die Ameisen zogen sich mit drohend geöffneten Kiefern erschreckt zurück. Dies geschah bei

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 143

Erhellung des Nestes. So lange das Nest verdunkelt war, schienen die truncieola die neuen Ankömmlinge nicht zu bemerken, auch wenn sie nahe bei ihnen saßen. Es war daher der Gesichtssinn, nicht der Geruchssinn der Ameisen, der sie auf die Fremdlinge aufmerksam machte. Am 5. Aprıl saßen die beiden Atemeles bis zum Nachmittag ım Nestmaterial abseits von den Ameisen. Um 3 Uhr näherte sich einer den trumncicola mit zudringlichen Fühler- schlägen und war bereits eine halbe Stunde später voll- kommen aufgenommen. Eine truncicola beleckte ihn mit sicht- lichem Behagen, während eine andere, die gerade herzukam, den Kopf des Käfers ın ihren Mund nahm, einen Futtersafttropfen heraufwürgte und ıhn fütterte. Um 4 Uhr war der zweite Ateneles ebenso aufgenommen. Beide saßen inmitten der Ameisen und wurden fast fortwährend von mehreren derselben zugleich sanft aber anhaltend beleckt, wobei die Ameise meist ihren Kopf in die Höhlung zwischen dem aufgerollten Hinterleib und dem Rücken des Käfers steckte, um an die gelben Haarbüschel zu gelangen. Ferner wurde von 4—4!/, Uhr jeder der beiden Käfer 4—5mal aus dem Munde der Ameisen gefüttert. Der Käfer forderte die Ameise ganz nach Ameisenart zur Fütterung auf durch Fühler- schläge und indem er mit den erhobenen Vorderfüßen die Kopf- seiten der Ameisen zudringlich streichelte. Die Ameise fütterte ihn darauf wie sie eine befreundete Ameise füttert, indem sie zwischen den weitgeöffneten Kiefern einen Futtersafttropfen auf die Unterlippe treten ließ, den der Käfer dann ableckte.

Die gastliche Behandlung der beiden kleinen Atemeles war eine andauernde. Am 9. April wurden drei weitere Exemplare in das Fütterungsgläschen desselben Nestes gesetzt. Die Ameisen er- kannten sie sofort als Fremdlinge, obwohl sie zwei Käfer derselben Art schon seit mehreren Tagen sorgsam pflegten. Die neuen Atemeles wurden anfangs feindlich angefahren und verbargen sich dann im Nestmaterial. Am Morgen des 10. April saßen jedoch zwei derselben schon völlig aufgenommen mitten unter den Ameisen bei den zwei früheren Exemplaren. Der dritte war am Abend vorher zufällig aus dem Neste entkommen.

Diese vier Atemeles emarginatus wurden nun bei truncicola einen ganzen Monat lang mit dem größten Eifer, aber ohne gewaltsames Zerren, beleckt und häufig nach Ameisenart gefüttert. Sie wurden dabei dick und fett und ihre ganze Körperoberfläche nahm durch die häufige Beleckung, die mit der Ausscheidung eines flüchtigen Fettproduktes verbunden ist!), einen viel stärkeren Glanz an als gewöhnlich. Ihren Hinterleib trugen sie meist stramm aufgeklappt,

1) Zur näheren Kenntnis des echten Gastverhältnisses (Biolog. Centralbl. 1903 Nr.2, 5, 6, 7, 8) S. 200.

144 Prandtl, Reduktion und Karyogamie bei Infusorien.

wie es die Afemeles bei Formica wegen der größeren Intensität der Beleckung stets zu tun pflegen, während sie ihn bei Myrmica schwächer aufgerollt tragen. Wiederholt war die stets mehrere Stunden währende Paarung: der Käfer ım Neste zu sehen, wobei das zusammenhängende Pärchen die Gestalt eines Fragezeichens bildet. Es erschienen jedoch keine Atemeles-Larven, auch später nicht, als bereits (seit dem 21. April) Eierklumpen der Ameisen vorhanden waren. (Fortsetzung folgt.)

Reduktion und Karyogamie bei Infusorien. (Vorläufige Mitteilung.) Von Hans Prandtl. (Aus dem zoologischen Institut der Universität München.) Gewinnung des Materials.

Im Frühjahr 1904 traten in den Didinienkulturen des Münchner zoologischen Instituts einzelne Kopulae dieser Spezies auf, welche eine ganz merkwürdige Strahlung im Zentrum der Tiere aufwiesen. Da Strahlungserscheinungen bisher bei Infusorien auch während der Konjugationsperioden nicht beobachtet worden sind, versuchte ich über die Bedeutung derselben bei den Didinien ins klare zu kommen. Es galt dabei zunächst reicheres Material zu gewinnen und ein Verfahren ausfindig zu machen, welches gestattet, Kopulae in größerer Menge zu züchten. Schon früher hatten Maupas, R. Hertwig und Prowazek bei den verschiedensten Infusorien- arten dadurch Konjugation erzielt, dass sıe die Tiere nach Perioden starker Vermehrung in Hungerkulturen versetzten. Hertwig fand ferner bei Dileptus, dass die Konjugationsepidemien bei fortge- setzter Kultur an Intensität zunahmen und kurz vor dem Eintritt von tiefen Depressionszuständen ihren Höhepunkt erreichten, und er glaubt deshalb die Ursache der Konjugation in dem durch starke Fütterung bedingten übermäßigen Wachstum des Hauptkerns er- blicken zu müssen.

Ein weiteres Resultat der Hertwig’schen Forschungen, dass die Zelle normalerweise bei hoher Temperatur im Verhältnis zum Plasma einen viel kleineren Kern besitze als bei niederer Tempe- ratur, legte mir folgende Überlegung nahe: Bringt man Tiere, welche einige Zeit ın Zimmertemperatur stark gefüttert wurden und hierdurch eine Größenzunahme ihrer Kerne erfahren haben, plötzlich in einem Brutofen von etwa 25°, so haben die Tiere für diese Temperatur viel zu große Kerne. Gesellt man der Tempe- raturerhöhung noch Hunger bei, so ist den Tieren die Möglichkeit erschwert, das große Missverhältnis von Kern und Plasma durch Stoffaufnahme zu regulieren. Sie sind künstlich an den Rand

Prandtl, Reduktion und Karyogamie bei Infusorien. 145

einer Depression gebracht. Sie werden nur durch eine große Um- wälzung im Kernapparat imstande sein, zum normalen Zustand zurückzukehren, und dies geschieht wohl am gründlichsten durch Konjugation.

Nach 14tägiger starker Fütterung mit Paramaecium caudatum gelang es mir wirklich bei Didinium mittels Wärmehungerkulturen zahlreiche Kopulae zu erzielen. Nach ungefähr einer Woche erlosch die Konjugationsneigung und statt dessen trat bei allen weiteren Hungerversuchen Encystierung der Tiere ein, ein Prozess, bei welchem ja ebenfalls wie bei der Konjugation eine Verkleinerung des Kernapparates erzielt wird. Dieselben Resultate erhielt ich einige Monate später mit Dileptus. Der Versuch setzt natürlich die Kenntnis der besten Vermehrungsbedingungen für die Tiere voraus.

Untersucht wurde das Didinienmaterial hauptsächlich auf Schnitten von 5 «u Dicke, welche nach der Heidenhain’schen Methode gefärbt wurden, da am ganzen Tier auf Nelkenölpräpa- raten wegen seiner kugeligen Gestalt und wegen der vielen Plasma- einschlüsse fast nichts zu sehen ist. Von einer Untersuchung am Lebenden wurde Abstand genommen.

Möge es mir gestattet sein, an dieser Stelle meinem hoch- verehrten Lehrer, Herrn Professor R. Hertwig, sowie Herrn Dr. R. Goldschmidt für ıhre freundliche Unterstützung bei der Arbeit bestens zu danken.

Vorbereitung zur Kopulation. Ausgangsform des Kernapparats.

Die Konjugation von Didinium nasıutum wurde bisher nur von Maupas an wenigen Exemplaren in ihrem äußerlichen Verlauf be- obachtet. Er fand, dass der Konjugation vier rasch aufeinander folgende Teilungen vorausgingen, während bei anderen Infusorien- arten sowohl Maupas, wie auch später R. Hertwig nur zwei solcher Teilungen (von Hertwig „Hungerteilungen“ benannt) konstatieren konnten.

Über die Vereinigungsweise der Tiere gibt Maupas ganz richtig an, dass sich die Tiere mit ihren Rüsseln gegenseitig ver- binden, so dass sie in der Verlängerung der Längsachse mit nur geringer Knickung einander gegenüber liegen. Die Kopulä sind ungeschickt in ihren Bewegungen; sie überschlagen sich fortwährend um ihre Breitenachse und stechen in der Kultur deshalb und wegen ihrer geringen Größe, verbunden mit einer milchig trüben Farbe bei auffallendem Licht gegen die gewöhnlichen intensiv weißen Tiere ab. Nach Maupas dauerte die Kopulation bei 17—18° 18—19 Stunden. Bei meinen Versuchen war die Kopulationsdauer bei 25° etwa halb so lang.

XV. 10

146 Prandtl, Reduktion und Karyogamie bei Infusorien.

Maupas konservierte die Tiere erst nach Vollendung der Ko- pulation, fand zwei Haupt- und zwei Nebenkernanlagen und schloss daraus, dass die Konjugation ebenso wie bei den anderen von ihm beobachteten Arten verlaufe. Es liegen somit keine Angaben über den eigentlichen Verlauf der Konjugation vor.

Bevor ich auf diesen eingehe, möchte ich noch das Aussehen des Kernapparates zu Beginn der Kopulation kurz schildern.

Der Kern liegt in der Mitte des Tiers hufeisenförmig um die in der Längsachse des Tiers verlaufenden Fibrillenbündel des Rüssels. Das dichte Kerngerüst ıst mit feinsten Chromatinkörnchen beladen. Außerdem sind stets große vakuolige Nukleoli in größerer Anzahl ım Kern vorhanden. Die Zahl der Nebenkerne ist ınkonstant, meist sind zwei oder drei vorhanden; bei Depressionszuständen wur- den bis zu sieben gezählt, einmal fünf in ganz anormal kleiner Spindel- form. Diese Depressionszustände sind am zerfallenden Hauptkern leicht zu erkennen, der anscheinend seine Teilungsfähigkeit ein- gebüßt hat, während dies bei den Nebenkernen noch nicht der Fall ist, wodurch die anormale Nebenkernzahl zu erklären ıst. Auch Kasanzeff beobachtete bei Paramaecium anormale Nebenkern- zahlen infolge von Teilungsunfähigkeit des Hauptkerns und patho- logische Spindelformen der Nebenkerne. Die Nebenkerne von Didinium sind so klein und chromatinarm, dass sie bisher der Be- obachtung entgangen sind. Sie liegen meist in der Knickung des Hauptkerns diesem dicht an und scheinen mit seiner Membran zu- sammenzuhängen. Die chromatische Substanz ist meist auf einen Haufen nahe der Membran zusammengedrängt, und nur wenige Lininfäden strahlen von hier nach allen Seiten gegen die Membram.

Die Reifeteilungen.

Die Nebenkerne der frisch kopulierten Tiere schwellen bedeutend an, ihre chromatische Substanz verteilt sich gleichmäßig ım Kern- netz, und 1-2 nukleolusartige Körper, von denen man gewöhnlich nichts wahrnehmen kann, werden deutlich sichtbar. Zur Einleitung der 1. Teilung strömt alles Chromatin wieder auf einen Haufen nahe der Membran zusammen. Einige Fasern des Kernretikulums strecken sich von hier nach der entgegengesetzten Membranseite, werden immer stärker und zahlreicher, das Chromatın gleitet auf ihnen in feinen Körnchenreihen zur Mitte. Schließlich vereinen sich die Körnchenreihen im Stadium der AÄquatorialplatte zu 16, meist schwer zählbaren, ovalen Ohromosomen, welche manchmal ungleich groß zu sein scheinen; bei der Kleinheit des Objektes ist jedoch eine Täuschung leicht möglich. Die Chromosomen teilen sich nun quer und die Tochterplatten rücken auseinander. Die Verbindungs- fasern krümmen sich und schieben die Tochterkerne auseinander. Die Fasern des Mittelstücks werden immer kräftiger, strecken sich

Prandtl, Reduktion und Karyogamie bei Infusorien. 147

stark und machen dann einen starren Eindruck, als ob sıe einem Verquellungsprozess ihr Wachstum verdanken. Dabei schieben sie die sich abrundenden Tochterkerne vor sich her. Dass Druck, und kein Zug das Auseinanderrücken der Kerne hervorruft, beweist das Retikulum der Tochterkerne, dessen Maschen von den Fasern des Mittelstücks weg fächerartig nach der Kernwand divergieren, statt, wie es bei Zug vom Pol her sein müsste, nach diesem zu kon- vergieren. Außerdem haben die Fasern zwischen Chromosomen und Pol schon wieder einem sehr zarten Kernnetz Platz gemacht, das unmöglich einen starken Zug ausüben könnte.

Schließlich reisst das Mittelstück unmittelbar an der Kern- membran ab, um sehr bald vom Plasma resorbiert zu werden. Der Kern geht in ein kurzes Ruhestadium über, dem die 2. Reifeteilung folgt. Die Nukleolarsubstanz verhält sich beim ganzen Teilungs- prozess anscheinend passiv. Sie teilt sich nicht mit, sondern bleibt in der Nähe des Pols als kugeliger Körper liegen, und geht nur

Fie;1.

2, Reifeteilung. a Äquatorial- platte mit 16 Chromosomen. b Reduktion; je 8 Chromosomen in Wanderung nach einem Pol.

in einen Tochterkern über. Bleibt sie zufällig nach der 2. Tei- lung im Geschlechtskern erhalten, so wird sie bei der 3. Teilung wahrscheinlich aus dem Kern hinausgedrängt.

Nach einer kurzen Ruhepause, in der die Kerne nur wenig gewachsen sind, treten sämtliche in die 2. Teilung ein, die bis zum Stadium der Äquatorialplatte wie bei der 1. Teilung verläuft. Nun erfolgt eine Chromosomenreduktion in der Weise, dass je acht ganze Chromosomen nach je einem Pole wandern, um in derselben Art wie bei der 1. Teilung in die Tochterkerne überzugehen.

Eine Chromosomenreduktion konnte bei Infusorien bisher noch nicht festgestellt werden. Bei den Protozoen überhaupt konnte eine Chromosomenreduktion meines Wissens bisher nur bei Coc- cidien beobachtet werden und zwar von Schaudinn und Pro- wazek an Trypanosomen, bei denen Vierergruppen gebildet werden, welche durch die Reifeteilungen aufgeteilt werden.

Der bei Didinium -gefundene Reduktionsmodus wurde bisher nur von Dr. Goldschmidt in einer noch unveröffentlichten Arbeit

10*

148 Prandtl, Reduktion und Karyogamie bei Infusorien.

über Zoogonus beobachtet, von dessen zehn Chromosomen bei der 2. Reifeteilung je fünf ungeteilte Uhromosomen die Tochterplatten bilden.

Im Laufe der Reifeteilungen zerfällt der Hauptkern in viele Trümmer, so dass schließlich das ganze Tier damit erfüllt ist.

Teilung des Geschlechtskerns und Befruchtung.

Der Geschlechtskern unterscheidet sich von den übrigen dege- nerierenden Kernen morphologisch anfangs durch gar nichts als seine zentrale Lage im Tier. Bald jedoch beginnt er stark zu wachsen, in seinen chromatischen Teilen ebenso wie in seinen achromatischen. Das Plasma um den Kern wird dichter und nimmt eine immer stärker werdende Strahlung um ihn an, welche un- mittelbar an der Kernmembran ansitzt. Von Zentrosom ist keine Spur zu bemerken, die Strahlung ist wohl nur durch das starke Wachstum des Kerns und die hiermit verbundene Stoffaufnahme aus dem Plasma bedingt. Es erfolgt nun die 3. Teilung, eine Äquationsteilung wie die 1., aber mit acht Chromosomen. Die Spindel stellt sich stets in der Längsachse des Tiers ein. Sind die Tochterplatten gebildet, so schwillt das Mittelstück ungleich stärker an als bei den bisherigen Teilungen und schiebt den dem Zellmund zugeneigten (männlichen) Tochterkern bis an diesen heran, während der hintere (weibliche) Pol in der Zellmitte stehen bleibt. Die Strahlung teilt sich beiden Tochterkernen in gleicher Weise mit. Dass sie keinerlei Zug bei der Teilung ausübt, geht daraus hervor, dass sie an den Seiten der Spindeln stärker ıst als an den Polen.

Die frisch geteilten Kerne kehren zur Ruhe zurück, während der sie ganz bedeutend wachsen, der weibliche jedoch meist stärker als der männliche. Auch auf Maupas’ Bildern ist bei Paramae- cium caudatum der männliche Kern kleiner als der weibliche, ohne dass er dessen Erwähnung tut. Das Wachstum scheint nur die achromatischen Teile zu begreifen, da die Chromosomen bei der Befruchtungsspindel keine Größenzunahme gegen die 3. Teilung aufweisen. Die Strahlung nimmt fortwährend zu und erstreckt sich beim weiblichen Kern oft durch das halbe Tier, jedoch nicht in gleichmäßiger Länge, sondern mit längeren Strahlenbündeln wechseln kürzere ab. Die Strahlung um den männlichen Kern zeigt ein ganz anderes Bild. Die Strahlen sind sehr dicht und zart ge- worden, ohne eine große Länge zu erreichen. Diese Strahlungs- verschiedenheit der Kerne ist auch dann vorhanden, wenn der männliche Kern durch irgendeinen Zufall mitten im Tier liegen geblieben ist. An der Kernmembran sitzt meist noch das Ende des Mittelstücks deutlich sichtbar an, allmählich ın das Kernnetz übergehend, während beı allen früheren Teilungen sofort mit dem Reißen des Mittelstücks auch jeder Rest desselben verschwunden

Prandtl, Reduktion und Karyogamie bei Infusorien. 149

war. Umgeben ist dieses schweifartige Ende des Mittelstücks von einem sehr fein gekrönten, fast homogenen, schwach färbbaren Plasma, das zwischen Kern und Strahlenkranz auftritt und durch den zwischen beiden bestehenden Druck zu einer Kalotte abge- plattet wird, welche dem Kern aufsitzt. Beim weiblichen Kern läßt sich niemals eine ähnliche Erscheinung nachweisen. Mit dem allmählichen Verschwinden des Mittelstückrestes unmittelbar vor oder während des Kernübertritts verschwindet auch im gleichen Maß der Plasmahof. Ob dem Reststück eine besondere Bedeutung (Zentrosom?) zukommt, möchte ich vorderhand unentschieden lassen. Die verschiedenartige Strahlung um die beiden Kerne scheint mir auf jeden Fall auf eine verschiedenartige Einwirkung der Kerne auf das Plasma zurückzuführen sein, und somit mindestens eine physio- logische Verschiedenheit der beiden Kerne vorhanden zu sein.

Fig. 2.

Fig. 2. Weiblicher Geschlechtskern mit Plasmastrahlung. Fig. 3. Männlicher Geschlechtskern, im Übertritt begriffen, mit Strahlung; inner- halb derselben homogener Plasmahof und Mittelstückrest.

Da bei Didinium keine Plasmabrücke zwischen den Konjuganten wie bei vielen anderen Infusorien gebildet wird, sondern die Kutikula in scharfen Konturen erhalten bleibt, war es möglich, den Kern- übertritt einwandfrei nachzuweisen. Esgelang mir auch, denselben auf verschiedenen Stadien zu beobachten. Die Wanderkerne beider Tiere lagern sich der trennenden Membran an und stülpen sie jeder gegen das andere Tier zu vor, bis sie reisst. Hat ein Paar- lıng die Reife eher erlangt als der andere, wie es meist der Fall ist, so drängt sich der Wanderkern des gereiften Tiers niemals gegen die Membran, ja, er liegt manchmal mitten im Tier. Es scheint also ein Chemotropismus der reifen Kerne vorzuliegen.

Ein späteres Stadium zeigt uns den Wanderkern durch einen engen Spalt der Zellwand keilförmig halb durchgezwängt, während

150 Prandtl, Reduktion und Karyogamie bei Infusorien.

die hintere chromatinhaltige Hälfte noch durch ihre Breite Wider- stand leistet. Weiter finden sich alle Übergangsstadien, wie der Kern, meist in Umformung zur Spindel, sich dem weiblichen Kern des anderen Tiers nähert. Die Membranen beider Kerne ver- schmelzen, die Kerne selbst bilden aber noch getrennte Spindeln innerhalb der einheitlichen Membran. Selten verschmelzen beide Spindeln zu einer, öfters lehnen sie sich mit einem Polpaar an- einander, während das andere divergiert. Erst in den Tochter- kernen, welche aus dieser Doppelspindel hervorgegangen sind, ver- schmelzen die Elemente beider Kerne vollständig. Die Strahlung um den männlichen Kern ist sofort mit dem Übertritt des Kerns verschwunden, die um den weiblichen, welche schon durch den herandrängenden Wanderkern gestört wird, erlischt mit der 1. Tei- lung nach der Befruchtung.

Wiederherstellung des normalen Zustandes.

Die beiden aus der Befruchtungsspindel hervorgegangenen Tochterkerne wachsen rasch in ihren achromatischen Teilen, um bald in die 2. Teilung einzugehen, welche in derselben Weise wie die 1. Reifeteilung verläuft, nur dass die Kerne ungleich größer sind. Verschiedene Umstände deuten darauf hin, dass jede Spindel je einen Haupt- und einen Nebenkern liefert. Morphologische Unter- schiede ließen sich bei den Tochterkernen dieser Teilung nicht konstatieren. Die beiden zukünftigen Hauptkerne schwellen stark an, die Chromatınkörner im Retikulum werden immer zahlreicher und wachsen zu bedeutenden Kugeln heran, welche ihrerseits wieder aus kleinen Körnchen bestehen. Diese Körnchen wandern nun von den Kugeln auf das Retikulum über, das immer dichter wird und sich ganz mit chromatischen Elementen beladet. Die ursprüng- lichen Chromatinkugeln nenmen durch diese Substanzabgabe an Größe keineswegs ab, werden aber immer schwächer, färbbar und homogen, schließlich vakuohig; es sind die Nukleoli des neuen Haupt- kerns. Durch Verschmelzen mehrerer derselben wird ihre Zahl verringert, ihre Größe sehr ansehnlich.

Die beiden zu Mikronuklei bestimmten Kerne nehmen gleich nach der 2. Teilung birnförmige Gestalt an, die chromatische Sub- stanz bleibt in einem Haufen vereinigt, die achromatischen Teile werden in ihrer Größe reduziert. Jeder Nebenkern nähert sich einem Hauptkern und sendet von seinem spitzen Ende einen oft ziemlich langen Faden aus, welcher sich der Hauptkernmembran anlegt und mit ihr zu verschmelzen scheint, so dass beide Kerne fest miteinander verbunden sind.

Während dieser Umbildungen oder auch schon nach der 1. Tei- lung des befruchteten Kerns haben sich die beiden Konjuganten voneinander losgelöst, und die beiden Rüsselapparate haben sich

Hansemann, Einige Bemerkungen über heterotype Zellteilungen. 151

wieder geschlossen. Um von dem Stadium mit zwei Haupt- und zwei Nebenkernen auf den normalen Zustand mit einem Hauptkern und mindestens zwei Nebenkernen zurückzukehren, sind etwa acht Variationen möglich. Im einfachsten Fall legen sich beide Haupt- kerne aneinander und verschmelzen zu einem einheitlichen Kern, welcher sich streckt und wurstförmige Gestalt annimmt oder es tritt Zellteilung ein, ohne dass eine Verschmelzung zustande kommt, wobei je ein Haupt- und ein Nebenkern in je ein Tier übergehen. Die Zellteilung kann schon während oder auch vor der 2. Teilung stattfinden, wobei je eine Spindel bezw. ein ruhender Kern in ein Tier wandert. Andere Modi, wie eine 3. Teilung nach der Be- fruchtung, Bildung von vier Haupt- und vier Nebenkernanlagen mit darauffolgender Zellteilung und Hauptkernverschmelzung bilden Übergangsstufen zwischen den beiden Hauptarten der Wiederher- stellung des Normalzustandes.

Einige Bemerkungen über die angeblich heterotypen Zellteilungen in bösartigen Geschwülsten. Von Prof. v. Hansemann.

In Nr. 24 dieser Zeitschrift vom 1. Dezember 1904 veröffent- licht Herr Valentin Häcker einen Artikel über die in malignen Neubildungen heterotypischen Teilungsbilder, einige Bemerkungen zur Ätiologie der Geschwülste. Er stützt sich dabei auf die in diesem ÜOentralblatt mehrfach erwähnten Teilungsbilder, die die englischen Forscher Farmer, Moore und Walker in bösartigen Geschwülsten gefunden haben und sagt auf S. 789: „Es steht zweifellos fest, dass wirklich eine auffällige Ähnlichkeit zwischen manchen in malignen Neubildungen gefundenen Kernteilungsbildern und den heterotypischen Formen der Reifungsperiode besteht.“ Im weiteren beziehen sich dann die Ausführungen Häcker’s nicht auf Kernteilungsfiguren bösartiger Geschwülste, sondern auf solche niederer Tiere und Pflanzen. Ja wenn ich Herrn Häcker nicht missverstanden habe, so hat er selbst bösartige Geschwülste auf diese Dinge hin nicht untersucht, sondern sich in dieser Beziehung ausschließlich auf die Aussagen der drei englischen Autoren ver- lassen und die Abbildungen derselben verglichen mit den ihm aus seinen zahlreichen zytologischen Untersuchungen wohl bekannten Kernteilungsfiguren bei den genannten Objekten. Da sich meine eigenen Studien sehr wesentlich gerade auf dasjenige Material er- strecken, das den englischen Autoren vorgelegen hat, so sehe ich mich veranlasst, hier nochmals in dieser Angelegenheit das Wort zu ergreifen, damit nicht die Vorstellung sich verbreite, diese

w

152 Hansemann, Einige Bemerkungen über heterotype Zellteilungen.

besagten Kernteilungsfiguren seien mit der heterotypischen Form der Reifungsperiode der Geschlechtszellen in ihrer Bedeutung identisch.

Den Untersuchungen Häcker’s und anderer Pflanzen- und Tierbiologen bin ich seit Jahren mit größtem Interesse gefolgt und habe sogar tunlichst mir entsprechendes Material verschafft, um mir eine eigene Anschauung auf diesem Gebiete zu erwerben und zu erhalten. Ich glaube also wohl in der Lage zu sein, die Vor- gänge, die in Geschwülsten sich abspielen, mit denjenigen, die man bei der Reifung der Geschlechtszellen niederer Tiere und der Pflanzen beobachtet, zu vergleichen. Dabei erkenne ich ohne wei- teres an, dass eine solche Ähnlichkeit gelegentlich an einzelnen Figuren hervortritt, vor allen Dingen die ringförmige Gestaltung der Chromosomen und die Reduktion derselben auf eine geringere Zahl. Wenn man aber die Kernteilungsfiguren in bösartigen Ge- schwülsten, sei es beim Menschen oder bei Tieren in großer Zahl untersucht, so stößt man auf so mannigfache und vom Normalen abweichende Formen, dass man sagen muss, die Herren Farmer, Moore und Walker haben ın ganz willkürlicher Weise diese Ring- und Achterform herausgegriffen, sie hätten ebensogut alle möglichen anderen Gruppen konstruieren können, in denen die Chromosomen hantelförmige Gestalt haben, oder kugelig sind, oder mit unregelmäßigen Fortsätzen behaftet u. dergl. m. Dass sie ge- rade die ringförmigen aus dieser großen Zahl von Formen hervor- hoben, beruht zweifellos darauf, dass sie aus ihren früheren Stu- dien wussten, dass solchen ringförmigen Chromosomen eine besondere Bedeutung für die Reifung der Geschlechtszellen zukommt. Sie imponierten ihnen also von all den mannigfaltigen Gestaltungen ın den bösartigen Geschwülsten am meisten.

Aber es besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen diesen ringförmigen Gestaltungen in bösartigen Geschwülsten und den- jenigen bei der Reifung von Geschlechtszellen. Dieser Unterschied liegt in folgendem: Man findet durchaus nicht immer sämtliche Chromosomen in einer solchen Zelle ringförmig, zuweilen sind nur einige ringförmig, die übrigen haben andere Gestaltung. Manchmal sind in einer Zelle mit sonst gewöhnlichen Chromosomen nur ein oder zwei Chromosomen ring- oder achterförmig. Dasselbe gilt von der Tonnengestalt der achromatischen Spindel und der Meta- kinese. Es kann eine Tonnengestalt der achromatischen Spindel vorhanden sein und die Chromosomen stehen senkrecht davon ab und legen sich gar nicht an die Spindel an, wie bei der hetero- typischen Zellteilung, oder einzelne Ohromosomen liegen der Spindel dicht an, andere stehen senkrecht davon ab. Kurz, auch hier kommen die allermannigfaltigsten Gestaltungen vor. Daneben finden sich freilich auch gelegentlich solche, bei denen alle Chromosomen

Hansemann, Einige Bemerkungen über heterotype Zellteilungen. 153

der achromatischen Spindel dicht anliegen und eine deutliche Tonnenform zustande kommt. Weiter finden sich nun alle diese verschiedenen Kombinationen auch an solchen Zellen, bei denen durchaus keinerlei Reduktion eingetreten ist, sondern bei denen die Chromosomenzahl die gewöhnliche, so weit sich wenigstens taxıeren lässt, oder sogar eine vermehrte ist.

Was die Reduktion der Chromosomen betrifft, so muss ich durchaus leugnen, dass dieselbe in bösartigen Geschwülsten, wie es bei der Reifung der Geschlechtszellen der Fall ist, die Hälfte der normalen Chromosomen ergibt. Die Reduktion ist, wie ich das früher schon wiederholt beschrieben habe, der Zahl nach eine durchaus willkürliche. In Wirklichkeit haben auch die englischen Autoren von vornherein keineswegs eine Reduktion auf die Hälfte behauptet, sondern sie haben sich des sehr merkwürdigen Aus- druckes bedient,- „annähernd auf die Hälfte“. Ich habe schon früher hervorgehoben, dass annähernd auf die Hälfte eben nicht die Hälfte ist, und dass, wenn einmal wirklich zufällig die Hälfte herauskommt, dass dies eben nur einen Zufall darstellt, einen Spezialfall aus zahlreichen Möglichkeiten, denn bei der ganz will- kürliehen Reduktion kann auch einmal die Hälfte der Chromosomen zustande kommen.

Ich glaube, aus allen diesen Tatsachen geht mit Sicherheit hervor, dass, wenn auch einige dieser Figuren eine gewisse Ähn- lichkeit mit der heterotypen Zellteilung aufweisen, dass deswegen doch keineswegs in der Bedeutung derselben eine Übereinstimmung existiert, sondern es handelt sich hier ganz zweifellos, wie das ja auch Häcker meint, um die Einwirkung irgendwelcher patho- logischer Reize auf die Teilung der Zellen, aber nicht in einer bestimmten typischen Richtung, sondern in scheinbar ganz willkür- licher Weise, wodurch dann unter den zahlreichen Abirrungen vom Normalen auch gelegentlich Formen entstehen können, die eine gewisse entfernte Ähnlichkeit mit der heterotypen Zellteilung be- sitzen. Ich glaube, wenn Herr Häcker selber maligne Geschwülste in größerer Menge untersucht hätte, so würde er nicht den oben zitierten Satz geschrieben haben.

Im weiteren erwähnt Herr Häcker auch die im „Cancer research fund“ Nr. 1, London 1904 beschriebenen Kopulations- vorgänge, als deren Entdecker wohl vorzugsweise Herr Bashford zu nennen ist. Die Idee, dass es sich bei der Entwieckelung bös- artiger Geschwülste um Kopulationsvorgänge von Zellen handeln könne, ist nicht neu. Sie ist meines Wissens zuerst von Klebs aufgestellt worden und in seiner „Allgemeinen Pathologie“ be- schrieben. Klebs glaubte, dass eine Kopulation von Gewebszellen mit Leukozyten stattfände, und dass dadurch das Wachstum zu bösartigen Geschwülsten angeregt würde. Da diese Behauptung

154 Hansemann, Einige Bemerkungen über heterotype Zellteilungen.

weder beobachteten Tatsachen entsprach, auch die Aufnahme von Leukozyten durch Geschwulstzellen sicherlich keine Kopulation be- deutet, außerdem der ganze Gedankengang, den Klebs verfolgte, mit den modernen Befunden der wirklichen Kopulation nicht in Ubereimstimmung zu bringen war, so hat man dieser Behauptung späterhin nicht mehr Rechnung getragen und sie ist vielleicht ın Vergessenheit geraten. Die angebliche Kopulation, die jetzt ım „Cancer research fund“ beschrieben wird, ist nun ganz bestimmt ebenfalls keine Kopulation, sondern es handelt sich hier, wie ich mit Sicherheit behaupten möchte, um Sprossungsvorgänge an Zellen, die unter mancherlei pathologischen Bedingungen der Degeneration der Zellen mitunter vorangehen, und die erst neuerdings wieder eine eingehende Besprechung gefunden haben durch Babes bei Gelegenheit der Naturforscherversammlung in der Sitzung der deutschen pathologischen Gesellschaft im Breslau 1904.

Ich möchte aber auch auf die theoretischen Bedenken eingehen, die erhoben werden müssen gegen die Vorstellung, dass hier zu- erst eine typische Reduktionsteilung eintritt, und dann durch Kopu- latıon Zellen von eminenter Neubildungsfähigkeit sich entwickeln. Die englischen Autoren geben an, dass sie die heterotype Zell- teilung in bösartigen Geschwülsten nur in einer eng begrenzten peripherischen Zone gefunden haben. Die peripherische Zone pflegt diejenige zu sein, in der das stärkste Wachstum stattfindet und in der, man kann das ganz allgemein behaupten, auch am häufigsten pathologische Kernteilungsfiguren gefunden werden. Es wäre nun ın der Tat sehr auffällig und würde allen unseren bis- herigen Erfahrungen widersprechen, wenn wir gerade in diesen peripherischen Zonen diejenigen Zellveränderungen auffinden würden, die das Wesentliche bei der Geschwulstentwickelung darstellen. In dieser Beziehung hat Ribbert, mit dessen Geschwulsttheorie ich sonst nur wenig übereinstimme, zweifellos recht, wenn er sagt, dass man hier nicht die Art erkennen könne, wie die Geschwulst ursprünglich entstanden ist. Ich selbst habe hinzugefügt, in „vielen Fällen“, denn es gibt zweifellos Karzınome, bei denen auch durch weitere Umwandlung peripherisch gelegener Epithelien in Krebs- zellen die Geschwulst wächst. Das muss ich mit Anderen auch den neueren Untersuchungen Borrmann’s gegenüber durchaus aufrecht erhalten. Die Beschreibungen Borrmann’s und Ribbert’s passen wohl auf zahlreiche Karzinome, aber nicht auf alle. Aber selbst in denjenigen Fällen, wo eine Geschwulst nicht allein durch Expansion, sondern auch durch Apposition wächst, sehe ich keine Möglichkeit, anzunehmen, dass durch eine besondere Art von Mi- tosen ein Gewebe entstanden ist, welches nun in unbeschränkter Weise weiter wuchert. Ganz aus den Rahmen dieser Betrachtung würde die nachfolgende Kopulation fallen, denn auch dasjenige,

Hansemann, Einige Bemerkungen über heterotype Zellteilungen. 155

was ım „ÜCancer research fund“ beschrieben ıst, hat doch nur die alleroberflächlichste Ähnlichkeit mit einer wirklichen Kopulation. Es ist weiter nichts gesehen worden, als dass zweı Zellen oder zwei Kerne von etwas verschiedener Beschaffenheit aneimander- gelagert sind, und das hat wohl einige Übereinstimmung mit den Kopulationsvorgängen, wie wir sie vor 50 Jahren und länger kannten, aber doch keineswegs mit denjenigen, die wir durch die modernen zytologischen Untersuchungen erkannt haben.

Ich muss auch bemerken, dass die bösartigen Geschwülste doch keineswegs dem tierischen Gewebe gegenüber eine solche Selbständig- keit einnehmen, wie sie Herr Häcker von dem Embryosack der Blüten- pflanzen beschreibt. Der Embryosack der Blütenpflanzen ist nıcht mehr ein solch zugehöriger Bestandteil, sondern ist schon ein vollkommen selbständiges Gebilde geworden, das aber noch mechanisch mit der Pflanze zusammenhängt und deswegen auch wohl imstande ist, auf die umliegenden Bestandteile der Pflanze einen zerstörenden Einfluss auszuüben. Die bösartige Geschwulst aber ist ein durch- aus organischer Bestandteil des tierischen Körpers. Wenn Herr Häcker den Embryosack der Blütenpflanzen mit der im Uterus wachsenden Frucht vergleichen würde, und die zerstörende Wir- kung, die er auf die Pflanzen ausübt, mit dem Hineinwachsen der Plazentarzotten in das uterine Gewebe der Mutter, so würde ich ihm in diesem Vergleich vollständig folgen können. Auch bei nie- deren Tieren kommt etwas Ähnliches vor, was sich wohl mit dem Embryosack der Pflanzen und ihrer zerstörenden Wirkung ver- gleichen ließe, z. B. bei den Dieyemiden. Sowie die Geschlechts- zellen in den Körperschlauch dieser Tiere reifen, verfällt der Schlauch einer Degeneration und wenn die Geschlechtszellen zu Embryonen herangewachsen sind, so ist der Schlauch degeneriert, platzt und lässt die Embryonen austreten. Dieses ausgezeichnete Beispiel altruistischer Tätigkeit der Geschlechtszellen vor ihrer Reifung habe ich bereits in meinen Studien über die Spezifität, die Anaplasie und den Altruissmus der Zellen erwähnt. Aber ein Vergleich mit bösartigen Geschwülsten dürfte kaum angängig sein. Wenn Herr Häcker auf S. 795 sagt, dass die unreifen Geschlechtszellen die am wenigsten differenzierten Zellen seien, so kann ich ihm auch darın nicht vollständig folgen. Die am wenigsten differenzierte Zelle kann immer nur die reife Geschlechtszelle sein, die potential alle differenzierten Gewebe in sich enthält. Solange die Geschlechts- zelle noch nicht vollständig gereift ist, ist sie noch ein Bestandteil des übrigen Körpers, also auch noch nach irgendeiner Richtung hin differenziert. Man sieht ja nun auch an den Geschwulstzellen, dass bei diesen durchaus nicht ein nicht differenzierter Zustand zustande kommt, sondern nur ein weniger differenzierter als ihn die normalen Körperzellen besitzen. Das war ja auch der Sinn

156 Hansemann, Einige Bemerkungen über heterotype Zellteilungen.

meiner Betrachtung, der mich zu der Bildung des Wortes anaplastisch veranlasste. Und ich habe stets betont, dass ich auch die Eizelle als eine anaplastische Zelle betrachte, die zu einer vollständigen Entdifferenzierung gekommen ist, aber erst wenn sie vollständig gereift ist. Nun beginnt die Reifung der Eizelle zweifellos schon früher als der heterotype Teilungsmodus an ıhr, und dieser stellt erst den Ausgang dar. Es ist aber durchaus nicht erwiesen, und ich glaube, auch bisher nirgends behauptet worden, dass eine zu- nehmende Entdifferenzierung nur durch heterotypen Teilungsmodus zustande kommen könnte.

Das alles sind in bezug auf die Geschwülste theoretische Be- trachtungen, die natürlich richtig oder unrichtig sein können, aber sie zerfallen an und für sich in Nichts durch die Erkenntnis, dass ın bösartigen Geschwülsten wohl gelegentlich Zellteilungsfiguren auftreten, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der heterotypen Zell- teilung haben können, aber die mit ıhr ım Wesen, und man muss doch auch sagen in der Form in keiner Weise übereinstimmen.

Das letztere geht nun für mich auch ganz besonders hervor aus den schönen Abbildungen, die Waiker in den „Transactions of the patholog. society“ ım 55. Bande auf Tafel 9 wiedergibt. Seine Figuren 10, 11, 12 sınd entschieden pathologisch zu nennen. Die Form der Chromosomen ist ganz außerordentlich verschieden. Neben eiförmigen und kugeligen finden sich langgestreckte und ganz unregelmäßig geformte, auch solche, die gänzlich aus dem Zusammenhang mit den chromatischen Figuren getreten sind. Na- türlich kann ich den Figuren nicht ansehen, ob sie durch Kunst- produkte bei der Fixierung oder beim Durchschneiden zustande gekommen sind oder nicht. Beim Durchschneiden einer Zelle können sehr leicht Chromosomen verschleppt werden und es kann darüber nur die Betrachtung des Originalpräparates Auskunft geben. Aber auch die Fig. 9, die aus dem menschlichen Hoden stammt, scheint mir pathologisch oder ein Kunstprodukt zu sein und nicht in Wirklichkeit mit den heterotypen Zellteilungen übereinzustimmen. Wer sich mit menschlichen Kernteilungsfiguren beschäftigt hat, der weiß, wie außerordentlich leicht hier Kunstprodukte hervorgebracht werden können und zwar selbst beı aller sorgfältigster Behandlung der Objekte. Die Fig. 7 u.8, von denen die eine aus dem mensch- lichen Hoden stammt, die andere aus einem Karzinom, sind doch in ıhren Anfangsphasen zu wenig charakteristisch, um ein Urteil über die Heterotypie der Teilung zuzulassen. Ich muss also sagen, dass auch diese neuere Publikation Walker’s mich wesentlich be- stärkt in der Auffassung, dass es sich hier um zufällige Ähnlich- keiten handelt und nicht um wirkliche Übereinstimmungen, denen auch dem Wesen nach eine gleiche Bedeutung mit der heterotypen Teilung bei der Entstehung der Geschlechtszellen nicht zukommt. [19]

Czapek, Biochemie der Pflanzen. 157

Czapek, Fr. Biochemie der Pflanzen. I. Bd. Jena (G. Fischer) 1905. Mk. 14.

Das vielgebrauchte Wort vom „tiefempfundenen Bedürfnis“ ist selten so wohl angebracht wie in Hinsicht auf vorliegendes Buch. Der botanischen Literatur mangelte es bisher durchaus an einem zusammenfassenden Werke, das“ wie dieses im Stoffwechsel der Pflanzen das speziell chemische Moment in den Vordergrund stellt und, verknüpft durch das physiologische Geschehen, die che- mischen Bestandteile der Pflanzen, ihre Inhalts- und Ausscheidungs- stoffe, zum Gegenstand ausführlicher Darstellung macht. Dieses chemische Moment tritt z. B. merklich zurück in Pfeffer's klassı- schem Werk, dessen erster Band (von 1897) trotz aller seiner Vor- züge doch heut schon nicht mehr ın allen Punkten auf der Höhe der Zeit steht. In solcher Hinsicht ist Czapek’s „Biochemie“ als eine Art Ergänzung zu Pfeffer’s Physiologie gedacht; sie will so wenig wie diese ein Lehrbuch für Anfänger sein, sondern ein Nachschlagebuch und eine Literatursammlung für den Fach- mann. Das behandelte Gebiet, die Biochemie aller Pflanzen, bis zu Bakterien und Myxomy ceten, ist zur Zeit noch recht lückenhaft bekannt; gerade darum will und kann das Buch zur Ausfüllung der vorhandenen Lücken anregen.

Nach einer historischen Einleitung behandelt Uzapek in zwei Kapiteln die allgemeinen Punkte: Das Substrat der chemischen Vorgänge im lebenden Organismus (sc. das Protoplasma) und Die “chemischen Reaktionen im lebenden Pflanzenorga- nismus; im letzteren Kapitel ist der Enzymlehre ein breiterer Raum gewidmet. Im speziellen Teil finden die Fette und ihre Verwandten (Lecithine, Phytosterine, Karotin etc.), die Kohlenhydrate im Stoffwechsel, und das Zellhautgerüst der Pflanzen ıhre Darstellung; im Anschluss an den Assimilations- vorgang wird auch die der Chlorophyll-, Anthokyan-u.a., sowie der Algenfarbstoffe behandelt. Die Untereinteilung des Stoffes ıst nicht nach chemischen, sondern nach botanischen (re- sichtspunkten getroffen: Vorkommen und Verhalten bei Bakterien, Pilzen, Algen, Mosen u. s. w., in Samen, Knollen, Sprossen, Blättern u. s. w., dadurch gewinnt das Buch zweifellos an Über- sichtlichkeit für den Pflanzenphysiologen. Die Zuckerarten werden durch ein speziell chemisches Kapitel eingeleitet. Be- sonderer Wert ist auf ausführliche Angaben gelegt, die das Vorkommen bestimmter Stoffe bei bestimmten Pflanzenarten nach- weisen.

Leider trifft die geübte Kritik nicht immer das Richtige, was dem Ref. besonders aufgefallen ist in den Darlegungen über Bau und Eigenschaften der Stärkekörner; man vergleiche einmal folgende Sätze:

S. 312: „Dass wir die Schichten der Stärkekörner als kri- stallinische Aggregate zu betrachten haben, ist eine aus einer Reihe physikalischer Tatsachen hervorgehende Ansicht; wie Meyer sehr

158 Czapek, Biochemie der Pflanzen.

ausführlich gezeigt hat (Anm. des Ref.: Die Ansicht wird durch eine Reihe von Tatsachen widerlegt!).

S. 313: „Wenn auch nicht in Abrede gestellt werden soll, dass kolloidale Stoffe trotz aller Analogien der Stärkekörner mit Sphäro- kristallen hervorragenden Anteil an dem Aufbau der Amylumkörner nehmen können...“

S. 313: Die von Meyer getroffene Unterscheidung von „Poren- quellung“ und „Lösungsquellung“ ıst den heute vorliegenden Kennt- nissen von Quellungsvorgängen gegenüber kaum haltbar und ist wohl aufzugeben, da wir unter Quellung stets Zustandsänderungen kolloidaler Stoffe verstehen und nicht Einlagerung von Flüssigkeit zwischen ungelöst bleibende feste Teile.“

Ist der letztere Satz (den Ref. seit 1598 mit anfangs recht mäßıgem Erfolge verteidigt hat) richtig, dann ist der erste unmög- lich; sollten sie beide gelten, dann dürfte Stärke bei Benetzung überhaupt nicht quellen. Özapek ist sich nicht klar darüber, dass eine richtige Auffassung der Quellung die Trichitenhypothese Meyer’s gänzlich umstößt. Von einer Mischung kristallinischer und kolloidaler Stoffe ım Amylumkorn kann vollends nicht die Rede sein; dasselbe ıst ganz kolloidal, doch hat es, z. B. in der Doppelbrechung, Eigenschaften, die an Kristalle erinnern.

Unrichtig ist der Satz S.365: „Inulin ist sehr hygroskopisch, in Wasser unbegrenzt löslich, ete.* Das aus Organbrei dargestellte Inulin ıst em hy groskopisches Pulver, das in Wasser wohl quillt, jedoch fast unlöslich ist; aus der heißgesättigten Lösung fällt so viel wieder aus, dass die verbleibende Lösung ca. 1°/, enthält. Unbegrenzt löslich ıst das ım Zellsaft vorhandene Inulin, das bei Wasserverlust der Knollen nicht ausfällt, sondern wie Leim ein- trocknet; dieses Inulin verändert aber nach Auspressen des Saftes alsbald seine Natur (diese höchst auffallende Erscheinung wird nicht erwähnt!) und geht unter Bildung eines dicken Nieder- schlages in die weniglösliche Modifikation über, zu welcher auch die mittels Alkohol erhaltenen Sphärite gehören. Auch bezüglich letzterer vertritt Czapek die merkwürdige Auffassung, als ob sie nur teilweise aus kolloidaler, zum größeren Teil aus kristallinischer Substanz bestehen könnten.

Größte Beachtung verdient der Abschnitt: Allgemeine Be- trachtungen über Kolloide; der Satz jedoch, der diesen Para- graph einleitet:

„Es ıst eine lange bekannte Tatsache, dass kolloidale Stoffe in der Organismenwelt eine weitaus größere Rolle spielen, als in der unorganischen Natur,“ bringt die ungeheure Bedeutung der Kolloide und des kolloiden Zustandes für die Lebenserscheinungen auch nicht entfernt zum Ausdruck.

Die alkoholische Gärung und die Inversion der Disac- charide stehen bei Özapek in der gleichen Kategorie der „Zucker- spaltungen“; dass es zwei grundsätzlich verschiedene Vorg gänge sınd, wird nicht einmal angedeutet! Unter den Spaltungen findet man auch die sogen. „schleimige Gärung“, obwohl sie nur durch

Wasmann, Die moderne Biologie und die Entwickelungstheorie. 159

eine Synthese zustande kommen kann. Dass der Schleim aus verquellender Membransubstanz entsteht, wird nirgends erwähnt!

Auf S. 248 heißt es: „Die biologische Hauptbedeutung der Alkoholgärung kann meines Erachtens nur im der Gewinnung von Betriebsenergie gesucht werden... Daneben kann allerdings sehr wohl die von Wortmann betonte Bedeutung des Alkohols als Schädigungsmittel gegen Mitbewerber... in Betracht kommen.“ Da bei Luftzutritt die Alkoholerzeugung ungeschwächt fortdauert, so haben wir die Abwehr doch wohl als die wichtigere, wenn auch phylogenetisch jüngere Funktion der Gärung zu betrachten, da letztere eine im Vergleich zur Atmung weit schwächere und darum sehr verschwenderische Energiequelle abgibt. Ein weit ver- breiteter Irrtum (z. B. auch bei Alfr. Fischer, Vorlesungen über Bakterien, 2. Aufl.) ist die angebliche Priorität Wortmann'’s; zweı Jahre vor diesem hat P. Lindner (Die biologische une der une für die Hefe, in Wochenschr. f. Brauerei, Jahrg. 17, 1900, S. 173) den gleichen Gedanken in voller Deutlichkeit ausgesprochen.

Unter den Mannit verarbeitenden Bakterien, S. 242, hätte wohl der überaus wichtige Azotobakter Chroococcum Beijerinck eher als manche andere Art Erwähnung verdient.

Ref. konnte es sich nicht versagen, auf einige kritische Punkte hinzuweisen, die sein Befremden erregt haben; diese Kritik trifft Einzelheiten, nicht das ganze Buch, das ım übrigen durchaus zweckentsprechend durchgeführt ıst. Ganz besonders begrüßt es Ref., dass Quellung, Diffusion, und was dazu gehört, einheitlich auf das Problem der Lösung zurückgeführt, und von Micellen, Inter- stitien u. dergl. hier überhaupt nicht mehr gesprochen wird. [21]

Hugo Fischer (Bonn).

E. Wasmann S.]J. Die moderne Biologie und die Entwickelungstheorie.

Freiburg im Breisgau; Herdersche Verlagshandlung, 1904. (XII u. 324 8. gr. 8°, mit Abbildungen im Text und 4 Tafeln in Farbendruck und Autotypie. Preis Mk. 5, geb. Mk. 6,20.)

Das neue Buch Wasmann’s ist wesentlich für katholische Leser bestimmt, und dieser Umstand darf bei einer Besprechung desselben nicht vergessen werden. Nichtsdestoweniger wird es auch von Lernenden und Lehrenden, welche den Standpunkt des Verfassers nicht teilen, mit Vorteil gelesen werden. So bilden die ersten Kapitel, ın welchen die Struktur der lebenden Materie, die Zellenlehre, die Fragen der Befruchtung und Vererbung u. s. w. behandelt werden, eine sehr interessante, kritisch und klar gehaltene Übersicht des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft.

Von ganz besonderem Interesse wird ferner für jeden Zoologen und Deszendenztheoretiker das 9. Kapitel sein, in welchem die Frage: „Konstanztheorie oder Deszendenztheorie?“ gestellt und

160 Wasmann, Die moderne Biologie und die Entwickelungstheorie.

hauptsächlich auf Grund der persönlichen Erfahrungen des Ver- fassers über die Morphologie und Biologie der Myrmekophilen und Termitophilen diskutiert und zugunsten der Deszendenztheorie ge- löst wird. Die Entscheidung der Frage wird auf rein wissenschaft- lichen Grund gebracht, und es werden für die phyletischen Ver- änderungen der Arten natürliche Ursachen angenommen, nach dem philosophischen Grundprinzip (p. 155): „Wir dürfen dort kein un- mittelbares Eingreifen des Schöpfers herbeiziehen, wo wir die Tat- sachen durch natürliche Entwickelung zu erklären vermögen.“ Eine Grenze setzt aber Wasmann’s Philosophie dem Fortschritt der natürlichen Lösung biologischer Probleme; denn aus der Unzuläng- lichkeit der Argumente, welche für die Annahme einer Urzeugung aufgeführt worden sind, schließt Verf. auf die Unmöglichkeit der- selben und auf die außerweltliche Ursache des Lebens, den per- sönlichen Schöpfer. Verf. teilt also die augustinische Anschauung, nach welcher bei der ursprünglichen Schöpfung der materiellen Welt derselben gesetzmäßig wirkende Kräfte .eingeschaffen wurden, wodurch sie die Fähigkeit bekam, sich ım Laufe der Zeiten all- mählich zu entwickeln und umzubilden.

In bezug auf die Herkunft des Menschen, bestreitet Verf. vor allem, dass dieselbe ein rein zoologisches Problem bilde; denn nur dem Körper nach kann der Mensch als ein Tier betrachtet werden; durch die Seele ıst er vom höchsten Tier grundverschieden (man vergleiche andere Schriften Wasmann’s, namentlich: Instinkt und Intelligenz im Tierreich; 2. Aufl. 1899). Aber auch die Beweise für eine direkte Abstammung des Menschen von bestimmten Tier- formen, namentlich von Affen, bemüht sich Verf. zu entkräften, obschon er prinzipiell nichts dagegen einzuwenden habe, dass der Leib des Menschen auf demselben natürlichen Weg entstanden sei wie die Tiere. Und eine solche Ansicht lässt sich mit vom Verf. aufgeführten Stellen aus Augustinus gut in Einklang bringen. Aus dieser Kritik kommt Wasmann zu folgendem Schluss: „Der Würde der Wissenschaft entspricht es allein, zu sagen, dass sie über den Ursprung des Menschen nichts weıß.“

In einem Endkapitel erfreut sich Verf. darüber, dass der Felsen der christlichen Weltanschauung inmitten der Wogen der wechseln- den Systeme menschlicher Wissenschaft unerschüttert bleibt. Dar- über zu diskutieren wäre hier nicht am Platz. Aber auch wer wie Referent die philosophisch-theologischen Anschauungen Was- mann’s nicht teilt, mag sich an seinem Werk freuen, weil durch dasselbe die Fortschritte der modernen biologischen Forschung in solche Kreise leichteren Eingang finden werden, welche dieselben bisher, ohne sie zu kennen, als falsche oder mindestens gefährliche Lehren zu verurteilen gewöhnt waren. [18]

C. Emery (Bologna).

Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

XXV.Bad. 15. März 1905. m 6.

Inhalt: Wasmann, Ursprung und Entwiekelung der Sklaverei bei den Ameisen (Fortsetzung). Forel, Einige biologische Beobachtungen des Herrn Prof. Dr. E. Göldi an brasilianischen Ameisen. Walkhoff, Studien über die Entwickelungsmechauik des Primatenskelettes.

Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). (146. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) (Fortsetzung. )

Höchst sonderbar war das Benehmen der in demselben Neste lebenden Dinarda dentata. Seitdem die Atemeles aufgenommen waren und häufig beleckt und gefüttert wurden, drängten sich die Dinarda zudringlich an die Ameisen heran und hielten ihnen oft den ausgestreckten Hinterleb an den Mund. Einigemal sah ich auch, wie eine truncicola den Hinterleib einer Dinarda oberflächlich beleckte. Diese sonst indifferent geduldeten Käfer schienen nach dem Beispiel der Atemeles nun auch echte Gäste werden zu wollen. Diese Erscheinung erkläre ich mir daraus, dass wahrscheinlich manchmal eine Dinarda, die ım dunklen Neste neben einem Alte- meles saß, von den Ameisen zufällig mitbeleckt wurde und daran dann Gefallen fand, so dass sie später wiederum beleckt werden wollte. Eine Fütterung von Dinarda sah ich nie, wohl aber, wie hie und da eine Dinarda an der Fütterung eines Atemels teilzu- nehmen suchte, indem sie mit hocherhobenem Vorderkörper an dem Futtersafttropfen der Ameise mitzulecken sich bestrebte. Diese Art von „Myrmekokleptie“, wie Janet es bei Lepismina

XXV. 11

162 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

polypoda nannte, hatte ich schon früher bei Dinarda Hagensi be- obachtet!) (am 12. und 14 September 1893).

Auch mit Atemeles paradoxus wurden im Frühling 1904 mehrere Versuche in demselben Beobachtungsneste angestellt. Ein Exemplar, das, von Myrmica laevinodis kommend, nach ein- tägiger Quarantäne (in einem Isoliergläschen mit feuchter Erde) am 6. April in das Fütterungsgläschen des truncicola-Nestes gesetzt wurde, hielt sich bis zum 16. April, also volle zehn Tage, abseits von den Ameisen im Nestmaterial verborgen; dann erst näherte es sich ihnen und wurde von ihnen aufgenommen, während sie es früher bei zufälliger Begegnung heftig verfolgt hatten. Am 21. April ließ ich ein Pärchen von paradoxus, das an demselben Nachmittag bei Polyergus-rufibarbis (Kol. I) gefangen worden war, in das Fütterungsgläschen des trumeicola-Nestes hineinlaufen. In diesem Falle war es wohl sicher der fremdartige Geruch (rufibarbis-Geruch), der die truncicola anfangs erschreckte. Denn als ein bereits längst vollkommen aufgenommener emarginatus, der zufällig gerade im Fütterungsgläschen gesessen hatte und mit den beiden paradoxus daselbst in Berührung gekommen war, aus dem Fütterungsgläschen in das Nest zurücklief, wurde er von zwei ihm begegnenden trunei- cola ım ersten Augenblick heftig angegriffen und verfolgt. Eine truncicola, welche am Eingang des Fütterungsgläschens Wache hielt, rückte langsam und vorsichtig in dasselbe vor und betastete mit ihren Fühlerspitzen den zunächst sitzenden paradoxus mehrere Minuten lang sorgfältig, worauf sie sich ihm näherte, ihn kurz be- leckte und dann eilig ın das Nest zurückkehrte. Vor dem Ein- gange des Fütterungsgläschens traf sie auf drei andere dort postierte truncicola, mit denen sie alsbald lebhafte Fühlerschläge austauschte, um ihren Fund mitzuteilen. Als nun die beiden paradoxus aus dem Fütterungsgläschen in das Nest hineinliefen, prallten die nämlichen dort Wache haltenden truncicola in heftiger Aufregung zurück und suchten dann mit ihren Kiefern die Fremdlinge zu fassen. Diese entkamen jedoch und verbargen sich im Nestmaterial, worauf die truncicola nicht weiter nach ihnen umherspürten. Am 22. April mittags 1!/, Uhr wurde ein paradoxus von fünf truncicola eskortiert, welche ıhn an Fühlern und Beinen gepackt hielten; später ließen sie ihn wieder frei. Am 23. morgens 7'!/, Uhr vollzog sich die Aufnahme des einen der beiden paradoxus, die ın einer Viertel- stunde vollendet war. Um 10!/, Uhr waren bereits beide paradozus vollkommen aufgenommen und liefen, durch die häufige Beleckung bereits stark glänzend, mitten unter den Ameisen umher. Fortan wurden auch diese beiden paradoxus der frühere war schon am

1) Vgl. die europäischen Dinarda ete. (Deutsche Entomol. Zeitschr. 1894, IT),

Y Onn S.H277.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 163

16. April durch einen Zufall im Fütterungsgläschen umgekommen mit der größten Sorgfalt gepflegt, beleckt und nach Ameisenart gefüttert wie die vier emarginatus.

Vergleicht man die Aufnahme von Atemeles emarginatus mit derjenigen von paradoxus, so ergibt sich, dass erstere viel schneller aufgenommen wurden als letztere, obwohl der größere paradowus zu den truneicola besser passt als der kleinere emarginatus. Ich erkläre diese Erscheinung daraus, dass die betreffenden truncicola durch fusca erzogen worden waren, deren normaler Gast emarginatus ist, während paradoxus bei rufibarbis als normaler Gast lebt. In Übereinstimmung hiermit steht auch die weiter unten zu er- wähnende Tatsache, dass dieselben truncicola später unter den fremden Arbeiterpuppen nur jene von fusca definitiv als Hilfs- ameisen erzogen.

Die weitere Pflege der beiden Atemeles-Arten in dem truneicola- Neste blieb eine vollkommen gastliche. Erst vom 15. Mai an, als die Atemeles allmählich altersschwach wurden, und beı der Beleckung kein hinlängliches Fettprodukt mehr absondern konnten, wurden zuerst die emarginatus und dann auch die widerstandsfähigeren paradoxzus einer nach dem anderen getötet und aufgefressen. Das ist das gewöhnliche Schicksal aller alten Atemeles in den Formica- Nestern; aber in dieser Zruncicola-Kolonie trat es erst verhältnis- mäßig sehr spät ein.

Am 29. April wurden auch zwei Lomechusa strumosa (1 Pärchen) in das Fütterungsgläschen des truncicola-Nestes gesetzt, und zwar unmittelbar aus einem Beobachtungsneste der F. sangwinea. Ihre Ankunft erregte große Aufregung unter den truncicola, aber keine ausgesprochen feindliche. Im Gegenteil, die eine der beiden Lome- chusa wurde von einer truncicola, die sie an einem gelben Haarbüschel des Hinterleibs erhascht hatte, sofort in das Nest getragen, wo sie alsbald von einer Gruppe eifrig sie beleckender Ameisen umgeben war. Da Lomechusa strumosa auch bei allen anderen großen Formica- Arten (sanguwinea, rufa, pratensis) gleichsam international ist!), war auch für truncicola dasselbe zu erwarten. Das Gastverhältnis dieser Lomechusa zu den Formica scheint bereits so alt zu sein, dass es bis in die Zeit zurückreicht, wo jene Ameisenarten sich voneinander trennten?). Die beiden Lomechusa wurden in meinem truncicola-Neste sehr eifrig gepflegt, sehr häufig beleckt und gefüttert. Namentlich in den ersten Tagen nach der Aufnahme der Lomechusa war die Aufmerksamkeit der Ameisen so intensiv auf die Pflege der neuen

1) Vgl. die internationalen Beziehungen von Lomechusa strumosa (Biolog. Zentralbl. 1892 Nr. 18, 19, 20 und 21).

2) Entscheidende Versuche hierüber ließen sich nur anstellen mit den gegen- wärtigen nordamerikanischen Arten der sanguinea- und rufa-Gruppe. Lomechusa strumosa fehlt in Nordamerika.

11%

164 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

Gäste gerichtet, dass selbst die Atemeles darüber vernachlässigt wurden. Überhaupt habe ich oft bemerkt, dass bei den verschiedensten Ameisen ein neu aufgenommener echter Gast in der ersten Zeit seiner Aufnahme viel sorgfältiger gepflegt wird als später, wo der „keiz der Neuheit“ vorüber ist. Bei meinen zahlreichen Experi- menten über die internationalen Beziehungen von Atemeles, Lome- chusa, Claviger, Hetaerius u. s.w. habe ich viele derartige Beobach- tungen notiert, auf die hier nicht eingegangen werden kann.

Am 22. Mai setzte ich noch ein Weibchen von Lomechusa aus einem sanguinea-Neste in das Fütterungsgläschen des truncicola- Nestes. Es wurde unmittelbar aufgenommen nach den ersten Fühlerschlägen. Ebenso auch ein Männchen, das ich längere Zeit in einem pratensis-Beobachtungsneste gehalten hatte und am 28. Mai zu truncieola übertrug. Obwohl zwei Pärchen von Lomechusa jetzt in dem Neste vorhanden waren und ich auch ihre wiederholte Paarung, die allerdings nicht so häufig wie bei sangwinea erfolgte, notiert habe, erschienen bei truncicola dennoch keine Lomechusa- Larven unter den Eierklumpen der Ameisen, während dies in einem Beobachtungsneste von F. sangwinea mit gleichaltrigen Lomechusa der Fall war. Man muss daher annehmen, dass die von den Lomechusa wie jene von den Atemeles gelegten Eier oder die jungen Larven alsbald von den Ameisen gefressen wurden. (Siehe weiter unten die Versuche mit fremden Atemeles- und Lomechusa- Larven.)

Die Fütterung von Lomechusa durch F. truneicola erfolgte nach Larvenart (wie bei sangwinea), nicht nach Ameisenart wie die Fütterung der Atemeles. Der Grund hiervon liegt darin, dass die träge Lomechusa, welche einwirtig ist und von ıhren normalen Wirten (F. sanguinea) völlig bevormundet wird wie ein hilfloses Wesen, sich bei der Aufforderung zur Fütterung nicht nach Ameisen- art benimmt, wie die doppelwirtigen und deshalb mit größerer Initiative ausgestatteten Atemeles es tun. Lomechusa beleckt als Aufforderung zur Fütterung meist nur den Mund der vor ihr sitzen- den Ameise, gebraucht aber selten ihre Fühler und niemals ihre Vorderfüße zum Betteln. Die Fütterung geschieht dann bei F. trun- cicola (nach meinen Notizen vom 11. und 23. Mai, vom 5. und 24. Juni folgendermaßen): Der Käfer hält den Kopf still, während die Ameise die unteren Mundteile des Käfers in ihren geöffneten Mund nimmt und dann, ihren Kopf leise hin und her bewegend, dem Pflegling den Futtersafttropfen gleichsam einpumpt.

Die vier Lomechusa wurden bei den truncicola dieses Beobach- tungsnestes bis zu ihrem Tode beleckt und gefüttert. Die erste starb am 25. Mai eines natürlichen Todes; ihre Leiche wurde dann jedoch von den Ameisen ausgefressen. Am 9. Juni war eine zweite gestorben. Eine geriet am 24. Juni durch Zufall in das Zuckerwasser

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 165

des Fütterungsgläschens, erholte sich aber wieder am folgenden Tage. Eine der beiden starb jedenfalls noch an demselben Tage. Die letzte wurde von den Ameisen gepflegt bis zu ihrem natür- lichen Tode am 16. Juli.

Ich komme nun zu den Versuchen mit den Larven von Ate- meles und Lomechusa, die ich diesen truncicola 1904 gab. Am 27. Mai wurden drei halberwachsene Larven von Atemeles para- doxzus aus einem rufibarbis-Nest ın das Fütterungsgläschen des truncicola-Nestes getan. Sie wurden von den Ameisen sofort mit großem Eifer abgeholt, aber nicht aufgezogen, sondern als Beute- tiere gefressen. Ebenso ging es drei anderen Larven von para- dorus, die ich am 1. Juni in dieses Nest setzte. Am 29. Juni abends wurden zwei erwachsene Lomechusa-Larven unmittelbar aus einem sanguwinea-Nest in das fruncicola-Nest gesetzt. Die eine wurde sofort von den Ameisen bemerkt, sorgfältig mit den Fühlern untersucht und dann abgeholt; die andere wurde später ebenfalls ins Nest zu der eigenen Brut getragen. Beide waren jedoch am folgenden Tage nur noch als teilweise schon zerkaute Leichen vor- handen, sie waren also nicht adoptiert, sondern als Beutetiere be- handelt worden. Aus dem Umstande, dass fremde Lomechusa- Larven nach meinen Erfahrungen nur bei sangwinea völlig adoptiert werden, nicht aber bei anderen Formica-Arten, welche doch den Käfer selbst als Gast aufnehmen, darf man vielleicht schließen, dass die Sitte der Ameisen, die Larven von Lomechusa gleich der eigenen Brut zu erziehen, erst weit späteren phylogenetischen Ur- sprungs ist als das echte Gastverhältnis von Lomeehusa selber.

Mit fremden Ameisenpuppen wurden an der erwähnten truncicola-Kolonie 1904 folgende Versuche angestellt!).

Männliche Kokons von sanguinea, die ich den Zruneicola am 27. Mai gab, wurden anfangs zwar zu den eigenen Larven gelegt, bald jedoch die Kokons geöffnet und die Puppen gefressen.

Am 6. Juli nachmittags wurden etwa 50 Arbeiterkokons von rufibarbis in das Obernest (siehe die beifolgende Skizze Fig. 2) des truncicola- Beobachtungsnestes getan. Die truneicola kamen bald in größerer Zahl herauf, griffen die rufibarbis feindlich an und trugen den größten Teil der fremden Kokons hastig in das eigene Nest (Hauptnest) hinab. Am Morgen des 7. Juli waren un- gefähr 40 rufibarbis-Kokons bei den truneieola-Kokons aufgespeichert. Auch einige ganz junge, noch weißliche rufibarbis-Arbeiterinnen, die von den truneicola während der Nacht aus den Kokons gezogen worden waren, krochen unter den truneicola ruhig umher, ohne angegriffen zu werden. Am 9. Juli nachmittags zählte ich bereits

1) Über den Ende April 1903, als noch fusca im Neste waren, mit Arbeiter- kokons von I. rufa angestellten Versuch siehe oben S. 138.

166 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen,

10 frisch entwickelte Arbeiterinnen im Neste, die alle zu rufibarbis zu gehören schienen. Keine der jungen Ameisen war von den truneicola getötet worden.

Am 10. Juli setzte ich zehn sanguinea-Arbeiterkokons von großer Rasse in das Obernest. Nach zehn Minuten waren sie bereits von den truncicola abgeholt und in das Hauptnest hinab- getragen. Am 11. Juli morgens waren mehrere, während der Nacht aus den Kokons gezogene junge sangwinea-Arbeiterinnen von den truneicola getötet und teilweise angefressen; keine einzige lebende sanguinea war im Neste zu sehen. Am 12. Juli morgens sah ich mehrere junge sanguinea-Arbeiterinnen, die von den trunecicola aus

Fig. 2.

den Kokons gezogen, dann jedoch alsbald festgehalten und getötet wurden; keine einzige derselben wurde lebend im Neste geduldet.

Am 13. Juli abends setzte ich abermals 50 Arbeiterkokons von rufibarbis in das Obernest. Am Morgen des 14. waren sie von den truncicola bereits sämtlich abgeholt und lagen mit den trun- cicola-Kokons im Hauptneste aufgespeichert. Am 18. Juli sah ich 10 frisch entwickelte Arbeiterinnen in verschiedenen Stadien der Aus- färbung, am 20. 15—20, am 26. über 20, die sämtlich rufibarbis zu sein schienen, unter den truncieola umherlaufen und sich teil- weise schon an den Nestarbeiten beteiligen.

Trotzdem wurde keine einzige rufibarbis in diesem Neste endgültig als Hilfsameise angenommen. Am 29. Juli waren alle ausgefärbten rufibarbis getötet. Wie viele sich in dem Neste entwickelt hatten und wie lange sie geduldet wurden, ließ sich nicht genau feststellen, da die unausgefärbten rwfibarbis von

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 167

den kleinsten der truncicola, die gleichzeitig aufgezogen wurden, noch nicht zu unterscheiden waren. So viel steht jedoch fest, dass mehrere rufibarbis aufgezogen, schließlich aber alle getötet wurden.

Anders gestaltete sich das Ergebnis”der Versuche mit Arbeiter- kokons von F. fusca. Am 26. Juli wurden mehrere Hundert der- selben ın das Obernest getan zugleich mit sechs alten fusca-Arbeiter- innen aus derselben fremden Kolonie. Am 28. Juli morgens war eine Anzahl der fremden Kokons von den trumcicola abgeholt und ın das Hauptnest hinabgetragen worden; aber nur 12 derselben lagen unversehrt bei den truncicola-Kokons; die übrigen waren ge- öffnet, die Puppen herausgezogen und teilweise schon gefressen. Die sechs alten fusca ım Obernest gründeten unterdessen da- selbst mit den zurückgebliebenen zahlreichen Arbeiterkokons ein eigenes Nest und verstopften mit Erde die zum truncicola-Nest herabführende Verbindungsröhre; auch fünf frisch entwickelte fusea- Arbeiterinnen waren im Oberneste von den alten fusca bereits aus den Kokons gezogen worden. Die truncicola machten wegen der kühlen Witterung keinen Ausfall gegen das fusca-Nest. Am 29. Juli morgens hatten sie sich sogar gegen dasselbe verbarrikadiert, indem sie auch von ihrer Seite her (wie die fusca von oben her) die Ver- bindungsröhre mit Erde verstopften. Aber noch am Nachmittag desselben Tages, als wärmere Witterung eintrat, brachen die frun- ciecola in das Obernest vor, holten sämtliche fusca-Kokons ab und schichteten sie in ihrem Hauptneste auf, jedoch in einem von den truneicola-Kokons getrennten Haufen. Die alten fasca sowie die jungen im Oberneste wurden von den trumeicola getötet. Am Morgen des 30. Juli waren die fusca-Kokons auf einen gemeinsamen Haufen gebracht mit den Zruncicola-Kokons. Am 1., 6. und 13. August war noch keine einzige fusca-Arbeiterin von den Zruncicola aufgezogen worden. Als ich jedoch am 22. August von dem 6. internationalen Zoologenkongress in Bern zurückgekehrt war, sah ich in dem Be- obachtungsneste schon mehrere junge fusca-Arbeiterinnen, die be- reits so weit ausgefärbt waren, dass man sie mit Sicherheit als solche erkennen konnte. Am 8. September war ein Dutzend fusca- Sklaven vorhanden, eine darunter schon ganz schwarz. Nach aber- maliger Abwesenheit von mehreren Wochen fand ich am 7. Oktober gegen 20 völlig ausgefärbte fusca-Sklaven vor, welche defi- nitiv als Hilfsameisen angenommen waren. Gegenwärtig (November 1904) bilden sie mit 50 60 truncicola-Arbeiterinnen und der trumeswcola-Königin die Bewohnerschaft des kleinen Beobach- tungsnestes.

Diese truncicola-Kolonie war somit im September und Oktober 1904 in ein neues Stadium getreten (Stadium 6 auf S. 127), in welchem sie aus einer einfachen Kolonie wieder zu einer

168 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

gemischten truncicola-fusca-Kolonie wurde, aber nicht zu einer durch Adoption primär gemischten Kolonie (Stadium 1 bis 3), sondern zu einer durch Sklavenraub sekundär gemischten Kolonie.

Zum Vergleich mit diesen Ergebnissen an F\. truncicola sei hier noch erwähnt, dass in einem 1904 gleichzeitig gehaltenen Be- obachtungsneste von F'. pratensis von mehreren 100 fesca-Arbeiter- kokons und mehreren 100 rufibarbis-Arbeiterpuppen (teilweise un- bedeckte Puppen, teilweise Kokons) keine einzige Hilfsameise von den pratensis-Arbeiterinnen aufgezogen wurde, obwohl die kleine Kolonie, die aus 2 Königinnen und etwa 50 Arbeiterinnen bestand, an Arbeitermangel litt. Die fremden Puppen wurden meist nicht einmal abgeholt, sondern direkt zu den Nestabfällen geworfen. Die abgeholten Kokons wurden geöffnet und die Puppen gefressen, die jungen Ameisen aber sofort getötet. Wir finden somit bei F. pra- tensis keine Spur einer Neigung zur Sklavenzucht, während sie bei F. truneicola ganz ausgesprochen sich zeigte.

Durchdiese Versuche istsomit festgestellt,dassf! frun- cicola auch in ihren selbständig gewordenenKolonien noch eine besondere Neigung beibehält, fusca-Arbeiterinnen als Hilfsameisen zu erziehen. Ursächlich ist dieser In- stinkt darauf zurückzuführen, dass die truneicola-Kolonie ursprünglich mit Hilfe von fusca- Arbeiterinnen gegründet wurde, und dass durch fasca-Arbeiterinnenauch die ersten Jahrgänge der truneicola-Arbeiterinnen derselben Kolonie aufgezogen worden sind.

Wie lange die Neigung der truneicola- Arbeiterinnen, fusca als Sklaven zu erziehen, andauert, können erst weitere Versuche lehren, die ich 1905 anzustellen beabsichtige. Diese Versuche müssen ent- scheiden, ob jene Neigung auch in alten truncicola- Kolonien noch besteht, in denen keine selber durch fusca aufgezogenen trrmmeieola- Arbeiterinnen mehr leben.

Hier sei noch ein missglückter Versuch erwähnt, den ich mit der Aufzucht einer trameicola-Königin unmittelbar nach dem Paarungs- fluge machte. Am 28. Juli 1904 fand ich bei Luxemburg auf einem Wege, der durch ein sanguinea-Gebiet führte, dessen Kolonien fusca als Sklaven hatten, eine bereits entflügelte trameicola-Königin umher- laufend, und zwar in der Nachbarschaft eines fusca-Nestes. Ich setzte sie mit drei fusca- Arbeiterinnen in ein Glas mit Erde. Leider war die letztere nicht frisch, sondern schon etwas schimmelig. Nach einigen Tagen fand ich die Ameisen sämtlich tot.

3. Die Gründung neuer Kolonien bei verschiedenen Formetca- Arten. Dass Formica truneicola gesetzmäßige temporär gemischte Kolonien mit F. fusca bildet, indem die isolierten jungen trun-

Az

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 169

cicola-Königinnen in weisellosen fasca-Kolonien sich adoptieren lassen, halte ich für sicher festgestellt. Wir stehen jetzt vor der Frage: Gibt es bei uns noch andere Formica-Arten, deren Königinnen in ähnlicher Weise wie frumeicola es tut, mit Hilfe von Arbeiterinnen fremder Formica-Arten ihre neuen Kolonien gründen?

Für F. fesca und rufibarbis gilt dies sicher nicht. Die iso- lierten Königinnen dieser beiden Arten gründen nach dem Paarungs- fluge in selbständiger Weise neue Kolonien, ähnlich wie Myr- mica rubra (nach Lubbock), Lasius niger (nach Janet, von Buttel-Reepen!t) u. s. w.), (amponotus ligniperdus (nach Bloch- mann, Forel u. s. w.) und Camp. herculeanus (mach Janet). Für Lastus niger und Camponotus ligniperdus kann ich dies durch eigene Beobachtungen bestätigen. Von ersterer Art fand ich wiederholt ganz junge Kolonien, die erst aus einer Königin und ihren Eiern oder überdies aus Larven und Puppen und den ersten frisch- entwickelten Arbeiterinnen bestanden. Von letzterer Art traf ich am 27. August 1890 bei Feldkirch in Vorarlberg unter einem kleinem Steine in einer haselnussgroßen Erdhöhle eine Königin mit zwölf jungen Larven und einem kleinen Arbeiterkokon. Für Campo- notus pennsylvanicus ın Nordamerika hat bereits Me Cook 1883 festgestellt, dass sie ihre neuen Kolonien durch isolierte befruchtete Weibehen gründet. Auch (Cumponotus compressus in Ostindien gründet durch vereinzelte Königinnen ihre Kolonien selbständig. Dies geht hervor aus den Beobachtungen meines Korrespondenten P. J. B. Heim S. J. bei Wallon (Ahmednagardistrikt). Er fand 1900 unter zwei nicht weit voneinander liegenden Steinen je eine ganz Junge Kolonie dieser Ameise, die aus einer riesigen Königin, einer Anzahl Arbeiterlarven und kleiner Arbeiterkokons und einigen sehr kleinen, ganz frisch entwickelten und noch unausgefärbten Arbeiterinnen bestand.

Dieselbe normale Gründungsweise neuer Kolonien durch ver- einzelte befruchtete Weibchen ist auch bei Lasius flarus (nach Ernst)?), bei Cremastogaster scutellaris, Temnothorax recedens und Liometopum microcephalum (nach Emery), sowie in Brasilien bei Atta sexdens (nach E. A. Göldi) beobachtet worden?).

(Fortsetzung folgt.)

1) Ich zitiere hier nur die kürzlich erschienene Arbeit von Buttel-Reepen: Soziologisches und Biologisches vom Ameisen- und Bienenstaat. Wie entsteht eine Ameisenkolonie? (Archiv f. Rassen- und Gesellschaftsbiologie II, 1. Heft, 1905). Ein ausführliches Literaturverzeichnis wird in der zweiten Auflage des Buches „Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen“ gegeben werden.

2) Biolog. Centralbl. XXV, 1905, Nr. 2, 8. 47.

3) Bullet. d. VI. internat. Zoologenkongresses Nr. 4, S. 8-9. Göldi’s Beob- achtungen (von Forel mitgeteilt) siehe im Biol. Centralbl. 1905, Nr. 6.

170 Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen.

Einige biologische Beobachtungen des Herrn Prof. Dr. E. Göldi an brasilianischen Ameisen. Von Prof. D. A. Forel.

Bei seiner kurzen Anwesenheit in der Schweiz im Spätsommer 1904 hat mir Prof. E. Göldi, Direktor des Museum Göldi in Para, eine Anzahl interessante Ameisennester, Photographien und Beob- achtungen mitgeteilt, die einer Publikation wohl wert sind. Da ihm aber hierzu die Zeit sowohl als die myrmekologischen Fach- kenntnisse fehlten, hat er mir die Sache überlassen.

I. Das Nest von (amponotus senex Smith.

Im Journal Straits asiatice Society, 1890 p. 5, hat Ridley zum erstenmal berichtet, dass das Seidengewebe der bekannten ost- indischen Laubameise Oecophylla smaragdina F., nicht, wie Aitken behauptet hatte, von den Arbeitern selbst gesponnen wird, sondern dass diese Tiere ihre Larven als Webschiffe benutzen, indem sie sie zwischen ihren Kiefern nehmen und mit dem aus dem Mund der Larve heraustretenden Seidenfaden ihr Nest weben. Seither wurde es bei keiner anderen Art beobachtet. Ich hatte aber aus Costa Rica Bruchstücke eines labyrinthartigen, aus feinem Seiden- gewebe bestehenden, sonst aber echt nach Ameisenart gebauten Nests von Camponotus senex Smith var. textor Forel erhalten und später ähnliche Nester ım Pariser Museum gefunden, aus welchen ich noch Trümmer des echten Camponotus senex herausschütteln konnte. In der Biologia centrali americana (Ameisen) habe ich ein Stück- chen des Nestes von (Camp. senex-textor abgebildet.

Ohne Ridley’s Beobachtungen gekannt zu haben, hat nun Prof. Göldi in Para den Camponotus senex genau beobachtet; den sein Bruder Herr Andr& Göldi aus der Rio Purusgegend ge- bracht hatte, und der ım botanischen Garten zu Para gesetzt wurde. Die Ameisen bauten weitere Nebennester, indem sie ihre spinnen- den Larven im Maul hielten, und dieselben in Ziek-Zack-Linie hin und her bewegten, sodass von innen heraus das feine und dichte (ewebe entstand und, Gänge und Kammern bildend, immer weiter ausgedehnt wurde.

Diese unabhängige Bestätigung der Ridley’schen Beobachtung ist sehr willkommen. Es ist eine einzig dastehende Tatsache, dass ein Tier seine eigenen Jungen als Webinstrument, sozusagen zu- gleich als Spinnmaschine und Webschiff benutzt.

Mitten ın dem einen Nest des Camponotus senex eingeschlossen befand sich das Nest einer kleinen Melipone (Brasilianischen Honig- biene). Wie dasselbe hineinkam ob die Ameisen um das Melı- ponennest herumgebaut hatten, oder ob die Meliponen in das

Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen. 171

Ameisennest hineingedrungen waren dies konnte Herr Göldi nicht ermitteln.

Unsere Fig. 1 zeigt das Nest des Camponotus senex, in der Mitte mit einer ovalen Öffnung aufgemacht, so dass man in da Mitte der (dunklen) künstlichen ans das ovale kleine Meliponennest, mit seinen regelmäßigen, übereinander liegenden Waben sieht. Direkt um das Meliponennest herum sieht man das (dunkelgefärbte) Ge-

Fig. 1.

Nest des Camponotus senex Sm. (mit den Larven gewoben), mehr als zweimal verkleinert. In der Mitte ausgeschnitten, um ein darin liegendes Meliponennest zu zeigen.

webelabyrinth des Ameisennestes. Um die Öffnung herum (hell) sieht man dagegen die Oberfläche des gewobenen Nestes des Camponotus, mit einigen kleinen, dunkelgefärbten Eingangsöffnungen. Dieses Nest liegt zwischen Baumblättern, die mit eingesponnen oder eingewoben sind.

Die Figur ist einer Originalphotographie des Herrn Andre Göldi, in knapp der Hälfte der natürlichen Größe (des Durch- messers), entnommen.

472 Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen.

II. Nester der Gattung Azteca Forel.

Die prachtvollen Kartonnester vieler Arteca-Arten der Gruppen trigona, chartifew und awrita im amerikanischen Urwald wurden früher offenbar für Termitennester gehalten. In meiner Reise in Kolumbien (1896) hatte ich vielfach Gelegenheit, sie zu beobachten und festzustellen, dass es sich keineswegs um eroberte Termiten- nester, sondern um Bauten handelt, die die Ameisen selbst ver- fertigen. Das Karton ist viel zarter und weicher als dasjenige der Termiten. Ich habe die Nester von Azteca aurita, Axteca trigona, Azteca chartifex v. multinida und Axteca Lallemandi beobachtet, so- wie die kleinen Kartonbauten gefunden, mit welchen die von mir entdeckte Azteca hypophylla die Blätter einer Schlingpflanze an die Baumrinde befestigt, um darunter zu nisten. Dagegen kann ich nicht photographieren und konnte daher jene Nester nicht @n situ abbilden.

Die Figuren 2 und 3 stellen Originalphotographien des Herrn A. Göldi von den Nestern einer neuen Subspezies (Axteca trigona Emery subsp. Mathrldae n. subsp., Fig. 2) und einer neuen Art (Azteca barbifex n. sp., Fig. 3), beide aus dem Rio Purus, in situ dar. Das Nest der Axteca trigona r. Mathildae ıst demjenigen der Axteca aurita Em. sehr ähnlich, das nur etwas flacher und weniger zylindrisch aussieht, ım übrigen aber die gleichen, tränenartigen Lappen an der Oberfläche zeigt. Diese Art baut auf dem gleichen Baum einige wenige Nester, die zur gleichen Kolonie gehören. Noch mehr solche zylindrische Nester in der Nähe voneinander baut die von mir in Kolumbien entdeckte Axteca chartifex v. multi- nida (eines dieser Nester habe ich in der Biologia centrali amer!i- cana abgebildet).

Höchst sonderbar ist nun das Nest der Axteca barbifex (Fig. 3) mit seinen bartartig herabhängenden Kartonstalaktiten. Es ist aber nicht die einzige Art, die solche Bauten ausführt. Ähnliche Sta- laktiten bauen die Subspezies sialactitica Emery und deeipiens For. v. lanians For. der Axteca chartifex.

Es scheint somit die Bauart innerhalb der gleichen Formengruppe ziemlich zu wechseln und nicht allzu spezifisch charakteristisch zu sein, denn die Nester der Subsp. maltinida der A. chartifex sınd durchaus zylindrisch, ohne Stalaktiten. Übrigens bilden die beiden „Arten* trigona und chartifex ungeheuer varıierende Varietäten- gruppen, die fast ununterbrochen ineinander übergehen. Die Gruppe chartifex geht durch die Subsp. decipiens in die Subsp. Mathildae der Gruppe Zrigona derart über, dass die var. spuria der Mathildae ebensogut zu chartifex wie zu trigona gerechnet werden könnte und der Subsp. decipiens äußerst nahe steht.

In Para hat Herr Göldi sowohl die zylindrische Nester bauende

Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen. 173

var. spuria der A. trigona-Mathildae als die Stalaktitennester bauende var lanians der A. chartifex-decipiens entdeckt.

Fig. 2.

Kartonnest der Azteca trigona Emery, subsp. Mathildae For. in situ. Etwa !/, der natürlichen Größe.

Die zirka 70 bisher beschriebenen Axteca-Arten und Unterarten (ohne Varietäten) gehören samt und sonders dem tropisch-ameri-

174 Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen.

kanischen Urwald an. Aus den Vereinigten Staaten, Chili und Patagonien ist bisher keine Axteca-Art bekannt. In den Antillen

Fig. 3.

Kartonnest der Azteca barbifex Forel in situ, Kaum !/,, der natürlichen Größe.

fand ich nur eine Art vor. In der Umgebung der Städte und in den Kulturen findet man sie überhaupt nicht, einzig und allein im Urwald,

Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen. 175

Keine einzige Axteca-Art nıstet in der Erde. Ihre bisher be- kannten Nester befinden sich alle auf Bäumen und bilden, soweit bis heute ermittelt, folgende Kategorien!):

1. Kartonnester (aurita Em., trigona Em., chartifex For., Lalle- mandi For., silvae For.).

2. Bewohner der Höhlungen morscher Bäume oder Äste (z. B. instabilis Smith, velox For. n. sp.). Die A. longiceps Em. v. jur- wensis For. lebt in durchbohrten Ästen einer Leguminose (Swartzia).

3. Bildung von Epiphytengärten, im Geäste der Bäume, im Überschwemmungsgebiet (Trail Em., Ulei For., olitrix For.). Man wolle in Forels Zool. Jahrbücher 1904, p. 6772) und in Ule, Ameisengärten im Amazonasgebiet, Engler’s botan. Jahrbücher 1901 nachsehen. Hier nisten die Ameisen mit Humus zwischen den Wurzeln der Epiphyten. Nach Ule sollen sie den Humus und die Epiphytensamen auf die Baumäste bringen.

4. Arten mit abgeflachtem Kopf leben unter der Rinde oder unter den Blättern von Schlingpflanzen, deren Ränder sie mit Karton an die Baumrinde befestigen.

6. Gewisse Arten sind an besondere Pflanzen symbiotisch an- gepaßt. So die Arten depilis Em. (in Duroia und Tococa), Duroiae For. (in den Zweigenanschwellungen von Duroia hirsuta), Tonduxi For. (in einem Orchideenbulbus), Emeryi For. (in den Internodien von Cecropia sciodaphylla), Mülleri Emery (die berühmte Imbaubaameise Fritz Müller’s, lebt in Ceeropia peltata), Coeruleipennis Em. (in einer Cecropia), Sericea Mayr (in den Wurzelhöhlen von Schomburgia tibi- cinis), augusticeps Em. (in den Höhlen von Duroia petiolaris), Schu- manni Em. (in den Bläschen der Blätter von Chrysobalanea hir- tella Guainiae), Coussapoae For. (in den Zweigen und Ästen einer Coussapoa), tachigaliae For. (in den Blattstielanschwellungen von Tachigalia indica) etc. Die Axteca virens For. lebt in den grünen Stengeln und Blättern einer Pflanze, deren grüne Farbe sie an- nimmt. Man ersieht aus dieser Liste, wie innig die Axteca-Arten mit den Bäumen und Pflanzen des Waldes zusammenhängen.

6. Die Azteca Foreli Em. var. zysticola For. fand ich in ge- schlängelten Kartongängen, die auf große Steine des Waldes ver- liefen, und denjenigen des Cremastogaster Stollii For. sehr ähnlich waren (ob diesem geraubt? oder eigenes Fabrikat ?).

7. Endlich bauen Axteca constructor Em. und velox-nigriventris For. Kartonnester in den Pflanzenhöhlungen, statt frei draußen

1) Siehe auch Emery: Studio monographico sul genere Azteca Forel. Mem. Accad. Scienze. dell’ Istituto di Bologna März 1893. Bei den Artbeschreibungen und Abbildungen dieser systematischen Arbeit ist auch die Symbiose mancher Arten mit Pflanzen kurz angegeben.

2) Das Verhältnis verschiedener neuer Azteca-Arten zu ihren Wohnpflanzen ist auch in dieser Arbeit kurz angegeben.

\

176 Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen.

hängend wie die Gruppe 1. Während aber die velox-niyriventris in Kolumbien die erstbesten Höhlen morscher Bäume dazu benutzt, hat sich die constructor in Costa Rica an die natürlichen Höhlen der Internodien der Cecropias-Arten angepasst, die sie mit ihrem Karton ausfüllt (Emery).

Da die 70 bekannten Axteca-Arten und Unterarten, wohl in- folge ihres Urwaldlebens, fast alle (5 Arten ausgenommen) erst seit 11 Jahren entdeckt worden sind, ist es wahrscheinlich, dass noch viel Interessantes über diese kleinen Miniaturbaumaffen zutage treten wird. Gemeinschaftlich sind ihnen die Abneigung für den Boden, das außerordentlich schnelle Klettern und das feste Haften an der Baumrinde mittelst ihrer Klauen und Haftlappen, die schnelle Drehfähigkeit ihres Abdomens nach oben und in allen Richtungen, sowie der Besitz von Analdrüsen, deren flüchtiges, aromatisch riechen- des Sekret sich an der Luft sehr schnell zersetzt und dann verharzt. Mit diesem Sekret verjagen sie alle ihre Feinde, denn eine Ladung davon verklebt bald Fühler, Augen und Kiefer der Angreifer, ge- nau in der gleichen Weise wie bei unserem europäischen Tupinoma erraticum.

IlI. Die Koloniengründung von Atta sexdens L.

Die Pilzgärten der kleinen Atta-Arten (Untergattung Acro- myrmex Mayr) und der Gattungen Apterostigma und Oyphomyrmex sind von Alfr. Möller in seinem klassischen Werk über die Pilz- gärten einiger südamerikanischer Ameisen (Jena, Fischer, 1893) be- schrieben worden. Diejenigen der großen eigentlichen Atta-Arten habe ich 1896 ın Kolumbien entdeckt und (bei sexdens) beschrieben (Zur Fauna und Lebensweise der Ameisen im kolumbischen Urwald, Mitteilungen des Schweiz. entomol. Ges. Bd. IX Heft 9, 1896). Herr Prof. Möller hat festgestellt, dass der ıhm von mir ein- gesandte Pilz der gleiche ist wie für die Acromyrmex-Arten, näm- lich Rhoxites gonyylophora Möller. Die kolossalen Erdbauten der Atta sexdens L. enthalten eine sehr große Zahl faustgroßer Pilz- gärten, die sich alle in unterirdischen Höhlungen befinden. In der genannten Arbeit schrieb ich wörtlich: „Jedenfalls muss dasjenige Weibchen, das eine neue Kolonie gründet, solche Pilzsporen mit sich tragen, damit seine ersten Jungen mit frisch geschnittenen Blättern einen Pilzgarten anlegen können.“ Ich vermutete, die vielen Höcker und Dornen dieser Tiere könnten diesen Transport bewirken.

Im „Zoologischen Anzeiger“ 1898 hat nun H. von Ihering die letzte Frage durch höchst interessante Beobachtungen gelöst. Er hat bewiesen, dass jedes dem Nest entgangene Atta-Weibchen im hinteren Teil der Mundhöhle (d. h. im Mundsack oder Hypo- pharynx) eine 0,5 mm große, lockere Kugel mitnimmt, welche aus

Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen. 177

den Pilzfäden der Rhoxites gongylophora besteht, außerdem aber auch Stücke gebleichter, d. h. chlorophylloser Blattreste und allerlei Chitinborsten enthält (aus den Häuten der Larven im Pilzgarten).

Nach dem Hochzeitsflug und der Befruchtung vergraben sich nun die Afta-Weibchen ca. 20—40 em tief in der Erde, wo sie sich zuerst eine Kammer bauen und dann den Eingangskanal zustopfen.

Fig. 4.

Befruchtetes Weibchen von Atta sexdens L., Gründerin einer Kolonie, in situ, in natürlicher Größe. Es sitzt in seiner unterirdischen Höhle, mit dem weißen Pilzgarten und den Eiern.

Nach einigen Tagen trifft man darin ein Häufchen von 20—30 Eiern.

Daneben liegt ein flacher Haufen von lockerer weißer Masse (1—2mm),

als erste Anlage des Pilzgartens, noch ohne Möllers Kohlrabi.

Doch wächst dieser Pilzgarten rasch bis zu einem Durchmesser von

2 cm, und entwickelt Kohlrabihäufehen, an welchen das Weibchen

frisst. Im Pilzgarten liegen die Eier und dann die jungen Larven XV. 12

478 Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen.

eingebettet. Dem Anschein nach besteht dieser Pilzgarten aus weissen, 1 mm großen Kugeln.

Woraus entsteht er nun in dem unterirdischem Gefängnis? v. Ihering konnte die Sache nicht viel weiter verfolgen, vermutet aber, dass der Pilzgarten von dem Mutterweibchen aus zerbissenen Eiern angelegt wird.

Diese wertvollen Beobachtungen v. Ihering’s hat nun E. Göldi vollauf bestätigt und insofern erweitert, als es ihm gelang festzu- stellen, dass in der Tat der Pilzgarten der Mutterweibchen aus

Fig. 5.

Pilzgarten, des Weibchens von Fig. 4, aus zerbissenen Eiern bestehend, mit den darauf liegenden lebenden Eiern. Vergrößert.

ihren eigenen zerbissenen Eiern angelegt wird und dass die Sache bis zum Ausschlüpfen der ersten kleinen Arbeiter so weiter geht. Letztere graben sich dann aus dem Gefängnis heraus, gehen Blätter schneiden, und nun wird der Pilzgarten mit Blättern weiter ge- führt. Somit füttert das Mutterweibchen einer neuentstehenden Atta-Kolonie seine Brut mit einem anderen Teil seiner Eier, die es zu diesem Behufe zerbeißt und als Nährmaterial dem Futterpilz hinstellt.

Dieser wunderbare Instinkt ist nicht so absonderlich, als es beim ersten Blick erscheinen mag. In den Annales de la societ6 entomologique de Belgique 1902 habe ich die Geschichte eines von mir erzogenen Mutterweibehens von Camponotus ligniperdus L. er- zählt, das, ohne andere Nahrung als Wasser zu erhalten, 9 Monate in seiner Zelle lebte und 5 Eier zu Larven und Puppen erzog. Es

Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen. 179

musste somit jene Larven mit seinen eigenen Körpersäften gefüttert haben. Ich zeigte, dass es viele Eier legte, die dann verschwanden.

Freier Pilzgarten der Atta (Acromyrmex) octospinosa Reich im Gebüsch. Stark verkleinert.

Diese Eier fraß das Weibchen somit selbst und benutzte sie zweifel-

los zur Fütterung seiner aufgezogenen Larven. Darin liegt ein 12*

480 Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen, -

nahes Analogon zum Benehmen des Atta-Weibchens. Ferner hat Janet (Intern. Zoologenkongress zu Bern 1904) nachgewiesen, dass

Bıoar.

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Zerklüfteter oberer Teil des freien Pilzgartens der Atta octo- spinosa Reich (weniger verkleinert).

wenn ein befruchtetes Ameisenweibchen seine Flügel ablegt und sich zur Koloniengründung einnistet, nach wenigen Wochen seine

Forel, Einige biologische Beobachtungen an brasilianischen Ameisen. 181

gewaltigen Brustmuskeln (Flügelmuskeln) durch Histolyse ver- schwinden, d. h. vom eigenen Blute aufgesogen werden. Darin liegt für solche Mütter eine weitere, wichtige Nahrungsquelle.

Fig. 4 zeigt nun ein von Prof. Göldi in einem künstlichen Behälter unter einer Glasplatte aufgezogenes Weibchen von Atta sexdens L., in situ, mit seinem Eierpilzgarten photographiert (nat. Gr.).

Fig. 5 zeigt nun in vergrößertem Maßstabe eine Skizze jenes Eierpilzgartens. Der Pilzgarten ist nestartig geformt; man sieht deutlich die mit Pilzkohlrabi bedeckten, zerbissenen einzelnen Eier aus welchen er besteht, während in seiner Mitte ein Haufen lebender Eier sitzt, die nun aufgezogen und nicht zerbissen werden.

Prof. Göldi hat außerdem beobachtet, dass, wenn in einer Atta-Kolonie die Arbeiter neue frische Blattstücke bringen, die- selben zuerst von mittleren bis kleinen Arbeitern in noch kleinere Stückehen zerschnitten werden, und, dass dann die allerkleinsten Minimalarbeiter den Schimmel des alten Pilzgartens direkt auf das frische Blattmaterial ansäen, resp. darauf setzen.

IV. Der Pilzgarten von Atta (Acromyrmez) octospinosa Reich.

Während die großen Atta und verschiedene Acromyrmex-Arten ihren Pilzgarten in unterirdischen Höhlen anlegen, hat bereits Möller nachgewiesen, dass die Atta Mölleri For. (die ich nun, auf Grund der Untersuchung des Fabricius’schen Typus, als Unterart zu coronata Fahr. ziehen muss) ihren Pilzgarten ziemlich frei in hohlen Bäumen, unter Blättern, oder dergl. anlegt.

Herr Prof. Göldi hat ın Para den Pilzgarten der Atta (Acro- myrmex) octospinosa Reich völlig frei ım Gebüsch liegend gefunden. Dieser Pilzgarten zerfällt außerdem in viele Abteilungen oder ein- zelne Gärten, die an den Halmen des Gebüsches haften. Der frische Pilzgarten wird nur von einer älteren Pilzgartenkruste be- deckt. Die Fig. 6 zeigt einen ganzen solchen freiliegenden Pilz- garten in situ, im Gebüsch. Fig. 7 den weniger verkleinerten oberen Teil des Nestes, der aus emzelnen getrennten Pilzgärten besteht.

Solche Naturabbildungen sind lehrreicher als alle Beschrei- bungen. Der frische Pilzgarten der A. octospinosa ist schneeweiß. Einige Arbeiter mit etwas Pilzgarten wurden mir vor vielen Jahren lebendig aus Trinidad von Herrn Urich gesandt, und ich konnte kurze Zeit beobachten, wie die Tierchen den Pilzgarten pflegten, transportierten, abbrachen, wieder zusammensetzten, und wie die Arbeiter einander genau nach Art unserer europäischen Formica transportierten.

182 Walkhoff, Studien über die Entwickelungsmechanik des Primatenskelettes.

Studien über die Entwickelungsmechanik des

Primatenskelettes. Herausgegeben von O0. Walkhoff. Erste Lieferung: Das Femur des Menschen und der Anthropomorphen in seiner funktionellen Gestaltung. Von OÖ. Walkhoff.

Wie der angeführte Titel des Werkes, das hier besprochen werden soll, besagt, beabsichtigt Walkhoff, eine systematische Untersuchung des Primatenskelettes auf der Grundlage „entwicke- lungsmechanischer“* Prinzipien vorzunehmen oder vornehmen zu lassen. Dabei ist als ein Hauptziel die Verwertung dieser Prinzi- pien und der gewonnenen Resultate für anthropologische und des- zendenztheoretische Fragen gedacht. In der vorliegenden Arbeit wird von Untersuchungen über das Femur des rezenten Menschen und der Anthropoiden und über die bisher bekannt gewordenen menschlichen Femora aus der Diluvialzeit die Femora des Neander- thalers und der beiden Spymenschen berichtet.

Als Untersuchungsmittel kommt ın erster Linie Durchleuch- tung der Knochen mittels Röntgenstrahlen in Betracht (Kap. II). Bei der Untersuchung der Knochen des rezenten Menschen lassen sich zwei Methoden leicht kombinieren: die Untersuchung von geeigneten Schnitten und die Durchleuchtung. Namentlich die Durchleuch- tung von passenden Schnitten scheint die besten Resultate zu er- zielen, wie dies aus den durchwegs guten und klaren Abbildungen z. B. auf Tafel I der vorliegenden Arbeit und namentlich aus der prachtvollen Figur 13 auf Tafel III hervorgeht. Die Durchleuch- tung ganzer Knochen liefert lange nicht solch klare Bilder; ihre Anwendung ist zwar nicht wertlos, aber die gewonnenen Bilder sind stets mit Vorsicht zu beurteilen. Wenn irgend zulässig und möglich, sind so gewonnene Bilder stets durch Untersuchung von Schnitten oder durch Durchleuchtung geeigneter Schnitte zu kon- trollieren.

Abgesehen von einem kurzen Vorwort umfasst W.’s Arbeit sechs größere Kapitel, von denen das erste, „Einleitung“ überschrie- bene Kapitel eine kurze historische Skizze bringt. Ich hebe daraus nur hervor, dass von anderer Seite bereits zum Teil die gleichen An- sichten ausgesprochen wurden, wie die sind, zu welchen, wie noch dargelegt wird,auch W. kommt. Bähr behauptete nämlich (gegen- über der von Culmann, Meyer und Wolff begründeten Krahn- theorie), dass im proximalen Teile des Femurs nur Druckkurven vorhanden seien und nicht auch Zugkurven, wie das die Krahn- theorie für die laterale Seite des Femurs z. B. fordert. Im übrigen habe ich zu der geschichtlichen Skizze noch zu bemerken, dass nirgends die Arbeiten des gestorbenen Wiener Chirurgen Albert erwähnt werden. Ich weiß ja aus eigner Erfahrung, dass Albert’s Arbeiten von manchen „Entwickelungsmechanikern“ nur gering veranschlagt werden, ich muss aber doch betonen, dass sich gar manches dort beschrieben und abgebildet findet, was doch nicht allgemein bekannt zu sein scheint, In der Walkhoff’schen

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Arbeit nämlich finde ich z. B. manches Trajektorium als neu beschrie- ben, das Albert bereits kannte. Auch beschränkte sich Albert nicht, wie sonst fast allgemein üblich, auf die Untersuchung des proxi- malen Femurendes, er hat auch das distale Femurende wie über- haupt sämtliche erößeren Knochen der vorderen und hinteren Ex- tremität untersucht und zwar recht genau. Auch Durchleuchtungen mittels Röntgenstrahlen hat er vorgenommen, allerdings noch nicht mit solchem Erfolge, wıe das jetzt möglich ist.

Walkhoff’s Auseinandersetzungen lassen sich für ein Referat am besten in zwei Abteilungen gliedern, welche getrennt besprochen werden sollen. In der ersten Abteilung wären seine Ausführungen über die verschiedenen entwickelungsmechanischen Fragen, die er behandelt, zu erörtern; in der zweiten seine Betrachtungen über einige anthropologische und deszendenztheoretische Fragen.

Ich beginne mit der ersten Abteilung und komme, nachdem ich den geschichtlichen Rückblick und die Methode bereits kurz berührt habe, gleich zum dritten Kapitel der Arbeit, das die Über- schrift trägt: Der funktionelle statische Druck im Femur der Primaten und seine allgemeine Wirkung auf die Beckenstruktur. Daraus ist folgendes hervorzuheben. Die Knochenstruktur des distalen Femurendes sowie die des Beckens wurden, im Vergleich zur Struktur im proximalen Femurende, bisher recht stiefmütterlich behandelt. W. strebt hier eine Ergän- zung an. Erdurchleuchtete daher zunächst gleichzeitig das pr oximale Femurende und das Becken, indem beide in Zusammenhang blieben, und fand, dass das bekannte starke Drucktrajektorium, das, ım „Halsschaftwinkel“ von der Medialseite des Oberschenkels her- kommend, im Bogen gegen die obere Hälfte der Gelenkfläche zieht, sich ins Becken hinein fortsetzt und bis zur Facies auricularis, ja bis zum ersten Kreuzbeinwirbel zu verfolgen ist. Notgedrungen müssen die beiderseitigen Trajektorien mithin ım ersten Sakral- wirbel zusammentreffen, so dass, wie W. sagt, hier „gleichsam der Schlusstein der Gewölbekonstruktion eingesetzt ist, welche durch die unteren Extremitäten und das Becken gebildet wird“ und auf der die Wirbelsäule in der Mitte ruht. Beim Menschen über- wiegt im Oberschenkel dieses Trajektorium weitaus alle anderen an Stärke. Es ist, wie längst bekannt, ein ausgezeichnetes Druck- trajektorium und wird von Walkhoff „im seiner Gesamtausdeh- nung als statisches Trajektorium der aufrechten Haltung des Men- schen“ bezeichnet.

Die Anordnung der Spongiosabälkchen im proximalen Femur- abschnitte der Anthropoiden ist eine ganz andere als wie beim Menschen. Vor allem fehlt das „Trajektorıum des aufrechten Ganges“ ganz oder es ist doch nur stellenweise angedeutet. Auf keinen Fall aber nimmt es jemals die vorherrschende Stellung ein wie beim menschlichen Femur. Im übrigen sind die Knochenbälkchen viel stärker als beim Menschen. Ihre ganze Anordnung hängt offenbar mit der vielseitigen Benützung "und Beanspruchung der hinteren Extremitäten der Anthropoiden zusammen, wie es das

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Klettern, das hin und wieder vorkommende Aufrechtgehen, die Rolle als Greiforgan u. s. f. mit sich bringen. Die Beanspruchung der kaudalen Extremitäten des Menschen ist demgegenüber viel einseitiger. W. sagt: „Der prinzipielle Unterschied geht so weit, dass man aus jeder Röntgenaufnahme von einem F rontalschnitte, ja selbst von einem ganzen Knochenstücke analytisch feststellen kann, ob dasselbe vom Menschen oder vom Affen stammt, mit anderen Worten, ob das betreffende Individuum gewöhnlich aufrecht ging oder nicht.“

Das vierte Kapitel handelt über „die funktionelle Gestalt des tibialen Femurendes bei dem Menschen und den Anthropomorphen“. In jedem der beiden Kondylen findet sich beim Menschen zunächst ein vertikales Trajektorium. Das des lateralen Kondylus ist bei weitem kräftiger als das des medialen Kondylus und reicht auch weiter in die Diaphyse hinauf als letzteres. Dies ist für den ersten Augenblick überraschend. Denn, wie all- bekannt, ist bei äußerer Betrachtung, der mediale Kondylus in der Regel größer und stärker entwickelt als der laterale, was offenbar mit der mehr oder weniger schrägen Stellung des Femurs zu- sammenhängt. Letztere hinwiederum ist abhängig von der Breite des Beckens und der Länge des Collum femoris. Sind letztere zwei Größen auffallend groß, so steht die Achse des Femurs sehr schräg und der mediale Kondylus, nimmt dementsprechend an Um- fang zu. W. zieht aus dem Überwiegen des vertikalen Trajek- torıums ım lateralen Kondylus den Schluss, dass der laterale Kon- dylus beim Gehen und Stehen die Hauptlast zu tragen habe. „Der statische Maximaldruck, welcher als Trajektorıum der auf- rechten Haltung vom inneren Halsschaftwinkel kommt, pflanzt sich auf nächstem Wege in der Vertikale zur Gelenkoberfläche der horizontalen Tibiafläche fort und trıfft deshalb mit zunehmendem Abstande der Achsen beider Femora an ıhrem oberen Ende am meisten den äußeren Kondylus.“ Es wäre also das vertikale Trajektorium im Condylus lateralis femoris die Fortsetzung des Trajektorıums „der aufrechten Haltung“ ım proximalen Femur- ‚abschnitte, das hier bekanntlich auf der medialen Seite des Knochens liegt. Das Trajektorıum würde also die Seiten wechseln und da es im oberen Abschnitte als Druckbahn zu gelten hat, so folgt, dass auch der Condylus lateralis femoris auf Druck beansprucht würde, und nicht auf Zug. »

Außer den genannten beiden Haupttrajektorien, den vertikalen, kommen in den Condyli femoris des Menschen noch andere Spon- giosazüge vor. Von der Fossa poplitea strahlen in jeden Kondylus Knochenbälkchen hinein, welche nach W. als Zugfasern aufzufassen sind. Sie sollen der Abplattung des tibialen Femurendes während des Stehens und Gehens entgegenwirken. Sie entstehen durch den Zug, den bei statischer Belastung der eine Kondylus auf den an- deren ausübt. Und endlich können noch, falls der laterale Kon- dylus gegenüber dem medialen ganz besonders belastet ist, wie das bei starker Schrägstellung der Femurachse statt hat, einige Druck-

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fasern auftreten, die, von der lateralen Kompakta ausgehend, das vertikale Trajektorium des lateralen Kondylus rechtwinkelig schnei- den und in einem distalwärts konvexen Bogen gegen die mediale Kompakta aufsteigen, indem sie hier das vertikale Trajektorium des medialen Kondylus spitzwinkelig schneiden. Auch dies sind nach W. Druckfasern. Es kann mithin unter Unständen eine Ver- mehrung der Spongiosa ım lateralen Teile des distalen Endes des menschlichen Femurs statthaben, und dies ist nach W. bedingt „durch die statthabende einseitige Beanspruchung jeder unteren Extremität als zeitweilig alleinigem Stützpunkte für die ge- samte Körperlast während des aufrechten menschlichen Ganges“.

Die Labien der Linea aspera femoris sind nach W. nicht durch den Zug der an ihnen inserierenden Muskeln allein hervorgerufen ; sie sind vielmehr „der äußere Ausdruck für den gesammelten Maximaldruck auf der Oberfläche des Knochens, welcher von Kon- dylen ausgehend in eng umschriebener Bahn sich zum Kol- lodiaphysenwinkel fortpflanzt“. Auf Sagittalschnitten durchs distale Femurende findet W., dass „selbst der statische Druck von der vorderen Fläche der Kondylen zum größten Teil zur Rück fläche des Schaftes übergeht, und zwar ziehen die Knochenbälkchen schräg aufwärts steigend hauptsächlich zu den Labien“. Nach W. ist also die Rückfläche des Femurs wesentlich stärker belastet als die Vorderfläche. Im übrigen sind noch einige weitere Spongiosa- züge im distalen Femurende des Menschen nachzuweisen; sie können aber hier im Refarat nicht näher besprochen werden, zumal sie gegen die angeführten an Interesse wohl zurücktreten.

Ich hebe noch einmal besonders hervor, dass nach W. „das tibıale Ende und die Diaphyse des menschlichen Femur unzweifel- hafte Merkmale eines größeren statischen Druckes aufweisen, wel- cher vom äußeren Kondylus zum inneren Halsschaftwinkel geht.“ Daraus schließt W., dass die Krahntheorie keineswegs für das ge- samte Femur gelten kann. „Das Maximum des statischen Druckes wechselt die Seiten und dieser Wechsel kompensiert offenbar leicht eine Durchbiegung des gesamten Femur nach außen, wie sie unzweifelhaft stattfinden müsste, wenn das ganze Femur krahn- artig belastet würde, die äußere Seite also nur Zug-, die innere nur Druckseite wäre.“

Von dem kurz skizzierten Bilde der Spongiosastruktur im distalen Femurende des Menschen weicht die Spongiosastruktur im distalen Femurende der Antropoiden wesentlich ab. Zwar finden sich auch hier die beiden starken vertikalen Trajektorien in den beiden Kondylen, aber es fehlen „die Zugfasern von der Fossa poplitaea in die Kondylen nahezu gänzlich“. Die ganze Struktur ist im übrigen rundmaschig, zum Ausdruck der Vielseitigkeit der Beanspruchung. Das „Affenfemur ist in nahezu permanenter, aber fortwährend wechselnder Beugestellung während seiner Funktion“. „Für das Affen-Femur es ist zu bemerken, dass die Anthropoiden nicht den Affen repräsentieren, d. R. typisch ist aber das Auftreten von bogenförmigen starken Trajektorien,

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welche von jeder Kondylenseite nach der anderen Seite ziehen“ und sich, im Gegensatz zu den Verhältnissen beim Menschen, weit in die Diaphyse hinein erstrecken. Gerade diese Faserzüge tragen zu der rundmaschigen Anordnung der Spongiosa viel bei und wie die Figuren 7, 8 und 9 der Walkhoff’schen Arbeit, in denen die Radiogramme von ganzen Knochen des Menschen, des Orang und Hylobates nebeneinander gestellt sind, zeigen, sind durch sie in der Tat die Femora der Anthropoiden und des Men- schen sofort zu unterscheiden. In der Diaphyse des Antro- poidenfemurs wird nach W. der funktionelle Druck auf jeden Teil der Wandung übertragen und so ziemlich gleichmäßig fortgepflanzt. Es erscheinen die Kraftbahnen nicht so bestimmt vorgeschrieben wie beim Menschen eine Folge des Unterschiedes zwischen dem aufrechten Gange des Menschen und dem Kletterleben der Anthropoiden.

Ich komme zur Besprechung des fünften Kapitels der Arbeit. Dieses handelt über „die funktionelle Gestalt des koxalen Femurendes bei dem Menschen und den Anthropomor- phen“. Der Beschreibung der Verhältnisse beim Menschen legt W. in seiner Fig. 13 eine wirklich ausgezeichnete Abbildung, das Röntgenbild eines Frontalschnittes, zugrunde. Die Spongiosazüge. treten sehr klar hervor. Das stärkste Trajektorıum ist entschieden das „des aufrechten Ganges“, welches, im Halsschaftwinkel an der medialen Kompakta entspringend, gegen den oberen Abschnitt der Gelenkfläche des Caput femoris aufsteigt und sich einerseits ins Becken fortsetzt, andererseits aber distalwärts seine Belastung dem vertikalen Trajektorium ım lateralen Kondylus mitteilt. Im übrigen weichen Walkhoff’s Befunde teilweise nennenswert von Wolff’s Befunden ab. Walkhoff konnte einzelne Spongiosazüge nachweisen, die Wolff entgangen waren. Ich bemerkte oben bereits, dass auch Albrecht manches gesehen hat, was anderen entging und Walkhoff dürfte hier manches finden, was er als neu beschreibt. Ich kann hier ım Referat die Einzelheiten nicht eingehend erörtern und gehe daher gleich auf den wichtigsten Punkt dieses Kapitels ein, auf die Frage, ob das bogenförmige Trajektorium, welches, von der lateralen Seite des Femurs her- kommend, in nach unten konkavem Bogen (unterhalb des Trochanter major) ins Collum femoris eintritt, dieses durchsetzt und unterhalb der Foveola die Gelenkfläche des Caput femoris trifft, ein Zug oder ein Drucktrajektorium sei. Die Krahntheorie fasst es bekannt- lich als Zugtrajektorium auf und Wolff suchte dies vielfach zu begründen. Walkhoff nun kommt, um dies kurz vorweg zu nehmen, zu dem Schlusse, dass das fragliche Trajektorıum nicht ein Zug- trajektorium sei, sondern ein Drucktrajektorium womit die ganze Krahntheorie fallen würde. Aus der Begründung, die W. für diese Auffassung liefert, hebe ich nur einiges, das mir am wich- tigsten erscheint, hervor. Im proximalen Femurabschnitte findet sich nach W. eine Radkonstruktion, und nicht eine Krahnkonstruktion. Es geht nämlich im Halsschaftwinkel von der medialen Seite des

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Femurs ein Trajektorium aus, welches in der Richtung nach dem Trochanter major zu verläuft. Dieses Trajektorıum hat nach W. die Aufgabe, das proximale Ende des Femurs gegen Durchbiegung zu schützen, eine Gefahr, welche durch das Zugtrajektorıum der Krahntheorie nicht so gut beseitigt würde. Die Erfahrung lehrt,

dass die genannte Stelle sehr gefährdet ist hier erfolgen die meisten Brüche. Bei stärkerer Belastung kann das Trajektorıum daher auch recht starke Dimensionen annehmen. Das „Zug-

trajektorium“ der Krahntheorie kommt nach W. nicht durch den bei statischer Belastung auf die laterale Seite des Femurs wirken- den Zug zustande, sondern „bei der Erzeugung dieses Trajektoriunfs wirken Muskeln, nämlich die gesamte Hüftmuskulatur und der Bandapparat des Hüftgelenkes.“ Es sind das die am Tro- chanter major inserierenden Muskeln und der Glutaeus maximus. Diese Muskeln haben „jederzeit die Tendenz, den Trochanter gegen das Gelenk zu pressen und diese Wirkung wird noch wesentlich durch den Glutaeus maxımus erhöht, dessen obere Hälfte mit ıhrer Endsehne gerade über den Trochanter schleift und sich mit der von dem Tensor fasciae latae schon gespannten Partie der Fascıa lata verbindet.“ Im Trochanter major selbst kann W. drei ver- schiedene Trajektorien nachweisen, welche alle drei durch die Wirkung der hier inserierenden Muskeln entstanden zu denken sind. Namentlich der Glutaeus medius verrät deutlich die Spuren seiner Tätigkeit. Die Trajektorien sind unabhängig und unbeeinflusst von dem bogenförmigen Trajektorium, dem Zugtrajektorıum der Krahn- theorie, welches unterhalb des Trochanter major vorbeizieht. Ferner ist hier die Struktur des menschlichen Beckens zu beachten. Beide Trajektorien, welche im Caput femoris so stark ausgeprägt sind, setzen sich ins Becken fort, und zwar sind hier die Ausläufer, wenn ich so sagen darf, des Trajektoriums des aufrechten Ganges wieder am stärksten. Die Spongiosabälkchen, welche als Fort- setzung der beiden Trajektorien des Schenkelkopfes zu gelten haben, sind untereinander durch Querverbindungen verbunden, welche zur Pfanne annähernd konzentrisch angeordnet sind. Besonders zu be- merken ist nicht nur, dass sich das laterale Trajektorium aus dem proximalen Femurende überhaupt ins Becken fortsetzt, sondern noch ganz speziell, dass es sich im Becken nach unten fortsetzt, d.h. die im Caput femoris eingeschlagene Richtung beibehält. Aus alle dem zieht W. den Schluss, dass das bogenförmige Tra- jektorium, welches also von der lateralen Seite des Femurs auf- steigt, „durch den direkten Druck des Glataeus maximus und besonders durch den Zug, welchen die gesamten Muskeln des Trochanters gegen das Gelenk ausüben, wobei dieser Zug ebenfalls in Druck umgesetzt wird, entsteht.“ Das bogenförmige Trajek- torium ist also „die Druckbahn für jene aktiven Kräfte, welche zur Feststellung des Hüftgelenkes dienen, jenem Mechanismus, welcher während der aufrechten Haltung des Menschen ganz eminent beansprucht und deshalb auch zu einem strukturell be- deutenden, sichtbaren Drucktrajektorium führen muss.“

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Ich muss dazu bemerken, dass es wohl eine ganze Anzahl Anatomen geben dürfte, welche der „Krahntheorie“ des strukturellen Aufbaues der Spongiosa ım proximalen Femurende des Menschen stets misstrauisch gegenüberstanden. Die Genese der Krahn- theorie rechtfertigt dies vollkommen. Ohne auf ihre Geschichte hier näher einzugehen, will ich nur hervorheben, dass man, noch ehe man den Aufbau des proximalen Femurabschnittes genau genug studiert hatte und kannte, mathematische Berech- nungen über die Zug- und Druckbahnen eines dem proximalen Femurende ungefähr ähnlich geformten belasteten Krahnes be- rechnete, und nun die Spongiosa des Femurs mit den ausge- rechneten Zug- und Druckkurven des Krahnes verglich. So kam es, dass man im proximalen Femurende nur das fand, was man für den Krahn mathematisch ausgerechnet hatte, woraus sich Wolff’s einseitiger Standpunkt völlig erklärt. Es geht eben nicht an, mit vorgefassten Tendenzen an die Untersuchung eines Objektes heranzutreten. Albert bildetauch hier eine rühmliche Ausnahme. Ihm kommt es darauf an, das tatsächliche Vorhandensein der ein- zelnen Spongiosazüge, ihre Ausdehnung und Form, festzustellen, zunächst ganz ohne Rücksicht auf ihre etwaige Funktion und Be- deutung, d.h. ganz ungeachtet, ob sie auf Zug- oder auf Druck- wirkung zurückzuführen seien. Das kann nur gebilligt werden. Nur dadurch hat Albert vieles gesehen, was Wolff nicht sehen konnte und daher einfach bestritt. Es ist ganz verfehlt, bei dem Studium der Spongiosa des Femurs nur das proximale Ende allein vorzunehmen, ohne Zusammenhang mit dem Trochanter und dem distalen Abschnitte des Knochens, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Stellung der Achse des Knochens zu den benachbarten Knochen, auf die Bandverbindungen mit letzteren und auf die inserierenden Muskeln und ihre Wirkung. Auch ist Rücksicht zu nehmen auf das Wachstum der Knochen während einer langen Lebensperiode und den damit zusammenhängenden Änderungen der Stellung der Achse u.s. f. Es ließen sich "solcher Punkte noch eine ganze Reihe anführen, welche bei den Betrachtungen über die Spongiosa im Femur bisher in der Regel außer acht gelassen wurden.

W. bat ferner verschiedene Femora von Anthropoiden unter- sucht. Von besonderem Interesse ıst, dass das bogenförmige Tra- jektorium, also das „Zugtrajektorium“ der Krahntheorie, bei den Anthropoiden an manchen Stellen stets überhaupt nur angedeutet ist; niemals aber ist es so ausgeprägt wie beim Menschen. Handelte es sich hier wirklich um ein Zugtrajektorium, so müsste es nach W.auch beim Anthropomorphen, trotz der vielseitigen und wechseln- den Beanspruchung seines Femurs, zu einem stark ausgebildeten Trajektorıum kommen. Denn auc beim Anthropomorphen ist in- folge des statischen Druckes die Beanspruchung auf Biegung nicht geringes als beim Menschen. So schließt W. auch aus der mangel- haften Ausbildung dieses Trajektorıums bei den Anthropoiden, dass es sich hier um ein Drucktrajektorium handeln müsse, und nicht um ein Zugtrajektorium, wie die Krahntheorie es will.

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Das große Drucktrajektorıum der Krahntheorie, das also von der medialen Seite des Femurs zum Oaput aufsteigt, ist vorhanden, „aber niemals, wie beim Menschen, sämtlichen übrigen Trajek- torien gegenüber prädominierend“. Bemerkenswert ist ferner, dass die Bälkchen des lateralen Trajektoriums, also des sogenannten „Zugtrajektoriums“ der Krahntheorie, sich mit denen des medialen Trajektoriums (— beim Menschen das des aufrechten Ganges ge- nannt) nicht rechtwinkelig kreuzen, wie es die Krahntheorie ver- langte, sondern spitzwinkelig. Stark ausgeprägt, oft stärker als beim Menschen, ist das vom Halsschaftwinkel entspringende, aus „radial zum Winkel angeordneten Knochenbälkchen*“ bestehende System (Schutz vor Durchbiegung!). Auch im Trochanter major der Anthropoiden finden sich Trajektorien, ähnlich wie beim Menschen. Ganz besonders stark ıst eines ausgeprägt, welches offenbar durch die kräftige Funktion des Glutaeus medius, der ja bei dem Baum- leben der Anthropoiden als Abduktor und als Rollmuskel ent- schieden sehr benützt wird, hervorgerufen ist: es zieht von der Spitze des Trochanter (Ansatz des M. glutaeus medius) bis zur Insertion des Glutaeus maximus.

Es ıst also das Femur der Anthropomorphen seiner funk- tionellen Beanspruchung ebensogut angepasst wıe das des Menschen der seinigen.

Ich komme zum letzten, dem 6. Kapitel der „Walkhoff’- schen Arbeit. Dieses handelt über „die funktionelle Gestalt des diluvialen menschlichen Femurs“, d. h. der Femora des Neanderthalers und des Spymenschen. Walkhoff hat die Oberschenkelknochen mittels Röntgenstrahlen durchleuchtet, und natürlich, wie es bei diesem höchst kostbaren und seltenen Material nicht anders zu erwarten steht, die Knochen als Ganzes, keine Schnittpräparate. Dass infolgedessen nicht so schöne klare Bilder erzielt wurden, wie es W. beim rezenten Femur gelang, ist ver- ständlich. Immerhin sind die gewonnenen Bilder recht lehrreich. Sie zeigen, dass die funktionelle Struktur dieser Oberschenkel- knochen „derjenigen der heutigen Menschen näher steht als der Spongiosastruktur der Anthropomorphen“. Im ganzen ist die Spongiosastruktur derjenigen im rezenten Femur gleich, nur sind die Spongiosabälkchen bedeutend kräftiger als beim rezenten Femur, namentlich gilt dies für den Neanderthaler. Ganz besonders kräftig ıst- das Radialsystem, welches vom inneren Halsschaftwinkel gegen den Trochanter major (bis zu dessen Spitze!) zieht, es soll nach W., wie bereits erwähnt, die Gefahr der Durchbiegung ab- wenden. Dieser Bälkchenzug ist so kräftig, dass ein sogenanntes Ward’sches Dreieck nicht zustande kommt. Aus der Spongiosa- struktur dieser Knochen ist nach W. mit Sicherheit zu schließen, dass diese diluvialen Menschen aufrecht gingen.

Damit hätte ich das Wesentlichste des ersten Teiles, des ent- wickelungsmechanischen, besprochen. Ich komme nun zum zweiten, kürzeren Teile, dem anthropologischen. Da ist zunächst die Alters- frage, welche W. für den Neanderthaler und den Spymenschen zu

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beantworten sucht. Bekanntlich hatte Virchow den Neanderthal- menschen für einen Mikrokephalen erklärt, der, obwohl er in der Jugend an Rhachitis gelitten und später mehrere schwere Schädel- verletzungen davongetragen hatte und schließlich noch an Arthritis deformans erkrankte, trotz alledem ein hohes Greisenalter erlebte. Für diese von Virchow erzählte Leidensgeschichte haben spätere genaue anatomische Untersuchungen keinen Anhalt gefunden und das Alter hat Schwalbe auf Grund minutiöser Untersuchung wesentlich herabgesetzt: auf 40—65 Jahre. Schwalbe stützt sich, wie bekannt, dabei auf die Befunde an den Schädelnähten. Nun findet Walkhoff, dass das Röntgenbild des proximalen Femur- endes des Neanderthales ım Caput femoris „das Vorhandensein“ einer Epiphysenlinie ergibt. Walkhoff zitiert Hahn, der röntgo- graphisch nachgewiesen habe, dass nach dem 24. Lebensjahre das Vorhandensein einer Epiphysenlinie nur noch als Ausnahme vor- komme. W. selbst wıll festgestellt haben, dass man mittels Rönt- gendurchleuchtung für recente femora von etwa 25—-28jährigen Individuen dieselben Bilder bekommt, wie vom Femur des Neander- thalers, d. h. es lassen sich noch Reste einer Epiphysennarbe nach- weisen. „Keinesfalls ist also der Neanderthaler älter als 30 Jahre gewesen,“ so schließt W., denn bis spätestens zum 30. Lebensjahre soll die Ver schmelzung der Epiphysen mit den Diaphysen so vollständig sein, dass keine Spur mehr einer Epiphysenfugennarbe nachzuweisen sei. Bei objektiver Prüfung der beiden hier in Be- tracht kommenden Abbildungen (Fig. 33 u. 34) muss ich zugeben, dass auch ich es für höchstwahrscheinlich halte, dass wir hier es mit Resten der Epiphysenlinie (nicht mit dieser selbst), also mit Epiphysenfugennarben, zu tun haben. Sie sind aber nur noch im Caput femoris vorhanden, nicht auch im Trochanter. Allein für eine Altersbestimmung ist diese Tatsache nicht zu verwerten. Herr Professor Schwalbe hat auf die Angaben von Walkhoff hin Femora von weit älteren Individuen durehsägen lassen und siehe, noch bei einer S1jährigen Frau ist im distalen Femurende eine Epi- physenfugennarbe prachtvoll erhalten. Ich habe mir dieses Femur selbst wiederholt angesehen und muss sagen, dass das Vorhanden- sein einer Epiphysenfugennarbe für eine Altersbestimmung in dem Walkhoff’schen Sinne nicht verwertet werden kann. Wenn bisher es tatsächlich niemals gelungen sein sollte, mittels Röntgenstrahlen Epiphysenfugennarben noch in Femora von über 30 Jahre alten Individuen nachzuweisen, so liegt das z. T. wohl in der Methode: denn die Durchleuchtung ganzer, nicht in Schnitte zerlegter Knochen bringt nicht immer Bilder von wünschenswerter Klarheit zustande. Bei etwaiger unzuverlässiger Etikettierung der betreffenden Knochen- stücke liegt die Gefahr eines Trugschlusses sehr nahe: da man bis- her, wie es scheint, fast allgemein der Ansicht war, dass die Epi- physenlinien schon in relativ jungen Jahren gänzlich verschwänden, ohne jegliche Spur zu hinterlassen, so könnte man leicht versucht sein, wenn die Röntgendurchleuchtung Reste einer Epiphysenlinie dartut, zu sagen, dieses Knochenstück muss einem jugendlichen

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Individuum angehört haben. Wie das eben erwähnte Femur einer Sijährigen Frau beweist, wäre dies total verkehrt. Es liegt mir nun völlig fern, W. ein derartiges Vorgehen vindizieren zu wollen. Es ist aber zu bedauern, dass W. für die abgebildeten rezenten Femora, deren Röntgenbilder unzweifelhaft das Vorhandensein von Epiphysenlinien bezw. Epiphysenfugennarben erkennen lassen, nicht an einer einzigen Stelle das Alter angibt. Ich kann nach dem Gesagten der Altersbestimmung des Neanderthalers nach Walkhoff nicht zustimmen und muss für die einzige bisher brauchbare Me- thode die von Schwalbe benützte anerkennen.

Im Röntgenbild des Femurs des Spymenschen I ist nirgendswo eine Spur einer Epiphysenfugennarbe zu sehen. W. schließt daraus, dass das Individuum älter als 30 Jahre war. „Schwerlich aber werden sie (die Spymenschen d. R.) über das 40. Lebensjahr heraus- gekommen sein, sonst würde man wohl beginnende Alterserschei- nungen in der Knochenstruktur konstatieren können.“ Auch den letzteren Schluss Walkhoff’s kann ich nicht gut unterschreiben. Ich kann mir nicht denken, dass bei einem sonst gesunden und kräftigen Individuum bereits im 5. Jahrzehnt Alterserscheinungen in der Knochenstruktur auftreten.

Wenn ich nun auch den Altersbestimmungen Walkoff’s nicht beipflichten kann, so halte ich doch das für sehr wichtig, dass auch das Studium der Knochenstruktur der uns überlieferten dilu- vialen menschlichen Femora, genau wie früher die eingehende, vorur- teilsfreie Untersuchung der äußeren Formverhältnisse, absolut sicher ergeben hat, dass wir hier gesunde und kräftige Individuen vor uns haben; der Wert dieser Konstatierung liegt nach meiner Ansicht darin, dass keine der beiden Virchow’schen Ansichten zu recht bestehen bleibt, nämlich erstens dass der Neanderthaler ein uralter Greis gewesen sein müsse und zweitens dass seine uns überlieferten Knochenreste voll von pathologischen Residuen seien. Hat man diese Überzeugung gewonnen und auf Grund der bisherigen Untersuchungen muss man sie gewinnen dann liegt wirklich kein Grund vor, die untere Altersgrenze von 40 Jahren, wie sie Schwalbe „auf Grund des Verhaltens der Nähte und gestützt auf ein großes Material genau auf ihr Alter bestimmter Schädel“ an- nimmt, noch herabzusetzen. Bei sonst normalen Verhältnissen dürfte auch bezüglich der Spongiosastruktur kaum ein Unterschied zwischen einem Femur aus dem 4. und einem aus dem 5. Jahr- zehnt festzustellen sein, wobei ich natürlich einmal von der Variations- breite des „Normalen“ absehe; und der Umstand, dass eventuell noch Reste der Epiphysenlinien nachzuweisen sind, kann, wie dar- getan, nicht das Gewicht beanspruchen, das ihm Walkhoff beilegt. Die Hauptsache ist, dass wir es hier mit normalen, gesunden Knochen eines erwachsenen kräftigen Individuums zu tun haben, über das Untersuchungen anzustellen sich wohl verlohnt, und das nicht als pathologisch beiseite zu stellen ist. Von diesem Stand- punkte aus kann man wohl sagen, dass die Feststellung und das Studium der Spongiosastruktur der uns aus dem Diluvium über-

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lieferten menschlichen Femora eine Ergänzung bildet zu den wich- tigen Ergebnissen der rühmlichst en äußeren Untersuchungen von Schwalbe und Klaatsch.

Aus den Merkmalen, durch die sich die diluvialen Femora und das Becken des Neanderthalers von den betreffenden Knochen des rezenten Menschen unterscheiden, schließt W., dass die Hal- tung des diluvialen Menschen eine andere war als wie sie bei uns im ganzen die Regel ist; „die Normalstellung des diluvialen Men- schen musste mit gewöhnlich gekrümmten Knieen sein.“ W. weist darauf hin, dass dies auch heute noch vielfach die Regel ist bei Leuten, die viel und schnell gehen müssen, bei Briefträgern und Boten, bei Bergsteigern u. s. f.

Ferner ist es nach W. sehr wahrscheinlich, dass die diluvialen Menschen viel und gut kletterten, etwa ähnlich, wie z. B. die Australier heute noch beim Ersteigen hoher und dieker Bäume es tun. Nach W. spricht dafür vor allem die bedeutende Größe des lateralen Kondylus der diluvialen Femora ım sagittalen Durch- messer und ein Trajektorıum, welches, namentlich beim Neander- thaler stark ausgeprägt, bogenförmig vom lateralen Kondylus zur Diaphyse der medialen Seite hinzieht. Dies erinnert sehr an die Femora der Anthropomorphen. „Eines steht meint W., jeden- falls fest, die normalen Funktionen des diluvialen menschlichen Oberschenkels waren von denjenigen heutiger hochzivilisierter Völker bedeutend verschieden.“

. Am Schlusse seiner Arbeit gibt Walkhoff einen kurzen Überblick über „die phylogenetische Entwickelung des mensch- lichen Femurs,“ so wie sie nach seiner Meinung erfolgte.

Ich möchte nur noch eines hervorheben: Über das Eppels- heimer Femur (aus der Tertiärzeit) wurde lange gestritten, ob es einem menschlichen Individuum oder einem Anthropomorphen- Affen angehört habe. Owen und in neuester Zeit E. Dubois er- klärten dieses Femur für einen dem rezenten Hylobatesfemur sehr ähnlichen Knochen. Es ist interessant und erfreulich, dass die alte Owen’sche Ansicht auch durch die Struktur der Spongiosa ge- stützt wird. Walkhoff gibt ın seiner Fig. 39 eine Abbildung des Radiogrammes dieses Femurs. Und ich muss sagen, dass die Spongiosastruktur auffallend den auf Taf. IV der W. Arbeit abge- bildeten Radiogrammen der Spongiosastruktur im Anthropomorphen- femur ähnlich sieht; allerdings finde ich an einigen Stellen die Ähnlichkeit mit der Spongiosastruktur des Orangfemurs größer als mit der des Hylobatesfemurs, wenigstens nach diesen Abbildungen. Im ganzen aber überwiegt wohl die Ähnlichkeit mit dem Hylobates- femur. Owen hat also Recht behalten. [20]

H. Fuchs (Strassburg).

Berichtigung. In Nr. 5, S. 147, 6. Zeile von unten ist statt Coceidien Flagellaten zu lesen.

Verlag \ von von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

XXV. Ba. 1. April 1905. 72

Inhalt: Wasmann,, Ursprung und Entwiekelung der Sklaverei bei den Ameisen (Fortsetzung). Simroth, Uber einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren. Detto, Über direkte Anpassung. Goldschmidt, Amphiowides, Vertreter einer neuen Acranier- Familie.

Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den

Ameisen. Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). (146. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) (Fortsetzung.

Ich komme nun zu F. fusca und rufibarbis, die ım Vergleich zu F. rufa, pratensis und sanguinea nur wenig volkreiche Kolonien haben. Dies hängt mit der Gründungsweise ihrer Kolonien zu- sammen, die, wie bei den oben (S. 169) genannten Ameisen durch vereinzelte befruchtete Weibchen erfolgt?).

1) In vielen Fällen fand ich bei F\. fusca und bei rufibarbis zwei oder sogar mehrere, aber niemals viele Königinnen in einer Kolonie. Die Mehrzahl der Königinnen beruht hier entweder auf einer zufälligen Allianz von Weibchen der- selben Art, die nach dem Paarungsfluge an derselben Stelle sich zusammenfanden, oder was wohl das gewöhnlichere sein dürfte auf Nachzucht neuer Königinnen, deren Befruchtung auf oder nahe beim Neste stattgefunden hat. Bei den Lasius- Arten dagegen findet man fast nie mehr als eine Königin in einer Kolonie.

Dies scheint mir zusammenzuhängen mit den Eigentümlichkeiten des Paa- rungsfluges von Formica und Lasius. Obwohl bei F. rufa, deren Paarungsflug am frühesten (nach meinen Notizen oft schon im April oder Anfang Mai) erfolgt, nicht selten Hunderte und Tausende von Männchen oder Weibchen in einem volk- reichen Neste vorhanden sind; obwohl ferner die sehr häufigen Kolonien von I. fusca und rufibarbis eine ungeheure Menge von Geflügelten zum Paarungsfluge

ROXY. 13

194 Wasmann, Ursprung und Entwiekelung der Sklaverei bei den Ameisen.

Im April 1886 fand ich bei Exaten (Holländisch Limburg) eine fusca-Königin in der Nähe eines sangwinea-Nestes umherlaufend. Ich nahm sie mit und setzte sie in ein Gläschen mit feuchter Erde und etwas Futter. Bis Mitte Juni schenkte ich dem Gläschen keine weitere Aufmerksamkeit. Als ich es am 14. Juni wieder untersuchte, sah ich die Königin in einer kleinen Erdhöhle mit 6 Arbeiterkokons und zwei erwachsenen Larven sıtzen; sie suchte ihre Brut sofort zu verstecken. Also kann F'. fusca ihre erste Arbeiter- generation allein ohne fremde Hilfe aufziehen. Man findet auch nicht selten in freier Natur ganz junge frsca-Kolonien, die nur aus einer Königin und einer geringen Anzahl kleiner (also junger) Ar- beiterinnen bestehen.

Auch F. rufibarbis gründet ihre neuen Kolonien selbständig durch vereinzelte Weibchen. Am 19. September 1896 traf ich bei Linz am Rhein unter einem Steine eine ganz junge rufibarbis- Kolonie in einer kleinen Erdhöhle, welche außer der Königin nur drei noch graue, unausgefärbte Arbeiterinnen umschloss. Dieselben waren offenbar erst vor kurzem von der Königin erzogen worden; die übrigen Eier und Larven hatte sie wahrscheinlich aus Nahrungs- mangel aufgefressen.

Wenden wir uns jetzt zu F. raufa und pratensis. Diese beiden Ameisen stellen mit frumeicola unsere Rassen der rufa-Gruppe dar. Truneicola hat jedoch bei gleicher Größe der Arbeiterinnen merk- lich kleinere Königinnen, welche nicht größer sind als jene von rufibarbis und leicht mit den hellsten »wfbarbis-Königinnen verwechselt werden können!). Schon der Umstand, dass bei rufa und pratensis die Königinnen ihre normale Größe beibehalten haben, deutet an, dass sie für die Erhaltung ihres Stammes?) nicht in gesetzmäßiger Abhängigkeit von kleineren fremden Hilfs- ameisen stehen’).

aussenden können, so ist mir doch noch nie ein Schwarm geflügelter Formica begegnet, wahrscheinlich weil die Paarung schon in der Nähe der Heimatnester er- folgt. Die riesigen oft wolkengleichen Ameisenschwärme bestehen nach meinen Er- fahrungen meist aus Lastus oder Myrmica, deren Paarung eben deshalb meist weit vom Heimatneste vor sich geht. Die bekannte und auch von mir beobachtete Er- scheinung, dass man bei Myrmica rubra nicht selten mehrere Königinnen in einem Neste findet, erkläre ich mir daraus, dass mehrere befruchtete Weibchen, die an derselben Stelle niederfielen, sich später alliierten. Lasius-Königinnen sind nicht zu einer solchen Allianz geneigt, wie v. Buttels neueste Beobachtungen von Lasius niger (siehe oben S. 169 Anm. 1) bestätigen.

1) Siehe oben S. 131.

2) Ich sage „für die Erhaltung ihres Stammes“, nicht „für die Gründung neuer Kolonien“; denn erstere erfolgt bei diesen Arten meist durch Bildung von Zweigkolonien, nicht von neuen Kolonien.

3) Auch der Umstand, dass man isolierten truncicola-Königinnen in Gegenden, wo keine truncicola-Nester zu finden sind, umherschweifend begegnet, deutet an, dass sie nach dem Paarungsfluge sehr weit und lange umherlaufen müssen, bis sie zur

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 195

Vereinzelte befruchtete Weibchen von rufa oder pratensis traf ich zwar nach dem Paarungsfluge wiederholt. unter Steinen ver- steckt, sei es allein oder in der Nachbarschaft einer daselbst nisten- den fremden Ameisenart. In einem Falle (Luxemburg 1903) saß eine rufa-Königin ganz dicht bei einer fusca-Kolonie. Aber sie war durch eine Erdschicht von letzterer getrennt, und es blieb mir un- bekannt, ob sie später daselbst Aufnahme fand. Über die Auf- nahme einer pratensis-Königin in sanguwinea-Nestern werde ich weiter unten berichten.

Junge selbständig gegründete Kolonien von raufa oder pratensis, die nur aus einer Königin mit ıhrer ersten Brut bestanden, sind meimes Wissens noch nie gefunden worden. Trotzdem glaube ich nicht, dass die Königinnen dieser beiden Rassen für gewöhnlich, also normalerweise, mit Hilfe fremder Forsnica-Arten neue Kolonien gründen ; sonst müsste man doch häufiger kleine gemischte Kolonien rufa-fusca und pratensis-fusca finden. Erstere sınd über- haupt noch unbekannt, letztere, wie wir unten sehen werden, sehr selten. Der gewöhnliche Weg der Stammeserhaltung ist für rufa und pratensis der folgende.

Die Kolonien dieser beiden Ameisen sind meist sehr volkreich, auch die Nester oft von ungeheuerem Umfange; zudem ist auf ein und demselben Gebiete oft außer dem Mutterneste noch eine geringere oder größere Anzahl von Tochternestern vorhanden, welche mit dem Hauptneste trotz einer Entfernung von mehreren oder vielen Metern (bis 30 m) in Verbindung bleiben. Zwischen diesen Nestern und in der ganzen Umgegend bis zu den oft weit entfernten Weide- gebieten (mit Blattläusen oder Schildläusen bedeckte Bäume und Sträucher) ziehen sich nach verschiedenen Richtungen die von Ar- beiterinnen belebten Ameisenstraßen hin, so dass eine einzige Kolonie namentlich bei starken r«fa-Kolonien ein Gebiet von vielen hundert oder tausend Quadratmetern umfassen kann. Wenn daher die Paarung der geflügelten Geschlechter, bei welcher zur Ver- meidung der ausschließlichen Inzucht!) auch herbeigeflogene

Gründung ihrer Kolonie durch Hilfe von fusca gelangen. Während 14 Jahren traf ich in der Umgebung von Exaten (Holl. Limburg), die ich auf viele Quadrat- kilometer genau durchforscht habe, keine einzige truncicola-Kolonie, sondern nur einmal (5 km von Exaten entfernt), eine Kolonie der Mischrasse rufo-truncicola an. Eine entflügelte echte truncicola-Königin fand ich dagegen schon am 30. Mai 1585 unmittelbar bei Exaten auf Wegen laufend. Auch im Bezirke von Baum- busch bei Luxemburg, wo ich im Juli 1904 eine truncicola-Königin umherlaufend fand, gelang es mir noch nicht, eine Kolonie dieser Art zu entdecken. Die einzigen mir hier bekannten Kolonien sind mehrere Kilometer davon entfernt. F\, truncicola scheint also beim Paarungsfluge sehr weit umherzuirren.

1) Durch meine Statistik der sanguinea-Kolonien bei Exaten konnte ich fest- stellen, dass Männchen und Weibchen eines Nestes fast nie zur gleichen Zeit ent- wickelt sind, meist sogar in einem Neste nur Männchen, im anderen nur Weib- chen. Bei rufa fand ich jedoch öfter beide zugleich in demselben Haufen entwickelt vor.

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196 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

Männchen fremder Kolonien sich einfinden können, zum großen Teile auf der Nestoberfläche oder in geringer Entfernung vom Neste ın der Luft erfolgt, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass manche befruchtete Weibchen bald Arbeiterinnen ihrer eigenen Kolonie begegnen, welche sie in das Hauptnest oder in eines der /weignester zurückführen. Nur so erklärt sich die Tatsache, dass man in alten rwfa- und pratensis-Nestern oft eine bedeutende An- zahl von Königinnen findet. Aus einem Haufen der Varietät rufo- pratensis grub ich im März 1884 bei Exaten 60 alte Weibchen aus, die nach ihrem Hinterleibsumfange zum großen Teile Königinnen waren.

Um den soeben aufgestellten Satz zu illustrieren, dass bei F. rufa wegen der Stärke ihrer Kolonien und des großen Umfanges ihrer Nestbezirke der gewöhnliche Weg für die Fortpflanzung des Stammes nicht in der Bildung neuer Kolonien, sondern viel- ‚mehr neuer Zweigkolonien besteht, dürften hier einige Tage- buchnotizen über „Riesennester“ der F. rufa von Interesse sein.

Vom 3. September 1889 habe ich folgende Beobachtung notiert (Exaten): Ein großer Haufen von F. rufa, der zwischen Birken sich befand, hat sich jetzt, nachdem die Bäume vor mehreren Wochen abgehauen worden waren, in zwanzig, zum Teil sehr weit vom Mutterneste entfernte Tochternester gespalten, die noch unter- einander in enger Verbindung stehen. Das am weitesten gelegene neue Nest ıst 30 m vom alten entfernt. Letzteres ıst noch be- wohnt, aber vıel schwächer, so dass es bereits sich stark einzu- senken beginnt durch den Regen.

Bei Exaten beobachtete ich ferner 10 Jahre lang eine vwfa- Kolonie in einem Eichengebüsch, die im Juli 1893 einen Haufen von 9 m Umfang besaß. Sieben dicht bevölkerte Straßen führten nach verschiedenen Richtungen in die benachbarten Eichen- und Kieferngebüsche, manche derselben über 30 m weit vom Neste. Wegen seiner schattigen Lage hatte der Haufen eine bedeutende Höhe. Ich schätzte die Zahl der Ameisen nach der Bevölkerung der Straßen auf einige Millionen. Nachdem eine Kiefer, welche dem Nest Schatten gewährte, ım Winter 1894—95 gefällt worden war, be- gannen die rufa ım Aprıl 1895 auszuwandern und Tochternester an- zulegen. Am 26. Mai hatte das alte Nest, weil es um die den Sonnen- strahlen ausgesetzte Fläche zu vermindern, nun viel flacher gebaut war als früher, einen Umfang von 14 m erreicht, wobei der äußere Erdwall, den die Ameisen durch die herausgeschaffte Erde auf- gehäuft, gemessen wurde. Am 8. Juli 1895 waren vom Haupt- neste aus schon sechs Zweignester ın verschiedenen Richtungen gegründet, in Entfernungen von 6—30 m vom Mutterneste; letzteres war bereits etwas eingesunken. Im September desselben Jahres betrug die Zahl der Zweignester schon neun, von denen jedes einen

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ansehnlichen Haufen, meist um einen Eichenstrunk angelegt, dar- stellte. Im Sommer 1896 war das Eichengebüsch, das zwei Jahre vorher gekappt worden war, soweit nachgewachsen, dass es dem alten Nest wiederum hinreichenden Schatten gewährte. Die Mehr- zahl der Ameisen war deshalb wieder zum Mutterneste zurück- gewandert. Dasselbe maß jetzt 16 m im äußeren Umfange seines Erdwalls, der aus Holzmaterial bestehende Haufen selber 9 m im Umfange bei 1 m Höhe. Am 29. Juni 1904 traf ich im „Baum- busch“ bei Luxemburg ein ähnliches Riesennest von rufa, das rings um eine kleine Tanne in einem Tannengebüsch angelegt war. Hier betrug der Umfang des Erdwalles, genau gemessen, 15 m, die höchste Höhe des eigentlichen Nesthaufens 1,5 m. Den Basal- umfang des letzteren ebenso zu messen war nicht möglich, weil man bei jedem Schritt in Gefahr war, bis an die Knie in die unter- irdische Nesthöhlung zu versinken, während die Millionen von Ameisen mich und meinen Assistenten (K. Frank S. J.) wütend anfielen. Eine der vom Nest ausgehenden Straßen konnte ich 40 m weit in einem Buchenwald am Bergabhang verfolgen.

Dass F. rufa manchmal auch Riesenkolonien bildet, die aus sehr vielen volkreichen Nestern bestehen und ein Gebiet von über 10000 qm beherrschen können, zeigt folgendes Beispiel. 3

Bei der Ortschaft Derenbach, 3 km von Göbelsmühl (im Osling, N. Luxemburg), fand ich mit Herrn V. Ferrant, Konservator am Naturh. Museum zu Luxemburg, am 11. August 1904 einen wahren „Ameisenberg“ von F. rufa. Der Bauer, der uns zu demselben führte, bemerkte naiv, alle Ameisen des Ösling hätten sich hier ein ‚Stelldichein gegeben. Auf einer Länge von ca. 200 m und einer Breite von ca. TO m war der ganze, mit Eichengebüsch be- wachsene, östliche Abhang und der Kamm des Berges mit Nestern von F. rufa bedeckt, welche meist mehrere Meter voneinander lagen und im ganzen über 50 betrugen. Die Nester waren durch Ameisenzüge untereinander verbunden, bildeten also eine einzige Riesenkolonie. Die Nester am Bergabhang waren normale rufa- Haufen, deren Grundlage jedoch teilweise aus Felsplatten bestand, über denen die Ameisen den Haufen gebaut hatten. Die Nester auf dem steilen, felsigen Kamm des Berges waren jedoch sämtlich „Felsnester“, d. h. unter losen Felsplatten oder zwischen solchen angebracht!) und nur von einem kleinen Haufen überragt. Es scheint sich hier um ein sehr altes rufa-Gebiet zu handeln, wo von einem Neste aus allmählich durch Zweignestbildung der ganze Berg durch eine einzige, viele Millionen von Individuen zählende Kolonie besetzt wurde. Am Westabhange des Berges befanden

1) Nach Mitteilung von V. Ferrant ist das Gestein dieses Berges eine blätterige Grauwacke, aus quarzhaltigen Phylladen gebildet.

198 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

sich nur einige wenige Nester, ebenfalls durch Ameisenzüge mit den Nestern auf dem Kamme verbunden.

Für die befruchteten Weibchen von F. rufa ist somit nur dann die Notwendigkeit vorhanden, bei fremden Ameisen Aufnahme zu suchen, wenn sie beim Paarungsfluge so weit von ihrer Heimat verschlagen worden sind, dass sie Arbeiterinnen der eigenen Kolonie nicht mehr begegnen. Wie schon oben bemerkt wurde (S. 195), folgt daraus keineswegs eine absolute Inzucht für die Paarung der geflügelten Geschlechter einer Kolonie; denn bei dem großen Um- fang des von einer starken rufa-Kolonie beherrschten Gebietes können leicht Männchen fremder Kolonien an der Paarung mit den Weibchen jener Kolonie sich beteiligen. Aber wie geht es jenen rufa-Weibcehen, welche beim Paarungsfluge in ein fremdes rufa-&ebiet geraten und mit Männchen der letzteren Nester sich paaren? Dass sie von Arbeiterinnen der fremden Kolonie dann als Königinnen angenommen werden, ist ziemlich wahrscheinlich. Schon ım April 1884 wurden ın einem Beobachtungsneste von rufa, dem ich keine Königin beigegeben hatte, mehrere Königinnen aus einer fremden rufo-pratensis-Kolonie, die ich hineinsetzte, von den rufa fast unmittelbar aufgenommen und wie eigene Königinnen behandelt; sie begannen bald eine Masse Eier zu legen, die von den rufa gepflegt wurden. Ferner findet man manchmal in einer rufa- oder pratensis-Kolonie, namentlich aber in Nestern der Misch- rassen rufo-pratensis, rufo-truncieola ete. Königinnen von rufa- und pratensis- bezw. truncicola-Färbung nebeneinander vor. In der schwachen, alten pratensis-Kolonie Nr. 4 bei Luxemburg, welche durch die Pflege von Atemeles pratensoides stark heruntergekommen war und auch Pseudogynen besaß, fand ich im April 1904 sieben alte Königinnen, von denen fünf die pratensis-Färbung besaßen (Hinterleib matt durch graue Pubeszenz)j, eine die rufa-Färbung (Hinterleib stark glänzend), eine sogar eine Mischung von pratensis- Färbung mit der hellen, mit rot gemengten trumncicola-Färbung. Hier waren somit, um den Rückgang der Arbeiterzahl der pratensis- Kolonie auszugleichen, Königinnen nicht etwa bloß von fremden Kolonien derselben Rasse, sondern auch solche von ganz verschiedenen Rassen (rvfa und truncicolo-pratensis) im eine pratensis-Kolonie aufgenommen worden! Wir müssen daher für die Frage, welche Aussichten die befruchteten Weibchen der rufa- Gruppe haben, nach dem Paarungsfluge auch dann zur Fortpflan- zung ihres Stammes zu gelangen, wenn sie Nester ihrer eigenen Kolonie nicht wiederfinden, diesen neuen wichtigen Faktor berück- sichtigen: nämlich die Aufnahme einer solchen Königin in eine fremde Kolonie derselben oder sogar einer anderen Rasse der rufa-Gruppe.

Wie verhalten sich aber jene Königinnen, welche nach dem

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Paarungsfluge kein Nest der r«fa-Gruppe finden, wo sie Aufnahme erhalten könnten? Gründen sie dann ihre neue Kolonie allein oder mit Hilfe von f«sca-Arbeiterinnen, bei denen sie sich auf- nehmen lassen, um eine Adoptionskolonie mit ihnen zu bilden? Ich neige zur letzteren Ansicht, obwohl tatsächliche Beweise für diesen Vorgang bei rufa noch ganz fehlen, bei pratensis sehr spär- lich sind. Allerdings traf ich wiederholt auch fusca in rufa-Nestern an. So am 13. Juli 1886 bei Exaten, wo in einem alten rıfa-Haufen eine starke Kolonie von fusca sich nachträglich eingenistet hatte, obwohl die ra den Hauptteil des Nestes noch bewohnten. Ähn- liches sah ich in einem kleinen, halbverlassenen rzfa-Haufen bei Linz am Rhein am 7. September 1893, wo bei oberflächlicher Be- trachtung eine gemischte Kolonie vorzuliegen schien, indem die fusea ungestört durch die rrfa hindurchliefen. Als ich jedoch Ameisen beider Arten in ein Beobachtungsglas zusammensetzte, vertrugen sie sich nicht, und zwar waren die fısca die Angreifer, welche wiederholt eine rzfa an einem Vorderbeine umherzerrten. Daher müssen wir auch in diesem Falle annehmen, dass es sich bloß um eine zufällige Form zusammengesetzter Nester gehandelt habe.

Für F. pratensis gilt zwar im allgemeinen dasselbe wie für F.rufa. Auch in alten pratensis-Kolonien ist die Zahl der Königinnen oft eine beträchtliche; Nester mit 6-8 Königinnen sind gar keine Seltenheit. Das ist wohl, wie bei r«fa, meist daraus zu erklären, dass nach dem Paarungsfluge befruchtete Weibchen derselben Kolonie von den Arbeiterinnen in das Heimatnest zurückgebracht werden; denn junge pratensis-Kolonien haben gewöhnlich nur eine einzige Königin.

Immerhin liegen für F. pratensis schon einige tatsächliche Anhaltspunkte vor, welche zeigen, dass wenigstens manchmal eine pratensis-Königin nach dem Paarungsfluge bei ganz fremden Formica-Arten sich adoptieren lässt, um mit diesen eine neue Kolonie zu gründen. Am 8. September 1887 fand ich bei Exaten am Fuß eines alten Eichenstrunkes eine kleine gemischte Kolonie, aus Arbeiterinnen von fusca und pratensis bestehend'). Leider stellte ich damals nicht fest, welche Königin sich in dem Neste befand. Aber es ist sehr wahrscheimlich, dass es um eine Adoptionskolonie sich handelte, welche dadurch entstanden war, dass eine pratensis-Königin in einer weisellosen fusca-Kolonie aufgenommen worden war. Seitdem ich die Entwickelung der jungen fruncieola-fusca-Kolonien vom Stadium 1-—-3 in den letzten Jahren verfolgt habe, ist mir diese Erklärung für jene pratensis-fusca-Kolonie

l) Vgl. die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien, 1, Aufl., S. 173 ff.

300 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

fast zur Gewissheit geworden; denn auch das Benehmen jener pratensis gegenüber Atemeles emarginatus entsprach vollkommen demjenigen der durch frsca erzogenen truncicola, mdem sie diesen Käfer, der sonst bei pratensis unfehlbar sofort in Stücke gerissen wird, ohne Schwierigkeit aufnahmen und gleich den fausca gastlich pflegten. Auch Forel erwähnt schon in seinen Fourmis de la Suisse (S. 373) eine kleine gemischte Kolonie pratensis-fusca, die er am 30. August 1571 auf dem Gipfel des Mont Tendre fand.

Bei F. pratensis besitzen wir daher ein festes Fundament für die Annahme, dass ısolierte Königinnen dieser Art wenigstens manchmal in fusca-Kolonien Aufnahme suchen und finden, und zwar am wahrscheinlichsten in solchen, die bereits weisellos geworden sind durch den Verlust ihrer eigenen Königin. Auf die gemischten Kolonien von F. pratensis mit sangwinea und fusca zugleich werde ich unten bei F. sanguinea zurückkommen. Hier sei nur bemerkt, dass nach meinen Beobachtungen bei Exaten in zwei verschiedenen sanguinea-Kolonien die Aufnahme einer pratensis-Königin in freier Natur erfolgte. Bei F\. fusca wird sie aber ohne Zweifel leichter aufgenommen als bei den außerordentlich kampflustigen sangwinea.

Über F. exsecta und pressilabris kann ich aus eigener Beob- achtung nichts über die Mischung ihrer Kolonien mit fasca be- richten. Allerdings traf ich bei Linz am Rhein wiederholt fusca ın verlassenen oder fast verlassenen exsecta-Haufen einquartiert; aber hier handelte es sich höchstens um eine zufällige Form zu- sammengesetzter Nester, nicht um eine gemischte Kolonie. Da- gegen erwähnt Forel in seinen klassischen und sehr inhaltreichen Fourmis de la Suisse (S. 371) bereits drei gemischte Kolonien von F! fusca mit exsecta, und zwar einmal mit der typischen ersecta, einmal mit der Var. rubens For., und einmal mit der Var. exsecto- pressilabris For. Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass F! ex- secta in ähnlicher Weise ıhre Kolonien gründet, wie ich es für truncicola festgestellt habe, nämlich dadurch, dass die isolierte Königin in einer frsca-Kolonie sich aufnehmen lässt.

4. Die Raub- und Adoptionskolonien von F\. sanguwinea.

Ich komme nun zu den eigentlichen sklavenhaltenden Formicinen, zu Formica sanguwinea und Polyergus rufescens. Hier wird erst die ganze Tragweite der von mir an F\ truneicola an- gestellten Beobachtungen klar werden und über den Ursprung des Sklavereinstinktes Licht verbreiten.

Denn es wird sich zeigen: Dass die Raubkolonien der sklavenhaltenden Ameisen in ihrer Jugend regelmäßig Adoptionskolonien sind, und dass der normale Sklaverei- instinkt der betreffenden Raubameisen sich auf dieselben Sklavenarten bezieht, mit deren Hilfe die Raubameisen-

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 201

kolonie ursprünglich gegründet und die ersten Arbeiter- innen derselben erzogen worden sind. Dadurch ist der sonst unbegreifliche Instinkt der sklavenhaltenden Ameisen, die Arbeiter- puppen bestimmter fremder Arten als Hilfsameisen für ihre eigene Kolonie zu erlangen, seines geheimnisvollen Charakters entkleidet und auf eine verhältnismäßig einfache Weise erklärt.

Formica sanguinea, die „blutrote Raubameise“, neigt nach meinen zwanzigjährigen Beobachtungen in noch höherem Grade als rufa und pratensis zur Zweigkoloniebildung, d. h. zur Zer- splitterung der Kolonie durch Auswanderung eines Teiles derselben. In meiner Statistik von 410 sangsinea-Kolonien bei Exaten werde ich später darüber Näheres berichten. Nur wenige Kolonien haben bloß ein Nest, die meisten mehrere, die oft weit voneinander ent- fernt sein können. Ferner streifen vereinzelte Arbeiterinnen von sangunnea in sehr weitem Umkreise um ihr Nest umher, oft bis auf 30 und mehr Meter Entfernung und kennen trotzdem den Rückweg zu ihrem Neste genau. Daher kann es leicht geschehen, dass sie nach dem Paarungsfluge einem befruchteten Weibchen der eigenen Kolonie begegnen und dasselbe entweder zu einem der Heimatnester zurückbringen oder mit ihm ein neues Zweignest gründen. Dadurch wird offenbar den isolierten Königinnen von sanguinea, die nach dem Paarungsfluge umherlaufen, die Gründung neuer Nester sehr erleichtert; denn wenn sie Arbeiterinnen der eigenen Kolonie!) begegnen, haben sie es nieht nötig, in Nestern der Hilfsameisen Aufnahme zu suchen.

Aus der Neigung der sanguinea zur Zweignestbildung erklärt sich, weshalb man in den Nestern dieser Ameise oft nur eine, oft auch zwei, seltener drei oder mehr Königinnen findet. Ich traf zwar auch (bei Exaten) Nester mit 6—8 Königinnen. Aber dieses waren stets solche alte Kolonien, die durch die Pflege der Lome- chusa-Larven bereits degeneriert waren und daher auch viele Pseudogynen besaßen. Indem durch die Lomechusa-Larven die Ameisenbrut Jahr für Jahr großenteils vertilgt wird, geht die In- dividuenzahl der Kolonie zurück und die Zweigkolonien vereinigen sich wiederum allmählich in einem einzigen Neste, das dann mehrere Königinnen besitzt, die aber manchmal alle ziemlich mager und heruntergekommen aussehen.

Wie gründet aber ein nach dem Paarungsfluge weit von der Heimat verschlagenes sangwinea-Weibchen seine neue Kolonie? Trotz der Häufigkeit dieser Raubameise bei Exaten und trotz der Sorgfalt, mit der ich die ganze Gegend durchforschte, ist es mir nie gelungen, eine ganz junge, selbständige, ungemischte

1) Ich sage der eigenen Kolonie; denn in fremden sanguinea-Kolonien werden sie meist mit großer Heftigkeit angegriffen und getötet.

202 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

sanguwinea-Kolonie zu finden. Auch die jüngsten Kolonien be- saßen bereits Hilfsameisen (meist fzsca) und zwar auffallend viele. Andererseits traf ich häufig nach dem Paarungsfluge von sanguinea vereinzelte entflügelte Weibchen in unmittelbarer Nähe von Sklavennestern (fusca oder rufibarbis) versteckt. Es ist mir allerdings noch nicht geglückt, junge sanguinea-fusca-Kolonien vom Stadium 1 der frumneicola-fusca-Kolonien zu finden, in denen nur eine sanguinea-Königin mit fusca-Sklaven zusammenlebte. Trotz- dem muss es auch solche Kolonien geben, und sie entziehen sich nur der Beobachtung durch die versteckte Lebensweise von fusca und durch die kurze Dauer der Stadien 1 und 2. Kolonien, die dem Stadium 3 der trunecicola-fusca-Kolonien entsprechen, kenne ich aus eigener Beobachtung.

Da F. sangwinea eine regelmäßige Sklavenräuberin ist, bietet es große Schwierigkeit, zwischen den primär und den sekundär gemischten Kolonien dieser Art zu unterscheiden. Als primär gemischte Kolonien bezeichne ich jene ganz jungen Kolonien, Haldız noch niemals Sklavenpuppen geraubt eben sondern deren Mischung durch Adoption eines sangwinea- „Weibchens in einer ehemals selbständigen Kolonie der Sklavenart entstanden ist. Als sekundär gemischte Kolonien dagegen bezeichne ich jene, welche wenigstens einen Teil ihrer Hilfsameisen bereits durch Sklavenraub besitzen. Erstere sind reine Adoptionskolonien, letztere Raubkolonien, die sich aus ursprünglichen Adoptions- kolonien ontogenetisch entwickelt haben.

Ohne Zweifel gehören weitaus die meisten gemischten Kolonien von sangwinea, welche als normale Hilfsameisen F. fusca oder rufi- barbis oder (im südlichen Mitteleuropa) cinerea!) oder mehrere dieser Arten zugleich enthalten, zu der letzteren Klasse. Darüber lässt meine Statistik der onen bei Exaten ın Holland und neuer- dings bei Luxemburg keinen Zweifel. Auch die von mir festgestellte Tatsache, dass beı sanguinca die Zahl der Herren zur Zahl der Sklaven durchschnittlich ım umgekehrten Verhältnisse steht, lässt sich, wie schon wiederholt ausgeführt wurde?), nur dadurch erklären, dass die schwächeren und mittelstarken sangzuinea-Kolonien mehr Sklaven rauben als die sehr starken. Unter 40 Kolonien findet sich durchschnittlich nur eine, und zwar jedesmal die stärkste, welche völlig sklavenlos ist; dies konnte ich bei Exaten wie bei Luxemburg übereinstimmend feststellen.

Aber sollte es nicht unter den jungen, noch schwächeren sanguinea-Kolonien, die eine große Zahl von Hilfsameisen be- sitzen, auch solche geben, die noch rein primär gemischt sind

1) Nach Sahlberg in Finnland auch 7. gagates. 2) Vgl. die zusammengesetzten Nester ete. 1. Aufl., S. 49—50; Vergleichende Studien über das Seelenleben der Ameisen etc. 2. Aufl., S. 5lff.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 203

und daher reine Adoptionskolonien darstellen, die noch nicht zu Raubkolonien geworden sind?

Wenigstens zwei Fälle aus meinen Beobachtungen bei Exaten glaube ich in der Tat nur in diesem Sinne erklären zu können, näm- lich als Adoptionskolonien im Stadium 3. Am 23. Mai 1889 fand ich eine sehr kleine Kolonie, die nur sehr wenige sanguwinea- Arbeiterinnen, aber viele fasca-Arbeiterinnen enthielt, und zwar im Zahlenverhältnis von 1:20. Über die sangwinea-Königin habe ich nichts notiert, da ihr Vorhandensein mir damals selbstverständ- lich war. So viel ich mich erinnern kann, sah ich die sanguinea- Königin in jenem Neste. Eine fasca-Königin war jedenfalls nicht vorhanden, da ich es sonst eigens bemerkt haben würde. Dass jene Kolonie eine reine Adoptionskolonie darstellte, halte ich für sicher, weil die Zahl der sangwinea noch viel zu klein war, um aus einem fasca-Neste Puppen rauben zu können. Am 15. September 1887 fand ich ebenfalls bei Exaten eine kleine sangwinea-fusca- Kolonie, in welcher die sangwinea-Arbeiterinnen höchstens 100, die fusca-Arbeiterinnen, lauter sehr große und schöne Individuen, etwa 200 betrugen. Die Königin war ein sanguwinea-Weibchen, die sanguinea-Arbeiterinnen durchschnittlich klem und teilweise noch unausgefärbt, die frrsca dagegen sämtlich vollkommen ausgefärbte alte Individuen. Auch diese Kolonie müssen wir daher als reine Adoptionskolonie vom Stadium 3 auffassen.

Als Beispiel einer Kolonie, welche wahrschemlich primär und sekundär zugleich gemischt war, indem viele von den alten fusca noch lebten, während die sangwinea bereits angefangen hatten, fusca-Puppen zu rauben, nenne ich die sangıinea-fusca-Kolonie Nr. 37 meiner Statistik bei Exaten. Sie wurde am 23. April 1895 in einem Erdneste entdeckt, das mit einer Heidekrautscholle belegt wurde; es war damals eine ziemlich starke sanguinea-Kolonie, von völlig gesunder (pseudogynenfreier) Rasse, deren sangwinea-Ar- beiterinnen meist mittelgroß waren, also eine wenigstens zwei Jahre alte Kolonie, mit zahlreichen frsca-Sklaven. Auch im Frühling 1896 fiel mir die große Menge der fausca in diesem Neste auf. Vom 23. Aprıl 1896 habe ich notiert: „Zahl der fasca zu den sangwinea ungefähr wie 4: 1!!). Unter den fusca dieser gemischten Kolonie ein Atemeles emarginatus.“ Am 26. Mai war eine Menge großer

1) Aus diesem Befunde allein darf nicht auf die wirkliche Prozentzahl der fusca geschlossen werden, weil im Beginn des Frühlings die sanguinea oft noch zum Teil in der Tiefe des Nestes sitzen (vgl. die bei Kolonie Nr. 35 folgenden Be- obachtungen). Die relative Zahl der fusca in der Kolonie 37 im Mai und Juni desselben Jahres stellte sich auf etwa 40°/,. Die erhöhte Prozentzahl der fusca im Beginn des September ist auf Rechnung der Sklavenjagden jenes Sommers zu setzen, teilweise wohl auch auf Rechnung der Auswanderung eines Teiles der sanguinea mit einer relativ geringen Anzahl fusca (s. oben Kolonie Nr. 256).

204 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

weiblicher Larven und Kokons von sanguinea vorhanden, am 2. Juni viele weibliche Kokons. Am 3. September enthielt das Nest noch sehr viele Arbeiterkokons von sanguinea, unter den sanguinea-Ar- beiterinnen waren nur wenige, die durch ihre mangelhafte Aus- färbung als ganz frisch entwickelt sich bekundeten. Die Zahl der fusca betrug jetzt unter der einen der beiden Nestschollen 40—50°/, der Gesamtzahl der Ameisen, unter der anderen 60—70°/,, darunter manche unausgefärbte, die also sicher von einem diesjährigen Puppenraub stammten. Wir dürfen daher wohl als ziemlich sicher annehmen, dass die große Zahl der fusca dieser Kolonie im Jahre 1896 aus doppelter Quelle stammte, aus primärer Mischung (Adoptionskolonie) und aus sekundärer Mischung (Raubkolonie).

Am 29. April 1897 besuchte ich die Kolonie Nr. 37 wieder. Sie war erheblich schwächer geworden als 1896, nur noch mittel- stark, mehrere hundert sangrinea mit etwa 20—30°|, fusca ent- haltend. Die alten, aus der primären Mischung der Kolonie stammenden fusca mussten jetzt schon alle gestorben sein; daher die auffallende größere Abnahme der relativen fusca-Zahl im Ver- gleich zur Abnahme der sangwinea-Zahl. Wie letztere bei der jungen, kräftigen Kolonie zu erklären ist, deuten andere Notizen von demselben Tage an. Ich fand nämlich mehrere Meter weiter nach Süden ein neues sanguinea-Nest, das ıch damals als neue Kolonie Nr. 256 ın die statistische Karte eintrug, weil ich in dem dichten Heidekraut- und Ginstergebüsch keinen aktuellen Zusammen- hang mit dem Neste von Nr. 37 zu finden vermochte!). Nr. 256 besaß über dem Erdnest einen oberirdischen Nesthaufen aus Pflanzen- material (Heidekrautblättern) und war eine ziemlich starke Kolonie von derselben mittelgroßen bis großen sangıinea-Rasse, wie Kolonie Nr. 37, hatte aber ungefähr 15°/, Sklaven, von denen 10°/, fusca und 5°, rufibarbis waren. Am 6. Maı 1897 fand ich abermals mehrere Meter von 256 entfernt?) ein neues sanguwinea-Nest, das damals keine Verbindung mit 256 zeigte und deshalb als Kolonie 265 eingetragen wurde; es war eine mittelstarke Kolonie von der-

1) Die Verbindung zwischen Zweignestern derselben Kolonie wird überhaupt bei F\, sangwinea nicht durch Arbeiterzüge andauernd aufrecht erhalten wie bei F', rufa und pratensis, sondern bleibt oft wochen- und monatelang völlig unter- brochen, bis plötzlich wieder ein Umzug von einem Neste in das andere erfolgt. Vgl. meine Beobachtungen über Kolonie 305 der sangwinea-Kolonien bei Exaten in der Arbeit „Zum Örientierungsvermögen der Ameisen“ (Allgem. Zeitschr. f. Entomol. 1901, Nr. 2 und 3), S. 20 und 21. Dadurch wird auch die Feststellung der wirklichen Kolonienzahl bedeutend erschwert. Von den 410 im Laufe einer fünfjährigen Statistik bei Exaten aufgezeichneten sanguinea-Kolonien stellten sich viele später als Zweignester anderer Nummern heraus, so dass von der wirklichen Zahl der Kolonien wohl über hundert abzuziehen sein dürften.

2) Die Entfernung zwischen 256 und 265 war um einige Meter größer als zwischen 256 und 37. Die drei Nester lagen in einem ungleichseitigen Dreieck.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 905

selben Rasse wie 256 mit denselben beiden Sklavenarten und mit derselben Prozentzahl beider wie ın Nr. 256. Am 11. Juni 1897 war die ganze Kolonie von 256 nach 265 übergesiedelt, das sich jetzt als ein Zweignest von 256 herausstellte und unterdessen zum Haupt- neste geworden war, von einer starken Kolonie bewohnt und von einem (für sangıinea) ansehnlichen Nesthaufen überragt. Da zu derselben Zeit die nahe bei 256 gelegene Kolonie Nr. 37 durch Aufzucht einer großen Zahl geflügelter Weibchen und Arbeiterinnen als in der kräftigsten Entwickelung befindlich sich erwies, obwohl das Nest sich zusehends entvölkerte, müssen wir annehmen, dass Nr. 256 und 265 später gegründete Zweigniederlassungen von dem alten Neste Nr. 37 waren. Das Zweignest 256 muss schon im Sommer 1896 angelegt worden sein, weil es ım April 1897 außer fusca bereits rufibarbis als Sklaven hatte, die 1596 aus einem be- nachbarten rufibarbis-Nest geraubt worden sein müssen. Ich will nun noch kurz die weiteren Schicksale von Nr. 37 erwähnen.

Im April und Mai 1897 betrug die Zahl der fusca ın dem im Vergleich zu 1896 erheblich individuenärmeren Neste 20—30°/,. Am 11. Juni fand ıch unter einer der Heidekrautschollen, die das Nest bedeckte, etwa 70°/, fusca mit nur 30°), sanguwinea, sanguinea-Larven verschiedener Größe und drei Hetaerius ferrugineus. Unter einer anderen, ?/, m weiter gegen Nr. 256 hin gelegenen Scholle des- selben Nestes, die durch einen unterirdischen Gang mit der ersteren Scholle verbunden war, saßen dagegen mehrere hun- dert sanguinea mit vielen großen (weiblichen) Kokons und nur 5°, fusca. Am 1. Juli waren unter der letzteren Nestscholle eine Menge bereits ausgefärbter, normaler geflügelter Weibchen von sanguinea und viele Arbeiterkokons derselben Art, aber fast gar keine fusca-Arbeiterinnen. Unter der ersteren Scholle dagegen, wo 1895 ursprünglich die sanguinea-fusca-Kolonie Nr. 37 gewohnt hatte, waren bei den sangwinea-Arbeiterinnen zahlreiche fusca (ca. 25°/,) und hatten eine erwachsene Larve von Atemeles emarginatus bei sich. Am 8. Juli war eine große Zahl frischentwickelter sanguinea- Arbeiterinnen unter beiden Schollen des Nestes Nr. 37 zu sehen.

Anfang April 1898 bauten die Ameisen ıhr Nest Nr. 37 neu aus, wobei die sangıinea sich eifrig beteiligten. Am 21. April fand ich wieder einen Atemeles emarginatus unter den fusca sitzend. Am 28. April war die Kolonie jedoch ausgezogen; nur eine einzige sanguinea saß unter einer der beiden Nestschollen, unter der an- deren eine Kolonie von Myrmica scabrinodis. Am 4. Mai war die Kolonie wieder zurückgekehrt und zwar in etwas größerer Zahl als 1897, aber schwächer als 1896; fusca sah ich etwa 30°/, unter den Schollen; das Myrmieca-Nest war verschwunden. Im Juni wurde das Nest jedoch wieder allmählich von der sanguwinea-fusca- Kolonie verlassen, und zwar diesmal dauernd; am 30. Juni waren

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nur noch einige sangruinea zu sehen unter der gegen 256 zu ge- legenen Nestscholle; unter der anderen Scholle war eine Kolonie von Tetramorium caespitum eingezogen, und unter einem Stein, den ich auf das alte Nest gelegt hatte, eine Kolonie von Lasius niger, zwischen Lasius und Tetramorium fanden fortwährende Kämpfe statt. Am 1. September war auch die zweite Nestscholle von den sanguinea völlig geräumt und bedeckte gleich der anderen ein Tetramorium-Nest; unter dem Steine hausten immer noch die Lasius. Bemerkenswert ist, dass zu derselben Zeit im Frühjahr 1898, als die sangurinea-fusca das Nest Nr. 37 endgültig verließen, auch das sangwinea-rufibarbis-fusca-Nest Nr. 265 verlassen wurde. Es ging gleich dem schon 1597 geräumten Neste Nr. 256 in den Besitz von Tetramorium über. Die sanguinea dieser zusammen- gehörigen Nester waren also gemeinsam ausgewandert und ich konnte in dem dichten Heidekrautgestrüpp des Kiefernbusches die neue, wahrscheinlich weit entfernte Niederlassung nicht finden.

Fassen wir das wahrscheinliche Ergebnis der Beobachtungen an den Nestern Nr. 37, 256 und 265 kurz zusammen. Die be- treffende sanguinea-Kolonie war in dem Neste Nr, 37 als Adoptions- kolonie entstanden, indem eine sangeinea-Königin in einer (wahr- scheinlich weisellosen) fusca-Kolonie Aufnahme fand. 1896 waren schon zu den alten fasca neue hinzugekommen durch Sklavenraub; die Adoptionskolonie sangwinea-fusca war zu einer Raubkolonie sanguinea-fusca geworden. In demselben Jahre war die Zweignieder- lassung Nr. 256 entstanden und zwar als eine dreifach gemischte Kolonie sanguinea-fusca-rufibarbis; wahrscheinlich hatte ein Teil der Raubkolonie sanguinea-fusca Nr. 37 in einem von den sangwinea ausgeraubten ruföbarbis-Neste sich niedergelassen mit den erbeuteten rufibarbis-Kokons; so erklärt es sich am leichtesten, weshalb ich niemals eine rufibarbis ım Neste Nr, 37 fand. Später war dann das neue Nest Nr. 265 von den sangwinea-fusca-rufibarbis, die aus 256 auszogen, gegründet worden.

Aus meiner Statistik der sanguinea-Kolonien bei Exaten sei hier noch kurz die Kolonie Nr. 35 berücksichtigt, welche ebenfalls (wie Kolonie 87) auffallend viele fusca enthielt, aber keine junge, sondern eine alte Kolonie war, eine im Niedergang begriffene, sekundär gemischte Raubkolonie, ın welcher die große relative Zahl der fusca-Sklaven ganz anders zu erklären ist als bei einer jungen Kolonie. |

Schon im April 1895 hatte die kaum mittelstarke Kolonie etwa 3°, Pseudogynen unter den sanguinea, ein sicheres Zeichen, dass es sich um eine alte, durch Zomechusa-Zucht heruntergekommene Kolonie handelte; fusca sah ich damals unter den auf das Nest gelegten Haidekrautschollen 50—60°/,, in den folgenden Monaten jedoch weniger (etwa 20°/,), weil im Beginn des Frühlings noch

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 207

viele sangainea tiefer ım Neste sitzen. Im Jahre 1896 waren die fusca sehr zahlreich, während die sangainea-Zahl sich bereits erheblich vermindert hatte. 1897 war die Kolonie bereits schwach zu nennen, und enthielt etwa 30 °/, Pseudogynen unter den sangwinea wegen der im vorigen Jahre erzogenen Lomechusa-Larven. Am 5. Maı betrug die Zahl der fusca etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Am 14. Mai und 9. Juli hatte die Zahl der sangwinea noch mehr abgenommen, so dass unter der einzigen Nestscholle, die noch be- wohnt war, etwa 50°/, fusca sich zeigten. Es wurden wiederum Lomechusa-Larven erzogen, neue Pseudogynen entwickelten sich, und die Zahl der sangwinea war Ende August wiederum erheblich gesunken. Am 24. April 1898 konnte ich das Nest ganz unter- suchen, da es nur noch unter und in einer einzigen Heidekraut- scholle sich befand; es waren vorhanden 3 Königinnen, 2 Lome- chusa, kaum 100 sangwinea-Arbeiterinnen, darunter etwa 40°), Pseudogynen, ferner ca. 300 fusca-Sklaven. Noch größer war die relative Zahl der fasca unter einer Nestscholle am 3. Mai, wo auf 10 sangwinea 60-70 fusca kamen; unter der anderen Scholle waren die sanguinea etwas zahlreicher. Im Sommer 1898 verschwand die Kolonie, und Tetramorium-Nester vertraten ıhre Stelle.

Bei der Kolonie 35 haben wir es offenbar mit einer durch Lomechusa-Zucht allmählich ruinierten alten Kolonie zu tun. Die 1895 vorhandenen fusca-Sklaven stammten aus den Raubzügen der damals noch hinreichend kräftigen Kolonie. Die Zunahme der relativen Sklavenzahl in den folgenden Jahren erklärt sich einfach durch das Aussterben der sanguinea.

Betrachten wir noch die Sklavenverhältnisse in zweı starken sanguinea-fusca-Kolonien bei Exaten, Nr. 80 und 194, Beide lagen außerhalb des Lomechusa-Gebietes, waren vollkommen gesund, von mittelgroßer bis großer Rasse der sanguinea-Arbeiterinnen und in der kräftigsten Entwickelung begriffen. Während in den meisten übrigen sangwinea-Kolonien von derselben Stärke viele tausend sanguinea-Arbeiterinnen höchstens 3—5°/, fusca sich fanden, war hier die Sklavenzahl eine erheblich größere. Kolonie Nr. 80 hatte 1897 und 1898 ungefähr 10—15°/, fusca, Kolonie Nr. 194 ın den- selben Jahren 15—20°/, fusca. Hier ist der Sklavenreichtum der Kolonien dadurch zu erklären, dass ıhre Nester an einer Eichen- allee neben dichtem Birkengebüsch lagen, wo die fusca-Nester sehr häufig waren und zudem die Verproviantierung der sanguwinea- Kolonien durch die Blattlauszucht der fasca-Sklaven hauptsächlich besorgt wurde. Deshalb raubten diese Kolonien mehr Sklaven als ähnliche Kolonien von gleicher Stärke zu tun pflegen. Da beide sangwinea-Kolonien wenigstens schon 5-6 Jahre alt sein mussten, waren dieselben sicherlich ausschließlich sekundär ge- mischt.

308 \Vasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

Diese Beispiele dürften genügen, um zu zeigen, wie mannig- fache Faktoren zu berücksichtigen sind, wenn man die Sklaven- verhältnisse einer sanguinea-Kolonie richtig beurteilen und er- klären will, selbst dann, wenn die Sklaven der gemeinsten normalen Hilfsameisenart angehören.

Fassen wir nun die Ergebnisse dieser Beobachtungen an den sanguinea-fusca-Kolonien kurz zusammen:

1. Ganz junge sanguwinea-fusca-Kolonien, welche eine größere Zahl fusca als sangwinea besitzen, sind sicher als 1-—-2jährige Adoptionskolonien zu betrachten und erst primär gemischt. Vom 3.—4. Jahre an sind keine alten fusca mehr vorhanden und die Kolonie verschafft sich durch Sklavenjagden neue Hilfs- ameisen derselben Art; sie wird somit zu einer sekundär ge- mischten Raubkolonie. Dreijährige Kolonien können zugleich primär und sekundär gemischt sein.

2. Bei schwachen bis mittelstarken sangwuinea-fusca-Kolonien muss man genau zusehen, ob man es mit einer jungen, im Zuwachs begriffenen oder mit einer alten, im Aussterben begriffenen Kolonie zu tun hat. Die Zunahme oder Abnahme der sangwinea-Zahl, die Erziehung vieler geflügelter Weibchen (ein Zeichen jugendlicher Lebenskraft der Kolonie) und die Erziehung von Pseudogynen (ein sicheres Degenerationszeichen) können en wichtige oh geben. Dee Kolonien sind bereits sekundär ah Raub- kolonien, ın denen die relative Sklavenzahl abnimmt, wenn die Kolonie im Aufblühen begriffen ist, dagegen oft ans wenn sie ım Absterben sich befindet.

3. In mittelstarken bis starken sangwinea-Kolonien nimmt die relative Sklavenzahl immer mehr ab, weıl das Bedürfnis nach Hilfs- ameisen durch die Steigerung der eigenen Volkszahl immer geringer wird. Dadurch nähern sich die sekundär gemischten Kolonien immer mehr dem Stadium der Einfachheit.

4. Sehr Starke, vollkommen sklavenlose sanguinea-Kolonien sind zu einfachen Kolonien geworden, indem sie nicht bloß längst schon die. primäre Mischung verloren haben, sondern später auch die sekundäre durch das Aufhören der Sklavenerziehung seit mehreren Jahren. Völlig sklavenlose sanguinea-Kolonien sind somit alte, auf dem Höhepunkt ihrer Entwickelung unter sehr günstigen Ver- hältnissen angelangte Kolonien.

Was soeben für die Raubkolonien sanguwinea-fusca gesagt wurde, gilt auch für diejenigen von sangwinea-rufibarbis und sangwinea-fusca-rufibarbis. Aber wir stehen jetzt vor der Frage:

Gibt es Adoptionskolonien von sanguinea mur mit fusca oder auch solche mit rufibarbis als prımären Hilfsameisen? Gründet die isolierte sangwinea-Königin ıhre neue Kolonie stets mit Hilfe von feusca, oder tut sie es auch mit Hilfe von rufibarbis?

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 209

Allerdings habe ich noch niemals ganz junge sanguwinea- Kolonien mit rwufibarbis als Sklaven gefunden, sondern stets nur mit fusca. Hieraus darf man aber wohl nur schließen, dass die isolierten sangwinea-Weibchen ihre neuen Kolonien meistens mit Hilfe von fasca gründen, nicht mit Hilfe der weit kampflustigeren rufibarbis, welche eine fremde Königin schwerer aufnehmen dürften. Bezüglich der sangwinea-rufibarbis-Kolonien, welche keine fusca als Hilfsameisen enthalten, ist es vielfach möglich, dass die neue Kolonie trotzdem mit fusca gegründet wurde, welche später aus- starben, während aus benachbarten rufibarbis-Nestern neue Hilfs- ameisen geraubt wurden. F. sanguinea ıst nämlich auf einer so hohen Stufe des Sklavereiinstinktes angelangt, dass sie nicht bloß die Arbeiterpuppen jener Formica-Arten raubt und erzieht, mit deren Hilfe ihre Kolonie ursprünglich gegründet wurde, sondern auch diejenigen aller anderen Formica-Arten, die man ihr sei es in freier Natur oder in künstlichen Beobachtungsnestern zum Raube darbietet.

In der Gegend von Exaten (holl. Limburg) fand ich 351 sanguinea-Kolonien, die nur fusca als Sklaven hatten, gegenüber 25, welche nur rufibarbis, und 17, welche fusca und rufibarbis als Sklaven enthielten. Hier würde es also nicht schwer fallen, anzu- nehmen, dass jene 25 Kolonien mit rufibarbis als Hilfsameisen ur- sprünglich auch fusca enthalten hätten. Anders gestaltet es sich in der Umgebung von Luxemburg, wo viel mannigfaltigere Ver- schiedenheiten der Bodenverhältnisse herrschen. Während im fusca-reichen Baumbusch ım Norden der Stadt ein von Lomechusa und Pseudogynen infiziertes altes sangzminea-Gebiet liegt, wo ich nur fusca als Sklaven fand, sind auf den trockenen steinigen Ab- hängen ım Südosten von Luxemburg (am Kuhberg) keine fusca- Nester, wohl aber zahlreiche rufibarbis-Nester. In diesem rufibarbis- Gebiet liegen auch einige, aber sehr wenige, sanguinea-Nester; diese haben nur rufibarbis und die Var. fusco-rufibarbis als Sklaven. Von diesen Kolonien müssen wir annehmen, dass sie mit Hilfe der letztgenannten Ameisen gegründet wurden, weil eben keine fsca-Nester in der Nähe sind. Drittens gibt es bei Luxemburg auch solche Gebiete, wo fusca und rufibarbis ihre Nester haben. Dort fand ich eine Reihe von sangwinea-Kolonien, welche teils fusca, teils ruföbarbis, teils beide zugleich als Hilfsameisen besitzen; für diese Kolonien ist die Annahme, dass sie ursprünglich nur mit Hilfe von fusca gegründet wurden, die wahrscheinlichere.

Das Ergebnis bezüglich der Gründungsweise der normal ge- mischten Kolonien von F. sanguinea mit fusca oder mit rufibarbis ')

1) Wahrscheinlich gilt dies auch für die Mischung mit I. einerea im südlichen Mitteleuropa.

XXV. 14

210 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

ist also: Adoptionskolonien sanguinea-fusea sind weitaus häufiger; aber solche von sanguinea-rufibarbis kommen, obwohl viel seltener, auch vor. Im Falle einer dreifachen Mischung, wo neben F. fusca noch rufibarbis (oder einerea) als Sklavin vorhanden ist, hat man fusca als die primäre Hilfs- ameise anzusehen, mit deren Hilfe die Kolonie als Adoptionskolonie entstand).

5. Die anormal gemischten san guinea-Kolonien.

Wir kommen jetzt zu den sog. anormal gemischten sangıinea- Kolonien, nämlich zu jenen, welche außer den normalen Sklaven- arten (fusca, rufibarbis, cinerea) oder statt derselben anormale Sklavenarten (rufa, pratensis) enthalten.

Schon Forel hat einige teils natürliche, teils in freier Natur künstlich gemischte Kolonien von sangwinea mit pratensis, bezw. mit rufa (mit oder ohne normale Hilfsameisen) beschrieben. Ich gehe auf diese interessanten und für die Kenntnis der „colonies mixtes anormales“ grundlegenden Beobachtungen hier nicht weiter ein?), sondern beschränke mich auf meine Beobachtungen und Ver- suche bei Exaten, da ich hier das Schicksal mehrerer solcher ge- mischter Kolonien näher verfolgen konnte.

Zuerst seien die in freier Natur künstlich gemischten Kolo- nien sangwinea-rufa, bezw. sanguinea-fusca-rufa erwähnt. An den Kolonien Nr. 39 und 58 meiner statistischen Karte der sanguinea- Kolonien bei Exaten wurden Mischungsversuche mit F. rufa ange- stellt, die erfolgreich verliefen. Beide waren starke sangwinea- Kolonien von mittelgroßer bis großer kräftiger Rasse, das Erdnest von einem relativ großen Haufen (Kuppelbau aus trockenen Heide- krautblättern) von 1!/,—2 m Umfang überragt. Im Umkreise dieser Kolonien befand sich auf mehr als 200 m Radius kein r«fa-Nest. Ich hatte absichtlich diese Kolonien ausgewählt, um das individuelle Alter der rwufa-Arbeiterinnen bestimmen zu können: so lange noch rufa-Arbeiterinnen in diesen sangeinea-Kolonien sich fanden, so lange musste die Lebensdauer der Arbeiterinnen von rufa sich er- strecken.

Kolonie Nr. 39, viele tausend sangsinea-Arbeiterinnen ent- haltend, aber bisher) keine fusca, erhielt am 26. Mai 1895 einen

1) Ein konkretes Beispiel hierfür wurde oben (S. 206 bei Kolonie Nr. 37, 256, 265) erwähnt.

2) In der 1. Aufl. der „Zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien“ S. 157—173 habe ich sie bereits eingehend erwähnt.

3) D. h. seit dem Beginn der Statistik April 1895. Dass diese Kolonie ur- sprünglich eine Adoptionskolonie sanguinea-fusca war und später fusca durch Sklaven- raub sich verschaffte, bis sie so stark wurde, dass sie keiner Sklaven mehr bedurfte, ist nach den obigen Ausführungen selbstverständlich (siehe S. 208).

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 41

Sack mit etwa 2000 Arbeiterkokons aus dem Riesennest von rufa'). Die vor dem Nest ausgeschütteten Kokons wurden von den sanguinea eilig abgeholt und die bei denselben befindlichen alten rufa ge- tötet. Am 30. Mai wurde abermals ein Sack mit etwa 6000 Ar- beiterkokons aus demselben rufa-Neste herbeigebracht. Anfangs waren die sangwinea nicht so eifrig beim Plündern der Kokons wie das letztemal; aber in einer Viertelstunde wanderten alle frei- liegenden Kokons ın das sangwinea-Nest, die sanguwinea drangen in das mitgebrachte Nestmaterial des r«ufa-Haufens ein, schlugen die rufa in die Flucht und jagten ihnen auch die übrigen Kokons ab, mit denen letztere fliehen wollten. Mehrere tausend rufa-Arbeiterinnen wurden in dieser sanguinea-Kolonie Ende Juni und ım Laufe des Juli aufgezogen. Im September machte die Bauart des sangerinea- Nestes bereits fast den Eindruck eines r«fa-Haufens. Viele rufa waren auf der Oberfläche am Bauen und die sanguinea stürzten erst bei Störung des Nestes hervor. Im Frühjahr 1896 nahm das Nest durch die von den r«ufa herbeigeschleppten Kiefernnadeln und gröberen Holzstückchen den Typus eines kuppelförmigen rufa- Haufens an von ?/, m Durchmesser und 25 cm Höhe. Im Juli betrug der Umfang des Haufens 2!/, m und blieb so bis zum folgenden Jahre. Auf der Nestoberfläche waren meist rufa in großer Zahl zu sehen und nur wenige sangwinea. Im April 1897 waren noch immer mehrere tausend r«fa vorhanden, etwa 40°/, der Ge- samtbevölkerung. Im Juni hatte das Nest die Gestalt eines etwas elliptischen, 3!/, m im Umfang messenden r«fa-Haufens; an einigen Nesteingängen waren fast nur rufa, an anderen fast nur sangwinea mit Bauen beschäftigt. Schon mit Anfang Juli begann die Zahl der rıfa merklich abzunehmen. Ich schätzte die Zahl der Nest- bewohner damals auf S000—10000 sangwinea und nur 1000—2000 rufa. Durch die nun überwiegende Bautätigkeit der sangwinea nahm die Höhe des Haufens allmählich ab, während sein Umfang unregelmäßig elliptisch wurde; im Nestmaterial überwog noch der rufa-Stil, in der Nestform bereits der sangwinea-Stil; so blieb es bis zum nächsten Frühjahr. Im April 1898 fand sich nur noch etwa 1°/, rufa vor, dafür aber als neue Hilfsameisen etwa !/,°/, fusca. Dieselben waren im letzten Sommer geraubt worden, als die Menge der r«fa-Hilfsameisen bedeutend abnahm. Das Aus- sehen des flachen, lang-elliptischen Haufens erinnerte durch das grobe Nestmaterial immer noch stark an: rufa. Amı 30. Mai fand ich bei Untersuchung des Nestes nur noch eine einzige (volle drei Jahre alte) »ufa-Arbeiterin, von dort an keine mehr, während die Zahl der fusca-Sklaven durch neue Raubzüge im jenem Sommer bis auf 15°/, sich steigerte. Für eine so starke sangwinea-Kolonie war

1) Siehe oben S. 196. 14*

3129 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

dies eine ganz anormal hohe frrsca-Zahl, welche nur daraus erklärlich ıst, dass die mit den künstlichen Hilfsameisen (rzfa) gemachten an- genehmen Erfahrungen den Sklavereiinstinkt der sangwinea hoch- gradig angeregt hatten. Da sie keine rufa-Nester in der Umgebung finden konnten, ergänzten sie ihre Sklavenzahl durch fusca. Selbst im Juni 1899 glich das Nest dem Material nach immer noch vor- wiegend einem rufa-Nest. Fusca-Sklaven fanden sich nur noch etwa 1—2°/, vor, der gewöhnliche Prozentsatz für eine starke sanguinea-Kolonie.e Auch im Juni 1900, wo ich das Nest wieder besuchte, hatte die volkreiche sangırinea-Kolonie etwa 1—2°/, fusca. Die Bauart des Nestes war immer noch stark gemischt durch die vor 5 Jahren von den rufa herbeigeschleppten gröberen Holz- stückchen.

Ähnlich verlief der mit Kolonie 58 angestellte Versuch. Es war ebenfalls eine starke sangzrinea-Kolonie von großer Rasse der Arbeiter- innen, das Nest mit verhältnismäßig großem kuppelförmigem Oberbau aus feinen Heidekrautblättern. Das Nest lag in einem fusca-reichen Birkenbusch und hatte am 18. Juli 1895 einen von mir beobachteten Raubzug gegen frsca-Nester unternommen. Während ich im Früh- jahr 1895 noch keine fusca-Sklaven im Neste gesehen hatte, sah ich am 9. September 1896 5—8°/, derselben. Am 5. Juli 1897 gab ich dieser Kolonie an 20000 Arbeiterkokons aus dem rufa- Riesennest; in dem Sack, der neben dem sangrrnea-Neste ausgeleert wurde, befanden sich ungefähr 10000 rfa-Arbeiterinnen. Trotz- dem siegten die sanguinea nach heftigem Kampfe und raubten alle rııfa-Kokons, mit denen sie alle Kammern ihrer beiden Nester vollstopften; die Kolonie 58 hatte nämlich in diesem Jahre noch ein zweites Nest, 3 m vom alten, angelegt. Am 1. August waren in dem zweiten Neste, das nun zum .Hauptneste geworden war, schon mehrere tausend rufa-Arbeiterinnen unter den sangwinea zu sehen. Der Nestbau war jedoch noch unverändert derjenige eines sangwuinea-Haufens, ebenso auch am 13. August. Erst am 26. August begann das grobe Nestmaterial sich geltend zu machen, das die rufa aus dem 3 m entfernten Haufen des am 5. Juli mitgebrachten Nestmaterials von rufa herbeischleppten. Die frischentwickelten rufa fingen somit erst nach mehreren Wochen an, am Nestbau sich zu beteiligen. Im April 1898 hatte das einzige von der Kolonie 58 noch bewohnte Nest (das zweite des letzten Jahres) ganz das Äußere eines fast mittelgroßen, gewölbten rr-fa-Haufens angenommen, aber immer noch mit vielen feinen Heidekrautblättern (sangzwzinea) unter- mischt. rzfa-Arbeiterinnen sah ich in. dem Neste mehrere Tausend, etwa 30°/, der Gesamtbevölkerung, aber keine einzige fusca. Am 23. Juni maß ich den Umfang des kuppelförmigen Haufens auf 3 m; die Oberfläche der Kuppel zeigte jetzt nur noch grobes Nest- material (fa). Am 10. Juli 1899, wo ich die Kolonie 58 zum

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 215

letztenmal untersuchte, waren immer noch etwa 15°/, rufa vorhanden. Der Nestbau war aus sangwinea und rufa-Stil gemischt, aber wegen des vielen groben Materials (Kiefernnadeln und Holzstücke) immer noch mehr an rufa erinnernd.

Da in dieser Kolonie Nr. 58 bereits fusca als Hilfsameisen vorhanden gewesen waren, bevor ıhr die rufa-Kokons gegeben wurden, hatten die sangsinea einen geringeren Prozentsatz der ge- raubten r«fa-Puppen aufgezogen als in Kolonie Nr. 39. Dafür hatten sie aber ihre Sklavenjagden auf frsca eingestellt, deren Ar- beiterinnen 1898 nur noch vereinzelt und 1899 gar nicht mehr in dem Neste zu sehen waren.

Hier sei noch eine Bemerkung eingefügt über das individuelle Alter, das die Arbeiterinnen von Formica erreichen. Einem Beob- achtungsneste von F. sangwinea, das ich 11 Jahre im Zimmer hielt!), gab ich jährlich Arbeiterkokons fremder Formica-Arten (fusca, rufibarbis, pratensis, rufa, exsecta), wobei ım Tagebuche stets das Datum genau notiert wurde. Dann gab ich jener Kolonie keine neuen Arbeiterkokons der betreffenden Hilfsameisenart mehr, so lange noch alte Arbeiterinnen eben dieser Art in dem Beobachtungsneste vorhanden waren. Auf diesem Wege konnte ich feststellen, dass das individuelle Alter der Arbeiterinnen unserer Formica-Arten gewöhnlich zwei bis drei Jahre erreicht. Das älteste Individuum, das ich beobachtete, war eine 3!/, Jahre alte rufibarbis-Arbeiterin. Die obigen Experimente mit den sangwinea- Kolonien Nr. 37 und 58 in freier Natur ergaben dasselbe Resultat. Nach zwei Jahren waren noch viele rfa-Arbeiterinnen am Leben, das dritte Jahr überschritt jedoch höchstens eine Arbeitern in Kolonie Nr. 37. Über das viel höhere Lebensalter der Königinnen von Formica wurde bereits oben (S. 127 Anm. 1) berichtet.

Ich komme nun zu den natürlichen Formen normal ge- mischter sangıinea-Kolonien bei Exaten. Ich beobachtete daselbst fünf Fälle:

a) Eine Kolonie, welche nur F\ pratensis als Hilfsameisen

hatte (Kolonie Nr. 66—67).

b) Eine Kolonie, welche pratensis und fusca als Hilfsameisen hatte (Kolonie Nr. 247).

c) Eine Kolonie, welche rufa und fusca als Hilfsameisen hatte (Kolonie Nr. 0).

d) Eine Kolonie, welche rufopratensis (eine zwischen rzwfa und pratensis stehende Varietät), rufa und fusca als Hilfs- ameisen hatte (Kolonie Nr. 105), also vierfach gemischt war.

e) Eine Kolonie, welche ebenfalls vierfach gemischt war, in-

1) Es ist das in den „Vergleichenden Studien über das Seelenleben der Ameisen‘ 2. Aufl., 1900, S. 17 abgebildete Beobachtungsnest.

314 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

dem sie pratensis, rufopratensis und fusca als Hilfsameisen hatte (Kolonie Nr. 84).

Wie sind diese natürlichen, anormal gemischten sanguwinea- Kolonien zu erklären? Jedenfalls nicht nach einer einzigen Schablone, wie folgende Erwägungen zeigen.

1. Wenn eine mittelstarke bis starke sanguinea-Kolonie neben der normalen Sklavenart (fusca ) noch eine oder zwei anormale in geringer Prozentzahl besitzt, so haben wir es höchst- wahrscheinlich mit einer durch Sklavenraub sekundär gemischten Kolonie zu tun, welche ursprünglich eine Adoptionskolonie sanguinea-fusca war. Diese Erklärung trifft zu für die unter c, d und e erwähnten Fälle (Kol. Nr. 0, 105 u. 84).

2. Wenn in einer mittelstarken bis starken sanguinea-Kolonie keine normale, sondern nur die anormale Hilfsameisenart (rufa oder pratensis) in geringer Prozentzahl sich findet, so liegt es nahe anzunehmen, dass die Kolonie ursprünglich eine Adoptions- kolonie sanguinea-fusca war, in welcher die normalen Hilfs- ameisen ausgestorben sind und später, wegen besonderer örtlicher Verhältnisse durch anormale ersetzt wurden. Wenn man jedoch in einer solchen sangeinea-Kolonie während mehreren Jahren kon- stant nur die anormale Hilfsameisenart, z. B. pratensis, antrifit, diese aber in großer Zahl, so liegt die Vermutung nahe, dass die sangwinea-Kolonie bereits früher als Adoptions- oder Allianzkolonie an eine pratensis-Kolonie anknüpfte, die selber mit Hilfe von fusca gegründet worden war. Dieser Fall liegt vielleicht unter a (bei Kol. Nr. 66—67) vor.

3. Wenn endlich in einer sangernea-Kolonie, die früher nur fusca als Hilfsameisen hatte, plötzlich eine sehr große Zahl anor- maler Hilfsameisen, z. B. pratensis auftritt, welche zudem eine eigene Königin der letzteren Art bei sich haben, so ist es sicher, dass es sich um eine sekundär entstandene Adoptions- oder Allianzkolonie handelt. Die betreffende sanguinea-Kolonie war primär eine Adoptionskolonie sangıinea-fusca gewesen (wie gewöhnlich); dann wurde sie zu einer Raubkolonie sangrinea- fusca, indem neue fersca als Sklaven hinzukamen; dann verlor sie durch einen Unfall die sangwinea-Königin, und an ihrer Stelle wurde eine pratensis-Königin adoptiert, deren Nachkommen anfangs noch als Hilfsameisen mit den sanguinea zusammenlebten, später aber als selbständige pratensis-Kolonie sich konstituierten. Diese romantisch klingende Geschichte fand sich tatsächlich ın dem Falle b (Kol. Nr. 24%) verwirklicht.

(Gehen wir nun auf einige dieser Fälle etwas näher ein.

Ad. 1. Zur ersten Entstehungsweise dieser anormal ge- mischten sanguinea-Kolonien, nämlich durch Raub anormaler Sklavenpuppen, ist folgendes zu bemerken. Schon Forel

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 215

(Fourmis de la Suisse, p. 261) hat beobachtet, dass F\ sangrinea manchmal auch Raubzüge gegen benachbarte schwache pratensis- Nester unternimmt. Allerdings handelte es sich hierbei um solche sanguinea-Kolonien, in welche die pratensis ursprünglich auf künst- lichem Wege gelangt waren, nämlich durch Arbeiterkokons, die Forel ihnen gegeben hatte. Da aber einige dieser Kolonien 3—4 Jahre nach dieser künstlichen Mischung noch pratensis enthielten, so müssen wir annehmen, dass jene sanguinea-Kolonien später spontan neue pratensis-Sklaven geraubt haben, weil das Alter einer pratensis-Arbeiterin nicht über drei Jahre reicht. Daher nehme ich auch für die oben (unter 1 S. 214) erwähnten Kolonien Nr. 105 und 84 an, dass sie ihre pratensis bezw. rufopratensis und rufa durch Sklavenraub erhielten, zumal schwache Kolo- nien dieser Ameisen in der Nähe jener sangwinea-Nester (etwa 20—25 m entfernt) sich befanden. Für Kolonie Nr. 105 (sangurnea- rufopratensis-rufa-fusca), welche 1896 eine starke, schon viele Jahre alte sanguinea-Kolonie war, ist diese Erklärung wohl als sicher anzunehmen. Sie war damals bereits mit Lomechusa infiziert, und die Bevölkerungszahl der sanguwinea sank daher in den beiden folgenden Jahren, obwohl sie immerhin über mittelstark blieb. Im Jahre 1896 besaß sie nur fusca als Sklaven, vom 12. Juni 1897 an jedoch neben 3°, fusca etwa 2°/, rufopratensis-Arbeiterinnen. Am 28. Juli betrug die Zahl der fasca-Sklaven 4—5°/,, jene der rufopratensis 5—6°/,. Vielleicht hatte die Dezimierung der sanguwinea- Brut durch die Lomechusa-Larven den sangwinea den Antrieb ge- geben, möglichst viele normale und anormale Sklavenpuppen zu rauben, um den Ausfall der eigenen Arbeiterzahl zu ersetzen. Im April 1898 sah ich nur etwa 2°/, rufopratensis in dem Neste, dagegen 4°/, fusca. Am 16. Juni dagegen waren außer den fasca 8—10°/, anormale Sklaven vorhanden und zwar vorwiegend solche von heller rufa-Färbung, wenige von der dunkleren rufopratensis- Färbung, so dass ich damals schon die Vermutung notierte, die rufa müssten neuerdings als Puppen aus einem schwachen rufa- Neste der Nachbarschaft geraubt worden sein. Hier scheint mir in der Tat die komplizierte und in den aufeinanderfolgenden Jahren wechselnde Mischung der Kolonie nur durch Sklavenraub erklärt werden zu können. 1898 war die Kolonie Nr. 105 ver- schwunden, weil im vorhergehenden Winter das betreffende Stück der Heide am Rande eines Kiefernwaldes umgegraben worden war.

Auch die sangninea-pratensis-rufopratensis-fusca-Kolonie Nr. 84 dürfte auf demselben Wege, nämlich durch Sklavenraub, zu ihrer Mischung gelangt sein. Ich kannte das Nest dieser nur mittel- starken Kolonie schon seit Beginn der 90er Jahre, hatte aber immer nur fusca als Sklaven darin bemerkt. Es war also wie Kolonie Nr. 105 eine ursprüngliche Adoptionskolonie und spätere Raub-

916 Simroth, Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren.

kolonie sangrinea-fusca.. Am 26. Mai 1895 fand ich jedoch bei Untersuchung des Nestes zweierlei Sklavenarten vor, neben 3°], fusca noch etwa 3°/, pratensis. Am 12. Juni desselben Jahres fiel mir auf, dass die pratensis-Sklaven zwei deutlich verschiedenen Rassen angehörten, einer dunklen, fast schwarzen, echten pratensis- Form und einer helleren rufopratensis-Form; schon damals notierte ich die Vermutung, dass sie aus zwei verschiedenen Nestern ge- raubt sein müssten. Seit September 1895 war die Kolonie ausge- wandert und ich konnte ıhr neues Nest nicht wiederfinden. 1896 war eine fusca-Kolonie, 1897 eine Tetramorium-Kolonie in das ver- lassene Nest eingezogen. (Fortsetzung folgt.)

Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren. Von Dr. Heinrich Simroth (Leipzig).

Es wäre merkwürdig, wenn der auffallend warme und trockene Sommer des Jahres 1904 bei seiner hohen Wetterbeständigkeit und dem Zurücktreten selbst ergiebiger Gewitterregen spurlos an der Tierwelt vorüber gegangen wäre, da wir doch von dem Einfluss der Wärme auf die Färbung der Tiere in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf experimentellem Wege gut unterrichtet worden sind. Die folgenden Beispiele haben sich mir ziemlich von selbst dargeboten, nachdem ich einmal auf einige Tatsachen aufmerksam geworden war und in einem Vortrage darauf hingewiesen hatte.

Bevor ich zu ihrer Schilderung übergehe, dürfte noch ein Hin- weis angezeigt sein auf den vorhergehenden Sommer des Jahres 1903. Die meteorologischen Durchschnittsbestimmungen ergeben vielleicht keine wesentlichen Abweichungen und ich verzichte darauf, in eine genauere Besprechung solcher Witterungsverhältnisse ein- zutreten. Nur darauf möchte ich aufmerksam machen, dass‘ die Monate des Frühlings, Maı und Juni, eine ähnlich warme Trocken- heit zeigten, wie der Sommer 1904. Sie ist wohl im Gesamtergebnis der Ernte wenig zum Ausdruck gekommen. Mir aber drängte es sich stärker auf, da ich mit einer neuen Wohnung einen neuen Garten gemietet und mancherlei neue Anlagen gemacht hatte. Ihnen stellte sich die Trocknis der Frühjahrsmonde hindernd in den Weg, und trotz eifrigem Gießen waren manche Pflanzen kaum oder gar nicht durchzubringen. Wir hatten ca. S Wochen so gut wie keinen Niederschlag, ein ungewöhnliches Verhältnis für den Durchschnitt unseres Klimas. An solchen Kleinigkeiten merkt man den Einfluss der Witterung oft mehr als an den offiziellen Daten der meteorologischen Stationen, die sich schließlich immerhin auf größere Gebiete erstrecken, in denen vereinzelte lokale, besonders

Simroth, Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren. 217

starke Niederschläge auf den Durchschnitt ausgleichend wirken. Was aber bei der Gartenpflege störend wirkte, das kam wohl der Fortpflanzung der Landtiere umgekehrt zugute; und da im allge- gemeinen die damals erzeugte Generation die Erzeuger des nächsten Jahres 1904 darstellte, so dürfte die Annahme, dass wenigstens eine Reihe von Tieren ın ihrem ‚Fortpflanzungsgeschäft durch zwei Generationen hindurch unter dem Einfluss trockener Wärme ge- standen habe, kaum auf Schwierigkeiten stoßen. Es versteht sich von selbst, dass die Annahme zunächst nur für das Beobachtungs- gebiet, Mitteldeutschland im engeren Sinne, Geltung hat. Wieweit sich die Wirkung namentlich des letztverflossenen abnorm heißen Sommers auch auf andere Gebiete erstreckt, wieweit außerdem an- dere Tiere in Frage kommen, das kann zunächst nicht vom ein- zelnen Beobachter ermittelt werden. Hoffentlich gıbt dieser Auf- satz die Anregung, dass auch von anderen Seiten verwandte Wahrnehmungen mitgeteilt werden, damit nicht die Gelegenheit, das seltsam ausgeprägte Jahr in seinen biologischen Wirkungen zu verfolgen, ungenutzt vorüber gehe. Damit gehe ich zu den Tatsachen über.

a) Insekten.

Anfang August fielen mir im Garten Veränderungen an den Nymphaliden auf, an den gewöhnlichsten Schmetterlingen, Fuchs, Landkärtchen u. a. Namentlich schienen eine Reihe von Melanismen aufzutreten. Leider ging ich der Sache noch nicht weiter nach und versäumte es, Belegstücke zu sammeln, begnügte mich vielmehr bloß mit dem Eindruck, den die fliegenden und an den Blumen saugenden Falter auf mich machten. Als ich dann in Bern beim Zoologenkongress Herrn Prof. Standfuß die Sache mitteilte, bestätigte mir dieser gewiegte Kenner meine Beobach- tungen vollkommen. So tritt Vanessa urticae ın der auf Korsika fliegenden Wärmeform var. ichnusa auf; die Erscheinung war nach dem genannten Gewährsmann an den Tagfaltern so allgemein, dass uns 20 derartige Sommer hintereinander eine mediterrane Fauna bescheren würden. Erkundigungen, die ich nach der Rückkehr anstellte, brachten einige positive Bestätigungen. Prof. Jacobi fing in Tharandt noch iın Herbst die betreffende var, ichnusa. Leip- ziger Entomologen wollen zwar an verschiedenen Arten Dunke- lung wahrgenommen haben, doch ohne dass es zur Ausprägung typischer Varietäten gekommen wäre. Dagegen teilte mir Herr Thiem mit, dass der Entomolog Junckel in Crimmitschau an Coenonympha pamphilus L. scharf ausgesprochenen Melanismus fest- gestellt und eine Kollektion solcher abweichenden Exemplare zu- sammengebracht hat. Dieser „kleine Heufalter“ trat in sehr dunklen Stücken auf, in ziemlicher Variabilität. Besonders die Ränder waren

918 Simroth, Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren.

gedunkelt, auch die Unterseite. Die Punkte sind stark ausgefärbt, oft auch auf den Hinterflügeln. Besonders die Männchen sind ge- dunkelt. Wenn es sich nun hier nur um Merkmale handelt, die auch normal bei den Geschlechtern wechseln, so bleibt doch die Steige- rung auffällig genug (s. Nachtrag).

Nach Angabe der naturwissensch. Wochenschrift hat auch die Erdhummel, Bombus terrestris, Melanısmus gezeigt, insofern die Spitze des Abdomens nicht buntgeringelt, sondern einfach schwarz war.

b) Vögel.

Wohl in keinem Jahre hat die Amsel, Turdus merutla, so viele Abweichungen gezeigt, wie heuer. Hier in Leipzig melden die Zei- tungen von weißen Exemplaren; von aufmerksamen Beobachtern erfahre ich, dass im Albertpark, also im Westen der Stadt, gleich- zeitig zwei weiße Stücke auftreten, ebenso im Osten, in Reudnitz. Ein anderer meldet mir eine weiß und schwarz gefleckte, wieder ein anderer neben rein weißen ein gleichmäßig hellgraues Stück.

Im zoologischen Garten wird ein schwarzer Haussperling, Passer domestieus, angegeben, und zwar ım Hochsommer, so dass es sich um keinen rußigen Großstadtspatz handelt. Dass das Exemplar einer diesjährigen Brut entstammt, ist wohl sicher; sonst wäre die Beobachtung wohl schon früher gemacht.

Eine wunderliche Beeinflussung betrifft die Haushühner, und zwar, soviel sich zunächst hat ermitteln lassen, die gewöhnliche Landrasse der Bauern. Herr Dr. Tesmer stellte durch Umfrage bei Bauern und Händlern fest, erstens dass dieses Jahr unter den jungen die Hähne weit gegen die Norm in der Minderzahl seien gegenüber den Hennen, zweitens dass die dunklen Stücke ganz selten sind, dass vielmehr die hellgelbe Färbung in auffallender Weise überwiegt. Ich füge hinzu, dass die Beobachtung ganz un- abhängig von meiner Anregung gemacht und mir erst nachträglich mitgeteilt wurde. Ein befreundeter Züchter bestätigte mir die Minderzahl der Hähnchen; bei ihm sind etwa 30°/, gefallen. Doch wollte er, mit Recht, aus der vereinzelten Tatsache zunächst keine weiteren Schlüsse ziehen, bei den bekannten Schwankungen im Zahlenverhältnis der Geschlechter. Mehr Gewicht hat man der Aussage der Geflügelhändler beizulegen, die ein Interesse daran haben, die Hähnchen aufzukaufen.

ce) Säuger.

Bei Delitzsch fand ich eine große, kohlschwarze Maus, die mir Herr Ehrmann nach dem Gebiss mit Sicherheit als Mus agrarius, die Brandmaus, bestimmte. Sie hat kein einziges helleres Haar. Von Blasius werden wohl Albinos angegeben, aber keine

Simroth, Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren. 219

schwarzen Stücke. Das Schwarz ist genau so intensiv wie beim Maulwurf.

Vielleicht den interessantesten Fall teilte mir der bereits ge- nannte Herr Thiem mit. Durch einen Schüler wurde ihm bereits im Jahre 1903 das Vorkommen eines schwarzen Hamsters, Urzicetus frumentarius, bei Großheringen gemeldet. 1904 aber traten im gleichen Gebiet, nach Angabe der Jäger und eines Hamsterfängers, die schwarzen Hamster gar nicht selten auf. Es ist auch mit Hilfe des letzteren gelungen, einige Exemplare zu erhalten (allerdings habe ich selbst keins erwerben können). Derselbe hat außer den schwarzen aber auch Albinos, bezw. blassgelbe, geliefert, also Flavismus neben Melanismus. Die schwarzen Tiere übertreffen die normalen an Größe, die hellen bleiben umgekehrt hinter ihnen zurück. Großheringen liegt im warmen Saaltale; doch hat sich nicht genau feststellen lassen, woher die einzelnen Stücke stammen, da der Hamsterfänger sem Gewerbe auf einem etwas größeren Gebiete betreibt. Immerhin wird man das Saaltal, aus dem die erste Kunde kam, festzuhalten haben als Quelle (s. Nachtrag).

Bemerkungen und allgemeine Folgerungen.

So spärlich die Mitteilungen vielleicht sein mögen, mir er- scheinen sie bedeutungsvoll genug, um auf breiterer Basıs diskutiert zu werden, zumal anzunehmen ist, dass ich als einzelner Beobachter, dem sich nur nebenher einige gröbere Folgen aufdrängten, bloß einen geringen Bruchteil der mit der abnormen Witterung zusammenhängen- den Veränderungen bemerkt habe. Zudem habe ich fast weiter nichts berichtet, als Variationen in der Färbung, die ja am meisten in die Augen fallen. Es ist selbstverständlich, dass die Wärme noch mancherlei andere Konsequenzen für die Tierwelt gehabt haben muss. Von Wanderungen südlicher Arten nach Norden, wie etwa im heißen Sommer 1811 Flamingos nach Südwestdeutschland vor- gedrungen, hat man diesesmal wohl weniger gehört. Wärme- bedürftige Arten jedoch, die sich für gewöhnlich nur an besonders geschützten Orten vereinzelt halten, dürften sicherlich ihren Wohn- kreis erweitert haben und häufiger geworden sein. So war es äußerst auffällig, wenn man in den ersten Morgenstunden des Hoch- sommers, solange noch dichter Tau auf den Pflanzen lag, an den Kruziferen, etwa den Levkojen, den Erdflöhen nachstellte, unter den gewöhnlichen Halticaarten veremzelte robuste Tiere von etwa doppelter Größe zu finden; der Tau hatte ihnen wenig an, ihre Sprungkraft überwand ıhn. Hier handelt es sich vermutlich um südliche Formen, die häufiger geworden waren. Andererseits scheint gegen den Herbst hin die Trocknis den Hamstern verhängnisvoll geworden zu sein. Wenigstens erfuhr Herr Thiem von dem er- wähnten Hamsterfänger, dass beim Ausgraben im Herbst die Tiere

220 Simroth, Uber einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren.

zum großen Teil, ganz gegen die Regel, tot im Baue angetroffen wurden. Ich möchte seine Annahme, dass sie aus Mangel von Tau verdurstet seien, zunächst nicht von der Hand weisen, wenn’ wir auch über das Wasserbedürfnis dieser Steppenform wenig unterrichtet sind. Ein Stück, das ich jahrelang in Gefangenschaft hielt, bekam nie zu trinken, wohl aber täglich saftige Pflanzenteile, wie Kartoffeln und Mohrrüben.

Doch ich wende mich der Färbung zu.

Da tritt zunächst das Vorwiegen des Melanismus hervor, doch keineswegs ausschließlich. Vielmehr muss jedes Tier, wie es bei dem bunten Kleid der Tierwelt nicht anders zu erwarten ist, besonders beurteilt werden. Man hat ja mehrfach den Versuch gemacht, den Melanismus auf Naturzüchtung zurückzuführen und einen Kälteschutz darin zu. erblicken. Bei den Eiern von Rana temporaria, die ım Frühjahr zuerst laicht unter unseren Fröschen, stimmt die Deutung wohl ohne weiteres. Ob man aber ein Recht hat, etwa die schwarze Scheitelplatte mancher Möven ebenso zu interpretieren, muss wohl dahingestellt bleiben. Homöotherme Tiere mit Pelz und Federkleid halfen sich bequemer durch Ver- dichtung ihrer Körperbedeckung. Für Schmetterlinge passt die Erklärung vielleicht am wenigsten. Wohl hat der Melanismus vieler hochalpiner Falter etwas bestechendes. Dem steht aber manches entgegen, u. a. die schwarze Form der Weibchen von Papilio turnus in den Südstaaten Nordamerikas gegenüber den gelben ım Norden, die dunkle italienische Form des Feuervogels Polyommatus phlaeas. Hier scheint eine andere Erklärung am Platze. Es ist wohl kein Zufall, dass die var. ichnusa von Vanessa urticae gerade in Korsika fliegt, zusammen mit einer Reihe anderer Wärmeformen, die sich aus den so erfolgreichen Experimenten der Züchter ergeben haben. Man hat die Isolierung auf der Insel zur Konservierung der Formen herangezogen, die sie dem Kampf ums Dasein und der Aufsaugung durch Panmixie entrückt hätte, so neuerdings Weismann in den deszendenztheoretischen Vorträgen. Doch scheint da die Pendulationstheorie weit besseren Aufschluss zu geben. Korsika liegt gerade unter dem Schwingungskreis. Unter ihm müssen alle klimatischen Änderungen und Einflüsse ihren stärksten Ausdruck finden.

Wenn man da bezüglich der Lepidopteren Bedenken tragen mag, weil sich hier der Variationsreichtum auf das insulare Gebiet zu beschränken scheint, so liefern die variabeln Hummeln den schönsten Beweis. von Buttel-Reepen hat in seiner Arbeit über „die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienenstaates ete.“ die hohe Plastizität der Hummeln hervorgehoben. Sie zeigen zu- nächst die sämtlichen Instinkte und morphologischen Umwandlungen, die zur Staatenbildung führen, in allen Übergängen. Bei ihnen

Simroth, Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren, 221

ist das Problem, ganz entgegengesetzt der meist starren biologi- schen Ausprägung der Kerbtiere, noch ım Fluss. Die Königin schafft für die erste Brut noch keine Zelle, sondern häuft die Nah- rung offen an, um sie mit Eiern zu belegen. Die Ökonomie des Wachsverbrauches ist weit weniger geregelt als bei den Bienen etwa; nachdem die Larven ein Puppengespinst gebildet haben, wird oft das Wachs wieder abgetragen und anderweitig verwendet, unter Umständen zu einer schützenden Hülle um das Nest. Die morpho- logische Umbildung ist besonders reich, außer der Königin, den Arbeitern und Männchen gibt es noch Hilfsweibcehen; und die ver- schiedenen Formen, außer der Königin, wechseln je nach der Jahres- zeit sehr stark in der Größe. Wenn im allgemeinen, wie für die Wespen, auch für die Hummeln die Regel gilt, dass der Staat im Herbst zugrunde geht und nur Königinnen überwintern, um im nächsten Frühjahre neue Staaten zu gründen, so mag es im Süden nicht selten vorkommen, dass ganze Völker den Winter überdauern. Lokal wechseln auch die Instinkte. Korsische Hummeln, spezi- fisch von unseren deutschen kaum getrennt, machen in der heißen, trocknen Sommerszeit einen Ruhezustand durch, während unsere deutschen Hummeln, nach Korsika versetzt, unter dem Einfluss der höheren Wärme erst recht lebhaft werden und sich zu Tode arbeiten würden. In Korsika varıert auch die Färbung stark, insofern als die weißen und gelben Flecken des Hinterleibs verschwinden oder in anderer Ordnung auftreten. Doch führt von Buttel auch aus Deutschland ähnliche Fälle an, und zu ihnen gehört nunmehr der oben gemeldete. Dazu noch eine andere merkwürdige Eigenheit. Im hohen Norden, wo während des höchsten Sonnenstandes auch die Nächte zum Tage werden, schlafen die übrigen Taginsekten doch während der Nachtzeit, nur die Hummeln fliegen ununter- brochen.

Dazu die geologische und geographische Verbreitung. Die Hummeln treten ım Tertiär auf. Sie fehlen in Australien und Neuseeland. In Südamerika rechnet sie von Ihering zu den Tieren, die erst nach der Miocänzeit (nach meiner Meinung noch später) von Nordamerika nach der Südhälfte des Kontinents vor- drangen. Nimmt man nun dazu, dass alle jene starken Verände- rungen der Instinkte und der Färbung unter dem Schwingungskreis liegen, von Korsika über Deutschland bis ın die arktische Region, dann ergibt sich der Schluss fast von selbst, dass die Gruppe ihre Entstehung und ihre hauptsächliche Differenzierung unter dem Schwingungskreis erfuhr, wo sie noch fortdauert, und dass ihre Ausbreitung von hier nach beiden Seiten bis in die Gegend des Östpols (Sumatra) und des Westpols (Ecuador) sich vollzog.

Ähnliches aber, wie für die Hummeln, gilt dann auch für die Tagfalter.

999 Simroth, Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren.

Die drei genannten Vögel verhalten sich ganz verschieden. Der vereinzelte schwarze Spatz mag zunächst aus der Beurteilung ausscheiden. Bei der Amsel liegt der Fall umgekehrt wie bei ihm; die Tiere werden heller, häufig ganz weiß oder weißgesprenkelt. Man wird leicht geneigt sein, den Wechsel des Instinktes heran- zuziehen, der den Vogel innerhalb der beiden oder drei letzten Jahrzehnte aus einem scheuen Waldbewohner zu einem dreisten Eindringlinge unserer Gärten und Promenaden gemacht hat, man wird also das Gleichgewicht in Gewohnheit und Färbung als gleich labil geworden betrachten. Möglich, dass hier ein solcher Zusammenhang besteht, ähnlich wie bei den Hummeln. Zunächst möchte ich auf ein Doppeltes aufmerksam machen, auf die Bedeu- tung der Amselfärbung schlechthin und auf einen ähnlichen Farben- wechsel an anderer Lokalität. Die Amsel hat ihren am weitesten nach Südwesten vorgeschobenen Posten auf den Azoren. Dort aber kann man, wie ich vor langen Jahren mitteilte, recht häufig partiellen Albinismus beobachten, wenn mir auch rein weiße Exem- plare kaum zu Gesicht kamen. Dass wir jetzt bei uns den Albinis- mus während der erhöhten Sommerwärme so sehr gesteigert sehen, bildet doch eine scharfe Parallele zu den Vorposten auf den warmen Inseln. Dass aber Albiniısmus statt Melanısmus auftritt, dürfte seinen Grund in der Normalfärbung der Amseln haben. Diese verhält sich doch zu dem Kleid unserer übrigen gemeinen Drosseln, wie der schwarze Haussperling zu den gewöhnlichen Artgenossen. Das braune Gefieder ist bereits zu schwarz gesteigert, die Amsel hat das Maximum der Ausfärbung bereits erreicht, und auch der gelbe Schnabel des Männchens ist in gleichem Sinne zu verstehen. Kommt ein neuer Impuls zu weiterer Umfärbung, so äußert er sich, da Steigerung nicht möglich ist, im Versagen der Pigmen- tierung, in Albinismus. So paradox das klingen mag, ich habe bei unserem Limax maximus früher ganz dasselbe gefunden und be- kannt gegeben. In den feuchtesten Teilen unseres Eirzgebirges (bei Bienenmühle) sammelte ich in einigen Wochen lauter tiefschwarze erwachsene cinereoniger, darunter aber einige wenige rein weiße (mit schwarzen Augen). Alle Mittelformen fehlten, wiewohl mir wohl Hunderte durch die Hand gingen. In trockner Kiefernhaide des Flachlandes kann man wohl auch unter einer Serie ein schwarzes Tier finden und ein rein oder annähernd rein weißes, aber nur als Endglieder einer Kette, die aus grauen Mittelformen besteht ın allen Stufen der Tönung und Zeichnung. Das feuchte Gebirgsklima (es handelt sich um eine der niederschlagsreichsten Stellen "Mittel. europas) zeitigt durchweg ein Pigmentmaximum, das bei weiterer Steigerung eben in Albinismus umschlägt, genau wie bei den Amseln die Wärme. Die näheren Gründe kennen wir nicht, da wir über das wahre Wesen der Pigmente noch immer ungenügend

Simroth, Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren. 293

unterrichtet sind. Parallelen lassen sich finden. Ich kannte einen Herrn, der als Besitzer einer Tabakplantage lange auf Kuba gelebt hatte und der als schlimme und äußerst lästige Folge des lang- jährigen Tropenaufenthaltes eine Änderung seiner Hauttätigkeit mitgebracht hatte: er hatte das Schwitzen verlernt und konnte trotz ärztlicher Behandlung, Badekuren etc. seine Schweißdrüsen nicht wieder zur Funktion bringen. Pigmente sind aber Haut- absonderungen. Wenn die Schnecken dabei sich entgegengesetzt zu verhalten scheinen als die Amseln, oder doch beide auf ent- gegengesetzten Reiz, Wärme und Kälte, in gleicher Weise reagieren, so fehlt es dabei bekanntermaßen nicht an Vergleichstatsachen. Die Hitze- und Frostformen werden bei den durch Experiment er- zogenen Faltern dieselben. In der Natur konnte ich für Arion empieicorum nachweisen, dass er an seiner portugiesischen Süd- grenze ebenso schwarz wird wie im Norden und auf unseren Ge- birgen, dem Harz und Erzgebirge etwa. Und für das Verschwinden des Pigments ist es wohl beachtenswert, dass Paludina vivipara, wie ich vor einer Reihe von Jahren mitteilen konnte, in Nord- deutschland nicht selten Erythrismus oder Rotalbinismus_ zeigt, d. h. von den beiden Farbstoffen ihrer Haut, dem schwarzen und dem oberflächlichen roten, den schwarzen einbüßt, und dass nur der rote bestehen bleibt und das Kolorit der Schnecke bestimmt. Früher vermutete ich, die Nähe der Küste von Nord- und Ostsee möge die Verantwortung tragen; jetzt sehe ichs im anderem Zu- sammenhange; die Art erreicht dort unter dem Schwingungskreis ihre Nordgrenze, und damit wird ihre Pigmentierung labil.

Der Fall mit den Hühnern liegt offenbar ganz anders. Es wäre wünschenswert, von anderen Seiten mehr positives Material zu bekommen, um beurteilen zu können, ob bei ıhnen wirklich die hellere Farbe und das Überwiegen des weiblichen Geschlechts durch Trocknis und Wärme während der Fortpflanzungsperiode erzielt wird, während eines Sommers oder während mehrerer hintereinander. Wenn die Beobachtung, woran zu zweifeln zu- nächst kein Grund vorliegt, sich als richtig erweist, dann würde durch trockene warme Sommer immer mehr die gelbbraune Erd- farbe, zugleich mit Polygamie, gezüchtet werden, d. h. die Tiere würden, gleichzeitig mit der Umwandlung der Landschaft zur Steppe, polygame Steppentiere werden. Man hätte nicht von einer nachträglichen Anpassung des Vogels an eine vorher existierende Landschaft, in die er einwandern würde, zu reden, sondern Steppe und Vogel wären beide unter dem gleichen Einfluss auf demselben Boden, der vorher eine andere Pflanzendecke und andere Hühner trug, entstanden, der Vogel wird bodenfarbig fast noch eher als der Boden selbst. Der Fingerzeig erscheint wichtig genug und könnte unter Umständen, da gerade die Hühnervögel zahlreiche

224 Simroth, Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren.

und charakteristische Steppenbewohner gestellt haben, als Paradigma weittragenden theoretischen Wert erhalten.

Endlich die Säuger. Bei ihnen verschlägt die Deutung des Melanismus als Kälteschutz völlig; sehr beachtenswert dagegen scheint mirs, dass die beiden Nager, die ıhn zeigen, an und für sich schon in der Normaltracht schwarze Stellen tragen, die Brand- maus den schwarzen Rückenstreifen, der Hamster den schwarzen Bauch. Es brauchten also bloß diese Elemente, welche einen An- fang von Melanısmus bedeuten mochten, verstärkt zu werden. Ja es scheint nicht ausgeschlossen, dass, in logischer Verknüpfung dieser Tatsachen, bereits die ersten schwarzen Stellen Folgen früherer Wärmeperioden bedeuten. Die Brandmaus hat unter den Gattungs- genossen den engsten Verbreitungsbezirk. „Sie lebt zwischen dem Rheine und Westsibirien, Nordholstein und der Lombardei. In Mitteldeutschland ist sie überall gemein, im Hochgebirge fehlt sie. Pallas erzählt, dass sie m Sibirien zuweilen regellose Wande- rungen anstellt“ (Brehm). Ich würde daraus folgern, dass sie unter dem Schwingungskreis bei uns nach der Eiszeit entstanden ıst und sich von hier aus, den Landmassen entsprechend, nach Osten ausbreitete und noch ausbreitet. Kein Wunder, dass sie bei uns in Zeiten abnormer Wärme das Schwarz, das sie von den anderen kleinen Spezies der Gattung Mus unterscheidet, weiter zum Durchbruch bringt.

Ähnliches gilt vom Hamster. Auch er ist bei uns nach der Eiszeit aufgetreten oder wieder aufgetreten, auch er reicht vom Rheine bis zum Ob. Weiter südlich und südwestlich fehlt er. Seine schwarze Bauchseite darf man vermutlich auch auf Rechnung der Wärme setzen; nicht als ob sich bereits eine biologische Be- ziehung, ein Nutzen daraus herleiten ließe, wohl aber in Parallele zu unserem Fuchs, der in den Mittelmeerländern die gleiche schwarze Unterseite bekommt (var. melanogaster). Meines Wissens gibt es kein Säugetier weiter in unserer Fauna, das die gleiche Färbung aufwiese, daher wohl der Schluss von dem einen auf das andere gestattet ist. Nun gibt es in unserem Vaterlande, wenigstens in Mitteldeutschland, kaum eine wärmere Stelle, als das Saaltal mit seinen Muschelkalkhängen, wo noch der Weinbau gedeiht und eine Menge südlicher Tiere und Pflanzen sich nordwärts vorschieben; es mag genügen, auf die Orchideen, die Zygaenen und Buliminus detritus zu verweisen. In diesem Gebiete ist also wiederum die Färbung des Hamsters labil geworden. Da- bei wird er kräftig, wenn das durch frühere Wärme erworbene Schwarz sich steigert und seine Konstitution festigt, er wird schwächlich, wenn es wieder ausgeschaltet wird. Es ist klar, in welcher Richtung die natürliche Zuchtwahl weiter zu arbeiten hätte.

ss fi fl .. 4 Simroth, Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren. 295

Betont mag noch werden, dass auch Brandmaus und Hamster auf den Schwingungskreis als ihren Schöpfungsherd hindeuten.

Ich schließe diese Bemerkungen, die vielleicht manchem schon über das Ziel hinauszuschießen scheinen mögen. Sollte ich an den auffälligen Beobachtungen, die der letzte Sommer gezeitigt hat, stillschweigend vorübergehen? oder ist es nicht vielmehr Pflicht des denkenden Naturforschers, den Einzelerscheinungen bis zu ihren letzten Konsequenzen nachzuspüren, soweit sie sich auf dem Boden der Tatsachen verfolgen lassen? Mich sollte es freuen, wenn mein Versuch andere anregen würde, dem Einfluss des seltenen Jahres weiter nachzuforschen und eine reiche Ernte zusammenzubringen. Dann möge die Kritik energisch einsetzen! [17]

Leipzig-Gautzsch. Weihnachten 1904.

Nachtrag.

Während der Drucklegung sind mir bereits verschiedene analoge Fälle bekannt geworden, die ich hier anzufügen mir erlaube.

Insekten.

Über einen ähnlichen Fall wie den, der den Heufalter betrifft, berichtete kürzlich E. Scholz in „Aus der Heimat“ 1904 S. 153. In den Strehlener Bergen varıierten die Schillerfalter. „Bei vielen Männchen von Apatura ihia var. elytie war die Grundfarbe so dunkel, dass sie dadurch ein fremdartiges Aussehen erhielten. Bei Apatura iris wurden Männchen mit auffallend gebränten Vorderflügeln beob- achtet, in einem Falle konnten sogar deutliche Augenflecke (ähnlich wie bei za) auf der Oberseite der Vorderflügel konstatiert werden.“ Hier handelt sichs um Arten, die regelrecht zur Variation neigen; wieder sind es die Männchen, die in der Umfärbung vorauseilen. Es wäre wohl nicht schwer, deszendenztheoretische Schlüsse für die gegenwärtige Verwandtschaft der Arten daraus herzuleiten.

Säuger.

Auch für die Säugetiere erhalte ich inzwischen ein Paar wei- tere Angaben.

Herr E. Walther in Leipzig-Gohlis meldet, dass 1904 auf- fallend viele schwarze Eichhörnchen zu sehen waren.

Der Diener des Leipziger zoologischen Instituts Knoth be- merkte im letzten Sommer in einem Walde bei Maßlau in der Nähe von Schkeuditz an der sächsisch-preußischen Grenze zahl- reiche schwarze Spitzmäuse. Vereinzelt waren ihm solche früher bekannt vom Walde am Rabenstein bei Grimma, wo er oft dem Kreuzotterfang oblag. Leider hat er keine Belegstücke gefangen, an denen man die Spezies und den Grad des Melanısmus hätte feststellen können. Vermutlich handelt sichs um die gemeinste

RRV. 15

2396 Detto, Über direkte Anpassung.

Art, um die Waldspitzmaus, Sorex vulgaris, denn sie ist eben am häufigsten im Walde und wechselt normalerweise im Kolorit. „Die Färbung des feinen Sammetpelzes spielt zwischen lebhaftem Rot- braun und dem glänzendsten Schwarz“ (Brehm). Ihre Verbreitung fällt wieder unter den Schwingungskreis, der ihr Gebiet nahezu halbiert. „Man findet die Waldspitzmaus in Deutschland, Schweden, Frankeich, Italien, Ungarn und Galizien, wahrscheinlich auch im benachbarten Russland“ (Brehm).

Auch diese beiden Säuger fügen sich ohne weiteres der Theorie.

Über direkte Anpassung'). Von Dr. Carl Detto.

Die Ansicht, dass der Organısmus die Fähigkeit besitze, sich den Änderungen seiner Umgebung „direkt anzupassen“, hat, be- sonders unter den Botanikern, eine nicht geringe Anzahl von Ver- tretern aufzuweisen. Es mögen hier nur Warming und v. Wett- stein genannt sein, von denen der letztere sich in mehreren Ab- handlungen eingehend mit der Bedeutung der direkten Anpassung für Abstammungs- und Anpassungslehre beschäftigt hat; dieser Forscher bezeichnete seine Auffassung bekanntlich als Neo-La- marckismus.

In der unten genannten Schrift habe ich, ausgehend von einer Darlegung der Prinzipien der Naturwissenschaft überhaupt, den Nachweis zu führen versucht, dass die Annahme der direkten An- passung, wenn man darunter zweckmäßige Reaktionen des Or- ganismus versteht, in einen unauflösbaren Widerspruch mit jenen Prinzipien gerät. Dieser Widerspruch kommt darin zum Ausdruck, dass für eine direkte Anpassung Zweckursachen, Finalbeziehungen, angenommen werden müssen, während die Möglichkeit der Natur- wissenschaft, d. h. die widerspruchslose Anwendbarkeit ihrer Me- thode auf die Natur, auf der Alleingültigkeit des Kausalprinzips beruht.

Ich habe genauer zu zeigen versucht, wie weiterhin die Theorie der direkten Anpassung, da sie die Konsequenz der Finalursache nicht vermeiden kann, notwendigerweise in den Vitalismus hinein- gedrängt wird, und da sich ein anderes Analogon zur Finalursache als der menschliche Wille nicht findet, in den psychologischen Vi- talısmus. In der auf Kausalıtät gegründeten Wissenschaft haben aber solche Ursachen, die weder messbar, noch überhaupt jemals

1) Selbstbericht über die Schrift: „Die Theorie der direkten Anpassung und ihre Bedeutung für das Anpassungs- und Deszendenzproblem. Versuch einer methodologischen Kritik des Erklärungsprinzips und der botanischen Tatsachen des Lamarekismus. Jena, Fischer. 1904.

Detto, Über direkte Anpassung. 997

empirisch nachweisbar sind, keinen Platz. Diese psychologisch- vitalistische Konsequenz der direkten Anpassung habe ich bei den Hauptvertretern des Lamarckismus und Neo-Lamarckismus auf- zuweisen versucht und gezeigt, dass die älteren Anhänger dieser Lehre (Nägeli) und ihr Begründer selbst, diese Konsequenz nicht nur nicht gefürchtet, sondern anerkannt und ihren besonderen er- kenntnistheoretischen Fehler, die psychophysische Wechselwirkung, als etwas ganz Selbstverständliches sowohl betrachtet als gefordert haben (Nägeli). Bei Spencer ließ sich nachweisen, dass er den Lamarckismus nur insoweit anerkannte, als diese Konsequenz ver- mieden wird. Die neueren Vertreter des Lamarckismus dagegen haben es überhaupt unterlassen, die auf dieser Konsequenz (Zweck- ursache, psychophysische Wechselwirkung) beruhenden Einwände gegen das Prinzip der direkten Anpassung zu untersuchen, ein Prinzip, welches sie, sofern sie Gegner des Vitalismus sind, gar nicht annehmen könnten, wenn sie sich jener psychologisch -vita- listischen Konsequenz ihrer Ansicht vollständig bewusst gewesen wären. Da diese Konsequenz aber ganz unzweideutig besteht, so wäre es Sache des Neo-Lamarckismus, sich mit ıhr auseinander zu setzen; denn was diese Konsequenz betrifft, so stimmt darin der Begriff der direkten Anpassung bei denälteren und den modernen An- hängern des lamarckistischen Prinzips durchaus überein. Der Unter- schied liegt nur darin, dass die älteren (Nägeli) eine Verteidigung versuchten, die neueren es aber unterlassen haben, die Vereinbar- keit der direkten Anpassung mit einer nicht vitalistischen, sondern kausalen Grundauffassung von den Organismen und ihren Leistungen zu beweisen. Ein Vitaliıst wird diesen Beweis nicht zu führen haben. Wer aber die Einsicht gewonnen hat, dass nur die An- erkennung der Alleingültigkeit des Kausalprinzips irgendeine Förderung der wissenschaftlichen Erkenntnis gewährleistet, wird jenen Beweis für die direkte Anpassung (natürlich im Sinne einer direkten zweckmäßigen Reaktion) nicht führen können.

Den vorstehend kurz angedeuteten Gedankengang versuchte ich in meiner Schrift eingehend zu begründen. In diesem Referate will ich keine erkenntnistheoretischen Erörterungen wiederholen; aber es mag an einigen Beispielen aus der Ökologie gezeigt werden, wie die oben bezeichnete Konsequenz der direkten Anpassung entsteht.

Es seien zunächst einige notwendige Bemerkungen über den Begriff „Anpassung“ vorausgeschickt.

Die Ökologie kennt zahlreiche Einrichtungen an den Organis- men, von denen sie nachzuweisen vermag, dass ohne den Besitz derselben der Organismus unfähig wäre, unter den Bedingungen, die seine Umgebung bietet, zu existieren; Einrichtungen, die also einen nachweislichen Existenzwert haben, die, wie man sagt, zweck-

15*

398 Detto, Über direkte Anpassung.

mäßıg sind. Solche Einrichtungen (mögen ihre Leistungen passiver oder aktiver Natur sein), welche die Ökologie als gegeben vor- findet und zu beurteilen hat, nennt man allgemein „Anpassungen“, indem man darunter den Zustand des Angepasstseins versteht.

Nun stellt die historische Ökologie aber weiter die Frage nach der Entstehung, nach dem Zustandekommen jener Einrichtungen, jenes Angepasstseins. In welcher Weise hat sich der Organismus angepasst? Dieses „Sichanpassen“ bezeichnen wir gleichfalls mit dem Worte Anpassung, obwohl der Inhalt in diesem Falle ein ganz anderer ist. Der Vorgang des Sichanpassens ist selbstverständlich kein Angepasstsein, sondern hat ein solches zur Folge. Anpassung kann also sowohl einen Vorgang, als einen Zustand bezeichnen.

Diese Doppelsinnigkeit des Wortes Anpassung, welche dazu führt, einmal einen Zustand, das anderemal einen (historischen) Vorgang so zu benennen, macht eine strenge begriffliche Abgrenzung zwischen beiden Bedeutungen notwendig; denn es ist bedenklich, zwei Er- scheinungen, die im Verhältnisse von Ursache und Wirkung stehen, mit demselben Namen zu belegen.

Die tatsächlich nachweisbaren, zweckmäßigen Einrichtungen (das „Angepasstsein“* der Organısmen) sind Anpassungen im Sinne von Anpassungszuständen; die postulierten Prozesse, welche zur Entstehung solcher Einrichtungen führen (der Prozess des „Sich- anpassens“) sind Anpassungen im Sinne von Anpassungsvor- gängen. Darin liegen zwei Bedeutungen des Wortes, die völlig heterogen sind und auf deren Verschiedenheit bereits Spengel mit voller Klarheit hingewiesen hat!). Im Anschlusse an den von Haeckel?2) für „Anpassungslehre“ eingeführten Terminus „Ökologie“ habe ich im Interesse einer unzweideutigen Ausdrucksweise für alle Anpassungen im Sinne tatsächlich existierender zweckmäßiger Einrichtungen, also im Sinne von Anpassungszuständen (Angepasst- sein) die Bezeichnung „Ökologismus“ benutzt. Dagegen nannte ich alle jene Prozesse (empirischer oder hypothetischer Natur), welche einen Zustand des Angepasstseins (Ökologismus) hervor- bringen, direkt oder indirekt bewirken, „Ökogenesen*“.

Es handelt sich ın der Anpassungslehre, soweit sie sich nicht rein analytisch mit der Auffindung und Beschreibung von Öko- logismen befasst, nun um die Frage, wie der Prozess der Öko- genese zu denken sei, und zwar, wenn wir die kausale Natur- betrachtung zugrunde legen, wie der Prozess der Ökogenese ım Einklange mit dem Kausalprinzip zu denken seı.

Ich habe in meiner Schrift den Nachweis zu führen gesucht, dass die Annahme einer direkten Ökogenese, d. h. einer direkten

1) J. W. Spengel, Zweckmäßigkeit und Anpassung (Akad. Rede). Jena 1898. 2) Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. 1866. Bd. II, S. 286 f.

Detto, Über direkte Anpassung. 239

Hervorbringung von zweckmäßigen, der Umgebung adäquaten Zu- ständen resp. Einrichtungen in Widerspruch steht mit der kausalen Auffassung der Natur. Es kommt dabei aber wesentlich darauf an, was man unter direkter Anpassung verstehen will. Selbst- verständlich ist zunächst, dass „direkte Anpassung“ einen Vorgang des Sichanpassens bedeutet. Aber man kann mit einem Anpassungs- vorgange sehr Verschiedenes bezeichnen. Während es für die Ökologie keinen Sinn hätte, unter einem Anpassungsvorgange etwas anderes als eine Ökogenese, d. h. einen Prozess zu verstehen, der eine zweckmäßige Einrichtung zur Folge hat, nennen manche Forscher in einem sehr weiten Sinne jede Abänderung eines Organismus eine Anpassung, von der bekannt ist, dass sie durch die unmittelbare Einwirkung von seiten äußerer Bedingungen veranlasst wird. Bei dieser weiten Fassung des Begriffes ıst jede Standortsmodifikation natürlich eine Anpassung, und zwar eine direkte Anpassung, weil sich die unmittelbare Abhängigkeit zwischen Merkmal und Um- gebungsfaktor aufzeigen lässt.

In diesem Sinne freilich drückt der Begriff direkte Anpassung nichts anderes aus als die allgemeine Tatsache, dass die Gestaltungs- prozesse des Organismus in gesetzmäßiger Weise abhängig sind von den Faktoren der Umgebung, dem Standorte und dem Klima. Wenn von einem in der Ebene wachsenden Pflanzenstocke ein Teil ab- getrennt wird und, im Hochgebirge weiter kultiviert, dort unter dem Einflusse des ganz anders gearteten Klimas den Habitus und die Struktur alpiner Pflanzen annımmt (Bonnier), so kann man immer- hin diese Kausalbeziehung zwischen Umgebungsfaktoren und Ge- staltungsprozessen direkte Anpassung nennen. Dabeı ist aber nicht zu übersehen, dass hier der Schwerpunkt auf der Unmittelbarkeit, auf dem „Direkt“ liegt, und dass „Anpassung“ nichts weiter besagt als „gesetzmäßige Abhängigkeit“. Fasst man den Begriff der di- rekten Anpassung in diesem rein kausalphysiologischen Sinne, dann liegt es auf der Hand, dass von seiten der Ökologie nichts gegen ihn einzuwenden ist, weil er ın dieser Formulierung überhaupt keine Bedeutung für die Anpassungslehre hat; denn die Ökologie sucht nicht die Entstehung formativer Kausalzusammenhänge zu ergründen —- diese setzt sie als kausale Disziplin voraus , sondern die Entstehung der Zweckmäßigkeit in den Einrichtungen und Re- aktionen der Organismen auf Grund kausaler Zusammenhänge.

In einem ganz anderen Verhältnis als zur Ökologie steht jene kausalphysiologische Definition der direkten Anpassung zur Ab- stammungslehre; denn hier handelt es sich nicht um die Frage nach der Entstehung von Ökologismen, sondern um das Problem der Artenbildung. Man müsste die Bedeutung der direkten An- passung (in dem nicht ökologischen Sinne) für dieses Problem ohne weiteres zugeben, sobald die Erblichkeit von Standortsmodi-

230 Detto, Über direkte Anpassung.

fikationen bewiesen wäre. Denn wären jene erwähnten klimatischen Abänderungen an Pflanzen, die aus der Ebene in die Alpenregion versetzt wurden, konstant, so bestünde gar kein Zweifel darüber, dass durch den unmittelbaren Einfluss geänderter Bedingungen, also durch „direkte Anpassung“, eine neue Art entstanden wäre; denn die Konstanz der Merkmale begründet eben den Artbegriff. Gegen eine solche Auffassung spricht nichts weiter, als dass für die Erb- lichkeit so entstandener Formen weder sichere oder vor der Kritik haltbare Tatsachen, noch eine widerspruchsfreie Theorie, d. h. der Nachweis der theoretischen Möglichkeit, existieren.

Die Sachlage verändert sich wesentlich, wenn man mit direkter Anpassung einen ökogenetischen Prozess bezeichnen will, d. h. eine durch die Änderung eines Umgebungsfaktors veranlasste Neu- reaktion, welche nicht nur in gesetzmäßiger Abhängigkeit zu der Änderung jenes Faktors steht, sondern gleichzeitig eine zweck- mäßige (existenzwahrende) Antwort auf die Änderung desselben bedeutet. Es war die Hauptaufgabe meiner Schrift, zu zeigen, dass auf diesem Wege, d. h. auf dem Wege der direkten Okogenese (der direkten Anpassung im ökologischen Sinne) keine Anpassungen entstehen können, vorausgesetzt, dass man auf dem Boden des Kausalprinzips stehen bleiben und nicht den Vitalismus anerkennen will. Die Anerkennung des Kausalprinzips aber als der Grundlage der biologischen Forschung gestattet nur eine Art der Erklärung, nämlich die aus Kausalgesetzen; dem gegenüber zeichnet sich der Vitalısmus dadurch aus, dass ihm jede methodologische Basis fehlt und infolgedessen jede Deutungsweise gestattet ist, mag sie nun aus der Psychologie, der Theologie oder sonst woher entnommen sein.

Mit den Kausalgesetzen aber steht die Annahme einer direkten Ökogenese in einem unversöhnlichen Widerspruche, wie leicht zu zeigen ist.

Ich möchte zunächst, um Missverständnissen vorzubeugen, hervor- heben, dass ich nicht etwa die Tatsache bestreite, dass es Re- aktionen gibt, welche durch Änderungen der Bedingungen der Um- gebung kausal direkt veranlasst werden und gleichzeitig von seiten der Ökologie als zweckmäßig betrachtet werden müssen. Ich be- haupte vielmehr, dass diese Tatsachen, d. h. alle Fälle der Koinzi- denz von Kausalabhängigkeit und Zweckmäßigkeit, selbst der Erklärung bedürfen und nicht als Erklärungsgrund für die Entstehung von Anpassungen (Ökologismen) benutzt werden können. Denn im Rahmen der kausalen Biologie können solche Tatsachen nicht als elementare Leistungen des Organismus betrachtet, sondern sie müssen als komplex, als aus Kausalbeziehungen entstandene, als auf diesem Wege erworbene Fähigkeiten angesehen werden. Der Grund ist einfach der, dass nach dem Kausalprinzip eine Ur- sache ihre Wirkung niemals so bestimmen kann, dass die Qualität

Detto, Über direkte Anpassung. 231

der Wirkung eine Zweckbeziehung zur Ursache enthält. Das Ver- hältnis von Ursache und Wirkung ist ferner niemals durch Wert- urteile, sondern nur nach Zahlen bestimmbar.

Das Periderm unserer Bäume, die Korkschicht, welche Stamm und Äste derselben umhüllt, nachdem die Epidermis durch das Diekenwachstum gesprengt ist, steht bezüglich seiner Mächtigkeit in einem einfachen Verhältnisse zur Feuchtigkeit des Standortes der Bäume: seine Mächtigkeit nimmt zu mit der Trockenheit, haupt- sächlich mit der Insolation des Standortes. Sehr auffällig zeigt sich diese Erscheinung z. B. bei dem Elsbeerbaume (Sorbus tor- minalis), der als Begleitpflanze nicht selten in den Waldungen der Muschelkalkhügel an der Saale auftritt. Wo dieser Baum im ge- schlossenen Bestande wächst, trägt er selbst am Stamme nur ein papierdünnes Periderm; die Exemplare der sehr trockenen und einer bedeutenden Insolation ausgesetzten Plateauabstürze dagegen sind bis zu den jüngeren Ästen hinauf mit eimer dicken, eichen- artigen Borke bedeckt.

Mögen wir auch nicht wissen, auf welchen speziellen physio- logischen Ursachen diese Proportionalität zwischen Peridermstärke und Trockenheit beruht, so ıst in ıhr doch jedenfalls die Tatsache einer Kausalbeziehung, einer gesetzmäßigen Bedingtheit der Ge- staltung durch einen Umgebungsfaktor gegeben.

Da nun bekannt ist, dass Bäume, welche ım geschlossenen Bestande aufwachsen, nach Freistellung durch Abholzung der schützenden Nachbarstämme sehr leicht und häufig infolge der In- solation am „Rindenbrande“* zugrunde gehen, so muss man der Fähigkeit des Korkkambiums bei Trockenheit stärkere Periderm- schichten zu bilden einen existenzbestimmenden Wert, also Zweck- mäßigkeit zuschreiben. Die Peridermverdickung (resp. Borke- bildung) infolge von Trockenheit ist also gleichzeitig eine Reaktion, deren Qualität in zweckmäßiger Beziehung zu ihrem Reize, ihrer Ursache steht.

Für den Vitalismus ist dieses Phänomen dadurch erledigt, dass er das zweckmäßige Reagieren für eine elementare Eigentüm- lichkeit der Organismen hält, die entweder als gegeben hingenommen werden muss oder nach Maßgabe bekannter Analogien (mensch- licher Wille, kosmische Intelligenz) gedeutet wird. Der kausalen Biologie bietet sich hier ein schwieriges Problem: die Zweckmäßig- keit der Reaktion muss in betreff der Entstehung nach Kausal- gesetzen gedeutet werden.

Es hindert uns nichts, die soeben besprochene Tatsache bezüg- lich des Periderms als eine direkte Anpassung zu bezeichnen —, denn es ist ja klar, dass mit der Trockenheit auch die Periderm- zunahme unmittelbar gesetzt, also direkt hervorgerufen ıst, und dass eine Anpassung im ökologischen Sinne vorliegt. Aber es ist

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einleuchtend, dass mit dieser Bezeichnung eben nichts als eine Tat- sache ausgedrückt ist; die Fähigkeit des Baumes, in der genannten Weise zweckmäßig zu reagieren, ist damit nicht erklärt, auf kein Kausalverhältnis zurückgeführt. Direkte Anpassung im ökologischen Sinne ist ein Problem —, denn die Fähigkeit zu einer derartigen direkten Anpassung ist eben selbst ein Anpassungszustand. Es kann demnach die Entstehung von Ökologismen durch die Tatsache der direkten Anpassung (im genannten Sinne) deshalb nicht erklärt werden, weil jene direkte Anpassung auf einer Fähigkeit beruht, welche selbst ein erst entstandener Ökologismus ist. Aus diesem Grunde sind jene ökologischen Tatsachen, welche man als direkte Anpassungen bezeichnen könnte, auch keine Ökogenesen, d.h. keine Prozesse der Ausbildung von Ökologismen, sondern sie sind als Auslösungen bereits bestehender Anpassungszustände zu betrachten.

Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die gegenteilige Auf- fassung solcher Reaktionen unzweifelhaft zum Vitalismus, zum Ver- lassen des kausalen Bodens führt.

Wie soll man es sich als einfache, elementare Beziehung vor- stellen, dass die Trockenheit die Peridermbildung nicht nur über- haupt beeinflusst, sondern gleichzeitig derartig, dass der Effekt ın Form einer Anpassung auf die Ursache, die Trockenheit, zurück- wirkt, d. h. in der Weise, dass der schädigende Einfluss der Ur- sache durch den Effekt kompensiert wird? Überredet die Trocken- heit den Organismus zu dieser Reaktion oder weiss der Baum, dass und wie er eine wasserdichte Schicht erzeugen muss, um sich und seine Nachkommen zu erhalten? Auf eine Beantwortung solcher Fragen wird man sich einlassen müssen, wenn man die als direkte Anpassung bezeichneten Reaktionen nicht als Auslösungen eines ge- gebenen, seiner Entstehung nach in anderer Weise zu erklärenden, in bestimmten Grenzen zweckmäßig wirkenden Apparates (Öko- logismus), sondern als Beispiele für primäre Anpassungsakte an- spricht, dafür, wie Anpassungen (Anpassungszustände) entstehen sollen.

Wir können dieses Ergebnis ganz allgemein so ausdrücken: wenn eine durch einen Umgebungsfaktor veranlasste organische Re- aktıon derart beschaffen ist, dass sie den Organismus gegen schädigende Einflüsse von Seiten jenes auslösenden Faktors schützt, so ist diese Beschaffenheit der Reaktion kein direktes Ergebnis der Einwirkung des veranlassenden Faktors, sondern ein indirekter, d. h. durch andere Kausalbeziehungen vermittelter Erfolg. Nur so lässt sich der Kausalzusammenhang des Ganzen aufrecht erhalten und die Ein- führung von Zweckursachen und elementaren Finalbeziehungen aus- schließen.

Darwin war bekanntlich der erste, der auf dem Boden kausaler Naturbetrachtung den Weg sah und beschritt, die Zweckmäßigkeit

Detto, Über direkte Anpassung. 233

im Bau und in den Reaktionen der Organısmen ihrer Entstehung nach zu begreifen, aus allgemeineren Sätzen abzuleiten. Zwei Sätze lieferten ihm dazu die Basis: der von der Variabilität der Arten und der von der Konkurrenz der Individuen. Aus diesen Voraus- setzungen folgt mit Notwendigkeit der Satz der Selektion des Passendsten, der die Erklärung der Ökologismen auf kausalem, auf indirektem Wege enthält.

Das Kausalprinzip verbietet die Annahme einer direkten Öko- genese; nach diesem Prinzip ist das Zusammentreffen von Kausalı- tät und Finalität in den Reaktionen der Organismen nur möglıch durch einen historischen Prozess, der auf indirektem Wege jene Koinzidenz durch kausale Erzeugung eines komplexen Apparates entstehen ließ.

Darwins Satz von der Variabilität der Arten enthält aber die besondere Forderung, ohne welche die Selektionstheorie ihr Ziel nicht erreichte, dass die Möglichkeit eines zufälligen Zusammen- treffens zwischen der kausalen Reaktion eines Organismus und einem, wenn auch minimalen Nutzeffekt der Reaktion gegenüber dem auslösenden Faktor besteht, d. h. logisch zulässig ıst, wobei der Schwerpunkt nicht etwa auf dem Minimum des Nutzeffektes, sondern auf der logischen Möglichkeit des Zufalls in jenem Zu- sammentreffen liegt. Es ıst ersichtlich, dass die kausale Bedeutung der ganzen Theorie von dieser logischen Möglichkeit abhängt; es ist mir aber nicht bekannt, dass jemand dieselbe mit Hilfe der Wahr- schemlichkeitsrechnung widerlegt hätte, womit der einzige metho- dologische Einwand zu liefern wäre.

Wenn Darwin sagt, durch das Überleben des zufällig Existenz- fähıgeren sei die Zweckmässigkeit der Organismen entstanden, so könnte man hier hervorheben (was die Lamarckianer aber meines Wissens nicht getan haben), dass das Eintreten eines solchen Zu- falles eine direkte Anpassung sei. Aber dieser Einwand wäre falsch, weil das Zusammentreffen zwischen der Qualität und dem Nutzen -der Reaktion nicht beruht auf einer Beziehung des auslösenden Faktors zu dem Effekte der Reaktion für den Organismus, sondern sich ableitet aus einer (kausal begründeten) Konstellation im Orga- nismus, die von gar keinem Werte gewesen wäre ohne die zu- fällıge Berührung mit jenem Faktor. Mit anderen Worten: der Faktor wirkte noch nicht, als jene Konstellation bereits existierte. Wenn aber auf Grund eines solchen Zusammentreffens ein Organis- mus erhalten blieb, wenn seine konstitutionelle Besonderheit sich in seinen Nachkommen erhielt und der in Betracht stehende Faktor konstant im Lebensbereiche dieser Nachkommen fortwirkte, so konnte, weitere günstige Variationsrichtungen vorausgesetzt, ein komplizierterer Ökologismus entstehen, dessen auf indirektem Wege entwickelte, nützliche Reaktionsweisen eine feste ökologische Be-

234 Detto, Uber direkte Anpassung.

ziehung zu jenem Faktor erwerben mussten, ein Verhältnis, durch das sich die „Tatsachen der direkten Anpassung“ auszeichnen und durch das ıhre Erklärung aus einem indirekten, historischen Prozesse gefordert wird.

Dass also direkte Anpassungen im ökologischen Sinne keine Bedeutung für die Entstehung von Anpassungen (Ökologismen) haben können, geht daraus hervor, dass sie selbst Äußerungen ge- gebener Ökologismen sind, also selbst der kausalen Erklärung bedürfen. Daraus folgt ohne weiteres, wieweit ihre Bedeutung für die Deszendenztheorie geht: dass eine neue Form durch die Fixie- rung einer ökologischen (strukturellen) Reaktion entstehen kann, wenn die Fixierung derselben möglich ist, kann nicht geleugnet werden. Aber die Chancen für diese Form der Artbildung (die man sich z. B. bei Polygonum amphibium eintretend denken könnte) dürften nicht sehr groß sein; denn einmal setzen sie die Verer- bung somatogener Eigenschaften (in diesem Falle reversibler Re- aktıonsmodi) voraus; sodann kann eine solche Artbildung deshalb nicht sehr wahrscheinlich sein, weil sie mit einer Einschränkung des ökologischen Reaktionsvermögens verbunden sein müsste, da ihre Entstehung ja mit der Fixierung einer Reaktionsweise (resp. eines Teiles derselben) der Vorfahren verbunden sein muss und demnach mit dem Verluste der anderen.

Schließlich ıst noch darauf hinzuweisen, dass es auch nicht möglich ist, die Erscheinungen der direkten Anpassung (im Sinne nützlicher Reaktionen) auf eine allgemeine Anpassungsfähig- keit zurückzuführen.

Man kann unter allgememer Anpassungsfähigkeit zweierlei ver- stehen. Erstens eine den Organismen schlechthin zukommende Eigentümlichkeit, eine Eigenschaft, welche im Wesen des Lebendigen überhaupt liegt. Diese Eigentümlichkeit müsste sich darin äußern, dass jeder Organismus imstande ist, nötigenfalls nur eingeschränkt durch die Grenzen der Lebensmöglichkeit überhaupt auf äußere Einwirkungen mit zweckmäßigen, existenzerhaltenden Reaktionen zu antworten. Wer auf dem Boden einer kausalen Biologie steht, wird ohne weiteres sehen, dass eme solche Annahme dort nicht haltbar ist. Denn abgesehen davon, dass sie nichts als eine Um- schreibung der Tatsachen liefert, würde mit ıhr eben dem Proto- plasma eine finale Fähigkeit elementarer Natur zugeschrieben, welche derselben Kritik unterliegt wie irgendeme spezielle Fähig- keit zu direkter Anpassung.

Zweitens könnte man annehmen, dass die Organismen bereits auf frühester Stufe eine solche Fähigkeit zu allgemeiner Anpassung erworben hätten. Dieser Gedanke aber ist aus anderen Gründen unhaltbar. Anpassung ist ein Begriff, der erst durch das Objekt, an das eine Anpassung stattfindet, und durch die speziellen Lebens-

Goldschmidt, Amphioxides, Vertreter einer neuen Acranier-Familie. 235

bedingungen des Organısmus bestimmt wird. Ein einfachstes Ur- wesen hat keine allgemeineren Lebensbedingungen als ein kom- plizierter Organismus und kann nur für den Kreis seiner besonderen Umgebungsfaktoren Anpassungen erwerben, nicht aber eine Anpas- sungsfähigkeit, welche erst späteren Geschlechtern von Nutzen wird und die als solche, als bloße Fähigkeit sich an irgend etwas anpassen zu können, ein unsinniger Begriff ist.

Jedes Lebewesen, auch das einfachste, kann immer nur spezielle

Existenzbedingungen haben; eine allgemeine Fähigkeit zur Anpassung kann nichts anderes bedeuten als die Fähigkeit zur Variabilität, welche eine Voraussetzung für die Entstehung von Anpassungen ist. Die zahlreichen Übereinstimmungen in en Regulationen des Protoplas- mas niederer und harlnossenislanke essen beweisen nicht eine allgemeine Anpassungsfähigkeit; sie zeigen vielmehr, dass solche Erwerbungen dauernd erhalten bleiben, welche dauernd mit einem Nutzen verbunden waren.

Wenn Lamarck die Umbildung und Entstehung von Organen auf das Bedürfnis nach entsprechenden, existenzerhaltenden Abände- rungen zurückführt, so vertritt er mit dieser Auffassung die direkte Anpassung im ökologischen Sinne. Schränkt man dagegen den Begriff des Lamarckismus, wie es manche moderne Vertreter dieser Lehre tun, ein auf den Satz, dass aitiogene, d. h. durch die Um- gebung kausal bestimmte Abänderungen (nebst den dazu gehörigen Effekten der funktionellen „Anpassung“) durch Vererbung fixierbar sind, so lässt sich gegen diese Formulierung des Lamarckismus vom kausalen Standpunkte aus nichts einwenden, und es bliebe nur übrig die Vererbung somatogener Eigenschaften wahrscheinlich zu machen. In dieser Fassung ist der Lamarckismus eben keine ökologische, sondern eine rein phylogenetische Theorie; in dieser Form kann er nicht die Entstehung von Anpassungen, sondern nur die Entstehung neuer Arten und nur die Fixierung günstiger (Gonavariationen er- klären. Denn die Zurückführung der Ökogenese auf funktionelle Anpassung ist einerseits nur für emen Teil der Ökologismen mög- lich, andrerseits setzt die funktionelle Anpassung bereits ein zu erklärendes nützliches Verhältnis zwischen Funktion und Organ- änderung voraus.

Amphioxides, Vertreter einer neuen Acranier-Familie. (Vorläufige Mitteilung.) Von Dr. Richard Goldschmidt (München). Im Jahre 1889 beschrieb Günther nach einem von der Challengerexpedition gefischten Exemplar einen neuen Acranier als Branchiostoma pelagieum. Der schlechte Erhaltungszustand er-

336 Goldschmidt, Amphioxides, Vertreter einer neuen Acranier-Familie.

laubte keine nähere Untersuchung, es schien sich aber um eine pelagisch lebende Form zu handeln. Als auffallender Charakter wurde das gänzliche Fehlen eines Tentakelapparates festgestellt. Seitdem ging diese Form als spec. inc. durch die Literatur, da besonders letzterer Charakter wenig glaubhaft schien. Kirkaldy, die das Challengerexemplar nachuntersuchte, konnte auch nichts weiteres daran feststellen. Im Jahre 1895 stellte dann Gill, immer noch auf Grund jenes Exemplars das Genus Amphiowides auf. Delage und H&rouard verzeichnen die Art in ihrem Traite de zoologie concerete und bemerken zu dem angeblichen Fehlen des Tentakelapparates, dass dieser Charakter, wenn er wirklich zuträfe, mindestens die Aufstellung einer besonderen Ordnung rechtfertige. Ein zweites Exemplar wurde erst wieder von Cooper 1903 beschrieben, war aber wieder so schlecht erhalten, dass er noch weniger ale Günther feststellen konnte. Er bemerkt nur, dass der mann sehr reduziert sein müsse. Im gleichen Jahr lagen Tattersall 6 Exemplare vor, die noch weniger er- gaben. Schließlich untersuchte Parker (1904) ein „exceptionally well preserved“ Exemplar, stellte fest, dass jederseits eine Reihe von 33 Gonaden war, wie schon Günther angab, die in der Mittel- linie des Bauches so zusammengepresst waren, dass sie wie eine mediale Reihe erschienen. Er bestätigt die Angaben über das Fehlen des Tentakelapparates und wundert sich darüber, dass er keine Spur von einem Kiemendarm fand. Es sei dazu gleich be- merkt, dass er ebenso wie Günther die merkwürdigen Kiemenbögen als Gonaden beschrieb und abbildete. Endlich be- schrieb Cooper (1903) eine Anzahl pelagische Acranier-Larven, von deren Bau er manches auch richtig erkannte, die in Wirklich- keit nichts anderes sind als junge Amphio.xides.

Das mir vorliegende Material stammt aus den Schätzen der deutschen Tiefseexpedition und besteht aus 26 wohl erhaltenen Exemplaren, die sämtlich der Gattung Amphioxides zugehören und sich auf 3 nahe verwandte Spezies A. pelagieus Günther, 4A. valdiviae n.sp. u. A. stenurus n.sp. verteilen. Die meisten Exemplare sind junge Tiere mit den ersten Anlagen der Geschlechtsorgane, einige zeigen aber bereits mehr oder minder weit entwickelte Gonaden. Sie sind sämtlich bei Vertikalnetzzügen aus bedeutender Tiefe im offenen Meere oft mehrere hundert Meilen von der nächsten Küste ent- fernt gefangen. Hieraus wie aus dem ganzen Bau folgt eine rein pelagische Lebensweise. Die Verbreitung ist circumäquatorial im Atlantik, Pazifik und Indik. Die meisten bisher gefundenen Exem- plare stammen aus dem letzteren Ozean.

Die Körperform ıst sehr schmal und langgestreckt, und aus- @czeichnet durch die kräftig entwickelte Schwanzflosse, die von zarten Fäden, wie sie sich auch bei den jüngsten Larven unseres

Goldschmidt, Amphioxides, Vertreter einer neuen Acranier-Familie. 257

Branchiostoma finden, gestützt wird. Die sogen. Flossenstrahlen sind nur dorsal vorhanden, fehlen ventral vollständig. Die Meta- pleuralfalten sind von der Schwanzflosse unabhängig und die rechte ist viel stärker entwickelt als die linke. Die Zahl der Myotome beträgt 67—68, davon 15 bei A. pelagicus, 11 bei A. valdiviae hinter dem Anus. Nervensystem und Chorda bilden wenig Besonder- heiten, letztere ist bei A. valdiriae stumpf, vor der Schwanzspitze abgesetzt, bei A. pelagieus reicht sie, zu einer sehr feinen Spitze ausgezogen, bis ins äußerste Schwanzende. Besonders interessant ist der Darmkanal, der in Kiemendarm und verdauenden Darm- abschnitt gesondert ist. Eine Leber fehlt. Der Kiemendarm reicht bis zum Beginn des Rostrum und endigt hier blind wie beı der

„.präorales Organ

> Endostyl

ER \ Gonaden Amphioxides pelagicus von der rechten Seite. Größe 1 cm.

Larve unseres Branchiostoma (s. nebenstehende Figur). Der Mund ist wie bei jener Larve eine auf der linken Körperseite gelegene ausgedehnte Spalte, die durch einen stark entwickelten Muskel- apparat verschlossen werden kann. Der Kiemendarm selbst ist durch eine rechts und links vorspringende Falte in einen dorsalen nutritorischen und einen ventralen sackförmigen respiratorischen Darmabschnitt geschieden. Der Mund bricht mitten durch die Leibeshöhle direkt in den dorsalen Darmabschnitt durch. Die un- gewöhnliche Form des Kiemendarmes ist es, die besonders cha- rakteristisch erscheint. Eine genaue Darstellung kann hier nicht gegeben werden, da sie zahlreiche Abbildungen erfordert. Der Bau der einzelnen ausgebildeten Spalte ist so verwickelt, dass er über- haupt nur an Hand eines Plattenmodells verstanden werden kann. Das Wesentliche ist vor allem die rein ventrale Lage der unpaaren Kiemenspalten, die mit den ausgebildeten Organen der Branchio-

238 Goldschmidt, Amphioxides, Vertreter einer neuen Acranier-Familie.

stomiden ın keiner Weise verglichen werden können. Sie mün- den in einer Reihe hintereinanderliegend, bis zu 34, ventral zwischen den Metapleuralfalten nach außen. Dazwischen sind die paarigen Kiemenbögen durch komplizierte Faltungen zu eigenartigen Säcken umgeformt, die auf den ersten Blick wie Gonaden aussehen und ja auch als solche beschrieben wurden. Zu jedem dieser Kiemen- bögen gehört ein ventraler Transversalmuskel, von dem einmal Fasern nach der Innenwand der Spalten ausstrahlen; sodann läuft jederseits nach vorn und hinten ein bogenförmiger Faserzug, der sich mit dem entsprechenden des nächsten Bogens zu einem Sphinkter der Spalte vereinigt. Die Muskeln bestehen aus glatten Muskelfasern von charakteristischem Bau, die jederseits strahlig auseinanderweichend an der Leibeshöhlenwand inserieren.

Die Kiemenspalten sind streng segmental angeordnet. Es liegen aber vor dem ersten Muskelsegment noch weitere 2—-4 Spalten, die bereits ein wenig rudimentär erscheinen. Da sich zu ihnen gehöriges undifferenziertes Mesoderm nachweisen lässt, so ergeben sich für die Kopfmetamerie der Acranier bedeutsame Befunde. Hier müssen diese Andeutungen genügen. Bemerkenswert ist noch das Verhalten des Endostyls, das am vorderen blinden Ende des Kiemen- darmes beginnt und sich ım Bogen dorsalwärts in den nutritorischen Darmabschnitt hineinerstreckt, was für die vergleichende Betrach- tung von großer Wichtigkeit ist. Seinem hinteren Rande liegt die wohlausgebildete kolbenförmige Drüse an.

Es wurde gesagt, dass die Kiemenspalten ventral zwischen den Metapleuralfalten ausmünden. Sie münden direkt in die Außen- welt, denn ein Peribranchialraum fehlt vollständig. So erklärt es sich, dass frühere Beobachter nie mit Sicherheit die Lage des porus abdominalis feststellen konnten.

Vor dem Mund öffnet sich ebenfalls auf der linken Seite mit einem großen Schlitz das „präorale Sinnesorgan“. Es ist sehr kräftig ausgebildet und lässt deutlich die auch bei Branchiostoma- Larven entwickelten dorsalen und hinteren Ausstülpungen erkennen. Besonders letztere ıst in Form eines langen charakteristisch ge- formten Sackes entwickelt. Auch dieses Organ besitzt seinen be- sonderen Muskelapparat aus glatten Muskelfasern bestehend.

Schließlich seien noch die lediglich rechts vorhandenen Ge- schlechtsorgane erwähnt, die sich in mehr oder minder weit ent- wickeltem Zustand an dem ventralen Ende des 18. bis 42. Myotoms vorfanden. Völlig geschlechtsreif ist leider keins der mir vor- liegenden Exemplare. Auf die Verhältnisse der Rostralhöhlen schließlich, die auch manches Interessante bieten, aber nur an Hand zahlreicher Schnitte besprochen werden können, will ich hier nicht eingehen, ebensowenig wie auf die Anordnung mesen- chymatöser Elemente ım Rostrum.

Goldschmidt, Amphioxides, Vertreter einer neuen Acranier-Familie. 239

Die Gattung Amphioxides ist nach allem dem von den Bran- chiostomiden so wesentlich unterschieden, dass dafür die neue Familie der Amphioxididae aufzustellen ist. Der Bau dieser pelagi- schen Aeranier scheint mir auf die Stellung der Branchiostomiden im Chordatenstamm, vor allem aber auch auf die merkwürdige Asymmetrie in der Entwickelung von Branchiostoma lanceolatum Licht zu werfen. Warum legen sich die Kiemenspalten hier als eine unpaare ventrale Reihe an, rücken dann auf die rechte Körper- seite, über und zwischen ihnen legt sich eine zweite Reihe an und erst mit der Metamorphose rückt die erste Reihe auf die linke Seite hinüber? Bei Arnphioxides finden wir zeitlebens die unpaare mediane Kiemenspaltenreihe, die sich aber durch die Symmetrie der paarigen Bogen und der Muskulatur als symmetrisches Organ erweist. Nun haben wir bei Amphioxides den Mund auf der linken Körperseite wie bei unseren branchiostoma-Larven. Wir sehen im Bereich des Mundes den Kiemendarm stark nach rechts verschoben, ohne dass seine innere Symmetrie geändert wird und können nach-

weisen, dass diese Verlagerung bei älteren Tieren verschwindet sie wieder eine Folge des Durchbruchs des Mundes in den dor-

salen Darmabschnitt ist. Wir sehen schließlich das Endostyl über den Kiemenbogen weg ın den dorsalen Darmabschnitt führen. Nehmen wir nun an, dass Anphioxides die primitive Form ist, so verstehen wir plötzlich die gesamte Asymmetrie in der Dranchio- stoma-Entwickelung. Die ursprünglich ventrale Anlage der späteren linken Kiemenspalten beim Branchiostoma repräsentiert den prımi- tiven Zustand. Denn bei der Anordnung der Muskulatur, die zur Zeit des Kiemendurchbruchs fertig ist, ıst eine andere Ausmündung als ventral zwischen den Metapleuralfalten ausgeschlossen. Die ventrale Erstreckung der Kiemenspalten bis ins vorderste Darm- ende erfordert nun einen Durchbruch des Mundes in den dorsalen nutritorischen Darmteil, und dieser erfolgt auf der linken Seite. Was bei Amphioxides dann zeitlebens bestehen bleibt, ıst nach der scheinbaren Herstellung der Symmetrie bei Branchiostoma ja auch der Fall: der Mund erweist sich trotz seiner sekundären symmetri- schen Lage bekanntlich durch die Innervierung als ein Organ der linken Seite. Rechts dorsal von der ventralen Kiemenreihe führt bei Amphioxides das Endostyl in den dorsalen Darmabschnitt, und in der gleichen Lage finden wir es bei jungen BDranchiostoma-Larven. Die Erklärung gibt Amphioxides, das Endostyl sorgt, dass die Nahrungspartikel dem ventralen respiratorischen Darmabschnitt fernbleiben. Alles weitere, was nunmehr in der Entwickelung des Branchiostoma geschieht, sind vom Chordatenstamm weit abführende Modifikationen, die durch das Bodenleben bedingt sind. Dies er- fordert zunächst eine größere respiratorische Oberfläche, die aber unter den gegebenen Verhältnissen nur erreicht werden kann, wenn

940) Goldschmidt, Amphio.xides, Vertreter einer neuen Acranier-Familie.

eine größere Oberfläche zur Außenwelt geschaffen wird. Dies ge- schieht durch die Bildung des Peribranchialraums, ein Stück Außen- welt wird in das Tier einbezogen. Jetzt werden neue Kiemen- spalten angelegt, die sich ausdehnen und die nach rechts herüber- geschobenen medianen jetzt nach links drängen. Es wird so scheinbar wieder eine Symmetrie hergestellt, ebenso wie der Mund in die Symmetrieebene rückt. Linke und rechte Kiemenspaltenreihe des Branchiostoma erweisen sich somit als ganz heterogene Dinge, das in der Symmetrieebene liegende Endostyl als gar nicht symmetrisches Organ, ebenso wie der Mund und das ganze Branchiostoma als eine weitgehend durch seine Lebensweise modifizierte Form.

Es müssen hier diese Andeutungen genügen, die in der aus- führlichen Arbeit im Reisewerk der deutschen Tiefseexpedition näher begründet werden sollen; dort soll auch erörtert werden, warum wir Amphioxides nicht etwa als eine neotenische Larvenform auffassen können.

Klasse: Acrania Haeckel.

1. Familie: Branchiostomidae Bon.

Acranier mit Peribranchialraum, ventralem mit Cirren aus- gerüstetem Mund, Kiemendarm mit lateralen, seine ganze Höhe einnehmenden Kiemenspalten. Typus: Dranchiostoma lanceolatum Yarrell.

2. Familie: Amphioxididae fam. nov.

Acranier ohne Peribranchialraum, linksgelegenem schlitzförmigem Mund; Kiemenspalten in der ventralen Mittellinie, Kiemendarm in dorsalen nutritorischen und ventralen respiratorischen Abschnitt getrennt. Pelagisch lebend.

Einziges Genus: Amphioxides Gill mit den Charakteren der Familie.

1. A. pelagiceus Günther.

Chorda spitz in das Schwanzende fortgesetzt, 15 postanale Myotome.

2. A. valdiviae nov. spec.

Uhorda vor dem Schwanzende stumpf endigend, 11 postanale Myotome.

3. A. stenurus nov. spec. Myotome 55:15, Hinterende stark verschmälert. [25]

München, Januar 1905.

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer.

Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen.

XXYV. Bd. 15. April 1905. M 8.

Inhalt: Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode. Carlgren, Noch einmal Polyparium ambulans Korotn. Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen (Fortsetzung). Wery, Josephine, Quelques experiences sur l’attraction des abeilles par les fleurs. Wasmann, Ganglbauer, Die Käfer von Mitteleuropa. Gaupp, Ecker’s und Wiedersheim’s Anatomie des Frosches.

Über die Erblichkeit der Tagesperiode,

Von Richard Semon.

In den letzten drei Jahren habe ich zu verschiedenen Zeiten Versuche angestellt, die bezweckten, bei geeigneten pflanzlichen Objekten das Zeitmaß der Tagesperiode zu verändern. Etwaige positive Resultate gedachte ich als Beispiele von engraphischer Wirkung der Reize auf Individuen, die eines selbständig differen- zierten Nervensystems ermangeln für das zweite Kapitel meines Buches über die Mneme!) zu verwerten. Aus Gründen, auf die ich unten noch’ zurückkommen werde, gelang es mir nicht, das angestrebte Ziel zu erreichen. Bei diesen Versuchen trat aber un- erwarteterweise die Tatsache zutage, dass die Periodizität der nyktinastischen Variationsbewegungen wenigstens bei gewissen Pflanzen erblich fixiert ist. Seit den berühmten Pfeffer’schen Untersuchungen über die periodischen Bewegungen der Blattorgane (Leipzig, 1875) hatte man wohl allgemein das Gegenteil angenommen, und die Anschauungen von Dutrochet, Sachs und Hofmeister, welche Erhellung und Verdunkelung nur als Regulator erblicher perio-

1) R.Semon. Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Leipzig, W. Engelmann 1904.

XXV. 16

249 Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode.

discher Bewegungen angesehen hatten, schienen endgültig widerlegt. Pfeffer hat dieser Frage besondere Aufmerksamkeit zugewendet und kommt zu dem Schluss (a. a. ©. S. 36): „Die mitgeteilten Ver- suche zeigen unwiderleglich, dass die täglichen periodischen Be- wegungen den Blättern nicht als historisch gegebene Eigentümlich- keiten zukommen“).

Ausgehend von den auch mir zunächst einleuchtenden Pfeffer- schen Schlüssen stellte ich im Juni, Juli und August 1902 eine Reihe von Versuchen an älteren Exemplaren von Acacia lophantha und Mömosa pudica an, denen folgender Gedankengang zugrunde lag: Wenn, wie Pfeffer nachgewiesen zu haben glaubt, die täg- lichen periodischen Bewegungen lediglich durch Beleuchtungswechsel hervorgerufen werden, so muss es nach dem Abklingen der soge- nannten „Nachwirkungen“, das nach Pfeffer verhältnismäßig bald eintritt, ohne weiteres gelingen, durch einen in anderem Tempo erfolgenden Beleuchtungswechsel die zeitlichen Werte der Perioden zu ändern, ‘und nach einiger Zeit auch entsprechend veränderte „Nachwirkungen“ zu erzielen. Zu meinem Erstaunen misslangen aber die damals angestellten Versuche in bezug auf den erwarteten Erfolg vollkommen. Obwohl ich z. B. ein Exemplar von Mimosa pudica und ein Exemplar von Acacia lophantha nicht weniger als 44 Tage lang einem Beleuchtungswechsel von 24stündiger Hellig- keit und 24stündiger Dunkelheit aussetzte, folgten zu keiner Zeit die Reaktionen der Pflanzen als einfache photo- und nyktinastische Reaktionen entsprechend den neuen Beleuchtungsverhältnissen, sondern in einer eigenartigen, sehr verwickelten Kurve. Ich gehe auf diese Kurven, die bei aller Komplikation eine ausgesprochene Regelmäßigkeit besassen und sich bei Memosa und Acacia sehr ähnelten, nicht näher ein, weil die gleich zu beschreibenden späteren Experi- mente weit einfachere und leichter zu deutende Resultate ergaben. Nebenbei sei erwähnt, dass ich alle erforderlichen Kautelen, vor allem vollständigen Lichtabschluss während der Verdunkelung, Aus- schaltung der Wärmestrahlen während der Beleuchtung (elektrisches Glühlicht von 25 Kerzenstärke) angewandt habe. Die Wirkung der strahlenden Wärme wurde durch zwischengeschaltete, mit Wasser gefüllte Glasgefäße beseitigt. Um von außen her kommende Tempe- raturschwankungen möglichst auszuschließen, fanden diese im Sommer vorgenommenen Experimente in einem Keller statt.

Aus dem negativen Resultat dieser Versuche ergab sich bereits, dass die Tagesperiode der Variationsbewegungen keinesfalls ein ein- faches Produkt der photischen Originalreize ist, sondern dass dabei

1) Vgl. ferner W. Pfeffer a. a. O. S. 30, 37, 172 und desselben Autors Pflanzenphysiologie Bd. II, 1904, S. 245, 255, 479, 491, wo überall besonderer Nachdruck darauf gelegt wird, dass die nyktinastischen Nachwirkungen nicht erblich geworden sind.

Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode. 943

eine sei es ererbte, sei es individuell erworbene Disposition der Pflanzen mit in Frage kommt, die sich nicht ein fremdes Zeit- maß aufzwängen lässt. Wenn diese Disposition individuell er- worben ist, so klingt sie jedenfalls nicht so schnell aus, wie Pfeffer dies aus seinen Eperimenten für die nyktinastischen „Nachwirkungen“ deduziert, denen er eine höchstens achttägige Dauer zuschreibt. Gelang mir doch, wie erwähnt, in den Experimenten vom Sommer 1902 die Aufzwängung eines fremden Tempos auch nach sechs- wöchiger Beeinflussung nicht, also in einer Zeit, in der nach Pfeffer die nyktinastischen Nachwirkungen längst ausgeklungen sein mussten.

Ich nahm nun zunächst an, jene „Nachwirkungen“ oder, wie ich mich mit meiner eigenen Nomenklatur ausdrücken will (vgl. Mneme, Kap. II), jene individuell erworbenen Engramme hätten einen längeren Bestand und übten eine längere Wirksamkeit, als Pfeffer ange- nommen hatte. Um sie ganz auszuschalten, experimentierte ich von da an nicht mehr mit älteren Pflanzen, die früher bereits den natürlichen Beleuchtungswechsel an sich erfahren hatten, sondern ich wählte Keimpflanzen, die bis zum Beginn der Versuche in voll- kommener Dunkelheit kultiviert worden waren.

Diese Keimpflanzen wurden alsdann im Dunkelschrank einer intermittierenden Beleuchtung durch elektrisches Glühlicht (10 Kerzen) ausgesetzt, und zwar ein Teil in einem 6stündigen, ein anderer Teil in einem 24stündigen Turnus von hell und dunkel. Als Dunkel- schrank verwendete ich einen Brütofen mit wassergefüllten Hohlwänden, dessen Innentemperatur durch die geringen Temperatur- schwankungen des bei Tag und Nacht gleichmäßig durch Dauer- brandofen geheizten Zimmers nicht merklich beeinflusst wurde. Wäh- rend die täglichen Temperaturschwankungen beı dieser Versuchs- anordnung als so gut wie ausgeschaltet zu betrachten sind, wurden andrerseits keine Vorkehrungen getroffen, um ein Steigen der Tem- peratur im Dunkelschrank während der Belichtung und ein Fallen während der Verdunkelung zu verhindern. Es wurde dies absicht- lich nicht vermieden, weil so die Bedingungen den natürlichen Ver- hältnissen ähnlicher wurden, und weil gerade dadurch innerhalb des Dunkelschranks ein thermischer 6- bezw. 24stündiger Turnus entstand. Diesem gegenüber mussten natürlich minimale nicht völlig beseitigte thermische Schwankungen, die als Erzeugnisse der Tageszeit 12stündigen Turnus haben würden, gänzlich bedeu- tungslos werden. Besonders gilt das für die Fälle, in denen em 6stündiger Beleuchtungsturnus gewählt worden ist. Übrigens er- gaben sich, bei der Anwendung des wenig heizenden elektrischen Glühlichts nur Temperaturdifferenzen von 4—5° C. zwischen Be- leuchtung und Verdunkelung, die bei unseren Versuchen ohne Be- deutung sind, da nach Pfeffer (Per. Bew. S. 33) die zu den Ver-

16*

AA Semon, Über die Erhlichkeit der Tagesperiode.

suchen verwendeten Pflanzen nachweislich nicht merklich darauf reagieren.

Da die Keimpflanzen von Mimosa bei der Kleinheit des Samens nur wenig Reservematerial zur Verfügung haben und gleich auf ihre eigene assimilatorische Tätigkeit angewiesen sind, so eignen sie sich weniger zu einer Kultur unter abnormen, den Pflanzen keineswegs zuträglichen Bedingungen. Ich habe deshalb bald aus- schließlich mit den gut mit Reservematerial ausgerüsteten Keim- pflanzen von Acacia lophantha experimentiert und im allgemeinen keine Schwierigkeit gehabt, die Pflanzen mehrere Wochen lang unter den nach Art und Zeitmaß der Beleuchtung abnormen Be- dingungen zu kultivieren.

Hielt ich die Keimpflanzen dauernd unter vollständigem Lichtab- schluss, so fand überhaupt keine Entfaltung der ontogenetisch zunächst zusammengelegten Blattfiederchen statt. Erfolgte umgekehrt die Kultur in dauernder Helligkeit, so entfalteten sich die Blattfiederchen wohl, blieben aber dann bald in einer konstanten Winkelstellung stehen, die bei den verschiedenen Individuen zwischen 135—180° schwankte. Ich will übrigens die Möglichkeit nicht ausschließen, dass bei Anwendung sehr feiner, am besten wohl selbstregistrierender Beobachtungsmethoden sich in letzterem Falle gewisse kleine periodische Bewegungen konstatieren lassen werden. Ich bin dieser Frage nicht weiter nachgegangen.

Viel greifbarere Resultate erhält man nämlich, wenn man die Pflanzen insofern unter natürlicheren Bedingungen kultiviert, als man ihnen abwechselnd Helligkeit und Dunkelheit gewährt. Nur muss man, um die Erblichkeit der 24stündigen Periode (mit 12stündigem Turnus) zu erweisen, bei den Experimenten einen un- verkennbar verschiedenen Turnus der Belichtung und Verdunkelung wählen. Ich habe in einer Reihe von Fällen mit 6stündigem, in einer anderen mit 24stündigem Turnus gearbeitet.

Unterwirft man Keimpflanzen, die eben die Erde nach oben durchbrochen haben, einer solchen Behandlung, so sind sie meist nach 1—2 Wochen so weit entwickelt, dass man die Variations- bewegungen ihrer Blätter mit aller wünschenswerten Genauigkeit studieren kann. Ich fand, dass ım allgemeinen nicht das zuerst entwickelte einfach gefiederte Blatt das günstigste Beobachtungs- objekt abgab, sondern mehr das zweitentwickelte, doppelt gefiederte Blatt. Die Variationsbewegungen des letzteren sind gewöhnlich ausgesprochener und typischer, insofern bei ihnen unter den künst- lichenBedingungen nicht so leicht abnorme (schiefe) Stellung der Fiederchen, auch nicht so leicht Starre eintritt. Auf den Kurven sind deshalb überall die Bewegungen dieser zweitgeborenen, doppelt- gefiederten Blätter verzeichnet.

Erreicht nun unter den angegebenen Bedingungen (sei es bei

Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode, 245

6- oder bei 24stündigem Turnus) das betreffende Blatt das Ent- wickelungsstadium, in dem an ihm gut ausgesprochene Variations- bewegungen manifest werden, und wird alsdann der Beleuchtungs- wechsel uuterbrochen, so dauern, ganz gleich, ob man jetzt die Pflanzen in dauernder Helle oder dauernder Dunkelheit lässt, die Variationsbewegungen an, man sieht aber, dass das Zeitmaß jedes einzelnen Bewegungszyklus in ausgesprochenem Maße ein 24stündiges ist, obwohl die Pflanze in ihrem individuellen Leben niemals durch einen in diesem Zeitmaß ablaufenden Wechsel von Originalreizen (photischer oder thermischer Natur) ausgesetzt worden ist.

Kurve I zeigt dieses Verhalten bei einem Exemplar von Acacia lophantha var. nana, und zwar an dem zweitgeborenen Blatte, dem ersten doppelt gefiederten. Die bis dahin im Dunklen gehaltene Keimpflanze war vom 23. November 1904 an in einem 24stündigen Turnus (also 48stündigem Zyklus) belichtet und verdunkelt worden. Vom 1. Dezember an traten Variationsbewegungen an dem erst- geborenen, einfach gefiederten Blatte auf, zeigten aber eine so ge- ringe Amplitude, dass ich auf das Auftreten der Bewegungen an dem zweiten, doppelt gefiederten Blatte wartete, und als diese sich am 7. Dezember zeigten, mit der intermittierenden Beleuchtung aufhörte und die Pflanze in vollkommener Dunkelheit weiter beob- achtete. Das betreffende Blatt vollführte noch volle 5 Tage lang sehr regelmäßige Variationsbewegungen in 24stündigem Zyklus. Erst nach Ablauf des 5. Tages trat Dunkelstarre ein.

Dasselbe Resultat tritt ein, wenn man eine Keimpflanze, die während ihres individuellen Lebens nur immer einem Beleuchtungs- wechsel von 6stündigem Turnus ausgesetzt worden war, in dauernde Helligkeit oder Dunkelheit versetzt. Auch ihre Variationsbewegungen erfolgen alsdann in 24stündigem Zyklus (vgl. Kurve II u. III).

Sehr interessant ist es nun, dass eine genauere Beobachtung der Keimpflanzen während der intermittierenden Belichtung im 6- oder 24stündigem Turnus lehrt, dass schon in dieser Zeit sich bei ihnen die ererbte 24stündige Periodizität so stark manifestiert, dass dagegen die Wirkung der Originalreize, d. h. der zur Zeit tatsächlich einwirkenden Lichtreize, fast ganz zurücktritt. Wenigstens war das bei der von mir angewandten schwachen Beleuchtung') im Dunkelschrank der Fall.

Besonders lehrreich für das Zurücktreten der originalen Reiz- wirkung gegenüber dem ererbten Zeitmaß waren bei den Dunkel- schrankversuchen diejenigen, bei denen ein 6stündiger Turnus in Anwendung kam. Kurve II zeigt bei einer gewöhnlichen Acacia

1) Zehn Kerzen starke elektrische Glühlampe; wegen Schwäche des Stromes blieb aber die tatsächliche Beleuchtung unter der indizierten Stärke von zehn Kerzen.

180°

135°

90°

45°

03

246 Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode.

. Kurve I.

1809 | | | III] : 135° Fr N E ki 0 f / |||! pe 90 ı Il 5 | - 45° ||| | | B: i I! | | | y z 18h aahehıahıshadhehıohighagh el ıahıgh nah oh rahıghauk eh joh ıgh E 1905 ae Te 2 7.|XII. 8.|XII. 9,|XII. 10.]XIL. 11./XH. 12.]XIL. B: 3 Kurve II. 5 F mimm Il Immmım m IN] m IM mn I 94 oh ıghighayheh 1ahısh agh eh ıohıghagbehıahısloghghioh ıghoghehıahıshashehrahıshadhehjohighadh u Te Te ee Te n4 8./III. 9,]IIL. 10.111. 11.]111 12.|III. 13.11. 14. II. 15.]IL. & $ Kurve III. = 4 1800| I l x

135° 90°

1905 eetıtıs) 24h eh 10h ıgh aah eh oh ıghagh ch ahıghodheh nhıghashehrahıghaghehrnhrgha.h bi 05 m un 0 m 0 Do ont on 6.1. in. 8.]1. 9.11. 10.|1. 11.1. 12.]1.

Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode. 247

lophantha bereits während des Einwirkens der 6stündig wechselnden Beleuchtung und Verdunkelung einen ausgesprochen 24stündigen Zyklus der Variationsbewegungen. Der 6stündige Turnus des Auf- tretens und Verschwindens des photischen Originalreizes kommt in dieser Kurve nur insofern zum Ausdruck, als die Schließungs-

F %

Kurve IV.

202'/,° 3 180°

Vom 13./I. mittags an wurde die Pflanze einem Beleuchtungswechsel mit 12stündigem Turnus ausgesetzt.

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Kurve V.

phase immer in eine Periode der Verdunkelung (12—18") | fällt, die Öffnungsphase in einer Periode der Behehrune (18— 24") beginnt. Die Öffnungsbewegung wird retardiert oder zum Stillstand gebracht durch die Verdunkelung von 24-6" und das Maximum der ‚Öffnung besteht stets während der Beleuchtungsperiode 6-12". Man kann sagen, die ererbte 24stündige Periodizität ist ın diese Kurve das durchaus vorherrschende; sie zeigt aber eine gewisse Akkomodation

248 Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode.

an den 6stündigen Turnus der Originalreize, indem sie ihre Aus- gangspunkte ihm anpasst und die Öffnungsbewegung durch die zwischen 24—6" eintretende Verdunkelung retardieren lässt.

Etwas anders verhält sich die in Kurve III dargestellte Keim- pflanze von Acacia lophantha var. nana während eines ebenfalls 6stündigen Beleuchtungsturnus. Das absolut Vorherrschende ist auch hier die 24stündige Periodizität. —- Innerhalb derselben ıst auch diese Kurve deutlich in 6stündige Unterperioden zerlegt, die den tatsächlich wirksam gewesenen Beleuchtungsverhältnissen ent- sprechen. Aber in diesem Falle ist nicht die Öffnungsbewegung durch die dazwischen eintretende Verdunkelung retardiert, wie in Kurve II, sondern die Schließungsbewegung durch die zwischen 24—6! eingreifende Beleuchtung. Der Unterschied ıst ‚darauf zu- rückzuführen, dass bei der Pflanze von Kurve II die Schließungs- phase 6, die Narren 18 Stunden in Anspruch nahm; bei der Pflanze von Kurve III verhielt sich das gerade an: a

Stärker manifestiert sich meistens der Einfluss der Originalreize in ihrer synchronen Wirkung, wenn man mit einem 24stündigen Turnus arbeitet. Die Kurven, die sich dann während der Einwir- kung der Originalreize ergeben, sind nach der Individualität der Keimpflanze recht verschieden; in der einen kommt die ererbte 24stündige Periodizität nahezu unverändert (Kurve IV), in der an- deren in eigentümlicher Weise verdeckt (Kurve V) zur Geltung. Sobald aber die Beeinflussung durch den veränderten Turnus der Originalreize aufhört, und die Pflanzen unter gleichbleibende Be- dingungen versetzt werden (konstante Dunkelheit bei Kurve I, kon- stante Beleuchtung bei. Kurve IV und V), so trıtt auch hier sofort die 24stündige ererbte Periodizität in ıhrer ganzen Reinheit zu- tage, ohne sich durch die vorhergegangenen esmiesie in merk- licher Weise engraphisch Be zu zeigen.

Nebenbei sei noch erwähnt, dass Anm Kurve IV als auch Kurve V von Keimpflanzen der gewöhnlichen Acaecia lophantha ge- wonnen worden sind. Die Pflanze von Kurve IV wurde nach Ab- schluss der Versuche, als eben bei ıhr Starre einzutreten begann, eine Woche lang dem natürlichen Turnus einer 12stündigen Ver- dunkelung und 12stündigen künstlichen Beleuchtung im Dunkel- schrank ausgesetzt und die von ihr unter diesen Verhältnissen be- schriebene Kurve am 8. und 9. Tage aufgezeichnet, um dem Leser einen Begriff davon zu geben, wie die Kurven unter den Bedingungen des Dunkelschranks bei Einwirkung des natürlichen (12stündigen) Beleuchtungswechsels ausfallen.

Ich glaube, die vorgelegten Kurven der Variationsbewegungen von Keimpflanzen, die noch nie in ihrem individuellen Leben einem Beleuchtungswechsel in 12stündigem Turnus ausgesetzt waren, be- weisen so zwingend das Vorhandensein einer in der Keimpflanze

Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode. 349

liegenden, also ererbten 24stündigen Periodizität, dass jede weitere Beweisführung überflüssig ist.

Dass Pfeffer zu einem entgegengesetzten Resultat gelangt ist, erklärt sich lediglich aus dem Umstande, dass bei der Anordnung seiner Versuche diese Tatsachen nicht hervorgetreten sind, und dass . er dem Umstande, dass die täglichen periodischen Bewegungen bei kontinuierlicher Beleuchtung allmählich aufhören, und zwar zu einer Zeit aufhören, in der die Erregbarkeit gegen Originalreize noch nicht erloschen zu sein braucht, eine unrichtige Deutung gab. Er erblickte darın die Erschöpfung einer individuell erworbenen Dis- position, das allmähliche Ausklingen der „Nachwirkung“ von Original- reizen, die in einem bestimmten Turnus auf das Individuum gewirkt hatten. Tatsächlich aber handelt es sich um einen pathologischen Vorgang, eine Funktionsstörung der reizbaren Substanz, die unter Umständen wohl zuerst an der ererbten Rhythmik, erst später an der Erregungsfähigkeit durch Originalreize zutage tritt, bei längerer Andauer von kontinuierlicher Beleuchtung aber auch stets in be- zug auf letztere manifest wird. Bei meinen Versuchen an Keim- pflanzen trat überhaupt gewöhnlich das Erlöschen der Rhythmik nicht wesentlich früher auf als das Aufhören der Erregungsfähig- keit durch Originalreize. Doch kommt auf das Zeitverhältnis ım Auftreten dieser beiden Störungen für unsere Frage wenig an. Die Grundfrage ist durch die oben mitgeteilten Experimente auf direktem Wege entschieden, und diese Entscheidung kann nicht durch indi- rekte Beweise, die auf zweifelhaften Deutungen pathologischer Vor- gänge beruhen, erschüttert werden.

Übrigens sei daran erinnert, dass eine ererbte tägliche Perio- dizität zwar nicht in bezug auf Schlafbewegungen, wohl aber in be- zug auf das Längenwachstum bereits früher von anderen Forschern beobachtet worden ist. Nicht eigentlich beweiskräftig in dieser Richtung ist die Beobachtung Baranetzkys!), dass aus den küben von Drassica rapa im Dunkeln gezogene Stengel eine scharf ausgesprochene tägliche Periodizität ıhres Längenwachs- tums zeigen. Ähnlich verhielten sich etiolierte Triebe von Solanum tuberosum, während sich bei etiolierten Trieben von Helianthus fuberosus und Asclepias curassavica unter gleichen Verhältnissen keine Periodizität nachweisen ließ. Voll beweisend sind diese Ver- suche deshalb nicht, weil sie nicht an aus Samen gezogenen Keim- pflanzen, sondern an Trieben von Rüben und Knollen angestellt worden sind, also an Pflanzenindividuen, die nicht streng genommen am Anfange ihrer individuellen Entwickelung stehen.

1) J. Baranetzky. Die tägliche Periodizitätt im Längenwachstum der Stengel. Me&moires de l’Acad. imp. d. Sciences St. Petersbourg, VII. Ser., T.XXVL, 1879.

250 Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode.

Dagegen arbeitete Godlewsky!) mit Keimpflanzen von Pha- seolus, und fand bei Pflanzen aus den im Jahre 1887 geernteten Samen, die er bei konstanter Finsternis zog, „eine sehr ausgeprägte Perio- dizität des Längenwachstums, nur waren die Perioden im Gegen- satz zu den Lichtpflanzen von verschiedener und von immer kürzerer Dauer. Als sich der Vorrat der Samen von 1887 erschöpfte, und zu weiteren Versuchen die Samen aus der Ernte 1888 benutzt wurden, ließ sich keine Periodizität mehr bei dem Wachstum der etiolierten Pflanzen konstatieren. Wie diese Tatsache zu erklären ist, vermag der Vortragende nicht zu sagen.“ Immerhin erscheint das positive Resultat Godlewskis wichtig genug und wird sich höchstwahrscheinlich durch Ausdehnung der Versuche auf ein größeres und verschiedenartiges Material als eine keineswegs iso- lierte Erscheinung erweisen lassen.

Wie ich am Anfange des vorliegenden Aufsatzes erwähnt habe, war mein Ausgangspunkt bei der Vornahme der von mir ange- stellten Experimente der Gedanke, bei geeigneten pflanzlichen Ob- jekten eine Veränderung des Zeitmaßes der Variationsbewegungen zu erzielen. In dieser Beziehung waren meine Experimente nicht von Erfolg gekrönt. In erster Linie wohl infolge des unerwarteten Widerstandes, der mir in der ererbten 24stündigen Periodizität entgegentrat. Letztere erwies sich als so übermächtig und so gut fixiert, dass dagegen die synchrone und noch mehr die engraphische Wirkung der Originalreize sehr zurücktrat. Vielleicht hätte ich bessere Resultate erzielt, wenn ich eine sehr viel stärkere Beleuch- tung angewendet hätte, deren Intensität der natürlichen Beleuchtung nahe gekommen wäre, und diese Beleuchtung monatelang fortge- setzt hätte. Ob allerdings die Pflanzen den Eingriff des verän- derten Beleuchtungswechsels so lange ertragen hätten, ist mir zweifelhaft. Bei meinen Versuchen ertrugen die zarten Keim- pflanzen den Eingriff, der in der Anwendung eines 6- oder 24stündigen Turnus liegt, nur etwa 3 Wochen und verfielen dann einem plötz- lichen Verwelken, nachdem ihr Wachstum schon vorher einen Still- stand erlitten hatte. Dabei zeigten sie sich übrigens nicht etioliert. Widerstandsfähiger erwiesen sich die älteren Pflanzen bei den Ver- suchen im Sommer 1902, da sie einen 24stündigen Turnus der durch 6!/, Wochen durchgeführt wurde, ohne ersichtlichen Schaden ertrugen. Über diese Fragen können nur weitere Versuche Aus- kunft geben, die mit vollkommneren Hilfsmitteln anzustellen sind, als sie mir in meinem Privatlaboratorıum zur Verfügung standen.

Aber wie ich nachträglich in Erfahrung gebracht habe, war das Hauptziel, auf das ich zunächst hinsteuerte, die Erzeugung

I) E. Godlewski. Über die tägliche Periodizität des Längenwachstums. Anzeiger d. Akademie in Krakau, 1889—90.

Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode. 351

einer künstlichen Periode, bereits durch frühere, mir unbekannt gebliebene Untersuchungen erreicht, zwar nicht in bezug auf Varia- tionsbewegungen, aber wohl in bezug auf Wachstumsbewegungen. Schon im Jahr 1892 haben nämlich Fr. Darwin und D. Pertz!) mitgeteilt, dass es ihnen durch intermittierende sowohl geotropische als auch photische Reizung gelungen sei, bei geeigneten Pflanzen (Valeriana, Taraxacum Phalaris) eine künstliche Periode der Wachs- tumsbewegung zu erzeugen, die eine Zeit lang fortdauert, nach- dem die intermittierende Reizung aufgehört hat. In einer neuen Publikation aus dem Jahre 1903!) werden weitere Resultate in dieser Richtung mitgeteilt und angegeben, dass diese engraphische Beeinflussung in mindestens 75°/, der Fälle geglückt ist. In einem Experiment an Phalaris canariensis gelang es, die künstliche, in diesem Falle !/,stündige Periode (mit !/,stündigem Turnus) schon durch 4malige intermittierende Reizung (photische Reizung) zu induzieren. Es konnte je nach der Reizung eine halb- oder ganz- stündige Periode erzeugt werden.

Diese Resultate sind äußerst interessant und wichtig, und ich bedaure sehr, nicht früher auf sie aufmerksam geworden zu sein. Ich hätte dann im zweiten Kapitel der Mneme viel sprechendere Beweise von der engraphischen Wirkung der Reize auf Individuen, die kein eigentliches Nervensystem besitzen, beibringen können, als es so (Mneme S. 27, 28) geschehen ist. Ich habe immer die Mager- keit der dort vorgetragenen Beispiele bedauert, fand aber zunächst nichts schlagenderes. Diese Lücke wird durch die Darwin-Pertz’- schen Experimente jetzt auf das Schönste ausgefüllt.

Erwähnen möchte ich noch, dass Fr. Darwin und D. Pertz am Schlusse ihrer zweiten Mitteilung sehr mit Recht darauf auf- merksam machen, dass die Bezeichnung „Nachwirkung“ (after-effect) von den Botanikern für zwei physiologisch scharf zu unterscheidende Begriffe verwendet wird. Diese beiden Begriffe habe ich als ako- luthe und engraphische Reizwirkung unterschieden (Mneme, Kap. I u. II) und habe den Ausdruck „Nachwirkung“ der von den Pflanzen- physiologen unterschiedslos für beide ganz verschieden zu beur- teilende Erscheinungen gebraucht wird, absichtlich stets vermieden (a. a. 0. S. 27 Anm. 1).

Bei meinen oben mitgeteilten Experimenten manifestierte sich bei Acacia lophantha das Vorhandensein der erblichen Disposition, die Schlafbewegungen in einer 24stündigen Periode auszuführen, auch wenn keinerlei Originalreize je in dieser Periodizität auf das Individuum eingewirkt haben. Ähnlich verhielten sich in bezug auf ihr Längenwachstum die von Godlewski untersuchten

!) Fr. Darwin an D. Pertz. On the artifical production of rhythm in plants. Annals of Botany Vol. VI 1892 und Vol. XVII, 1903.

352 Semon, Über die Erblichkeit der Tagesperiode.

Keimpflanzen von Phaseolus. Denken wir uns bei den betreffenden Pflanzen nun diese Disposition ganz hinweg, d. h. versetzen wir in Gedanken diese Pflanzen mit sonst denselben physiologischen Eigen- schaften, demselben Verhalten gegen Originalreize, aber ohne die erbliche Mitgift der 24stündigen Rhythmik unter die natürlichen Bedingungen, so werden sie sich ohne diese Disposition genau ebenso verhalten wie mit derselben. Diese erbliche Mitgift ist also im Hinblick auf ihren Nutzwert für das Individuum bedeutungslos, kann mithin nicht ein Produkt der natürlichen Zuchtwahl sein. Ich rechne diesen Fall nebst vielen anderen (z. B. den Badeinstinkt junger Elstern und Häher, der ebenfalls keinen Selektionswert be- sitzt, Mneme S. 165), zu den indirekten Beweisen für die Vererbung erworbener Engramme. Indirekt beweisend sind sie insofern, als sich bei ihnen ein selektionsfähiger Nutzwert so gut wie sicher ausschließen lässt, und somit eine etwaige Mitarbeiterschaft der sonst so mächtigen und fast überall eingreifenden Zuchtwahl nicht in Frage kommt.

Bei der Jahresperiode der Pflanzen ist das ganz etwas anderes. Es kann für frostempfindliche Gewächse sehr wichtig sein, sich nicht durch die Wärme eines vorzeitigen Frühlings verlocken zu lassen, ihre Knospen verfrüht zu entfalten und sie dadurch mit Wahrscheinlichkeit eintretenden späteren Frösten auszusetzen. Ich halte es deshalb für sehr wahrscheinlich, dass die starre Fixierung der Jahresperiode bei denjenigen Pflanzen, die sich nicht oder nur sehr schwer for- cieren lassen, unter Mitwirkung der natürlichen Auslese erfolgt ist.

Wichtiger als alle indirekten Beweise für dıe Vererbung von individuell erworbenen Engrammen sind natürlich die direkten. Auch solche direkten Beweise, die eine unzweideutige Sprache reden und sich auf jederzeit zu wiederholende Experimente stützen, liegen auf verschiedenen biologischen Gebieten vor (vgl. Mneme S. 73—83 und S. 304)!). Eine dankbare Aufgabe wird es sein, die Zahl dieser direkten Beweise durch weiteres Experimentieren noch zu vermehren, und sicher stehen wir hier im Anfang, nicht am Ende einer neuen Ära experimenteller Forschung. Aber zur Ent- scheidung der Grundfrage genügt das bereits vorliegende Erfahrungs- material, und seme klaren Aussagen lassen sich auf die Dauer nicht durch noch so fein durchdachte Auslegungen in ihr Gegenteil verkehren. Diesen entscheidenden direkten mag sich neben anderen indirekten Beweisen die erblich gewordene Periodizität der Schlaf- bewegungen und des täglichen Wachstums als eine bescheidene Hilfstruppe beigesellen. [23]

1) Vgl. auch R. v. Wettstein. Uber direkte Anpassung, Wien, 1902 und: Der Neo-Lamarckismus und seine Beziehungen zum Darwinismus, Jena 1903.

Carlgren, Noch einmal Polyparium ambulans Korotn. 2553

Noch einmal Polyparium ambulans Korotn. Von Dr. Oskar Carlgren in Stockholm,

Prosektor am zootomischen Institut.

Wenn ich vor mehreren Jahren einen Separatabdruck des Korotneff’schen Aufsatzes!) über Polyparium ambulans las, fiel mir die Ähnlichkeit Polypariums mit einem abgerissenen Actinien- stückchen sofort in die Augen. Eine kleine Kritik, die ich zu- sammenschrieb, wurde indessen nicht veröffentlicht, weil ich bei näherem Einblick in die Literatur fand, dass Ehlers?) eine Meinung von Polyparium ausgesprochen hat, die wenigstens teilweise meine eigene deckte. Zwar haben Perrier?) und Haake*) ganz andere Ansichten über dieses so seltsame Wesen ausgesprochen, die zu einer Kritik aufforderten, es schien mir jedoch, dass jeder, nicht ganz ıns Blaue theoretisierende Forscher der Ehlers’schen Auf- assung in der Hauptsache beistimmen sollte. Da aber kürzlich Delage und Herouard’) in ihrem Traite de Zool. concerete Coelen- teres durch ihre 5 Seiten (p. 540—-545) lange, genaue Schilderung Poly- parium in der Literatur wieder eingeführt und sich der Haake’schen Ansıcht angeschlossen haben, dürfte es nötig sein, noch einmal die systematische Stellung und die wahre Natur Polypariums ın Augen- schein zu nehmen, um endlich, wenn möglich, diese Form aus der Literatur herauszubringen. Meiner Meinung nach verdient nämlich Polyparium ın keiner Weise die Aufmerksamkeit, die man ıhm ge- schenkt hat.

Wie vorher gesagt, halte ich die Ehlers’sche Auffassung von Polyparium für die beste Deutung, die gegeben worden ist. Jedoch stellt sich die Sache, wie ich glaube, noch einfacher als Ehlers vermutet hat, ja so einfach, dass jeder Forscher, der am Meere ein oder zwei Monate arbeitet, ein polypariumartiges Wesen unter günstigen Umständen sich verschaffen kann. Ehe ich meine eigene Ansicht ausspreche, möchte ich vorausschicken, dass Ehlers zu der Ansicht gekommen ist (]. c., p. 497), dass P. ambulans „ein mund-

1) Korotneff, Zwei neue Coelenteraten. Zeitschr. wiss. Zool., 45, 18837. p. 468.

2) Ehlers, Zur Auffassung des Polypariums ambulans (Korotn.), Zeitschr. wiss. Zool., 45. 1887, p. 491.

3) Perrier, Le Polyparium ambulans La Nature 16, p. 5.

4) Haake, Zur Tektologie und Phylogenie der Korotneff’schen Anthozoen Genus Polyparium. Biolog. Centralbl., Bd. VII, p. 685.

5) Die in dieser großartig angelegten Zusammenfassungsarbeit gegebene Schilderung der Actiniarien hat zwar ihre großen Verdienste, leider aber auch ihre verschiedene Fehler (s. z. B. Zoolog. Anzeiger, Bd.28, 1905, p. 510), was sicherlich zum Teil von unvollständiger Kenntnis der Literatur herrührt. Vor allem sind die systematischen Einteilungen nach meiner Meinung in den meisten Fällen nicht gut ausgefallen. Ich komme an anderem Ort zu dieser Arbeit zurück.

254 Carlgren, Noch einmal Polyparium ambulans Korotn.

loses Einzeltier sei, welches vielleicht durch äußere Eingriffe von einer einmündigen, mit weit geöffneten, rückgebildeten Tentakeln versehenen Actinie abgelöst ist“, und dass er „die fernere Vermu- tung daran knüpft, dass dieses Tier in paranomaler Entwickelung unter den Verhältnissen des Lebens ın Flachwasser zu der Rand- form ausgewachsen und als solches zu ungeschlechtlicher Fortpflan- zung etwa durch Teilung befähigt sein möge.“

Dass Polyparium, wie Ehlers meint, ein Stückchen einer Actinie ist, die vielleicht durch äußere Eingriffe abgelöst ist, scheint mir ganz sicher zu sein. Die sorgfältige und eingehende Beschrei- bung Korotneff’s zeigt unzweideutig, dass es ein Stückchen der distalen Körperpartie ist, das sich losgemacht hat. Dies Stückchen enthielt den distalen Teil der Körperwand und die peripheren Teile der Mundscheibe mit den Tentakeln. Alle Organe Polypariums lassen sich nämlich mit einer solchen Annahme gut erklären. So sind z. B.

1. Obere Seite mit tentakellosen Mundkegeln peripherer Teil der Mundscheibe mit Tentakeln. 2. Untere Seite mit Saug- näpfehen distaler Teil des Körpers mit Saugwarzen. 3. Der eine laterale, gesäumte Rand der Kolonie, der stark ausgeprägt ist und deswegen eine recht sichtbare Grenze zwischen dem Rücken und der Sohle bildet = die Randfalte (Sphinkterregion). 4. Der andere, laterale, ungesäumte, nicht ausgeprägte Rand der Kolonie die zusammengewachsene Partie der Körperwand und der Mundscheibe: d. h. die Wundheilungregion. 5. Tentakellose Mundkegel = Ten- takel. 6. Mundkegel, die palıssadenförmig längs dem gesäumten Rand liegen = äußere Tentakel. 7. Die ziemlich spärlich verteilten Mundkegel an dem Rücken und dem ungesäumten Rande —= innere Tentakel. 8. Transversale Scheidewändemuskeln, die gegen das Binnenfach stehen = Längsmuskeln der Mesenterien. 9. Schwächere vertikale Muskeln, die dem Zwischenfach zugehören = transversale Mesenterienmuskeln u. s. w.

Wenn wir ins Detail gehen, so können noch mehrere Argu- mente für die Auffassung, dass Polyparium ein Actinienstückchen ist, angegeben werden, ich halte dies indessen für überflüssig, weil Korotneff selbst die Ähnlichkeit des feineren Baues Polypariums mit einer Actinie hervorhebt. Von welcher Actinie das Stückchen herrührt, ist schwer mit Genauigkeit zu bestimmen. Da es nach der Beschreibung Korotneff's (l. e., p. 469, 471) scheint, als ob auf jedem Binnenfach mehrere Mundkegel (Tentakel) kämen, halte ich für wahrscheinlich, dass Polyparium eine Stichodactyline und zwar ein Repräsentant der von mir aufgestellten Familie Stoichae- tıdae war.

Stimmen also Ehlers und ich in der Auffassung überein, dass Polyparium ursprünglich ein Fragment einer Actinie war, so diver-

Carlgren, Noch einmal Polyparium ambulans Korotn. 955

gieren unsere Anschauungen in betreff des weiteren Schicksals dieses Fragmentes. Während Ehlers meint, dass das Fragment von einer tiefwasserbewohnenden Actinie mit weiten Tentakel- öffnungen stammte, die sich für das Leben im flachen Wasser an- gepasst hatte, wobei sie zu der Randform ausgewachsen war, muss ich die Ansicht verfechten, dass nichts darauf deutet, dass das Stückchen zu einer Tiefwasserform gehört. Das Vorhandensein der ziemlich weiten Öffnungen in den Tentakelspitzen, auf denen Ehlers seine Hypothese stützt, kann nämlich nicht auf ein ur- sprüngliches Leben in tiefem Wasser deuten, denn deutliche Öf- nungen in den Tentakelspitzen kommen auch bei Flachwasserformen vor. Übrigens hat es sich gezeigt, dass die Reduktion der Tentakel zu Stomidien bei den Tiefseeactinien nirgends so weit gegangen ist, wie man nach R. Hertwig’s Bearbeitung der Challengeractinien glauben könnte. Teils sind nämlich MeMurrich und ich (vgl. Zool. Anzeiger 22, 1899, p. 39) zu voller Uberzeugung gelangt, dass die großen Öffnungen, die bei Liponema und wahrscheinlich auch bei einigen anderen Formen an der Mundscheibe auftreten, nicht als reduzierte Tentakeln hinzustellen sind, teils habe ich ausgesprochen, dass die Stomidien anderer Formen durch Umstülpung der Ten- takel und Maceration von diesen entstanden waren, eine Vermu- tung, die bei der schlechten Konservierungsart der Challenger- actimien wohl begründet scheint. Es ist also kein Grund vorhanden, anzunehmen, dass Polyparium eine Tiefwasserform gewesen war, die sich für ein Flachwasserleben angepasst hatte. Auch die An- nahme, dass das Stückchen nach dem Abscheiden von dem Mutter- tier zu der Randform ausgewachsen war, muss ich verwerfen, fast mehr hielt ich für annehmlich, dass mit dem Stückchen, seitdem es abgerissen worden war, keine wesentliche Formveränderung vor- gegangen ist. Ich stelle mir nämlich vor, dass die Natur Poly- pariums genügend gut dadurch erkannt werden kann, wenn man annımmt, dass Polyparium ein abgerissenes Stückchen der distalsten Körperpartie einer der Familie Stoschactidae zugehörenden Actiniarıe war, das nach der Heilung der Wundfläche durch Zusammenwachsen der Körperwand mit der Mundscheibe noch eine Zeit ohne merkbaren Zu- wachs des Körpers fortgelebt und dabei eine gewisse Be- weglichkeit beibehalten hatte. Dass dies die natürlichste Deutung von der Natur des wunderbaren Polypariums ist, dürfte um so wahrscheinlicher sein, als ich durch mein Experimentieren an einer Sagartia-Art konstatiert habe, dass abgeschnittene Stückchen der distalsten Körperwand mit Tentakeln und einem Teil der Mund- scheibe unter günstigen Umständen sowohl den Wundrand der Körperwand mit den der Mundscheibe zusammenlöten als auch monatelang am Leben bleiben, bis sie schließlich und wohl aus

256 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

Nahrungsmangel zugrunde gehen!). Eine weitere Stütze für meine Ansicht sehe ich in der von Korotneff gegebenen Figur des Polypariums. Diese Figur stellt nämlich nicht ein Tier im Kriechen vor, fast mehr bekommt man den Eindruck, dass das Stückchen sich rings um einen fremden Gegenstand gekrümmt hat, was für ein abgerissenes Actinienstückchen wohl möglich ist. Auch wenn Korotneff’s Angabe richtig wäre, dass Polyparium am Boden mit der Sohle, d. h. mit der Körperwand langsam kriecht, wäre dies nicht merkwürdiger, als dass abgerissene oder abgelöste Actinien- tentakel auch eine Zeit lang von der Stelle ein wenig sich fort- bewegen können.

Schließlich möchte ich mitteilen, dass ich in den Sammlungen des Reichsmuseums zu Stockholm ein gekrümmtes Stückchen einer Storchactidae gefunden habe, das der oben erwähnten Figur von Polyparium fast vollständig gleicht, jedoch war noch nicht die Körper- wand mit der Mundscheibe zusammengewachsen.

Mögen dann die hier stehenden Zeilen dazu beitragen, dass Polyparium nicht in die zoologische Literatur eingebürgert wird. Wir haben ohne Polyparium ganz genug von zoologischen Paradoxen.

Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den

Ameisen. Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). (146. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) Fortsetzung.)

Ad 2. Schwieriger zu erklären als die ebenerwähnten Fälle, wo neben der anormalen Sklavenart auch noch eine normale (fusca) vorhanden ist, sind jene gemischten Kolonien von sangwinea, welche nur die anormale Sklavenart besitzen. Wie schon oben (S. 214) bemerkt wurde, wird man vielfach annehmen dürfen, dass eine solche Kolonie ursprünglich als Adoptionskolonie sanguinea- fusca entstand, dass aber nach dem Aussterben der fusca an Stelle der letzteren rufa oder pratensis geraubt wurden, weil zufällig schwache Kolonien dieser Ameisen in der Nähe der Raubkolonie sich vorfanden. War beispielsweise ein pratensis-Nest der Nachbar- schaft einmal von den sanguinea beraubt worden, so konnten letztere die Neigung erworben haben, auch in den folgenden Jahren regelmäßig gegen dasselbe Nest ihre Sklavenjagden zu richten. Diese Erklärung ist jedoch nur dann zuverlässig, wenn die anormale

l) Bei einem Stückchen habe ich die Anlegung eines Schlundrohrs beobachtet. Weil die Tentakel bei diesen Versuchen an Sagartia nach und nach atrophiren, wäre es möglich, dass auch bei Polyparium ein ähnlicher Prozess stattgefunden hätte.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 957

Sklavenart in der gewöhnlichen Prozentzahl, d. h. in der Pro- zentzahl der normalen Sklaven in einer sangwinea-Kolonie der be- treffenden Stärke, vorhanden ist. Falls dagegen die Zahl der pra- tensis (oder rufa) in einer sangainea-Kolonie eine außergewöhnlich große ist!), so liegt wahrscheinlich noch ein anderer Grund für die Mischung vor, nämlich eine Adoptions- oder eine Allianz- kolonie.

Die sangwinea-pratensis-Kolonie Nr. 66—67 bei Exaten dürfte nach nochmaliger Durchsicht meiner Aufzeichnungen über dieselbe eher zu letzterer Klasse gehören als zu ersterer, der ich sie 1902 zuzuteilen geneigt war. Ich gebe hier nur kurz die tatsächlichen Befunde an.

Anfang Mai 1895 entdeckte ich das erste Nest dieser mittel- starken Kolonie von mittelgroßer sangruinea-Rasse. Nach der Er- ziehung zahlreicher geflügelter Weibchen und Arbeiterinnen in diesem und den nächsten Jahren zu urteilen, handelte es sich um eine in kräftigem Aufblühen begriffene, mindestens 3—4 Jahre alte Kolonie. ZLomechusa-Zucht begann in derselben 1896, aber in ge- ringem Grade, so dass keine erhebliche Schädigung der Kolonie dadurch einstweilen entstand.

Die Kolonie bewohnte 1895—97 teils abwechselnd, teils auch gleichzeitig, drei mehrere Meter voneinander gelegene Nester; 1898 kam dazu ein 16 m von jener Nestgruppe entferntes neues Nest. Wenn mehrere Nester gleichzeitig bewohnt waren, so enthielt das eine gewöhnlich eine viel größere Anzahl pratensis als das andere; fusca sah ich niemals auch nur eine einzige. Am 20. Mai 1895, wo zwei Nester bewohnt wurden, waren in dem einen etwa 10°/,, im anderen etwa 40°/, pratensis; am 29. Mai 1896 in einem der Nester 5°/,, im anderen 20°/, pratensis; am 7. April 1897 in einem der Nester nur 1°/,, im anderen gegen 40°/, pratensis; am 10. Mai 1897 in einem 1—2°/,, im anderen 4—5°/, pratensis; am 15. August 1898 in einem der Nester fast nur sangwinea, in dem anderen 16 m entfernten dagegen pratensis in großer Überzahl mit nur wenigen sanguinea. Im Winter 1898 auf 99 waren sämtliche Nester durch Umgraben der Heide zerstört worden.

- Die Bauart der Nester entsprach der vorherrschenden Ameisenart und zeigte um so mehr den pratensis-Stil, je zahlreicher der Pro- zentsatz der pratensis ın demselben war. Wenn nur ein Nest bewohnt war, so glich dasselbe einem kleinen pratensis-Haufen durch die zahlreichen gröberen Holzstücke und die für pratensis typischen Kaninchenbohnen auf der Oberfläche der Kuppel; aber der Unterbau des Haufens zeigte mehr den sangwinea-Stil durch

1) Die obenerwähnten künstlichen Mischungsversuche starker sanguinea- Kolonien mit rufa-Sklaven (S. 210) haben keine Beweiskraft für das Gegenteil.

XXV. 17

958 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

die mit Erde vermischten Heidekrautblätter. Die pratensis waren hauptsächlich auf der Nestoberfläche zu sehen, die sangwinea unter den Heidekrautschollen, die auf das Nest gelegt worden waren und die Grundlage des Haufens bildeten; bei Störung des Nestes stürzten jedoch die sangwinea sofort hervor und mischten sich unter die pratensis auf der Nestoberfläche.

Während aller vier Beobachtungsjahre war die Brut in sämt- lichen Nestern dieser Kolonie stets nur sanguinea, wie aus den zahlreich aufgezogenen Arbeiterinnen und Weibchen hervorging. Eine pratensis-Königin scheint also in keinem der Nester vorhanden gewesen zu sein. Da die sangwinea-Kolonie 1895 schon mittelstark war, musste sie wenigstens 3-4 Jahre alt sein. Die damals (vgl. die obigen Notizen) sehr zahlreichen pratensis (ca. 25°/, der Gesamt- zahl) konnten also schon keine primären Hilfsameisen mehr ge- wesen sein. Ferner waren die pratensis schon damals von mittel- großer, kräftiger Rasse, nicht von kleiner Rasse, stammten also aus einer schon mehrere Jahre alten pratensis-Kolonie, auch blieb die pratensis-Rasse während der folgenden Jahre stets dieselbe. Diese Momente sprechen für die Annahme, dass die pratensis Sklaven waren, die regelmäßig aus ein und derselben pratensis- Kolonie geraubt wurden. Gegen diese Annahme lässt sich jedoch die große Zahl der pratensis schon ım Jahre 1895 geltend machen, sowie die konstante Abwesenheit von fusca-Sklaven. Man müsste daher zu der Hypothese greifen, die Mischung dieser Kolonie sei durch Allianz zwischen einer schon fertigen sanguinea-Kolonie und einer ebenfalls schon fertigen pratensis-Kolonie entstanden, welche beide ursprünglich Adoptionskolonien sangwinea-fusca, bezw. pratensis-fusca gewesen, in denen die fusca-Arbeiterinnen aber bereits ausgestorben waren. In der Allianzkolonie blieb nur die sanguinea-Königin am Leben, während die pratensis-Königin von den sanguinea getötet wurde; in späteren Jahren raubten dann diese sanguinea, die ausschließlich an pratensis-Sklaven sich ge- wöhnt hatten, aus einem selbständig gebliebenen Zweigneste der nämlichen pratensis-Kolonie ihre neuen Hilfsameisen nach. Diese Erklärung hat aber nur einen problematischen Wert; eine sichere Deutung des Ursprungs der gemischten Kolonie sangwinea-pratensis Nr. 66—67 vermag ich nicht zu geben.

Ad. 3. Klarer liegen die Verhältnisse bezüglich der Mischung der Kolonie Nr. 247 sanguwinea-fusca-pratensis. Die fast romanhaft klingenden Schicksale dieser Kolonie habe ich bereits 1902!) näher geschildert auf Grund der zur Statistik der sangzuinea-Kolonien bei

1) Neues über die zusammengesetzten Nester ete. (Allgemeine Zeitschrift für Entomologie 1902, Nr. 2-3, 8. 35--37 und Nr. 4—5, 8. 72—77). Separat 8.1320 >7 [9] U,

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 25%

Exaten gehörigen Tagebuchnotizen. Ich fasse die Geschichte jener Kolonie hier nur ganz kurz zusammen.

Im April 1897, als ich die Kolonie entdeckte, war sie eine ziemlich starke sangwinea-Kolonie von mittelgroßer bis kleiner Rasse mit drei Nestern, die nahe beisammen lagen; als Sklaven war nur F. fusca vorhanden, und zwar nur 1°/,. Durch langjährige Lomechusa-Zucht war die Kolonie bereits in Degeneration begriffen, wie der zunehmende Prozentsatz kleiner, blasser sanguinea-Arbeiter- innen bewies, deren Auftreten in allen Kolonien demjenigen der Pseudogynen voranzugehen pflegt').

Im Mai 1898 war die Kolonie nur noch mittelstark; sie besaß jetzt neben 5°], fusca auch 30°/, pratensis als Hilfsameisen?). Die pratensis waren sehr klein und dunkel, sicher aus einer ganz jungen pratensis-Kolonie stammend. Am 19. September waren die sanguinea ausgezogen (in ıhr Winternest, das auch ihr Spät- sommernest ist’). Nur zwei Nestschollen waren noch bewohnt, und zwar von einer kleinen selbständigen pratensis-Kolonie mit einer Königin. Im April 1899 waren die sangıwinea aus ihrem Winternest als viel schwächere Kolonie (durch Aussterben vieler Arbeiterinnen) zu dem alten Nestplatze zurückgekehrt und hatten sich mit den pratensis wiederum alliiert. Neben einem kleinen, reinen pratensis-Haufen lag, einen halben Meter entfernt, ein kleines Nest von fast reinem sanguinea-Stil; ın ersterem waren fast nur pratensis, ın letzterem neben 40°), pratensis 60°/, sanguinea zu sehen; aber die Gesamtzahl der Ameisen in letzterem betrug kaum noch 100 Arbeiterinnen. Bei Untersuchung des volkreicheren ersteren (pratensis) Nestes kamen auch etwa 1°/, sangwinea (einige Dutzend Arbeiterinnen) aus der Tiefe desselben hervor. Mitte Mai waren beide Nester näher aneinander gerückt, auf dem pratensis-Neste reiner pratensis-Bau, auf dem sangıinea-Nest gemischter Bau. In letzterem betrugen die pratensis ungefähr 75°/, der Gesamtzahl. Eierklumpen waren nur im pratensis-Neste vorhanden bei der pr«a- tensis-Königin. Ich notierte schon damals: „Haben die sangwinea dieser gemischten Kolonie keine Königm mehr? Dann wären ja die Sklaven zu „Herren“ und die Herren zu „Sklaven“ geworden!“ Anfang Juli war nur noch eine selbständige pratensis-Kolonie mit einem reinen pratensis-Haufen von !/,;, m Umfang an dem früheren

1) In den ganz jungen Kolonien sind umgekehrt die ersten Arbeiterinnen kleiner als die späteren, aber normal gefärbt.

2) Der hohe Prozentsatz der Hilfsameisen erklärt sich durch das Aussterben vieler sanguinea-Arbeiterinnen während des letzten Winters. Nach der Volkszahl von 1897 wären es nur 1”/, fusca und 6°|, pratensis gewesen.

3) Über die Saisonnester von F. sanguinea und ihren periodischen Nestwechsel

8. 15—177.

17%

360 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

Nestplatze der sangwinea-Kolonie Nr. 247 zu sehen; nur eine einzige sanguinea-Arbeiterin lief noch auf einer der verlassenen Nestschollen des ehemaligen sanguinea-Nestes umher. Im pratensis-Haufen fand sich eine Masse Arbeiterkokons und einige große weibliche Kokons von pratensis. Am 8. August waren die pratensis wegen Störung ihres auf einem Fahrwege gelegenen Haufens ausgewandert und in den benachbarten Kiefernwald gezogen, wo ich das kleine Nest nicht wiederfand. Von sangwinea sah ich nur noch eine einzige Arbeiterin unter einer der früheren Nestschollen, und zwar unter jener, über der im Juli der pratensis-Haufen sich befunden hatte. Unter einer anderen Nestscholle saß ein entflügeltes isoliertes sanguinea-Weibchen, offenbar von einem diesjährigen Paarungsfluge stammend, also einer fremden Kolonie angehörig.

Die Entwickelung der gemischten Kolonie Nr. 247 gestaltete sich also folgendermaßen. Ursprünglich war sie eine Adoptions- kolonie sanguinea-fusca, wie gewöhnlich. Als ich sie 1897 ent- deckte, war sie bereits zu einer volkreichen Raubk olonie sangwinea- fusca geworden, die schon ziemlich alt und durch langjährige Lomechusa-Zucht degeneriert erschien. Wahrscheinlich hatte sie da- mals schon ihre Königin verloren, vielleicht bei einem der periodi- schen Nestwechsel, da das Frühlingsnest auf einem Fahrwege lag. Im Sommer 1897 wurden von den sangıuinea wahrscheinlich schon die ersten pratensis-Kokons geraubt und zwar aus einer benach- barten sehr jungen pratensis-Kolonie, die noch eine Adoptionskolonie pratensis-fusca war‘). Im Frühjahr 1898 war die Kolonie Nr. 247 tatsächlich bereits eine sanguinea-pratensis-fusca-Kolonie, aber noch ohne pratensis-Königin. Da die sanguinea keine Königin mehr hatten und auch die Zahl der sanguenea-Arbeiterinnen immer mehr zurückging, holten die pratensis-Sklaven ihre eigene pratensis- Königin aus dem Heimatneste, das sie bei ihren Streifzügen wieder- gefunden hatten. Hiermit war die letztjährige Raubkolonie sangurmea-pratensis-fusca zu einer sekundären Adoptions- kolonie?) sangwinea-fusca-pratensis geworden. Im Herbst wan- derten die sangwinea ın ıhr Winternest, während die pratensis mit ihrer Königin im Frühlingsneste der sanguinea zurückblieben. Hier- mit waren beide Kolonien wiederum selbständig geworden. Im Frühjahr 1899 kehrten die sanguwinea zu ihrem alten Nestplatze zurück, aber bereits ohne fusca-Sklaven, die unterdessen schon aus-

1) Denn die pratensis-Sklaven im Frühling 1898 waren ja noch ganz kleine Arbeiterinnen der ersten Brut. Aus der Mischung jener pratensis-Kolonie mit fusca erklärt sich auch leicht, wie die sanguinea dazu veranlasst wurden, dieses Nest zu plündern.

2) Ich nenne diese Adoptionskolonie eine sekundäre im Gegensatz zu den primären Adoptionskolonien sanguinea-fusca und pratensis-fusca, mit denen die Bildung neuer junger Kolonien von sanguinea und pratensis beginnt.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 261

gestorben. waren. Da sie dort ihre letztjährigen pratensis-Sklaven als selbständige pratensis-Kolonie vorfanden, verschmolzen sie mit letzterer zu einer sekundären Allianzkolonie!) sanguinea- pratensis. Im Laufe des Sommers starben die sangzinea allmählich ganz aus, die pratensis-Kolonie wurde hiermit endgültig wiederum eine einfache, selbständige Kolonie und wanderte dann nach einem anderen Nestplatze aus.

Wir finden somit hier in einer einzigen Kolonie Nr. 247 fast alle theoretisch möglichen Metamorphosen tatsächlich vertreten, welche eine gemischte Kolonie durchmachen kann: erst primäre Adoptionskolonie sangwinea-fusca, dann normale Raubkolonie san- guinea-fusca, dann anormale Raubkolonie sangwinea-fusca-pratensis, dann sekundäre Adoptionskolonie sangwinea-fusca-pratensis, dann selbständige sangwinea-fusca-Kolonie und selbständige pratensis- Kolonie, dann sekundäre Allianzkolonie sanguinea-pratensis, endlich einfache pratensis-Kolonie.

Bei Exaten begegnete mir noch ein anderer Fall, wo eine pratensis-Königin in einer alten sangwuinea-fusca-Kolonie Aufnahme fand (Kol. Nr. 138 meiner statistischen Karte). Auch über diesen Fall habe ich schon näher berichtet?). Die weitere Entwickelung desselben konnte ich nicht verfolgen, da ich bald darauf Holland verlassen und nach Luxemburg übersiedeln musste.

Sehen wir nun zu, ob wir nicht ein gemeinsames Band finden, welches die normalen sangwinea-fusca-Kolonien mit den anormalen sangwinea-fusca-pratensis- oder sanguwinea-fusca-rufa- oder sangwinea-pratensis- oder sanguinea-rufa-Kolonien ganz natur- gemäß verknüpft und letzteren den Schein der „Zufälligkeit“ benimmt. Wir gehen dabei von dem oben bereits bei truneicola-fusca (5.125 u. 168) begründeten Grundsatze aus (S. 200), dass eine Raubkolonie entweder ausschließlich oder doch haupt- sächlich nur jene fremden Arten als Hilfsameisen wählt, mitderen Hilfe ursprünglich die betreffende Raubkolonie als Adoptionskolonie entstand. Wir stehen jetzt vor der Frage: Was veranlasst die F. sanguinea dazu, manchmal auch pratensis oder rufo-pratensis oder rufa als Sklaven zu rauben, wie die Kolonien Nr. 105 und 84 bei Exaten sicher be- weisen, da in denselben sogar verschiedene Rassen jener rufa- Gruppe als Sklaven in einem sangwinea-Neste sich beisammen vorfanden?

Die betreffenden sangzinea-Kolonien waren ursprünglich Adop-

1) Sekundär, weil sie zwischen. zwei bereits fertigen Kolonien entstand, nicht zwischen Königinnen verschiedener Arten, die erst in der Koloniebildung be- griffen sind.

2) Neues über die zusammengesetzten Nester ete. (Allg. Zeitschr. f. Entom, 1902, Nr. 4—5, S. 76. Separat S. 19).

252 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

tionskolonien sangırinea-fusca, und deshalb gingen die sangıinea bei ihren späteren Sklavenjagden auf den Raub von fusca-Kokons aus. Dabei gerieten sie auf der Suche nach fusca-Nestern gelegent- lich auch an solche, die von jungen Adoptionskolenien pratensis- fusca oder rufa-fusca bewohnt waren. Die Anwesenheit der fusca bewog die sanguinea dazu, die Arbeiterkokons aus diesen Nestern zu rauben, aber die geraubten Kokons waren tatsächlich hier keine fusca-Kokons, sondern kleine pratensis- oder rufa-Kokons. So kam es, dass die ersten pratensis oder rufa als Sklavenpuppen in die sangwuinea-Nester gelangten. Da sie aus Nestern stammten, in denen fusca die Brutpflege besorgt hatten, konnte ıhnen ein frrsca-Geruch anhaften, der die sanguinea um so leichter bewog, diese Arbeiter- puppen als Hilfsameisen aufzuziehen. Hiermit waren die ersten anormalen Hilfsameisen in die sangwinea-Kolonie ein- geführt. Nun hat aber F. sanguinea (ebenso wie Polyergus) die schon lange bekannte Gewohnheit, dieselben Sklavennester mehr- mals nacheinander zu plündern. Die ehemaligen Adoptionskolonien pratensis-fusca oder refa-fusca konnten indessen zu selbständigen, einfachen pratensis- oder rufa-Kolonien geworden sein, und die fusca ın ihnen längst schon ausgestorben sein, während die sanguinea ihre Raubzüge gegen eben diese ihnen als Sklavennester erfahrungs- gemäß bekannten Kolonien immer noch fortsetzten. So konnte eine bestimmte sangwinea-Kolonie die Gewohnheit erwerben, regel- mäßıg pratensis oder rufa neben oder anstatt fusca als Sklaven zu rauben. Und wenn dieselben sanguinea dann später andere selbständige, schwache oder mittelstarke Kolonien oder Zweig- kolonien von pratensis oder rufa auf ihren Raubzügen fanden, so kann es nicht mehr befremden, wenn sie dieselben ebenfalls ıhrer Kokons zu berauben suchten. Durch diese Annahme erklärt sich ganz ungezwungen, weshalb man gelegentlich mehrere verschie- dene anormale Sklavenrassen in einer sanguinea-Kolonie an- trifft (Kol. Nr. 105 und 84). Durch denselben Gedankengang wird vielleicht auch das Rätsel der konstant auffallend großen pratensis- Zahl in der Kolonie sungwinea-pratensis Nr. 66—67 gelöst, in welcher trotzdem keine Spur einer Allıanz- oder Adoptionskolonie sangwinea- pratensis sich nachweisen ließ: vielleicht war ein und dieselbe, be- reits mittelstarke und sehr kokonreiche pratensis-Kolonie mehrere Jahre nacheinander von derselben sanguinea-Kolonie ausgeplündert worden, die daher gar keiner anderen Sklaven bedurfte. Dass eine sanguinea-fusca-Kolonie durch Plünderung einer Adoptions- kolonie pratensis-fusca auch zur Entstehung von sekundären Adoptionskolonien sangerinea-fusca-pratensis und von ebensolchen sekundären Allianzkolonien eine ganz natürliche Veranlassung geben kann, wurde bereits oben (S. 260) bei der Geschichte der Kolonie Nr. 247 gezeigt. Daher glaube ich, dass der hier ent-

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. : 953

wickelte Gedankengang nicht bloß die normal gemischten san- guinea-Kolonien mit den anormal gemischten auf eine einfache und naturgemäße Weise verknüpft, sondern auch den besten Schlüssel zum Verständnis der mannigfaltigen Formen der letzteren bietet.

6. Die Raub- und Adoptionskolonien von Polyergus.

Der Sklavereunstinkt der „Amazonenameisen“* (Polyergus rufescens) stellt einerseits den Höhepunkt der phylogenetischen Entwickelung dieses Instinktes bei den Formicinen, dar, während er andererseits bereits deutliche morphologische und psychologische Merkmale einer einseitigen Überentwickelung aufweist, die den Ausgangspunkt für die Degeneration desselben Instinktes bildet. Die säbelförmigen Kiefer von Polyergus machen sie zwar zu den tüchtigsten Kriegern, aber gleichzeitig durch Verlust des „Kau- randes“ unfähig zu den häuslichen Arbeiten. Die Operationsweise der Amazonenarmeen weist zwar die höchste Entwickelung der Kriegstaktik bei Ameisen auf, aber gleichzeitig sind ihre häuslichen Instinkte, sogar derjenige der selbständigen Nahrungsaufnahme, bereits offenbar rückgebildet, wodurch sie in völlige Abhängig- keit von ihren Sklaven geraten. Sie sind nur noch Sklaven- räuber, und daher steht bei ihnen die Menge der Sklaven ım geraden Verhältnisse zur Zahl der Herren, während sie bei F'. sanguinea, welche bloß den eigenen Arbeitermangel durch Sklaven ergänzt, im umgekehrten Verhältnisse zur Zahl der Herren steht.

Die bisher bekannten Polyergus-Formen sind:

Polyergus rufescens Ltr. Sklaven: Formica fusca oder rufi- barbis, sehr selten beide zugleich (Europa).

P. rufescens subsp. lucidus Mayr. Sklaven: F. nitdiventris Em. und andere Rassen von F. pallidefulva Ltr. (Nordamerika).

P. rufescens subsp. breviceps Em. Sklaven: F. fusca var. sub- sericeaSay (Colorado, nach Wheeler)!); eine Rasse von F. pallide- fulva Ltr. (von McCook als F. Schaufussi bezeichnet, Üolorado).

P. rufescens subsp. bicolor Wasm. Sklaven: F. fusca var. subaenescens Em. (Wıskonsin).

P. rufescens subsp. bicolor var. Forei Wheeler. Sklaven: F. fusca var. subaenescens (Illinois, nach Wheeler).

P. rufescens subsp. mexicanus For. Sklaven: Unbekannt.

Dass die Raubkolonien der europäischen „Amazonen“ und ihrer verschiedenen Rassen in Nordamerika ursprünglich Adop- tionskolonien sind, ist eigentlich selbstverständlich; denn die Königinnen von Polyergus sind noch viel weniger als jene von

1) Ferner auch die subsp. argentata und neocinerea nach einer seither er- schienenen Mitteilung Wheeler’s, die im Nachtrag dieser Arbeit noch erwähnt werden wird.

964 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

sanguinea und truncicola dazu befähigt, selbständig neue Kolonien zu gründen!). Dass Polyergus-Königinnen tatsächlich von fremden fusca-Arbeiterinnen aufgenommen werden, hat Forel schon 1974 berichtet2). Ebenso gelang mir 1888 ein Versuch, eine Polyergus- Königin (ein ergatoides Weibchen) durch fremde fusca-Arbeiterinnen aufnehmen zu lassen.

Die normalen Sklaven von Polyergus sind F\. fusca oder rufi- barbis, sehr selten beide zugleich. Die Raubkolonien Polyergus- fusea gehen aus Adoptionskolonien Polyergus-fusca hervor, und ebenso auch die Raubkolonien Polyergus-rufibarbis aus Adop- tionskolonien Polyergus-rufibarbis. Auch hier gilt das Gesetz, dass die Raubameisen eben jene Hilfsameisenarten später als Sklaven rauben und erziehen, mit deren Hilfe ursprünglich ihre Kolonie als Adoptionskolonie gegründet wurde. Hieraus erklärt sich auch ganz einfach, weshalb man so selten dreifach gemischte Polyergus- Kolonien findet, welche zwei verschiedene Sklavenarten (bezw. Sklavenrassen) enthalten. Diese Erscheinung hat nämlich ihr erste und Hauptursache darin, dass eine Polyergus-Kolonie, die mit Hilfe von fusca-Arbeiterinnen gegründet wurde, später regelmäßig auf fusca-Raub auszieht, während eine solche, die mit Hilfe von ruf- barbis-Arbeiterinnen gegründet wurde, regelmäßig auf rufibarbis- Raub auszieht. An zweiter Stelle trägt hierzu auch der Umstand bei, dass bei Polyergus die Brutpflege nicht von den Herren, son- dern von den Sklaven besorgt wird; erstere beteiligen sich nur selten und sehr schwach am Transport der Larven oder Puppen bei Erhellung des Beobachtungsnestes; auch sah ich hie und da (z. B. 2. Juni 1904) eine Gruppe Polyergus-Arbeiterinnen um einen Eierklumpen sitzen und ihn belecken. F. fusca zieht aber lieber die Arbeiterkokons aus fremden Kolonien der eigenen Art auf als jene von rufibarbis; für rufibarbis gilt dasselbe. Durch letzteren Umstand wird allerdings die Erziehung einer zweiten oder dritten Sklavenart in einer Polyergus-Kolonie nicht ausgeschlossen, wie meine obenerwähnten Versuche mit einem Beobachtungsnest aus Polyergus-rufibarbis-Kolonie I zu Luxemburg beweisen (vgl. S. 121ff.). Die alten rufibarbis-Sklaven zogen unter den ıhnen gegebenen Ar- beiterkokons außer den rufibarbis-Arbeiterinnen auch mehrere hun- dert frsca-Arbeiterinnen und sogar einige tausend pratensis-Arbeiter- innen auf, während sie alle anderen Formico-Arten nicht definitiv als Hilfsameisen annahmen, sondern sie schließlich töteten, auch wenn sie im Neste sich entwickelt hatten. Weshalb gerade pratensis so sehr bevorzugt wurde, ist vielleicht folgendermaßen erklärlich.

1) Vgl. hierüber die 1. Aufl. des Buches „Die zusammengesetzten Nester‘ S. S1ff. 2) Fourmis de la Suisse p. 256.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 265

Auf demselben Gebiete, etwa 10 m von dem ursprünglichen Neste der Polyergus-rufibarbis-Kolonie Nr. I entfernt, befanden sich dicht beisammen zwei kleine Nester einer schwachen pratensis-Kolonie. Wahrscheinlich war dieselbe, da fusca-Nester ebenso wie andere pratensis-Kolonien in der Umgebung fehlten, mit Hilfe von rufi- barbis-Arbeiterinnen derselben Nester gegründet worden, welche regelmäßig die Sklaven des Polyergus-Nestes lieferten. Vielleicht hatten auch die Polyergus dieses pratensis-Nest früher einmal be- raubt, als es noch rufibarbis enthielt; 1904 waren übrigens keine pratensis in dem natürlichen Neste der Polyergus-Kolonie 1 vor- handen. Trotzdem ist mir die Neigung der rufibarbis-Sklaven des betreffenden Beobachtungsnestes, pratensis mit Vorliebe aufzuziehen, während sie die rufa') und trumneicola töteten, einstweilen aus diesen Umständen noch nicht hinreichend begreiflich, weil ich keinen Kausalnexus finden kann. Ich werde meine Versuche mit der Aufzucht fremder Sklavenarten in jenem Beobachtungsneste noch weiter fortsetzen, in der Hoffnung, eine Aufklärung zu finden. Dass Polyerges manchmal auch in natürlichen gemischten Kolonien mit F. pratensis zusammenlebt, hat Forel im Juli 1900 bei Fully im Wallis beobachtet?). Ein pratensis-Nest, das er am Wege fand, umschloss eine dreifach gemischte Kolonie Polyergus- fusca-pratensis. Außer zahlreichen Arbeiterinnen von pratensis und Polyergus und einigen von fesca enthielt das Nest Arbeiterpuppen von pratensis und fusca und sogar fünf oder sechs entflügelte Königinnen von pratensis; eine Polyergus-Königin vermochte Forel in demselben nicht zu finden, obwohl er ihr Vorhandensein ver- mutet. Er hält diese anormal gemischte Kolonie für eine Allianz- kolonie, entstanden durch das zufällige Zusammentreffen einer Königin von Polyergus mit den Königinnen von pratensis, die nach dem Paarungsfluge unter demselben Stein, der später das Nest bedeckte, Zuflucht gesucht hatten. Die Anwesenheit der fusca er- klärt er durch den Sklavenraub von Polyergus. Nach der Analogie mit der Entstehung der normalen Polyergus-fusca- und pratensis-fusca- Kolonien müssten wir dann jedoch auch hier annehmen, dass die frem- den Königinnen ihre Kolonie mit Hilfe von farsca-Arbeiterinnen grün- deten, in Form einer Adoptionskolonie, in welcher die Königinnen von Polyergeus und von pratensis die Stelle der fesca-Königin ver- traten. Vielleicht handelte es sich aber überhaupt nicht um eine

l) Die ersten Arbeiterkokons, welche ich diesem Beobachtungsneste am 28. Mai 1904 gab, waren rufa, erst am 31. Mai wurden pratensis-Kokons gegeben. Immerhin ist es möglich, dass die letzteren schon weiter entwickelt waren und dass daher die 1904 zuerst aufgezogenen Hilfsameisen pratensis angehörten. Dies würde eine Erklärungsmöglichkeit bieten, weshalb auch später pratensis bevorzugt wurden,

2) Fourmilitre triple naturelle (Bull. Soc. Ent. Suisse X, 7, 1901, p. 230—282).

266 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

primäre Allianz zwischen Königinnen von Polyergus und pratensis, sondern um eine sekundäre Adoptionskolonie wie bei der sanguinea-Kolonie Nr. 247 (S. 260); dann ließe sich leichter erklären, weshalb keine Polyergus-Königin und keine Polyergus-Brut mehr im Neste sich vorfand: nach dieser Auffassung hatten die Polyergus- fusca infolge des Verlustes ihrer Polyergus-Königin die pratensis- Königinnen als Eierlegerinnen adoptiert, und die Polyergus hatten hiermit die ehemalige „Herrenrolle* an die pratensis verloren, ebenso wie es den sangeinea der Kolonie Nr. 247 erging. Aus der ehemaligen primären Adoptionskolonie Polyergus-fusca und späteren Raubkolonie Polyergeus-fusca war nach dem Tode der Polyergus-Königin eine sekundäre Adoptionskolonie Polyergus-fusca- pratensis geworden, welche schließlich durch das Aussterben der fusca und der Polyergus-Arbeiter in eine einfache pratensis-Kolonie sich verwandeln musste. Ein ganz ähnliches Schicksal hatte eine Polyergus-fusca-Kolonie bei Exaten, welcher ich 1885 sämtliche Königinnen, die ergatoiden wie die normalen, sowie auch den größten Teil der Polyerges-Arbeiterinnen für ein Beobachtungsnest fortgenommen hatte. Am 23. April 1886 fand ich in einem Teile des im letzten Jahre beraubten Nestes eine Königin von fusca mitten unter den fusca-Sklaven. Dieselbe war 1885, wo ich das Nest ganz aufgegraben hatte, sicher noch nicht vorhanden gewesen, sondern ist erst nachträglich von den fusca adoptiert worden. Mit dem Aussterben der letzten Polyerges-Arbeiterinn<n musste daher aus der ehemaligen Polyergus-fusca-Kolonie eine einfache fusca- Kolonie werden.

Da die vorliegende Studie sich mit der Entstehung und Ent- wickelung des Sklavereiinstinktes bei Formica beschäftigt, dessen stammesgeschichtlichen Kulminationspunkt Polyergus darstellt, so gehe ich hier auf die m gesetzmäßig gemischten Kolonien lebenden Myrmicinen nicht näher ein, sondern werde nur in der Schluss- übersicht auf dieselben zurückkommen. Vgl. übrigens auch meine Ausführungen in der Arbeit „Neues über die zusammen- gesetzten Nester etc.“ Kap. IV— VII (Allg. Zeitschr. f. Ent. 1902).

7. Zeitweilig gemischte Ameisenkolonien (Adoptionskolonien) in Nordamerika.

Wir unterschieden bereits oben (S. 126) bei F. truneicola unter den gesetzmäßigen Formen gemischter Kolonien zwischen zeit- weiligen und dauernden Formen. Die ursprüngliche Ent- stehungsweise ıst bei beiden dieselbe. Erstere entstehen als „Adoptionskolonien“ dadurch, dass die befruchteten Weibchen einer Ameisenart zur Gründung ihrer neuen Kolonien regelmäßig mit den Arbeiterinnen einer anderen Art sich assoziieren. Später werden sie dann, nach dem Aussterben dieser Hilfsameisen,

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 267

wiederum selbständige, einfache Kolonien. Aber sie behalten auch dann noch, wie F. truncicola uns zeigte, die Neigung bei, Arbeiter- puppen eben jener fremden Ameisenart zu erziehen, mit deren Hilfe die Kolonie ursprünglich gegründet wurde und von welcher die noch lebenden Arbeiterinnen der „Herrenart“ erzogen worden waren. Auf diesem Vorgange beruht die ontogenetische und phylogenetische Entstehung der dauernden Formen gemischter Ameisenkolonien, und zwar insbesondere der „Raubkolonien“, von denen die übrigen Formen dauernd ge- mischter Kolonien wenigstens die mir bekannten altweltlichen Formen durch stufenweise Degeneration des Sklavereiinstinktes sich ableiten lassen. Im Jugendzustande besteht zwischen einer truneicola-fusca-Kolonie und eimer sanguinea-fusca-Kolonie noch gar kein Unterschied. Beide sind primär gemischte Adoptions- kolonien. Der Unterschied tritt erst später hervor, indem die truncicola nach dem Aussterben der letzten fasca-Arbeiterinnen, mit deren Hilfe ihre Kolonie gegründet worden war, für gewöhn- lich!) keine neuen fusca-Arbeiterinnen durch Sklavenraub sich ver- schaffen, während die sanguinea nun fesca-Puppen rauben und da- durch zu einer dauernd gemischten Raubkolonie werden.

In Nordamerika ist die Zahl und Mannigfaltigkeit der Formica- Formen eine weit größere als in Europa. Es ist namentlich Emery’s Verdienst, die Systematik der nordamerikanischen For- mica-Arten geklärt zu haben?), während Wheeler neben der Be- schreibung mancher neuer Formen?) auch wichtige biologische Aufschlüsse über die nordamerikanischen Formica uns lieferte. Dabei machte er 1904 die interessante Entdeckung, dass es auch in Nordamerika Formica gibt, welche gesetzmäßige zeitweilige Formen gemischter Kolonien bilden.

Die Ausarbeitung des vorliegenden Manuskriptes war schon zur Hälfte vollendet, als ich eine neue Arbeit von Wheeler zu- gesandt erhielt mit dem Titel „A new type of social para- sıtism among ants“*). Ich war nicht wenig erfreut, als ich bei Durchsicht dieser Arbeit fand, dass die daselbst beschriebenen temporär gemischten Kolonien von F. consocians mit F. incerta das getreue Ebenbild unserer europäischen frumeicola-fusca-Kolonien sind, deren Stadium 1—3 ich bereits 1902 als „Adoptions- kolonien truncicola-fusca® in der Allgem. Zeitschr. f. Entomologie

1) D. h. in freier Natur. In meinem Beobachtungsneste fand dies ja noch statt.

2) Beiträge zur Kenntnis der nordamerikanischen Ameisenfauna (Zoolog. Jahrb. System. Bd. 7 u. 8).

3) Extraordinary females in three species of Formica with remarks on mu- tation in the Formicidae (Bull. Am. Mus. Nat. Hist. XIX. art. XXVIII. 1903, p. 639—651).

4) Bull. Amer. Mus. Nat. Hist. XX, Art. XXX, Okt. 2. 1904, p. 347—375.

268 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

beschrieben hatte. Nur der Name für jene Form der Symbiose ist verschieden, die Sache dieselbe. Wheeler’s Beobachtungs- material über F. consocians ıst jedoch reichhaltiger als das meine über fruncicola. Auch hat er zuerst ausgesprochen, dass jene tem- porär gemischten Kolonien eine gesetzmäßige Form der Symbiose darstellen, obgleich sie wesentlich dasselbe sind wie die von mir 1902 beschriebenen „Adoptionskolonien“. Ich war zwar ım Laufe der letzten zwei Jahre durch meine obenerwähnten Beob- achtungen an der ım Zimmer gehaltenen truncicola-fusca-Kolonie schon lange zur Überzeugung von der Gesetzmäßigkeit dieser ge- mischten Kolonien gelangt, wurde aber zur Veröffentlichung der Resultate erst durch die Aufzucht von fusca-Sklaven in jener Kolonie (August und September 1904) veranlasst, da hierdurch das Pro- blem des Ursprungs der Sklaverei bei den Ameisen sich lösen ließ.

Formica consocians Wheeler ist eine Varietät der zur rufa- Gruppe gehörigen F. difficiis Em., ebenso wie frumecicola eine Form der europäischen rufa-Gruppe ist. F. incerta Em. ist eine zwischen Schaufussi Mayı und nitidiventris Em. stehende Varietät der pallidefulva-Gruppe, welche neben den amerikanischen Rassen der fasca-Gruppe die meisten Sklavenrassen für die nordamerikani- schen Sklavenhalter (aus der sangwinea- und FPolyergus-Gruppe) liefert. Bei consocians ıst jedoch die Anpassung an die Vergesell- schaftung mit incerta-Arbeiterinnen zur Bildung von Adoptions- kolonien durch die bedeutendere Kleinheit und hellere Färbung der consocians-Weibchen viel stärker ausgeprägt als bei truncicola. Der Nestbau von consocians hat große Ähnlichkeit mit jenem von truncieola, indem sie Erdnester unter Steinen hat, welche beı starken selbständigen Kolonien durch einen Oberbau von pflanzlichem Ma- terial bedeckt werden. Der Nestbau von ircerta gleicht demjenigen unserer fusca unter Steinen.

Ich will nun eine Übersicht der Beobachtungen Wheeler’s über die Symbiose von F. consocians mit incerta geben und dann noch auf andere nordamerikanische Ameisen kurz eingehen, welche ebenfalls zeitweilig gemischte Kolonien mit fremden Arten bilden.

Das Beobachtungsmaterial Wheeler’s über die von ihm neu- entdeckte F\. consocians stammt, soweit es um junge Kolonien dieser Art sich handelt, aus dem August 1904 ın der Umgebung von Öolebrook in Connecticut. Mehrere starke, ungemischte, be- reits lange Zeit selbständige consocians-Kolonien erwähnt er auch aus August 1900, 1901 und 1904. Letztere entsprechen dem oben (S. 127) als Stadium 5 bezeichneten letzten Entwickelungsstadium der europäischen trumncicola-Kolonien, bei denen dieses Stadium schon seit mehr als 50 Jahren bekannt ist.

Die jüngeren Stadien der von Wheeler gefundenen con-

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 269

socians-Kolonien umfassen 16 Fälle (p. 350-355) aus den Stadien 1-4 der truncicola-Kolonien (oben S. 126— 127); und zwar gehörten die ersten 14 Fälle zu den gemischten consocians-incerta-Kolonien (Stadium 1-3 der tramcicola-fusca-Kolonien), die zwei letzten Fälle dagegen zu den bereits einfach gewordenen consocians-Kolonien (Stadium 4 der truneicola-Kolonien).

Fall 1 war eine schwache öncerta-Kolonie mit einer incerta- Königin; eine in das Nest eingedrungene consocians-Königin wurde von den ixcerta-Arbeiterinnen feindlich umhergezerrt. Dieser Fall stellt somit das Vorbereitungsstadium für die Bildung der ge- mischten consoctans-incerta-Kolonien dar.

Die Fälle 2—%7, in denen in dem incerta-Neste eine (bezw. einmal zwei) consocians-Königin mit incerta-Arbeiterinnen sich be- fand, entsprechen dem Stadium 1 der Zruncicola-fusca-Kolonien, aber mit dem Unterschiede, dass nach Wheeler’s Angabe in den Fällen 3, 4, 5 und 7 auch noch Larven oder Arbeiterpuppen von incerta mn dem Neste vorhanden waren, während in den Fällen 2 und 6 keine öncerta-Brut im Neste sich befand. Ich halte es jedoch nicht für unwahrscheinlich, dass in einigen oder allen der Fälle 3, 4, 5 und 7 die Larven und Puppen in Wirklichkeit nicht der incerta, sondern der consocians angehörten; diese Fälle würden dann dem Stadium 2 der trumeicola-fusca-Kolonien (S. 126) ent- sprechen, und nur die Fälle 2 und 6 dem Stadium 1. Mir ist diese letztere Annahme schon deshalb viel wahrscheinlicher, weil sonst unter den 14 von Wheeler entdeckten consocians-incerta- Kolonien das dem Stadıum 2 der truncieola-fusca-Kolonien ent- sprechende Stadium ganz gefehlt haben würde. Und doch muss dieses Stadium nicht selten vorkommen, wenn die incerta-Arbeiter- innen bei Aufnahme der consocians-Königin keine eigene Königin mehr hatten, was nach Wheeler’s eigenen Ausführungen (p. 357) häufiger zu sein scheint als die Aufnahme einer consocians-Königin in ein incerta-Nest, das noch seine eigene Königin besitzt.

Der Fall 8 steht in der Mitte zwischen dem Stadium Z2und3 der truneicola-fusca-Kolonien; denn in dem betreffenden incerta- Neste waren außer 10 kleinen öncerta-Arbeiterinnen, einer kleinen consocians-Arbeiterin und der consocians-Königin mehrere Arbeiter- kokons vorhanden, deren Aufzucht tatsächlich teils incerta, teils consocians ergab. In diesem Falle scheint es mir sehr wahr- scheinlich, dass bei der Aufnahme der consocians-Königin in dem incerta-Nest die Königin der letzteren Art noch vorhanden war und erst später beseitigt wurde.

Die Fälle 9—14 entsprechen dem Stadium 3 der truneicola- fusca-Kolonien, indem außer der consocians-Königin, den consocians- Arbeiterinnen und der Brut von consocians noch Arbeiterinnen von incerta zugegen waren. In den Fällen 9—12 war der Nestbau

270 Wery, Quelques experiences sur l’attraction des abeilles par les fleurs.

noch rein ncerta, ın den Fällen 13 und 14 schloss sich an das incerta-Nest unter dem Steine bereits ein kleines typisches con- socians-Nest mit einem Haufen von Pflanzenmaterıal an.

(Schluss folgt.)

Wery, Josephine, Quelques experiences sur l’attraction

des abeilles par les fleurs. Extrait des Bulletins de l’Acad@mie royale de Belgique (Ulasse des sciences) Nr, 12 (decembre) 1904. 53 8. 8°.

Den beiden neueren Arbeiten von Andreae (Beih. z. Botan. Zentralblatt XV, 1903) und Giltay (Jahrb. f. wissensch. Bot. XL, 1904), welche zeigten, dass bei der Anlockung der Bienen und Hummeln durch die Blumen, im Gegensatz zu niedriger organisierten Insekten, der Gesichtssinn die wesentlichste, der des Geruchs eine weit untergeordnetere Rolle spielt, hat sich vor kurzem eine dritte gesellt, die zu genau denselben Ergebnissen gelangt. Damit sind die Schlüsse, die F. Plateau aus seinen Versuchen zog, in ihr Nichts zurückgewiesen, wie ich es in meinen Besprechungen der Plateau’schen Arbeiten in diesen Blättern vorhergesagt hatte, so- gar noch in viel entscheidenderer Weise, als ich es ahnen konnte, der ich selbst auf diesem (Gebiete nicht experimentell gearbeitet habe.

Fräulein J. Wery hat ihre Versuche teils im Juni 1903, teils im August und September 1904 hauptsächlich ım botanischen Garten zu Brüssel unter allen denkbaren Vorsichtsmaßregeln angestellt und zwar zuerst mit je zwei Buketts, von denen das eine aus na- türlichen unverletzten, das andere aus denselben Blumen bestand, denen aber die Krone genommen war, und deren Platz von Zeit zu Zeit gewechselt wurde. Bei den Versuchen ım Juni wurden die unverletzten Blumen im ganzen von 107 Insekten besucht, wo- runter sich 72 Bienen befanden, an den verstümmelten Blumen waren die entsprechenden Zahlen 79 und 28. Die betr. Blumen waren hier aber zum Teil solche, welche auch nach Entfernung ihrer wesentlichsten Schauapparate immer noch recht auffallend waren. Zu den August-Versuchen wurden hingegen Blumen ge- wählt, die durch Entfernung der Schauapparate unscheinbar wurden, und es wurde nur auf die Bienen geachtet. Die Besuche der un- verletzten verhielten sich jetzt zu denen der verstümmelten Blumen wie 66:18.

Wurde den Bienen einerseits ein Blumenbukett, andrerseits ein Glasgefäß mit Honig dargeboten, so empfing ersteres im ganzen 62, der Honig keinen Besuch. Das Verhältnis blieb dasselbe, wenn das Bukett unter eine Glasglocke gestellt wurde. Dagegen zeigten künstliche Blumen gleiche Anziehungskraft wie natürliche, während letztere, wenn sie im Laube verborgen wurden, nur wenige Besuche erhielten. Wenig duftende oder künstliche, aber auffällige Blumen wurden viel mehr besucht als stark duftende, wenig auffällige.

Verfasserin zieht aus einer tabellarıschen Zusammenstellung ihrer Resultate den Schluss, dass die Anziehung, welche Form und

Ganglbauer, Die Käfer von Mitteleuropa, 271

Farbe der Blumen auf die Bienen ausüben, annähernd viermal stärker ist als die durch Pollen, Duft und Nektar zusammen. Kienitz-Gerloff. [43.]

L. Ganglbauer, Die Käfer von Mitteleuropa. [Die Käfer von Mitteleuropa. Die Käfer der österreichisch-ungarischen Monarchie, Deutschlands, der Schweiz, sowie des französischen und italienischen Alpengebietes. Bearbeitet von L. Ganglbauer, Kustos am k. k. Naturhist. Hofmuseum in Wien. IV. Bd., 1. Hälfte. Mit 12 Holzschnitten im Text. 8°. 286 S. Preis Mk. 11 Wien, Carl Gerold, 1904.]

Der vorliegende Abschnitt dieses verdienstvollen Werkes um- fasst die Familien der Dermestidae, Byrrhidae, Nosodendridae, Geo- rhyssidae, Dryopidae, Heteroceridae und Hydrophilidae. Durch die gründliche Berücksichtigung der vergleichenden Morphologie sowohl des Imagostandes als des Larvenstandes der Koleopteren ist Gangl]- bauer’s Werk auch in diesem Abschnitte eine echt wissenschaft- liche Leistung. Wir haben die Vorzüge derselben schon bei Be- sprechung der früheren Bände!), auf die wir hier verweisen, ein- gehend erwähnt.

In den Vorbemerkungen zu dem neuen Bande verbreitet sich Ganglbauer über die systematische Einteilung der Koleopteren nach den neuen Gesichtspunkten, die er in seinen „Systematisch- Koleopterologischen Studien“?) entwickelt hatte. Hiernach musste er die früher (nach Leconte und Horn) auch von ıhm aufgestellte Familienreihe der „Olawicornia“ als unhaltbar auf- geben. Seine jetzige Einteilung der Koleopteren unterscheidet zwei Unterordnungen, 1. Adephaga und. II. Polyphaga (sensu Emery), die nach dem Flügelgeäder, nach dem Bau der männlichen und weiblichen Sexualdrüsen und nach der Tarsalbildung der Larven voneinander gut getrennt sind. Den Adephagen entspricht Gang]- bauer’s Familienreihe der Oaraboidea, denen auch die Cupediden (nach Kolbe und de Peyr imhoff) beizuzählen sind. Die Polsy- phaga teilt Ganglbauer in die Familienreihen der Staphylinoidea, Diversicornia, Heteromera, Phytophaga, Rhynchophora und Lamelh- cornia. Die Strepsipteren, welche G. früher aus der Ordnung der Koleopteren ausschloss, ist er jetzt, nach Nassonow’s Unter- suchungen, geneigt, bei dieser Ordnung zu belassen. [27]

Luxemburg. E. Wasmann S. J.

E. Gaupp, Ecker’s und Wiedersheim’s Anatomie des

Frosches. Neu bearbeitet, 2. Auflage, 3. Abteil. 1. Hälfte, Lehre von den Eingeweiden, Braun- schweig. Vieweg & Sohn 1901, 8., 438 8., 95 Abbild. 3. Abteil. 2. Hälfte, Lehre vom Integument und von den Sinnesorganen, ebenda 1904, 8., 523 8., 145 Abbild. In den Jahren 1898 und 1900 sind in dieser Zeitschrift die zweı ersten Abteilungen des Werkes angezeigt worden, welches nun vollendet vorliegt.

1) Biol. Centralbl. 1895, Nr. 19,8. 719; 1899, Nr. 8, S.286; 1900, Nr. 10,8. 367. 2) Münchener Koleopterol. Zeitschr. I. 1903, 271—319.

272 Gaupp, Ecker’s und Wiedersheims Anatomie des Frosches.

Die dritte Abteilung übertrifft an Umfang (die zwei ersten Ab- teilungen zusammen: das ist leicht verständlich, da ja das Werk Histiologie und Entwickelungsgeschichte in ganz dem gleichen Maße berücksichtigt wie die Anatomie im alten, engeren Sinne und das von zahlreichen Untersuchern überlieferte Material über den feineren Bau und die Entwickelung der Eingeweide und Sinnesorgane natur- gemäß viel umfangreicher und mannigfaltiger ist als das über das Bewegungssystem, die Gefäße und das Nervensystem vorhandene. Aus dem gleichen Grunde treten auch die eigenen Untersuchungen und Nachprüfungen des Neubearbeiters, oder richtiger des Ver- fassers des neuen Werkes in diesen beiden Bänden verhältnismäßig mehr zurück und die Abbildungen sind zum großen Teil nicht Originale, sondern vortreffliche Kopien nach den besten vorhande- nen Darstellungen. Ein anderes Verfahren hätte allein zum Ab- schluss des Werkes noch eine Lebensarbeit erfordert. So aber ist in zehnjähriger Arbeit ein Werk entstanden, das ganz eigenartig ist: denn die vollständig . einheitliche Bearbeitung alles wissens- werten, von den morphologischen Einzelheiten und Variationen bis zu der physiologischen Bedeutung und Funktion aller Gewebsteile ist in diesem Schlussbande ebenso durchgeführt wie in den früheren.

Um aus dem überreichen Stoffe nur einige besonders wichtige und vorzügliche Teile hervorzuheben, so seien aus dem einen Band die außerordentlich klare Darstellung der Entwickelungsgeschichte des Urogenitalsystems und der ausführliche Abschnitt über Herma- phroditismus genannt, aus dem andern Band der histiologisch und physiologisch gleich sorgfältig ausgearbeitete Abschnitt über das Pigment und den Farbenwechsel der Haut.

Historische Exkurse und sorgfältige Literaturnachweise begleiten jedes einzelne Kapitel, es so zu einer umfassenden Grundlage für jede neue Spezialuntersuchung gestaltend; auch auf die Lücken in unserm Wissen, die Gelegenheit zu neuen Forschungen geben, ist häufig hingewiesen. Ein ausführliches Sachregister über das ganze Werk wird seinen Gebrauch als Nachschlagewerk fördern. Vor allem liegt aber in ihm eine Monographie über das Genus Rana vor, die nicht ihresgleichen hat; denn nur der Mensch ist in noch sorgfältigerer Weise studiert worden, unser ungeheures Wissen über ıhn aber nicht so einheitlich und übersichtlich dargestellt worden. Wenn das Werk vorbildlich werden sollte für die Be- arbeitung anderer Tierarten, so wird nicht nur der physiologische und biologische Forscher ıdeale Nachschlagewerke erhalten, sondern dern auch die vergleichende Anatomie außerordentlich gefördert und damit die Grundlage geschaffen werden, auf der sich verglei- chende Physiologie und Pathologie, wetteifernd mit der Genauigkeit der menschlichen, aufbauen können. AV... [41]

Berichtigung. Auf S. 235, Z. 6 von unten muss es heißen: statt Gonavariationen Form- varlationen.

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

jologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwicekelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen.

XXYV. Ba. 1. Mai 1905. M 9.

Inhalt: Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen (Schluss).

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II. Carlgren, Uber die Bedeutung der Flimmerbewegung für den Nahrungstransport bei den Actiniarien und Madreporarien. Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zur Fischzucht und Fischerei. Reinke, Philo-

soph’e der Botanik.

Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den

Ameisen. Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). (146. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.)

(Schluss.)

Die Fälle 15 und 16 entsprechen dem Stadıum 4 der trrn- etcola-Kolonien, indem die consocians-Kolonie bereits keine incerta- Arbeiterinnen mehr besaß. Im Falle 15 war das Nest, das eine consocians-Königin mit etwa 200 Arbeiterinnen und einigen Ar- beiterkokons enthielt, noch von reinem öncerta-Bau. Im Falle 16 dagegen zeigte das Nest der etwa 300 consocians-Arbeiterinnen um- fassenden Kolonie bereits den typischen consocians-Stil; nur unter einem Teile des Steines, der das Nest bedeckte, waren noch die völlig verlassenen Gänge des incerta-Nestes erkennbar.

Der Fall 17 bezieht sich auf mehrere starke, vollwüchsige consocians-Kolonien mit typischem consocians-Nest unter einem Haufen von Steinen, an dessen Rändern die Ameisen Pflanzen- abfälle aufgehäuft hatten.

Aus den Fällen 1-7 geht hervor, dass die consocians-Königin zur Gründung ihrer Kolonie in eine kleine incerta-Kolonie eindringt und zwar, wie Wheeler (p. 353) hervorhebt, entweder in eine

XXV. 18

274 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

ganz junge oder in eine alte, im Aussterben begriffene. Ersteres schließt er aus der Kleinheit der öncerta-Arbeiterinnen in einigen jener gemischten Kolonien. Dass die consocians-Königin nicht immer freundschaftlich aufgenommen wird, zeigte der Fall 1. Aber dies war ja auch der einzige unter allen Fällen, wo noch eine incerta- Königin in dem Neste tatsächlich vorhanden war; in allen übrigen Fällen fehlte sie. Wie ist dies Verschwinden der incerta-Königin zu erklären?

Am einfachsten wäre die Annahme, dass die consocians-Königin ebenso wie ich es für die iruncicola-Königin bei fusca annahm in einer bereits weisellos gewordenen incerta-Kolonie aufgenommen wird. Wheeler’s Fall 1 beweist zwar, dass die fremde Königin manchmal auch in einer solchen Hilfsameisen- kolonie Aufnahme sucht, welche noch ihre eigene Königin hat. Sie wurde jedoch daselbst feindlich umhergezerrt, und es blieb in diesem Falle fraglich, ob sie wirklich aufgenommen worden ist. Ferner berichtet Wheeler (p. 357), dass er bei seinen Untersuchungen der incerta-Nester nicht wenige reine Kolonien angetroffen habe, welche keine Königin mehr besaßen und daher für die Aufnahme einer consocians-Königin besonders ge- eignet waren. Der gewöhnliche Weg für die Bildung der Adoptionskolonie consocians-incerla scheint daher die Aufnahme der consocians-Königin in einer weisellosen ixcerta-Kolonie zu sein.

Andererseits spricht jedoch der von Wheeler beobachtete Fall 8 dafür, dass manchmal die consocians-Königin auch in einer solchen incerla-Kolonie angenommen wird, die noch ihre eigene Königin besitzt. Bei der Auffindung dieser gemischten Kolonie waren in der- selben außer zehn kleinen incerta-Arbeiterinnen und einer consocians- Königin mit einer kleinen consocians-Arbeiterin auch. eine Anzahl Arbeiterkokons vorhanden, deren Aufzucht teils incerta, teils consocians lieferte. Diese Kokons beider Arten waren somit gleich- altrıg, und wir müssen hieraus schließen, dass auch die incerta- Kokons aus Eiern stammten, welche gelegt wurden zur Zeit, als die consocians-Königin in dem incerta-Neste bereitsaufgenommen war: also lebte damals auch noch eine incerta-Königin in jenem Neste. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass die öncerta-Arbeiterinnen ziemlich klein waren und somit einer jungen Kolonie angehörten. Ob die öncerta-Königin durch die consocians-Königin getötet wurde, oder ob sie durch mangelhafte Pflege von Seite der incerta-Ar- beiterinnen einging, welche die fremde Königin bevorzugten, bleibt noch dahingestellt; ich neige zur letzteren Ansicht.

Wheeler stellte noch mehrere Versuche an über die Aufnahme von consocians- und incerta-Königinnen in Kolonien beider Arten. Die Ergebnisse seien hier kurz mitgeteilt (p. 356):

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 275

„1. Eine consorians-Königin, die bereits mit neerta-Arbeiterinnen ‘gelebt hat, wird in fremden vincerta-Kolonien bereitwillig auf- genommen.

2. Eine consocians-Königin wird von öncerta-Arbeiterinnen nicht aufgenommen, wenn sie vorher mit Arbeiterinnen ihrer eigenen Art gelebt hat, ausgenommen vielleicht, wenn sie eine sehr junge Königin ist, welche soeben das Heimatnest verlassen hat.

3. Eine consocians-Königin, die mit öncerta-Arbeiterinnen gelebt hat, wird heftig angegriffen von einer starken Kolonie ihrer eigenen Art.

4. Kolonien von incerta erweisen sich viel weniger gastlich gegen ncerta-Königinnen aus fremden Kolonien als gegen consocians- Königinnen, die mit fremden incerta-Arbeiterinnen gelebt haben.“

Diese Ergebnisse sind jedenfalls nicht ungünstig für die Auf- nahme einer jungen consocians-Königin in einer incerta-Kolonie, selbst wenn letztere ihre eigene Königin noch besitzt. Die unter 2 von Wheeler hervorgehobene Erscheinung, dass eine consocians- Königin, die bisher mit Arbeiterinnen der eigenen Art gelebt hat, von den incerta-Arbeiterinnen nicht aufgenommen wird, findet hier keine Anwendung, da die junge consocians-Königin nach dem Paarungsfluge meist noch lange umherirrt und in verschiedenen Erdlöchern „Quarantäne hält“, bevor siein einer incerta-Kolonie Auf- nahme sucht. Eine vom vorjährigen Paarungsfluge stammende incerta-Königin hat sicher längst schon den ihr früher anhaftenden consocians-Koloniegeruch verloren, wenn sie im nächsten Frühling ihren Schlupfwinkel in der Erde verlässt und ein incerta-Nest auf- sucht. Für die Weibchen der Formica-Arten scheint es aber die gewöhnliche Regel zu sein, dass sie erst in dem auf den Paarungs- flug folgenden Frühling des nächsten Jahres ihre neuen Kolonien gründen. Weitere Beobachtungen hierüber wären allerdings noch sehr erwünscht, sowohl in Europa als auch in Nordamerika.

Ferner erörtert Wheeler die Frage (p. 357), wie die consociuns- incerta-Kolonien zu einfachen consocians-Kolonien werden. Dass die consocians ihre ehemaligen Hilfsamefsen später töten, halte ich mit Wheeler für völlig unannehmbar. Die zweite Möglichkeit ist die, dass die incerta-Arbeiterinnen, weil sie keine eigene Königin mehr haben und daher auf ihre individuelle Lebensdauer beschränkt sind, von selber aussterben. Dies ist nach meiner Ansicht die einzig richtige Erklärung. Da nach meinen Versuchen an den ver- schiedensten europäischen Formica das Alter der einzelnen Arbeiterin drei Jahre nicht zu überschreiten pflegt, wird eine dreijährige consocians- oder truneicola-Kolonie ganz von selber eine einfach gemischte Kolonie. Bis dahin ist sie aber gewöhnlich noch nicht so volkreich geworden, dass ihr der Nestbau von incerta (bezw. fusca) unter Hinzufügung des eigenen Baustiles von consocians (bezw.

15*

276 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

truneicola) nicht völlig genügen sollte. Die dritte von Wheeler vorgeschlagene Möglichkeit, dass nämlich die consocians-Kolonie schließlich „durch Auswanderung sich reinigt“, mdem sie von den incerta sich trennt, halte ich daher für wenig wahrscheinlich oder doch wenigstens für einen seltenen Ausnahmefall. Eine bereits selbständig gewordene consocians- oder truncicola-Kolonie dürfte allerdings später gelegentlich auswandern und einen neuen Nest- platz suchen. Dass sie es aber tut, so lange sie noch gemischt ist, dürfte selten vorkommen, und auch in diesem Falle bleibt noch zu beweisen, dass die Hilfsameisen nicht mitziehen, sondern im alten Neste bleiben. |

Wheeler beruft sich für letztere Vermutung auf die von mir 1902 in der Allgem. Zeitschr. f. Entomol. erwähnte Adoptionskolonie sanguinea-fusca-pratensis, in welcher eine pratensis-Königin aufge- nommen worden war, was schließlich zur Trennung der sangwinea von den pratensis führte‘). Aber hier lagen ganz andere Gründe für jene 'Trennung vor. Hier wanderten nicht die pratensis aus, welche die Königin besaßen und den neuentwickelten Teil der gemischten Kolonie darstellten, sondern die sangwinea wanderten aus, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie alljährlich um dieselbe Zeit ihr Winternest zu beziehen pflegten. Im nächsten Frühjahr kamen sie dann zu dem alten Nestplatz zurück und alliierten sich wieder mit den pratensis zu einer gemischten Kolonie, die dann durch Aussterben der sangwinea schließlich wieder zu einer einfachen Kolonie wurde. Diese Beobachtung bietet somit keine Stütze für die Auswanderungshypothese, weil nicht die neuen Komponenten, nämlich pratensis, der auswandernde Teil waren.

Zu den nordamerikanischen Ameisen, deren Königinnen gleich Formica consocians regelmäßig Adoptionskolonien mit Arbeiterinnen fremder Arten gründen, gehört nach Wheeler (p. 360) auch F. micerogyna Wheel. im Colorado; diese Art hat noch kleinere Weibchen als consocians und zwar oft ın großer Zahl ın einem Neste. Wheeler fand in der Umgebung des Pike Peak drei- mal kleine gemischte Kolonien, die aus Arbeiterinnen von A. microgyna var. rasiis und von F\ fusca var. argentata bestanden.

Auch F. microgyna var. nevadensis Wheel. und F. montigena Wheel., die er im Anhange derselben Arbeit beschreibt, besitzen sehr kleine Weibchen und gründen ihre neuen Kolonien mit Hilfe von Arbeiterinnen fremder Arten. F. montigena ist mit dakotensis Em. nahe verwandt und lebt auf höheren Bergen in Colorado. Außer mehreren starken ungemischten Kolonien von montigena traf Wheeler auch zwei kleine, anscheinend ganz junge Kolonien dieser Ameisen, welche mit Arbeiterinnen von F\ incerta gemischt

1) Siehe oben S. 258 ff.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 277

waren und wahrscheinlich Adoptionskolonien darstellten, durch Auf- nahme einer montigena-Königin in einer incerta-Kolonie entstanden.

Eine nordamerikanische Myrmicine, Stenamma (Aphaenogaster) tenesseenseMayr hat ebenfalls sehr kleine, glatte Weibchen, die von denjenigen der verwandten Arten aufiallend abweichen (p. 362). Nun hat aber P. Jerome Schmitt O. S. B. schon vor mehreren Jahren ın Pennsylvanıen eine gemischte Kolonie von Stenamma tenesseense mit Stenamma fulvum var. piceum gefunden, und zwar mit einer Königin der ersteren Art. Die gemischte Kolonie war unter einem Steine, obwohl tenesseense sonst nur in altem Holz nistet. Später fand auch Wheeler selbst in Illinois zwei gemischte Ko- lonien von Stenamma tenesseense mit St. fulvum var. rude. Auch hier war die Königin zu fenesseense gehörig und die Zahl der Arbeiter- innen dieser Art überwog; auch frischentwickelte Arbeiterinnen und Puppen von fenesseense waren in einer dieser Kolonien vor- handen. Dass die tenesseense-Kolonie später, nach dem Aussterben der fulrum-Arbeiterinnen ihren Nestplatz wechselt und in einen alten Stamm zieht, ist kaum zu bezweifeln; ob sie es aber schon früher tut und dabei die fulrum-Arbeiterinnen im alten Nest unter dem Steine zurücklässt, müsste erst durch Beobachtung entschieden werden.

Weiterhin (p. 363ff.) erörtert Wheeler die Frage, ob auch bei solchen nordamerikanischen Ameisenarten, welche keine auf- fallend kleinen Weibchen besitzen, solche vorkommen, welche in temporär gemischten Adoptionskolonien mit den Arbeiterinnen anderer Arten leben. An erster Stelle ist hier Formica dakotensis var. Wasmanni For. zu berücksichtigen!). Ich muss jedoch aus- drücklich bemerken, dass diese Formica, deren Arbeiterinnen sehr denjenigen von exsectoides gleichen, verhältnismäßig kleine, glatte und in der Färbung sehr variable Weibchen hat; sie schließt sich daher an die von Wheeler erwähnten Arten mit ausgeprägt mikrogyner Weibchenform unmittelbar an und ge- hört nicht zu den Arten mit normalen großen Weibchen. Schon dieser Umstand spricht dafür, dass ihre mit F\. fusca var. subsericea gemischten Kolonien in der Jugend Adoptionskolonien sind; da- mit ist aber keineswegs ausgeschlossen, dass sie später zu Raub- kolonien werden. Wir wollen die Tatsachen hier kurz vorführen.

Meine Korrespondenten P.H. Wolffund H.MuckermannS.J., welche bei Prairie du Chien (Wisconsin) diese Ameise entdeckten und

1) Vergl. Wasmann, Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien (Allg. Zeitschr. für Entom. 1902, Nr. 1 S. 1ff. Sep. S. 6 ff.) Die Ameisen- art war mir damals von Emery als dakotensis Em. bestimmt werden. Später (Ann. Soc. Ent. Belg. XLVIII, 1904, p. 153) beschrieb sie Forel wegen der von dakotensis etwas abweichenden Eigentümlichkeiten als var. Wasmanni. Auf Was- manni beziehen sich somit alle über dakotensis daselbst gegebenen biologischen Mit- teilungen, sowie die Beschreibung der geflügelten Geschlechter.

978 Wasmann, Ursprung. und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen,

mir das Material samt ihren Beobachtungen zusandten, trafen Kolonien von Wasmanni mit und ohne Hilfsameisen (subsericea). Auf der linken Seite des Mississipi fand Muckermannim ganzen sieben Kolo- nien, deren Nester weit voneinander entlegen waren und neben Was- manni sämtlich auch subsericea enthielten!); auf der rechten Seite des Mississipi dagegen fand er drei bis vier Kolonien mit zusammen etwa zwanzig nahe beisammen liegenden Nestern, in denen subsericea fehlte. Die Königinnen ın den Nestern waren stets Wasmanni, nie subsericea. Die Nester waren unter Steinen, aber, namentlich bei den letzterwähnten, stärkeren Kolonien, häufig mit einem Oberbau aus trockenem Pflanzenmaterial verbunden.

Wie sollen wir nun die Symbiose von F\ dokotensis var. Was- manni mit fusca var. subsericea deuten? Dass es sich hier um ge- setzmäßige Formen gemischter Kolonien handelt, steht durch die Beobachtungen von Wolff und Muckermann außer Zweifel; die Frage kann nur sein, ob es sich bloß um primär gemischte Adoptionskolonien oder überdies auch um sekundär ge- mischte Raubkoloniıen handelt. Dass diese gemischten Kolo- nien stets ursprünglich entstehen durch die Adoption eines Was- mann?-Weibchens in einer subsericea-Kolonie, die ihre Königin verloren hat oder infolge der Adoption der fremden Königin ver- liert, ist nicht zu bezweifeln, obwohl ganz junge Kolonien (vom Stadium 1 und 2 der truneicola-fusca-Kolonien) noch nicht gefunden worden sınd. Vielleicht gehört hierher eine Beobachtung von Mucker- mann, dernahe bei einem Wasmanni-Nest, das seit zehn Tagen in Auswanderung begriffen war, unter einem Steine zwei Königinnen von Wasmanni mit einigen frischentwickelten Arbeiterinnen der- selben Art und einer Königin von subsericea mit einer alten Ar- beiterin der letzteren Art beisammen fand. Entscheidend ist diese Beobachtung nicht, weil jene Ameisen bei der Auswanderung der Wasmanni-Kolonie vorübergehend unter dem Stein Zuflucht gesucht haben können, unter welchem eine subsericea-Königin saß; die An- wesenheit frischentwickelter Wasmanni-Arbeiterinnen spricht aller- dings dafür, dass bereits eine Adoptionskolonie oder Allianzkolonie vorlag.

Darin bin ich also mit Wheeler ganz einverstanden, dass die gemischten Kolonien Wasmanni-subsericea als Adoptionskolonien zustande kommen. Aber eine andere Frage ist, ob alle am linken Ufer des Mississipi gelegene sieben Kolonien dieser Art noch primär gemischt waren, oder ob sich unter ihnen nicht bereits auch solche befanden, die bereits durch Raub von swubsericea-Puppen 1) Das Zahlenverhältnis der Herren zu den Hilfsameisen war ungefähr 8:1 bis 24: 1, nicht 7:3 oder 7:4, wie Wheeler (l. c. p. 365) angibt. Letztere Angabe beruht auf einer Verwechslung der Sklavenzahl mit der Zahl der sklaven- haltigen Kolonien, die sich zu den sklavenlosen wie 7:3 oder 7 :4 verhielten.

a

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 279

sekundär gemischt waren, also echte Raubkolonien, nicht mehr bloße Adoptionskolonien. Einige dieser gemischten Kolo- nien besaßen bereits eine erhebliche Stärke; eine darunter, die von Wolff zuerst entdeckt wurde, beschrieb er mir als eine sehr volkreiche Kolonie, die ein großes Nest bewohnte, aber nur sehr wenige subsericea-Sklaven hatte. Da die Arbeiterinnen von sub- sericea nur drei Jahre alt werden, diese Kolonie aber wahrscheinlich schon ein höheres Alter besitzen musste von mindestens vier bis fünf Jahren, so scheint mir der Schluss naheliegend, dass es auch Fälle gibt, in denen die ursprüngliche Adoptionskolonie Wasmanni-subserieea später zu einer Raubkolonie Wasmanni- subsericea wird, gerade so wie es mit unseren sangwinea-fusca- Kolonien regelmäßig sich ereignet. Die drei oder vier noch stärkeren Wasmanni-Kolonien auf dem rechten Ufer des Mississipi müssen, obwohl dort nach Muckermann’s Angaben subsericea-Nester viel seltener sind, ursprünglich auch Adoptionskolonien Wasmanni-sub- sericea gewesen sein, dann vielleicht sogar einige Jahre lang Raub- kolonien, bis endlich die Kolonien so volkreich an eigenen Arbeiter- innen wurden, dass sie keiner Hilfsameisen mehr bedurften. Bei den stärksten sanguinea-Kolonien in Europa finden wir ja auch, obwohl viel seltener, die Erscheinung, dass sie völlig sklavenlos werden!).

Hiernach scheint es mir, dass F\. dakotensis var. Wasmunn? eine biologische Mittelstellung einnimmt zwischen den trun- cicola-Kolonien, welche nach den Aussterben ihrer primären Hilfs- ameisen gewöhnlich keine neuen durch Raub sich verschaffen und den sangwinea-Kolonien, welche, solange die Kolonie noch nicht sehr stark ist, Sklaven eben derselben Hilfsameisenart rauben und ‘erziehen, mit deren Hilfe ihre Kolonie ursprünglich gegründet wurde Wir dürfen somit die gemischten Kolonien von Wasmanni-subsericea als ein neues Glied in der Kette der Entwickelung des Sklavereiinstinktes ansehen, das von den zeitweilig gemischten Adoptionskolonien zu den dauernd gemischten Raubkolonien überleitet.

Es gibt in Nordamerika eine häufige große Formica-Art, ew- sectoides For., MeCooks moundmaking ant of the Alleghanies, deren vollwüchsige Kolonien oft sehr volkreich sind, riesige Haufennester bauen und oft auch weitverzweigte Kolonieverbände von vielen Nestern bilden. Diese Ameise hat große Königinnen, die den- jenigen unserer Formica rufa nicht nachstehen. Trotzdem gebe ich Wheeler völlig recht, wenn er (p. 363ff.) auf Grund der Be- obachtungen August Forel’s, des leider schon verstorbenen P. Jerome Schmitt O.S.B. und seiner eigenen annimmt, dass die neuen jungen Kolonien von exsectoides als Adoptionsk olonien

1) Siehe oben S. 119, 202 und 208, Nr. 4,

280 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

mit Hilfe von subsericea-Arbeiterinnen entstehen. Forel fand eine kleine gemischte Kolonie exsectoides-subsericea bei Hartford ın Connecticut. P. Schmitt berichtete brieflich an Wheeler, dass er bei St. Vincent in Pennsylvanien zu verschiedenen Zeiten fünf dieser gemischten Kolonien gefunden habe; alle waren sehr schwach und enthielten stets als Königin nur das exsectoides-Weibchen. Auch Wheeler selbst entdeckte bei Colebrook in Connecticut zwei solcher Kolonien. Es kann daher wohl als sehr wahrscheinlich gelten, dass die neuen Kolonien von ersectoides regelmäßig Adop- tionskolonien ewxsectoides-fusca sind. Bei der späteren Entwickelung der selbständig gewordenen Kolonie wird bei exsectoides ebenso wie bei unserer rufa die Fortpflanzung des Stammes hauptsächlich durch Bildung von Zweigkolonien erfolgen, indem neue be- fruchtete Weibchen mit Arbeiterinnen derselben Kolonie ein neues Nest gründen.

Auf Wheeler’s Vermutungen bezüglich der europäischen Formica-Arten rufa, pratensis und exsecta brauche ich hier nicht einzugehen, da ich den Gegenstand bereits oben ausführlich be- handelt habe (S. 194— 200). Für Formica rufa insbesondere habe ich gezeigt, dass und weshalb bei ıhr die Gründung neuer Kolonien mit Hilfe von fesca-Arbeiterinnen einen relativ seltenen Fall dar- stellt.

8. Schlussergebnisse.

Ich wıll nun die Resultate der vorliegenden ‚Studie ın einigen Sätzen kurz zusammenfassen:

1. Es gıbt Formica-Arten, deren Königinnen nach dem Paarungs- fluge selbständig und allein neue Kolonien gründen. Typus: F. fusca und rufibarbıs.

2. Es gibt Formica-Arten, deren Königinnen nach dem Paarungs- fluge zwar nicht selbständig und alleın ihre neuen Nieder- lassungen!) gründen, aber trotzdem für gewöhnlich nicht mit Hilfe von Arbeiterinnen fremder Arten, sondern mit Arbeiterinnen der eigenen Kolonie, der eigenen Rasse oder einer nahe verwandten hasse derselben Art. Typus: F\. rufa und pra- tensis. Am häufigsten erfolgt hier die Gründung neuer Nieder- lassungen mit Arbeiterinnen derselben Kolonie, also durch Bildung von Zweigkolonien, nicht von neuen Kolonien. Dies gilt großenteils auch für FL sanguinea?).

3. Es gibt Formica-Arten, welche, ohne Sklavenhalter zu sein, zeitweilig gemischte Kolonien bilden, indem die Königinnen dieser Arten nach dem Paarungsfluge ihre neuen Kolonien regel-

I) Ich sage ‚neue Niederlassungen“, nicht „neue Kolonien“, weil hier Zweig- koloniebildung die häufigste Form der Fortpflanzung des Stammes darstellt. 2) Vgl. die Anmerkung 1 auf S. 28.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 251

mäßıg als „Adoptionskolonien“ mit Hilfe von Arbeiterinnen einer fremden Art gründen. Nach dem Aussterben dieser ursprüng- lichen Hilfsameisen wird die Kolonie dann dauernd eine ein- fache, ungemischte Kolonie. Typus für Europa: F. trumeicola und ihre gemischten Kolonien mit Arbeiterinnen von fusca. Für Nordamerika: F\. consocians und ihre gemischten Kolonien mit Arbeiterinnen von incerta.

4. Die unter Nr. 3 erwähnten Formica-Arten behalten nach meinen Versuchen an traumcicola, wenigstens solange in der Kolonie noch Arbeiterinnen leben, welche von den bereis ausgestorbenen Hilfsameisen erzogen wurden, die Neigung bei, Arbeiterpuppen eben jener fremden Ameisenart sich zu verschaffen und zu erziehen, mit deren Hilfe die betreffende Kolonie ur- sprünglich gegründet wurde. Dadurch erklärt sich der ontogenetische und phylogenetische Ursprung des Sklave- reiinstinktes bei den folgenden Gruppen (5 und 6): aus den Adoptionskolonien gehen die Raubkolonien hervor.

5. Es gibt Formica-Arten, welche schon Sklavenhalter sind, trotzdem aber nur zeitweilig gemischte Kolonien bilden, in- dem sie erstens eine primär gemischte Adoptionskolonie mit Arbeiterinnen einer fremden Art bilden (wie unter Nr. 3), zweitens aber nach dem Aussterben der primären Hilfsameisen noch eine Zeitlang Sklaven derselben Art rauben, mit deren Hilfe ihre Kolonie gegründet wurde, und zwar so lange, bis ihre Kolonien die eigene normale Volkszahl erreicht haben; dann lassen sie die Hilfsameisen in denselben wieder aussterben. Als Typus dieser Klasse gemischter Kolonien, welche zwar nur zeitweilig gemischt aber dennoch schon Adoptionskolonien und Raubkolonien sind, sehe ich die Kolonien von F. Wasmanni mit ihren subsericea-Sklaven an (Nordamerika).

6. Es gibt Formica-Arten, welche in dauernd gemischten Kolonien mit Arbeiterinnen fremder Arten leben. Diese Kolonien sind in der Jugend stets Adoptionskolonien (wie unter Nr. 4), werden aber durch die Sitte dieser Ameisen, neue Arbeiterpuppen ihrer Hilfsameisenart regelmäßig zu rauben, zu dauernd ge- mischten Raubkolönien. Sklavenlose Kolonien sind hier eine seltene Ausnahme und finden sich nur unter den allerstärksten Kolonien, die gar kein Bedürfnis nach fremden Arbeitskräften mehr haben. Typus: Formica sanguinea!) und ihre normal gemischten Kolonien mit fusca oder rufibarbis ın Europa’).

1) Dass bei sanguinea auch häufig Zweigkoloniebildung vorkommt, die nicht zur Entstehung neuer Kolonien, sondern neuer Nester derselben Kolonie mit neuen befruchteten Weibehen führt, wurde bereits oben bemerkt (unter Nr. 2).

2) Für die nordamerikanischen Rassen von sanguwinea sind weitere Beobach-

282 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

7. Mit F. sangwinea ıst der Höhepunkt des Sklavereiinstinktes bei den Formica-Arten erreicht. Hier ist die Neigung, fremde Formica-Puppen zu rauben und zu erziehen, so hoch entwickelt, dass manchmal auch andere Hilfsameisenarten erzogen werden als jene, mit deren Hilfe die junge Adoptionskolonie gegründet wurde. Namentlich gilt dies für die dreifach gemischten Kolonien, welche zwei normale Sklavenarten (fusca und rufibarbis) zugleich enthalten. Auch die anormal gemischten sanguinea-Kolonien, welche neben oder statt der normalen Sklavenart pratensis oder rufa als Hilfsameisen haben, erklären sich meist aus derselben Quelle wie die normalen, indem junge Adoptionskolonien pratensis- fusca oder rufa-fusca beraubt wurden!). Es gibt aber auch anor- mal gemischte Adoptions- oder Allianzkolonien von sangwinea mit pratensis (bezw. rufa), welche ebenfalls aus den normal ge- mischten hervorgehen ?).

8. Den Höhepunkt der Entwickelung des Sklavereiinstinktes bei den Formicinen stellt Polyergus dar. Die körperliche und psychische Anpassung an die Sitte des Sklavenhaltens ist hier bereits eine so hochgradige, dass sie einseitig wird und den Wendepunkt zur Degeneration des Sklavereiinstinktes in der Richtung zum sozialen Parasitismus bildet. Unter den Myrmicinen stehen Strongylognathus Christophi?) und Hauberi noch auf einer ähnlichen Stufe der Entwickelung des Sklavereinstinktes wie Polyergus, wäh- rend Strong. testaceus dem sozialen Parasıtismus nahe kommt, auf dessen tiefster Degenerationsstufe Anergates bereits angekommen ist.

9. Die einseitige Überentwickelung des Sklavereiinstinktes bei Polyergus rufescens und dessen nordamerikanischen Rassen, sowie bei Strongylognathus Christophi und Huberi, bei denen die Erziehung der Brut ebenfalls durch die Hilfsameisen besorgt wird, bedingt bei diesen Sklavenhaltern wiederum eine Einschränkung des Sklavereiinstinktes auf jene Art von Hilfsameisen, mit denen die Kolonie ursprünglich gegründet wurde. Bei Polyergus kommen noch (sehr selten) zwei Arten von Sklaven zugleich vor, bei den Strongylognathus stets nur eine.

10. Sämtliche dauernd gemischten Kolonien der sklaven- haltenden Ameisen aus den Gattungen Formica, Polyergus und Strongylognathus (Ohristophi und Huber) sind ın der Jugend Adoptionskolonien und werden später Raubkolonien. Nur bei Tomognathus schemt bereits die Bildung der neuen gemischten

tungen von Wheeler in Aussicht. Dabei wird sich auch zeigen, ob Forel’s Rasse aserva, welche sangwinea ohne Sklaven darstellt, sich bestätigt.

1) Vgl. hierüber oben S. 261.

2) Vgl. oben die sangwinea-fusca-pratensis-Kolonie Nr. 247 (S. 258).

3) Über einen Raubzug von Str. Christophi hat Forel kürzlich berichtet. (Revue Suisse de Zoologie XII, 1904, S. 1ff. [Separat]).

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 233

Kolonien eher in Form einer Raubkolonie zu erfolgen, indem Tomognathus-Weibehen in ein Nest der Sklavenart (Leptothorax) eindringen und die Arbeiterpuppen der letzteren beschlagnahmen, während sie in dem fremden Neste sich niederlassen. Hier gehen somit die Adoptionskolonien, Allianzkolonien und Raub- kolonien schon bei dem Ursprung der gemischten Kolonie in- einander über.

11. Indem bei der weiteren Degeneration des Sklavereiinstinktes der Myrmicinen in der Strongylognathus-Gruppe die Fähigkeit der „Herren“ verloren ging, ihre Hilfsameisen als „Sklaven“ zu rauben, kehrten die Raubkolonien wiederum zu dem ursprüng- lichen Stadium der Adoptions- oder Allianzkolonien zurück. Bei Strongylognathus testaceus finden wir bereits dauernde Allianzkolonien zwischen der Herren- und der Sklavenart (Tetramorium). Bei Anergates endlich, der auf der tiefsten Stufe des sozialen Parasitismus steht und sogar die eigene Arbeiterform gänzlich verloren hat, während die Männchen flügellos, puppen- ähnlich und morphologisch rückgebildet sind, treffen wir dauernde Adoptionskolonien mit der Hilfsameisenart (Tetramorium).

12. Die allmähliche parasitische Degeneration des Sklaverei- instinktes, die von Strongylognathus Christophi und Huberi zu Str. testaceus und von diesem schließlich zu Anergates führt, stellt so- mit morphologisch und biologisch eine rückschreitende Entwickelung dar. Wie ich insbesondere für Strongylognathus testaceus gezeigt, hängt diese rückschreitende Entwickelung der Sklavenhalter bis zum sozialen Parasitismus mit dem Vordringen von Strongylognathus ın ein nördliches Klima zusammen!),

13. Im allgemeinen können wir demnach sagen: Ontogene- tisch wie phylogenetisch gehen die Raubkolonien der sklavenhaltenden Ameisen aus Adoptionskolonien (bezw. aus Allianzkolonien) hervor bis zur höchsten Entwicke- lungsstufe der Sklaverei. Dann kehren sie mit der fort- schreitenden Entartung der Sklaverei wieder zu den ur- sprünglichen Formen der Allianzkolonien oder Adoptions- kolonien zurück.

14. Die Entwickelung des Sklavereiinstinktes hat in den Unter- familien der Formicinen (Camponotinen) und der Myrmicinen zu verschiedenen Zeiten begonnen, und innerhalb dieser Unter- familien wieder bei verschiedenen Gattungen und Arten völlig unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeiten.

Im allgemeinen scheint die Entwickelung des Sklavereiimstinktes

1) Neues über die zusammengesetzten Nester etc. V. (Allgemeine Zeitschrift für Entomologie 1902, Nr. 7—8, S. 138--139, Separat S. 29—30).

284 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

bei den Formicinen phylogenetisch weit jüngeren Datums zu sein als bei den Myrmicinen. Denn bei ersteren finden wir sowohl im paläarktischen wie im nearktischen Gebiet gegenwärtig noch iele vorbereitende, niedere und höhere Entwickelungs- formen jenes Instinktes gleichzeitig vor bei verschiedenen Gruppen, und die Entwickelung des Instinktes ist hier ın der ältesten Gruppe erst bis zu seinem glänzenden Kulmina- tionspunkt in der Gattung Polyergus gelangt. Bei den Myrmi- cinen dagegen begegnen uns im europäischen Faunengebiet vor- wiegend bereits rückschreitende Stufen der Sklaverei, die am Kulminationspunkt angelangt wieder abwärts führen (bei ver- schiedenen Strongylognathus-Arten in verschiedenem Grade) oder sogar schon bei dem tiefsten sozialen Parasitismus angelangt sind (Anergates). Aus Nordamerika sind außer der auch in Europa vor- kommenden Gattung Tomognathus überhaupt keine Sklavenhalter unter den Myrmicinen bekannt, sondern bloß soziale Parasiten!). Zum Schluss sei noch bemerkt, dass man in dem oben unter Nr. 13 erwähnten Resultate eine auffallende Bestätigung des biogenetischen Grundgesetzes auf biologischem Gebiete sehen könnte, nach ek die Ontogenese nur eine abgekürzte Rekapitulation der Phylogenese darstellen soll. Da bei Besprechung meines Buches „Die moderne Biologie und die Entwicke- lungstheorie* (Freiburg ı. B. 1904) verschiedene Rezensenten es

1) Unter den nordamerikanischen Myrmieinen, welche als soziale Parasiten mit fremden Arten in gemischten Kolonien leben, sind von Epoeeus Pergandei Em., Sympheidole elecebra Wheel. und Epipheidole inquwilina Wheel. ähnlich wie bei unserem Anergates nur Männchen und Weibchen bekannt, keine Ar- beiterinnen. Übrigens sind die Männchen dieser amerikanischen Gattungen nicht morphologisch rückgebildet, wie jene von Anergates, sondern normal, und die be- fruchteten Weibchen erreichen keine so kolossale Physogastrie wie die Anergates- Königinnen. Die parasitische Degeneration ist bei jenen drei Gattungen demnach, trotz des Verlustes der Arbeiterinnen-Form, eine viel geringere als bei Anergates. Mir scheint die Möglichkeit naheliegend, dass jene drei nordamerikanischen Gat- tungen gar nicht aus ehemals sklavenraubenden Arten hervorgegangen sind, sondern aus ehemaligen Gastameisen, deren Kolonien anfangs in zusammen- gesetzten Nestern, später in gemischten Allianzkolonien mit ihren Wirten lebten, worauf sie dann schließlich die eigene Arbeiterform verloren. Bei Sympher- dole und Kupipheidole sind bisher keine Königinnen der betreffenden Wirtsarten (Pheidole) in den gemischten Kolonien getroffen worden. Wheeler spricht da- her die Vermutung aus, dass Sympheidole und Kpipheidole gleich unseren Aner- gates Adoptionskolonien bilden, in denen die Königin der parasitischen Art jene der Wirtsart ersetzt. (Siehe Wheeler, Thre new genera of inquiline ants from Utah and Colorado pag. 17 in: Bull. Amer. Mus. of Nat. Hist. XX, art. I, pag. 1—17 Jan. 1904). Trotzdem können die Sympheidole-Pheidole und die Bpi- pheidole- Pheidole-Adoptionskolonien in ganz anderer Weise zustande gekommen sein als jene von Anergates-Tetramorium, welche wahrscheinlich eine parasitische De- generation von ehemals sklavenhaltenden Strongylognatlıus- Tetramorium-Kolonien darstellen.

Wasmann, Ursprung und Entwiekelung der Sklaverei bei den Ameisen. 985

befremdlich gefunden haben, dass ich gegen jenes „Grundgesetz“ im allgemeinen mich ablehnend verhalte, obwohl ich ebendort!) bei der Entwickelung der Termitoxentiidae eine neue tatsächliche Be- stätigung für dasselbe erbrachte, so sei hier folgendes zur Erklärung jenes scheinbaren Widerspruchs beigefügt.

Die Entwickelung, die ontogenetische wie die phylogenetische, setzt sich aus drei verschiedenen Faktoren zusammen: erstens aus den allgemeinen organischen Gesetzen des Wachstums und der Vermehrung der Zellen und der Differenzierung der Ge- webe; zweitens aus den Bahnen, welche dem Entwickelungsprozess durch Anpassung unter der Wechselwirkung der verschiedensten inneren und äußeren Ursachen angewiesen werden; drittens aus den Bahnen, welche dem Entwickelungsprozess durch Vererbung jener ursprünglichen Anpassungen vorgezeichnet werden. Diese drei Faktoren greifen in sehr mannigfacher und wechselvoller Weise ineinander, so dass bald der eine, bald der andere mehr ın den Vordergrund tritt. Das „biogenetische Grundgesetz“ bringt aber nur den dritten Faktor zum Ausdruck, und deshalb halte ich es nicht für das biogenetische Grundgesetz, sondern nur für ein biogenetisches Teilgesetz, das sich bloß dort bewähren kann, wo die „Cänogenese“ gegenüber der „Palingenese“ zurücktritt. Ich gebe gerne zu, dass dies manchmal zutrifft und dass man nicht selten aus der Ontogenese wichtige Aufschlüsse über die Phylo- genese einer Spezies erhalten kann. Einen solchen Fall haben wir in der Entwickelung der Thorakalanhänge der Dipterengattung Termitoxenia, wo diese Gebide ım Jugendzustande noch ein Sta- dium der Flügeladerung durchlaufen. Einen ähnlichen Fall haben wir auch in der Geschichte des Sklaverennstinktes der Ameisen, wo die ontogenetische Entwickelung von Adoptionskolonien zu späteren Raubkolonien uns einen deutlichen Fingerzeig gibt, wie wir uns die phylogenetische Entstehung und Entwickelung des Sklavereiinstinktes vorzustellen haben; hier decken sich ın der Tat beide Erscheinungsreihen so auffallend, dass wir sagen dürfen: die ontogenetische Entwickelung einer Raubameisenkolonie von F. sangwinea ist die abgekürzte Wiederholung der Stammesgeschichte, durch welche die dauernd gemischten Raubkolonien dieser Ameise aus ursprünglich nur zeitweilig gemischten Adoptionskolonien, wie F. truneicola sie heute noch zeigt, hervorgegangen sind.

Hieraus auf die „Allgemeingültigkeit“ des biogenetischen Grund- gesetzes schließen zu wollen, wäre unlogisch. Der Erklärungswert desselben versagt bereits, wenn wir die Entstehung der ersten Raubkolonie in der Stammesgeschichte von F. sangwinea oder

1) 9. Kap., 10. Abschnitt, S. 266ff. Siehe auch: Die Thorakalanhänge der

Termitoxeniidae, ihr Bau, ihre Entwickelung und phylogenetische Bedeutung (Verhandl. Deutsch. Zool. Ges. 1903, S. 113—120 urd Tafel I und II).

386 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

Wasmanni erforschen wollen. Die erste Raubkolonie konnte noch keine Stammesgeschichte wiederholen, die sie noch nicht gehabt hatte. Sie musste daher durch ihre eigene ontogenetische Entwickelung aus einer bisherigen Adoptionskolonie zur Raubkolonie werden, indem der Instinkt der Arbeiterinnen, die ausgestorbenen Hilfsameisen durch Sklavenraub von Puppen derselben Art zu ersetzen, sich betätigte. Der Instinkt der Arbeiterinnen war bereits als erbliche Anlage vorhanden durch folgende zwei Faktoren: 1. Durch die Neigung vieler Ameisen, die Puppen fremder Nester gelegentlich als Beute zu rauben. 2. Durch die Neigung der Ameisen, Puppen der eigenen oder einer mit ihnen zu einer Kolonie assozuerten freinden Art zu adoptieren und zu erziehen. Es brauchte also nur noch eme Kombination jener beiden Elemente einzutreten, veranlasst durch die äußeren Verhält- nisse jener Kolonie: dann konnte der erste Sklavenraubzug er- folgen und infolge der angenehmen Erfahrungen, welche die nunmehrigen Raubameisen durch den Besitz ıhrer neuen Hilfs- ameisen machten, zur regelmäßigen Wiederholung dieser Sklavenexpeditionen führen. Damit war zwar die erste Raub- kolonie fertig, aber noch nicht der erbliche Instinkt der be- trefenden Formica-Art, ihre Adoptionskolonien regelmäßig in Raubkolonien zu verwandeln. Dieser konnte nur vermittelt werden durch die Keimesanlage der Königinnen; wir müssen daher annehmen, dass bei den Weibchen der betreffenden Kolonien da- mals eine neue günstige Keimesvariation eintrat, welche die beiden bisher gesonderten instinktiven Anlagen der Arbeiterinnen, Puppen zu rauben und zu erziehen, gesetzmäßig kombinierte. Diese Kombination war um so leichter möglich, da die Königinnen dieser Arten (z. B. truncicola) ja schon den Instinkt besaßen, zur Gründung ihrer neuen Kolonie stets Nester einer Hilfsameisenart aufzusuchen und mit den Arbeiterinnen derselben eine Adoptions- kolonie zu bilden; diese Instinktanlage brauchte sich bloß auf die Arbeiterinnen, die von jener Königin stammten, in einer dem Arbeitercharakter entsprechenden Form durch Ver- erbung zu übertragen, und der Sklavereiinstinkt war gegeben. Dann konnte auch die Naturzüchtung eingreifen und die neue Sitte, die ausgestorbenen primären Hilfsameisen durch Sklavenraub zu ersetzen, befestigen und zu ihrer weiteren Entwickelung mitwirken. In letzter Instanz müssen wir daher auch hier zur Erklärung des Sklavereiinstinkts auf die inneren organisch-psychischen Entwickelungsgesetze der Arten zurückgreifen, als deren materielle Träger wir wahrscheinlich die Chromatinelemente der Keimzellkerne anzusehen haben').

1) Vgl. hierüber auch meine Ausführungen in dem Buche „Die moderne Bio- logie und die Entwiekelungstheorie“, 6. Kap. 8. 144 ff.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 257

Nachdem wir den Ursprung des Sklavereiinstinktes zurück- geführt haben auf den Instmkt der Königinnen bestimmter Ameisenarten, sich mit den Arbeiterinnen fremder Arten zur Grün- dung neuer Kolonien zu verbinden, kommen wir schließlich zur Frage nach dem phylogenetischen Ursprung dieses Assoziations- instinktes der Königinnen. In der 2. Aufl. des Buches „Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen“ soll dieselbe näher behandelt werden. Hier mögen folgende kurze Andeutungen genügen.

Anknüpfend an die biologische Tatsache, dass es unter den europäischen und den nordamerikanischen Formica gerade Arten der rzfa-Gruppe sind, welche 'in temporär gemischten Adoptions- kolonien mit Arbeiterinnen fremder Formica-Arten leben, können wir uns die phylogenetische Entstehung dieser Form der Symbiose, welche die Grundlage für die Entwickelung des Sklavereiinstinktes bei Formica und Polyergus bildet, folgendermaßen hypothetisch zurechtlegen:

1. Ursprünglich gründeten sämtliche Formica ihre neuen Kolo- nien selbständig durch einzelne befruchtete Weibchen, gleich den übrigen Ameisen.

2. Bei den Arten und Rassen der rufa-Gruppe ging diese Form der Koloniegründung allmählich verloren. Da dieselben näm- lich durch ihren Haufenbau (Ameisenhaufen aus pflanzlichem Ma- terial) eine höhere und gleichmäßigere Nesttemperatur für die Ent- wickelung ihrer Brut erhielten und somit dem arktischen Klıma am besten angepasst waren, entwickelten sich ıhre Kolonien am günstigsten und erreichten eine immer größere Volksstärke. Je volkreicher ıhre Kolonien aber wurden, um so größer wurde der Nestbezirk, den jede Kolonie durch Zweigkoloniebildung beherrschte. Um so geringer wurde dagegen für die Königinnen der betreffen- den Arten oder Rassen die Notwendigkeit, zur Erhaltung ihres Stammes selbständig neue Kolonien zu gründen nach der Paarung. Daher ging bei ihnen die Fähigkeit, ohne Hilfe von Arbeiterinnen neue Kolonien zu gründen, allmählich (durch Panmixie?) verloren.

3. Indem nun einzelne Arten oder Rassen der rufa-Gruppe von den übrigen im Konkurrenzkampfe zurückgedrängt wurden, dadurch seltener wurden und sporadischer auftraten, ergab sich für die befruchteten Weibchen derselben die Notwendigkeit, mit Arbeiterinnen häufiger fremder Formica-Arbeiterinnen zur Kolonie- gründung sich zu assozueren; denn die Fähigkeit zur selbständigen Bildung neuer Kolonien hatten sie bereits stammesgeschichtlich verloren, und Arbeiterinnen der eigenen Kolonie, Rasse oder Art standen ihnen nicht mehr zu Gebote. Dadurch kam es bei ıhnen immer häufiger zur Bildung temporär gemischter Adoptions- kolonien mit Arbeiterinnen fremder Formica-Arten.

285 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

Das sind allerdings nur die äußeren Umrisse der hypo- thetischen Entstehung der gesetzmäßigen Formen temporär ge- mischter Kolonien, wie wir sie bei F\ truneicola und consocians heute vorfinden. Auf die tieferen Entwickelungsursachen kann hier nicht weiter eingegangen werden.

Wir können nun noch die Frage stellen: warum sind einige der gesetzmäßig in temporär gemischten Kolonien lebenden Formieca- Arten, z. B. F. truneicola und consocians, auf dieser Entwickelungs- stufe stehen geblieben und nicht zur Bildung dauernd gemischter Kolonien, wie F. sanguinea, fortgeschritten? Wenigstens einer der Hauptgründe hierfür scheint mir in folgendem Momente zu liegen:

4. Unter den in zeitweilig gemischten Kolonien lebenden Formiea- Arten fanden sich die günstigsten Bedingungen, um zur Entwicke- lung eines wirklichen Sklavereiinstinktes überzugehen, bei jenen, welche vorzugsweise vom Raube fremder Ameisenpuppen lebten wie F\ sangwinea. Dadurch wurde die äußere Veranlassung geboten, durch welchen aus den Adoptionskolonien die Raubkolonien der sklavenhaltenden Ameisen entstehen konnten. Unter den aus Beutelust geraubten Arbeiterpuppen wurden nämlich nur diejenigen aufgezogen, welche zur normalen Hilfsameisenart gehörten, mittelst derer die Kolonie ursprünglich gegründet und die ersten Arbeiter- generationen derselben aufgezogen worden waren. So konnte onto- genetisch und phylogenetisch ein bestimmt gerichteter Skla- vereiinstinkt sich entwickeln.

9. Nachtrag.

Die vorliegende Arbeit war bereits im November 1904 fertig an die Redaktion des Biologischen Centralblattes eingesandt worden. Nur die letzten anderthalb Seiten sind später während der Kor- rektur beigefügt. Gleichzeitig mit der Veröffentlichung des ersten Teiles dieser Arbeit (Heft 4, 15. Februar 1905) erschien eine neue Arbeit von Wheeler, An interpretation of the slave- makıng instincts in ants!), welche dasselbe Thema auf 16 Seiten behandelt, vorwiegend unter polemischem Gesichtspunkte gegen- über meinen Ausführungen von 1891?) und 1902 ®).

Es freut mich, vor allem konstatieren zu können, dass Whee- ler’s allerdings in etwas erregtem Ton gehaltene Polemik insofern großenteils gegenstandslos ist, als unsere gegenwärtigen Anschauungen über Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen sachlich sehr nahe verwandt sind. Auch Wheeler

1) Bull. Am. Mus. Nat. Hist. XXT, Art. I, p. 1---16, Febr. 14, 1905.

2) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien, 1. Aufl.

3) Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien. Allg. Zeitschr. f. Entomol. 1901—1902.

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 289

legt der Gründungsweise der gemischten Kolonien eine hypo- thetische Bedeutung für die Erklärung des Sklavereiinstinktes von Formica sangwinea bei (p. 4ff.). Er unterscheidet ferner (p. 15) drei instinktive Elemente, aus deren Kombination der Sklaverei- instinkt dieser Ameise hervorgegangen ist.

1. Die bestimmten (diskriminativen) parasitischen Instinkte der Königin, d. h. ihre Neigung, mit Arbeiterinnen bestimmter fremder Arten ihre neuen Kolonien zu gründen.

2. Die bestimmten Raubinstinkte der Arbeiterinnen.

3. Die Erziehungsinstinkte der Arbeiterinnen, die sich auf die Puppen bestimmter Sklavenarten beziehen.

Wie diese drei Elemente untereinander zusammen- hängen und sich zur Entwickelung eines echten Sklaverei- instinktes verbinden, ist von mir in vorliegender Arbeit ein- gehend gezeigt worden (vgl. S. 124, 168, 200, 281, 286).

Ferner legt Wheeler jetzt der natürlichen Zuchtwahl dieselbe Bedeutung bei, die ich ihr stets beigelegt habe, nämlich die eines rein negativen regulatorıschen Prinzips. Er akzeptiert (p. 8) den Satz von de Vries (Die Mutationstheorie, Bd. 2, p. 667): „Die natürliche Auslese ist ein Sieb, sie schafft nichts, wie es oft fälschlich dargestellt wird, sondern sichtet nur. Sie erhält nur, was die Variabilität ihr bietet. Wie das, was sie siebt, ent- steht, sollte eigentlich außerhalb der Selektionslehre liegen.“ Das ist auch meine Ansicht, und deshalb legte ich schon 1891 und 1902 ein besonderes Gewicht auf die uns leider noch sehr unvoll- kommen bekannten inneren Entwickelungsursachen, welche das zu siebende Material schaffen. Wheeler dagegen erklärt in seiner neuesten Arbeit (p. 16) diese Annahme von ge- setzmäßig wirkenden inneren Ursachen für „merely scholastie for- mulae“; ich bin allerdings der Ansicht, dass wir ohne bestimmt gerichtete Variationen in der Deszendenztheorie nicht auskommen, halte dieselben aber nicht für etwas „Scholastisches“. Wheeler wendet sich ferner (p. 8) gegen meine frühere Kritik seiner Erklä- rung des Sklavereiinstinktes von F. sanguinea!) und sagt: „Was- mann, in commenting my paper, misses the whole point of the discussion and runs full tilt at sundry wind-mills of his own con- struction.“ Ob dies der Fall ist oder nicht, darüber kann ich ruhig das Urteil anderen überlassen.

Wenn Wheeler auch jetzt noch an der Möglichkeit einer rein zufälligen Entstehung des Sklavereiinstinktes festhält, so lege ich diesem Umstande keine allzugroße Bedeutung bei; denn er spricht sich ja andererseits für den Zusammenhang der dauernd gemischten Kolonien mit den temporären Formen aus: dieser Zusammenhang

1) Neues über die zusammengesetzten Nester S. 235 (S. 39 Sep.); vgl. auch oben S. 119. XXV. 19

290 Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen.

ıst aber als ein gesetzmäßiger zu bezeichnen. Für die Möglichkeit einer zufälligen Aufzucht fremder Sklaven beruft sich Wheeler (p. 14) auf die interessanten Versuche von Miss Adele Fielde!), welche „eine Flut von Licht auf die Bildung gemischter Kolonien im allgemeinen und sklavenhaltender Kolonien im besonderen werfen.“ Ähnliche Versuche sind schon lange vorher von Forel und von mir angestellt worden (künstlich gemischte Allianzkolonien) mit ähnlichem Erfolge. Miss Adele Fielde ist es geglückt, die- selben auch auf Ameisen verschiedener Gattungen und verschiedener Unterfamilien auszudehnen. Aus jenen Versuchen geht hervor, dass man auf künstlichem Wege und unter unnatürlichen Verhält- nissen die Ameisen dazu bewegen kann, junge Arbeiterinnen ganz fremder Arten oder selbst Gattungen als Nestgenossen anzunehmen. Eine Ausdehnung der Schlussfolgerungen auf Nester in freier Natur oder auch auf Beobachtungsnester, die man unter möglichst natürlichen Verhältnissen im Zimmer hält, wäre jedoch durchaus verfehlt. Man vergleiche hierzu meine Versuche im ersten Teil der vorliegenden Arbeit (S. 117—125). Die Angabe Wheeler’s (p. 10), dass auch „viele Ameisen außer sanguinea gelegentlich einen Teil der fremden Jungen vernachlässigen, denselben erlauben sich zu entwickeln und Mitglieder der Kolonie zu werden“, beruht nicht auf Tatsachen, soweit es sich um die definitive Aufnahme fremder Hilfsameisen unter natürlichen Verhältnissen handelt. Die Ameisen unterscheiden genau zwischen den Jungen der fremden Arten und den eigenen Angehörigen und töten erstere schließlich, wenn nicht ganz beson- dere instinktive Ursachen für ıhre Aufnahme vorliegen, z. B. für die Aufnahme von fusca-Sklaven in der obenerwähnten truncieola- Kolonie (vgl. S. 167—16S).

Auf Punkte von untergeordneter Bedeutung gehe ich hier nicht weiter ein. Dass z. B. sämtliche „anormal gemischte Kolo- nien“ ın freier Natur auf temporärem Parasitismus beruhen, wie Wheeler (p. 15) annımmt, ist nach den oben im 5. Teil meiner Arbeit („anormal gemischte Kolonien von F. sangwinea*) mitge- teilten Beobachtungen nicht zutreffend.

Von besonderem Interesse war mir der von Wheeler (p. 6) allerdings erst ganz kurz erbrachte Nachweis, dass der Sklaverei- instinkt der nordamerikanischen Formen von F. sanguinea nicht so weit fortgeschritten zu sein scheint, wie derjenige der euro- päischen sangwinea ı1.sp. Er bestätigt, dass es wirklich eine sklaven- lose Rasse (aserva For.) dieser Ameise in Nordamerika gebe. Nichts liegt mir ferner, als meine Erfahrungen an den europäischen Raubameisen auf deren amerikanische Verwandte schlechthin zu übertragen. Als ich 1902 jene sklavenlose Rasse als noch der

l) Artificial mixed nests of ants (Biol. Bull. V, Nr. 6, Nov. 1903, p. 320—325).

Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. 291

weiteren Bestätigung bedürftig bezeichnete, habe ich keineswegs „eine zu hastige und flüchtige Verallgemeinerung“ gemacht, wie Wheeler mir vorwirft, sondern im Gegenteil vor einer solchen gewarnt. Wenn die nordamerikanischen Formen von Formieca sanguinea und Polyergus rufescens wirklich auf anderen Entwicke- lungsstufen der Sklaverei stehen als ihre europäischen Verwandten, so kann ich den Nachweis dieser interessanten Verhältnisse nur mit Freuden begrüßen; denn ich vertrete ja ebenfalls die Ent- wickelungstheorie soweit sie tatsächlich nachweisbar ist. Aus einer ruhigen und sachgemäßen Erörterung derartiger Fragen wird die Wissenschaft nur Nutzen ziehen können.

Nachtrag zum 2. Kapitel (F. truncicola).

Am 22. März 1905 traf ich bei Luxemburg eine junge trunei- cola-Kolonie vom Stadium 4, etwa 200 Arbeiterinnen stark, von 4—6,7 mm Größe. Das Nest war noch ein reines fusca-N est unter einem Steine, aber keine einzige fusca mehr am Leben. Nach der Körpergröße der Arbeiterinnen handelte es sich um eine 3- bis 4jährige Kolonie, die soeben erst ungemischt geworden war. Am 15. April war der größte Teil der Kolonie ausgewandert und hatte 2 m weiter ein echtes fruncicola-N est unter trockenem Laub am Fuße eines Strauches gegründet. Diese Kolonie entspricht somit den Fällen 15 bis 16 = von Wheeler beobachteten consocians- Kolonien. (s. oben S. 273).

Inhaltsübersicht. Seite 1. Ist eine zufällige Entstehung des Sklavereiinstinktes

monbich? 2)... a EB 7 125 Lasius fuliginosus als ne (8. 117 ). Entstehung des Skla- vereiinstinktes nach Darwin (S. 115). Versuche über die Aufzucht fremder Formica-Kokonsin einem Beobachtungsneste von Polyergus- rufibarbis (S. 121). 2. Gründung und Entwickelung der Kolonien von For- mica trun'cicola. . 2... 425-127, 129144, 161—168 Nestbau von truncicola (8. 125). Zeitweilig gemischte Adoptions- kolonien truncicola-fusca und die verschiedenen Entwickelungs- stadien der truncicola-Kolonien (S. 126). Beobachtungen und Ver- suche über eine truncicola-fusca-Kolonie vom Stadium 1—4 (S. 131). Die einfach gewordene truncicola-Kolonie behielt die Neigung bei, fusca als Hilfsameisen zu erziehen (S. 167). 3. Gründung neuer Kolonien bei verschiedenen For mica- Arten‘ .2,. 222168 169,47 =195 200 F. fusca und rufibarbis (S. 193). Fr. rufa und pratensis (S. 194): exsecta (S. 200). 4. Raub- und Adoptionskolonien von F. sanguinea. . . 200—210 Zweigkolonien (S. 201). Gründung neuer Kolonien (S. 201). Bei- spiele für primär oder sekundär gemischte sanguwinea-fusca-K.olo- nien (S. 202). Übersicht (8. 208). Sanguwinea-rufibarbis-Kolo- nien (S. 209). 19*

399 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II. Seite 5. Anormal gemischte sanguinea-Kolonien. . 210—216, 256—263 Künstlich mit rufa gemischte Kolonien in freier Natur (S. 210). Natürliche anormal gemischte Kolonien mit pratensis oder rufa neben oder statt fusca (S. 213). Kolonie Nr. 247 und ihre Ent- wickelung aus einer Raubkolonie zu einer sekundären Adoptions- kolonie (S. 258). Gemeinsames Band zwischen den normal und den anormal gemischten sanguwinea-Kolonien (S. 261). 6. Die Raub- und Adoptionskolonien von Polyergus . . 263—266 7. Zeitweilig gemischte Ameisenkolonienin Nordamerika 266—280 Die Adoptionskolonien von F. consocians und incerta (S. 267). Andere Adoptionskolonien nordamerikanischer Ameisen (S. 276). Die Kolonien F. Wasmanni-subsericea als Adoptions- und Raub- kolonien (S. 277). F. exsectoides (S. 279). 8.DSchlussergebniage: re nr er a Sea era 285 ISIN ONETWN N Fan Ve a EEE ARE 28

Anti-Reinke II. Von F. Kienitz-Gerloff.

Motto: Das Wahre, Gute und Vortreffliche ist einfach und sich immer gleich, wie es auch erscheine. Das Irren aber, das den Tadel hervorruft, ist höchst mannigfaltig, in sich selbst verschieden ; und nicht allein gegen das Gute und Wahre, sondern auch gegen sich selbst kämpfend, mit sich selbst in Widerspruch.

Goethe in „Maximen und Reflexionen.“ Seiner „Einleitung in die theoretische Biologie* und seinem in diesen Blättern veröffentlichten Vortrage über den Neovitalismus und die Finalität ın der Biologie!) hat J. Reinke eine „Philo- sophie der Botanik“ folgen lassen. Da ich mich vor kurzem an dieser Stelle über Reinke’s Ansichten habe vernehmen lassen ?), das neue Buch aber, welches offenbar vor dem Erscheinen meines Aufsatzes gedruckt ist, dieselben Ansichten verficht und dabei auch auf einige von mir berührte Punkte eingeht, so sei es mir gestattet, noch einmal meine Stimme zu erheben, obwohl das Werk hier von anderer Seite im Auftrage der Redaktion besprochen werden soll. Sein Schwerpunkt liegt vor allem in zwei Kapiteln, dem dritten, welches „Kausalität und Finalität“, und dem vierten, welches „die Kräfte“ überschrieben ist, weil von den hierin verkündeten Grund- anschauungen des Verfassers alles übrige abhängt. Sie mögen des- halb auch vorzugsweise der Kritik unterzogen werden. Ziemlich im Anfang des erstgenannten®) billigt Reinke den Standpunkt von Helmholtz, welchem zufolge das Prinzip der

1) Bd. XXIV, Nr. 18, 19. 15. Sept. 1904 2) Bdr RRVE ENT 2215 Jan. 1905; Sn Ara OiESm2H:

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II. 293

Kausalıtät nichts anderes ıst als die Voraussetzung einer allge- meinen Gesetzlichkeit der Naturerscheinungen, und den von E. Mach, der eindringlich davor gewarnt hat, in den Naturwissenschaften die „Ursache“ zu einem Fetisch zu machen, und eine solche An- wendung des Kausalprinzips als eine „pharmazeutische“ verspottet, in der auf eine Dosis Ursache ein Stück Wirkung folge. Danach könne es sich, sagt Reinke, ın der Kausalität nur um ein „Ver- knüpfungsverhältnis“ handeln. Er nennt diese Verknüpfung eine „funktionale“ und vergleicht die Bedingung der Wirkung durch ihre Ursachen mit der Abhängigkeit des Verlaufs einer Kurve von ihren Koordinaten.

Ich bin damit durchaus einverstanden. Auch ich halte den Begriff der „Ursache“ ım alten Sinne und den ihres „Wirkens“ für Reste der animistischen Deutung der Natur, für Überbleibsel der Allbeseelung, durch die sich der Naturmensch die Bewegungen in der Natur „erklärte“, während uns die reine Erfahrung nichts weiter zeigt, als ein regelmäßiges Aufeinanderfolgen der Erschei- nungen selbst, die wir Änderungen nennen.

Dennoch gerät man im weiteren Verlauf des Kapitels, bei den Anwendungen und bei den Auseinandersetzungen namentlich über die Finalbeziehungen an Reinke’s vorher verkündetem Standpunkt wieder in Zweifel, und gänzlich unvereinbar mit den vorstehenden Äußerungen erscheint es mir, wenn Reinke behauptet, dass bei den Organismen „reale Finalbeziehungen mit Kausalbeziehungen verknüpft“ seien!). Eine solche Verknüpfung müsste notwendig einen gordischen Knoten ergeben. Sie ist ebenso unmöglich, wie, um bei Reinke’s Bild zu bleiben, eine ebene Kurve, deren Ver- lauf durch zwei verschiedene und voneinander unabhängige Koordi- natensysteme bestimmt sein sollte.

Es wird gut sein, an einem von Reinke’s Beispielen zu zeigen, wie er sich die Verknüpfung der Final- und Kausalbeziehungen denkt. Er sagt: „Das Einwandern von Stärke in die heran- wachsende Kartoffelknolle ist funktional abhängig von dem Bedarf der Pflanze mit Rücksicht auf ihre Fortdauer in der nächsten Vegetationsperiode; die Bereitung und Einwirkung der Diastase ist abhängig von der Notwendigkeit der Verflüssigung jener Stärke zum Gedeihen der neuen Schösslinge; wie die Bildung der Blume funktional abhängig ist von den notwendig zu erzeugenden Samen- körnern namentlich bei einjährigen Gewächsen. Hier liegen die Bedingungen des Geschehens zeitlich später als das Ge- schehene selbst“2). Für ihn ist also der Finalbegriff etwa die Umkehrung des Kausalbegriffs. Dies ist aber keine richtige Um- RASSE OSISE2TE )

il 2) Ebenda. Die Worte im Original nicht gesperrt.

294 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II.

kehrung wie etwa die eines geometrischen Satzes. Die Umkehrung des Kausalbegriffs ıst in Wirklichkeit der Wertbegriff. Wir wer- den also nicht fragen, welchen Zweck hat die Aufspeicherung von Stärke, die Bereitung und Einwirkung der Diastase, sondern welchen Wert haben diese Vorgänge für die neuen Schößlinge. Und Wert- beziehungen sind allerdings reale Beziehungen. Denn, „der Wert eines Objekts für ein Subjekt ıst die Einwirkung des Objekts auf das Bestehen des Subjekts“ und: „Positiven Wert hat ein Objekt für ein Subjekt, wenn es für dasselbe nützlich, zuträglich, heilsam, günstig, förderlich, vorteilhaft oder notwendig ist“ )).

Die finale ist aber überhaupt keine „funktionale“ Abhängig- keit. Bei ihr soll ja eine Begebenheit von einer anderen abhängen, die vielleicht nie eintritt. Denn wie, wenn die Kartoffel z. B. ge- gessen oder wenn die Blume abgepflückt wird ?

Vielleicht, dass sich aber Reinke an den betreffenden Stellen nur nicht ganz klar ausgedrückt hat und dadurch Missverständnisse hervorruft. Vielleicht, dass uns sein eigentlicher Standpunkt durch andere Teile seines Buches deutlicher enthüllt wird. Wenden wir uns also zunächst an das Kapitel über die Kräfte.

„Der Kraftbegriff“, sagt Reinke hier ım Eingang, „erfreut sich in manchen Kreisen einer gewissen Unbeliebtheit. Man em- pfindet eine Art von Scheu, damit zu operieren; oder, wenn man ihn zulässt, so geschieht es in einer seiner einseitigsten Formu- lierungen, nämlich als mechanischer Kraftbegriff. In der Mechanik bedeutet Kraft kaum etwas anderes als Widerstand; Kraft wird geradezu mit Widerstandseinheiten gemessen. Dieser mechanische Kraftbegriff ıst rein konventionell. Der Gebrauch der Sprache, dem das Wort angehört, weist jene Einschränkung unerbittlich zurück, und der Sprachgebrauch hat weitgehende Rechte. Worte sind nur entstanden, um Bedürfnissen des Denkens Genüge zu leisten“ ?).

Ich für meinen Teil habe es bisher für eines der allerersten und notwendigsten Erfordernisse einer „philosophischen“ Schrift gehalten, dass sie die Begriffe, mit denen sie operiert, scharf und klar bestimmt, denn ich kann einen Schriftsteller nur dann ver- stehen, wenn ich weiß, was er mit seinen Ausdrücken eigentlich besagen will. Derselben Meinung ist auch z. B. W. Ostwald. Er sagt: „In den Wissenschaften besteht tatsächlich die Haupt- arbeit in der Herstellung reiner, d. h. scharf abgegrenzter und in bezug auf ihren Inhalt und Umfang genau bestimmter Begriffe“ ?). Der Sprachgebrauch, den Reinke betont, dürfte uns aber ein recht

1) H. Matzat: Philosophie der Anpassung. Jena 1903. 8. 12. 9) A. a. 0.8.37. 3) Vorlesungen über Naturphilosophie. Leipzig 1902. S. 51.

VA

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II. 295

mangelhafter Führer sein. Denn, sagt Ostwald, wir dürfen nicht übersehen, „dass, wenn auch die Vergangenheit eine große Summe von Denkarbeit in der Sprache niedergelegt hat, die Ergebnisse dieser Denkarbeit nicht immer richtig und angemessen waren“). Und: „Die Sprache ist also nicht nur die Schatzkammer, in welcher die Kostbarkeiten der richtigen und zweckmäßigen Begriffsbildungen aufbewahrt werden, sondern sie ist gleichzeitig eine Rumpelkammer für abgetane und verbrauchte Begriffe“ ?).

Wenn es also auch richtig ist, dass Worte entstanden sind, um Bedürfnissen des Denkens Genüge zu leisten, so dürfte es doch dabei auf die Art des Denkens wesentlich ankommen. Ich habe schon in meiner ersten Veröffentlichung, in Übereinstimmung mit J. Petzoldt, Reinke gegenüber betont, dass das Wort Kraft ım landläufigen Sinne ein solches sei, dessen Bedeutung kein Mensch angeben könne. Wenn man daher einen Vorgang durch die Tätig- keit von Kräften „erklärt“, so tut man nichts weiter, als dass man zu einem wahrgenommenen, tatsächlichen Vorgang einen zweiten, ihm parallelen, nicht wahrnehmbaren hinzudichtet, der, wenn man das Wahrgenommene für rätselhaft hält, mindestens ebenso rätsel- haft ist wie dieses®). Kraft im gewöhnlichen Sinne ist ja nichts weiter als ein Möglichkeitsbegriff, welcher gar nichts „erklären“ kann. Denn, was wirklich ist, ist auch möglich, wie auch Reinke einleuchten wird.

Nach Reinke ist aber „der Kraftbegriff in seinem weitesten Sinne (also nach dem Sprachgebrauch; d. Ref.) in der Naturwissen- schaft, ganz besonders in der Biologie unentbehrlich“, und Reinke versteht darunter „alles Wirkende, Wirksame in der Natur; alles, was aktuell und potentiell Änderungen im Bestehenden hervor- ruft“*). Er sagt dann weiter: „Unzweifelhaft bezeichnet das Wort Kraft eine Kausalbeziehung. Wenn wir ein Geschehen als eine Kurve auffassen, deren Verlauf von ihren Koordinaten, den Ur- sachen, abhängt, so wirkt die Ursache durch etwas ihr Eigen-

1) Ebenda S. 34.

2) Ebenda S. 35. Reinke scheint allerdings anderer Meinung zu sein. Er sagt (S. 181): „Demgegenüber ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Sprache das Wort Zufall nicht geprägt hätte, wenn es nicht logisch begründet und logisches Bedürfnis wäre.“ Ich möchte Reinke fragen, ob er die Wörter „wahrsagen“, „Ge- spenst‘, „Hexe“ u. s. w. auch für logisch begründet und für logische Bedürfnisse hält. Oder, um auch ein botanisches Beispiel anzuführen: ist nach Reinke der Wein- stock ein Baum? Bei Horaz heißt es doch: „Nullam vite sacra severis arborem,“ und die Definition des Weinstocks als Baum spielt in der Rechtsprechung nach dem 12-Tafelgesetz eine wichtige Rolle. Aber Reinke hält wohl die Sprache auch für ein finales Produkt.

3) Petzoldt: Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung. Leipzig 1900. 8.30.

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296 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke Il.

tümliches, und dies nennen wir Kraft“!). Mit diesen Worten dürfte aber auch Reinke’s eigentliche Ansicht über die Ursachen und ihre Wirkungen, also über die Kausalbeziehungen ausgesprochen sein. Sie ist eben keine andere als die alte animistische Ansicht, und der Fetisch ist wieder in seinen alten Rang eingesetzt.

H. Hertz definiert (455) Kraft als .„den selbständig vorge- stellten Einfluss, welchen das eine von zwei gekoppelten Systemen zufolge des Grundgesetzes auf die Bewegungen des andern ausübt“. Und zwar heißen (450) zwei materielle Systeme „direkt gekoppelt, wenn eine oder mehrere Koordinaten des einen einer oder meh- reren Koordinaten des andern dauernd gleich sind. Gekoppelt schlechthin heißen zwei Systeme, wenn ihre Koordinaten so ge- wählt werden können, dass die Systeme in das Verhältnis der di- rekten Koppelung treten“ (453). „Jedes von zwei gekoppelten Systemen ist durch die Koppelung notwendig ein unfreies Sy- stem...*2). Man bemerke, wie bei dieser Definition der Kraft jegliche Personifizierung aus dem Begriff schwindet.

Dagegen nun Reinke’s Definition von „Kraft“: „Sie ist alles Wirkende, Wirksame in der Natur; alles, was aktuell oder potentiell Änderungen im Bestehenden hervorruft“. Gut. Dann sind also auch Flöhe und Wanzen Kräfte und zwar solche, die rote Flecken und Jucken hervorrufen. Auf dieser Definition fußend, unterscheidet nun Reinke unzerstörbare energetische und zerstörbare nicht energetische Kräfte, welche letzteren bei Tieren und Pflanzen ın Systemkräfte, Dominanten und Seelenkräfte eingeteilt werden’). Auf S. 40 aber heißt es: „Die Systemkräfte hängen ab von der Struktur des Organismus, seinen Systembedingungen, die den Maschinenbedingungen der Maschinen entsprechen. Das Wort Systemkraft bedeutet den kausalen Einfluss, der von den System- bedingungen ausgeht. Die Systembedingungen einer mit Be- triebskraft geladenen Taschenuhr wirken als Systemkräfte mit bei der erstrebten eigenartigen Drehung der Zeiger.“ Der Sprach- gebrauch, der doch nun einmal für Reinke maßgebend ist, unter- scheidet bekanntlich Ursachen und Bedingungen, von denen jene die sich ändernden, die wirkenden, die tätigen Umstände, diese die ruhenden, änderungslosen, die Wirkung nur ermöglichenden, sie nicht selbst herbeiführenden sein sollten). Einer scharfen Be- griffsanalyse gegenüber ist diese Unterscheidung freilich unhaltbar, aber der nach Reinke dem logischen Bedürfnis folgende Sprach- gebrauch hat sie einmal geschaffen, und da ist es denn nicht ein-

1) A. a. O. S. 38. Die betreffenden Worte im Original nicht gesperrt. 2) Die Prinzipien der Mechanik. Leipzig 1894.

3) Ara 0.1840:

4) Petzold a. a. O. S. 26.

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II. 297

zusehen, wie mit einmal die Bedingungen zu Kräften, also nach Reinke auch zu Ursachen werden sollen.

Man glaube nicht, ich hätte mich mit dem Floh- und Wanzen- beispiel zu krass ausgedrückt, denn auf S. 51 lesen wir: „So sind schon die Fermente in gewissem Sinne Systemkräfte, wenn sie auch durch chemische Energie wirksam werden.“ Bis jetzt habe ich Fermente immer für Stoffe gehalten; jetzt werden sie plötzlich zu Kräften. Eine heillose Verwirrung!

Mit den Dominanten, die als die selbstbildenden Kräfte des Organismus bezeichnet werden!), kommen wir auf Reinke’s Vergleich der Organismen mit den von Menschenhand gebildeten Maschinen. Die Dominanten sollen ja final wirken und gewisser- maßen die Intelligenz des Technikers vertreten. Reinke sagt: „Wir können in einer Maschine die Systembedingungen ohne Final- beziehungen nicht verstehen“ und: „In der Maschine sind alle Teile final aufeinander bezogen?). Ferner: „Wir sehen keine Ma- schine entstehen, ohne dass Hände sichtbar würden, die ihre Teile aus dem Rohstoff anfertigen und sie dann harmonisch zusammen- fügen“ ?).

Was versteht Reinke eigentlich unter Maschinen? Die Reu- leaux’sche Definition dafür lautet: „Maschinen sind Zusammen- fügungen widerstandsfähiger Körper, welche so eingerichtet sind, dass mittelst ihrer mechanische Naturkräfte genötigt werden können, unter bestimmten Bewegungen zu wirken.“ Ich bin mit dieser Definition imsofern nicht ganz einverstanden, als für den irreführenden Ausdruck „Kräfte“ besser „Energien“ gesetzt würde. Im übrigen scheint mir aber daran nichts auszusetzen zu sein. Er- kennen wir ihre Richtigkeit an, nun dann gibt es auch Maschinen, die nicht von Menschenhänden konstruiert sind und bei deren Ent- stehung keine Absicht mitgewirkt hat, sondern die nur durch blind wirkende Energien aufgebaut sind, deren Wirkung nur in Zahlen- werten ausdrückbare mechanische Arbeit war*). Man wird bei weiterem Nachdenken wohl mehr Beispiele dafür finden, mir fallen eben zwei ein. Das eine sind die sogen. Riesentöpfe, in denen durch die mechanische Energie des strömenden Wassers Steine eine gewaltige Arbeit verrichten. Das andere sind die „Wackel- oder Schaukelsteine“, die die Verwitterung im Granit zustande ge- bracht hat, und die mehrarmige Hebel vorstellen.

Andrerseits behauptet Reinke: „Maschinen können nicht ge- teilt werden und dabei ein funktionsfähiges Ganzes bleiben“). Hier Aa OS. As 4.2.0. 8:48, Ar 3.20. 895.102. R A

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einke a.a. O. S.

298 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II.

hat er wohl nur an komplizierte, etwa an Dampfmasehinen gedacht. (sewisse „einfache Maschinen“, ein Hebel, ein Keil, eine Rolle, eine Schraube'), und selbst einzelne zusammengesetzte Maschinen, wie z. B. ein sogen. Flitzbogen, können nämlich in Wirklichkeit sehr wohl derartig geteilt werden, die Schraube der Quere, die anderen der Länge nach, nämlich durch Zerspalten. Organismen verhalten sich aber gar nicht anders, denn auch von ihnen lassen sich nur die einfacheren und auch diese oft nur in einer bestimmten Richtung teilen. Einen Regenwurm z. B. kann man zwar, ohne ıhn zu vernichten, quer durchschneiden, eine Zerspaltung der Länge nach verträgt er nicht.

Die dritte Klasse der nichtenergetischen sind also die psychi- schen Kräfte, die auf S. 41 als solche Kräfte definiert werden, welche bewusst werden können. An derselben Stelle heißt es: Die psychischen Kräfte, die unser Seelenleben ausmachen, wie Ge- danken und Beschlüsse, ringen sich stets aus unbewussten An- fängen zum Bewusstsein durch; „unsere Seelentätigkeit ist halb unbewusst, halb bewusst“. Auf S. 81 wird die Seele noch einmal bestimmt als „der Verstand und die Vernunft par excellence*, es wird angegeben, dass sie mit dem Bewusstsein untrennbar ver- bunden sei?), und auf S. 84 lesen wir: „Es ıst mir das Bewausst- sein ein so wesentliches Merkmal der eignen Seele, dass ich das Wort Seele nicht auch zur Bezeichnung eines unbewussten Kräfte- komplexes anzuwenden vermag.“ Ja, dann weiß ich aber nicht, wie es möglich, dass es auch eine unbewusste Seelentätigkeit geben soll.

Über die Verbreitung der Seele in der Organismenwelt gibt uns ebenfalls S. 41 Auskunft: „Wenn in irgendeinem Organismus, z. B. im geistesbegabten Menschen irgendwelche nicht energe- tische Kraft vorkommt, so ist dies Vorkommen damit für die Orga- nismenwelt als Ganzes gegeben“). Hieraus hätten wir also zu schließen, dass in allen Organismen auch psychische Kräfte tätig sind.

Aber S. 67 belehrt uns anders, denn dort heißt es: „Ver- gleichen wir aber gerade den Bau der höheren Pflanzen mit dem der höheren Wirbeltiere, so kommt vor allem das völlige Fehlen eines dem Gehirn entsprechenden Zentralorgans bei den Pflanzen in Betracht und gibt Anlass, mit den Ausdrücken Empfinden und Wahrnehmen vorsichtig umzugehen.“ Und damit in Übereinstim- mung S. 83: „Aber bei den niederen Tieren wird die Sache (näm- lich das Vorhandensein psychischer Eigenschaften, also einer Seele; d. Ref.) immer zweifelhafter, und bei den Pflanzen schwindet meines Dafürhaltens jeder Anlass, von einer Seele zu sprechen. Aus dem

I) Bei Reuleaux heißen diese Vorrichtungen Maschinenelemente. 2) Die betreffenden Worte im Original nicht gesperrt.

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Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II. 299

Grunde habe ich den Pflanzen auch nur drei der vier in der Welt vorhandenen Kräftegruppen beigelegt, nämlich Energien, System- kräfte und Dominanten, während ich die vierte Gruppe, die psychi- schen Kräfte, nur bei den höheren Tieren mit Einschluss des Men- schen zu erkennen vermag.“

Während, wie gesagt, auf S. 41 Gedanken als psychische Kräfte, die unser Seelenleben ausmachen, bezeichnet wurden und Verstand also doch wohl Intelligenz und Vernunft par ex- cellence als Bestimmungsmittel der Seele galten, wird darauf später weniger Gewicht gelegt. Denn (S. 84) „ich sehe nicht den Schatten eines Grundes dafür, den Dominanten Bewusstsein zuzuschreiben‘; (S. 98) in dem Umstand, dass beide intelligent wirken, liegt die Übereinstimmung zwischen Dominanten und psychischen Kräften; und endlich (S. 195): „Man wende nicht ein, dass keine andere Intelligenz existieren könne als die an unsere Großhirnrinde ge- bundene. Ich räume nur ein, dass dies die am besten bekannte Intelligenz ist, wodurch aber nicht ausgeschlossen ist, dass es nicht auch noch andere in der Natur wirksame Intelligenzen gibt. An welchem Teil der Großhirnrinde haftet denn unsere Intelligenz, an deren Atomen, Molekülen oder dem Gefüge der Organisation, den Systembedingungen im engeren Sinne? Davon wissen wir nichts. Auch darüber lässt sich nichts aussagen, ob menschliche Intelligenz ohne Zusammenhang mit den Verbindungen der Groß- hirnrinde existenzfähig ist, weil die naturwissenschaftliche Erfah- rung an diesem Punkte versagt.“

Und diesem wirren Netz von Widersprüchen gegenüber be- hauptet Reinke, dass sich seine Ansichten zwanglos im den Zu- sammenhang des Weltganzen einordnen und ein Minimum von Widersprüchen repräsentieren).

Von den verschiedenen Ansichten, die man über das Verhältnis von Geist und Körper aufgestellt hat, findet der Panpsychismus, wie schon oben erwähnt, keine Gnade vor Reinke’s Augen. Er ist „eine viel zu verschwommene Hypothese, um als naturphilo- sophisches Prinzip für die Botanik im Betracht zu kommen“?). Aber auch der psychophysische Parallelismus überhaupt ist nicht nach seinem Geschmack. Er sagt: „Eine Kausalabhängigkeit be- steht unzweifelhaft in der Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, die prästabilierte Harmonie des sogen. psychophysischen Parallelismus ist meines Erachtens zu verwerfen, da sie im Grunde auf ein ursachloses Geschehen hinausläuft und man zu- gleich fragt, warum nicht alles psychische Geschehen in der anorga- nischen Natur gleichfalls seine psychischen Nebenerscheinungen

O. S. 196; die betreffenden Worte dort nicht gesperrt. 0283202

300 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II.

haben soll, warum diese auf Zellen und Protoplasma beschränkt sein sollen“ ?).

Inwiefern der psychophysische Parallelismus auf einer prä- stabilierten Harmonie beruhen und auf ein ursachloses Geschehen hinauslaufen soll, vermag ich nicht einzusehen. Er sagt ja doch nur aus, dass mit allen psychischen Vorgängen auch physische parallel gehen, und die Deutung dafür gibt J. Petzoldt, indem er zeigt, dass die geistigen Akte durch materielle Bestimmungselemente eindeutig bestimmt sind, während er direkt nachweist, dass es für psychische Vorgänge keine psychischen Bestimmungen gibt. Wird also überhaupt der Vorwurf des Mangels einer Kausalıtät auf diesem (Gebiete erhoben, dann trifft er nicht den psychophysischen Pa- rallelismus, sondern gerade Reinke’s Annahme der psychischen Kräfte. Ich kann mich an dieser Stelle unmöglich auf eine ein- gehende Begründung einlassen, weil dies viel zu weit führen würde, aber ich will wenigstens die Interessenten auf die Kapitel 4 und 5 des ersten und das Kapitel 1 des zweiten Abschnittes von Petzoldt's „Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung“ verweisen, in denen diese Dinge mit großer Klarheit dargestellt sind. Ferner auch auf das Buch des dänischen Forschers Alfred Lehmann: „Die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände,“ II. „Die physischen Äquivalente der Bewusstseinserscheinungen*?).

Mit Reinke’s Urteil über den Panpsychismus kann ich mich hingegen einverstanden erklären, denn er wird überflüssig, wenn man mit Matzat das Denken als eine Arbeit ım Zentralnerven- system auffasst und zwar als eine Arbeit im Hertz’schen Sinne?°). Letzterer definiert nämlich folgendermaßen®): (510) „Die Vermeh- rung der Energie eines Systems, vorgestellt als Folge einer auf das System ausgeübten Kraft, wird die Arbeit jener Kraft genannt. Die Arbeit, welche eine Kraft in bestimmter Zeit leistet, wird ge- messen durch die Zunahme der Energie des Systems, auf welches sie wirkt, in jener Zeit“).

1) Bekanntlich nimmt der Panpsychismus diese in der Tat für alles physische Geschehen in Anspruch.

2) Leipzig 1901. Lehmann wehrt sich allerdings dagegen, dass seine An- sicht psychophysischer Parallelismus sei, im Grunde läuft sie aber m. E. doch dar- auf hinaus. Auch A. Forel will vom psychophysischen Parallelismus nichts wissen (Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen S. 9). Er nennt die Sache „monistische Identität“. M.E. ist jedoch seine Anschauung genau dieselbe wie die von Wundt (Grundzüge der physiologischen Psychologie II S. 644) und nur die Bezeichnung ist verschieden.

3) Philosophie der Anpassung. S. 885—91.

4) A. a. O.

5) Damit lässt sich denn m. E. auch Lehmann’s Standpunkt durchaus ver- einigen. Seiner Auffassung nach ist das Psychische nur an eine einzige, bestimmte Art der Energie gebunden, die während der Arbeit des Gehirns neben vielen an-

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II. 301

Jedenfalls kommt man damit weiter, als wenn man die psychı- schen Erscheinungen als Wirksamkeit einer „Seele“ auffasst, von der Reinke selbst gestehen muss, dass man von ıhr nichts weiß!) und die er selbst als „Symbol für einen unerkennbaren Kräfte- komplex“ bezeichnet?).

In meiner ersten Veröffentlichung hatte ich die Nachahmung von Vorgängen aus dem Zellenleben mit leblosen Massen erwähnt, die einer Anzahl von Forschern, wie Berthold, Bütschli, Rhumbler, Bernstein und Dreyer gelungen ist. Einige dieser Versuche finden jetzt auch bei Reinke Berücksichtigung. Er tut sie aber mit wenigen Worten ab. Denn obgleich er anerkennt, dass Experimente mit leblosen Massen uns wichtige Anhaltspunkte liefern können für die Mechanik der mitotischen Figur auf die anderen Versuche geht Reinke nicht ein -—, so meint er damit über sie wegzukommen, dass er in ihren Erfolgen mit Hartog nur Modelle erblickt. Ich bin der Ansicht, dass man mit diesem Ausdruck allein doch nicht mit ihnen fertig wird. Allerdings ist ja der Faden einer Oscillaria etwas anderes als ein solcher von Schellack und ein Chloroformtropfen etwas anderes als eine Amöbe. Und ebensowenig soll ohne weiteres behauptet werden, dass die „am Modell gehandhabte Kraft mit der wirklich im Zellkern tätigen identisch sei“. Aber darin liegt sicherlich nicht der Schwerpunkt dieser Versuche. Er liegt vielmehr darin, dass wır überhaupt ıim- stande sind, Konfigurationen, die sonst nur in den Organismen be- obachtet wurden, öhne jeden final wirkenden Faktor nur mit rein mechanisch wirkenden Energien herzustellen. Denn als einst Fr. "Wöhler den Harnstoff durch Erhitzen aus eyansaurem Ammonium darstellte, da war sich auch jedermann vollkommen klar darüber, dass die Synthese des Harnstoffs im tierischen Körper auf ganz anderm Wege vor sich ginge. Dennoch aber war diese künstliche Synthese der erste Spatenstich an dem Grabe der Lebenskraft.

Ich hatte ferner Reinke darauf aufmerksam gemacht, dass die Existenz von rudimentären Organen, die Missbildungen, die Disharmonien des tierischen Körpers, die ausgestorbenen Tiere und Pflanzen mit seinen teleologischen Ansichten unvereinbar seien).

deren Energieformen entsteht, und die L. P-Energie nennt. Nicht jede Energie- transformation im Gehirn muss eine Entladung von P-E. bewirken; im Gegenteil muss man annehmen, dass dies erst stattfindet, wenn das psychodynamische Po- tenzial eines Zentrums hinlänglich groß geworden ist. Viele Hirnarbeit geht un- bewusst vor sich.

DPA2a50rD.88:

2) Ebenda S. 55.

3) Gegenüber den Reinke’schen Ausführungen, in denen er die angeblich außerordentliche Zweckmäßigkeit der Anpassungen bei der Pflanze preist, mache ich darauf aufmerksam, dass neuerdings wieder in einer Arbeit von Vöchting (Über die Regeneration der Araucaria excelsa. Jahrb. f. wissensch. Botanik 1904. Bd. 40

302 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II.

Damit hatte ich freilich nichts Neues gesagt, aber ich hatte diese Dinge vorgebracht, weil ich in Reinke’s bisherigen Schriften vergeblich nach Erklärungen dafür gesucht hatte. Jetzt spricht sich Reinke auch darüber aus. „Die Gegner der Teleologie,“ sagt er, „argu- mentieren gerne damit, dass es bei Organismen auch Einrichtungen gäbe, die man unzweckmäßig nennen müsse. Dies ist ohne Vor- behalt einzuräument). Wenn z. B. das normale menschliche Auge mit etwa 45 Jahren weitsichtig wird, so ist das eine unzweck- mäßige Veränderung jenes so zweckvollen Organs. Aber damit ist doch gar nichts gegen die bewunderungswürdig zweckmäßige Kon- struktion des Auges im allgemeinen bewiesen. Die Zweckmäßig- keit tritt mit solchen Fällen von „Dysteleologie“* nur in den Rahmen aller sogen. biologischen Gesetze, die tatsächlich nur Regeln von weitgehender Gültigkeit sind, aber immer an einzelnen Stellen Aus- nahmen zulassen. So ist auch die Zweckmäßigkeit der Organe kein unverbrüchliches Gesetz, wie die physikalischen Gesetze es sind, sondern eine Regel von allerdings größter Tragweite und Wichtigkeit“ ?).

Dieser Absatz steht m. E. im diametralen Gegensatz zu einer Stelle in Reinke’s zitiertem Aufsatz, an der es heißt: „Die Gesetz- mäßigkeit der lebendigen Wesen tritt uns vor allem in der wunder-

S. 144—55) nachgewiesen wird, dass bei dieser Pflanze von einer solchen durch- gehenden Zweckmäßigkeit der Anpassung keine Rede sein kann. Denn während bei Picea und Abies eine terminale Seitenachse an die Stelle der beseitigten Achse nächst höherer Ordnung tritt, ist dies bei Araucaria nicht der Fall, sondern ab- geschnittene Seitenglieder 1. Ordnung bilden sich bewurzelnde und in bizarr bilate- raler Form weiterwachsende Gebilde, und die als Stecklinge verwendeten Achsen 2. Ordnung behalten ebenfalls ihre Wachstumsweise bei. Vöchting schließt dar- aus mit Recht, „dass die Art der Regeneration eines Gebildes in erster Linie durch seine Struktur bestimmt wird.“ Von irgendeiner Zweckmäßigkeit kann hier keinen- falls gesprochen werden, denn diese Gebilde sind direkt unzweckmäßig.

Ich erinnere ferner daran, dass, wie schon Goebel (Über Studium und Auf- fassung der Anpassungserscheinungen. Festrede, München 1898) betont hat, die Krümmung von Pflanzenteilen nach dem Licht nicht bloß Stengeln und Blättern, sondern auch manchen Wurzeln zukommt, und dass die Stellung der Geschlechts- organe auf der Unterseite der Farnprothallien, die sich ökologisch durch das Be- dürfnis nach Feuchtigkeit erklärt, nicht durch diese, sondern durch das für sie ganz gleichgültige Licht bedingt wird,

1) Demgegenüber finden wir wieder im 4. Kapitel (S. 48) folgende Stelle: „Da wir an der maschinellen Struktur der Tiere und Pflanzen nicht zweifeln können und sie zur Voraussetzung machen, so folgt daraus, dass auch in Tier und Pflanze alle Teile als Systembedingungen final aufeinander bezogen sind; wo das nicht der Fall sein sollte, würde der Organismus überflüssige, wenn nicht gar schädliche Bestandteile enthalten.“ Ich empfehle Reinke die Lektüre von Wiedersheim („Der Bau des Menschen“, Stuttgart 1902), „der am menschlichen Körper allein 17 Organe und Organreste aufzählt, die eine physiologische Tätigkeit unvollständig, und 107, die gar keine ausüben. Und wie reimt sich seine letztangeführte Äuße- rung zu dem obigen Ausspruch?

2). A. a. O..8.'36.

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Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II. 303

baren Ordnung und Harmonie ihrer Körper, sowie in ihrer An- passung an die Außenwelt entgegen. In jener Harmonie erkennt die neuere Biologie ein fundamentales Prinzip“'). Da nun diese Harmonie nach Reinke bekanntlich auf der Zweckmäßigkeit beruht, so vermag ich wenigstens es nicht miteinander zu ver- einigen, dass ein und dasselbe einmal ein „fundamentales Prinzip“ und dann wieder nichts weiter als eine „weitgreifende Regel“ sein soll.

Nun sagt allerdings Reinke im Vorwort zu seinem Buche: „Vielleicht wird man tadeln, dass meine heute geäußerten Ansichten sich mit früheren nicht immer vollständig decken, z. B. im Begriff der psychischen Kräfte. Aus solchem Tadel würde ich mir auch ein gewisses Lob entnehmen. Denn es liegt mir fern, mit Stolz darauf zu verweisen, dass ich „unentwegt“ auf einem vor Jahren eingenommenen Standpunkt verharre, sondern ich pflege unausge- setzt an meinen Ansichten zu arbeiten, sie fortzubilden und zu ver- bessern.“ Nun, das pflege ich auch zu tun. Nur kommt mir die gänzliche Sinnesänderung, die in dem vorigen liegt, bei Reinke etwas plötzlich vor. Denn jener Vortrag ist am 18. September 1904 gehalten, die Vorrede der „Philosophie der Botanik“ datiert vom 16. November desselben Jahres, das Buch kann also unmöglich lange nach jenem Vortrage niedergeschrieben sein.

Reinke schließt den betreffenden Absatz mit den Worten: „Aber selbst ım Worte „dysteleologisch“* ıst an Finalbeziehungen ge- dacht, die es gleichsam instinktiv nicht verleugnen kann.“ Ja, na- türlich ıst daran gedacht, nur sind die Finalbeziehungen damit nicht anerkannt. Oder erkenne ich vielleicht jemanden, den ich als höchst unphilosophisch bezeichne, damit als Philosophen an?

Betrachten wir nun noch Reinke’s philosophischen Standpunkt im allgemeinen. Im ersten Kapitel, in dem er sich als Anhänger des „Kant’schen Realismus“ bekennt, lesen wir: „Ich kann meinen Standpunkt auch so formulieren: Weil ich eine Welt der Dinge an sich für wahrscheinlich halte, darum glaube ich an sıe?).“ Auf S. 18/19 finden wir den Satz: „Darum gelangen wir nur in wenigen Lehrsätzen über größere oder geringere Wahrscheinlich- keit hinaus; wobei ich absehe von jener erkenntnistheoretischen Auffassung, nach der für die Naturwissenschaften überhaupt nirgends apodiktische Gewissheit, sondern immer nur Wahrschemlichkeit erreichbar sei.“ Aber S. 161 sagt Reinke: „Darum kann die Ab- stammungslehre gar nichts anderes als ein Fürwahrhalten?) an- streben, und die geistige Tätigkeit, durch die wir das nicht un-

1) Der Neovitalismus u. s. w. S. 581. Die betreffenden Worte dort nicht ge- sperrt.

2) Ara. 0,824:

3) Im Original nicht gesperrt.

304 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II.

mittelbar Erkennbare für wahr halten, belegt unsere Sprache mit dem Worte Glauben. In diesem Sinne sind die Anhänger der Deszendenzlehre eine Gemeinde von Gläubigen, zu der ich mich für meine Person auf das entschiedenste bekenne. Damit fordere ich das Recht zu glauben auch für die Wissenschaft.“

Abgesehen davon, dass wir von den Dingen außerhalb unserer Psyche meines Wissens überhaupt nichts unmittelbar, sondern immer nur mittelst unserer Sinnesorgane und unsers Verstandes erkennen, steht das Wort „glauben“ oben = „für wahrscheinlich halten“, nun aber wird es plötzlich in dem Sinne „für wahr halten“ ge- setzt, und in diesem letzteren Sinne verkündet Reinke drei Seiten darauf auch sein eignes Glaubensbekenntnis, welches aus 10 Ar- tikeln besteht, die sich auf die Kant-Laplace’sche Hypothese, die Urzellen und ihre Physiologie, die Blutsverwandtschaft der Sippen u. a. m. beziehen. Endlich aber sagt er S. 182: „Unter diesen Umständen (nämlich da wir über das Wie und Wodurch der phylo- gonetischen?) Umgestaltung des Pflanzenreiches sehr wenig wissen; = Ref.) erspart man Mühe und nutzloses Nachdenken, wenn man den Standpunkt des einfachen Glaubens einnimmt.“

Ja, das erspart man freilich. Dann ist es aber eigentlich doch noch viel einfacher und noch viel mehr Mühe ersparend, wenn man nicht nur über die phylogenetische Umgestaltung des Orga- nismenreiches nıcht nachdenkt, sondern alles gehen lässt, wie es geht und das Nachdenken überhaupt unterlässt. Wir haben ja doch die Bibel, die uns über alles jegliche nur wünschenswerte Auskunft gibt. Aber nennt man das Philosophie?

„Selbst die der Aufdeckung von Finalbeziehungen feindlichste Richtung unter den Botanikern,“ sagt Reinke S. 110, „wird es nicht versuchen, die Anpassung von Drosera, Dionaea, Nepenthes u. 8. w. an das Fangen und Verdauen von Insekten zu bestreiten.“ Ganz gewiss nicht; was geleugnet wird, ist nichts weiter, als dass es sich dabei um Finalbeziehungen handelt. Die nicht energetischen Kräfte Reinke’s sind m Wirklichkeit offenbar weiter nichts als Strukturwirkungen, wobei wir freilich darüber für jetzt noch nichts wissen und aussagen können, auf welche Weise gewisse Struktur- wirkungen, nämlich die des Zentralnervensystems bewusst werden können. Wohl aber ıst es, was ich schon in meiner ersten Ver- öffentlichung ausführte, aus dem Hertz’schen Grundgesetze ganz wohl zu verstehen, dass sich Strukturen und damit natürlich auch ihre Wirkungen vervollkommnen können. Zur Illustration setze ich noch hierher, was Matzat auf dieser Grundlage über die che- mischen Vorgänge schreibt?). Es lautet:

1) So überall bei Reinke; dem „Sprachgebrauche“ zufolge heißt es phylo- genetisch. 2) Philosophie der Anpassung. S. 75.

Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II. 305

„1. Trifft ein System mit einem anderen zusammen, und führen beide alsdann ihre Bewegungen auf kürzerem Wege, in kürzerer Zeit, mit kleinerem Aufwande an Energie und mit kleinerem Zwange aus als. bisher, so bleiben sie zusammen und bilden ein größeres System. Auf diese Weise entstehen die chemischen Ver- bindungen.

2. Trifft ein System mit einem anderen zusammen, und führen alsdann Teile des ersten Systems zusammen mit dem zweiten Sy- stem ihre Bewegungen auf kürzerem Wege, in kürzerer Zeit, mit kleinerem Aufwand an Energie und mit kleinerem Zwange aus als bisher, so bleiben sie mit dem zweiten System zusammen und das erste System löst sich auf. Auf diese Weise erfolgen die chemi- schen Zersetzungen.

3. Trifft ein System mit einem anderen zusammen und tritt der vorige Fall ein, nimmt aber das erste System von anders woher, z. B. von einem in Auflösung begriffenen dritten System, Teile auf, durch welche die verlorenen Teile ersetzt werden, so bleibt es dennoch erhalten. Und es kann sein, dass der Zuwachs größer ist als der Verlust und dass das System nach dieser Ver- änderung seine Bewegungen auf kürzerem Wege, in kürzerer Zeit, mit kleinerem Aufwande an Energie und mit kleinerem Zwange ausführt als vorher. Auf diese Weise erfolgen die chemischen Umsetzungen.“

Diese selben Sätze lassen sich mutatis mutandis auch auf die Beziehungen der Organismen sowohl zu ihrer leblosen Umgebung, als auch zu anderen Organismen anwenden.

Und da sich Reinke an verschiedenen Stellen seines Buches ebenfalls auf H. Hertz beruft, so will ich aus dessen Werk auch meinerseits noch eine Stelle hersetzen, aus der klar hervorgehen dürfte, auf welcher Seite er steht, auf Reinke’s oder auf der meinigen. Er sagt:

363. „Benutzen wir..., so machen wir die gegenwärtig eintreten- den Änderungen im Zustande des Systems abhängig von solchen Eigentümlichkeiten der Bewegung, welche erst in der Zukunft her- vortreten können, und welche oft in menschlichen Verrich- tungen als erstrebenswerte Ziele erscheinen. Dieser Um- stand hat bisweilen Physiker und Philosophen dazu geführt, in den Gesetzen der Mechanik den Ausdruck einer bewussten Absicht auf zukünftige Ziele, verbunden mit Voraussicht der zweckmäßigen Mittel, zu erblicken. Eine solche Auffassung ist aber weder notwendig, noch auch nur zulässig!).

364. Dass nämlich eine solche Auffassung jener Prinzipien nicht

1) Im Original nicht gesperrt. XXV. 20

506 Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II.

notwendig ist, ergibt sich daraus, dass die Eigenschaften der natür- lichen Bewegung, welche eine Absicht anzudeuten scheinen, als denknötwendige Folgen eines Gesetzes erkannt werden, in welchem man den Ausdruck einer Voraussicht in die Zukunft nicht findet.

365. Dass jene Auffassung der Prinzipien aber sogar unzu- lässig ist, ergibt sich daraus, dass die Eigenschaften der natürlichen Bewegung, welche eine Absicht auf zukünftigen Erfolg anzudeuten scheinen, nicht bei allen natürlichen Bewegungen sich finden. Hätte die Natur wirklich die Absicht, einen kürzesten Weg, einen kleinsten Aufwand an Energie, eine kürzeste Zeit zu erzielen, so wäre es unmöglich zu verstehen, wie es Systeme geben könnte, in welchem diese Absicht, ob- wohl erreichbar, dennoch der Natur regelmäßig fehl- schluser2):

Das passt in erster Linie auf die belebten Systeme.

Man hat also die Wahl, welchem Führer man lieber folgen will, Reinke oder H. Hertz ich glaube, man wird da nicht erst schwanken.

Endlich zum Schlusse noch ein Wort über den Darwinismus.

Reinke unterscheidet sich sehr vorteilhaft von anderen Neo- vitalisten, z. B. von Driesch, darın, dass er von Darwin’s Werk immer nur mit Hochachtung spricht. Aber auch er hebt wieder- holt hervor, die Selektion sei nur ein negativer Faktor?). Dieser angebliche Vorwurf ist nicht neu, er ist schon oft gemacht worden, aber es ist mir immer unbegreiflich gewesen, warum man ihn überhaupt erhoben hat. Denn hat Darwin jemals behauptet, durch die Selektion das Entstehen von Variationen heute muss man natürlich zufügen, auch von Mutationen an sich zu erklären ? Meines Wissens nicht. Und es kann ja schließlich doch die Selektion insofern auch positiv schöpferisch wirken, als sie durch immer neue Ausmerzung unvorteilhafter und Erhaltung vorteilhafter Ände- rungen den Boden schafft für die Entstehung noch vorteilhafterer. Weiter freilich nichts.

Ferner wirft Reinke Darwin vor, er habe die Tragweite des Selektionsprinzips überschätzt?). Sehen wir doch zu, was Darwin selbst dazu meint? In den Schlussbemerkungen zur „Entstehung der Arten“ sagt er*): „Es scheint so, als hätte ich früher die Häufig- keit und den Wert dieser letzten Abänderungsform (nämlich die direkte Wirkung äußerer Bedingungen und das unserer Unwissen- heit als spontan erscheinende Auftreten von Abänderungen) unter- schätzt, als solcher, die zu bleibenden Modifikationen der Struktur

1) Im Original nicht gesperrt. A... O7, BB MOL. A..2..0.78180:

2) 3) A 1)

Übersetzung von V. Carus. 6. Aufl. 1876.

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Kienitz-Gerloff, Anti-Reinke II. 307

unabhängig von natürlicher Zuchtwahl führen. Da aber meine Folgerungen neuerdings vielfach falsch dargestellt worden sind und behauptet worden ist, ich schreibe die Modifikation der Spezies ausschließlich der natürlichen Zuchtwahl zu, so sei mir die Be- merkung gestattet, dass ich in der ersten Ausgabe dieses Werkes, wie später, die folgenden Worte an hervorragender Stelle, nämlich am Schlusse der Einleitung aussprach: ‚Ich bin überzeugt, dass natürliche Zuchtwahl das hauptsächlichste, wenn auch nicht ein- zige Mittel zur Abänderung der Lebensformen gewesen ist.‘ Dies hat nichts genützt. Die Kraft beständiger falscher Darstellung ist zäh; die Geschichte der Wissenschaft lehrt aber, dass diese Kraft glücklicherweise nicht lange anhält.“

Daraus aber, dass später neue Entdeckungen gemacht werden, die die Theorie modifizieren, darf man ihrem Urheber keinen Strick drehen. Und R.Semon sagt in seinem neuesten Werke mit Recht: „Wir leben gegenwärtig in einer Periode der Darwin- Unter- schätzung. Vielleicht ist das eine natürliche Reaktion gegen eine Überschätzung des Selektionsprinzips, indem enthusiastische Nach- folger Darwin’s den Stem der Weisen zu besitzen glaubten und das sie geradezu für allmächtig erklärten. Darwin selbst hat sich stets von einer so einseitigen Auffassung der natür- lichen Zuchtwahl freigehalten und hat den direkten Ein- fluss der Außenwelt nie geleugnet, wenn er auch in der Abmessung des gegenseitigen Wertverhältnisses zeit- weise geschwankt hat“!). Und: „Wenn also Driesch, einer der grimmigsten Gegner Darwin’s, neuerdings sagt, die ‚durchaus negative Selektion ist das einzige, was von dem Darwin’schen Theoriengebäude übrig geblieben ist“, so gibt er damit meiner An- sicht nach das Allerwesentlichste des ungeheuern von Darwin an- gebahnten Fortschritts zu“).

Wenn daher Reinke behauptet?), Darwin’s Versuch, aus der metaphysischen Aufgabe, den Grund der Finalbeziehungen zu er- kennen, eine physische zu machen, sei misslungen, so halte ich ihm entgegen, was Du Bois-Reymond schon 1876 schrieb®): „Dass die natürliche Zuchtwahl zu leisten vermöge, was wir ihr zuschreiben müssen, um die Zweckmäßigkeit der organischen Natur zu erklären, ist so wenig bewiesen wie das Gegenteil. Die Absicht des theoretischen Naturforschers ist, die Natur zu begreifen. Soll nicht diese Absicht sinnlos sein, so muss er die Begreiflichkeit der Natur voraussetzen. Die Zweckmäßigkeit der Natur verträgt sich nicht mit ihrer Begreiflichkeit. Bietet sich also ein Ausweg,

1) „Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Ge- schehens. Leipzig 1904. S. 350. ZEN 3. OR DRIN 3) Darwin versus Galiani. Berlin 1876. S. 22/23. 20*

308 Carleren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien.

die Zweckmäßigkeit aus der Natur zu verbannen, so muss der Naturforscher ihn einschlagen. Solch ein Ausweg ist die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl; folglich betreten wir ihn bis auf weiteres. Mögen wir immerhin, indem wir an diese Lehre uns halten, die Empfindung des sonst rettungslos Versinkenden haben, der an eine nur eben über Wasser ıhn tragende Planke sich klam- mert. Bei der Wahl zwischen Planke und Untergang ist der Vor- teil entschieden zugunsten der Planke.*

Inzwischen ist uns in dem Hertz’schen Grundgesetz eine neue ungemein wertvolle Planke zugeschwommen. Und indem wir uns jetzt an zwei Planken klammern, dürfen wir wohl die Hoffnung hegen, uns sicher und auf alle Zeiten über Wasser zu halten. [35]

Über die Bedeutung der Flimmerbewegung für den Nahrungstransport bei den Actiniarien und Madreporarien.

Von Dr. Oskar Carlgren, Dozent und Prosektor an der Hochschule zu Stockholm.

Obgleich man von dem ziemlich gleichartigen Aussehen des

Anthozoenkörpers ich sehe von solchen Actinienformen ganz ab, deren Tentakel verkümmert oder ganz reduziert sind er-

warten könnte, dass der Mechanismus für die Einführung der Nahrung und für die Ausführung der verbrauchten Partikeln überall binnen dieser Tiergruppe derselbe wäre, ergibt sich schon bei einer näheren Untersuchung weniger Formen, dass verschiedene Varia- tionen dieses Mechanismus vorkommen. Ich teile hier einige Ex- perimente mit, die ich während des letzten Sommers an der schwe- dischen zoologischen Station Kristineberg gemacht habe, um die Aufmerksamkeit auf diese Verhältnisse zu lenken; ich möchte jedoch vorausschicken, dass, was ich gegenwärtig zu erwähnen habe, nicht Anspruch auf Vollständigkeit macht, denn mehrere der untersuchten Formen halten sich während des Sommers nicht gut in Aquarien. Dies ist um so mehr bedauernswert, als es besonders für die Beob- achtungen über die Umkehr der Cilienbewegung des Schlundrohrs bisweilen nötig scheint, die Tiere längere Zeit am Leben zu halten, weil die Reaktionen gegen denselben Stoff während verschiedenen Erregungszuständen verschieden verlaufen. Man muss daher mit der Möglichkeit rechnen, dass gewisse Reaktionen unter anderen für das Experimentieren günstigeren Umständen ein wenig an- ders verlaufen können, als ich es gefunden habe. Die Versuche sind mit acht Actiniarien, Protanthea simplex Carlgr., Gonaetinia prolifera (M. Sars), Halcampa duodecimeirrata (M. Sars), Bolocera longieornis Carlgr., Tealia coriacea (Rapp), Actinostola callosa V err.,

Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien. 309

Metridium dianthus (Ellis) und Sagartia viduata (OÖ. F. Müll.) und eine Madreporarie (Caryophyllia eyathus (Lmk.) angestellt worden. Von diesen halten sich Halcampa, Tealia, Metridium, Sagartia und Caryophyllia ın Aquarien gut, wesshalb auch die Beobachtungen an diesen Formen vollständiger sind als an den übrigen.

In betreff der Faktoren, die bei der Einführung der Nahrung und der Ausführung der verbrauchten Partikelchen bei den Acti- niarien eine Rolle spielen, sind nur wenige Untersuchungen ge- macht. Dass die Tentakel direkt durch Krümmung Nahrung zum Munde führen, ist natürlich seit langer Zeit wohl bekannt, aber über den Mechanismus der Einführung der Nahrung vom Mund ins Innere sind erst kürzlich einige Mitteilungen gemacht worden. Loeb!) und Nagel?) zeigten, dass peristaltische Bewegungen des Schlundrohrs dabei wirksam sind und Loeb°) vermutete, dass die Fortbewegung der zum Mund geführten Papierstückchen nach außen durch Flimmerbewegung stattfände, aber zuerst G. H. Parker‘) wies durch verschiedene Versuche an Metridium dianthus nach, dass die Flimmerbewegung auch für die Einführung der Nahrung, wie für die Ausführung der verbrauchten Bestandteile von Bedeu- tung ist. Schließlich hat Vignon (in les Coelenteres von Delage und Herouard, Traite de Zool. Conerete) einige Angaben über die Flimmerbewegung unter verschiedenen Bedingungen für Sagartıa parasitica (Calliactis Rondeletii) mitgeteilt: Was die Madreporarien betrifft, so sind die Angaben auch sehr spärlich und beschränken sich auf einige Beobachtungen von Duerden?°) über die Flimmer- bewegung des Ektoderms bei einigen Arten. Unter solchen Um- ständen dürften meine Untersuchungen, wie unvollständig sie auch sind, nicht ohne Interesse sein.

Die beobachteten Formen können in betreff der Cilienbewegung des Ektoderms beim Transport der Nahrung und der Entleerung der unbrauchbaren Bestandteile in vier Gruppen eingeteilt werden. Die eine Gruppe fasst die ursprünglichen Protanthea und Gonactina, die andere Halcampa, Metridium und Sagartia, die dritte Caryo- phyllia und die vierte Tealia (Urtieina), Bolocera und Actinostola ein. Die Region, über der die Cilien verbreitet sind, ist am größten bei der ersten Gruppe, am kleinsten bei der letzten, auch spielen

1) Untersuchungen zur physiologischen Morphologie der Tiere. 1. Über Hetero- morphose. Würzburg 1891, p. 69.

2) Experimentelle sinnesphysiologische Untersuchungen an Coelenteraten. Arch. f. gesamt. Physiol. Bd. 57, 1894, p. 540.

3) Zur Physiologie und Psychologie der Actiniarien. Arch. für gesamt. Phys. Bd. 59, p- 419.

4) The reactions of Metridium to food and other substances. Bull. Mus. Comp. Zool. Harvard College. Vol. 29, Nr. 2, 1596.

5) Mem. Nat. Acad. Sciene. Vol. 87, Mem. 7, Washington 1902, p. 415.

310 Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien.

bei der Einführung der Nahrung die Cilien bei der ersten eine überwiegende Rolle, während sie bei der letzten von mehr unter- geordneter Bedeutung sind.

Wie ich gezeigt habe (z. B. in Ostafrikanische Actinien Mitt. Nat. Mus. Hamburg 17), gehören Gonactinia und Protanthea nicht nur zu den ursprünglichsten Actiniarien, die wir gegenwärtig kennen, sondern überhaupt zu den ursprünglichsten jetzt lebenden Antho- zoen. Die Körperwand, die gewöhnlich bei den Actinien einen von den Tentakeln und der Mundscheibe abweichenden Bau hat, ist nämlich bei Protanthea und Gonactinia nicht von diesen Körperteilen differenziert. So trifft man bei diesen Formen in dem Ektoderm der drei erwähnten Körperpartien Muskeln, Gang- lien- und Sinneszellen wie auch dünnwandige Nesselkapseln, die sonst in der Körperwand entweder ganz vermisst werden oder nur

ausnahmsweise auftreten. Es

Fig. 1. ıst interessant zu finden, dass

auch die Cilienverteilung und die Gilienbewegung den primi- tiven Charakter der Protan- thea bestätigt. Sowohl das Ektoderm der Körperwand als das der Tentakel, der Mund- scheibe und des Schlundrohrs cıliert nämlich kräftig. In be- treff der Protanthea geht die von den Cilien verursachte Strömung ıin der Körper- wandregion von der proxi- malen (aboralen) Seite distal- wärts, an den Tentakeln von der Basis zu der Spitze, an der Mundscheibe von der Peripherie zu dem Zentrum und an dem Schlundrohr von dem Mund proximal- wärts, wie nebenstehende schematische Fig. 1 zeigt (die Pfeile geben hier die Richtung der Strömung an). Dieselben Strömungen verursacht das Ektoderm der Gonactinia, nur mit dem Unterschied, dass in der proximalsten Partie der Körperwand die Wasserströmung gegen die Fußscheibe geht. Karmimnkörnchen, die man an den proximalen Teil der Körperwand bei Protanthea fallen lässt, werden zum distalen Ende und von hier zwischen den Tentakeln zum Mund und schließlich in das Innere transportiert. Besonders leicht lässt sich dies demonstrieren, wenn die Tentakel abgerissen sind).

1) Protanthea ist sehr verletzlich, besonders fallen die Tentakel an der Basis leicht ab, was jedoch nicht in Zusammenhang mit dem Vorhandensein eines Sphinkters steht.

Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien. sel

Den Nahrungsimport dieser Tiere habe ich infolge oben ange- gebener Gründe nicht näher beobachten können. Ebenso habe ich keine Kenntnis von den Gegenständen, von denen Protanthea und Gonactinia leben. Der ganze Bau des Tieres und die verhältnis- mäßıg schwachen Tentakel der Tiere deuten jedoch an, dass nur kleine Tierchen von dem Tier gefressen werden. Mit der von den Schlägen der Cilien verursachten Wasserströmung, die von der Körperwand und der Mundscheibe zum Mund und von hier ins Innere leitet, können leicht kleine Partikelchen fortgeführt werden ohne von den Tentakeln ergriffen zu werden. Die Tiere haben also ohne die Tentakel ein Mittel, die Nahrung in den Körper eim- zuführen. Dass jedoch auch diese eine Rolle für den Nahrungs- import spielen, dürfte wohl wahrscheinlich sein, obgleich es wohl unsicher ist, ob die gefasste und betäubte Beute direkt von den Tentakeln auf die Mundscheibe oder in den Mund abgeliefert wird. Fast mehr deutet die starke Cilierung der Tentakel darauf, dass die Beute, nachdem sie betäubt ıst, von der Cilienströmung der Tentakel, die sich bei stärkeren mechanischen und wahrscheimlich wohl auch bei chemischen Reizungen nach innen biegen (Fig. 1 links) zu der Mundscheibe oder zu der Mundöffnung geführt wird. Ich glaube mich daher nicht zu irren, wenn ich ausspreche, dass der Nahrungsimport bei Protanthea und Gonactinia hauptsächlich mit Hilfe der Cilien geschieht. Ob peristaltische Bewegungen in dem Schlundrohr beitragen, den Nahrungsimport zu befördern, ist fraglich. Was besonders Protanthea betrifft, dıe ein sehr kurzes Schlundrohr hat, dürfte es kaum der Fall sein. Die Entleerung der Detrituspartikelchen habe ich nicht beobachtet.

Den zweiten Typus der Cilienbewegung findet man bei der mit abgerundetem, proximalem Körperende versehenen Halcampa, wie auch bei den zu der am höchsten stehenden Familien, Sagar- tidae, gehörenden Gattungen Metridium und Sagartia. Die drei oben angegebenen Repräsentanten dieser Genera zeigten alle die Übereinstimmung, dass keine Cilien an dem Ektoderm der Körper- wand vorhanden waren, dass die Tentakelcilien wie bei den Protan- theen von der Basis gegen die Spitze der Tentakel schlagen, dass aber die von den Cilien verursachte Wasserströmung an der Mund- scheibe dagegen von dem Zentrum gegen die Peripherie geht. Gegenstände, die auf die Mundscheibe fallen und die nicht durch peristaltische Bewegungen des Schlundrohrs binnen dem Strömungs- kreis des Schlundrohrs kommen, wurden also von der Mundscheibe zu den Tentakelspitzen geführt und dort abgeliefert. Auch die Bewegung der Schlundrohreilien ist bei zwei (wahrscheinlich bei allen drei) Arten dieselbe. Wenn Schlundrinnen vorhanden sind bei Haleampa sind sie nämlich sehr schwach entwickelt und kaum von dem übrigen Schlundrohr zu unterscheiden geht

312 Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien.

die Strömung immer nach innen zu, in dem übrigen Schlund- rohr nach der Beschaffenheit der Gegenstände, die in das Schlundrohr eingeführt werden, entweder nach außen oder nach innen, d.h. in dem Beginn des Schlundrohrs kommt eine Um- kehr der Cilienbewegung vor, eine Beobachtung, die Parker (l. c.) vorher bei Metridium marginatum gemacht hat. Im einzelnen verhielten sich die drei Arten ein wenig verschieden gegen Karmin und Krabbenfleischh was wohl wenigstens zum Teil mit dem verschiedenen Hungerzustand der untersuchten Tiere zusammen- hang.

Was den Nahrungsimport bei Halcampa betrifft, so sind die Beobachtungen hierüber sehr unvollständig, weil diese Form bei Reizung der einen oder anderen Art die distalste Partie des Kör- pers ın den proximalen Abschnitt auf einem Ruck plötzlich ein- stülpt. Kleine Karmin- und Sandkörnchen, die ich an der Mund- scheibe fallen ließ, wurden zu der Tentakelspitze geführt; waren sie zu groß, um auf diese Weise fortgeführt zu werden, befreite sich das Tier davon mit einer plötzlichen Zuckung. Karmin- körnchen, die mit dem Sehlundrohr in Berührung kamen, wurden zu der Mundöffnung befördert, was am deutlichsten bei ausge- stülptem Schlundrohr zu sehen war. Sowohl die Cilien der Ten- takel als die der Mundscheibe und des Schlundrohrs schlagen leb- haft. Während die Mundscheibe und das Schlundrohr sich gegen Karmin indifferent verhielten, reagierten sie gegen kleine Leber- stückchen von Krabben. Sobald solche mit der Mitte der Mund- scheibe in Berührung kamen, öffnete sich der Mund. Das weitere Schicksal des Stückchens blieb mir bei allen von mir gemachten Versuchen verborgen, weıl das Tier, sobald der Mund sich geöffnet hatte, sich mit einer Zuckung zusammenzog.

Meine Beobachtungen an Metridium dianthus stimmen gut mit Parker’s an M. marginatum überein. Soweit ich sehe, wimpern dıe inneren Teile der Mundscheibe, was auch Parker bei seiner Art vermutet; doch ist die Wimperung hier schwach. Dagegen ist die Oilienbewegung der Tentakel und die des Schlundrohrs stark, besonders die des letzteren. Karminkörnchen, die ich an dem Schlundrohr fallen ließ, wurden augenblicklich von den Cilien aus dem Schlundrohr ausgeführt. Eine Umkehr der Cilienbewegung kommt indessen in dem Schlundrohr vor. Stückchen von Krabben- oder Fischfleisch wurden nämlich von den Schlundrohrceilien in das Körperinnere befördert. Jedoch ıst war Reaktion nicht augenblick- lich. Die Fleischstückchen wurden nämlich oft zu Beginn der Ver- suche wie die Karminkörnchen nach außen transportiert, zuerst nach wiederholter Berührung des Schlundrohrs mit den Stückchen wurde die Bewegungsrichtung der Cilien geändert und das Stück- chen ins Innere geführt. Unter gewöhnlichen Umständen, d. h.

Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien, 319

wenn das Tier nicht Nahrung einnimmt, geht ein kontinuierlicher Wasserstrom von dem aboralen Ende des Schlundrohrs bis zur Spitze der Tentakel. Die Cilien der Schlundrinnen bewegen sich kräftig, dadurch entsteht eine starke Wasserströmung, die wie ge- gesagt, immer von außen nach innen geht.

Während bei Metridium die Flimmerhaare in den Abschnitten des Schlundrohrs, außerhalb der Schlundrinnen, normalerweise nach außen schlagen, scheinen sie bei Sagartia viduata am öftesten in ent- gegengesetzter Richtung sich zu bewegen. An etwa 20 Exemplare dieser Art habe ich die Cilienbewegung untersucht. Ehe die Ver- suche angestellt wurden, hatten sich die Tiere eine Woche in einigen

er

Fig. 2-3. Schema der von den ektodermalen Cilien verur- sachten Wasserströmung bei Sagartia viduata. Die Pfeiler geben die Richtung der Strömungen an. 0 bedeutet hier wie an den Fig. 4—6, dass das Ektoderm nicht bewimpert ist. In der Mitte des Schlundrohrs die eine Schlundrinne, in der die Strömung immer nach innen geht. Fig. 2 während des Nah- rungsimports, Fig. 3 während der Ausführung der Nahrungsreste.

Glasschälchen in stillstehendem Wasser, das ein paarmal während dieser Zeit gewechselt wurde, befunden. Sie waren sehr empfind- lich und reagierten für mechanische Reizung gut. Einzelne Karmin- körnchen, die ich an der äußeren Partie der Mundscheibe und an den Tentakeln fallen ließ, wurden von der Cilienbewegung nach außen geführt, trafen sie dagegen die innere Partie der Mundscheibe in der Nähe des Schlundrohrs, wurden sie augenblicklich oder wenigstens recht bald durch eine Ausbuchtung des Schlundrohrs, die durch eine gleichzeitig geschehende Kontraktion der Mund- scheibe an dieser Stelle mehr und mehr sich die Körnchen näherten, in der von der Cilienbewegung des Schlundrohrs verursachten, nach innen gehenden Wasserströmung eingezogen und ins Innere

314 Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien.

geführt. Lässt man zahlreiche Karminkörnchen an der Mundscheibe fallen, wird die peristaltische Bewegung des Schlundrohrs heftiger und von einer plötzlichen Verkürzung und Krümmung der Tentakel nach innen begleitet. Es können also die Tentakel sich einstülpen, ohne dass die Karminkörnchen in Berührung mit den Tentakeln kommen, eine Beobachtung, die ich auch bei Metridium gemacht habe. Wahrscheinlich löst die Summation kleiner Reize, die durch die starken peristaltischen Bewegungen des Schlundrohrs verursacht wurden, die Einstülpung der Tentakel aus. Eine Umkehr der Cilienbe- wegung in dem Schlundrohr habe ich bei diesen Exemplaren nicht ge- sehen. Sie verschlangen nämlich mit gleicher Begehrlichkeit Karmin- körnchen wie Stückchen von Krabbenfleisch, ja auch Zigarrenasche und Chininsulphat wurden von der Cilienströmung ins Innere geführt. Auch seitdem die Tiere mehrmals mit Krabbenfleisch gefüttert worden waren, wurden die Karminkörnchen von den Cilien des Schlundrohrs aboralwärts transportiert. Dagegen habe ich bei einem Exemplar dieser Art, das von einem Aquarium mit durch- spülendem Wasser in eine Glasschale übergeführt wurde, eine Um- kehr der Cilienbewegung gesehen. Die Karminkörnchen wurden hier im Gegensatz zu dem Verhältnis bei den vorher erwähnten Exemplaren durch die Cilienströmung des Schlundrohrs ausgeführt. Die Bewegung der Cilien war also hier umgekehrt gegen die in den vorigen Versuchen erwähnte (Fig. 3). Karminkörnchen, die an dem äußeren Teil der Mundscheibe fielen, verursachten auch keine oder nur eine sehr schwache Ausbuchtung des Schlundrohrs (in letzterem Fall war die Reaktion vorübergehend und leitete nicht zu einer Ein- führung der Körnchen in das Schlundrohr), dagegen verhielt sich Krabbenfleisch wie das Karmin im den vorigen Versuchen und wurde mit der Hilfe der Cilienbewegung des Schlundrohrs ver- schlungen. Eine Umkehr der Schlundrohreilien nach dem ver- schiedenen physiologischen Zustand der Tiere wurde also auch hier wie bei Metridium deutlich konstatiert.

Wir haben bisher nur den Nahrungsimport kleiner Gegenstände von dem inneren Teil der Mundscheibe und von dem oralen Teil des Schlundrohrs geschildert. In der Natur dürfte es selten sein, dass die Nahrung direkt die inneren Partien der Mundscheibe und das Schlundrohr trifft, ohne dass sie von den Tentakeln gefasst worden ist. Gewöhnlich geschieht der Nahrungsimport wohl in der Weise, dass ein oder mehrere Tentakel nach der verschie- denen Größe der Reizung mit der gefangenen Beute nach dem Mund zu sich biegen, wonach die Cilienbewegung der Tentakel die Nahrung direkt zu der Mundöffnung oder zu der Nähe derselben transportieren. Sollten Nahrungspartikelchen an die äußere Partie der Mundscheibe fallen, wovon sie nicht von den peristaltischen Bewegungen des Schlundrohrs in die Mundöffnung geführt werden

Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien. 315

können, sind sie jedoch nicht für das Tier verloren, denn die Cilien der Mundscheibe führen wieder die Partikelchen zu den Tentakeln (s. Fig. 2 rechts).

Die dritte und die vierte Gruppe stimmen in betreff des Baues der Organe, die im Dienste des Nahrungsimports stehen, insoweit überein, dass die Tertakel in Zusammenhang mit der starken Ent wickelung der Nesselkapseln m diesen Teilen, ihre ektodermalen Cilien verloren haben, wofür die von den Tentakeln gefangene Beute nur durch direkte Überführung zu der Mundscheibe oder zu dem Mund kommen kann ich sehe dann von dem glücklichen Zufall ganz ab, wenn die Nahrung nur durch ihre Schwere an die Mundscheibe oder an den Mund fällt. In anderen Hinsichten weichen sie voneinander ab, indem die Bewimperung bei Caryophyllia sonst fortwährend gut besteht, bei Tealia, Bolocera und Actinostola sehr reduziert ist.

Die Cilien des Ektoderms bei Caryophyllia (Fig. 4) schlagen sehr kräftig und verursachen eine lebhafte Wasserströmung. In betreff der Mundscheibe besteht ein Unterschied zwischen den inneren und den äußeren Partien. Die äußere Partie, die etwa an der Basis der inneren Tentakel beginnt, flimmert nach außen. Kleine Karminkörnchen werden schnell zwischen den basalen Ten- takelteilen zu dem Rand der Mundscheibe und dann weiter von den kräftig nach unten flimmernden Cilien der Körperwand gegen die Fußscheibe zugeführt, eine Anordnung, deren Nutzen für das völlig ausgestreckte Tier nicht klar ist, deren Bedeutung aber für das ın den Kalkbecher eingezogene Tier sicherlich darin besteht, die über den größten Teil der weicheren Teilen hervorragenden Kalkpartien von fremden Partikelchen rem zu halten. In eingezogenem Zustand flimmern auch, praktisch genommen, die Cilien allein von dem Zen- trum gegen die Peripherie, denn die inneren Teile der Mundscheibe und das Schlundrohr liegen dann so tief im Innern, dass sie nicht den Körper nach außen begrenzen.

Die inneren (braungefärbten) Partien der Mundscheibe flimmern nach dem Schlundrohr zu. Kleine Karminkörnchen, die man an diesen Körperteil fallen lässt, werden augenblicklich zu dem Mund und von hier durch die Flimmerbewegung des Schlundrohrs ins Innere geführt. Die Reaktion ist dieselbe, wenn man statt Karmin, Krabbenfleisch oder Chinasulphat gebraucht. Eine Umkehr in der Bewegung der Cilien des Schlundrohrs habe ich nicht beobachtet. Es ist auch möglich, dass keine solche vorkommt. Nahrungsreste werden nämlich leicht bloß durch eine starke Zusammenziehung des Tieres, die einen starken. ‚Wasserstrom aus dem Innern durch das Schlundrohr presst, nach außen befördert. Es scheint mir auch, als ob die Mesenterialfilamente bei der Entleerung der ver- brauchten Reste auch wirksam sind; sie sind nämlich sehr beweg-

316 Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien.

lich und strecken sich bei dem Wegführen der Nahrungsreste weit nach oben. Die ektodermalen Teile des Schlundrohrs scheinen überall dieselbe Bewegung zu haben, auch sind keine Schlundrinnen differenziert.

Spielt die Flimmerbewegung bei der Einführung der Nahrung ins Innere eine wesentliche Rolle, so trägt auch peristaltische Be- wegung des Schlundrohrs dazu bei. Dies sieht man, wenn größere Körnchen, die nicht von dem Flimmern fortbewegt werden, an die Mundscheibe gebracht werden. Das Schlundrohr erweitert sich nämlich dann in ähnlicher Weise wie bei Sagartia in derselben Zeit, m der sich der zwischen dem Körnchen und dem Schlund liegende Teil der Mundscheibe verkürzt. Diese Bewegung des Schlundrohrs hat zur Folge, dass das Körnchen in den von den

Fig. 4.

Fig. 4. Schema der von den ektodermalen Oilien verursach- ten Wasserströmung bei Caryo- phyllia cyathus während des Nahrungsimportes. _ Bezeich- nungen wie in Fig. 2—3. Die schwarze, grobe Linie stellt den Kalkbecher vor.

Cilien des Schlundrohrs verursachten starken Wasserstrom ein- geführt wird.

Weil die Wasserströmung in den äußeren Teilen der Mund- scheibe kontinuierlich von dem Mund weggeht, müssen die Ten- takeln die ersten Dienste bei der Nahrungsaufnahme leisten, denn nur selten dürfte es geschehen, dass Nahrungspartikelchen direkt an den inneren Teilen der Mundscheibe oder an den Mund fallen. Die Tentakeln sind auch, wie bekannt, sehr geeignet, die Nahrungs- partikelchen zu greifen. Das Tentakelektoderm wimpert nicht, da- gegen ist es mit zahlreichen warzenähnlichen Batterien von starken Nesselkapseln versehen. Die glatte Spitze der Tentakel, die kugel- förmig abgerundet ist, enthält besonders große Nesselkapseln. Lässt man ein Karminkörnchen oder ein Stückchen Krabbenfleisch neben der Basis eines Tentakels fallen, so zieht der Tentakel sich stark zusammen. Unmittelbar folgt eine zwar schwächere, jedoch

Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien. 317

starke Kontraktion der angrenzenden Tentakeln, die sich um das Körnchen herum legen. Dann folgt eine Kontraktion der Mund- scheibe, so dass das Körnchen zu der braunfarbigen Mundscheiben- partie, die nach innen flimmert, übergeführt werden kann. Wird das Körnchen von,den nach dem Mund schlagenden Oilien gefasst, gehen die Tentakeln zu ihrer ursprünglichen Stellung zurück. _Ge- schieht es, dass das Körnchen nahe der Spitze des Tentakels an- geheftet wird, dann krümmt sich die Spitze um das Körnchen herum, der Tentakel verkürzt sich!), biegt sich gegen die Mund- scheibe, an deren inneren Partie das Körnchen abgegeben wird. Von der Mundscheibe wird das Körnchen entweder nur durch die Cilienbewegung, oder wenn es sich um ein größeres Körnchen handelt, durch peristaltisches Bewegen des Schlundrohrs zu dem Mund geführt.

Bei den Repräsentanten der vierten Gruppe, bei Tealia, Bolo- cera und Actinostola, ıst die Bewimperung des Ektoderms sehr reduziert. Nicht nur, dass sie an der Körperwand und an den Tentakeln verschwunden sind, auch das ganze Mundscheibenektoderm, vielleicht mit Ausnahme des Mundrandes, flimmert nicht. Auch da, wo die ektodermalen Cilien nicht reduziert sind und zwar in dem Schlundrohr, ist die Bewimperung nicht stark. Für die Ein- führung der Nahrung spielen auch die Cilien eine untergeordnete Rolle. Nachdem die Nahrung von den Tentakeln, die mit außer- ordentlich großen und zahlreichen Nesselkapseln versehen sind, gefasst worden ist, muss sie zu der Mundöffnung oder zu der Nähe des Mundes geführt werden, um ins Innere transportiert werden zu können, denn Nahrungspartikelchen, die an dem größten Teil der Mundscheibe fallen, bleiben dort liegen und das Tier kann in diesem Zustand, wie Nagel treffend sagt (l. c. 1894 p. 531) „mit der Speise auf dem Munde verhungern“. Wird die Nahrung im der Nähe des Mundes abgeliefert, streckt sich das Schlundrohr gegen die Nahrung aus wie bei Caryophyllia und Sagartia (wenigstens ist: dies der Fall mit Actinostola und Tealia). Dann wird die Nah- rung von den Cilien des Schlundrohrs gefasst und ins Innere sehr langsam befördert. Außer den Schlundrohrceilien, die für die Ein- führung kleiner Stückchen unzweideutig wirksam sind, spielen auch dabei peristaltische Bewegungen eine wesentliche Rolle. Besonders bei Tealia, der einzigen zu dieser Gruppe gehörenden Form, die ich in einem für Experimentieren günstigen Lebenszustand gehabt habe, sind die peristaltischen Bewegungen stark, auch wenn nur kleine Körnchen geschluckt werden. Wenn größere Stückehen, von welchen diese Formen gewöhnlich leben Actinostola und

1) Wie im allgemeinen bei den Anthozoen wirken die Tentakel voneinander unberührt.

318 Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien.

Bolocera lebt hauptsächlich von Pandalus borealis und anderen Tiefseekrabben gefressen werden, dürften die peristaltischen Be- wegungen für die Einführung von außerordentlicher Bedeutung sein, während die langsam schlagenden Cilien den Transport solcher Stückchen nur in geringer Masse befördern können.

Obgleich also die Cilien des Schlundrohrs für die Einführung der Nahrung und für das Wegführen der verbrauchten Partikelchen hier nicht dieselbe Rolle wie bei den drei übrigen Gruppen spielen, kommt doch eine Umkehr in der Bewegung der Oilien des Schlund- rohrs auch bei dieser Gruppe vor. Sowohl bei Artinostola und Tealia habe ich dieselbe beobachtet. Bei den Versuchen an der ersten Form benutzte ich Karmin und Chinasulphat. Beim Beginn

Fig. 6.

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Fig. 5—6. Schema der von den ektodermalen Cilien verursachten

Wasserströmung bei Z’ealia coreacea. Bezeichnungen wie in Fig. 2—3.

Fig. 5 während des Nahrungstransportes, Fig. 6 während der Aus- führung der Nahrungsreste.

der Versuche wurde Karmin von der Mitte des Schlundrohrs nach oben geführt, später, wenn ich eine Mischung von Karmin und Chinasulphat brauchte, wurden die Körnchen nach unten transpor- tiert. Bei den Versuchen an Teali« wurde Karmin und Krabben- fleisch angewandt. Die Umkehr der Cilien war wie bei den vorher erwähnten Formen beim Wechsel der Reizmittel nicht augen- blicklich; es dauerte ziemlich lange, ehe das Tier empfand, dass ein Reizmittel anderer Art an das Schlundrohr gebracht worden war.

Eine Zusammenfassung meiner Beobachtungen ergibt folgendes Resultat.

A. In betreff der Verbreitung der Cilien des Ekto- derms und der Richtung der Cilienschläge.

1. Die ursprüngliche, gleichmäßige äußere Bewimperung der Embryonen hat sich am besten bei den niedrig stehenden Pro-

Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien. 319

tantheen erhalten, indem nicht nur die Mundscheibe und das Schlund- rohr, sondern auch die Körperwand und die Tentakel mit ektoder- malen Cilien versehen sind. Besonders ist dies der Fall mit Pro- tanthea, wo auch die ursprüngliche Bewegungsrichtung der Cilien bleibt. Die Cilien der Körperwand schlagen nämlich nach oben, die der Mundscheibe nach innen, die des Schlundrohrs nach dem aboralen Ende zu und die der Tentakel von der Basıs gegen die Spitze (Fig. 1). Dasselbe ist der Fall mit Gonactinia nur mit dem Unterschied, dass die Cilien des proximalsten Teils der Körperwand eine Wasserströmung gegen die Fussscheibe zu verursacht.

2. Bei Halcampa, Metridium und Sagartia sind die Cilien in dem Ektoderm der Körperwand geschwunden, dagegen gibt es ekto- dermale Cilien an der Mundscheibe, an dem Schlundrohr und an den Tentakeln. Das Bleiben der Cilien an den Tentakeln steht wie bei den Protantheen auch aller Wahrscheinlichkeit nach mit der verhältnismäßig schwachen Entwickelung der Nesselkapseln in dieser Region in innigstem Zusammenhang. Die Cilien der Ten- takeln schlagen von der Basıs gegen die Spitze, die der Mund- scheibe von dem Zentrum gegen die Peripherie und die des Schlund- rohrs je nach den physiologischen Verhältnissen von dem Mund gegen das Innere oder umgekehrt!) (Fig. 2, 3). (Bei Halcampa ıst nur die Bewegung der aufwärts schlagenden Cilien von mir be- obachtet.)

3. Bei Caryophylliia ist die Reduktion der ektodermalen Be- wimperung anders als bei den in 2. erwähnten Formen verlaufen, indem die Cilien der Tentakel mit der Ausbildung der starken Nesselkapselbatterien verschwunden sind. Die Cilien bestehen da- gegen an der Körperwand, an der Mundscheibe und an dem Schlund- rohr fort. Die Cilien der Körperwand flimmern nach der Fuß- platte zu, die der äußeren Partien der Mundscheibe nach außen, die der inneren nach innen und die des Schlundrohrs von dem Mund aboralwärts (Fig. 4).

4. Die Reduktion der Cilien im Ektoderm ist am größten bei den mit starken Nesselkapseln an den Tentakeln versehenen, von größeren Tieren lebenden Actiniarien der Gattungen Teahia, Aeti- nostola und Bolocera. Die Cilien an dem Ektoderm der Körper- wand, der Mundscheibe und der Tentakel sind verschwunden und nur die des Schlundrohrs persistieren. Die Cilien dieses Teils schlagen je nach den physiologischen Verhältnissen nach dem Körper- innern oder nach außen zu (Fig. 5, 6). (Bei Bolocera ist die Um- kehr der Cilien nicht beobachtet, kommt aber wahrscheinlich vor.)

1) Zu dieser Gruppe gehört auch in betreff der Cilienanordnung die von Vignon (l. ce. p. 475, Fig. 646—648) untersuchte Calliactis (Sagartia), Rondeletüi (parasitica). Doch stimmt die Bewimperung der Mundscheibe mit der der Caryo- phyllia nicht überein.

320 Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien.

5. Wenn eine Schlundrinne oder zwei vorhanden sind den Protantheen, Halcampa und Caryophyllia fehlen differenzierte Schlundrinnen ist das Ektoderm hier immer bewimpert. Die Cilien flimmern immer aboralwärts.

B. In betreff der Funktion der Cilien.

1. Alle Cilien des Ektoderms bei Protanthea wirken einheit- lich, indem jeder nicht zu großer Gegenstand (Nahrungspartikel- chen), der einen Punkt des Ektoderms trifft, ins Innere transpor- tiert wird. In betreff der Tentakel gilt diese Behauptung nur in dem Fall, dass sie gegen den Mund zu gebogen sind (Fig. 1 links). Dasselbe ıst der Fall mit Gonactinia, nur mit dem Unterschied, dass der proximalste Teil der Körperwand nicht diese Funktion hat.

2. Alle ektodermalen Cilien, die der Schlundrinne ausgenommen, bei Halcampa, Metridium und Sagartia wirken unter gewissen Ver- hältnıssen einheitlich. Dies ıst der Fall, wenn verbrauchte Par- tikelchen durch die Oilienbewegung von der aboralen Partie des Schlundrohrs zu der Spitze der Tentakel geführt werden (Fig. 3) Während des Transports der Nahrung ins Innere dagegen führen die Cilien der Tentakel die Nahrung zu dem Mund und die des Schlundrohrs von hier ın den coelenterischen Raum hinein, wäh- rend die der Mundscheibe für den Nahrungsimport von keiner Be- deutung sind (oder von weniger Bedeutung, denn wenn ein Gegen- stand nicht beim ersten Versuch das Schlundrohr erreicht, sondern von den Cilien der Mundscheibe nach außen geführt wird, kann der Versuch erneuert werden, weil die Cilien der Mundscheibe und die der Tentakel einheitlich gegen die Spitze der Tentakel schlagen) (Fig. 2, rechts).

3. Bei Caryophyllia spielen die Cilien des inneren Teiles der Mundscheibe und die des Schlundrohrs eine Rolle bei der Ein- führung der Nahrungspartikelchen, indem die Cilien an dem inneren Teil der Mundscheibe etwa von der Basıs der inneren Tentakel gerechnet und die des Schlundrohrs einheitlich nach innen schlagen. Die kontinuierlich nach außen zu flimmernden Cilien der äußeren Partie der Mundscheibe und die der Körperwand haben den Zweck, teils durch den Mund ausgepresste verbrauchte Partikelchen von dem Tier wegzuführen, teils bei dem eingezogenen Tier wohl auch die über den größten Teil der weicheren Partien hervorschießenden Kalkteile von Detrituspartikelchen frei zu halten.

4. Die nach dem Körperinnern zu flimmernden Cilien bei Tealia, Bolocera und Actinostola spielen eine, obgleich schwache Rolle bei der Einführung der Nahrung, die nach dem Mund zu flimmernden eine Rolle bei der Ausführung der verbrauchten Partikelchen.

5. Die immer aboralwärts gerichteten Schläge der Schlund- rinnecilien führen emen frischen Wasserstrom ins Innere des Körpers ein.

Carlgren, Nahrungstransport bei Actiniarien und Madreporarien. 321

C. In betreff des Nahrungsimports im allgemeinen.

1. Bei den Protantheen geschieht die Einführung der Nahrung wohl hauptsächlich dureh die Cilienbewegung (vgl. B. 1). (Welche Rolle die Tentakel für den Nahrungstransport spielen, habe ich nicht beobachten können.)

2. Wenn ein Nahrungspartikelehen ein Tentakel bei Metri- dium und Sagartia trifft, folgt eine Kontraktion und Krümmung des Tentakels (oder nach der Größe der Reizung eine Einstülpung der angrenzenden Tentakeln oder aller Tentakeln) nach dem Mund zu. Dann wird das Stückchen durch die Cilienbewegung der Tentakel zu dem Mund geführt und von hier durch die Cilien des Schlund- rohrs wie auch in geringerem Maße durch peristaltische Beweg- ungen desselben ins Innere transportiert. Wenn das Stückchen in der Nähe des Mundes abgeliefert wird, erweitert sich das Schlund- rohr so viel, dass das Stückchen von der Cilienbewegung des Schlund- rohrs ergriffen wird.

3. Die Nahrungsstückchen bei Caryophyllia werden von einem Tentakel (oder bei stärkerer Reizung von mehreren Tentakeln) ge- fasst, dann kontrahiert sich der Tentakel und krümmt sich gegen den Mund zu und gibt das Stückchen der inneren Partie der Mund- scheibe oder dem Mund ab. Von hier wird das Stückchen durch die Cilienbewegung der Mundscheibe und des Schlundrohrs in den coelenterischen Raum geführt. Sind die Stückchen größer, so tragen auch peristaltische Bewegungen des Schlundrohrs dazu bei, die Nahrung in das Innere einzuführen.

4. Bei Tealia (wohl auch bei Actinostola und Bolocera) wurde die Nahrung (hauptsächlich größere Gegenstände) von den Tentakeln gefasst und dann von den Tentakeln zu dem Mundrand transpor- tiert. Von hier wird sie hauptsächlich durch peristaltische Be- wegungen des Schlundrohrs, in geringerem Maße durch die Flimmer- bewegung desselben zu dem aboralen Ende des Schlundrohrs geführt.

D. In betreff der Ausführung der verbrauchten Par- tikelchen.

1. (Bei. den Protantheen sind keine Beobachtungen gemacht.)

2. Bei Metridium und Sagartia werden kleine Nahrungsreste von den einheitlich schlagenden Cilien des Schlundrohrs, der Mund- scheibe und der Tentakel von dem Körperinnern zu der Spitze der entfalteten Tentakel befördert (Fig. 3).

3. Bei Caryophyllia werden die Nahrungsreste von den Fila- menten zu dem aboralen Teil des Schlundrohrs geführt und von hier durch eine starke Kontraktion des Tieres, die einen starken Wasserstrom durch das Schlundrohr auspresst, ausgeworfen. Fallen die Reste dann wieder auf das Tier, werden sie von den Cilien des äußeren Teils der Mundscheibe und von der Körperwand nach unten gegen die Fußplatte zu transportiert.

XXV. 21

399 Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete.

4. Bei Tealia und Actinostola werden kleine Nahrungsreste durch die Cilienbewegung des Schlundrohrs zu der Mundscheibe befördert. Von hier müssen sie durch die Kontraktionen des Körpers entfernt werden. Größere Stückchen dürften wohl hauptsächlich mit den nach außen gerichteten, in dem Schlundrohr verlaufenden Wasserstrom, der entsteht, wenn die Tiere sich heftig kontra- hieren, ausgespült werden. Möglich ist es auch, dass peristaltische Bewegungen des Schlundrohrs für die Ausführung von Bedeutung sein können.

Es gibt also in betreff der Oilienverteilung der Einführung der Nahrung und der Ausführung der Nahrungsreste unter den Actı- niarien und Madreporarien verschiedene Typen. Voraussichtlich wird eine nähere Untersuchung besonders von den stichodactylinen Actiniarien zeigen, dass die Typenreihe mit den hier oben geschil- derten vier Typen nicht abgeschlossen ist.

Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu

Fischzucht und Fischerei. Von Dr. Otto Zacharias (Plön).

Man bezeichnet gegenwärtig denjenigen Teil der biologischen Forschung, welcher sich mit der Gesamtheit der im Wasser lebenden Organismen befasst und deren Lebensumstände nach allen Rich- tungen hin klarzustellen sucht, als „Hydrobiologie“. Ganz sach- gemäß unterscheidet man zwischen einer ozeanischen Hydrobiologie und einer solchen, die sich bloß auf die Gewässer des Binnenlandes (Tümpel, Teiche, Seebecken, Flüsse) erstreckt. In diesem Aufsatze haben wir es vorwiegend nur mit letzterer zu tun und verwenden die allgemeine Bezeichnung darum stets nur im Sinne des nicht minder gebräuchlichen Ausdruckes „Limnobiologie*.

Wer einen Blick in die bibliographischen Verzeichnisse tut, der wird mit Überraschung wahrnehmen, dass die Hydrobiologie in beiderlei Sinne während des jüngst verflossenen Jahrzehnts einen sehr bemerkbaren Aufschwung genommen hat; man wird zweifellos konstatieren können, dass ın allen Kulturländern ein außerordentlich reges Interesse für hydrobiologische Forschungen

besteht, und dass ganz abgesehen von der angestrebten praktı- schen Verwertung der erzielten Ergebnisse die Anzahl der rein

wissenschaftlichen Publikationen auf diesem neuen Gebiete von Jahr zu Jahr zugenommen hat!). Eine auch nur oberflächliche

1) Ich verweise in dieser Beziehung auf das XIV. Kapitel des XII. Bandes der Plön. Ferschungsberichte (1905) und auf die fernerhin erscheinenden Fortsetzungen jenes Literaturverzeichnisses aus der Feder des Herrn Prof. v. Dalla Torre, (Inns- bruck).

Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete. 393

Durchsicht der einschlägigen Literatur liefert den überzeugenden Beweis dafür, dass nicht bloß bei uns in Deutschland, sondern auch in Skandinavien, Dänemark, Frankreich, England, Italien und Russ- land Gewässerdurchforschungen in großer Ausdehnung angestellt. werden. Am lebhaftesten werden aber derartige Untersuchungen seitens schweizerischer und nordamerikanischer Gelehrten betrieben, und man darf .wohl sagen, dass in diesen beiden Ländern das In- teresse dafür sich am intensivsten entwickelt hat. Es erklärt sich das hinlänglich aus dem Reichtum an großen Binnenseen, welche in beiden Territorien als ergiebige Forschungsdomänen zur Ver- fügung stehen.

Die auffallend bedeutende Zunahme des Interesses an wissen- schaftlichen Arbeiten der gekennzeichneten Art beruht aber wohl, ihrem tieferen Grunde nach, auf einem Umstande, welcher mit der immer mächtigeren Entfaltung der organischen Disziplinen der Naturforschung überhaupt zusammenhängt. Bewusst oder unbewusst macht sich in unserer modernen Zeit allerwärts auf dem Gebiete der originalen Forschung das Bestreben geltend, neben der un- entbehrlichen Laboratoriumsarbeit den direkten Verkehr mit der Natur selbst zu pflegen, ihre Geschöpfe an dem Platze und in der Umgebung zu beobachten, welche diese nach eigener instinktiver Wahl aufsuchen, sowie auch die Häufigkeit des Auftretens einer bestimmten Spezies im Verhältnis zu dem Vorkommen verwandter Arten festzustellen, die Ausdehnung der Verbreitungsbezirke kennen zu lernen und ım Anschluss daran das Problem der Varietäten- bildung zu studieren. Im Banne dieser aktuellen Auffassung von dem Zwecke der Naturforschung, zumal desjenigen Teils derselben, der sich mit den Organismen beschäftigt, stehen wir zur Zeit alle ohne Unterschied, und sie ist eine Nachwirkung, ein fortlebendes Vermächtnis der durch Alex. v. Humboldt eingeleiteten Epoche, welche das unserer Beobachtung zugängliche Universum als ein geordnetes Ganzes, d. h. als einen „Kosmos“ zu betrachten lehrte, in welchem jeglicher Zufall ausgeschlossen ist und worin überall Gesetzlichkeit herrscht. Im Lichte dieser Anschauung ist aber auch jeder Teil des Kosmos ehernen Gesetzen unterworfen: die Bildung und Abänderung der organischen Wesen ebensogut, wie die Entstehung der Gesteinsarten, und nicht minder die scheinbar launenhaften Vorgänge in der uns unsichtbar umhüllenden Atmo- sphäre. Ein Abglanz dieser höheren und richtigeren Auffassung der gesamten Natur ist nun aber auch in dem Geiste zu verspüren, in welchem heutzutage die Durchforschung jener Mikrokosmen betrieben wird, die uns in relativer Abgeschlossenheit in Gestalt von Teichen, Seen und Meeresbecken entgegentreten.

Der Reiz, den die Feststellung der innigen Verkettung dar-

bietet, vermöge welcher die ein und dasselbe „Milieu“ bewohnenden 21%

394 Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete.

Organismen biologisch und physiologisch miteinander verbunden sind, während sie andernteils wieder in der mannigfaltigsten Weise von den chemischen und physikalischen Eigenschaften ihres Wohn- elements beeinflusst werden: dieser Reiz ist genau von derselben Art, wie derjenige, den wir empfinden, wenn das Naturganze still- schweigend den Anspruch an uns erhebt, in seiner durchgängigen Harmonie und grenzenlosen Kompliziertheit erklärt zu werden. Nur dass hier eine nie erfüllbare Aufgabe an uns herantritt, wo- gegen sie dort m absehbarer Zeit lösbar erscheint und die durch mühsame Arbeit errungene Einsicht eine dauernde Bereicherung unseres allgemeinen Wissensschatzes verspricht. So und nicht anders ist der ungewöhnliche Aufschwung zu erklären, den die Hydrobiologie in jüngster Zeit genommen hat, und aus ganz dem- selben Grunde begreift sich auch die spontane Mitarbeiterschaft aller Kulturvölker an den Aufgaben jenes neuerdings sich immer mehr entfaltenden Forschungsgebietes.

Mit dem Vordringen jener tieferen Erfassung des Zwecks der Naturforschung, wie er im obigen skizziert worden ist, wurde auch der sogenannten „Museumszoologie“ der Todesstoß versetzt, welche sich damit zufrieden gab, die Säugetiere und Vögel mumienhaft in ausgestopften Exemplaren aufzustellen, während der Rest von Reptilien, Amphibien, Fischen, Nesseltieren, Stachelhäutern u. s. w. in Spiritus versenkt und leichenhaft verblichen zur Anschauung der Wissbegierigen gebracht wurde. Ein solches ee gilt heute nur als Notbehelf und dient meistens bloß zur Einführung in die Systematik. Die neuere zoologische Forschung aber will das Tier an seinem Wohnplatze sehen, dort seine Lebensgewohn- heiten beobachten, sich einen Begriff von seiner on ee: und seinen Kraftäußerungen machen, um auf solchem Wege ein möglichst vollständiges Bild von den in Frage kommenden Spezies zu erhalten. Schon Goethe hat folgenden sehr zutreffenden Aus- spruch getan: „Man frage sich, ob nicht ein jedes fremde, aus seiner Umgebung gerissene Geschöpf einen gewissen ängstlichen Eindruck auf uns macht, der nur durch Gewohnheit abgestumpft wird“. Diese Bemerkung, welche unser großer Dichter der fein- sinnigen Ottilie („Wahlverwandtschaften“) in den Mund legt, ist voll- kommen richtig, wenn man das Wort „ängstlich“ ım weiteren Sinne auffasst und darunter etwa ein „beengendes Gefühl“ versteht. Aber es ist sicher ganz unserer heutigen Auffassung entsprechend, wenn es weiterhin in Ottiliens Tagebuche heißt: „Nur derjenige Natur- forscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste, Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft, jedesmal in dem eigensten Elemente zu schildern weiß“. Es dämmert in diesen Aussprüchen bereits die Morgenröte einer von der älteren Natur- forschung gänzlich verschiedenen Art des Eindringens in die Be-

Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete. 325

Fa

ziehungen der belebten Wesen zu ihrer natürlichen Umgebung und zueinander. Wir finden aber auch schon den Begriff der „An- passung“, wie er uns jetzt geläufig ist, von Goethe angedeutet, wenn derselbe damals in Venedig beim Anblick der Patellen und Taschenkrebse, die dem ebbenden Wasser zu folgen versuchten, ausruft: „Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!*

Nachdem ich mit obiger Darlegung die vorwiegend bio- logische Richtung der neueren zoologischen Forschung charak- terisiert und darauf hingewiesen habe, dass die Hydrobiologie ein wissenschaftliches Feld ıst, auf welchem diese Richtung ganz be- sonders zur Geltung kommt, gehe ich jetzt dazu über, darzulegen :wie gegenwärtig diese Disziplin auf ein praktisches Gebiet einzuwirken beginnt, welches von großer ökonomischer Bedeutung für unser Land ist. Es ist hiermit das Fischereiwesen, oder bestimmter aus- gedrückt, die deutsche Wasserwirtschaft gemeint. Um die allge- meine Wichtigkeit dieses Industriezweiges zu erweisen, ist die Anführung einiger Ziffern nicht zu umgehen. Aus amtlichen Mit- teilungen wissen wir, dass die gesamte fischereitreibende Bevölke- rung Deutschlands (im Jahr 1895) betrug: 24721 Fischer im Haupt- beruf mit 55357 Dienenden und Angehörigen mithin im ganzen 80078 Personen. Davon entfielen auf die Binnenfischerei 14577 Fischer im Hauptberuf mit 31811 Dienenden und Angehörigen: also 46388 Personen (d. h. 59°/,). Auf die Küsten- und Hochsee- fischerei kamen 10144 Fischer im Hauptberuf mit 23546 Dienenden und Angehörigen, also 31690 Personen (41°/,). Es ergibt sich hieraus ganz objektiv, dass die deutsche Binnenfischerei eine er- heblich größere Berufsbevölkerung umfasst und ernährt, als die marine Fischerei. Hierzu kommen aber noch diejenigen Personen, welche Teiche und Seen im Nebenberuf bewirtschaften und auch solche Fischereibetriebe, die sich in den Händen von Landwirten befinden. Alle diese sind in den angegebenen Ziffern nicht inbe- griffen. Demnach darf man also wohl mit Recht behaupten, dass die deutsche Binnenfischerei die Küsten- und Hochseefischerei ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung nach übertrifft. Von seiten des Deutschen Reichs wurden aber im Rechnungsjahre 1903—1904 zur Förderung der Meeresfischerei ein Betrag von 544250 Mk. verausgabt, wogegen zugunsten der Binnenfischerei nur ein solcher von 241750 Mk., also erheblich weniger, gezahlt wurde. Für das Jahr 1904—-1905 sind für die marine Fischerei sogar 605000 Mk. in Rechnung gestellt worden!).

1) Ich entnehme obige Zahlen einem Aufsatze des Dr. W. Dröscher

(Schwerin), betitelt: „Die auf die Förderung der Fischerei verwandten öffentlichen Mittel“. Neudammer Fischereizeitung Nr. 51, 1904.

326 Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete.

Ich mache diese Angaben in der Absicht, um daran ermessen zu lassen, von wie großer Bedeutung es sein müsste, wenn der Ertrag der Binnenfischerei durch zweckmäßige und wissenschaftlich fundierte Maßnahmen gehoben und so das gesamte vaterländische Fischereiwesen auf eine höhere Stufe der Entwickelung gebracht werden könnte. Die Möglichkeit dazu wäre, nach allem, was ich nun mitzuteilen in der Lage bin, wohl vorhanden; aber zahlreiche Schwierigkeiten tauchen auf, sobald es sich um die Anwendung von wissenschaftlichen Ergebnissen auf die Praxis handelt.

Zunächst muss konstatiert werden, dass die berufsmäßige Wasserbewirtschaftung in Deutschland bis jetzt noch keinerlei Mittelpunkt, keine autoritative Zentralstelle besitzt, an welcher die brennenden Hauptfragen, die der Lösung harrenden Probleme ge- prüft und eventuell planmäßig bearbeitet werden könnten. Die Errichtung einer solchen Zentralstelle ıst aber ein dringendes Er- fordernis, und schon vor langen Jahren ist von Karl Vogt (dem bekannten Genfer Zoologen) und von Berthold Benecke (dem verdienstvollen Königsberger Ichthyologen) auf die Notwendigkeit einer solchen Anstalt hingewiesen worden. Denn wenn das, was auf theoretischem Wege ermittelt und festgestellt worden ist, zu einer Grundlage, resp. Richtschnur für den praktischen Betrieb auf fischereilichem Gebiete werden soll, so muss es bezüglich seiner Tragweite und Nützlichkeit in besonders dazu ins Leben zu rufen- den Instituten abgeschätzt und dem speziellen praktischen Zwecke, dem es dienen soll, angepasst werden. Erst alsdann kann von einer Einführung in den wirklichen Betriebsorganismus der Fischerei die Rede sein. Einer derartigen Anstalt würde der Name einer „Fischereiversuchsstation“ zukommen und sie würde hinsichtlich der Wasserwirtschaft (Aquikultur) genau dieselbe Stellung ein- nehmen, wie die heutigen landwirtschaftlichen Versuchsanstalten gegenüber der Agrikultur.

Die Errichtung einer derartigen fischereiwissenschaftlichen Sta- tion, welche übrigens neuerdings auch der frühere Generalsekretär des deutschen Fischereivereins, Prof. Kurt Weigelt ın Vorschlag ge- bracht und zu begründen empfohlen hat, ist nun aber keine interne Angelegenheit der Eigentümer von Wasserobjekten und genau ebensowenig eine Privatsache des praktischen Fischerstandes, sondern es ist eine wıssenschaftliche, öffentliche und ge- meinnützige Angelegenheit, welche sich aus diesem Grunde auch zur Diskussion in vorliegender Zeitschrift eignet.

Die Fischereiindustrie befindet sich gegenwärtig ungefähr in derselben Lage, in welcher die Landwirtschaft vor Albrecht Thaer und vor Justus v. Liebig war. Jene, die von Rechts wegen eine Domäne der angewandten Hydrobiologie sein sollte, ist tatsächlich bis zur Stunde nicht viel mehr gewesen als der

Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete. 327

Tummelplatz für tausend Meinungsverschiedenheiten und für zahl- lose tastende Versuche, deren Ergebnisse mit der ökonomischen Förderung dieses Erwerbszweiges nichts oder nur äußerst wenig zu tun gehabt haben.

Das Ziel, welches angestrebt werden soll, ıst an sich voll- kommen klar, obgleich es bisher niemals genau und präzis ausge- sprochen worden ist. Das, worauf es ankommt, lässt sich jedoch in wenig Worte fassen. Es handelt sich um nichts anderes, als darum: für die Teichwirtschaft sowohl wie für die Fischerei ın den freien Gewässern wissenschaftlich sichere Grundlagen zu gewinnen, die es ermöglichen, das materielle Ergebnis dieser Be- rufszweige nicht mehr, wie bisher, vorwiegend von individuellen Erfahrungen und vom Zufall abhängen zu lassen, sondern letzteren möglichst auszuschließen und Kenntnisse zu gewinnen, welche der Praxis orientierend und leitend bei ıhren Unternehmungen zustatten kommen können.

Was ich hier ausspreche, hat auch schon anderen als ein frommer Wunsch vorgeschwebt, denn ich finde z. B. mn dem bekannten Werke von J. Susta über die Ernährung des Karpfens und seiner Teichgenossen!) auf S. 57 einen Passus, der mir dem Sinne nach ganz das nämliche zu sagen scheint, wie das, was ich soeben zum Ausdruck gebracht habe. Fischereidirektor Susta (damals in Witting- au) sagt wörtlich: „Wie könnten wir die ganze Wasserwirtschaft besser einrichten und dem Menschen eine angenehme und nahrhafte Speise wohlfeiler beschaffen, wenn wir mit Hilfe der Wissenschaft aus der geheimnisvollen Ungewissheit befreit und zur Erkenntnis alles dessen gelangen würden, was in dem großen Haushalte der Natur vorgeht“. Und in einem anderen Buche, welches zehn Jahre später (1898) erschien?), klagt derselbe Susta einer der ersten Fischzüchter Österreichs darüber, dass ihn bei seinen praktischen Versuchen, die Erträge der Teichwirtschaft zu verbessern, die zoologische Fachliteratur vollkommen im Stich gelassen habe, und er spricht dies folgendermaßen aus: „Das Begehrenswerte war leider nicht erforscht; die Zoologie blieb auf ihrem allgemeinen Gebiete und sah sich bisher nicht veranlasst, für die Fischzucht ein spezielles Studium ins Leben zu rufen. Jene Männer der Wissenschaft, die dafür zu gewinnen gewesen wären, fanden keine Unterstützung und konnten dem Forschungsmaterial selten oder gar nicht näher treten“. So läßt sich ein intelligenter Praktiker ın ‘dieser Sache vernehmen. Ähnlich wie Susta aber dachten und denken noch zahlreich andere Teichwirte und Fischzüchter, wie ich

1) Stettin 1888 (Neue Grundlagen der Teichwirtschaft). 2) J. Susta: Fünf Jahrhunderte der Teichwirtschaft zu Wittingau. Ein Beitrag zur Geschichte der Fischzucht. Stettin 1898.

328 Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht etc.

auf Grund eigener Erfahrungen, die ich in diesen Kreisen wäh- rend eines mehr als zehnjährigen Zeitraums gemacht habe, zu behaupten in der Lage bin. Hunderte sind seit langem der Überzeugung, dass irgend etwas von seiten der Wissenschaft und des Staates geschehen müsse; aber eine nähere Formu- lierung dieses „Etwas“ ist bisher immer noch zu vermissen ge- wesen.

Wenn nun auch der Fischereibetrieb seit Jahrhunderten niemals unterbrochen gewesen ist oder stille gestanden hat wenn auch immer Fische gezüchtet und auf der Speisetafel aller Gesellschafts- klassen vertreten gewesen sind, so hat sich doch seit langem schon der Wunsch geregt, den Ertrag der Gewässer zu heben, und be- sonders ist dies in neuerer Zeit der Fall, wo der Vergleich mit dem intensiven Betriebe der heutigen Landwirtschaft naheliegt, der sich alle Vorteile, welche die Agrikulturchemie und die Tierzucht- lehre an die Hand geben, fortgesetzt zunutze macht. Darum ist es nun auch wohl begreiflich, dass der Ruf nach Reformen im Fischereiwesen nieht mehr verstummen will und dass man in Deutschland ernstlich daran denkt, eine Forschungsanstalt, welche direkt mit der fischereilichen Praxis in Beziehung treten soll, staatsseitig zu begründen !). Wie man sich höheren Orts die spe- ziellere Organisation eines solchen Instituts denkt darüber ist bis jetzt noch nichts bekannt geworden. Gleichviel nun aber, in welcher Weise die Verwirklichung der geplanten Neuschöpfung vor sich geht, soviel ist sicher, dass zwei Hauptpunkte auf dem Arbeitsprogramm derselben stehen müssen, nämlich 1. die Erfor- schung der Verdauungsphysiologie der Fische und 2. die um- fassende Ermittelung der natürlichen Ernährungsweise aller wirtschaftlich- wichtigen Spezies auf den verschie- denen Altersstufen ihrer Vertreter. Bezüglich dieses zweiten Punktes sind selbstredend auch alle bisherigen Ergebnisse der Hydrobiologie zu berücksichtigen, welche sich auf die Naturgeschichte des Plank- tons beziehen, und man hat auch die physiologischen Experimente auf letzteres auszudehnen, um in Erfahrung zu bringen, welche Art der Nahrung aus dem Pflanzenreiche einer starken Vermehrung der tierischen Komponenten jener Schwebwesengesellschaft be- sonders günstig ist. Strittig war bis noch vor wenigen Jahren die Rolle, welche die Diatomeen bei der Ernährung von Planktontieren spielen, bis Apstein und ich selbst zeigten ?), dass dieselben in hervorragendem Maße von den Spaltfußkrebsen (Cope- poden) gefressen werden, wogegen die limnetischen Cladoceren

1) Laut Mitteilung der Neudammer „Fischereizeitung“ Nr. 3 (1904) und der Allgem. Fischereizeitung (München) 1904. 2) C. Apstein: Das Süßwasserplankton, 1896. 5. 140.

Reinke, Philosophie der Botanik. 329

mehr die grünen, flottierenden Algen bevorzugen). Neuerdings habe ich festgestellt, dass gewisse Borstenwürmer des Süßwassers (vor allem Ohaetogaster diaphanus) fast ausschließlich von Diatomeen leben und diese in großen Mengen vertilgen. Auch die größeren Rädertiere (Asplanchna sp.) sind in der Hauptsache Diatomeen-, Dinobryon- und Peridineenfresser?).

Es sind ferner auch die künstlichen Futtermittel, welche in der Teichwirtschaft zur Verwendung kommen, experimentell ın ihrer Einwirkung auf den Organismus der Nutzfische zu kontrol- lieren, damit man über die relativ besten Surrogate für die natür- liche Nahrung ins reine kommt, was zurzeit noch keineswegs der Fall ist. Denn wenn der schon mehrfach zitierte Fischereikoryphäe Susta auf Grund seiner persönlichen Erfahrung der Lupine das Wort redet und deren hohen Proteingehalt hervorhebt°), empfehlen dagegen andere, wie z. B. ©. Knauthe*) die Molkereiabfälle und die Melasse letztere namentlich als Beimischung zu den zer- schrotenen Lupinen. Noch andere schwören auf die Ernährungs- kraft der Fleischmehle und auf die Fütterung mit Fliegenmaden, die zu diesem Zwecke extra und massenhaft gezüchtet werden sollen. Ich führe diese Tatsachen nur an, um erkennen zu lassen, wie hinsichtlich solchen Ernährungsfragen sehr verschiedene Meinungen obwalten, welche aber meist keineswegs bloß der rohen Empirie entspringen, sondern von jeder der betreffenden Seiten her mit „Versuchsreihen“ gestützt werden. In ein solches Chaos von Ansichten und Dafürhaltungen soll nun eine derartige Fischerei- versuchsstation, wie sie jetzt projektiert ist, Licht und Ordnung bringen. Dass dies eine schwierige Aufgabe ist und dass eine spürbare Wirkung von ihrer Tätigkeit erst nach längeren Jahren sich im Fischereiwesen herausstellen wird, ist von vornherein als etwas ganz Selbstverständliches hinzunehmen. (Schluss folgt.)

Johann Reinke, Philosophie der Botanik. Leipzig, J. A. Barth 1905. Mk. 4.

Das Buch erscheint als 1. Band einer „Natur- und kulturphilo- sophischen Bibliothek“; es ist eine abgekürzte Wiedergabe dessen,

1) O. Zacharias: Über die Nahrung der Planktonkrebse. Neudamm. Fischereizeitung Nr. 40 (1904).

2) Vgl. auch K. Brandt: Beiträge zur Kenntnis der chemischen Zusammen- setzung des Planktons. Wissenschaftl. Meeresuntersuchungen. Neue Folge, III. Bd. Abteilung Kiel. 1898. Ebenso J. Pelleton: Les Diatomees, 1891, S. 8.

3) J. Susta: Fünfhundert Jahre der Teichwirtschaft ete. S. 196.

4) Die Karpfenzucht, 1901. S. 284—285. Vgl. auch E. Walter: Die Fischerei als Nebenbetrieb des Landmanns und Forstwirtes. S. 448—526. 1903.

330 Reinke, Philosophie der Botanik.

was Reinke in „Die Weltals Tat“ und „Einleitung in die theoretische Biologie“ veröffentlicht hat, wenigstens enthält es nichts wesent- liches, was nicht schon in genannten Büchern gesagt wäre. Ein nicht unwichtiger Unterschied besteht darin, dass der Autor hier deutlich ausspricht, dass es eben seine subjektive Meinung ist, die er vorträgt. Da er aber an andern Stellen doch wieder von der Gültigkeit seiner Beweise völlig überzeugt ist und andern Meinungen jede Berechtigung kategorisch abspricht, möchte Ref. die Art der Beweisführung (nur diese!) an einigen Punkten etwas näher be- leuchten.

Reinke unterscheidet drei Arten von „intelligenten Kräften*: Systemkräfte, die in den fertigen Organen wirken; Dominanten, welche die Entwickelung der Organismen und ihrer Organe in die richtigen Bahnen leiten, und psychische Kräfte, letztere für das Pflanzenreich nicht in Betracht kommend. Damit ist so ziemlich alles Kraft: Zustände, chemische Verbindungen u. s. w.; der Besitz von Intercellularen z. B., und die Enzyme od. dgl., alles fällt unter den Begriff der Kraft!). Der Vertiefung unserer Erkenntnis kann Aufstellung solcher Begriffe wohl kaum förderlich sein. Überdies ist das Wort Dominante nach R.’s eigenem Aus- spruch „ein Symbol für eine nicht vorstellbare Ursache*, also keinesfalls brauchbarer, als Pangene, Idioplasma oder Determinanten, die R. bekämpft.

In seinem System spielt die Zweckmäßigkeit die Hauptrolle; weil sich Reinke dieselbe nicht anders erklären kann, als durch intelligente Kräfte geworden, sieht er letztere als erwiesen an. Wenn sich jemand die Kunststücke eines Taschenspielers nicht anders zu erklären weiß, als dass der Mann „hexen* kann so ist das damit erstens nichts bewiesen, zweitens ist aber auch gar nichts erklärt, so lange man nicht weiß, wie gehext wird. Genau so steht es mit jenen intelligenten Kräften, von deren Wesen und Wirkungsweise wir nicht die leiseste Vorstellung haben; Vor- stellungen zu gewinnen ist aber doch wohl Sinn und Zweck der Wissenschaft, selbst wenn sie sich „Philosophie“ nennt. Eine Denk- form, die uns zur Lösung eines Problems verhelfen soll, darf, auf ein anderes ähnliches angewendet, doch nicht völlig ad absurdum führen. Wie aber, wenn man das spezifische Wahlvermögen der Pflanzenwurzeln, die Wasserleitung in hohen Bäumen od. dgl., weil bis heute noch nicht kausal erklärt, einfach auf den Deus ex machina schieben wollte?

Dass in der Erklärung der Lebensvorgänge Zweck- und Kausal- begriff gleichberechtigt nebeneinander stehen, trifft nicht zu. Der Kausalbegriff ist der ursprünglichere, einfachere, ihn setzt neben einer Menge anderer Dinge der Zweckbegriff voraus. Mit dem Kausalbegriff fängt unser wissenschaftliches Denken an, mit seiner Hilfe haben wir immerhin einiges erreicht und dürfen weiter hoffen,

1) „Man soll nicht ganz verschiedenes mit einem und demselben Wort be- legen“. Reinke, Philos. d. Bot., S. 83.

Reinke, Philosophie der Botanik. 301

mit ihm kommen wir nach Ansicht bewährter Biologen aus. Der Zweckbegriff bringt ein ewig unbegreifliches subjektives Moment hinzu, mit dessen Einführung die objektive Forschung und alles Forschen überhaupt aufhört. Den Kausalbegriff muss jeder, den Zweckbegriff kann man aus der Natur herauslesen. „Wir sehen mittels unserer Augen“, das ist objektiv gegeben; dass die Augen uns gegeben seien, damit wir sehen können (bezw. den Blind- geborenen nicht, damit sie nicht sehen können!) ist subjektive Meinung, wenn es irgendeinen Unterschied zwischen solcher und objektivem Wissen gibt.

Das wird ja niemand bestreiten, dass bei der Beschreibung eines Organismus und seiner Teile die Funktionen (Reinke sagt „Zwecke*) nicht übergangen werden dürfen, welche die Teile dem Ganzen leisten; aber was beweist denn das? Zu einer vollständigen Be- schreibung der Störs, des Korkbaumes, des Kalkspates gehört es ohne Zweifel, dass uns der erste den Kavıar, der zweite Flaschen- stöpsel, der dritte Nicol’sche Prismen liefert; ist denn aber das ein schlagender Beweis dafür, dass die drei Dinge zu diesen Zwecken erschaffen sind? Es ist eine sehr auffällige Funktion der Kleider- motte, dass sie uns Kleider und Möbel verdirbt dürfen wir der kosmischen Vernunft eine dahingehende Absicht zumuten? Aber freilich, das ist Metaphysik!

Beiläufig bemerkt, liegen die kausalen Bedingungen für das Vorhandensein eines Organs durchaus nicht allein in seiner Ent- wickelungsgeschichte, wie es nach R. scheinen möchte; die aller- wesentlichste Ursache dafür, dass jemand Augen und Ohren besitzt, ist der Umstand, dass seine Eltern und Vorfahren solche besessen haben.

Für Reinke’s Auffassung ein Beispiel: auf S. 31ff. werden die verschiedenen Formen des Geotropismus besprochen, die einen Baum so beeinflussen, dass seine Zweige und Wurzeln sich zweckmäßig im Raum verteilen; Verf. betont das Hypothetische der kausalen Erklärung und meint seinerseits eine „nahezu hypo- thesenfreie Finalerklärung geben zu können, da die von letzterer behaupteten Beziehungen unanfechtbar vor Augen liegen.“

Suchen wir uns die denkmöglichen Erklärungen logisch zu den) so finden wir:

I. Die Pflanze selbst gibt in bewusster Zweckmäßigkeit ihren Sprossen und Wurzeln die jeweils beste Richtung.

II. Ein in der Pflanze liegendes, unbekanntes und unbewusstes, Substantielles bewirkt rein kausal jene Richtungen.

IIla. Dieses Unbekannte ist rein kausal, durch‘ Variation, Aus- lese, vor allem durch Vererbung vorhanden.

"IIb. Das Unbekannte ist in jedes Pflanzenindividuum von außen zweckbewusst hineingelegt.

III. Ein äußerer, zweckbewusster Einfluss wirkt direkt richtend auf die Sprosse und "Wurzeln.

Möglichkeit I dürfen wir, wenngleich sie an dieser Stelle bei Reinke durchzublicken scheint, beiseite lassen, da er selbst sie an

332 Reinke, Philosophie der Botanik.

anderem Ort ausdrücklich verwirft. IIa ıst die als zu hypothetisch bekämpfte Ansicht des Kausalismus. Ob R. nun sich zu IIb oder zu III bekennt, spricht er nicht aus, es scheint, als neige er zu II. Sofort leuchtet ein, dass IIb nicht weniger hypothetisch sein kann als IIa, auch III ist nichts weniger als hypothesenfrei, und keines- falls liegt hier irgend etwas „unanfechtbar vor Augen“, da vielmehr die beiden Möglichkeiten, die für R. offen bleiben, selbst weitere Hypothesen erfordern; und zwar solche, die nach R.’s eigener De- finition (S. 20) nur Fiktionen, nicht einmal Hypothesen sind, weil auch nicht eine Beobachtung in dieser Richtung vorliegt. „Wenn wir uns aber einer Hypothese als solcher nicht bewusst sind, kann sie gefährlich für unser Denken und für die Wissen- schaft werden“, sind R.’s eigene Worte. Die „nahezu hypothesen- freie Finalerklärung“ geht auf die Trennung der obigen Möglich- keiten nicht ein, sie begnügt sich mit dem Satz, der Baum brauche die verschiedenen Tropismen zu seinem Wohlergehen und darum habe er sie. Ja, gibt es denn ein unanfechtbar vor Augen liegendes Naturgesetz, dass jedes lebende Wesen alles das besitzen müsse, was ihm zum Wohlergehen nötig ist?? Referent würde nur be- kanntes wiederholen, wollte er darlegen, wie die Tropismen mit einigen Hypothesen zwar, aber doch naturgemäß kausal zu er- klären sind.

Sehr großen Wert legt die Teleologie auf die Selbstregu- lation der Enzymbildung; was ist denn hieran nun Tatsäch- liches? Dies, dass allerhand äußere Einflüsse sowohl die Enzym- bildung wie die (allein in Erscheinung tretende) Enzymwirkung fördern oder hemmen, wie andere chemische Umsetzungen gefördert oder gehemmt werden; insbesondere wird enzymatische Spaltung gehindert durch höhere Konzentration der Spaltprodukte, was aber fast genau ebenso von jedem anorganischen Katalysator gilt. Hier und da einmal ein Fall, der sich teleologisch deuten lässt, wenn man durchaus will, daneben Fälle von Selbstschädigung durch Erzeugung giftiger Spaltprodukte aus einer vorher unschäd- lichen Substanz!

In den Ausführungen über Zweckmäßigkeit spielt auch Drosera nit ihrer Fangvorrichtung eine wesentliche Rolle; was lehrt uns darüber die Erfahrung? Darwin und nach ihm andere haben ge- zeigt, dass gefütterte Exemplare besser gedeihen als solche, die nur auf die gewöhnliche Pflanzenernährung angewiesen sind; in der Natur kann jedoch dieses Moment nur von äußerst geringem Eın- fluss sein. Ref. hat im August vor. J. vier Wochen in einer Gegend zugebracht, wo er fast täglich Tausende von Droserapflanzen ın üppiger Entwickelung zu sehen bekam; nur nach langem Suchen aber war ab und zu ein Blatt zu finden, das seinen „Zweck“ erfüllt und ein winziges Tierchen gefangen hatte. Wenn es zweckmäßig ist, einen Erfolg mit einem zehntausendmal größeren Aufwand zu erreichen dann, aber auch nur dann kann jene Fangvorrichtung (wie vieles andere in der Natur!) für zweckmäßig gelten. Und welchen Zweck hat denn die Drosera selbst? Schädliche Insekten

Reinke, Philosophie der Botanik. 390

auszurotten? Davon kann nach obigem überhaupt nicht die Rede sein, und dann: zu welchem Zwecke sind denn die schädlichen In- sekten da? Aber das ist schon wieder Metaphysik. Ref. ver- hehlt es sich übrigens durchaus nicht, dass das Missverhältnis zwischen Aufwand und Erfolg es auch sehr erschwert, die Ent- stehung der Drosera kausal zu erklären.

Den Darwinismus fertigt Reinke mit folgenden Worten ab: „Darwin hat in der Selektionstheorie einen Versuch gemacht, aus jener metaphysischen Aufgabe (Erklärung der Finalbeziehungen) eine physische zu machen, es ist ihm indessen nicht gelungen.“ Freilich nicht ganz, weil ‘das Problem zu groß und schwierig ıst, als dass ein Menschengeist und ein Menschenleben ausreichen sollte, es restlos zu lösen; darum heißt es weiter arbeiten und nicht verzweifeln, denn noch ist wohl die Menschheit nicht am Ende ihrer Erkenntnisfähigkeit angelangt. Dadurch, dass auf dem einen Wege die Lösung aller Rätsel bis zum heutigen Tage nicht ge- glückt ist, ist noch nicht bewiesen, dass der diametral ent- gegengesetzte Weg der einzig richtige sei. Man sage doch einem Physiker oder "Chemiker, Be Wellentheorie der Elektrizität oder das periodische System der Elemente sei zu verwerfen und durch eine möglichst gegensätzliche Auffassung abzulösen, weil bis heut noch nicht alle einschlägigen Fragen beantwortet sind!

Die These, auf der sich das ganze System Reinke’s aufbaut, lautet in nuce: „Zweckmäßige Organisation kann unmög- lich von selbst entstanden, sie muss geschaffen sein.“ Wenden wir einmal diesen Satz auf die kosmische Vernunft selbst an: entweder ist sie gänzlich unzweckmäßig geartet; das kann nicht sein. Oder sie ist erschaffen; das führt zu einer unendlichen Reihe von Schöpfern, von denen immer einer den andern hervorgebracht hätte. Oder drittens: die These lässt Ausnahmen zu, und dieses Zugeständnis genügt für die rein kausale Auffassung der be- lebten Natur. B

Vergeblich haben sich viele Hunderte von Arzten um die Ätiologie des Karzinoms bemüht; dasselbe entsteht ja doch durch Zellteilungen, sich teilen können nur zweckmäßige Zellen, folglich liegt, wenn Reinke’s These zutrifft, die Ursache der Neubildung in den intelligenten Kräften und die einzige Therapie im Gesund- beten.

Reinke hat früher die Kausalisten mit Leuten verglichen, die von einem Gemälde nichts als die Farbenflecken sehen, während nur der Teleologe auch den Sinn des Bildes zu würdigen wisse. Der Vergleich stimmt, sobald man den Gesichtspunkt um eine Kleinigkeit verschiebt: die einen nehmen das Bild für Wirklich- keit; die andern wissen sich wohl des Bildes zu freuen, werden aber auf Befragen stets gestehen, dass das, was sie sehen, in Wahr- heit nur eine bemalte Leinwand ist.

Auch in der Vererbung und Variation sieht Reinke nur intelligente Kräfte wirken, obwohl ihn, wie er selbst eingesteht, hier noch mehr als an anderen Punkten der Vergleich zwischen

334 Reinke, Philosophie der Botanik.

Organismus und Maschine im Stiche lässt; und die Erfahrung? „Un- zulässig ist jede Hypothese, der es an einer genügenden Unterlage von Erfahrungen mangelt... .; die Stichprobe auf Zulässigkeit einer Hypothese wird stets durch die Beobachtung und das Experiment zu machen sein,“ sagt R. auf S. 20. In der Vererbung sehen wir eine Gesetzmäßigkeit, der wir nur eine andere aus der ganzen Natur an die Seite stellen können: die Wiederkehr der gleichen Kristallform an einer (sc. unter gleichen Bedingungen) wiederholt kristallisierenden Substanz; eine Gesetzmäßigkeit, die der wissenschaftlichen Erklärung recht große Schwierigkeiten bietet, von der wir aber nach exakter Beobachtung eines wissen: dass sie sich nicht im mindesten um Zweckmäßigkeit kümmert, vielmehr alle Eigenschaften wahllos überträgt. Und das gleiche gilt in ver- stärktem Maße!) von alledem, was bisher von Beobachtungen über Variation vorliegt, wenn auch hier die Gesetzmäßigkeit noch durch- aus dunkel ist. Sollen denn auch intelligente Kräfte im Spiel sein, wenn sich der Hang zum Verbrechen vererbt? Oder was bezweckte wohl die kosmische Vernunft, als sie die Capsella bursa pastoris in Capsella Heegeri varııerte?

Wie ein Fremdkörper nimmt sich in Reinke’s System die Deszendenztheorie aus. Er erkennt dieselbe wohl an, nament- lich in Rücksicht auf die Paläontologie?), die jede andere Deutung ausschließt; im übrigen aber trägt er so ziemlich alles das zusammen, was bisher gegen die Deszendenzlehre gesagt worden ist. Der Einwand, dass diese dem Zufall eine übergroße Rolle zuweise, ist nicht schwerwiegend, so lange wir Anlass haben, den Zufall als ein sehr wesentliches Moment in Menschenschicksalen, in der sogen. Weltgeschichte, bei den wichtigsten Erfindungen und Entdeckungen, u. Ss. w. anzusehen.

(Ganz dogmatisch wird Reinke, wo es gilt, die spontane Urzeugung zu bekämpfen. „Das Problem der Herkunft der Urzellen ist ein rein naturphilosophisches“ damit beginnt die Ausführung dieses Themas.

Darin hat nun R. zweifellos recht, dass die Urzeugung (mit oder ohne Schöpfer) die einzig diskutable Art ist, das Dasein des Lebens auf der Erde zu erklären; und auch insofern, als es zum Widerspruch herausfordern muss, wenn die spontane Urzeugung als zum gesicherten Bestand unseres Wissens gehörend bezeichnet wird.

Das Problem zerfällt naturgemäß in zwei Teile: 1. Entstehung gewisser chemischer Verbindungen, aus welchen 2. lebende Zellen wurden. Nach R. soll schon der erste Vorgang sich unmöglich haben von selbst abspielen können, weil dazu die Intelligenz eines Chemikers gehöre. Chemische Verbindungen entstehen

1) Vgl. die Oenothera-Mutanten von De Vries, die zum größten Teil weniger zweckmäßig sind als die Stammform.

2) In dem Überblick über die fossile Pflanzenwelt vermisst man die sehr wichtige Übergangsgruppe der Cyeadofilices. Warum?

Reinke, Philosophie der Botanik. 390

aber ımmer und überall ganz von selbst, der Chemiker kann nur die notwendigen Bedingungen ausdenken oder ausprobieren. Manche Mineralien stellen schon recht komplizierte Verbindungen dar, die doch wohl von selbst entstanden sind. Je komplizierter aber eine Verbindung ist, um so genauer müssen jene Bedingungen eingehalten werden; das müsste selbstverständlich ganz besonders von den höheren organischen Verbindungen, und noch mehr von den Urorganismen, wenn dieselben spontan entstanden sind, gelten. Die Möglichkeit spontaner Synthesen lässt sich angesichts der neueren Enzymlehre nicht mehr abstreiten, zumal die erste fermen- tative Synthese nicht an einem organischen Enzym, sondern an der höchst anorganischen konzentrierten Salzsäure entdeckt wurde. Ist es dann aber so merkwürdig, dass es noch nicht gelungen ist, jene Bedingungen nachzuahmen? da wir noch nicht einmal ahnen können, worin ihre Besonderheit bestanden habe, und ob sie sich ım Laboratorium wıederholen lassen würden. Ist es denn den Chemikern schon gelungen, die Bedingungen herzustellen, unter denen die großen Diamanten entstanden sind ? Und diese sind doch wohl nichts Transzendentales? Von allen bezüglichen Bedingungen wissen wir eben z. Z. noch nichts, darum ist es unmöglich, be- stimmt zu sagen, sie müssen oder sie können nicht von selbst eingetreten sein. Die größte Schwierigkeit liegt überhaupt darin, dass wir den chemischen Unterschied zwischen toten und lebenden Eiweiss(i. w. S.)-Molekeln nicht kennen.

Die zweite Frage ist, ob lebensfähige Eiweißkomplexe selbst- tätigzu Zellen zusammentreten können. Dass geeignete Substanzen unter äußeren Einwirkungen, z. B. von Wasser, ganz von selbst protoplasmaartige Strukturen annehmen, ist wenigstens ein Hinweis, der vielleicht noch einmal weiter führen kann. Jedenfalls entspricht es unserm derzeitigen Wissen nicht, spontane Entstehung des Lebens als vollständig ausgeschlossen zu bezeichnen. Der Vergleich mit Maschinen ist nicht geeignet, hier irgend etwas zu beweisen. „Wie die Bewegung einer Maschine, so wird auch der Lebens- prozess durch einen eintretenden und unter Gefälle wieder aus- tretenden Energiestrom unterhalten“, oder mit anderen Worten: es geschieht in beiden etwas, wobei Energie aufgewendet wird. Das ist auch alles, was Pflanze und Maschine mit- einander gemein haben; könnte es denn überhaupt anders sein? Sicher besteht in gewisser Hinsicht Ähnlichkeit zwischen Ma- schine und Organismus; kann man aber daraus beweisen, dass beide auch in den Punkten übereinstimmen müssen, in denen sie er- fahrungsgemäß voneinander abweichen? Ein solcher Punkt ist aber gerade die Art, wie ein Lebewesen, wie eine Maschine ent- steht. $

Die Geschichte des Urzeugungsproblems erzählt uns von allerhand phantastischen Vorstellungen und von alchymistischem Herumprobieren; ernsthaft an die experimentelle Lösung des Problems herantreten zu wollen, wäre auch heut noch völlig verfrüht. Dass Urzeugung unmöglich sei, lehrt die Geschichte nicht; wohl aber,

356 Reinke, Philosophie der Botanik.

dass mehr als einer Entdeckung Reihen von missglückten Versuchen vorangegangen sind. Darum will der „Widerspruch gegen die Er- fahrung“ nicht viel besagen. Die bekannte Entdeckung Röntgen’s stand heute vor 10 Jahren in entschiedenem Widerspruch zur Er- fahrung, denn noch niemand hatte im lebenden Körper das Knochen- gerüst gesehen; ein Jahr darauf war die neue Erfahrung welt- bekannt.

Die Beziehung von Stoff und Form der Pflanzen- organe war einer der glücklichsten Gedanken von Sachs, nur leider mit mancherlei unwahrscheinlichem Beiwerk behaftet, und ist darum z. Z. etwas aus der Mode gekommen. Soviel ist gewiss: selbsttätige Gestaltbildung kennen wir nicht von der Maschine, die aus fertigen Teilen zusammengefügt wird, wohl aber von den Chemosen. die von selbst entstehen. Die Gestalt einer Pflanze ist weit komplizierter als die eines Salpeterkristalles, dafür ist auch das Protoplasma, rein chemisch betrachtet, ganz bedeutend ver- wickelter konstituiert, als die Verbindung KNO,. Die zahlreichen hier noch offenen Fragen kann vielleicht noch einmal die Natur- forschung, sicherlich niemals die Philosophie beantworten.

Da Reinke an verschiedenen Stellen von der Wichtigkeit der Erfahrung und Beobachtung für die Naturauffassung spricht, so wird der Leser bis zum Schluss ın einer gewissen Spannung erhalten, welche Erfahrungssätze denn nun für R.s Anschauung ins Treffen geführt werden. Leider wird nur der eine mitgeteilt, dass Taschenuhren, Mikroskope u. dgl. nicht von selbst entstehen können.

Wir werden vom Autor auf Goethe’s Maxime verwiesen: „die Grenze zu suchen, wo das Begreifliche aufhört und das Unbegreifliche anfängt, und es dann bei der Unter- suchung des Begreiflichen bewenden zu lassen.“ Aus dem Satz spricht wohl mehr der Dichter als der Denker. Ref. kann sich nicht vorstellen, wie wir jene Grenze sollten bestimmen können, bevor alles Erforschliche erforscht ist. Und dafür steckt unsere Wissenschaft (die Wissenschaft von heut!) noch viel zu sehr in den Kinderschuhen, als dass wir jetzt schon für kommende Geschlechter festlegen könnten, was erforschlich, was unerforschlich sein soll. Erforschen allerdings können wir nur Kausalitäten, mit dem Zweckbegriff stehen wir schon mitten im Unbegreiflichen. Das ist ja gerade des Wesen des Vitalismus, dass er für vieles, was wir noch einmal zu begreifen hoffen dürfen, uns „Erklärungen“ aufnötigen will, die selbst hoffnungslos unbegreiflich sind, Er- klärungen, die auf jede Frage und jeden Einwurf nur die eine Ant- wort haben: „Das ıst Methaphysik&. [34]

Hugo Fischer (Bonn).

Verlag von er Thieme in ee Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luiseustr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen.

Em Balleas Mai 4005: Ne 10.

Inhalt: Rosa, Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität. Schneider, Zur Frage von der Entstehung neuer Arten bei Cestoden. Zacharias, Die moderne Hydro- biologie und ihr Verhältnis zur Fischzucht und Fischerei (Schluss). Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Nencki, Opera omnia.

Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität. Erwiderung an Herrn Professor L. Plate. Von Prof. Daniel Rosa in Modena.

Einleitung.

Herr Prof. L. Plate ın Berlin hat kürzlich unter dem Titel: „gibt es ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität? *!) eine Schrift veröffentlicht, die gegen mein Buch „Die progressive Reduktion der Variabilität“ ?) gerichtet ist.

Diese Schrift möchte ich nicht ohne Erwiderung lassen, weil dieselbe dazu geeignet ist, eine ganz falsche Vorstellung von meinen Anschauungen zu erwecken.

Da Plate mit dem Inhalt des ersten Kapitels meines Buches sich im wesentlichen einverstanden erklärt, den Inhalt des dritten aber nur aus allgemeinen Gründen abweist, ohne näher auf ihn einzugehen, so werde ich in folgenden nur den Inhalt meines zweiten Kapitels zu verteidigen haben.

1) Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie, 1. Jahrg., 5. Heft, Berlin 1904. 2) Jena (Verlag von G. Fischer) 1903. Die italienische Originalausgabe trägt den Titel „La Riduzione progressiva della Variabilitä. (Torino, C. Clausen, 1599.)

XXV. 22

338 Rosa, Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität.

Um zu zeigen, wie Plate mich missverstanden hat, stelle ich folgende Zitate einander gegenüber.

Plate (S. 644). „Ich halte die Rosaschen Anschauungen für durchaus unrichtig und behaupte, es gibt kein Gesetz der progressiv reduzierten Variabilität, eher könnte man das gerade Gegenteil vertreten, denn im allgemeinen führt die Evolution... zu immer größerer Komplikation... und damit nimmt auch die Variabilität zu, denn diese hängt ganz allgemein ab von der Zahl der abänderungsfähigen Elemente“.

Rosa (S. 22, 23). „Es kann wenigstens als feststehend be- trachtet werden, dass der geschichtliche Entwickelungsprozess der Formen sich nach einem Gesetze vollzogen hat... nach welchem die Bedeutung der Variation!) der Arten in dem Maße kleiner wurde, als die letzteren in jenem Entwickelungsgange sich von den ursprünglichen Stammformen entfernten“.

„Damit soll nicht gesagt sein, dass sie weniger leicht variierten, denn sogar infolge der Zunahme ihrer Kom- plikation mussten die sichtbaren Variationen, die sie her- vorbringen konnten, wenigstens bis zu einem gewissen Punkte zahlreicher werden. Wohl aber soll ausdrücklich be- merkt werden, dass diese Variationen immer mehr an Umfang ein- büßten und so allmählich eine immer geringere Bedeutung erlangten, so dass die Annahme wohl berechtigt ist, dass sie... niemals zu Formen hätten führen können, die untereinander so fundamentale Unterschiede aufgewiesen hätten, wie jene, die aus niedriger stehen- den Gestalten hervorgegangen sind“.

Es ist mir also nie eingefallen zu behaupten, dass ein einfaches Tier in zahlreicheren Punkten variieren kann als ein kompliziertes. Ich habe nur bemerkt, dass den Variationen eines einfachen Tieres eine mehr fundamentale Bedeutung zukommt, so dass z. B., während im Laufe der Zeiten aus gasträaähnlichen Tieren der ganze Stamm- baum der Metazoen hervorsprossen konnte, ein Käfer oder ein Vogel wahrscheinlich auch in entferntenster Zukunft nur noch Käfer

I) Unter Variabilität habe ich die (phylogenetische) Umbildungsfähigkeit gemeint, wie sie bloß durch die Konstitution des Organismus bedingt ist.

Unter Variation habe ich dagegen die Art und Weise gemeint, in welcher die Organismen sich umgebildet haben oder umbilden können, wie sie nicht bloß von ihrer Beschaffenheit, sondern auch von dem Kampfe ums Dasein abhängt.

Eine Reduktion der Variabilität ist also eine durch innere Ursachen, d. h. durch die erreichte Organisation bedingte Verminderung oder Einschränkung der Umbildungsfähigkeit.

Eine Reduktion der Variation wäre dagegen eine Verminderung oder Einschränkung des Variierens, wie sie auch von der Zuchtwahl (Ausmerzung der der Umgebung nicht angepasster Entwickelungsrichtungen) abhängen kann.

Dass für den Begriff von Reduktion, wie ich ihn auffasse, nicht die Zahl, sondern die Größe der (möglichen oder reellen) Variationen maßgebend ist, ergibt sich aus diesen Erörterungen.

Rosa, Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität. 359

oder Vögel wird hervorbringen können. Und diesen Satz wird auch Plate gutheißen, denn er gehört gewiss nicht zu jenen Forschern, die aus so hochstehenden Formen wie ZLimulus noch die Vertebraten herleiten.

Da zu jenen „allgemeinen Erwägungen“ Plate’s nur ein Miss- verständnis Veranlassung gegeben hat, so wenden wir uns besser zu den konkreten Einwürfen, welche die in meinem zweiten Ka- pitel enthaltenen Beweise für die progressive Reduktion der Varia- bilität entkräften sollten.

Plate’s konkrete Einwände. ir

Prof. Plate bespricht zuerst (S. 645) meinen Satz, dass uns kein Organ bekannt ist, das, nachdem es einmal ım Laufe der Phylo- genese verschwunden ist, wieder (als homologes Gebilde) erschienen sei, oder dass, nachdem es rudimentär geworden, wieder seine pro- gressive Entwickelung erlangt hat!).

Die Richtigkeit dieses Satzes gibt Plate ım allgemeinen zu, glaubt aber, dass Ausnahmen vorkommen.

Er führt einige Beispiele an, welche beweisen, dass (durch Kon- vergenz, Bildungshemmung, Degeneration u. s. w.) eine Rückkehr zu einfacheren Zuständen möglich ist; davon aber waren wir über- zeugt genug. Diese Beispiele hätten nur dann eine Bedeutung, wenn der Nachweis geliefert würde, dass vereinfachte Organe wirklich (was ihre Abänderungsfähigkeit betrifft) ursprünglich ein- fachen, indifferenten Organen gleichzusetzen sind.

Für die Möglichkeit einer erneuten progressiven Entwickelung zurückgebildeter Organe sprechen aber nach Plate einige äußerst seltene Fälle: so ist bei Fledermäusen und Bradypus tridactylus der processus coracoideus länger geworden und bei rezenten Vögeln hat sich das Steissbein zu einem Gebilde umgestaltet, das als Ansatz- stelle für die Steuerfedern dient.

Die Beweiskraft des letzten Beispieles bleibt mir zweifelhaft. Liegt in der Schwanzwirbelsäule der Vögel nicht eher ein Organ vor, das in einem seiner Teile, unter Zurückbildung der übrigen, sich weiter bildet? Besser geht es vielleicht mit dem ersten Fall; er zeigt allerdings, dass einem in Rückbildung begriffenen Organ noch ein gewisses Anpassungsvermögen zukommen kann. In beiden Fällen handelt es sich aber um Gebilde, deren Variabilität wohl als eine höchst reduzierte bezeichnet werden darf.

Während nun gegen die Allgemeingültigkeit des oben aufge-

1) Atavismus kommt hier nicht in Betracht. Sowohl hier als auf den folgen- den Seiten denke ich nur an jene Charaktere, welche zu neuen phyletischen Reihen führen können.

99%*

au

340 Rosa, Es gibt ein Gesetz der prögressiven Reduktion der Variabilität.

stellten Satzes sich nicht vieles sagen lässt, ließe sich (nach Plate) sehr vieles gegen meine Deutung desselben einwenden.

Bekanntlich habe ich behauptet, dass die in jenem Satze kon- statierte Erscheinung nicht auf äußeren Ursachen, d. h. auf der natür- lichen Zuchtwahl, beruht, dass vielmehr in jener Erscheinung eine Beschränkung der Variabilität aus inneren Ursachen (also nicht bloß der Variation) zum Ausdruck kommt.

Die Richtigkeit meiner Deutung wird von Plate aus folgenden (Gründen bestritten.

a) Dass in Rückbildung begriffene Organe nicht wieder eine aufsteigende Entwickelung erfahren, ist vielfach wohl nur die Folge davon, dass die äußeren Verhältnisse, unter welchen die Rückbildung stattgefunden hatte, sich nicht geändert haben“ (so ungefähr Plate S. 646).

Allerdings in solchen Fällen spricht nichts unzweideutig für oder gegen meine Auffassung. Wır müssen aber bedenken, dass wenn die Rückbildung eines Organs bei einem Tiere stattgefunden hat, welches zur Stammform einer ganzen Familie, Ordnung oder Klasse geworden ıst, dann sind für die einzelnen Nachkommen jener Stammform die äußeren Verhältnisse zuletzt sehr verschieden geworden.

Diesen neuen Verhältnissen haben sich jene Nachkommen, unter Annahme verschiedener Lebensweisen und mittelst mannig- fältıger Einrichtungen angepasst. Warum gibt es bei diesen viel- fältigen neuen Anpassungen keine Einrichtungen, welche auf das Wiederauftreten eines verloren gegangenen Organs oder die erneute progressive Entwickelung eines rückgebildeten Organs zurückgeführt werden könnten ?

Und weiter: Wir haben hier nur solche Formen ım Auge ge- habt, welche, trotz der Rückbildung einer oder mehrerer Organe, noch die Fähigkeit hatten, sich den Existenzbedingungen neu an- zupassen; ist es aber nicht wahrscheinlich, dass viele Formen ge- rade deshalb verschwunden sınd, weil ihnen unter diesem Umstand eine Anpassung zuletzt nicht mehr möglich war?

Man kann natürlich nicht verlangen, dass wır Formen zitieren, die wegen des rückgebildeten Zustandes eines Organs in eine ge- fährdete Lage geraten sind; wohl aber sind uns Formen bekannt, die offenbar noch nicht seit langem eine Lebensweise angenommen haben, bei welcher kein Grund mehr vorhanden ist, dass die durch frühere Existenzbedingungen hervorgerufenen Rückbildungen fort- dauern sollten. So bei dem Weibchen von ZLithodes (eine freilebende Form, die aus stark unsymmetrischen schalenbewohnenden Eupa- guren abstammt) sind noch immer die (eiertragenden) Hinterleibs- [üße nur auf der linken Seite vorhanden.

b) Nach Plate (S. 647) würde es ein langes und mühevolles

Rosa, Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität. 341

Verfahren sein, ein rudimentäres Organ wieder leistungsfähig zu machen; hierin sei der Grund gegeben, dass seine Stelle von einem neuen Organ eingenommen werde, wenn sich das Bedürfnis nach der von ıhm früher geleisteten Funktion wieder einstellen sollte.

Nun die Richtigkeit dieses Satzes läßt sich in manchen Fällen nicht bestreiten, eine ausgedehnte Gültigkeit hat er aber nicht.

Er ist namentlich nicht gültig, wenn es sich um relativ ein- fache Bildungen handelt, denn hier dürfte man die Wiederher- stellung früherer Zustände nicht ein mühevolles Verfahren nennen, Und doch hat sich bei der Lederschildkröte (Dermochelys coriacea) der verloren gegangene Rückenschild nicht wieder entwickelt, sondern es hat sich über dem Rudimente desselben ein neuer, aus mosaik- föürmig angeordneten Plättchen bestehender Panzer entwickelt. Auch weiß man, dass bei den schon erwähnten Lithodinen die wieder- erworbenen Skelettstücke des Hinterleibes den vor der Rückbildung vorhandenen nicht mehr homolog sind (Bouvier), sondern Neu- bildungen darstellen.

Ferner ist der von Plate aufgestellte Satz unhaltbar, wenn es sich um Strukturen handelt, die beim Erwachsenen nicht mehr vorhanden sind, wohl aber beim Embryo noch als eine mehr oder minder indifferente Anlage erscheinen (z. B. eine Schalendrüse, eine Zahnleiste, ein Flossensaum etc.; es gehören hierher in der Tat die meisten rückgebildeten Organe). Es ist nämlich gar nicht einzusehen, warum es ein notwendig kürzeres Verfahren sein sollte, ein Organ von Grund auf neu zu bilden, als solche indifferente An- lagen erneut zu benutzen.

c) „In der Zeit, welche von der Rückbildung eines Organs bis zu dem neu erwachenden Bedürfnis nach demselben verflossen ist, hat sich der Organismus sehr verändert, so dass das neue Organ notwendig anders ausfallen muss als das frühere“ (so ungefähr Plate S. 647).

Gut, aber die Frage liegt doch anders; auch ein Sepienknochen sieht ganz anders aus als eine Muschelschale, ist ihr aber gleich- wohl homolog. Die Frage ist: kann das neue Organ dem früheren homolog sein oder nicht? Das ist nun niemals der Fall; wenn aber Plate die Ursache hierzu in einem völligen Verschwinden des Organes aus der Ontogenese oder in einer Veränderung der inneren Korrelationen erblickt, so sind dies innere Ursachen, die mit der Zuchtwahl nichts zu schaffen haben.

d) „Die Veränderungen, welche eine Art nach dem Verluste eines Organs durchlaufen hat, können derartig sein, dass die Neu- bildung eben dieses Organs aus mechanischen Gründen zur Un- möglichkeit wird (Plate S. 648).

Hier liegt gar kein Einwand gegen meine Auffassungsweise vor; denn: mechanische Gründe sind doch wohl innere, d. h. von der übrigen Organisation des Tieres bedingte Ursachen.

342 Rosa, Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität.

Wozu aber ein weiterer Streit? Ein Zeugnis dafür, dass Plate sich gar nicht so sehr von meiner Auffassungsweise entfernt, liefert sein Zugeständnis „Jede Variabilität hat ihre Grenze, und sobald ein Organismus progressiv oder regressiv sich verändert, wird auch die Zahl der möglichen Abänderungen eine andere“ (S. 648).

Ich darf also annehmen, dass, trotz seiner Einwände, Plate mit dem hauptsächlichen Inhalt meiner Behauptung übereinstimmt, indem er anerkennt, dass, wenn ein rückgebildetes oder ein ge- schwundenes Organ im weiteren Laufe der Phylogenese nicht wieder eine erneute progressive Entwickelung annimmt, resp. nicht wieder- kehrt, hierbei nicht allein die äußeren Lebensbedingungen, sondern auch innere Ursachen ın Frage kommen, solche nämlich, die not- wendig mit der erreichten Organisation zusammenhängen.

Trotz alledem, sagt Plate, kann man nicht von einer Ein- schränkung der Variabilität sprechen, weil, wenn auch gewisse Ab- änderungseinrichtungen nunmehr ausgeschlossen sind, die Summe aller möglichen Veränderungen gleichgroß bleiben oder sogar noch größer werden kann. Hiermit kommen wir wieder zu dem oben schon besprochenen Missverständnis meiner Auffassung von dem, was ich unter Reduktion der Variabilität verstanden wissen möchte. Hierauf komme ich noch später zurück.

IE

Zweitens bespricht Plate (S. 649) meinen Satz, dass die An- zahl, in der homologe Organe aufzutreten pflegen, ım Laufe der Phylogenese einer Fixierung entgegengeht, indem sie, von einem gewissen Punkte ab, wohl eine Reduktion, nicht aber eine Ver- mehrung verträgt.

Auch hier bemüht sich Plate zuerst nach Ausnahmen zu suchen, um damit zu zeigen, dass selbst wenn die Zahl fixiert er- scheint, sie trotzdem unter Umständen sehr wohl vergrößert werden kann. Meines Erachtens können jedoch die von Plate angeführten Ausnahmen in Einklang mit dem obigen Satz gebracht werden.

a) Was die neun Halswirbel des Bradypus tridactylus betrifft, so haben sich hier den typischen sieben Halswirbeln zwei vordere Thorakalwirbel zugesellt, die gewöhnlich bewegliche, das Sternum nicht erreichende, Rippen tragen. Es hat also hier keine wirkliche Vermehrung homologer Organe stattgefunden.

b) Letzteres ist auch für die Zahl der Kreuzbeinwirbel gültig, welche nur auf Kosten der benachbarten Regionen zunimmt.

c) Polydaktylie: Morphologisch gesprochen ist sowohl beilchthyo- sauren als bei Uetaceen die Zahl der Finger nie über fünf gestiegen, nur einige Finger (oder Phalangenreihen) haben eine Längsspaltung erfahren wie sie als Anomalie vielfach auch beim Menschen vor- kommt.

Rosa, Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität. 349

d) Ebenso lässt sich die Hyperphalangie aus dem Unabhängig- werden der Phalangenepiphysen und ihrer Gliederung zu vollstän- digen Phalangen mit Epiphysen erklären (Kükenthal).

e) Auch die Zahnvermehrung, wie sie bei gewissen Üetaceen und Edentaten vorkommt ist vielmehr, (wie es scheint) als eine re- gressive Zersplitterung anzusehen. Der Fall von Otocyon (46 —48 Zähne) bleibt unerklärt, steht aber auch vollkommen isoliert da.

f) Viel interessanter sind die so zahlreichen Fälle von einer Augmentation der Fünfzahl der Arme bei Seesterne, wo die Zahl (wie bei Labidiaster) bis zu 45 steigen kann.

Diese Vermehrung, trotz ihrer Befestigung als Artmerkmal, weist aber einen ausgeprägten monströsen Charakter auf, und ist viel- leicht mit dem großen Regenerationsvermögen dieser Tiere in Zu- sammenhang zu bringen.

Ich bin fest überzeugt, dass derartige Aberrationen, wenn sie auch erblich sind, nie zum Ausgangspunkt neuer Stammlinien werden können. Dasselbe gilt, meiner Meinung nach, für die schon erwähnte Polydaktylie, wie auch (bei den Pflanzen) für die Poly- kotylie, wie für die künstlich erhaltene oder natürlich vorkommende Vermehrung der Blütenglieder.

Es handelt sich hier um jene nicht phylogenetische Variationen, für deren Unterscheidung ich (nach dem Paläontologen Scott) ın meinem Buch eingetreten bin.

Diese Anschauungen gehörig zu begründen, würde mich aber zu weit führen. Ich werde mich hier mit dem Plate’schen Be- kenntnis begnügen, „dass eine Vermehrung der Zahl homodynamer Teile... . im allgemeinen viel seltener ist als eine Reduktion der Zahl meristischer Organe“ (Plate S. 651).

Nun, wie erklärt sich diese Erscheinung ?

Nach Plate erklärt sie sich vielfach daraus, dass eine Ver- mehrung der Zahl meristischer Organe unzweckmäßig war und daher durch den Kampf ums Dasein verhindert worden wäre, falls- die Variabilität einmal nach dieser Richtung sich geäußert hätte.

Eine solche Möglichkeit habe ich aber nie bestritten.

Was ich ausdrücklich hervorgehoben habe, ist die ebenso un- bestreitbare Tatsache, dass in sehr vielen Fällen (wie mir scheint in den meisten) eine solche Erklärung nicht ausreicht!), dass ın den meisten Fällen die Vermehrung aus inneren Gründen nicht mög- lich war.

Dies aber gibt auch Plate zu, indem er behauptet, dass ın dieser Erscheinung eine „fixierte Vererbung“ im Sinne Häckel's

1) Die Erklärung reicht nämlich nicht aus in den sehr vielen Fällen, wo die fixierte Zahl offenbar eine gleichgültige ist; man kann als Beispiel die für die ein- zelnen Pflanzenfamilien charakteristischen Verhältnisse der Zahl der Blütenteile anführen.

344 Rosa. Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität.

sich ausspricht. Es leuchtet ein, dass „fixierte Vererbung“ nur ein anderer Name für die in dem obigen Satz dargestellte Tat- sache ist. Vererbung ist wohl kein äußerer, sondern ein innerer Faktor !).

Also darf ich wohl dieses Kapitel, wie schon das vorgehende, mit der Bemerkung abschließen, dass Plate, trotz allem Wider- streben, mit dem hauptsächlichen Inhalt meiner Darlegungen über- einstimmt.

Eine scheinbare tiefe Divergenz zwischen uns tritt nur dann ein, wenn es sich darum handelt, die Konsequenzen dieser Auf- fassung zu ziehen. Während ich in dem Konstantwerden der Zahl gewisser meristischer Organe eine weitere Veranlassung zu einer Reduktion der Variabilität erblicke, sagt Plate dagegen: „Hat sich eine bestimmte Zahl homodynamer Organe herausgebildet, so bleibt der Variabilität innerhalb dieses Rahmens noch so viel Spielraum, dass man sie unmöglich progressiv reduziert nennen kann.“

Auch hier handelt es sich aber um dasselbe Missverständnis, auf welches schon am Ende des vorigen Kapitels hingewiesen worden ist.

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Drittens beschäftigt sich Plate mit meiner Verweisung auf „das Grundprinzip aller Systematik, welche darın besteht, dass man Charaktere ausfindet, welche allen Gliedern der betreffenden Gruppe ausnahmslos zukommen und also innerhalb dieser Gruppe als „fixiert“, als nicht veränderlich angesehen werden können“ (Plate S. 652). Dieses Prinzip hatte mich zu einer Verallgemeinerung der in den beiden vorigen Kapiteln behandelten Tatsachen veranlässt, welche wie folgt zusammengefasst werden kann:

Die im Laufe der Phylogenese schrittweise zustande kommende Fixierung «der Strukturformen?), wodurch letztere zu Gruppen- charaktere werden, ist nicht eine Erscheinung, die nur der Nütz- lichkeit ihr Fortbestehen verdankt, die aber unter veränderten Umständen sich auch ändern würde; es handelt sich hier also nicht bloß um Unverändertbleiben, sondern überhaupt um Unveränder- lichkeit.

Da Plate das Prinzip der „fixierten Vererbung“ anerkennt, so dürfte er auch dem oben erwähnten Satz zustimmen.

l) Das Haeckel’sche Gesetz bezeichnet dieselbe Tatsache, insofern in diesem Gesetz der Begriff von einer aus inneren Gründen zustande kommende „Fixierung“ enthalten ist. Wenn aber als Ursache der Fixierung die „kumulative Vererbung“ dabei in Anspruch genommen wird, so kann ich nicht mehr beistimmen, denn die ältesten Organe (Darmkanal, Gliedmaßen, Zähne u. s. w.) können sich ebenso leicht als die jüngeren zurückbilden.

2) Eine Fixierung, welche kontinuelle Rückbildungen nicht ausschließt.

Rosa, Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität. 345

Tatsächlich widerspricht alles, was in dieser Plate’schen Be- sprechung gegen mich gesagt wird, meinen Auffassungen nicht und ist alles auf Missverständnis zurückzuführen.

Freilich sind hier die Plate’schen Missverständnisse etwas zu groß.

So sagt Plate (S. 652): „Rosa denkt sich die phylogenetische

Spaltung in Familien, Gattungen und Arten... so, dass bei der Stammform jedes Organ in verschiedenen Variationen .. . vor-

kommt. Diese verschiedenen Variationen werden später immer mehr auf die phyletischen Reihen verteilt“.

Weiterhin belehrt er mich: „Die Stammform zerfällt dadurch in neue Arten, dass neue Eigentümlichkeiten auftreten, aber nicht dadurch, dass die verschiedenen Variationen der Stammform auf verschiedene Gruppen von Deszendenten verteilt werden“.

Und an einer anderen Stelle: „Es zeigen sich hier (zwischen den Chamäleonen) Gegensätze, die so groß sind, dass sie nicht als ererbt, sondern als neu erworben angesehen werden müssen!!!

Nach Plate hätte ich also glauben können dass z. B. beı den Chamäleonen kein Artmerkmal neu erworben ist, dass es ein Urchamäleon gegeben hat, bei dem schon alle möglichen Art- merkmale der Ohamäleonen zu finden waren! Wie sollte denn die Sache stehen, wenn es sich nicht lediglich um Chamäleonen, son- dern um Saurier oder Reptilien oder Chordaten überhaupt gehan- delt hätte?

Nachdem er mir all diesen Unsinn untergeschoben hat, fällt Plate sein verdammendes Urteil: „So sprechen alle Tatsachen der Systematik gegen das Rosa’sche Gesetz.“ Natürlich.

Nun die Sachlage wieder richtig zu stellen, würde mich zu weit führen, ich muss notwendig auf mein Buch verweisen.

Nur behufs einer allgemeinen Orientierung über meinen Ideen- gang möge noch folgendes dienen.

Nur in einem Sinne kann man sagen, dass keine wirklich neue Charaktere entstehen, in dem Sinne nämlich, dass für einen jeden Charakter schon die mehr indifferenten Anlagen bei den Vorfahren existieren.

Unter „Fixierung“ darf man nur das verstehen, dass ein Körper- teil sich in einer Richtung differenziert hat, dass ihm nunmehr ein mehr bestimmter Abänderungsraum zukommt, in welchem sich seine weiteren Abänderungen bewegen, dass also aus einem so fixierten Organ nicht mehr in der weiteren phylogenetischen Ent- wickelung so unter sich grundverschiedene Bildungen entstehen können, wie früher, als es mehr indifferent war. Solchen Fixierungs- prozessen verdanken wir eben das Zustandekommen der Gruppen- merkmale.

In diesem Satze ist nur Sachliches enthalten.

346 Rosa, Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität.

Theoretisches ist nun mit der Annahme verknüpft, dass differenzierte Teile wohl einfacher, nicht aber wieder indifferent werden, dass sie nicht ihre ursprüngliche phylogenetische Potenz erlangen können, dass z. B. die zweifingerige Extremität eines Wirbeltieres nie wieder zu einer fünffingerigen werden könnte, um von da aus eine Entwickelung annehmen, die eine Extremität mit drei Finger zum Endziele hätte; und das alles ganz unabhängig von jeglicher natürlichen Zuchtwahl.

Dass aber diese Annahme berechtigt ist, das hoffe ich in meinem Büchlein zur Genüge bewiesen zu haben. Eigentlich handelt es sich dabei um eine weitere Ausdehnung der schon in den beiden vorigen Kapiteln angeführten Argumente.

IV.

Viertens bespricht Plate (S. 653—655) meine aus den Vor- gängen der Differenzierung der Zellen und den Geweben herge- nommenen Beweise.

Er meint, meine Behauptung, dass (phylogenetisch gesprochen) die spezialisierten Gewebe aus mehr indifferenten hervorgehen, sei nur „im allgemeinen“ richtig, eine Zelle oder ein Gewebe könne, nachdem es sich in einer bestimmten Richtung spezialisiert habe, noch zu einer Spezialisierung in „ganz anderer“ Richtung übergehen, es sei ferner „ein fundamentaler Irrtum“, wenn ich meine, dass eine neue Funktion nichts anderes als eine Unterart der vorangehenden, weniger spezialisierten Arbeitsleistung sein könne.

In letzterem Satz kam aber ganz einfach das Gesetz der phy- siologischen Arbeitsteilung zum Ausdruck. Oder sollte vielleicht auch dieses altbekannte Gesetz ein „fundamentaler Irrtum“ sein ?

Damit soll nicht geleugnet werden, dass eine spezialisierte Zelle noch sehr veränderungsfähig sein kann, ja es kann sogar, auch bei den Zellen, ein wirklicher Funktionswechsel im Sinne Dohrn’s eintreten. Letzterer Vorgang besteht aber nur darin, dass bei einer Zelle oder bei einem Organ eine Nebenfunktion zur Haupt- funktion wird, folglich kann man ihn nicht zu dem Prinzip der Arbeitsteilung im Gegensatz bringen.

V.

Kommen wir endlich zu dem von mir in Anspruch ge- nommenen Kleinenberg’schen Prinzip der „Substitution der Organe“.

Ich hatte in meinem Buche (S. 51) auf folgende Verhältnisse aufmerksam gemacht:

„In keinem Organismus sind die Teile gleichmäßig spezualisiert ... Der Prozess der Differenzierung, der Spezialisierung ... verläuft nicht gleichzeitig in den verschiedenen Teilen.“

Rosa, Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität. 347

„Würde diese Gleichzeitigkeit bestehen, so hätte kein Organis- mus einen auch nur einigermaßen hohen Aufbau erlangen können. Wenn der letztere trotzdem erreicht wird, so geschieht es ın folgender Weise: Während für gewisse Teile die Variabilitäts- richtungen schon eine solche Beschränkung erfahren haben, dass sie an veränderte Existenzbedingungen sich anzupassen nicht mehr fähig sind, entfalten sich andere Teile, die in dieser Beziehung noch zurückstehen, indem sie sich mit den älteren verbinden und dieselben ev. ersetzen (Substitution), so dass eine weitergehende Entwickelung des Organismus noch möglich ist.“

Nun fragte es sich, ob dieser Substitutionsprozess der (bei Organen und Organismen) der progressiven Fixierung entgegen- wirkt, ins Unendliche sich abspielen kann.

Darüber ist Plate meiner Meinung. Er gesteht „dass dieses Prinzip (der Substitution) an den Wurzeln eines Stammbaumes eine größere Bedeutung hat, als in den höher liegenden Ästen und dass in den Endzweigen seine Bedeutung vielleicht völlig erlischt* (Plate S. 654).

Trotzdem behauptet Plate, dass die Variabilität ungeschwächt bleibt. Hier aber handelt es sich noch einmal um das schon viel- fach hervorgehobene Missverständnis über das, was ich unter Reduktion der Variabilität verstanden habe. In folgendem werde ich mich bemühen, den Gegenstand noch besser klarzulegen.

Schluss.

Aus dem Gesagten geht klar hervor, dass Plate sich über den Inhalt meiner Hauptthese getäuscht hat, indem er angenommen hat, ich hätte unter Reduktion der Variabilität lediglich eine Eın- schränkung der Zahl der möglichen Variationen gemeint. Von diesem Gesichtspunkt aus hat er meine Beweise geprüft und ab- zuschwächen versucht. Ob letzteres ihm gelungen ist, darüber möge der Leser entscheiden.

Immerhin hat Plate nicht in Abrede stellen können, dass es sich nicht aus Nützlichkeitsgründen erklären lässt, wenn verlorene Organe nicht wiederkehren .und in Rückbildung begriffene Organe keine progressive Entwickelung wieder annehmen, wenn meristische Organe die Tendenz haben, hinsichtlich ihrer Zahl fixiert zu werden, wenn im allgemeinen viele Gruppencharaktere als unveränderlich angesehen werden können, vielmehr hat er gestanden, dass bei diesen Erscheinungen innere Gründe (nach ihm, fixierte Vererbung) tätig sind.

Auch hat Plate sehr wohl eingesehen, dass mit jeder Fixierung oder Spezialisierung eines Charakters ganze Reihen von möglichen Entwickelungsbahnen auf einen Schlag ausgeschlossen werden.

348 Rosa, Es gibt ein Gesetz der progressiven Reduktion der Variabilität.

Insoweit decken sich Plate’s Anschauungen mit den meinigen ziemlich gut. Weiterhin aber macht sich eine scheinbare Divergenz zwischen uns geltend.

Während ich aus den oben erwähnten Tatsachen auf eine mit der phylogenetischen Entwickelung gleichen Schritt haltenden Reduktion der Variabilität schliesse, welche von den Substitutions- prozessen wohl verlangsamt, nicht aber aufgehoben werden kann, sagt Plate dagegen „Von einer reduzierten Variabilität kann man aber nur dann sprechen, wenn die Abänderungsbreite, d. h. die Summe aller möglichen Veränderungen geringer geworden ist“ und bemerkt, dass im Laufe der Phylogenie diese Summe fort- während zunehmen muss. Wie gesagt, ist diese Divergenz nur eine scheinbare. Denn ich gebe Plate völlig zu, dass eine in diesem Sinne gemeinte progressive Reduktion der Variabilität keineswegs mit dem Fortschreiten der phylogenetischen Entwicke- lung verbunden ist. Aber schon in den ersten Seiten dieses Artikels habe ich erklärt, dass bei dem Begriffe von Reduk- tion nicht die Zahl der (möglichen oder reellen) Variationen für mich maßgebend war, sondern vielmehr deren Bedeutung oder Tragweite.

Man sieht also, dass Plate größtenteils gegen eine Auffassung gekämpft hat, die gar nicht die meinige ist. Aus vielen des von ihm Gesagten ersehe ich vielmehr, dass die Meinungsverschieden- heit zwischen uns beiden keine sehr bedeutende sein kann.

Hätte aber Plate meinen Standpunkt richtiger erkannt, so würde er vielleicht eine andere Einwendung gegen mich ge- richtet haben.

Er hätte nämlich gesagt: Wenn man, wie Rosa tut, mit der progressiven Reduktion der Variabilität das Aussterben der Arten erklären will, dann muss man notwendig unter Variabilität die Summe der den einzelnen Arten wirklich zur Verfügung stehenden Vari- ationen verstehen, denn von diesen hängt das Anpassungsvermögen der Arten ab. Eine Reduktion der Variabilität im Sinne Rosa’s kommt dabei nicht in Betracht, denn es muss für das Fortbestehen einer gegebenen Art gleichgültig sein, ob die Variationen, die sie hervorzubringen vermag, in entfernter Zukunft zu unter sich grund- verschiedenen Formen führen werden oder nicht. Das Wohl und Weh einer Art kann sehr oft von Variationen abhängen, denen keine tiefe morphologische Bedeutung zukommt.

Einer solchen Äußerung hätte ich folgendes erwidert:

Das Problem des Aussterbens der Arten bildete nur den Aus- sangspunkt, nicht aber den eigentlichen Zweck meiner Ausführungen.

Auch hat es sich bei diesen nicht darum gehandelt, das Aus- sterben einzelner Arten zu erklären. Solche gehen fortwährend innerhalballer Abteilungen zugrunde, und wenn in einer und derselben

Schneider, Zur Frage von der Entstehung neuer Arten bei Cestoden. 349

Gruppe die einen Arten fortleben, während andere (nicht minder veränderungsfähige) absterben, da sind in erster Linie die Ver- hältnisse des Kampfes ums Dasein tätıg.

Wenn aber ganze Gruppen untergehen, da tritt nicht mehr der Kampf ums Dasein, sondern die Verminderung der Veränderungs- fähigkeit in den Vordergrund. Bei diesen Gruppen kann sehr wohl die Zahl der möglichen Variationen eine sehr beträchtliche bleiben, die Variationen sind aber nicht tiefgreifend genug. Aus diesem Grunde haben sich innerhalb der betreffenden Gruppe nicht so grundverschiedene Einrichtungen herausbilden können, wie es für das Entstehen von Nachkommen, welche mit der gewünschten Anpassungsfähigkeit versehen waren, unbedingt nötig war.

Schließlich ein paar Worte über die letzte Seite der Plate’- schen Schrift.

Wenn Plate sagt (S. 655) „Die Variabilität hat nie völlig gefehlt, aber sie hat oft genug zu langsam und zu unvollkommen gearbeitet, um den phyletischen Tod verhindern zu können“, da kann ich ihm noch einmal Recht geben. Dieses Plate’sche Ge- ständnis einer Unvollkommenheit der Variabilität kann ich aber nicht gut mit seinem anderen Satz in Einklang bringen, nach welchem das Aussterben der Arten nur durch äußere Ursachen bedingt wird. Veränderungen der Außenwelt einerseits, Unvoll- kommenheit der Variabilität andererseits, sind wohl die zusammen- wirkenden äußeren und inneren Ursachen des Artentodes!).

Zur Frage von der Entstehung neuer Arten bei Cestoden. (Vorläufige Mitteilung.)

Von Dr. Guido Schneider, Reval.

Mit der Systematik von Cestoden seit einigen Jahren mich beschäftigend, habe ich namentlich bei der Untersuchung einer Reihe von Ichthyotaenien, deren Beschreibungen ich an einem anderen Orte publizieren werde, folgende interressante Korrelation zwischen den männlichen und weiblichen Befruchtungen gefunden. Bei Arten mit langer Cirrusscheide, d. h. wo die Cirrusscheide !/, oder !/, der Breite des Gliedes durchmisst, verläuft der Cirrus- kanal gerade oder nur wenig gewellt, ohne sich zu einer Vesicula seminalis zu erweitern. Die Vagina ist bei diesen Arten mit einem kräftigen Sphincter versehen. Der in einiger Entfernung von der Mündung die Vagina deutlich einschnürt. Sehr undeutlich und nur aus wenigen schwachen Ringmuskelfasern dicht an der Mündung

1) Vergl. über diesen Gegenstand: Abel: Über das Absterben der Arten (Comptes Rendus IX Congres geol. internat. de Vienne 1903). Wien 1904,

350 Schneider, Zur Frage von der Entstehung neuer Arten bei Cestoden.

bestehend ist der Sphincter vaginae bei den anderen Arten, die sich durch sehr kurze Cirrusscheiden auszeichnen, in deren proximalem Abschnitt der Cirruskanal nicht nur Schlingen bildet, sondern sich auch zu einem mehr oder weniger deutlichen Bläschen, der Vesicula seminalis, erweitert. Dabei trifit es sich, dass Arten mit langer und kurzer Cirrusscheide sehr nah sonst miteinander verwandt sein können, z. B. Ichthyotaeniapercae Ö.F. Müller aus dem Barsch (langer Cirrus) mit I. macrocephala Creplin aus dem Aal (kurzer Cirrus) und 7. esocis n. sp. aus dem Hecht (langer Cirrus) mit I. ambigua Duj. aus dem Stichling (kurzer Cirrus). Dass bei freilebenden Tieren die nächstverwandten Spezies sich oft bezüglich der primären (eschlechtscharaktere so ungleich verhalten, dass diese Unterschiede gern als Artmerkmale verwendet werden, ıst eine altbekannte Tatsache.

Diese merkwürdige Divergenz ım Bau der äußeren Geschlechts- organe bei nah miteinander verwandten Arten hat verschiedene ein- ander zum Teil widerstreitende Hypothesen gezeitigt, die jedoch darin übereinstimmen, dass der durch die veränderten Genitalien unmöglich gemachten oder wesentlich erschwerten Kopulation eine weitgehende Bedeutung bei der Entstehung neuer Arten zuzuschreiben sei. Das unter dem Namen „physiological selection“ seit der grund- legenden Abhandlung von G.J. Romanest) bekannte Prinzip, welches eine starke Entlastung der „natural selection“ bei der Artbildung bedeutet, beruht wesentlich auf der erfahrungsgemäß vorhandenen Schwierigkeit, Individuen verschiedener Arten, namentlich oft der am nächsten miteinander verwandten Spezies miteinander zu paaren. W. Petersen’s?) Forderung, „dass bei der Formulierung des Art- begriffes dem physiologischen Moment die Rolle eines dominierenden Faktors zugewiesen werde“, ıst durchaus zeitgemäß; denn a priori muss zugestanden werden, dass eine Art sich schon in zwei Arten geteilt hat, sobald sich unter den sie zusammensetzenden Individuen zwei Gruppen gebildet haben, deren Mitglieder nur noch innerhalb der neu aufgetretenen, vielleicht morphologisch noch gar nicht nach- weisbaren physiologischen Schranke sich fruchtbar paaren können. Hinsichtlich der Entstehung der erwähnten physiologischen Schranke, oder der physiologischen Isolation, sind die Meinungen noch sehr geteilt. L. Plate®) meint: „Die morphologische Divergenz ist das Primäre; sie erzeugt in den meisten Fällen, wenngleich nicht immer, auf verschiedene Weise die physiologische.“ Dagegen sieht

1) G. J. Romanes, Physiological Selection. Journ. Linn. Soe. (zool.), Vol. 19, 1886, p. 337—411.

2) W. Petersen, Entstehung der Arten durch physiologische Isolierung. Biol. Centralbl. Bd. 23, 1903, p. 468—477.

3) L. Plate, Über die Bedeutung des Darwin’schen Selektionsprinzips. Leipzig 1903, p. 200.

Schneider, Zur Frage von der Entstehung neuer Arten bei Cestoden. 351

K. Jordan!) in der geographischen Variation die „Grundlage der Speziesbildung, und sie allein gibt uns für die gegenseitige Sterilität der Arten die Erklärung.“ W. Petersen (l. e.) wirft aber die Frage auf, „ob nicht die Bildung neuer Arten überhaupt vorzugs- weise von Mutationen der Suxualorgane ihren Ausgang nimmt.“ Die Meinungen sind also geteilt, und die endliche Lösung der Frage von der Bedeutung der physiologischen Isolation für die Entstehung von Arten ist noch nicht gefunden. Sehen wir zu, welches Licht meine Erfahrungen an den Ichthyotaenien auf diese Frage werfen; denn es kommt hier durch den strengen Parasitismus ein Faktor hinzu, der mit in Betracht gezogen werden muss.

Man sollte meinen, dass die durch den Parasitismus bewirkte biologische Isolation genüge, um die Bildung neuer Arten kräftig zu unterstützen. Die Larven der Cestoden müssen sich ja oft an sehr verschiedene Zwischenwirte und die ausgebildeten Würmer an verschiedene Wirte anpassen, wodurch manche Arten stark variieren. Die Larve von Bothriocephalus latus lebt z. B. nicht nur in diversen Geweben des Hechtes, sondern auch ım Barsch, Kaulbars, in der Quappe und in Salmoniden, während der Bandwurm selbst nicht nur ım Darm des Menschen, sondern auch gelegentlich in dem von Hunden und Katzen gefunden wird. Trotzdem bilden alle Indivi- duen von B. latıs aus Menschen, Hunden und Katzen zusammen mit ihren Larven aus diversen Fischen nur eine einzige Spezies. Denn obgleich es ausgeschlossen ist, dass em Exemplar aus einer Katze sich mit einem Exemplar aus einem Menschendarm direkt kopuliert, so kommt doch offenbar eine genügende Mischung der Charaktere dadurch zustande, dass die Nachkommen dieses Band- wurmes aus Menschen, Hunden und Katzen, vom Zufall bunt durch- einander gewürfelt, nicht immer in das Gewebe derselben Fischart als Larve und nicht immer in den Darm derselben Säugetierart als erwachsener Bandwurm versetzt werden, wo der elterliche Band- wurm lebte. Die parasitische Isolation verhindert also nicht die arterhaltende Wirkung einer Panmixie. Nur durch das Hinzu- kommen von geographischer Isolation könnte z. B. in einer Gegend, wo kein Mensch mehr Fische genießt, aus dem Bothriocephalus latus eine kleinere in Hunden und Katzen lebende Variation zur Varietät, vielleicht zur neuen Art werden. Wie bei den freilebenden Tieren und Pflanzen, so kann auch bei den parasitischen die geographische Isolation durch die physiologische, nämlich sexuelle, ersetzt werden. Darauf deuten meine allerdings noch recht spärlichen Erfahrungen hin, die ich an Ichthyotaenien machte. Zugleich zeigen sie den Weg an, auf dem wahrscheinlich neue Arten von Eingeweidewürmern

1) K. Jordan, Bemerkungen zu Herrn Dr. Petersen’s Aufsatz ete. Biol. Centralbl. Bd. 23, 1903, p. 664.

352 Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht etc.

entstehen. Gerät z. B. eine Bandwurmlarve in einen neuen, fremden Wirt, in dem die Art hinternach nicht parasitierte, so geht sie in den meisten Fällen zugrunde. Gelingt es ihr, sich den neuen Verhält- nissen zu adaptieren, so wächst sie in der Mehrzahl der Fälle zu einem Bandwurm heran, der, vom Arttypus mehr oder weniger verschieden, eine Variation durch Anpassung darstellt, wie z. B. Botriocephalus latus ın der Katze, oder B. punctatus in Cottus bubalis und Motella mustela u. s. w. Aber nur dann, wenn durch Auftreten einer zufälligen erblichen Variante (etwa durch Mutation) im Bereiche der Generationsorgane, gleichviel wann, eine Schranke gegen die Stammart errichtet wird, entsteht eine neue Art.

Die morphologische Variaton im Verein mit der unvoll- ständigen biologischen Isolation durch Parasitismus sind allein nicht imstande, Arten zu bilden, wenn nicht als drittes Moment die physiologische, d.h. sexuelle Isolation hinzukommt.

Weit entfernt von der Meinung, im obenstehenden eine große Frage endgültig beantwortet zu haben, habe ich nur beabsichtigt, durch meinen kleinen Beitrag aus dem Gebiete der Helminthologie zu weiteren Forschungen auf diesem Gebiete anzuregen.

Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht und Fischerei. Von Dr. Otto Zacharias (Plön). (Schluss.

Vor allem und in erster Linie bildet die Kenntnis der bisher auf hydrobiologischem Gebiet ermittelten Tatsachen die Basıs für die Forschungstätigkeit einer künftigen Fischereiversuchsanstalt. Ich habe dies schon unlängst beim Entwurf der Skizze eines Spezial- programms für fischereiwissenschaftliche Untersuchungen!) gebüh- rend betont, finde aber auch schon von Susta hervorgehoben), dass es „ein Bedürfnis für die ganze Wasserwirtschaft sei, alle gegenseitigen Beziehungen der Teichbewohner zu kennen. Dieses Postulat ist aber nicht so leicht erfüllbar, als mancher Vertreter des Fischereifachs meint, denn es haben sich zu diesem Behufe Zoologie, Botanik (Phykologie) und Bakteriologie zu gemeinsamer Tätigkeit zu verbinden. Die Mithilfe der Chemie wird dabei gleichfalls willkommen sein, um erfolgreich in die verwickelten Vorgänge eindringen zu können, welche jahraus jahrein in einem

1) Jahresbericht des Zentralfischereivereins f. Schleswig-Holstein 1905. (9) = Ä 7] 2) IE: ©. S, 19.

Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete. 353

größeren Teichbecken, das Fische aufzunehmen bestimmt ist, sich abspielen !).

Glücklicherweise sind nach dieser Richtung hin schon Vor- arbeiten umfassendster Art durch die biologischen Süßwasserstationen geleistet worden Arbeiten, welche bei voreiliger Beurteilung nur ein rein wissenschaftliches Interesse darzubieten schienen, jetzt aber auf einmal in das engste Verhältnis zu einem durchaus prak- tischen Berufszweige treten. Denn ohne eine gründliche Kenntnis dessen, was ein Teich oder See in seinem Schoße beherbergt und welche Beziehungen der Abhängigkeit zwischen den verschiedenen wasserbewohnenden Repräsentanten des Tier- und Pflanzenreichs (einseitig oder reziprok) obwalten, wird niemals eine rationelle Wasserwirtschaft möglich seın.

Das Nichtunterrichtetsein in dieser Hinsicht macht sich auch sonst noch häufig bei allerleı das Wasser angehenden oder die Fischerei betreffenden Fragen bemerklich. Man braucht nur ge- legentlich Einblick in Gutachten zu nehmen, welche sich auf Fluss- verunreinigungen, Abwässerkalamitäten, Algenwucherungen, Ge- schmacks- und Geruchsveränderungen von Trinkwasser etc. beziehen, um alsbald inne zu werden, welches hohe Maß von Unkenntnis betreffs süßwasserbiologischer Tatsachen selbst in den- jenigen Kreisen verbreitet ist, aus denen sich gegenwärtig (wegen Mangels an geschulten Hydrobiologen) viele sogenannte „Sachver- ständige“ rekrutieren. Die Regierung und ihre Behörden befinden sich oft in der üblen Lage sagen zu müssen: wir nehmen den zum Gutachter, der am wenigsten unwissend ist, da solche, die auf dem in Betracht kommenden Felde geschult wären, überhaupt schwer zu ermitteln sind, weil sie keine Beamtenkategorie bilden, sondern nur sporadische Erscheinungen sind, die sich aus persön- liehem Interesse oder weil sie gerade Gelegenheit dazu fanden, mit den Ergebnissen der modernen ones bekannt gemacht haben. Vs Entschuldigung für diejenigen, welche sich dineh diese Charakteristik der Sachlage getroffen fühlen, kann freilich dienen, dass auf Universitäten zurzeit so gut wie keine Gelegenheit vor- handen ist, sich eingehender mit den Resultaten der Süßwasser- biologie zu befreunden?). Die gegenwärtig in Deutschland be-

1) Prof. N. Zuntz (Direktor des tierphysiol. Laboratoriums der landwirt- schaftl. Hochschule zu Berlin) hat sich unlängst über denselben Punkt ausge- sprochen und zwar wie folgt: „Hier kommen in Betracht einerseits Zoologie und große Teile der Botanik, Hydrologie, Klimatologie, Bodenkunde andererseits Physiologie und physiolog. Chemie, Entwickelungsgeschichte einschließlich Ver- erbungslehre, vergleichende Pathologie und als deren Grundlage: Bakteriologie“. Er stellt also außerordentlich hohe Anforderungen an ein solches Institut (Fischerei- zeitung Nr. 37, 1904).

2) Ein gewisser Ersatz dafür ist das empfehlenswerte neuere Werk von C. Mez (Halle a. S.): Mikroskopische Wasseranalyse (1898), welches eine

XXV. 23

354 Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete.

stehenden biologischen Stationen besitzen aber auch ihrerseits noch nicht die hinreichende Ausgestaltung, um als Lehrinstitute für das Fach der biologischen Gewässerkunde zu dienen. Die Anstalt zu Plön beispielsweise, als die größte und älteste Arbeitsstätte dieser Art, wird erst in allerneuester Zeit von den maßgebenden Instanzen als Forschungsfaktor betrachtet, dessen Tätigkeit über das Ver- suchsstadium hinaus ist und dessen wissenschaftliche Leistungen wirklich eine Lücke in unserer Kenntnis von den niederen Lebensformen ausfüllen. Aber die beschränkte Einrichtung der Plöner Anstalt qualifiziert dieselbe lediglich nur zu einer Forschungs- gelegenheit für eine kleinere Anzahl von Gelehrten, die bescheidene Ansprüche an die Räumlichkeiten und das Instrumentarium stellen. Von einer allen Ansprüchen genügenden Ausrüstung kann hier nicht die Rede sein, weil von Anbeginn her nur beabsichtigt war, dem Stationsleiter ım Verein mit einigen Mitarbeitern die Möglich- keit zu eröffnen, sich mit dem Reichtume und der Mannigfaltigkeit des Lebens im Süßwasser bekannt zu machen. Nur in diesem Sinne ist seinerzeit (1590) von Sr. Exzellenz dem preußischen Kultusminister v. Goßler die Begründung eines biologischen Obser- vatorıums am Großen Plöner See in Aussicht genommen worden, und ich war froh, damals den Sperling (in Gestalt einer sehr be- scheidenen Subvention) in dıe Hand zu bekommen, anstatt erfolg- los nach der Taube auf dem Dache (als welche eine kostspieligere Einrichtung zu betrachten gewesen wäre) Jagd zu machen.

Ich habe schon vor einiger Zeit einmal über die allgemeine wissenschaftliche Bedeutung der hydrobiologischen Disziplin, wie sie sich allmählich herausgebildet hat, gesprochent), aber ich möchte mir nicht versagen, auch an dieser Stelle und im Zusammenhange mit dem bisher Dargelegten, nochmals auf dasselbe Thema in Kürze zurückzukommen. Es kann, glaube ich, konstatiert werden, dass namentlich die Bekanntschaft mit der frei und ungebunden ım Wasser schwebenden Organismenwelt der aktuellen biologischen Forschung ein viel bestimmteres und imposanteres Gepräge als sie früher besaß, verliehen hat, und zwar ist dies hauptsächlich nach V. Hensen’s epochemachender Erschließung jenes bis dahin nur mangelhaft bekannten Studiengebietes hervorgetreten. Seit kurzem erst, nachdem es uns klar geworden, dass jedes relativ abgeschlossene Wasserbecken, jeder durch besondere hydrographische und klimatıi- sche Verhältnisse begrenzte Meeresteil eine Welt für sich ist, ın welcher die winzigen und die größeren Lebensträger durch ein bald

umfassende Anleitung zur Erwerbung solcher Kenntnisse gibt, wie sie Ärzte, Hy- gieniker, Chemiker und Wassertechniker vielfach benötigen.

1) Über die systematische Durchforschung der Binnengewässer und ihre Beziehung zu den Auen der allgem. Wissenschaft vom Leben. Biol. Central-

blatt, Ba, XXIV. Nr. 20, 1904.

Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete. 355

mehr, bald minder kompliziert gewobenes Netz von Beziehungen miteinander verkettet sind erst demzufolge hat die Forschung viele neue Impulse, zahlreiche bisher nicht bekannte Aufgaben und ein bedeutend erhöhtes Interesse nicht bloß für die Fach- gelehrten, sondern auch für jeden gebildeten Menschen er- halten. 3

Von jemand, der die Wichtigkeit des sogenannten „Plankton“ (alias „Auftrieb“) im Haushalte der Natur unterschätzt, kann man mit voller Berechtigung sagen, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Denn die augenfälligen Organısmen unserer süßen und salzıgen Gewässer stehen numerisch etwa ın demselben Ver- hältnis zu der sie umgebenden flottierenden Lebewelt, wie die jagd- baren Tiere in einem großen Forste zu dessen Bäumen, Gebüschen und der auf diesen angesiedelten Kleinfauna. Dieser Vergleich ist nicht nur ein äußerlicher, sondern trifft genau den Kern der Sache. Denn wie im Walde die Bäume, Sträucher und Grasflächen nicht lediglich eine Dekoration sind, die das Auge des Jägers erfreut, sondern bei weitem mehr, indem sie tatsächlich den größeren Ge- schöpfen, die dort hausen, zu Ruheplätzen, Schlupfwinkeln und zur Nahrung dienen so hat auch das Plankton ım Verein mit den submersen, massigeren Wasserpflanzen ganz die gleiche Bedeutung für die aquatile Tierwelt, wie der Wald, welcher Kaninchen, Raubzeug und Hochwild nicht bloß in seine Dickichten birgt, sondern dies alles auch mit der erforderlichen Äsung versieht. Je mehr wir uns mit Studien über den zwar wenig in die Augen fallenden, aber quantitativ sehr überwiegenden flottierenden Teil der Be- wohnerschaft unserer Gewässer beschäftigen, desto staunenswerter enthüllt sich uns dessen Mannigfaltigkeit und um so unterschied- licher stellt sich uns die Formenfülle in den einzelnen Gruppen dar, welche mit vielen anderen zusammen die planktonische Organismengesellschaft ausmachen. Ich erinnere in diesem Bezuge bloß an die Radiolarıen und die Bacillariaceen, wovon die ersteren freilich nur im Meere, die letzteren aber sowohl in diesem als auch überall in unseren Binnenseen anzutreffen sind, mit der Einschränkung jedoch, dass nur wenige Gattungen derselben den süßen und salzigen Gewässern gemeinsam angehören.

Hat nun eine fis-hereibiologische Versuchsanstalt, wie sie für die Zukunft geplant ist, in allererster Linie die Aufgabe, die Er- nährungsweise und das Wachstum der wichtigsten Nutzfische zu kontrollieren, so geht doch unmittelbar Hand in Hand damit auch die Ergründung der Nahrungsverarbeitung im Körper derselben, also die Erforschung der Vorgänge bei der Verdauung und der Atmung, sowie eine nähere Untersuchung der ausgeschiedenen Fäkalien und Nierensekrete, um ein Gesamtbild von der Physiologie dieser Tiere entwerfen zu können. Alle diese Funktionen müssen

VIE u)

356 Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete.

weiterhin auch in Abhängigkeit von der Temperatur!), vom Sauer- stoffgehalte des Wassers, vom Lebensalter und von der besonderen Rasse studiert werden, da letztere als ein Faktor anzusehen ist, welche dem praktischen Züchter und Teichwirt nicht selten einen Strich durch die Rechnung macht?).

Gleichzeitig mit solchen physiologischen Forschungen und Ver- suchen muss aber eine gründliche Exploration des Planktons ım gan- zen, besonders jedoch eine solche der die Fischnahrung bildenden Schwebewesen in Angriff genommen werden. Auch hier spielen natürlich die mineralischen und organischen Stoffe, sowie die Temperaturverhältnisse und die Beleuchtungsintensitäten im Verein mit den zur Ernährung der Kleinfauna dienenden Pflanzen (Grün- algen, Diatomeen, Bakterien) eine beachtenswerte Rolle Hier an- schließend ist dann der Anteil zu ermitteln, den die verschiedenen tierischen (resp. pflanzlichen) Planktonkomponenten an der Ernährung der Teichfische besitzen. Ist nun auch Vieles nach dieser Richtung schon durch die bestehenden Süßwasserstationen und besonders durch die zu Plön geleistete Kollektivarbeit zahlreicher Forscher klargestellt worden), so bleibt es doch den Beamten einer Fischerei- versuchsanstalt nicht erspart, sich durch eigene Beobachtung und Erfahrung mit den mikroskopischen Wasserbewohnern vertraut zu machen; denn auf dem Wege einer bloß dogmatischen Überlieferung ist es nicht möglich, sich lebendige, gebrauchsfähige und im wahren Sinne des Wortes fruchtbare Kenntnisse anzueignen. Die Vornahme ausgedehnter Planktonforschungen am Süßwasser bildet demnach ein erstes Erfordernis für die Gewinnung einer soliden Grundlage für alle anderen Studien und Experimente, die in einer fischerei- wirtschaftlichen Station zur Ausführung kommen sollen. Es stehen diese Forschungen auch in engster Beziehung zu der praktisch sehr wichtigen Frage, ob eine mehr oder weniger bedeutende (quanti- tative) Entwickelung des tierischen Planktons in einem Teiche, resp. See, als ein Maßstab für die Fruchtbarkeit derselben, d. h. für den in ihnen erzeugten Ertrag an Fischfleisch betrachtet werden kann. Obgleich, wie wir wissen, ım allgemeinen nur behauptet werden darf, daß es die Jungfische aller Gattungen sind, welche sich von den animalischen Schweborganismen ernähren, während die mehr herangewachsenen, älteren Individuen auch der Bodenfauna

1) Hiervon werden auch schon die jüngsten Entwickelungsstadien beeinflusst, wie erfahrene Praktiker konstatiert haben. Susta hebt dies ausdrücklich hervor und sagt: „Schon bei der Befruchtung der abgelegten Eier und im aufkeimenden Leben derselben versagt nicht selten der Witterungslauf seine unentbehrliche Mithilfe“.

2) Mit Bezug hierauf lese man das lehrreiche Kapitel XVI bei J. Susta (l. c. S. 137—143).

3) Vergl. die bisher erschienenen zwölf umfangreichen Jahresberichte der Biolog. Station in Plön, Verlag von Erwin Nägele, Stuttgart.

Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete. 357

ihren Appetit zuwenden, so hat sich doch empirisch herausgestellt, dass eine Abschätzung (Bonitierung) der Fischgewässer bezüglich ihrer Produktivität in ökonomischer Hinsicht auf Grund des mehr oder weniger reichlichen Planktongehalts möglich ist, was wie jeder ermessen kann von außerordentlichem Werte für eine richtige Disposition im Betriebe größerer Teichwirtschaften sein muss. Bei meinen hierauf gerichteten Versuchen gelang es mir vor einigen Jahren (1903), in einem sächsischen und einem schlesi- schen Fischereibetriebe!) lediglich auf Grund von Planktonmessungen die ergiebigeren von den weniger rentablen Karpfenteichen mit Sicherheit zu unterscheiden, was die Besitzer, resp. die Verwalter derselben sofort für diese Art der Bonitierung einnahm. Und ganz vor kurzem (1904) konnte ich an zweı kleineren Seebecken unweit von Mailand?), welche ich in Begleitung eines namhaften italieni- schen Fischereisachverständigen besuchte°), durch eine bloß ein- malige Untersuchung, die im Monat Mai stattfand, sogleich bekunden, welcher von den beiden (Lago Varano und Lago Monate) der pro- duktivere in fischereilicher Hinsicht sei. Jener Fachmann erhielt durch mich jedoch nur die Bestätigung seiner eignen Beobachtungen, die ihm aber wertvoll war, da dieselbe von einem mit der be- treffenden Lokalität sonst nicht vertrauten Fremden ausging. Natürlich liegen die Verhältnisse auch manchmal komplizierter, und dann ist die Bonitierung, welche das Planktonnetz an die Hand gibt, durch anderweitige Beobachtungen und Erwägungen zu er- gänzen. Wissen wir doch z. B., dass großer phanerogamischer Pflanzenreichtum neben seiner wirklichen Funktion als Sauerstoff- spender auch den Nachteil einer stärkeren Beschattung mit sich bringt, wodurch die in seinem Bereiche liegenden Wasserschichten kühl gehalten werden. Dies ist besonders der Fall von seiten solcher Gewächse, deren assımilatorische Blattorgane sich flächen- haft auf dem Wasserspiegel ausbreiten. Dazu kommt aber noch, dass eine üppige Wucherung der aquatischen Flora dem Teichboden sehr viele Nährstoffe entzieht, die zur Vermehrung der flottieren- den mikroskopischen Algen verwendet werden könnten, welche ein direktes Futter für viele Spezies von Infusorien und Krustazeen bilden. Andererseits sind die höheren Pflanzenformen auch wieder in der Weise nutzbringend, als sie eine etwa zu kräftig bemessene Dosis von Jauche oder Fäkalien, die man einem Gewässer behufs dessen Düngung zugeführt hat, rasch wieder ausgleicht und auf

1) Es waren dies die Teichwirtschaften des Rittergutsbesitzers U. von Box- berg auf Zschorna bei Radeburg (Königr. Sachsen) und diejenige des Reichsgrafen L. von Schaffgotsch zu Giersdorf b. Warmbrunn.

2) Vgl. O. Zacharias: Hydrobiologische und fischereiwirtschaftliche Beobach- tungen an einigen Seen der Schweiz und Italiens. 1905.

3) Cav. Giuseppe Besana (Oernobbio-Milan o).

358 Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete.

diese Art jede schädigende Wirkung annulliert. Nebenbei hefert der Pflanzenbestand auf dem Grunde eines Teiches (Elodea z. B.) auch Verstecke und Unterstandsplätze für manche Fische; gleich- zeitig dient eine solche Vegetation aber auch noch zur Aufnahme der Eier von Sommerlaichern, die sonst ın den Schlamm hinabfallen und dort verkommen würden. Aus alledem geht somit hervor, dass die Bonitierung eines größeren Teiches oder Sees nicht immer eine einfache und leicht zu erledigende Sache ıst. Zu den Aufgaben einer fischereiwirtschaftlichen Versuchsstation gehört es demnach, alle diese Verhältnisse näher zu erforschen und Methoden ausfindig zu machen, welche in schwierigeren Fällen die sonst durchaus rationelle Bonitierung mit dem Planktonnetze zu vervollständigen vermögen.

Worin es im speziellen begründet ist, dass das Vorhandensein eines größeren Betrages von tierischem Plankton die Garantie für entsprechend günstigere Abwachsresultate in den bezüglichen Teich- boden liefert dies ist freilich noch nicht hinlänglich ermittelt. Dass aber ein ursächlicher Zusammenhang zwischen beiden Klassen von Tatsachen obwaltet, ist durch die bisherige Bonitierungspraxis erwiesen, und es ist offenbar unmöglich, dass dabei nur der Zufall ın Gestalt einer ganzen Serie von richtigen Resultaten bisher sich geltend gemacht habe. Wahrscheinlich liegt eine Erklärung für das, was die bloße Induktion in dieser Hinsicht bis jetzt zutage gefördert hat, darin: dass die reichliche (und oft sogar überreich- liche) Ernährung der Setzlinge im Plankton eine derartige Wirkung auf das spätere Wachstum ausübt, dass dasselbe von jener Zeither, wo das natürliche Futter im Überfluss für die Jungfische vorhanden war, eine Tendenz zur Be- schleunigung erhält, die auch bei späterer bescheidener Ernährung durch die Bodenfauna (Insektenlarven, Schlammwürmer, Schnecken) noch fortdauert.

Man muss, um dies glaubhaft zu finden, von folgender physio- logischer Erwägung ausgehen. Der Fisch befindet sich unsern Haus- tieren gegenüber in der vorteilhaften Lage, dass er ein Kaltblüter ist, resp. dass er bezüglich seiner Körpertemperatur mit derjenigen des Elements übereinstimmt, welches ihn von allen Seiten umspüilt. Während unser landwirtschaftliches Nutzvieh eine hohe Eigen- temperatur besitzt und diese durch reichliche Futteraufnahme auf einen gewissen Optimum zu halten bestrebt ist, damit der Gesund- heitsstand sich behaupte, ist der Fisch einer solchen Leistung ganz überhoben und erfährt keine erhebliche Schädigung durch ein starkes Absinken der Temperatur. Der Fisch befindet sich außer- dem auch immer auf der Weide und, wie in Schlaraffenland, fliegen ihm die besten Bissen beinahe von selbst in den Mund. Er ist ın einem guten Teiche allerwärts von Nahrung umgeben und leidet niemals Not, so lange er ım Jugendstadium ist. Schon als

Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete, 359

Embryo wird er dem fortwährenden Jagen nach Nahrung angepasst, insofern er das Schwimmen nicht erst zu erlernen braucht: er kann es von dem Momente ab, wo er das Ei verlässt und seine Augen, die das wichtigste Sinneswerkzeug für ihn sind, bilden sich schon so früh aus, dass sie bereits an ganz jungen Fischehen hervortreten und als zwei schwarze Punkte durch die Eihülle hindurchschimmern, lange bevor an ein Ausschlüpfen des Tierchens zu denken ist.

Auch ist das Plankton namentlich dann immer am üppigsten vorhanden, wenn dank der höhern Frühlings- und Sommer- wärme die Fresslust der jungen Fische am regsten ist. Es ist hier besonders vom Karpfen die Rede, dessen Lebensgewohnheiten wir am genauesten kennen. Geht dann späterhin die Wassertempe- ratur zurück, so vermindert sich bei ihm auch die Fresslust und das Bedürfnis zur Nahrungsaufnahme. Dazu kommt noch nach den Beobachtungen des schon mehrfach zitierten J. Susta —, daß der Organismus des Fisches eine ganz ungleichmäßige Ernährung ohne Schädigung seiner Körpermasse recht wohl verträgt, und dass er die eingetretenen Pausen in der Futteraufnahme durch nach- folgende reichere Äsung wieder quitt zu machen imstande ist!).

Diese gänzlich abweichenden Verhältnisse verbieten auch jede weitergreifende Analogie hinsichtlich der Fischernährung und der- jenigen unserer Haustiere. Wenn der Karpfen seiner Gewohn- heit nach vom Oktober bis zum März hungert, so zeigt er dabei durchaus keine besondere Abnahme an Körpergewicht, denn es hat sich herausgestellt, dass sechspfündige Exemplare während jenes doch ziemlich langen Zeitraums nur 4—8°/, embüßten, wozu sich bei Warmblütern gar kein Pendant finden würde. Unter solchen ganz eigenartigen Umständen wäre es nun auch leicht denkbar, dass eine sehr reichliche Jugendernährung in der Weise auf die Verdauungsfunktion des Karpfens einwirkte, dass dieselbe dadurch befähigt würde, die spätere, weniger reich bemessene Nahrung besser auszunützen und in einem höhern Maße für die Körperentwickelung zu verwerten, als dies vielleicht von seiten ursprünglich schlecht oder unzureichend ernährter Exemplaren der Fall wäre. Gibt es doch unter den heutigen Züchtern in der Tat vielfach solche, welche überhaupt die reichliche Jugendernährung zum Zuchtprinzip erheben und die von einer stärkeren Fütterung der älteren Altersstufen dieses Fisches gar nichts wissen wollen?). Dies spräche also sehr zugunsten der von mir gemachten theoretischen Annahme und er- klärte es, inwiefern ein kausaler Zusammenhang zwischen großer Planktonfülle und guten Abwachsverhältnissen in einem bestimmten Teichbecken vorhanden sein dürfte.

Ebenso abweichend und mit den Bedürfnissen der Warmblüter

Deossustz-k e@ S- L16, 2) BustarLre 8 18:

360 Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete.

garnicht in Parallele zu stellen, ist auch die Atmung bei Fischen. Nach den Untersuchungen des französischen Physiologen Paul Regnard!) schwankt der Oxygengehalt der natürlichen Gewässer zwischen 3—10 cem im Liter. Daraus folgt aber, dass die Menge von Sauerstoff, welche wirklich mit den respiratorischen Organen (Kiemen) der Fische in Berührung kommt, viel geringer sein muss, als bei denjenigen Tieren, welche mit Lungen atmen. Während nämlich ein Liter atmosphärischer Luft für die Atmung 210 ccm Sauerstoff darbietet, geschieht dasselbe von seiten eines Liters luft- haltigen Wassers nur in einer Menge, die 10—20 mal geringer ist. Mithin ıst die Quantität von Oxygen, welche einem im Wasser lebenden Tiere zur Verfügung steht, so klein, als atmete es eine Luft, in der weniger als 1°/, von jenem Gase enthalten ist. Damit würde nun anscheinend dokumentiert werden, dass jene Wasserbewohner mit einer äußerst geringen Quantität Sauerstoff auskommen können.

In neuester Zeit hat aber diese Auffassung von Regnard durch die wichtigen und noch garnicht hinlänglich bekannten Untersuchungen von N. Zuntz?) eine bemerkenswerte Korrektur erfahren, insofern der letztgenannte Berliner Physiolog feststellte, dass infolge der lebhaften Sauerstoffproduktion, welche von den im Wasser schwebenden Planktonalgen ausgeht, zur Tageszeit und namentlich im Sonnenschein eine viel größere Menge von Oxygen im Wasser unserer Teiche und Binnenseen enthalten ist, als sie jemals durch bloße Diffusion aus der Atmosphäre herbeigeführt werden könnte. Eingehende Messungen haben hinsichtlich dieses Punktes die erstaunliche Tatsache ergeben, dass, während mit Luft gesättigtes Wasser bei 18— 22°C. etwa 0,6 ccm Oxygen in 100 cem enthält, diese Menge sich (infolge der Assimilationstätigkeit der Algen ım Sonnenlichte) bis auf 2,32 cem in demselben Volumen steigern kann, was also pro Liter 23 cem ausmacht.

Eigentlich war der Grund zu dieser Entdeckung schon durch die klassischen Versuche Th. Wilh. Engelmann’s mit Bakterien ım Mikrospektrum gegeben, die dort in ihrem Zusammenleben mit Algen beobachtet wurden. Aber da zu jener Zeit die hervor- ragende Rolle noch nicht bekannt war, welche die. einzelligen Algen (oder Kolonien von solchen) lediglich schon durch ihre Anzahl im Schooße unserer Gewässer spielen, so konnten weitreichende Schluss- folgerungen an die gewaltige Sauerstoffproduktion dieser Wesen damals noch nicht geknüpft werden. Gegenwärtig aber ist die von

1) Recherches exp@rimentelles sur les conditions physiques de la vie dans l!’eau douce, 1891. S. 357.

2) Nähere Ausführungen über dieses interessante Thema findet man in einer Abhandlung von W. Oronheim: Die Bedeutung der pflanzl. Schwebeorganismen für den Sauerstoffgehalt des Wassers. Plön. Forschungsber. Bd. XT, 1904. S.276— 288. Außerdem im 18. und 19. Bande des Biolog. Centralbl. von C. Knauthe

Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete. 361

Zuntz aufgezeigte wichtige Stellung, welche jenen unscheinbaren pflanzlichen Wesen im Haushalt unserer Teiche und Seen einnehmen, vollständig erwiesen, jedoch in ıhrer großen Bedeutung für die ge- samte Hydrobiologie noch keineswegs genügend gewürdigt. Man würde sonst nicht wieder und immer wieder die Meinung geäußert finden, dass das Erscheinen einer sogenannten „Wasserblüte“ in einem Gewässer (d. h. die starke Wucherung einer oder mehrerer Spezies von Schwebalgen) höchstwahrscheinlich mit dem Massen- sterben von Fischen ın Verbindung stehe, wie ein solches manch- mal gleichzeitig mit dem üppigen Auftreten von dergleichen Algenvegetationen zu beobachten ist. Jetzt wissen wir, dass jene Wucherungen von planktonischen Mikrophyten der Fischfauna nicht bloß nicht schädlich, sondern vielmehr in der Weise sehr nützlich sind, dass sie das von der Sonne erwärmte Wasser flacherer Teich- becken vor gänzlichem Sauerstoffschwund behüten, der sonst für alle darin befindlichen Fische todbringend sein würde. Meisten- teils stirbt aber nur ein kleiner Teil derselben als Opfer der Ein- wirkung von Gasen, welche sich bei hoher Temperatur auf dem Teichboden infolge von Zersetzungsvorgängen entwickeln und zur Oberfläche aufsteigen. Die Schwebalgen sind also ın solchen Fällen die eigentlichen Lebensretter und nicht im entferntesten die Mörder- innen der Fische, wie leider aus Unkenntnis des Sachverhalts noch oftmals irrtümlich angenommen wird. Eine fischereiliche Ver- suchsanstalt hätte also nebenbei auch die Pflicht, solche weitver- breitete Fabeln auszurotten, die ın den Kreisen der praktischen Fischer und Teichwirte noch immer in Flor stehen. Es gibt eben, wie ich schon anderwärts wiederholt ausgesprochen habe, keinen Zweig menschlicher Betriebsamkeit, kein Gebiet industrieller Be- tätigung von ähnlicher Ausdehnung wıe Fischzucht und Fischerei, auf dem noch so viel rohe Empirie, so viel falsche Auffassung der einfachsten Naturvorgänge und so viel unsicheres Tasten an der Tages- ordnung wäre, als es uns unbestreitbar gerade hier vor Augen tritt.

In engster Beziehung zu der kräftigen Sauerstoffproduktion durch die mikroskopischen Algen steht auch der Vorgang, den man allgemein als die „Selbstreinigung der Gewässer“ bezeichnet. Man versteht darunter bekanntlich die Tatsache, dass z. B. ein Fluss, der eine Großstadt durchfließend und unterwegs allerlei Fäkalien und Schmutzwässer aufnehmend doch schon wenige Kilometer unterhalb dieser Stelle wieder vollkommen rein und appetitlich ist. Dies beruht zu einem Teile zweifellos auf Bakterien- wirkung, zum andern aber auf der eben besprochenen Eigenschaft der niederen Pflanzenwesen, bei der Gegenwart von Licht große Mengen von Sauerstoff auszuscheiden, wodurch die rasche Oxydation der organischen Schmutzstoffe zustande gebracht wird. (sewisse Gattungen von Algen nehmen aber auch direkt in Lösung befind-

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liches Nährmaterial in sich auf und tragen auf diese Art als Lebensformen, die einer zwiefachen Ernährungsweise fähig sind in doppelter Hinsicht zur Selbstreinigung der Wasserläufe und Wasseransammlungen bei. Ich habe die Tatsache einer solchen Doppelernährung zuerst bei Bazillariaceen deutlich konstatieren können und sie mit dem Worte „Amphitrophie“ bezeichnet. Nament- lich ist es aber Bokorny (München), der viele Beiträge zu diesem Kapitel der Pflanzenernährung auf Grund zahlreicher Experimente geliefert hat. Jedenfalls haben wır ın betreff der Selbstreinigung der Gewässer erst in neuerer Zeit richtige Vorstellungen bekommen und sehen nun, dass sich die Sache nicht so relativ einfach ver- hält, wie es sich v. Pettenkofer dachte!).

Selbstredend hat diese auf biologischer Grundlage vor sich gehende Selbstreinigung von Flussläufen und verschmutzten See- becken ihre natürliche Grenze, wie wir z. B. jetzt an der Elbe (unterhalb von Hamburg) zu beobachten Gelegenheit haben. Hier hat die Hineinleitung des großstädtischen Kloakenkotes eine solche Unmenge gelöster und ungelöster Substanzen angehäuft, dass bei niedrigem Wasserstande (und besonders im Sommer) die Fäulnispro- zesse oft so stürmisch ablaufen, dass die jungen Fische zu Tausen- den hinsterben. Es bildet sich daselbst auch ein ekelerregender schwärzlicher Schlick, der zum Teil aus Schwefeleisen und faulender organischer Masse besteht. Daneben treten dort auch jene tierischen und pflanzlichen Abwasserorganısmen (Beggiatoa, Oseillaria sp. und gewisse Arten von Protozoen) auf, welche überall da, wo sie sich zeigen, als die unbestechlichen Verräter misslicher Verhältnisse zu betrachten sind. Gewisse Spezies davon sind so konstant in verschmutzten Gewässern verbreitet, dass man berechtigt ist, sie als „Leitorganismen“* anzusehen, welche schon durch ihre bloße Gegen- wart bekunden, bis wieweit sich die von einer Fabrik oder Kloake ausgehende Verunreinigung erstreckt?).

Ein sehr wichtiger Punkt im Arbeitsprogramm einer Fischerei- versuchsstation ist auch das Studium der Fischkrankheiten, besonders derjenigen, die von Myxosporidien herrühren und oft, wie z. B. die Barbenseuche in der Mosel beweist, zu Jahre lang andauernder Dezimierung der Fischbestände führen. Ein Spezial- institut für Ichthyopathologie befindet sich bekanntlich in München, wo es mit der veterinärärztlichen Hochschule verbunden ist und unter Leitung von Prof. B. Hofer steht, der diese Disziplin erfolg- reich ausgebaut hat?). Auch an der Universität Wien ist neuer-

l) Vgl. darüber C. Mez: Mikroskop. Wasseranalyse, 1898. S. 550—556.

2) Vgl. hierüber die Arbeiten einer vom Geh. Obermedizinalrat Schmidtmann (Berlin) gebildeten Kommission über „die Beziehungen, welche Flora und Fauna mit den eingeleiteten Abwässern verknüpfen“ in der Vierteljahrsschrift für gerichtl. Medizin und öffentliches Sanitätswesen. 3. Folge. XXI. Suppl. Heft, 1901.

3) Vgl. dessen Lehrbuch der Fischkrankheiten, 1904.

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dings eine Zentralstelle für die Untersuchung von Krankheitser- scheinungen bei Fischen errichtet worden.

Es geht aus allem, was im vorstehenden besprochen wurde, deutlich hervor: dass die bereits bestehenden biologischen Süß- wasserstationen höchst wichtige wissenschaftliche Aufgaben zu lösen haben und mit Erfolg auf dem ihnen unterstellten Gebiete arbeiten. Man hat früher zwar ohne Anstalten dieser Gattung auskommen müssen, aber jetzt würden sie schwer zu entbehren sein. Dass es zurzeit noch nirgends einen Lehrstuhl für Hydrobiologie gibt, ist wunderbar genug; aber wie lange ist es denn her, dass man offiziell Hygiene doziert? Es ist vollkommen sicher, dass man nicht lange mehr ohne gründliche Berücksichtigung dessen, was die Gewässerdurchforschung zutage gefördert hat, in der Zoologie auskommen können wird. Ein namhafter deutscher Zoologe, der seinerzeit um sein Urteil gefragt wurde, was er von einer syste- matischen Exploration der binnenländischen Teiche und Seebecken halte, erklärte, dass man damit in einigen Jahren vollständig fertig sein werde und es sich deshalb nicht erst verlohne, stabile Stations- einrichtungen zu treffen. Diese Prognose ıst durch die Tatsachen selbst aufs schlagendste widerlegt worden, und eine nähere Be- kanntschaft mit der neueren Fachliteratur aller Kulturstaaten be- weist, dass die Disziplin, der man das Leben schon an der Wiege absprach, in glänzender Entfaltung begriffen ıst und nicht minder wertvolle Resultate zeitigt, als die mit größerem instrumentalen Pomp ins Zeug gehende Meeresbiologie. Man hat der letzteren nachgerühmt, dass sie über ein reicheres Tatsachenmaterial ver- füge und namentlich über ein solches, welches zahlreiche Über- gangsformen aufweise, wodurch die Veränderlichkeit der Arten und Gattungen wahrscheinlich gemacht und die Annahme einer Ent- wickelung der organischen Formen ım Sinne Darwin’s gestützt werde. Dass dies ein besonderer Vorzug der marinen Tierwelt sei, hat man so lange gläubig hinnehmen müssen, als die Bewobner- schaft der süßen Gewässer nur unzulänglich erforscht war. Wer aber einen Überblick über den Gestaltenreichtum der Tier- und Pflanzenformen besitzt, wie er sich uns bei der Süßwasserdurch- forschung enthüllt, und wer näher mit der außerordentlichen Variabilität einzelner Gruppen dieser Wesen bekannt geworden ist, der wird auch innerhalb der Flora und Fauna unserer Binnen- seen ein überwältigend reiches Material vorfinden, welches sich gleichfalls für deszendenztheoretische Spekulationen verwerten lässt.

Die Gewässerkunde würde auch einen recht interessanten Unter- richtsgegenstand für die oberen Gymnasialklassen bilden, zumal da die Objekte, um die es sich dabei handelt, leicht zu beschaffen sind. Die Hydrobiologie entspräche in besonderem Grade auch der

364 Zacharias, Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zu Fischzucht ete.

Forderung, welche Prof. M. Verworn!) für die bezeichnete Unter- rıchtsstufe wie folgt formuliert hat. Er sagt: „Ich suche das Lehr- ziel bei derselben in der Entwickelung der Fähigkeit, kompliziertere und ın fortwährender Veränderung begriffene Verhältnisse analy- sieren, auffassen und das Ineinandergreifen einzelner Vorgänge in einem Komplex, sowie die Folgen der Abhängigkeit in bezug auf das Gesamtgeschehen, in einem veränderlichen System überschauen zu können.“ Diesem Anspruche würde gerade die Hydrobiologie mit ıhren mannigfaltigen Tatsachenkomplexen sehr gut Genüge leisten und in dieser Hinsicht ein Seitenstück zu der von Prof. Verworn aus dem gleichen Grunde empfohlenen Physiologie bilden.

Zum Schluss ist aber noch ein Punkt zu berühren, der bisher noch niemals nachdrücklich betont worden ist, der sich aber immer mehr als ein unumgängliches Erfordernis fühlbar macht. Es ist dies die Heranbildung einer Beamtenkategorie, die zurzeit noch gar nicht vorhanden ist, aber nicht länger entbehrt werden kann, wenn es sich um unparteiische und sachverständige Gutachten handelt, die in irgendeiner Streitsache, welche die Fischerei betrifft, ausgearbeitet und erstattet werden sollen. Ich stelle nicht ın Abrede, dass wohl einige Dutzend Männer in Deutschland vorhanden sind, welche für ein solches Amt qualifiziert wären und die sicher auch die absolut unentbehrliche hydrobiologische und fischereitechnische Vorbildung besitzen, um ın Wassersachen, bei denen die Fischerei engagiert ist, autoritativ mitsprechen zu können. Sehr zahlreich sind sie aber wohl schwerlich. Wer die Verhältnisse und Personen einigermaßen kennt, der wird meine Schätzung eher noch zu hoch, als zu niedrig gegriffen finden. An Stelle wirklicher und fach- männisch geschulter Gutachter fungieren gegenwärtig vielfach Leute, von denen manche auch nicht den Schatten einer hydro- biologisch-wissenschaftlichen Vorbildung besitzen?).. Hygieniker, (sewerberäte, Techniker und Verwaltungsbeamte werden nicht selten zu Gutachtern in rem hydrobiologischen Angelegenheiten benutzt und fördern dann Urteile zutage, die meist weder der einen noch der anderen Partei zum Heile gereichen können. Das Allerschlimmste sind jedoch aber Kommissionen, die aus derlei Gutachtern zusammen- gesetzt sind: in der Annahme, dass auf solchem Wege des Vor- gehens die Wahrheit sicherer gefunden werden könne, als durch einen einzelnen wirklich sachverständigen Mann. Mit Recht hat deshalb ein sächsischer Gutsbesitzer (siehe die Anmerkung) auf der Generalversammlung deutscher Teichwirte?) eine Resolution

1) Beiträge zur Frage des naturwiss. Unterrichts an den höheren Schulen, herausgegeben von M. Verworn. Jena 1904.

2) Zur Erhärtung dessen verweise ich auf die sehr interessanten Mitteilungen, welche am 18. Dezember v. J. von Herrn Hauptmann Bormann auf Saathain in der Generalversammlung des „Vereins deutscher Teichwirte‘“ gemacht worden sind.

Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des org. Geschehens. 365

folgenden Inhalts unterbreitet: „Es ist als eine der wichtigsten Auf- gaben des Vereins anzusehen, durch Wort und Schrift für die An- erkennung Raum zu schaffen, dass der heutige rationelle Fischerei- betrieb auf einer Fischereiwissenschaft beruht. Es gilt klarzustellen, dass nur solche Persönlichkeiten als Fischereisachverständige an- erkannt werden und als solche funktionieren dürfen, welche nach- gewiesen haben, dass sie die Fischereiwissenschaft auch wirklich beherrschen. Es muss ausgeschlossen werden, dass bei einer so hohen Entwickelung unserer fischereilichen Betriebe von Gerichten und Behörden zu Urteilen über Fischereiangelegenheiten Personen herangezogen werden, die dem Fache fernstehen.“ Wer die Sach- lage kennt, wird diese Forderung aus dem Kreise unmittelbarer Interessenten für eine Besserung der Dinge nur unterschreiben und sich ihr anschließen können.

Zum Schluss ist aber auch noch zu sagen und laut zu be- tonen, dass das allmählich herangereifte dringende Verlangen nach einer Fischereiversuchsanstalt, welcher selbstredend auch die Auf- gabe zufallen wird, Sachverständige heranzubilden, keinesfalls zu befriedigen sein würde, wenn nicht die rein wissenschaftlichen biologischen Stationen die Vorarbeiten dazu geleistet und ein Material an Ergebnissen und Fingerzeigen aufgespeichert hätten, welches sogleich in Benutzung genommen werden kann, um daran weitere und der Praxis näher liegenden Forschungen zu knüpfen. Es kommt mir als direkt Beteiligtem nicht zu, auf die Arbeiten meiner eigenen Anstalt hinzuweisen und auf deren Anteil an der Schaffung von Grundlagen für eine Fischereiwissenschaft hinzuweisen. Aber im Interesse meiner zahlreichen, opferfreudigen Mitarbeiter, deren Namen die Titel der „Plöner Forschungsberichte“ zieren, kann und will ich nicht unerwähnt lassen, dass diese Herren, die sich seiner- zeit um mich scharten, einen erheblichen Anteil am Ausbau der Süßwasserbiologie sowohl als auch an der Herbeiführung der wissen- schaftlichen Verhältnisse besitzen, die jetzt die Schöpfung einer fischereilichen Staatsanstalt für das Fischereiwesen angezeigt er- scheinen lassen und sie ermöglichen !).

Richard Semon. Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. 8. XIV u. 353 Seiten. Leipzig. Wilhelm Engelmann. 1904. -

Der als Zoologe und in weiteren Kreisen auch durch sein liebenswürdiges und interessantes Buch „Im australischen Busch“ Der betr. Vortrag ist in Nr. 5 und Nr. 6 der „Neudammer Fischereizeitung“ (1905) zum wörtlichen Abdrucke gekommen.

1) Solche Fischereiversuchsstationen hat man bereits in Frankreich verwirklicht und sie sind dort mit den Universitäten Bordeaux, Grenoble, Clermont-

Ferrand und Toulouse verbunden, In letzterer Stadt ist sogar ein ziemlich großes Institut dieser Art vorhanden. Z.

366 Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des org. Geschehens.

rühmlichst bekannte Verfasser hat sich mit seinem oben genannten neuesten Werk auf das jetzt so ungemein beliebte Gebiet speku- latıiver Naturbetrachtung begeben. Ausgehend von dem schon wiederholt ausgesprochenen, aber zuerst von Hering klar formu- lierten Vergleich des Reproduktionsvermögens der Vererbung mit dem Gedächtnis (vgl. Hering, Uber das Gedächtnis als eine all- gemeine Funktion der organischen Materie. Wien 1870) sucht Herr S. nachzuweisen, dass es sich hier „um eine Identität der verschiedenen Reproduktionsvermögen, nicht um eine bloße Analogie“ handle und will dies „Ergebnis in allen seinen Konsequenzen verfolgen“.

Herr S. gliedert sein Buch in vier Teile. Im ersten werden die „Reize“ und ihre Folgeerscheinungen behandelt. Hervorgehoben wird, dass jeder Reiz das Reizobjekt ın einem etwas anderen Zustand zurücklasse, als der war, welcher vor der Reizwirkung bestanden hat. Verf. nennt das die „engraphische Wirkung des Reizes“ und die vorausgesetzte Veränderung ein „Engranım“. Folgt nun ein neuer Reiz, so wird die Wirkung nicht mehr ganz die gleiche sein wie bei einer erstmaligen Einwirkung. Ist der neue Reiz dem ersten gleich, so genügt jetzt, infolge des bestehenden Engramms, eine geringere Intensität; ist der Reiz, wie es in der Regel der Fall zu sein pflegt, ein zusammengesetzter, so genügt bei Wiederholung die Wiederkehr eines Teils, um die ganze Wirkung zu „ekphorieren“ ').

Die „Engramme* können auf die Nachkommen übergeben und stellen das dar, was man sonst „ererbte Dispositionen“ genannt hat. Für diese hier nur flüchtig skizzierten Eigenschaften, welche, wie er annımmt, aller lebenden Substanz zukommt, führt Herr S. den Namen „die Mneme* ein.

Im zweiten Teil werden die „mnemischen Grundphänomene“ dargestellt. Wir bekommen hier im wesentlichen einen Abschnitt aus der Psychologie, wie er sich auf Grund der „introspektiven“ Selbstbeobachtung entwickeln lässt, mit besonderer Berücksichtigung der auf Assoziation beruhenden Erscheinungen. Der dritte Teil stellt sich die Aufgabe darzutun, dass die gleichen „mnemischen Prozesse“ bei der Ontogenese wirksam sind. Der Hauptnachdruck wird hier darauf gelegt, dass der Ablauf der Erscheinungen auch dann der gewohnte bleibt, wenn nicht alle Bedingungen genau in gleicher Weise erfüllt sind, was eben die charakteristische Unter- scheidung der „mnemischen“ Erscheinungen von „nicht mnemischen“ sein soll. Endlich wird im vierten, als „Schlussbetrachtungen“ bezeichneten Teil auseinandergesetzt, dass die eingeschlagene Dar- stellungsweise nicht bloß eine „neue Umschreibung alter Rätsel“ seı und dass wir in der „Mneme“ das „erhaltende Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens“ zu sehen haben im Gegensatz zu der Außenwelt, welche umgestaltend auf jenes einzuwirken strebt.

Ich habe versucht, in kurzen Sätzen den Gedankengang des

1) Ich muss dazu die Bemerkung machen, dass Herr S. eine ganze Reihe von neuen technischen Terminis in seiner Darstellung verwendet, welche mir nicht immer als unbedingt notwendig zum Verständnis von meistens schon bekannten Gedanken- folgen erschienen sind.

ok PA due

Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des org. Geschehens. 367

Verf. möglichst im Anschluss an seine Ausdrucksweise darzulegen. Ein näheres Eingehen auf alle Einzelnheiten müsste einen Umfang von mehreren Bogen einnehmen. Es ist jedoch nicht meine Ab- sicht, hier ein Referat über den Inhalt des Buchs zu geben, sondern nur eine Anzeige desselben. Ich muss deshalb wegen der Einzelnheiten auf das Buch selbst verweisen, kann jedoch nicht um- hin, in wenigen Worten meine Stellung zu demselben anzudeuten, insbesondere "anzugeben, inwieweit ich in demselben eine wesentliche Erweiterung unseres „Wissens“ von den Vorgängen in der be- lebten Natur erkenne.

Herr S. beruft sich auf J. R. Mayer und zitiert dessen Aus- spruch: „Ist einmal eine Tatsache nach ‘allen ihren Seiten bekannt, so ıst sie eben damit erklärt und die Aufgabe der Wissenschaft be. endet.“ Darin liegt wohl etwas Richtiges; ich kann aber doch die Frage nicht unterdrücken, wann ist denn eine Tatsache ‚nach allen ihren Seiten bekannt“? Man denke nur an die plötzlichen Erweiterungen unserer Kenntnisse von einer scheinbar schon vollkommen abg eschlos- senen Tatsachenreihe, wie sie beispielsweise neuerdings in der Elektrizi- tätslehre eingetreten ist. Liegt in dieser Erweiterung eine Ergänzung der bisherigen „Erklärung“ oder ist an die Stelle der alten eine ganz neue Erklärung getreten? Nach meiner Auffassung hat die immer nur unvollkommene, niemals abgeschlossene Kenntni- der Tatsachen mit dem Begriff „Erklärung“ i überhaupt nichts zu tun. Ich verstehe darunter den Nachweis des Zusammenhangs einer Er- aa. oder Erscheinungsreihe mit einer andern, uns schon be- kannten!). Gerade das zu leisten hat Herr S. versucht, denn er will ja zeigen, dass die ontogenetischen Entwickelungsvorgänge von derselben Art sind wie die mnemischen. Es fragt sich nur, ob ihm dieser Nachweis gelungen ist, ob die Ähnlichkeiten zwischen beiden mehr sind als bloße Analogien, ob sie auf wirklichen Überein- stimmungen im Wesen der Prozesse beruhen.

Die „mnemischen“ Erscheinungen kennen wir aus der unmittel- barsten Quelle der Erkenntnis, die es überhaupt gibt, aus der direkten Beobachtung unserer Bewusstseinszustände. Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass die Möglichkeit des Entstehens solcher Erscheinungen an unser Nervensystem, speziell an unser Großhirn geknüpft sind. Ob auch Wesen mit anders organisierten Nervensystem in ähnlicher Weise eine „Mneme* haben oder ob diese gar eine allgemeine Eigenschaft aller organisierten und lebenden Substanz sei, können wir nur vermutungsweise aussprechen. Dahin- gehende Behauptungen sind und bleiben also Hypothesen.

Hypothesen aber unterscheiden sich voneinander einerseits durch den Umfang der Tatsachen, welche sich durch sie auf eine gemeinsame Formel bringen lassen, andererseits dadurch, dass aus einigen von ihnen sich auf deduktivem Wege Folgerungen ableiten lassen, welche an der Erfahrung geprüft werden können. Die letzteren haben, wie man zu sagen pflegt, einen heuristischen Wert;

1) Vgl. hierzu sowie zu den im folgenden vertretenen Ansichten mein Lehr- buch der allgemeinen Physiologie, S. 1Sff.

368 Nencki, Opera omnia.

sie tragen am meisten zur Bereicherung unserer Kenntnisse von den Tatsachen bei. Diesen Weg zu betreten hat Herr S. ver- sucht in seinen interessanten, in Nr. 8 dieses Blattes veröffent- lichten Untersuchungen über die Erblichkeit der Tagesperiode bei gewissen Pflanzen (Mimosa, Acacia). Sie bilden wertvolle Ergän- zungen zu einer Reihe analoger, schon bekannter Tatsachen, die er in seinem Buche zur Begründung seiner Hypothese zusammen- gestellt hat. Es fragt sich nur, wie weit sie dazu geeignet sind. Man kann, glaube ich, mit gutem Recht die These verteidigen, dass die logischen Folgerungen aus Tatsachen der Bewusstseins- zustände immer nur auf Tatsachen derselben Art Anwendung finden können und niemals auf Vorgänge, die uns als „Wahrnehmung von Vorgängen außerhalb unseres Ich“ erscheinen, Licht werfen. Eine solche Übertragung von Tatsachen des einen Gebietes auf Er- scheinungen des anderen, nach anderen Erkenntnismerkmalen zu beurteilenden Gebietes liegt nach meiner Überzeugung in der Hering- Semon’schen Hypothese vor. Sıe wird also stets eine „Analogie“ bleiben, ein „Beweis“ für eine wirklich bestehende Identität der Vor- gänge wird nicht geführt werden können. Solche Analogien, Gleich- nisse oder Bilder haben immerhin einen gewissen memotechnischen und darüber hinaus einen unsere Phantasie anregenden Wert. Ob sie mehr zu leisten vermögen, ist mir mehr als zweifelhaft. Wie dem aber auch sein mag, das Buch des Herrn S. wird immerhin als ein Versuch, wichtige Probleme unter emem neuen Gesichtspunkt zusammenzu- fassen, für den Biologen von Interesse sein. I. Rosenthal. Marcelli Nencki opera omnia.

Gesammelte Abhandlungen von Prof. Dr. V. Nencki. Bd. I. Gr. 8. XLII und 840 Stn. Mit 1 Porträt u. 1 Faksimile. Braunschweig. Vieweg u. Sohn 1904. Bd. II. XIII u. 894 Stn. Ebenda 1805.

Die Herausgabe der gesammelten Abhandlungen des leider zu früh verstorbenen Forschers wird sicher allseitig mit Dank begrüßt werden. In den Gebieten der organischen und physiologischen Uhemie, der Bakteriologie, Hygiene und Pharmakologie hat N. Hervorragendes geleistet. Seine Arbeiten, die sich von 1869 bis 1901 erstrecken, sind in den verschiedensten Journalen zerstreut, zum Teil an schwer zugänglichen Orten veröffentlicht. Außer den von ıhm selbst‘ verfassten Aufsätzen wurden auch von ihm veran- lasste Arbeiten seiner Schüler teils wörtlich aufgenommen, teils in kurzen Referaten wiedergegeben. Die Arbeiten sind chrono- logisch geordnet. Vorausgeschickt sind aus der Feder der Heraus- geber (der Herren N. Sieber und J. Salesky) eine Lebensskizze Nenckis und ein systematisches Verzeichnis aller Arbeiten mit Angabe der Jahreszahl und des Ortes der ersten Veröffentlichung; angehängt ein ausführliches Sachregister. Das Ganze stellt, in der vornehmen Ausstattung, welche wir von der Verlagshandlung ge- wöhnt sind, ein würdiges Denkmal des rastlosen Forschers dar,

dauernder als Erz. I.R. [55] Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2, Druck der k. bayer.

Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstälten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen.

1. Juni 1905. AR 11.

XXYV. Bd.

Inhalt: Schneider, Vitalismus. Hartog, Die Doppelkraft der sich teilenden Zelle. Schmidt, Das Biogenetische Grundgesetz. Rössle, Die Bedeutung der Immunitätsreaktionen für die Ermittelung der systematischen Verwandtschaft der Tiere. Michaelis, Die Bindungs- gesetze von Toxin und Antitoxin. Zur Benachrichtigung. Selbstberiehtigung.

en Vitalismus.

Von K. €. Schneider, Wien.

In Driesch’ Vitalismus sind zwei ganz verschiedene Elemente enthalten und ın dem meinen ein drittes, das wieder von jenen beiden ganz verschieden ist. Diese Elemente scharf voneinander zu sondern und derart den Streit im vitalistischen Lager einiger- maßen zu entwirren, dazu sind die folgenden Zeilen bestimmt. Mir liegt vor allem an klarer Entrollung des Schauplatzes, aus dem heraus notwendigerweise vitalistische Anschauungen entspringen müssen. Zu diesem Zwecke ist es aber nötig, das Wesen unseres Bewusstseins einer näheren erkenntnistheoretischen Untersuchung zu unterziehen. Was ich in dieser Hinsicht bieten kann, ist ein Entwurf, der aber, meiner Überzeugung nach, bereits das Skizzen- hafte überwunden hat und mit dessen rationeller Ausgestaltung im einzelnen ich mich auch bereits beschäftige. Weil hier der Raum zu ausführlicheren Betrachtungen mangelt, greife ich nur das Wesentliche aus dem ungeheuren Gebiete heraus und werde auch mit Berücksichtigung der Literatur nur ganz summarisch verfahren, Eingehende Begründungen meiner Ansichten sollen anderorts gegeben werden.

Unsere Welt ist eine Empfindungswelt (Mach). Das soll heißen: Was uns in der Welt umgibt, sind die Empfindungen selbst;

XXV. 24

370 Schneider, Vitalismus.

nicht etwa befinden wir uns in einer uns vollkommen unbewussten dynamischen Welt (E. v. Hartmann), die sich in unserem Bewusst- sein nur spiegelt, aber gänzlich unabhängig von ıhm besteht. Dass das nicht der Fall ist, unterliegt für mich keinem Zweifel. Absolut Unbewusstes kann es für uns gar nicht geben, und selbst, wenn es vorhanden wäre, so könnte es doch nicht räumlich-zeitlich-qualitativ sein, da die Kategorien Raum, Zeit und Qualität (nebst allen andern) nur auf Bewusstseinsinhalte anwendbar sind (Kant, Schopen- hauer u. a.), in denen sie eben zum Ausdruck kommen. Ihre An- wendung auf das Ding an sich ist nichts als eine gänzlich unbe- rechtigte Willkürlichkeit. Wenn wir aber das Ding an sich ein Etwas außerhalb der Psyche bestreiten, so geben wir dadurch den psychischen Inhalten Realıtät. Sie bauen unsere Welt auf, sie ganz allein. Damit stimmt vollkommen überein, dass es bis jetzt in keiner Weise gelungen ist, die Empfindungen aus den Nervenvorgängen abzuleiten. Im Nervensystem gibt es nur Vor- gänge, die prinzipiell mit allen physikalisch -chemischen Vor- gängen übereinstimmen, nicht aber blau, dunkel, tönend, hart, wohlriechend oder sauer sind. Hierüber noch Worte zu verlieren, erschiene mir überflüssig, wenn man nur die Konsequenz dieser Tatsache ziehen und endlich erkennen wollte, dass die Empfindungen nicht nur nicht im Gehirn oder im Sinnesorgan lokalisiert, sondern überhaupt in keiner Weise vom Nervensystem abhängig sind. Auch eine Rückwirkung des Gehirns auf die außerhalb gelegenen Em- pfindungen, wie sie von Avenarıus, Ziehen u. a. angenommen wird, ist unmöglich; die Vorgänge im Nervensystem sind von den Em- pfindungen gänzlich abzutrennen und haben völlig andere Bedeutung.

Ich formuliere meine Ansicht kurz so. Die Welt wird von psychischen Dingen die ich künftig einfach Dinge nennen werde (andere gibts eben nicht) gebildet und repräsentiert die All- gemeinpsyche, an deren Inhalt die individuellen Bewusst- seine partizipieren. In den Bewusstseinen differenter Individuen kommen dieselben Dinge vor; sie erhalten jedoch, mdem sie in eine Psyche von geringem Umfang eintreten, ein eigenes Gepräge, das sie nicht selten stark abzuändern vermag. Diese Subjektivierung der Dinge (Individualisation) hat mit dem Gehirn, wie schon erwähnt, gar nichts zu tun. Dass ein Farbenblinder das Laub grau statt grün sieht, hängt nicht vom Auge ab, da es in diesem überhaupt keine Farbe gibt, sondern von der individuellen Psyche, die sich als Summe aller unserer Erfahrungsinhalte selbst und zwar als ein- heitliche Zusammenfassung dieser, auf das Gefühl bezogen, kund- gibt. Auf diesen Punkt werde ich hier nicht näher eingehen, da er für unser Thema nicht ın Betracht kommt.

Die Dinge um uns her, unsere Empfindungen, zeigen verschiedene Eigenschaften. Sie sind räumlich, zeitlich und qualitatıv-intensiv.

Schneider, Vitalismus. a

Als räumliche (extensive) Gebilde sind sie ausgedehnt, als zeitliche besitzen sie Dauer, als intensive haben sie Qualitäten von bestimmtem Stärkegrad. Die Eigenschaft des Ausgedehntseins ist so wenig eine Qualität wie die Eigenschaft des Dauerns; trotzdem sind beide uns durchaus unmittelbar gegeben, wie Kant bereits scharf erkannte, der Raum und Zeit als Formen des Bewusstseins auffasste. Ich möchte heber von Bewusstseinssphären reden, die zueinander in einem ganz bestimmten, hier näher zu erörternden Verhältnis stehen. In der Ausdebnungssphäre (Raum) sind alle Inhalte durchaus gleich sie sind eben nichts weiter als ausgedehnt, ihre Form hat mit der Räumlichkeit gar nichts zu schaffen, ist vielmehr eine bestimmte Qualität. In der Dauersphäre (Zeit) sind die Inhalte auch einander dem Wesen nach gleich denn dass uns zwei Zeiträume von gleicher Länge ungleich lang erscheinen, hat mit der Dauer selbst nichts zu tun, sondern hängt von der geistigen Form der in der Zeit sich darstellenden Gebilde ab (siehe unten). Doch besteht der auffallende Unterschied zum Raum, dass uns die Zeit nicht in ihrer Totalıtät, sondern als Sukzession von momentanen Dauern gegeben ist. Am schwierigsten zu beurteilen ist die In- tensitätssphäre (Energie). Ihrem Wesen nach ist sie Intensität, aber die einzelnen Stärkegrade sind uns weder nebeneinander, noch nacheinander gegeben. Sıe stecken ineinander drin; in hundert Grad sind auch fünfzig enthalten und in fünfzig sind hundert bereits an- gedeutet und vorbereitet. Dazu kommt noch folgendes. Jedem Stärke- grad entsprechen zahllose Qualitäten; er zersplittert also für uns in eine überwältigende Fülle von Mannigfaltigkeiten, die im Grund alle nur ein und dasselbe bedeuten. Somit ist die Anteilnahme unserer individuellen Psyche an der Allgemeinpsyche vor allem in Hinsicht auf die intensive (energetische) Sphäre eine höchst unvoll- kommene.

Jeder Empfindung entspricht ein Nervenvorgang. Ich gehe hier nicht auf die Bedeutung des letzteren ein, sondern ziehe nur

folgenden Punkt in Betracht. Wenn nämlich wie nicht zu be- streiten die Empfindungen reale psychische Dinge um uns her

sind, die zu Empfindungen nur durch den Eintritt in eine individuelle Psyche gestempelt werden, so entspricht auch jedem Ding in seiner momentanen Darstellung ein Nervenvorgang. Zwei Nervenvorgänge legen also Zeugnis ab für zwei Dinge, mögen beide uns auch quali- tativ identisch erscheinen. Da jedes Ding ausgedehnt ist, also einen bestimmten Teil des Raumes umfasst, so ist ein und derselbe Körper zweimal perzipiert räumlich stets ein anderer. Da nun aber zugleich mit einem Raumteil auch alle anderen Raumteile gegeben sind, so folgt, dass zwei verschiedenen Perzeptionen zwei verschiedene Räume entsprechen. Mit anderen Worten: jedem Zeitpunkt entspricht ein besonderer Raum. Es gibt nicht einen

24*

372 Schneider, Vitalismus.

u

einzigen Raum, der durch alle Zeiten bestünde, vielmehr eine un- geheuere Summe von Räumen, die sich in der Zeit aneinander reihen und unmerklich ineinander übergehen. Unser mangelhaftes Individualbewusstsein, das vom Allgemeinbewusstsein nur einen minimalen Ausschnitt repräsentiert, kennt nur Momenträume, so wie es nur Zeitpunkte kennt. Mit jeder Perzeption entschwindet der Raum, dem eine Empfindung angehörte, aus unserem Bewusst- sein und ein anderer tritt an seine Stelle. In der Vergangenheit sind alle früheren Räume, ın der Zukunft alle noch kommenden enthalten.

Wir lernen von den Dingen nur momentane Darstellungen kennen, unsere Welt ist also eine Momentwelt. Indessen verschwin- det das Frühere doch nicht vollkommen aus unserem Bewusstsein, vielmehr umspannt unsere Zeitsphäre auch das Vergangene, das jedoch der sinnlichen Lebhaftigkeit entbehrt. Die unserer Psyche angehörigen Dinge heißen in der Raumsphäre Empfindungen, in der Zeitsphäre Vorstellungen. Als Vorstellungen bezeichnet man nun aber die Inhalte unseres Geistes; somit fällt unsere Zeitsphäre, soweit die Dinge ın ıhr sich darstellen, mit unserem Geist zu- sammen. Die Welt, in ihrem Gegebensein in der Zeit, ist eine geistige und erlangt für uns volle sinnliche Realität nur momentan, weil eben unser eingeengtes Bewusstsein nur Momentdarstellungen der Welt mit voller Lebhaftigkeit umfassen kann. „Jeder Körper, den wir sehen, ist nur ein momentaner Zustand eines geistigen Gebildes, das alle sukzessiven Zustände dieses Körpers umspannt. Hier tritt uns nun der Unterschied von toter und lebender Sub- stanz besonders deutlich entgegen. Die tote Substanz ist sub- stanziell immer gleich, denn wenn sie ihre Qualitäten ändert, wird sie eben zu einer ganz anderen Substanz von unwesentlichen Veränderungen in der Form abgesehen. Die lebende Substanz dagegen macht qualitative Veränderungen durch, ohne dabei ihr Wesen einzubüßen; eine Raupe ist wesensidentisch mit dem Schmetterling, der aus ıhr hervorgeht. Anorganische Dinge sind also vergleichsweise als Momentdinge, die sich in jedem Augen- blick ganz darbieten, zu bezeichnen; Organismen dagegen entfalten sich ganz nur ım Laufe der Zeit. Sie sind höhere geistige Gebilde, die sich aus zahlreichen differenten Momentzuständen aufbauen. Als solche Geistgebilde sind sie aber ebensogut Einheiten wie die anorganischen Momentkörper, nur eben für unser eingeschränktes Bewusstsein nicht als Einheiten erfassbar.

Die Raumsphäre unseres Bewusstseins kann ın ihrer Beziehung zum qualitativen Weltinhalt als Sinnlichkeit bezeichnet werden. Die Dinge kommen ın ihr nur vor als Drücke, Geschmäcke, Ge- rüche, Töne, Farben, Lichter und Temperaturen, also als jene (Jualitäten, die nach allgemeiner Ansicht von den Sinnesorganen

Schneider, Vitalismus. 373

perzipiert werden. Formen werden nicht perzipiert; unser geistiges Bewusstsein baut sie aus den sinnlichen Wahrnehmungen auf das heisst mit anderen Worten: nur weil die Dinge nicht bloß unserer Sinnlichkeit, sondern auch unserem Geist angehören, sind sie geformt. Die Bedeutung der Form für die einheitliche Er- fassung eines geistigen Gebildes drängt sich ganz von selbst auf. Es liegt in unserer Natur, sukzessive Zustände, wenn wir sie in eine momentan erfassbare Einheit zusammendrängen wollen, uns als Formen vorzustellen; der Künstler vermag die geistige Indi- vidualität eines Menschen oder Tieres, die sich ja nur sukzessiv vor uns entfaltet, in einer Form auszudrücken, indem er das Cha- rakteristische hervorhebt und das Umwesentliche vernachlässigt. Was man als Individualbegriff oder als Idee oder als intelligiblen Charakter bezeichnet, ist die Summe aller Körperzustände eines Wesens als Einheit gedacht, und eben diese Einheit können wir uns nur als Form vorstellen. Auch die Charakterisierung eines Wesens durch die Musik als Tonfolge (Motiv) kann einheitlich. nur als Form (Motivgestalt) erfasst werden; es beruht ja überhaupt unser Vermögen der Erfassung einer Tonfolge als Melodie auf geistiger Anschauung (Intuition), die die Töne zur Melodiegestalt umwertet. Darum stellt sich nun auch die Entwickelung eines Organismus in erster Linie als Formentwickelung dar und um die Formbildung dreht sich denn auch der Streit zwischen Mechanisten und Vitalisten in erster Linie (siehe später).

Ich habe bis jetzt von den Dingen nur insoweit gesprochen, als sie unserer sinnlichen und geistigen Bewusstseinssphäre ange- hören. Unter sinnlicher Sphäre verstand ich die Beziehung der Quali- täten auf den Momentraum, unter geistiger ihre Beziehung auf die gesamte Zeit. In der Zeit als Gesamtheit betrachtet gibt es so wenig sinnliche Qualitäten, wie im momentanen Raume geistige; es lässt sich die Ansicht verfechten, dass wir von Form keine Ahnung haben würden, wenn wir nur sinnlich, d. h. ausschließlich momentan, lebten. Die Form erscheint gewissermaßen als An- knüpfung an Vergangenes und Hinweis auf Künftiges. Die Form der geistigen Einheit, wie sie der Künstler andeutungsweise erfasst, kann als am intensivsten gesehene Form des betreffenden Gebildes gedeutet werden. Auch die Form hat ihre Stärkegrade wie jede andere Qualität, wenn solche Ansicht auch ungewöhnlich und be- fremdend erscheinen mag. Auch die Form gehört somit der in- tensiven Bewusstseinssphäre an. Damit übertrage ich sie nun aber in ein Gebiet, wo eigentlich die Qualität überhaupt allein zu Hause ist. Die Beziehung der Qualitäten auf Raum und Zeit ist, so selbst- verständlich sie uns auch erscheint, in Wahrheit eben nur eine Beziehung ganz heterogener Dinge aufeinander. Denn ausgedehnt sein und dauern ist etwas ganz anderes als Qualität und Intensität

314 Schneider, Vitalismus.

besitzen. Indessen sahen wir oben schon, dass sich auch Raum und Zeit, so verschieden sie ıhrem Wesen nach sind, doch ın be- stimmter Hinsicht mit vollem Recht aufeinander beziehen lassen. Wir haben nun zu prüfen, ob in gleicher Weise nicht auch die Qualitäten mit voller Berechtigung auf Raum und Zeit bezogen werden können.

Der Raum ist ein Momentausschnitt aus der Zeit, seine Aus- dehnung erscheint ın ıhr als Dauer, wenn auch als denkbar kür- zeste; jedenfalls ıst sein Wesen in der höheren Sphäre vollständig umgewandelt, wie auch daraus hervorgeht, dass wir assoziativ die entlegensten Dinge als Vorstellungen miteinander zu verknüpfen vermögen. Wenn wir nun die Zeit auf die Intensitätssphäre (Energie) beziehen, so kann sie hier ın ähnlicher Weise als eine Art Momentausschnitt, nämlich als Zustand eines einzigen Inten- sıtätsgrades, als einfache Niveau-(Wag-)fläche, aufgefasst werden. Die Berechtigung zu solcher Ansicht erhellt ohne weiteres aus der Tatsache, dass, damit etwas geschehe, es der Intensitätsdifferenzen (differenter Niveaus) bedarf (zweiter Hauptsatz der Energielehre), in der Zeit aber ım Wahrheit gar nichts geschieht. Alles, was sich in Zukunft ereignen wird, existiert ja schon, und das, was war, existiert noch. Der gesamte Zeitinhalt, die Geistwelt, reprä- sentiert eine starre Formenmasse, durch die wır uns hindurchbe- wegen, so dass immer neue Formen in unser sinnliches Bewusst- sein eintreten und dadurch materialisiert, d. h. mit sinnlichen Qualitäten ausgestattet werden. Dass wir überhaupt ein Geschehen ein Geschehen aus innerer Notwendigkeit -— annehmen, ent- springt nur der unmittelbaren Kenntnis von der intensiven Natur der Welt; fehlte den Empfindungen die Eigenschaft der Intensität, so würde kein Mensch daran denken, von einem Geschehen zu reden; es würde dann allerdings auch keine Qualitäten, sondern nur Aus- dehnung und Dauer, also eine sehr öde Welt geben. Da nun aber die Qualitäten für unser Bewusstsein aufs innigste mit den Zeitteilen (und Raumteilen) verknüpft sind und wir sie nirgends sonst unterzubringen vermögen, so bleibt nur die Annahme übrig, dass es der Zeitinhalt selbst ist, der uns in der intensiven Sphäre begegnet, aber in eine andere Substanz umgeschmolzen, ebenso wie die Ausdehnung in der Zeitsphäre wıiederkehrt, aber in Dauer um- geschmolzen ist. Weil jedoch der umgeschmolzene Zeitinhalt nur einen Intensitätsgrad wegen Mangel jedes Potentialgefälles betragen kann, so hat man ein Recht, die energetische Sphäre als Summe ungeheuer vieler Zeiten aufzufassen, die sich jedoch bei dieser Summierung nicht bloß aneinander fügen, sondern zugleich ineinander aufgehen.

Folgender Vergleich wird deutlicher machen, was ich sagen will. Uns ıst die Wahrnehmung nur bestimmter Intensitätsgrade

Schneider, Vitalismus. 375 möglich. Es gibt für uns eine untere und obere Schwelle des Bewusstseins, die durch die Intensität der Empfindungen bestimmt wird. Zu leise Töne hören wir nicht und zu laute können wir von minder lauten nicht unterscheiden. Nun wissen wir aber ganz genau, dass es Wesen gibt, die diese für uns zu leisen Töne noch hören, und ebenso dürfte es Wesen geben, die für uns zu starke Intensitäten noch deutlich unterscheiden. Vermutlich liegt für die ersteren die obere Schwelle niedriger als für uns und für die letz- teren die untere Schwelle höher. Beide Arten von Wesen leben in Welten, die von der unseren ganz verschieden sein dürften; ihre durchschnittliche Niveaulinie entspricht nicht der unseren und, wenn sie, wie selbstverständlich, auch eine Zeit haben, so kann diese doch nicht unsere Zeit sein. Wahrscheinlich wird denen, die sehr schwache Intensitäten empfinden, alles viel langsamer, denen, die sehr starke Intensitäten empfinden, alles viel schneller verlaufen. Es ıst Erfahrungstatsache, dass, wer stark lebt, schneller lebt als wer schwach lebt. Mach hat in seiner Analyse der Empfindungen ähnliche Gedanken geäußert und Lasswitz behandelt in einer reizenden „Seifenblase“ das gleiche Thema. Somit glaube ich nicht zuviel zu behaupten, wenn ich die Existenz zahlloser differenter Zeiten annehme und diese in direkte Beziehung zur intensiven Sphäre setze.

Wir können uns zwar die Existenz zahlloser Zeiten nicht vor- stellen, aber das ıst auch ebensowenig nötig, wie die Vorstellung zahlloser Räume, um doch ıhre Existenz anzuerkennen, da die Überschreitung einer Bewusstseinssphäre, z. B. des Raums, nur in einer anderen, also in der Zeit, möglich ist und in dieser das Wesen der niederen Sphäre gänzlich umgewertet wird. Eine solche Um- wertung des Zeitwesens ıst aber Vorbedingung, um ein Verständnis für das Geschehen in der Welt zu gewinnen. Unter dem Welt- geschehen verstehe ich nicht den äußerlichen Wechsel ın der Zeit, der ja nur durch unsere so unvollkommene Beherrschung der Zeitsphäre bedingt ist, sondern die Kausalıtät in diesem Wechsel, die aus den Zeitinhalten nicht verständlich wird und ın der doch der eigentliche Kern allen Geschehens, die Notwendig- keit des Geschehens, zum Ausdruck kommt. Nach Hume findet sich in den Dingen nichts, was die Abhängigkeit eines beliebigen Geschehens von einer Ursache begründen würde. Die Gleichheit von Ursache und Wirkung, sagt er, muss notwendigerweise die Wesensintensität des verursachenden und des bewirkten Dinges zur Voraussetzung haben; sie fordert eine Kraft ın den Dingen, die ın der Wirkung genau ebenso wie in der Ursache zum Ausdruck kommt. Eine solche Kraft lässt sich aber, wie er meint, in den Dingen nicht nachweisen. In diesen Behauptungen hat Hume Recht und Unrecht zugleich. Recht hat er, insofern ein Ding, so wie es

376 Schneider, Vitalismus.

sich in Raum und Zeit darstellt, nichts Wirkendes in sich enthält; aus sinnlichen und geistigen Qualitäten die ja an Raum und Zeit gebunden erscheinen ergibt sich keine Möglichkeit inneren (reschehens. Unrecht jedoch hat er, wenn er die Welt auf Raum und Zeit eingeschränkt glaubt. Jede Empfindung belehrt uns über das ın- tensive Wesen der Welt, das zwar, weil nicht räumlich und zeitlich, nur mittelbar zu den Einzeldingen ın Beziehung steht, aber doch das innere Geschehen ermöglicht. Denn in jeder Wirkung kehrt in der Tat die Ursache wieder, wenn wir die Dinge auf die intensive Sphäre beziehen. Wir wissen, dass Energie nicht verloren geht; nun sind es die Intensitätsfaktoren, die die Arbeitsmöglichkeit be- stimmen. Ist eine Niveaudifferenz gegeben, so geschieht etwas; der stärkere Intensitätsgrad geht dabei aber nicht verloren, sondern erscheint in der Wirkung wieder!). So findet das Kausalitätsgesetz im ersten Hauptsatz der Energielehre seine reale Begründung; die Kategorie der Kausalität ist von der gleichen Realität wie die des Raums und der Zeit und nicht bloß eine sogen. Denknotwendigkeit (wenngleich tiefere Betrachtung zwischen beiderlei Anschauungen

keinen wesentlichen Unterschied findet, worauf hier jedoch nicht

eingegangen werden soll).

Wir müssen uns noch etwas näher ın das Wesen der inten- siven Welt vertiefen. Es wurde eingangs erwähnt, dass wir jeden ihrer Einzelinhalte, nämlich einen beliebigen Intensitätsgrad, nicht als Einheit erfassen, derart wie es für jeden Een (Ausdeh- nung) und Zeitinhalt (Dauer) gilt; sondern dass wir ıhn in eine Fülle differenter Qualitäten zerstreuen, mit denen wir Raum und Zeit bevölkern. Hierin offenbart sich die außerordentliche Unvoll- kommenheit unseres energetischen Bewusstseins. Statt dass wir in ihm die niederen Bewusstseinssphären überwänden, ziehen wir vielmehr die höhere in die niederen herab und lösen die einfachen Intensitäten in eine qualitative Fülle auf, die bei oberflächlicher Betrachtung überwältigend wirkt, in Wahrheit doch nichts als ein leerer Sinnenspuk ist. Mit diesen Worten will ich nicht etwa die Realität des Raum- und Zeitinhalts anfechten. Realität ıst alles, was im Bewusstsein enthalten ist; als Bewusstseinsinhalt muss es eben real sein, weıl wir nichts anderes als Bewusstsein kennen. Ich meine nur, dass die Dinge unserer Empfindungswelt ein allzu- großes Interesse gar nicht nenn. da unser Wille nach Zu- sammenfassung der Vielheit und Mannigfaltigkeit in der Welt strebt und erst den schwer erfassbaren inhaltreichen höheren psy- chischen Größen wahren Wert zuschreibt. Wenn wir nun bedenken,

) Auf die scheinbare Energiezerstreuung bei Temperaturausgleich (Entropie- zunahme) kann hier nicht eingegangen werden; in Wahrheit gibt es keinen Energie- verlust.

Schneider, Vitalismus. IL

dass die Qualitäten nichts anderes als die Intensitäten selbst, nur von einem unvollkommenen Bewusstsein angeschaut, sind, so haben wir zu fragen, wie sich denn die Dinge, die uns umgeben, ın einem vollkommeneren Bewusstsein darstellen möchten. In dieser Hinsicht lässt sicht folgendes aussagen.

Es wurde schon zwischen sinnlicher und geistiger An- schauung unterschieden. Die erstere ist enorm qualitätenreich und bedingt die überaus mannigfaltige Darstellungsweise der körper- lichen Dinge. Dagegen ist die geistige Anschauung relativ qualı- tätenarm, wie wir am schlagendsten der farblosen Beschaffenheit unserer Vorstellungen entnehmen. Wenn wir uns eines Dinges entsinnen, so schwebt uns vor allem seine Form vor; von Farbe, Druck, Geruch, Geschmack und Wärme ist wenig übrig geblieben, auch einer Melodie erinnert man sich mehr als eines rhythmischen Formgebildes, denn als einer Tonfolge. Die Mannigfaltigkeit der geistigen Form ist nun allerdings immer noch eine erstaunliche, aber sie steht doch in gar keinem Vergleich zur sinnlichen Mannig- faltıgkeit. Nehmen wir nun an, dass wir als rein geistige Wesen einer höheren Anschauung teilhaftig wären, sowie wir vergleichs- weise als körperliche Wesen der geistigen Formanschauung einiger- maßen teilhaftig sind. Diese höhere Anschauung würde die geistigen Individualgebilde um uns her zusammenfassen, sowie die geistige Formanschauung die körperlichen Zustände eines Individuums zu- sammenfasst. Statt der Individuen einer Spezies sähen wir nur die Spezies als Einheit; würde da nicht eine ganz außerordent- liche Vereinfachung unserer Welt sich ergeben?

Wie aber könnte die Art direkt als Einheit wahrgenommen werden? Wir müssten eine Anschauung erwerben, in der das Formal-Individuelle ganz verschwände und nur das allen Individuen . Gemeinsame sichtbar hervorträte. Dies Gemeinsame ist aber die Potenz der Art. Unter Potenz versteht man die Veranlagung m Hinsicht auf Wirkung. Das Maß der Wirkungsfähigkeit variiert bei den differenten Individuen einer Art nur etwa so, wie dıe Form ım Leben eines Individuums varıiert. Wie nun rein geistige An- schauung die individuelle Geistform als Einheit erfassen würde, so auch eine noch höhere Anschauung die Artpotenz als Einheit; es würde für sie überhaupt keine Vielheit geben. Noch etwas kommt hinzu. Die Potenz ist eine intensive Größe. Alle qualitative Mannigfaltigkeit der Wirkung ist in ihr aufgehoben; die existiert ja nur für uns, weil wir die Welt in Raum und Zeit breit aus- einander legen. Der Intensität nach gibt es nur ein stärker oder schwächer. Daraus folgt aber, dass es für eine Anschauung der Potenzen auch kein scharfes Getrenntsein der verschiedenen Arten geben kann. Je vollkommener die potentielle Anschauung, um so mehr verfließen die artlichen Mannigfaltigkeiten. Das Schwache

318 Schneider, Vitalismus.

verschwindet ım Stärkeren; ein Zustand erscheint möglich, in dem alles ın der stärksten Potenz restlos aufgeht. Wer diesen Zu- stand erreicht, dem dürfte gewissermaßen das Ende der Welt ge- kommen sein.

Uns mit unserem unvollkommenen Bewusstsein erscheinen die (ualitäten von den Intensitäten wesentlich verschieden, wenn wir auch beide nur aneinander gebunden kennen und wissen, dass es für uns keine Qualität ohne Intensität und keine Intensität ohne Qualität gibt. Je vollkommener aber die Anschauung, um so mehr gehen beide ineinander über. Im ekstatischen Schauen ist alles Intensität; wer sich ganz in die Welt zu versenken vermag, ver- lernt es Qualitäten zu unterscheiden. Ihm fließt mehr und mehr die Fülle zur Einheit zusammen und nımmt dabei den Charakter der Potenz an, die ja ıhrem Wesen nach nichts als Intensität ist. In dieser Hinsicht ıst das Studium des Buddhismus äußerst be- lehrend; die vom Arhat erreichte Anschauung des Brahma, d.h. des Göttlichen ın der Natur, ıst nichts anderes als direkte An- schauung der höchsten Potenz, also des Gesamtinhaltes der inten- sıven (energetischen) Sphäre. Raum und Zeit sind natürlich ın solcher Anschauung vollständig überwunden.

Das bis jetzt Vorgetragene mag vielen ungewöhnlich und be- fremdend klingen, meiner Ansicht nach ist es aber Voraussetzung für die wahre Erfassung der Welt. Ich wende mich nun der speziellen Frage nach der Berechtigung der vitalen Anschauung zu. Unter vitalen Vorgängen versteht man, wie bereits eingangs bemerkt wurde, dreierlei. Erstens wird von Neumeister, Montgomery, Morgan und anderen, besonders nachdrücklich aber von mir (Vita- lismus, Elementare Lebensfunktionen, 1903) behauptet, dass es eine lebende Substanz gibt, an der sich Vorgänge abspielen, die von den physikalisch-chemischen der toten Welt wesentlich ver- schieden sind. Das ıst sinnlicher Vitalısmus, wie ich mich ausdrücken will. Zweitens kommt die Tatsache ın Betracht, dass unser Handeln bezw. das Handeln aller Lebewesen nicht allein durch direkte Reize bestimmt wird, sondern auch durch die Erfahrung, d. h. durch Erinnerungsbilder und aus diesen abgeleitete Phantasie- und Allgemeinvorstellungen. Hier ergibt sich also die Reaktion nicht ausschließlich aus dem momentan gegebenen Zu- stand eines geistigen Gebildes, sondern dies geistige Gebilde reagiert in größerem Umfange auf den Reiz. Solche Anschauung, die zeit- lich entlegene, nur geistig erfassbare Faktoren für das Handeln der Organısmen mit in Anschlag bringt, kann geistiger Vita- lısmus genannt werden. Geistiger Vitalısmus kommt in Driesch’s drittem und viertem Beweis der Autonomie der Lebensvorgänge zum Ausdruck.

Schneider, Vitalismus. 379

Die dritte vitalistische Anschauungsweise, die vor allem von Driesch (erster und zweiter Beweis) vertreten wird, sei hier als potentieller Vitalismus bezeichnet. Die Entwickelung jedes Lebewesens zeigt uns den komplizierten Organismus aus Einfachem hervorgehen. Durch Experimente lässt sich feststellen, daß äqui- potentiell veranlagte Zellen sich, trotz Mangels differenter mate-

rieller Reize selbstverständlich auch trotz mangels einer Er- fahrung in differenter Weise weiter entwickeln, dass sie also

einem weder physikalisch-chemisch noch scheinbar auch geistig auflösbaren Einfluss unterstehen, der von Driesch als Entelechie oder als das intensiv Potentielle des betreffenden Wesens unter- schieden wird. Auch die Regenerationen verlaufen unter dem Einfluss der Entelechie und sind nach Driesch ohne ihn nicht begreifbar. Bei einem toten Körper gibt es weder eine Entwicke- lung noch eine Regeneration, demzufolge ist hier auch nicht von einer Entelechie zu reden. Ich bemerke, dass E. v. Hartmann und Reinke Anschauungen äußern, die denen Driesch’s nahe stehen.

Zuerst berücksichtige ich den sinnlichen Vitalismus näher. Ich habe in meinem oben erwähnten Buche den Nachweis, dass eine vitale Substanz in den Organismen existiert, zu erbringen versucht; ja mein ganzes Buch (die zwei Schlusskapitel ausge- nommen) dreht sich im Grunde um nichts anderes als um diesen Nachweis. Unverständlich bleibt mir daher, wie Driesch (Biol. Centralbl. Bd. 23 Nr. 22 pag. 735) bei einer Besprechung meines Buches sagen kann: „Mit Recht stellt er (ich) daher seine „Lebens- substanz“ in den Hintergrund.“ Ich dächte vielmehr, dass ich sie gebührend in den Vordergrund gestellt hätte. Driesch muss mein Buch sehr flüchtig gelesen haben, sonst hätte er nicht sagen können (pag. 732): „es fehlt der streng analytische, wirklich zu beweisen versuchende Gang“. Im 3. Kapitel (Kontraktion) habe ich die Existenz einer lebenden Substanz „wirklich zu beweisen versucht“. Ich suchte unter Ausschluss der Oberflächenspannungs- theorien Bütschli’s und Bernstein’s, sowie der Quellungstheorie Engelmann’s zu zeigen, dass bei der Kontraktion die eigentlich wesentlichen Teilchen der Muskelfibrillen sich unzersetzt erhalten, während wir ihnen doch einen Einfluss auf eine Arbeitssubstanz in der Fibrille, die ich Myin nannte, zuschreiben müssen. Somit war auch die Zersetzungstheorie Pflüger’s, Verworn’s u.a. aus- geschlossen und für die Fibrillenteilchen, die nachweislich auf Reiz hin reagieren, ein Verhalten festgestellt, das sie als echie lebende Substanz erweist. Denn wenn wir auch in den Katalysatoren tote Substanzen kennen, die Reaktionen vermitteln ohne sich dabei zu zersetzen, so erfolgt bei ıhnen die funktionelle Betätigung doch ohne Reizauslösung; auch mit ihnen sind daher die lebenden Substanzteilchen unvergleichbar.

380 Schneider, Vitalismus. Ich vermochte nun ın letzter Zeit worüber an anderer Stelle ausführlich berichtet werden wird darzulegen, dass auch

bei den Amöben (spez. bei den Difflugien) die Bewegungserschei- nungen des fließenden Plasmas von geformten Teilchen (Tagmen) abhängen, die auf Reiz hin funktionieren und sich dauernd unver- ändert erhalten. Hier bin ich meiner Sache ganz sicher und die Existenz einer spezifischen Lebenssubstanz erscheint mir daher nachgewiesen. Dieser Beweis ist aber von größter Bedeutung. Die erwähnten Teilchen (Tagmen) sind gewissermaßen Kopien des (sesamtorganismus, den sie aufbauen. Sie verwerten die Energien der Umgebung für ihre Zwecke, beherrschen also die Materie gleich uns; sie sind reizempfindlich und leiten Reize; sie entstehen nur aus ıihresgleichen (wenigstens ıst das für verschiedene größere Tagmenarten [Centrochondren z. B.] erwiesen), wachsen und teilen sich; sie dürften wohl auch Gedächtnis haben; kurz, sie sind echte Lebewesen. Wesentlich ıst nun vor allem folgender Punkt. Für uns gibt es ın der Welt kein molekulares Geschehen. Was wir ım Reiz empfinden, sind, wie schon erörtert, sinnliche Qualitäten; einer Druck-, Seh- und Tonempfindung u. s. w. entsprechen aber molekulare Massen, die uns als sinnliche Einheiten gegeben sind. Entsprechend dem eben Gesagten, ist gleiches auch für die Tagmen (Struktureinheiten der Organismen) anzunehmen; auch sie empfinden sinnliche Qualitäten, wenn auch nur einfacher Art, und ıhr Handeln wird durch solche Perzeptionen bestimmt. Solches Handeln nenne ich Reizgeschehen. Die toten Substanzen kennen kein Reiz- geschehen. Hier reagieren weder der gesamte tote Körper noch besondere Teilchen in ıhm auf sinnliche Reize, vielmehr reagiert jedes Molekül als Struktureinheit selbständig auf molekularen Ein- fluss, der natürlich ganz unvergleichbar einer sinnlichen Perzeption ist. Hier handelt es sich eben um rein physikalisch-chemisches (materielles oder molekulares) Geschehen, das sich prinzipiell vom Reizgeschehen unterscheidet. Das Reizgeschehen ist durchaus auf die Organısmen beschränkt und das eigentlich vitale; man kann es auch das niedere vitale Geschehen nennen. Es setzt lebende Substanz ın Form von Tagmen oder Tagmenaggregaten voraus. Die Existenz einer lebenden Substanz, die sich bei der Funktion (Regelung des materiellen Energiestromes beim Reizgeschehen) er- hält, wird schon durch den so beliebten Vergleich der Organismen mit Maschinen nahegelegt. Es ist nicht zu leugnen, dass ein reflektorisch sich betätigender Organısmus stark an eine Maschine erinnert. Wie diese auf Grund ihrer Struktur und auf bestimmte Auslösung hin ich denke an eine Dampfmaschine, die durch Öffnung eines Ventils in Gang gesetzt wird ein bestimmtes Arbeitsmaterial verwertet, um einen bestimmten Effekt zu leisten, so leistet auch der Organısmus auf bestimmten Reiz hin, unter Verwertung der

Schneider, Vitalismus. : 381

Nahrung, eine bestimmte Arbeit. Aber man vergesse bei diesem Vergleiche doch nicht, dass die Maschine eben eine bestimmte Struktur hat und diese Struktur sich während der Arbeitsleistung, abgesehen von geringfügiger Abnutzung, nicht verändert. Somit wäre, um der Vervollständigung des gewiss nicht unberechtigten Vergleichs willen, auch dem Organismus eine bestimmte Struktur, die sich während der Lebensprozesse unverändert erhält, höchstens allmählich abnutzt, zuzuschreiben; man müsste daher die lebendige Substanz lebendig, weil sie das Leben unterhält fordern, auch wenn sie nicht mit solcher Bestimmtheit sich nachweisen ließe, als es tatsächlich (siehe oben) der Fall ist. Wer annimmt, es gäbe keine lebendige Substanz, der macht den ganzen Vergleich unmöglich.

In zweierlei Weise kann man die Existenz einer lebenden Substanz im Lebewesen verneinen. Die eine Ansicht bestreitet überhaupt eine besondere Eigenart des Lebens. Nach ihr gibt es im Organismus nur physikalisch-chemische Vorgänge, die sich in ununterbrochener Folge abspielen, indem einer immer den anderen auslöst. Am reinsten kommt diese Ansicht bei Hofmeister zum Ausdruck, der im Organismus nur fermentative Vorgänge annimmt; eine fermentative Spaltung oder Synthese soll die Aktivierung von Profermenten bedingen, die nun ihrerseits ins Getriebe eingreifen und wieder andere Profermente aktivieren. Aber diese Ansicht ist durchaus unhaltbar. Sie lässt die Regulation im Stoffwechsel, die mit dem Bedürfnis des Organismus zusammenhängt, unauf- geklärt; sie vermag absolut nicht die Abhängigkeit der einzelnen Teile voneinander, durch welche Aufnahme und Verbrauch ge- regelt wird, verständlich zu machen; mit einem Wort: sie tötet den Organismus, dessen Eigenart ja gerade in der Empfindlichkeit für Zustände des eigenen Körpers und der Umgebung zur Geltung kommt. Ich will hier gar nicht von den geistigen Prozessen (Gedächt- nis und Assoziation) reden, für die natürlich die rein physikalisch- chemische Auffassung nicht die Spur einer Erklärung zu erbringen vermag; in meinen Augen hat die betreffende Auffassung, die eine Zeit lang sich großer Anerkennung erfreute, schon gänzlich ab- gewirtschaftet und ist keiner ernsten Beachtung mehr wert.

Die zweite Ansicht erkennt wohl die Unzulänglichkeit der ersteren an, findet aber die Regulation (und die geistigen Prozesse)

an ein unstoffliches d. h. von einem bestimmten Lebensstoff unabhängiges Prinzip oder Agens gebunden, das, selbst ungreif-

bar, doch in den Stoffwechsel eingreift und ihn in bestimmte Bahnen lenkt. Driesch nennt dies Prinzip eine Entelechie, bei Reinke heißt es Dominante, bei v. Hartmann unbewusst psychisches Vermögen. Bestimmend für diese Anschauung ist im wesentlichen die bekannte Tatsache, dass alle „Arbeit“, die im Organismus geleistet

382 Schneider, Vitalismus.

wird, nachweislich durch eine oder mehrere der bekannten physiko- chemischen Energiearten bewirkt wird, dass also ein nicht physiko- chemisches Agens, das in das stoffliche Geschehen eingreift, selbst unstofflich (immateriierend, v. Hartmann) sein müsse, weil sich sonst kausale Abhängigkeit von den anderen Energien müsse nach- weisen lassen. Dies Bedenken wäre dann allerdings berechtigt, wenn die Lebenssubstanz sich molekular betätigte, also das Reiz- geschehen von Zufuhr materieller Energie abhinge. Aber das kann nicht der Fall sein, weil alles Lebendige sinnlich perzipiert und im Reizgeschehen Energien ganz anderer Art als beim molekularen (seschehen, nämlich sinnliche oder besser gesagt: vitale Energien, zuströmen und kausal verwertet werden. Mittelst dieses Umsatzes vitaler Energiequanten wird der materielle Energiestrom gelenkt; dieser Umsatz ıst das Werk der Tagmen, die dabei gar nicht zer- fallen können, denn der Umsatz hat mit der Materie nichts zu tun. Wie er ım einzelnen sıch vollzieht, das ıst hier nicht näher zu er- örtern; es bedarf dazu erst exakter Erfahrung. Dem vitalen Ge- schehen dient, obgleich es nicht materiierend ist, die Materie doch als Träger, weil es in der materiellen Welt zur Äußerung kommt. So ist es zu verstehen, wenn von einer Lebenssubstanz die Rede ıst. Was hätte es sonst für einen Sinn, dass das Leben nur an höchst komplizierte Kohlenstoffverbindungen gebunden erscheint, da ein unstoffliches Prinzip doch auch an einfachen Stoffen sich äußern könnte? Ich habe auch in meinem Buche: Vitalısmus ganz und gar nicht behauptet, dass die Lebenssubstanz nicht physikalisch-chemisch charakterisierbar sei; ich sagte vielmehr nur, dass die chemischen Verbindungen, welche sie aufbauen, in- dem sie unter den Einfluss der vitalen Energie treten, unver- ändert und ın eine bestimmte Form gekleidet, beharren und dem- nach sich von den echten physikochemischen Substanzen, für die diese Hegemonie nicht gilt, scharf unterscheiden. Übrigens be- merke ich nebenbei, dass eine Spur von Leben auch den toten Substanzen zukommt, welche, insofern sie leben, auch nicht zer- fallen, weil eben Leben und materieller Umsatz ganz verschiedene Dinge sind. Näheres kann hier über das Leben der Anorganismen nicht ausgesagt werden.

Es folgt aus dem Gesagten von selbst, wie eng verknüpft die geistigen Phänomene mit den vitalen sind. Trotzdem scheint es mir angemessen, als eigentlich vitale nur die an momentane Körper- zustände gebundenen Vorgänge in und am Organismus zu bezeichnen, da eben nur diese in Parallele zu den physikalisch-chemischen Vorgängen gesetzt werden können, die rein geistigen jedoch, weil an die geistigen Gebilde in ihrer Totalität gebunden, von jedem direkten Vergleiche ausgeschlossen sind. Man könnte die geistigen Vorgänge als höhere vitale vom typischen Reizgeschehen unter-

Schneider, Vitalismus. 383

scheiden. Was aber für die geistigen Vorgänge gilt, das gilt noch weit mehr für die potentiellen. Deren Eigenart haben wir jetzt etwas näher zu prüfen.

Die Potenz ist, wie ich weiter oben darzulegen versuchte, die Veranlagung einer Organismenart in Hinsicht auf ihr Wirkungs- vermögen. Sie ist eine intensive Einheit in der Energiesphäre und befindet sich als solche nicht in Raum und Zeit, ist also für uns nicht vorstellbar. Wir kennen sie nur in ihrer Beziehung zur extensiven und Zeitsphäre, in denen sie uns als Qualitätensumme an den Individuen einer Art erscheint. Es muss betont werden, dass selbstverständlich auch den Anorganısmen in der intensiven Sphäre Potenzen entsprechen. Es entsprechen ıhnen ja auch in der geistigen Sphäre bestimmte Formen, Formen allerdings, die tatsächlich nur den momentanen Zustand zum Ausdruck bringen und deshalb so nichtsbesagend als nur möglich sind. Auch die Potenzen sind natürlich so einfach wie möglich und kommen momentan, bei einem beliebigen Geschehen (von bemerkenswerten Abweichungen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, ab- gesehen) zu erschöpfendem Ausdruck. Nur die Potenzen sind es nun, wie ja auch bereits weiter oben ausgeführt ward, die für das Geschehen überhaupt verantwortlich gemacht werden können. Je nach der Art und Weise, in der sich uns solch Geschehen bemerk- bar macht, können wir drei Geschehensarten unterscheiden. Die erste Art des Geschehens ist die momentane. Sie ist ganz aus momentan gegebenen Zuständen heraus verständlich und eignet deshalb vor allem den anorganischen Substanzen; bei Lebewesen kann sie nur angetroffen werden, solange die Wesen keine Erfah- rung besitzen. Geschehen unter dem Einfluss der Erfahrung ist die zweite Art des Geschehens, die man deshalb auch Erfahrungs- geschehen nennen kann. Hier wirken Äußerungen der geistigen Energie (Gedächtnis, Assoziation) mitbestimmend auf die Reaktion. Die dritte Art des Geschehens wird durch die Einheit der Spezies, in der sich die Potenz erschöpfend darstellt, mitbestimmt. Das Individuum passt sich, soweit es die Potenz der Art erlaubt, an die Umgebung an; die variative Abänderung unter der Nach- kommenschaft wird durch sie bestimmt, kurz es kommen hier alle jene Erscheinungen in Betracht, die man als artgeschichtliche, all- gemein als historische, bezeichnen kann. Man hat also, um einen kurzen prägnanten Ausdruck zu gebrauchen, von historischem Geschehen zu reden. Ich will durchaus nicht sagen, dass ich das historische Geschehen nur von der potentiellen Veranlagung abhängig glaubte. Natürlich kommen auch die gegebenen momen- tanen und Erfahrungsbedingungen in Betracht; doch lässt sich allein aus beiden letzteren die Darstellung einer Art in der Ge- schichte nicht begreifen.

384 Schneider, Vitalismus.

Dass ıch hier überhaupt auf die differenten Geschehensarten eingegangen bin, hat seinen guten Grund. Nach Driesch soll nämlich die Entelechie, als potentielle Veranlagung des Individuums (richtiger: der Art), vor allem bestimmend in den individuellen Entwickelungsgang, sowie in das Regenerationsgeschehen, eingreifen. Ich habe diese Ansicht in meinem Vitalısmus nachdrücklich be- kämpft und muss sie auch heute durchaus ablehnen. Es ist mir ganz unerfasslich, wie die Potenz sich sollte an sich selbst be- tätigen können, denn das Individuum in seinen differenten Körper- zuständen (richtiger: alle Individuen der Art) ist ja nichts anderes als sinnlicher Ausdruck der Potenz, ebenso wie ein Diamant (richtiger alle Diamanten) sinnlicher Ausdruck der intensiven Diamantpotenz ist. Driesch meint nun zwar, gerade eben in der

Betätigung am eignen System bei Driesch heißt es: im Ge- schehen in Hinsicht auf den Lebenskörper unterscheide sich

eine biologische Potenz von einer anorganischen, bei der solche Betätigung nicht vorkomme. Indessen lässt sich ohne weiteres von meinem Standpunkt aus die Ontogenese begreifen, ohne dass man zu solch willkürlichen Hypothesen seine Zuflucht zu nehmen ge- nötigt sei. Ich sagte weiter oben, dass die Form eine geistige (Qualität sei, die wir nicht sinnlich perzipieren, sondern nur durch höhere, geistige Anschauung erfassen, wenngleich jeder Form auch sinnlichqualitative Substrate zugrunde liegen. Die Form stellt diese Substrate übertragen ın eine andere höhere (geistige) Bewusstseins- sphäre, hier zugleich ins Zeitliche erweitert, dar. In dieser Sphäre ist die Form genau so selbständig gegeben, wie eine beliebige sinnliche Qualität in der sinnlichen und beliebige Moleküle ın der materiellen Bewusstseinssphäre. Wie nun ım Reizgeschehen sinn- lich von uns perzipierbare Teilchen ins Getriebe der Materie ein- greifen, so wird auch die Form im geistigen Geschehen d.h. in einem Geschehen, das sich an different zeitlichen Körperzuständen äußert in das momentane Reizgeschehen eingreifen und dessen Richtung mitbestimmen können. Wir haben uns die geistige Energie so wenig als eine rein subjektive wie die vitale oder ma- terielle Energie vorzustellen; unser Assoziationsvermögen ist nur Betätigung dieser geistigen Energie im Rahmen unseres indivi- duellen Bewusstseins. Nicht die potentielle Veranlagung wirkt also in der Ontogenie und bei Regenerationen, sondern die in der geistigen Sphäre bereits gegebene emheitliche Form wirkt lenkend auf den Ablauf des Reizgeschehens, das wiederum das materielle Geschehen im Embryo leitet. Formanschauung, wenn auch unbe- wusste ists, die die Entwickelung beherrscht; das, was Noll als Morph- ästhesie bezeichnet und was ich 1903 Positionsempfindung nannte. Die Potenz kann auf die Entwickelung keinen Einfluss nehmen, sie entfaltet sich nur, objektiviert sich oder tritt ın Erscheinung für uns.

Schneider, Vitalismus. 385

So leicht begreiflich diese Auffassung für die normale Ontogenie ist, so unzulänglich dürfte sie vielleicht manchem in Hinsicht auf die anormale (bei operativer Verkleinerung des Keims u. s. w.), sowie in Hinsicht auf die Regenerationen am entwickelten Organis- mus erscheinen. Es scheint befremdend, dass auch das normaler- weise nicht Vorgesehene schon im geistigen Gebild vorhanden sein und auf den Zustand bei der Verwundung oder anderweitigen Schädigung zurückwirken soll. Wer tiefer nachdenkt, wird darin gar nichts überraschendes finden; er wird auch verstehen, warum bei der Neubildung zunächst ein indifferentes Stadium auftreten kann, ein Kallusgewebe oder wie es sonst genannt wird, das sich erst sekundär in bestimmter, manchmal überraschender Weise, differenziert. Die Differenzierungsrichtung entspricht natürlich immer der Potenz; das bei der Differenzierung Entstehende muss aber realiter schon vorhanden sein, damit es durch seinen geistigen Einfluss den Verlauf der Differenzierung bestimmen kann. Schon vorhanden ist aber die Form in ihrer Totalität, die zahllose Mo- mentzustände umfasst und gar nicht durch Verletzungen eines oder mehrerer Momentzustände zerstört werden kann, wenn sie nicht an sich schon unvollständig gegeben ist. Die Form ist eben eine Qualität ganz eigener Art, die wir nur ganz zu er- fassen vermöchten, wenn unsere geistige Anschauung eine voll- kommene wäre. Mit diesen Andeutungen muss ich mich hier begnügen; ich werde aber an anderer Stelle auf das Formproblem näher zurückkommen und dabei auch die Regenerationsfrage ge- nauerer Prüfung unterziehen.

Das Entwickelungsproblem ist schon nicht mehr streng zum eigentlich vitalen zu rechnen, wenn man, wie es weiter oben ge- schah, unter letzterem nur das momentane Verhalten des Organis- mus und seiner lebenden Teile zur Außenwelt betrachtet. Es ist ein geistiges Problem, bietet aber als solches keine Schwierigkeiten dar; man erkenne die Individuen als geistige Gebilde und ihre Entwickelung wird dann als etwas ganz Selbstverständliches er- scheinen. Als potentielles Problem, das aus den Rahmen der Vitalität noch weiter herausfällt (wenn es auch allein auf Vitalität sich begründet), ist die historische Entwickelung der Arten zu be- trachten. Im eigentlich vitalen, im geistigen und im potentiellen Problem liegt die Aufgabe der Biologie umschlossen. Wer diese drei Probleme nicht scharf unterscheidet, der verwirrt die Frage- stellungen, mit denen an irgendein einzelnes biologisches Geschehen heranzutreten ist, auch wenn er die Selbständigkeit des biologi- schen Geschehens gegenüber dem anorganischen anerkennt. Ich bin in meinem Vitalismus auch nur von einer Seite an diese Probleme herangetreten, indem ich sie nicht scharf genug voneinander unter- schied und z. B. das Entwickelungsproblem aus dem eigentlich

XXV. 25

586 Schneider, Vitalismus.

vitalen erklären wollte Ich gebe Driesch zu, dass wir mit momentan gegebenen Positionsreizen nicht auskommen, also die Differenzierung des Organismus nicht allein aus gegenwärtigen Faktoren heraus erklären können. Aber um zum vollen Verständ- nis zu gelangen, brauche ich meine frühere Anschauung nur zu erweitern; bei Driesch liegt meiner Ansicht nach die Sach- lage nicht so günstig. Indem Driesch die Entelechie für das Vitale im allgemeinen und für die Entwickelung im speziellen in Betracht zieht, hat er einen Irrweg eingeschlagen, der sich, wie ich glaube, aus der geringen Beachtung, die Driesch dem strukturellen Aufbau des Organismus zuwendet, erklärt. Dass eine lebende Substanz existiert in dem Sinne, wie es. weiter oben näher ausgeführt wurde ist die auf zahllose Studien begründete Ansicht zahlreicher Forscher, die nicht mehr aus der Welt geschafft werden kann. Wir sehen letzte Teilchen in der Zelle wachsen, sich differenzieren und fortpflanzen; wir müssen ferner die Fähigkeit der Reizempfindung und Reizleitung spezifisch struierten Teilchen zuschreiben und das gleiche gilt auch für das Kontraktionsvermögen, sowie für das Bewegungsvermögen im weitesten Sinne. Die Frage ist nicht mehr, ob diese Teilchen leben oder nicht, sondern was denn eigentlich das ıhr Leben unter- haltende Agens ıst. Indem erkenntnistheoretische Untersuchung das Wesen der Empfindung enthüllt, gelangen wir zur Deutung dieses Agens als einer vitalen Energie, die zu den materiellen Energien in einem eigenartigen Verhältnis, das als Lenkung be- zeichnet werden kann, steht.

Mit diesen Betrachtungen beschließe ich meinen Aufsatz. Es war und ıst mein Bestreben, das vitalıstische Problem immer tiefer zu erfassen, was ja auch für Driesch gilt, wie sein neues Buch: Naturbegriffe und Natururteile lehrt. Ich muss aber leider ge- stehen, dass ich aus Driesch’s früheren Schriften weit mehr ge- lernt habe, als aus dieser letzten; mir erscheinen seine Betrachtungen in mancher Hinsicht als unfruchtbare. Ich glaube, Driesch täte

besser, seinen Standpunkt dem unseren im Grunde stehen dem meinen viel mehr Forscher nahe als dem seinen anzunähern

als, wie er es versucht hat, den unsern mit Gewalt in den seinen hineinzubeziehen. Sobald er die lebende Substanz zugibt, was doch über kurz oder lang geschehen muss, werden die Differenzen zu uns in der Hauptsache schwinden und der Streit auf vitalistischem Gebiete wird ein Ende haben. [32]

Hartog, Die Doppelkraft der sich teilenden Zelle. 387

Die Doppelkraft der sich teilenden Zelle.

I. Die achromatische Spindelfigur, erläutert durch magnetische „Kraftketten“, Von Professor Markus Hartog'). (Aus dem Biologischen Laboratorium von Queen’s College, Cork.)

Wenn die ausgewachsene Zelle sich anschickt, sich in zwei neue „Tochterzellen“ zu teilen, zeigt ihr Cytoplasma eine teilweise Auflösung in ein System von Fäden, das am häufigsten das Aus- sehen einer „Spindel“ hat, deren Fäden nach zwei Polen oder Zentren zusammenlaufen. Diese Zentren erweitern sich bei den Tieren, bei einigen Cryptogamen und bei vielen Protisten zu kugel- förmigen Körpern (Zentrosomen), von welchen polare oder stern- artige Strahlen ausgehen. Der Äquator der Spindel ist die zu- künftige Teilungsfläche der Zelle.

Die Form, oder vielmehr die Kräfte, deren Ausdruck sie ist, scheinen in direktem kausalen Verhältnis zu der künftigen Vertei- lung der Chromosomen oder Abschnitte zu stehen, ın welche der Kern aufgelöst wird. Diese Abschnitte gruppieren sich anfänglich um oder quer über den Äquator der Spindel und zersplittern oder teilen sich der Quere nach; die Halbsegmente eines jeden Kerns fließen einzeln den Spindelfäden entlang zu den entgegengesetzten Polen, und ihre Vereinigung vor dem Pol führt zur Neubildung eines Kernes für die junge Tochterzelle.

Der Mechanismus der Spindelfigur und der „Trennung“ der Halbehromosome ist seit lange ein Gegenstand des Streites. Die hauptsächlichsten Ansichten sind folgende: 1. die Spindelfasern sind kontraktil und „ziehen“ die Abschnitte gegen den angrenzen- den Pol; 2. die Fasern „stoßen“ die Abschnitte zum entgegen- gesetzten Pol; 3. die Spindel ist der Ausdruck von melekularen Zentralkräften, die indifferent oder zweipolig sind. Die letzte An- sicht, welche zu vertreten hier beabsichtigt ist, war von Fol, einem der Pioniere der Zellenlehre, aufgestellt worden im Jahr 1873 bei seiner Entdeckung der Spindelfigur; denn er verglich das cyto- plasmische Feld mit dem magnetischen Feld, wie es sich offenbart in dem klassischen Experiment der Verteilung von Eisenfeilspänen auf Papier in einem magnetischen Feld mit „ungleichen Polen“.

Von Zentralkräften unterscheidet Faraday zwei Arten, näm- lich „indifferente“ wie die Schwere und „Zweipolige“, wie elektro- statische Kraft und Magnetismus, wo die respektiven Zentren ent- gegengesetzt gerichtete Wirkungen haben. Die Kraft, welche am Zellkörper auftritt, ist eine „zweipolige Kraft“, jedoch verschieden von Magnetismus. Wir nennen sie „mitokinetische Kraft“. Um

1) Aus den Proceedings of the Royal Society auf Wunsch des Herrn Ver- fassers übersetzt.

25*

388 Hartog, Die Doppelkraft der sich teilenden Zelle.

ihr Verhalten an Modellen zu erläutern, benutzen wir magnetische Felder.

Bisher haben die Biologen sich damit begnügt, die Spindel zu betrachten als Kraftlinien, deren Lage mit dem Verlauf der Fäden zusammenfallen, wie die Eisenfeilspäne der magnetischen Kraft- linien in Luft. Aber wie Faraday selbst bemerkt, die Anwesen- heit des Eisens modifiziert die Verteilung der Linien in der Luft, in welcher sie behufs der Demonstration erzeugt werden. Was wir ın der Zelle zu untersuchen haben, ist nicht die Verteilung „geometrischer“ Kraftlinien in einem gleichförmigen Medium, son- dern die Neuverteilung eines zähen Gemenges in Komponenten, deren einer der „durchlässigere“ für die Zentralkraft ist, d. h. ihm eine leichtere Leitung gestattet. Die Wolke, die aufsteigt, wenn wir auf das mit Eisenfeilspänen bestaubte Papier klopfen, ist eine solche Mischung von durchlässigerem Staub und weniger durch- lässiger Luft: der Staub ım der Wolke sondert sich ab ın ge- krümmten Staublinien, die nachher auf das Papier fallen, wo sie durch Reibung in bestimmter Lage festgehalten werden.

Wenn wir statt der Luft eine zähe Masse anwenden (Glyzerin, aufgelösten oder geschmolzenen Balsam, oder geschmolzene Gallerte), dann können die Fasern sich auch frei bewegen; sie zeigen dann eine viel genauere Parallele zu der Zellstruktur. Wir wollen diese Fasern aus durchlässigerer Substanz, die sich aus einer Mischung von weniger durchlässiger Substanz abgesondert haben, „materielle Kraftketten“ oder der Kürze wegen „Kraftketten“ nennen, um sie von den geometrischen „Kraftlinien“ zu unterscheiden, denen sie tatsächlich einen leichteren Durchgang gestatten als das übrige Medium. Alle veröffentlichten Figuren des magnetischen Feldes, die man experimentell erhalten hat, sind tatsächlich Bilder solcher Ketten; ihre Verteilung gleicht um so genauer derjenigen der Linien in reiner Luft, je weniger Material zum Versuch gebraucht wurde.

Kraftketten gestatten der Kraft einen leichteren Durchgang als das Medium, in welchem sie liegen; folglich, wenn wir der „Flächeneinheit“ eine quantitative Bedeutung zuschreiben, wie es der Elektrotechniker tut, so können wir sagen, eine „Kraftkette“ enthält mehr Kraftlinien als eine angrenzende Röhre des Mediums von gleichem Querschnitt.

Kraftketten haben besondere Eigenschaften: sie können durch Schwere oder mechanische Kräfte abgelenkt werden und führen dank ıhrer großen Durchlässigkeit bei Ablenkung (unter den Ver- suchsbedingungen) den größten Teil ihrer Kraftlinien mit sich fort; „Kraftketten“ können bei ihrer Entstehung miteinander verschmelzen und Anastomosen oder ein rhomboidales Netzwerk bilden, sie können sich kreuzen oder in angrenzende Ebenen übergreifen.

Hartog, Die Doppelkraft der sich teilenden Zelle. 389

„Kraftlinien“ können nichts dergleichen tun: sie können niemals anastomisieren in Netzwerke, noch können sie sich kreuzen oder abgelenkt werden, außer insoweit, als das Medium, in welchem sie verlaufen, bewegt wird durch eins von geringerer Durchlässigkeit hindurch, wie es bei der dynamoelektrischen Maschine geschieht. Nun sind wir imstande, durch Kraftketten innerhalb eines magne- tischen Feldes viele Zellfiguren darzustellen, die nicht mit der An- nahme vereinbar sind, dass die Fäden Kraftlinien, reine und einfache, darstellen: folglich fallen die Einwände, die auf jene ungenügende Annahme gegründet sind. Tatsächlich sind wir imstande, jede Modifikation des Zellfeldes (oder vielmehr ıhres axıalen Durch- schnitts) durch einen entsprechenden Schnitt eines magnetischen Feldes darzustellen, wie es in unserem Apparat tatsächlich geschieht. Die bisher dargestellten magnetischen und elektrostatischen Felder waren „unbestimmt“: die Kraftlinien verlaufen ununterbrochen von einem Pol zum andern; sie zeigen: 1. die interpolare Axe; 2. eine Reihe von Kurven von Pol zu Pol, alle konkav zur inter- polaren Axe; 3. die Verlängerungen dieser Axe, von denen man annehmen kann, dass sie sich in der Unendlichkeit treffen. Nun finden wir in der Zelle außer den „Spindelfasern“, die Nr. 2 entsprechen, „Astralstrahlen“, die gerade oder sogar „kon- vex“ gegen die interpolare Axe sind und konkav zu ihrer Ver- längerung. Wir können dieses Schema im magnetischen Feld wiedererzeugen, wenn wir es mit einer Hülle von stark durch- lässigem Material umgrenzen, etwa wie die elliptische „Maske“ der Photographen, welche aus weichem Eisen geschnitten ist. Hieraus können wir schließen, dass die äußerste Schicht des Cytoplasmas (Hautschicht) sehr stark durchgängig für die mitokinetische Kraft ist. Wenn wir ferner unsere Ketten in Glyzerin machen und die Tätigkeit der magnetomotorischen Kraft nach der primären Tren- nung der Ketten noch länger andauern lassen, so erhalten wir eine viel größere Ähnlichkeit mit dem zellularen Feld. Denn da die Ketten dazu neigen in die Lage der größten Intensität zu gelangen, so treiben die Spindelketten seitlich nach innen gegen die Axe, wobei sie kürzer und dichter werden, während sie sich bewegen, und einen hellen Raum an jeder Seite lassen. Der entsprechende Raum in der Zelle hat den Namen „Bütschli’s Raum“ erhalten. Man hat angenommen, dass nur zwei Arten von Zentren (die wir schlechtweg als „positiv“ und „negativ“ bezeichnen können) ın einer zweipoligen Kraft möglich sind; und dass eine zweipolige Kraft daher unvereinbar mit der häufig in der Zelle gefundenen „Triaster“-Figur sei, in welcher drei Zentren, durch untereinander zu- sammenhängende Spindeln vereinigt werden. Gallardo hat ge- zeigt, dass in ein System von zwei entgegengesetzten Polen ım Nullpunkt ein Pol eingeführt werden kann, um als drittes Zentrum

390 Hartog, Die Doppelkraft der sich teilenden Zelle.

zu wirken: so erhielt er einen Triaster in seinem elektrostatischen Modell durch Anwendung von zwei Leitern, welche an die End- klemmen einer elektrischen Maschine befestigt wurden und eines dritten zur Erde abgeleiteten. Wir können das Gleiche mit unserm magnetischen Apparat machen, indem wir die entgegengesetzten Pole von zwei geraden Elektromagneten als positive und negative Zentren benutzen und einen Kern von weichem Eisen (ohne Rolle) als Nullzentrum (Fig. 1). Solche Figuren können durch Hinzu- fügung vermehrt werden um den „Raum zu füllen“. So wenn wir zwei Kerne (Ü) abwechselnd mit den entgegengesetzten Polen (N S) zusammenlegen, so haben wir zwei solche Triaster zu einem Rhombus vereinigt, in welchem sich in allen vier Ecken der Reihe nach Spindeln vereinigen und zwei, nämlich die Pole, durch eine diagonal verlaufende Spindel verbunden sind (Fig. 2). Setzen wir aber vier abwechselnde Pole an die Ecken eines Quadrats und einen Kern in das Zentrum, so erhalten wir die Summations- oder Anlagerungsfigur von vier Triastern (Fig. 3).

Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3. N N N u = | a EN & @ Se S S

Unter der Annahme, dass die Chromosomen außerordentlich durchlässig sind und infolgedessen der mitokinetischen Induktion unterworfen, kann das Auseinanderweichen der Halbehromosome magnetisch dargestellt werden.

Dass andere Kräfte als diese zweipoligen bei der Zeliteilung wirksam sind, ist auf verschiedene Weise gezeigt worden:

1. Die Kraft, die von der Spindelfigur ausgeübt wird, neigt dazu, ihre Pole einander näher zu bringen: daher muss ihre Trennung von protoplastischen Streck- und Ziehkräften herrühren, was zuweilen die Zentrosomen zu Kügelchen zusammenzieht, wie es abgebildet und modelliert worden ist. Die protoplasmatische Streckung kann von spiraliger Drehung begleitet sein, was wir ebenfalls modelliert und photographiert haben. Die Vergrößerung der Spindel kann zum Teil von der Umhüllung ausgehen, welche osmotisch halb- durchlässig ist und der hierdurch bedingten Turgeszenz.

Welcher Art ist die mitokinetische Kraft? 1. Sie kann nicht von der Art der Diffusion oder der Oberflächenspannung sein, die unzweifelhaft bei den Zentren vorkommen; denn diese Phänomene sınd an beiden Enden der Spindel von gleiehem Charakter und erzeugen wie elastische Kräfte (seien es nun anziehende oder ab-

Schmidt, Das Biogenetische Grundgesetz. 391

stoßende), welche innerhalb eines durchgängigen Mediums wirken, „Kreuzfiguren“, aber niemals eine Spindel.

2. Es kann nicht Magnetismus sein, denn einen isolierten Magneten mit einer einzelnen Polarität gibt es nicht: der kleinste Magnet hat zwei entgegengesetzte Pole. Aber die Zentren der Spindel sind isolierte entgegengesetzte Pole. Unser Apparat zeigt uns einen Axenschnitt von diesem Teil eines magnetischen Feldes, das sich auf dieselbe Weise verhält, als wenn es der Ausdruck von zwei ungleichen isolierten Polen wäre und insofern gibt er uns brauchbare Modelle; das ıst aber alles.

3. Wir können nicht sagen, ob die mitokinetische Kraft eine elektrostatische Kraft ist oder nicht; wir haben keinen positiven Be- weis dafür, und die Kraft kann eine in leblosen Stoffsystemen un- bekannte Kraft sein.

Die hauptsächlichen Gesichtspunkte der vorliegenden Unter- suchung sind:

1. Die Einführung eines verwendbaren Apparates zur Unter- suchung des Axenschnittes von Feldern, die durch isolierte Pole von einer zweipoligen Kraft erzeugt sind.

2. Die Formation von „Kraftketten“ in einem dickflüssigen Material, die Kenntnis ihres Charakters als eines ausgesprochenen Typus von stofflicher Konfiguration und die Untersuchung ihrer Eigenschaften.

3. Die Anwendung des Begriffes „Relative Durchlässigkeit“ und die Anwendung des Begriffes der Kraftketten auf das Problem der Zellfiguren. (Übersetzt durch A. K.) [68]

Das Biogenetische Grundgesetz. Von Dr. Heinrich Schmidt, Jena.

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war ın der biologischen und naturphilosophischen Literatur Deutschlands erst vereinzelt, dann immer häufiger die Behauptung aufgetaucht, es bestehe en Parallelismus zwischen der „individuellen Metamorphose“ und der „Metamorphose des Tierreichs“. Aber erst nachdem Darwın ge- lehrt hatte, die „Metamorphose des Tierreichs“ als historische Tat- sache aufzufassen, konnte jene geistreiche Idee in ıhrer wahren Bedeutung ‘verstanden werden. Fritz Müller war es, der als erster in seinem ausgezeichneten Schriftehen „Für Darwın“* (1564) die Rekapitulationstheorie empirisch und theoretisch mit darwini- stischem Geist erfüllte. „In der kurzen Frist weniger Wochen oder Monde, heißt es bei ihm, führen die wechselnden Formen der Embryonen und Larven ein mehr oder minder vollständiges, mehr oder minder treues Bild der Wandlungen an uns vorüber, durch

392 Schmidt, Das Biogenetische Grundgesetz.

welche die Art im Laufe ungezählter Jahrtausende zu ihrem gegen- wärtigen Stande sich emporgerungen hat.“

Ernst Haeckel hat dann, wie bekannt, diese Erkenntnis in die treffende Formel gefasst: „Die Ontogenesis ist eine kurze und schnelle, durch Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung der Phylogenesis“ (1866), und er auch hat diese Formel ihrer fun- damentalen Bedeutung entsprechend als das „Biogenetische Grund- gesetz“ bezeichnet. Dieser Name hat sich seitdem ın der wissen- schaftlichen Biologie unbestrittenes Bürgerrecht erworben ganz abgesehen von der Anerkennung oder Nichtanerkennung des Ge- setzes selbst (welch letztere in der Regel auf Nichtbeachtung der cenogenetischen Seite des Gesetzes zurückzuführen ist. Um so befremdlicher ist es, wenn neuerdings versucht wird, hier Verwirrung zu stiften.

J. Reinke spricht in seinem neuesten Buche (Philosophie der Botanik, Leipzig 1905) wiederholt von der „Analogie zwischen Phylogenie und Ontogonie*, ohne den dafür seit mehr als dreißig Jahren gebräuchlichen Namen zu verwenden. Er vermeidet ihn, soweit ich blicken kann, auch in seinen sonstigen Schriften, in denen er Veranlassung findet, die Beziehungen der Ontogenie zur Phylogenie zu erörtern. Eine Ausnahme macht er in seinen „Studien zur vergleichenden Entwickelungsgeschichte der Laminaria- ceen* (Kiel 1903), in denen er selbst die treffendsten Beispiele für das Biogenetische Grundgesetz liefert, während er im Schluss- kapitel gegen Haeckel’s „Dogma“ scharf polemisiert.

Reinke bekennt sich als „Anhänger der Hypothese, dass die ideelle und embryologische Grundform der Laminariaceen, nämlich Laminaria solidungula, zugleich die Urform des Laminarı neben le sei, von der alle übrigen abstammen“ (Lam. S. 51). Nun durch- läuft die Laminariacee Lessonia als Jugendform den Typus von Laminaria, ebenso Alaria und Ecklonia, Egregia nacheinander die Jugendformen von Laminaria, Alaria und Eeklonia ete. (Lam. S. 62); man hat nach Reinke’s eigenen Worten bei den Laminariaceen „keinen Anlass, Cenogenesis anzunehmen“ (Lam. S. 66), und „die Übereinstimmung der Ontogenese so verschiedenartiger Formen scheint dafür zu sprechen, dass der Gang der Phylogenese aller Typen durch em Zaminaria-ähnliches Stadium hindurch geführt hat“ (ebendaselbst; „scheint“, weil Reinke die Phylogenie als Hypothese betrachtet). Trotz alledem tritt Reinke ganz ausdrück- lich der Meinung entgegen, als sei er ein Anhänger des Gesetzes, oder „als zeugten die Laminariaceen zugunsten der Hypothese Haeckel’s“ (Lam. S. 57). Was Reinke verhindert, in seinen eigenen vortrefflichen Beispielen einen empirischen Beweis für die Richtigkeit des Biogenetischen Grundgesetzes zu erkennen, offen- bart sich in seiner I „Da bei gleichem Aussehen die Jugend-

Schmidt, Das Biogenetische Grundgesetz. 393

formen von Egregia schon durch ihre latenten Eigenschaften von der Jugendform einer Laminaria höchst verschieden ist“, (— was immerhin nur eine Hypothese ist! —) „so reduziert sich die Identität beider auf eine ideelle, nur bei weitgehender Abstraktion zulässige“ (Lam. S. 63).

Ohne mich eingehender auf eine Widerlegung Reinke’s &in- zulassen, will ich nur kurz bemerken, dass das biogenetische Grund- gesetz nichts weniger als eine Identität zwischen ontogenetischen und phylogenetischen Stadien behauptet, wie der ebenso wichtige als oft übersehene Beisatz: „bedingt durch Vererbung und Anpas- sung“ klar und unzweideutig beweist. Sobald man dies beachtet, erkennt man auch die Gegenstandslosigkeit der Reinke’schen Po- lemik; wie man andererseits aufhören wird, hier von einem „Dogma“ Haeckel’s zu sprechen, wenn man endlich einmal dessen oft wieder- holte, anscheinend aber eben so oft überhörte Erklärung beachtet, dass die Stammesgeschichte ein Hypothesengebäude sei und bleibe, geradeso wie ihre Schwester, die historische Geologie (so noch im Vorwort zur Systematischen Phylogenie, Bd. I, 1894, S. V]).

Das genüge zur Verteidigung des Biogenetischen Grundgesetzes, soweit dessen sachliches Verständnis in Betracht kommt; meine Absicht geht hier noch auf ein anderes.

Seine „Studien zur vergleichenden Entwickelungsgeschichte der Laminariaceen“ beschließt Reinke mit den Worten: „Allerdings gibt es ein biogenetisches Grundgesetz, das sich auf der Gesamt- heit unserer biologischen Erfahrungen aufbaut, und zu dessen freu- digen Anhängern ich mich bekenne, aber es lautet ganz anders als das von Haeckel verkündigte. Dies wahre biogenetische Grund- gesetz lautet: „Ömne vivum ex ovo; omnis cellula e cellula*.

Konnte die willkürliche Übertragung eines bereits mit einem Inhalt erfüllten, klar bestimmten Ausdrucks auf einen andern In- halt hier noch als eine gelegentliche Entlehnung aufgenommen werden, so lässt die „Philosophie der Botanik“ keinen Zweifel mehr darüber bestehen, dass Reinke in der Tat die Absicht hat, den Ausdruck in einer von der bisherigen durchaus abweichenden Weise zu gebrauchen. Es heißt in diesem Buche auf Seite 121: „Das Fundamentalgesetz aller Biologie lautet: Die Organismen werden von ihresgleichen geboren. Sie entstehen nicht wie die Kristalle und Gesteine aus einem Substanzgemenge, das nicht ihres- gleichen wäre. Dieser Satz ıst darum von so großer Bedeutung, weil er im Gegensatz zu den meisten biologischen Gesetzen in Übereinstimmung aller Erfahrung keine Ausnahme zulässt. Es ist das wahre biogenetische Grundgesetz“. (Von mir selbst gesperrt.) Seite 184 heißt es sodann: „Unsere Erörterungen haben das biogenetische Grundgesetz: omnis cellula e .cellula mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass der Ursprung des Lebens

394 Rössle, Die Bedeutg. der Immunitätsreaktionen f. d. Verwandtschaft d. Tiere.

unbekannt ist“. Und Seite 185: „Danach reicht das oben formu- lierte biogenetische Grundgesetz: Omnis cellula e cellula nur bis auf die Urzellen, schließt diese selbst aus.“

Die Konsequenz dieses Satzes ist für Reinke die Erschaffung der Urzeilen durch eine „kosmische Intelligenz“. Darüber mich hier in Erörterungen einzulassen, ıst nicht mein Geschäft; ganz entschieden aber protestiere ich gegen die missbräuch- liche Anwendung der Bezeichnung „Biogenetisches Grund- gesetz“. Nicht etwa deshalb, weil mir (oder der Wissenschaft überhaupt) besonders viel an einem Namen an sich gelegen wäre; sondern deshalb, weil zu befürchten ist, dass das Reinke’sche quid pro quo Schule machen und dadurch in der Biologie Ver- wirrung und Unsicherheit anrichten wird. Ihre zwar nur relative, aber innerhalb dieser Einschränkung durchaus zu ihrem Wesen ge- hörige Sicherheit wird der Wissenschaft nur dadurch garantiert, dass es innerhalb ihres Bereiches nicht gestattet ist, einen für eine bestimmte Vorstellung gebrauchten Ausdruck beliebig auf eine andere, von der ersten wesentlich verschiedenen Vorstellung zu übertragen.

Mag man darum den: Satz: omnis cellula e cellula, um eine kurze Bezeichnung dafür zu haben, etwa das Virchow ’sche Ge- setz nennen (womit noch gar nichts über die Grenzen seiner Gültig- keit ausgesäagt wird): Der Ausdruck „Biogenetisches Grund- gesetz“, wie ihnErnstHaeckel vor fünfunddreißig Jahren aufgestellt hat, kann auch fernerhin nur auf die behaup- tete Kausalbeziehung zwischen Phylogenie und Onto- genie Anwendung finden, und auf nichts anderes.

Die Bedeutung der Immunitätsreaktionen für die Ermittelung der systematischen Verwandtschaft der

Tiere. Von Privatdozent Dr. Robert Rössle.

Die Fülle an überraschenden und bedeutungsvollen Ergebnissen, welche die Immunitätsforschung trotz ihres jugendlichen Alters zu- tage gefördert hat, ıst geeignet, das Ansehen der Medizin als einer biologischen Wissenschaft zu befestigen. Die Lehre von den Antı- körpern, wie sie aus der Bakteriologie hervorgegangen ist, scheint aber nicht nur dazu berufen zu sein, für die nächste Zeit den Brennpunkt des Interesses innerhalb der Kreise der ärztlichen Forscher zu bilden, sondern das Studium der Antikörper hat zur Feststellung von Tatsachen geführt, welche über den Kreis der medizinischen Fächer hinaus für zentrale Fragen der allgemeinen Biologie von Bedeutung sind. Indem die Medizin zur Lösung der

Rössle, Die Bedeutg. der Immunitätsreaktionen f. d. Verwandtschaft d. Tiere. 395 , 8

Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur und nach den verwandtschaftlichen Beziehungen der Tiere wichtige Beiträge, eine brauchbare Methode und eine willkommene Bestätigung des durch die bisherigen Hilfsmittel beigebrachten Tatsachenmateriales liefert, trägt sie einen Teil des Dankes ab, den sie den biologischen Naturwissenschaften für die im 19. Jahrhundert durch sie gewonnene neue wissenschaftliche Grundlage verdankt.

Das Problem der Abstammung des Menschengeschlechts, „die Frage aller Fragen für die Menschheit“ (Huxley) lag bisher nur ım Arbeitsgebiet der Paläontologie, der vergleichenden Anatomie und der Entwickelungsgeschichte und noch 1899 konnte Haeckel in seinem Vortrag „über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ur- sprung des Menschen“ sich dahin aussprechen, dass zur definitiven Lösung dieser Hauptfrage nur die wissenschaftliche Zoologie be- rufen sei. Unterdessen ist unsere Kenntnis über Anthropogenie um ein wertvolles Zeugnis durch die Entdeckung der Präzipitine bereichert worden, ein Zeugnis, das freilich wenig Neues beige- bracht hat, das im wesentlichen nur bestätigt hat, was jene drei Disziplinen, die sich bisher mit dem Ursprung des Menschen be- schäftigten, festgelegt haben, ein Zeugnis, das aber gerade wegen seiner Natur als einer chemischen, objektiven Reaktion hochwill- kommen sein musste. Wer je mit Staunen gehört hat, mit welchem Aufwand von Kombination die bedauerlichen Lücken in den palä- ontologischen Urkunden ausgefüllt, wie allzu geschickt die Klüfte zwischen den spärlichen Tatsachen übersprungen werden, dem musste die Bekräftigung der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Affe und Mensch in chemischer Hinsicht besonders erwünscht sein.

Die Präzipitine sind übrigens nicht die einzige Gruppe von Antikörpern, welche zum Nachweis verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen Tierarten geeignet sind. Auch die beiden anderen Re- aktionsprodukte des lebenden höheren Organismus, die Hämolysine und die Agglutinine vermögen unter Umständen dem gleichen Zwecke zu dienen. Gemeinsam ist den drei Gruppen der Lysine, Agglutinine und Präzipitine die Augenfälligkeit der Reaktion und der hohe, doch nicht absolute Grad der Spezifität. In diesen bei- den Eigenschaften liegt ihr diagnostischer Wert: die Lysine, ge- wonnen durch intraperitoneale, intravenöse oder subkutane Injektion zelligen Materiales lösen zelliges Material gleicher Herkunft, z. B. die Blutkörperchen des Tieres, dessen Blut zur Injektion gedient hat, aber auch die Blutkörperchen nahe verwandter Tierarten; die Agglutinine, gewonnen ebenfalls durch Injektion von Zellen, agglu- tinieren, d. h. verkleben Zellen gleicher Herkunft und nahver- wandte Stämme; die Präzipitine, gewonnen durch Einverleibung eiweißhaltiger Flüssigkeiten, erzeugen Niederschläge in diesen oder in biochemisch sehr nahe stehenden Lösungen. Die Bedeutung

396 Rössle, Die Bedeutg. der Immunitätsreaktionen f. d. Verwandtschaft d. Tiere.

der nicht vollkommenen Spezifität der gewonnenen Antikörper liegt auf der Hand: sie ermöglicht die Beurteilung der syste- matischen Zugehörigkeit von Zellen und Eiweißstoffen und deren Produzenten. Je deutlichere Reaktion mit (nicht spezifischem) Serum z. B. eine Blutkörperchenart gibt, desto näher muss sie denjenigen Blutkörperchen stehen, welche die Produktion des spezifischen Antikörpers veranlasst haben; wird z. B. ein Kaninchen mit In- jektionen von Hühnerblut behandelt (es erhält in 4—5tägigen Inter- vallen je 10 ccm oder steigende Mengen defibrinierten Hühnerblutes), so erhält man ein Kaninchenserum, welches Hühnerblutkörperchen stark löst, Taubenblut nur schwach, Entenblut vielleicht nicht. Es kommt im wesentlichen auf den Grad der Immunität des Ver- suchstieres an, inwieweit das erhaltene Antiserum spezifisch bleibt. Je mehr wir den Titer des Serums für Hühnerblut in die Höhe treiben (durch Einverleibung gesteigerter Dosen des Impfmaterials), desto mehr nichtspezifische Blutarten begreift das gewonnene hämo- lytische Serum in seine Wirkung ein. Doch wird immer das spe- zifisch empfindliche Blut (Ausgangsmaterial) am stärksten gelöst; bei gehörigen Verdünnungen des Serums wird nur dieses und kein anderes Blut angegriffen. Ist das Serum schwach, so wirkt es überhaupt nur auf die Zellenarten, welche zu seiner Herstellung gedient haben. So besitze ich zurzeit ein vom Kaninchen, durch subkutane Injektionen von Paramäcium caudatum gewonnenes Se- rum, welches nur auf dieses und nicht auf andere Paramäcienarten wirkt. Spritzt man das Versuchstier mit dem Serum des Huhnes, so erhält man an Stelle von Lysinen und Agglutininen spezifische Präzipitine.

Im einzelnen gestaltet sich die Gewinnung von Präzipitinen etwa folgendermaßen. Das Material, welches zur Immunisierung dienen soll, muss steril oder wenigstens frei von pathogenen Mikro- organısmen gewonnen sein. Die Injektion geschieht subkutan, intraperitoneal oder intravenös. Die gebräuchlichsten Versuchstiere zur Gewinnung von Präzipitinen sind Kaninchen. Die verschie- denen Arten der Einverleibung der Antigene sind nicht gleich- wertig. Die subkutane Methode gefährdet das Tier am wenigsten; man wird sie wählen, wenn man eine langsame Resorption des fremden Stoffes für wünschenswert hält, z. B. wegen großer Giftig- keit desselben oder bei zweifelhafter Sterilität. Doch scheint ge- rade für die Fabrikation von Präzipitinen die Einführung des Materials in das subkutane Zellgewebe im allgemeinen nicht em- pfehlenswert zu sein. Während nämlich zelliges Material an diesem Orte gut vertragen wird, erlebt man nach Einspritzung eiweiß- haltiger Flüssigkeiten, insbesondere von Serum artfremder Tiere häufig Abszessbildung, auch wenn die Stoffe sicher steril waren. Hier ist also mehr die intravenöse und intraperitoneale Injektion

Rössle, Die Bedeutg. der Immunitätsreaktionen f. d. Verwandtschaft d. Tiere. 397

am Platze. Die erstere steht in dem Rufe, die schnellste und kräftigste Reaktion des Körpers zu veranlassen, doch wird man davon abstehen müssen, falls es sich um die Behandlung mit aus- gesprochen giftigen Eiweißlösungen handelt, weil die rasche Über- führung der Gifte zu den spezifisch empfindlichen Zellen durch das Blut eine tödliche Intoxikation auch bei einer Dosis bewirken kann, welche subkutan oder intraperitoneal noch gut ertragen worden wäre. Im allgemeinen erfreut sich die intraperitoneale Injektion der größten Beliebtheit, sie ist technisch ebenso einfach wie die beiden anderen Methoden, garantiert eine Antikörper- produktion wohl ebenso sicher wie die intravenöse Einspritzung und schwächt die Giftwirkung des eingeführten Stoffes durch lang- samere Überführung in das Blut doch erheblich ab. Gewöhnlich genügt die einmalige Einbringung des toten Impfstoffes in den Körper nicht zur Erziehung einer nachweisbaren Antikörper- produktion. Die Impfung muss in Abständen von mehreren (2—7 Tagen) wiederholt werden. Die Menge, welche injiziert werden soll, richtet sich nach Art, Konzentration und Giftigkeit des Antigens. Ein konkretes Beispiel möge hier einen annähernden Anhaltspunkt geben: es handele sich um die Präparation eines Kaninchenserums, welches in fremder Blutlösung Niederschlag (Präzipitat) bilden soll; man wird in jedem Falle gut tun, mit geringen Dosen zu beginnen, also z. B. bei Seruminjektionen mit 5 cem, und diese Gabe zu steigern, indem man nach 4-5 Tagen das Doppelte gibt und dann langsamer in die Höhe geht bis etwa zur Maximaldosis von 20—30 cem. Man wird dann nach mehrwöchentlicher Behandlung auf das Vor- handensein eines kräftigen Antiserums rechnen dürfen. Von dem Fortgang der Immunisierung kann man sich, jeweils einige Tage nach der letzten Injektion, beim Kaninchen sehr leicht durch Probe- entnahmen von Blut aus der Ohrvene überzeugen. Dies ist ratsam, weil infolge einer übertriebenen Immunisation der schon vorhanden gewesene Antikörper merkwürdigerweise wieder aus dem Blute verschwinden kann. Vielfach besteht deshalb und aus anderen Gründen, auf die einzugehen hier nicht nötig ist, die Gewohnheit, die Tiere nach Erreichung eines genügenden Immunitätsgrades, ca. 1 Woche nach der letzten Injektion zu entbluten.

Kehren wir nach dieser Abschweifung auf das technische Ge- biet zum eigentlichen Gegenstand zurück. Wir haben gesehen, dass die Möglichkeit, die Verwandtschaft von Tier A zu Tier B auf biochemischem Wege festzustellen, darauf beruht, dass ein gegen die Körperflüssigkeiten und Zellen von A präpariertes Antiserum nicht absolut spezifisch ist, sondern einen deutlichen, wenn auch schwächeren Einfluss auf Körpermaterial von B zeigt; ferner, dass dieser Einfluss um so ausgesprochener ist, je näher das Tier B dem Tier A steht. Es gibt aber außer diesem noch ein bio-

398 Rössle, Die Bedeutg. der Immunitätsreaktionen f. d. Verwandtschaft d. Tiere,

chemisches Kriterium für das nahe verwandtschaftliche Verhältnis der beiden Arten: mit Zellen oder Serum von A, der einen Art, lassen sich im Körper von B, der anderen Art, keine Antistoffe gewinnen: so liefert der anthropoide Affe keine Antikörper für Menschenserum und Menschenblutkörperchen.

Wenn trotz dieser mehrfachen Möglichkeit, die verwandtschaft- lichen Beziehungen des Menschen und der Tiere zu studieren, in neuester Zeit doch fast ausschließlich die Präzipitinreaktion zu diesem Zweck verwendet wurde, so liegt dies in erster Linie an dem schnellen Eintritt der Reaktion, der Handlichkeit und enormen Empfindlichkeit der Methode und an der Unabhängigkeit von dem leicht verderbenden zelligen Materiale; in diesen Vorzügen liegt es auch zumeist begründet, dass die Präzipitinreaktion auch für andere Gebiete, wie für die gerichtliche Medizin und die Nahrungs- mitteluntersuchung, sich außerordentlich wertvoll erwiesen hat. Die Reaktion besteht darın, dass die Flüssigkeit, die zur Immunisation verwendet wurde, mit dem Serum des immunisierten Tieres zu- sammengebracht, einen Niederschlag gibt. Ist das Serum kräftig, so erfolgt derselbe sofort, ıst es schwach, so entsteht vielleicht nur eine wolkige Trübung. Den Niederschlag nennt man „Prä- zipitat“, und heißt das Serum des betreffenden Versuchstieres „prä- zipitierend“, obwohl jetzt feststeht, dass dieses bei der Reaktion das passive Reagens darstellt, d. h. dass es von der Substanz, welche zur Impfung gedient hat, niedergeschlagen wird, nicht um- gekehrt.

Die Entdeckung der spezifischen Niederschläge geht auf Kraus (1897) zurück: derselbe fand, dass im keimfreien Filtraten aus Cholera-, Typhus- und Pestbouillonkulturen durch homologes (d. h. spezifisches Anti-)Serum Niederschläge erzeugt werden. Tschisto- witsch zeigte, dass das giftige Aalserum mit dem antitoxischen Serum gemischt, ein Präzipitat liefert; Bordet war der erste, welcher durch Immunisierung gegen die Körperflüssigkeiten höherer Tiere Präzipitine erzeugte: er gewann ein gegen Hühnerblutserum gerichtetes spezifisches Penn und durch Einspritzung von Milch ein sogen. Laktoserum, welches die Impfmilch fällte. _ War schon durch Kraus’ Arbeit der Nachweis erbracht, dass die Niederschläge nur durch das homologe Immunserum erhalten werden, dass es also z. B. nicht gelingt, in Cholerafiltraten durch Typhusserum eine Reaktion zu bekommen, so erhielt diese Feststellung einer weitgehenden Spezifität besonders durch Fish eine wertvolle Be- stätigung; er zeigte, dass verschiedene Milcharten, z. B. Frauen- und Kuhmilch mittelst spezifischer Antisera unterschieden werden können. Lag hierin schon ein Hinweis darauf, dass sich die Prä- zipitinreaktion zu diagnostischen Zwecken in der Nahrungsmittel- chemie verwenden lassen würde, so machten andererseits fast

Michaelis, Die Bindungsgesetze von Toxin und Antitoxin. 399

gleichzeitig Uhlenhut und Wassermann auf die forensische Be- deutung des Verfahrens zur Unterscheidung von Menschen- und Tierblut aufmerksam. Dass man in der Präzipitinreaktion eine biologische Bestätigung der Deszendenztheorie vor sich habe, wurde durch die Feststellungen von Wassermann, Schütze und Stern zuerst wahrscheinlich; sie fanden, dass ein Antimenschenserum auch in Blutlösungen von einzelnen Affenarten Niederschlag gab. Auf Grund des gleichen Vorganges war schon von anderen Autoren auf die nahe Verwandtschaft von Huhn und Taube (Bordet, Uhlenhut), Pferd und Esel, Fuchs und Hund, Ziege und Schaf (Uhlenhut) hingewiesen worden. In großem Maßstabe wurde der Versuch, die Tiere mittelst der biochemischen Methode, zu systematisieren, von Nutall in Angriff genommen; die Resultate seiner Untersuchungen, die Frucht einer großen, mühseligen Ar- beit, hat der englische Bakteriologe in seinem 1904 erschienenen Werke: Blood immunity and Blood relationship (Cambridge 1904), wieder gegeben. (Schluss folgt.)

L. Michaelis. Die Bindungsgesetze von Toxin und

Antitoxin. 8°, 62 S. Gebr. Borntraeger, Berlin 1905.

Die kleine Schrift ist aus einem Sammelreferat im Biochemischen Centralblatt hervorgegangen. Dass sie in etwas erweiterter Form für sich erschienen ist, erscheint wohl berechtigt. Denn sie gibt in klarer und leicht verständlicher Weise ein Bild von den wich- tigsten Tatsachen, die wir über die Wirkungsweise der Antikörper heute kennen, und führt vortrefflich in die lebhafte Diskussion ein, welche über die verschiedenen, zur Erklärung der Tatsachen auf- gestellten Theorien im Gange ist. Da nun die eigentümlichen Be- ziehungen, in denen die vom lebenden Organismus erzeugten Anti- körper zu den sie hervorrufenden fremdartigen Substanzen stehen, vermutlich unsere Vorstellungen über den Mechanismus des Stoff- wechsels ın einigen Punkten klären werden eine Beziehung, die Ja in allererster Linie in den Ehrlich’schen Theorien zum Ausdruck kommt so erscheint die kleine Schrift der Beachtung aller Biologen wert.

Der Hauptpunkt, auf den der Verf. seine Darstellung konzen- triert, ist die Bedeutung des Guldberg-Waage’schen Massen- wirkungsgesetzes bei der Bindung der Antikörper; da er selbst auf diesem Gebiete gearbeitet hat, so steht er selbstverständlich durchaus nicht neutral den verschiedenen Theorien gegenüber; er kommt zu dem Schluss, dass in allen wesentlichen Punkten die Ehrlich’schen Theorien die beste Erklärung der bekannten Tatsachen liefern, dass das Massenwirkungsgesetz tatsächlich und auch theoretisch nur geringe Bedeutung habe, da es sich im wesentlichen um irre-

400 Zacharias, Zur Benachrichtigung.

versible Prozesse handle, dass aber wichtige Ergänzungen zu dem Ehrlich’schen Gesetz der konstanten Proportionen zu erwarten seien, wenn wir erst die Gesetze der gegenseitigen Bindung kolloi- daler Stoffe besser kennen werden ein Forschungsgebiet, auf dem eben erst die Fundamente gelegt sind.

Ein Literaturverzeichnis von 77 Nummern beschließt die kleine Schrift. WER,

Zur Benachrichtigung. Von Dr. Otto Zacharias (Plön).

Ich gestatte mir, die p. t. Leserschaft des Biolog. Centralblattes davon in Kenntnis zu setzen, dass die „Forschungsberichte aus der Biologischen Station zu Plön“ vom 1. Juli er. ab unter dem veränderten Titel „Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde“ erscheinen werden. Es hatte sich schon im Laufe der letztverflossenen drei Jahre herausgestellt, dass der Umfang der Jahresbände zu greß wird, wenn sie das Material aufnehmen sollen, welches ihnen von den verschiedensten Seiten her zufließt. Wird das Archiv vorwiegend auch genau so wie die früheren Forschungsberichte Abhandlungen aus dem Gebiete der Süßwasserbiologie bringen, so soll doch insofern eine Neuerung ein- treten, als künftighin auch das marine Plankton zum Vergleich mit herangezogen werden soll, wenn es sich um die Ergründung physiologischer Fragen und nament- lich solcher Organisationseigentümlichkeiten handelt, welche die Schwebfähigkeit jener Tier- und Pflanzenformen bedingen.

Das Archiv für Hydrobiologie soll vierteljährlich erscheinen, aber nicht so, dass die Ausgabe der vier Hefte immer genau mit dem Kalenderdatum zusammen- trifft. Eine solche streng an die Zeit gebundene Erscheinungsweise verträgt sich nicht mit der Natur der Forschungsarbeiten, deren Resultate vorgelegt werden sollen. Es kommt vor, dass gewisse Beobachtungen im Freien durch Wetterungunst beeinträchtigt oder ganz gehemmt werden, und in solchen Fällen verzögert sich dann deren Abschluss resp. deren Publikation, ohne dass weder der Autor noch der Herausgeber irgendwelche Schuld daran haben. Trotz solcher Eventualitäten soll aber der Quartalsturnus für die Ausgabe der einzelnen Hefte möglichst einzu- halten versucht werden.

Der Verlag des Archivs ist selbstverständlich derselbe, wie derjenige der Forschungsberichte: Erwin Nägele, Stuttgart.

Wie der soeben erschienene XII. Band der Plöner Berichte, so werden auch die ferneren Bände des Archivs stets eine Zusammenstellung der auf dem Felde der Hydrobiologie publizierten Gesamt-Literatur (als Anhangsteil) enthalten. [46]

Selbstberichtigung.

In meinem Artikel „Anti-Reinke II“ habe ich es auf S. 304 dem Autor der „Philosophie der Botanik“ zu Unrecht vorgeworfen, er schriebe stets „phylogonetisch“ statt „phylogenetisch“. Ich bedaure sehr diesen von mir begangenen Irrtum, der sich wohl dadurch erklären dürfte, dass Reinke an Stelle der vielleicht gebräuch- lichen Wörter „Ontogenie“ und „Phylogenie“ die ebenso richtigen „Ontogonie“ und Phylogonie“ verwendet. Dagegen druckt er überall richtig ‚ontogenetisch“ und „phylogenetisch. Kienitz-Gerloff.

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

iologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen.

XXYV.Bad. 15 Juni 100598 ie 12.

Inhalt: Oliver, Über die neuentdeekten Samen der Steinkohlenfarne. Rössle, Die Bedeutung der Immunitätsreaktionen für die Ermittelung der systematischen Verwandtschaft der Tiere (Sehluss). James and Glen Liston, A Monograph of the Anopheles Mosquitoes in India, Dutton, Todd and Christy, The Congo Floor-Maggot.

Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne. Von F. W. Oliver.

„Les recherches de la botanique fossile tendent ä combler peu ä peu les vides qui existent entre les grandes coupes du regne vegetal; elles &tablissent des liens nombreux entre les familles et les classes qui paraissent actuellement assez &@loignees les unes des autres, et font connaitre les pertes que le monde des plantes a @prouvees en traversant les siecles.‘‘ B. Renault.

Das Auffinden von beweglichen Spermatozoiden bei Uycas und anderen primitiven Mitgliedern der Gymnospermenreihe hat dem nützlichen Zwecke gedient, die nahen zwischen dieser Klasse und den Pteridophyten bestehenden Beziehungen zu betonen. Schon vor der Entdeckung dieser Spermatozoiden hatten sich nämlich eine reiche Anzahl von Tatsachen angesammelt, die dem Gebiet der palä- ophytologischen Forschung entsprangen und die künstliche Schranke zwischen diesen Gruppen zu durchbrechen versprachen. Eine ausge- dehnte Pflanzengruppe ist in den Gesteinen des Permocarbons zum vor - schein gekommen, deren innere Anatomie einen Übergangscharakter zwischen Farnen und Cycadeen zur Schau trägt, während die äußere Gestaltung an die der Farne erinnert. Damals und bis vor

xXXV. 26

402 Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne.

w

kurzem waren wir in Unkenntnis der Fortpflanzungsmethode irgend- eines Mitgliedes dieser Übergangsgruppe; durch die anatomischen Eigentümlichkeiten waren diese Pflanzen aber als wirkliche Über- gangsformen gekennzeichnet.

Die fossile Pflanzengruppe, welche diese merkwürdigen Charak- tere besitzt, ist unter dem Namen der „Halbfarne‘ oder 'ycadofilices bekannt geworden; die Benennung drückt in passender Weise die Mittelstellung zwischen Farnen und Cycadeen aus, worauf die ana- tomische Struktur hindeutet.

Die Gruppe war eine ausgedehnte und enthielt eine Anzahl von verschiedenen Familien, von denen die Lyginodendreae, Medul- loseae, Cycadoxyleae und Oladoxyleae am besten bekannt sind.

Im vorliegenden Falle wird es zweckmäßig sein, eine kurze Beschreibung vom Habitus und von der anatomischen Struktur von Lyginodendron Oldhamium zu geben; diese ist nämlich nicht nur die am meisten untersuchte und am vollständigsten bekannte von allen Typen der Cycadofilicineen, sondern besitzt außerdem ein besonderes Interesse mit Bezug auf die neueren Entdeckungen.

Lyginodendron Oldhamium.

Die echtversteinerten Reste von Lyginodendron finden sich in großen Mengen in den unteren Steinkohlenablagerungen des Nordens von England; sie kommen auch in den Steinkohlenlagern West- falens vor.

Bei dieser Pflanze aber, wie in so vielen anderen Fällen, wo es auf Zusammenfügen von fossilen Resten ankam, ist der Vor- gang des Sichtens und der Wiederherstellung der verschiedenen Organe ein schwieriger und mühseliger gewesen. Die Stämme wurden schon durch Binney 1866 bekannt; seitdem verflossen aber 30 Jahre (bis 1896), ehe die vegetativen Organe von Lyginodendron voll- ständig bekannt wurden und zwar vornehmlich durch die lang fort- gesetzten Untersuchungen W illiamson’s!). Die vollendete Abhand- lung, welche die Klarlegung dieser Pflanze als eine organische Einheit kennzeichnet, muss stets in den Annalen der paläobotanischen Forschung eine denkwürdige bleiben?). Wenige Jahre später wurde eine Wiederherstellung der Pflanze von Herrn Dr. D. H. Scott veröffentlicht und die beigegebene Fig. 2 ıst darauf basiert?). Sie zeigt den farnartigen Habitus unserer Pflanze, die eine große An- zahl von Wedeln vom Sphenopteris-Typus in ?/,spiraliger Divergenz auf

1) Williamson, On the Organisation of the Fossil Plants of the Coal- measures, Pts. IV, VI, XIII, XVII.

2) Williamson und Scott, Further Obseryations u. s. w., Part. III, Phil. Trans., B vol. 186 (1895).

3) Diese Figur ist mit der gütigen Erlaubnis des Herrn Dr. Scott repro- duziert.

Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne. 403

den schlanken 1—3 cm dicken Stämmen trägt. Im unteren Teile be- finden sich die Adventivwurzeln, welche in beträchtlicher Menge von der Basis des Stammes entsprangen. Stamm, Blattstiele und Blätter tragen einen reichlichen Überzug von stachelartigen Eimergenzen. Die schlanken Proportionen, sowie die überall an Blättern und Stämmen vorkommenden Stacheln haben die An- nahme erregt, dass wir es hier vielleicht mit einer Kletterpflanze, ähnlich wie Darvallia aculeata unter den heutigen Farnen, zu tun haben. Die große Mehrzahl der untersuchten Stämme sind unver- zweigt; neuerdings jedoch sind auch verzweigte Exemplare ange- troffen worden und in dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, dass die Zweige in manchen Fällen aus den Blattachseln entsprangen. Es wird weiter unten auf die eigenartigen, büscheligen Anhänge, die in der Wiederherstellung (Fig. 1) auf den oberen Wedeln sitzen, zurückzukommen sein.

Obschon in der äußeren Gestaltung unsere Pflanze ohne Zweifel den Habitus eines Farnes trägt, weist die anatomische Struktur des Stammes sofort Merkmale auf, die den Cycadeen eigen sind. Ein Querschnitt eines gewöhnlichen Stammes (Fig. 2) zeigt, dass derselbe monostelisch war; im Zentrum liegt ein großes Mark, um welches herum eine Anzahl Xylemstränge, die primären Holzgruppen der Gefäßbündel, gelagert sind (=!). Darauf folgt eine breite Zone von sekundärem Holz, welches aus einem Cambium hervorgeht in derselben Art und Weise, wie es für Gymnospermen und Dikotyledonen charakterisch ist. Außerhalb des Cambiums erkennen wir das Phloem und noch weiter nach außen das Perieykel (pe), in dem die austretenden Blattspurstränge (bs) verlaufen. Außer- halb der Blattspurstränge befindet sich eine Peridermscheide (Kork, k), während die Außenrinde, die „Dietyoxylon-Rinde* (dr) der Paläobotaniker, durch die Gegenwart von deutlichen, verfloch- tenen Sklerenehymbändern gekennzeichnet ist. Die peripherischen Bündel sind die Blattspuren, die fünf Internodien hindurch im Pericykel verlaufen, ehe sie in die Blätter übergehen. Indem die- selben austreten, werden sie durch neue Stränge, die im Pericykel erscheinen, ersetzt; diese Stränge, die rasch durch die sekundäre Holzzone hindurchtreten, entstammen denjenigen im Mark. In der Fig. 2 ist das Bündel BS, (im Zentrum, gegen unten zu) soeben aus dem Holze auf diese Weise ausgetreten.

Jedes neue Bündel teilt sich beim Eintritt in das Pericykel in ein Bündelpaar, welches schließlich in die Blattbasis übergeht. . Was ihre Struktur anbelangt, so sind die Stammbündel mesarch und kollateral, wie die Blattbündel der lebenden Cycadeen. Beim Eintritt in die Blätter werden sie vollkommen konzentrisch, d. h. das Holz wird von Phloem ringsum umschlossen; der mesarche Charakter wird jedoch beibehalten.

26*

404 Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne.

Der Stamm von ZLyginodendron zeigt also einen Übergang zu den Cycadeen in dem Vorkommen dieser Bündelstruktur und in der Natur seines sekundären Holzes, welches reich an parenchy- matischem Markstrahlgewebe ist. Das Blatt hingegen ist noch vollkommen farnähnlich, sowohl in der äußeren Gestaltung (Fig. 1),

ANLZAIUNN

Wiederherstellung von Lyginodendron Oldhamium (nach Scott’s „Studies“).

wie ın der inneren Beschaffenheit. Die Wurzeln, die in manchen Hinsichten denjenigen der Farne ähnlich sind, erinnern im verdickten Zustande an Gymnospermenwurzeln. Damit wäre die Mittelstellung von Lyginodendron zwischen Farnen und Cycadeen, wie es die vege- tativen und anatomischen Merkmale bezeugen, zur Genüge darge- legt. In manchen Hinsichten zeigt die lebende Farngattung Osmaunda

zu

= ER

Oliver, Über die neuentdeekten Samen der Steinkohlenfarne. 405

beträchtliche Analogien in ihrer Struktur mit unserer Pflanze, nament- lich was das Mark und die Bündel betrifft.

Für die richtige Würdigung der gegenseitigen Stellung von Lyginodendron und der Oycadofilices ist es wahrscheinlich kein ernst- licher Nachteil gewesen, dass die Samen des ersteren von allen

Stammquerschnitt von Lyginodendron Oldhamium. Außerhalb des sekundären Holzringes befinden sich vier Paare von Blattspurbündeln (einige etwas verschoben) und eine ungeteilte Blatt- spur (im Zentrum gegen unten zu). Die primären Holzstränge liegen um die Markperipherie herum. Der ganze Querschnitt ist von einer

&i F gutentwickelten „Dietyoxylon-Rinde“ umschlossen. Die dunkeln Flecken im Marke und im Pericykel sind „Sklerenchymnester“. BS,, Eine Blattspur, die soeben durch den Holzring aus dem Marke ausgetreten ist; PC, Perieykel; BS, Ein Paar von Blattspurbündeln, K, Korkschicht; ir, Innenrinde; DR, äußere Dietyoxylon-Rinde; X!, primärer Xylemstrang; S, Eingedrungene Stigmaria-Anhängsel.

seinen Organen zuletzt der Wissenschaft bekannt wurden. Da die vegetativen Organe so lange Zeit hindurch allein vorlagen, ist man genötigt worden, sich auf die anatomische Struktur bei der Bestim- mung der Verwandtschaftsverhältnisse dieser Pflanzen zu verlassen. Das führte zu der allgemeinen Erkenntnis der Mittelstellung der Uyeadofilices zwischen den Farnen und den Cycadeen. Wäre z. B. Lyginodendron vom Anfang an mit seinen Samen aufgefunden worden

406 Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne,

zu einer Zeit, wo man weniger Gewicht auf die anatomischen Merk- male legte, als heutzutage, so hätte man es höchst wahrscheinlich als von einer ausgestorbenen Cycadee nicht wesentlich verschieden auf- gefasst. Die oberflächlichen Ähnlichkeiten zwischen Farnen und Cyca- deen sind wohlbekannt. Bei der ersten Entdeckung wurde Stangeria paradoxa der Farnengattung Lomaria zugerechnet; und das folgende Zitat aus Schleiden’s „Grundzüge“, III. Aufl. 1849 veranschaulicht den Standpunkt eines Forschers, der zu seiner Zeit nicht in der Lage war, feinere anatomische Unterschiede ernstlich in Betracht zu ziehen. Die Erwähnung der Spore am Ende des Zitats bezieht sich auf die irrige Schleiden’sche Theorie der Befruchtung der Samenanlage.

„So haben wir bei Oycas in allen wesentlichen Merkmalen das Sporophyll des Farnkrautes, und Cycas würde ein Farnkraut seyn, wenn nicht die eigenthümliche Entwicklungsweise der Spore (des Pollenkorns) zur Pflanze eine so scharfe Grenze zöge*.

Vor dem neuerdings stattgefundenen Fortschritt in der Kenntnis der Fortpflanzungsmethoden war die Sachlage also die folgende.

Die vegetativen Organe deuteten auf eine Mittelstellung zwischen Farnen und Cycadeen, aber bei dem Mangel an anderweitigen Beweisen blieb es vollkommen dahingestellt, ob der Fortpflanzungs- prozess von dem kryptogamischen zu einem gymnospermischen vorgeschritten war!).

Lagenostoma, der Samen von Lyginodendron.

In Lyginodendron schien daher eine Pflanze vorzuliegen, deren Stellung auf oder in der Nähe der Hauptstraße lag, die von den Filicineen zu den Cycadeen führte. Zu lösen blieb noch die Frage, ob im Zusammenhang mit dem anatomischen Fortschritt ın der Richtung der Cycadeen unsere Pflanze schon den Rubikon über- schritten hatte und eine wahre Samenpflanze geworden war.

Die Hypothese, dass Lygenodendron eine Samenpflanze sei, war sicherlich ım Einklange mit der höheren anatomischen Differen- zierung, und die Entstehung von samenähnlichen Organen (Zepido- carpon) ın dem getrennten Verwandtschaftskreise der ZLycopodiales (2, D.H. Scott) wirkte einigermaßen als indirekte Stütze für diese Ansicht. Wäre die Hypothese wohl begründet und das Problem lösungsfähig, so dürfte man erwarten, dass der eine oder der andere der frei vorkommenden Samen der englischen Kohlenlager unserer Pflanze angehören würde.

Die Erfahrung hatte gezeigt, dass von einem direkten Aus- spüren der vegetativen Organe wenig zu erwarten sei, dagegen waren diese Samen vielversprechender, ın vereinzelten Fällen könnten sie noch Spuren ihres Ursprungs an sich tragen. Der

1) Williamson und Scott, loc. eit., p. 744 und 770.

Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne. 407

einzige Same, der bisher diese Hoffnungen erfüllt hat, ist ein Re- präsentant der Willamson’schen Gattung Zagenostoma, der von seinem Autor niemals beschrieben, aber in seinem Manuskript- kataloge, L. Lomaxi benannt ist. Diesen Samen, der in seinen Größenverhältnissen bis zu 51/,x 4'!/, mm beträgt, hat man in seltenen Fällen noch in einem kelchähnlichen, denselben wie die Hülle einer Haselnuss locker umkleidenden Becher oder Cupula eingeschlossen gefunden. Diese Uupula ist gelappt und trägt, ebenso wie der kurze Stiel derselben, zahlreiche gestielte oder fast sitzende, mit runden Köpfen versehene Drüsen. Ein wiederhergestelltes

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Skizze eines Modells, welches den Samen in seiner drüsigen Cupula eingeschlossen zeigt.

Modell eines Samens in seiner Cupula ist in Fig. 3 wiedergegeben. Dasselbe veranschaulicht die gegenseitige Lagerung der betreffenden Organe ohne weitere Beschreibung. Diese Drüsen, die einer sorg- fältigen Untersuchung unterworfen worden sind, haben sich in ihren Dimensionen, wie auch ın ihrer Form und Struktur als identisch erwiesen mit den Drüsen, die an den Blättern und Stämmen der- jenigen Form von Lyginodendron Oldhamium vorkommen, welche die Samen begleitet. Das Gefäßbündel im Stielchen von L. Lomazi stimmt ferner in seiner Form und in seiner mesarchen und konzen- trischen Struktur mit dem Bündel eines kleinen Blattstiels oder Blattspindels von Lyginodendron Oldhamium überein, während die Bündel der Cupula selbst sich den Bündeln der Fiederchen von

408 Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne.

Lyginodendron nähern, ındem sie kollateralen Aufbau mit einem mesarchen Holzköper annehmen. Sie stimmen weiter überein in dem Vorhandensein einer deutlich großzelligen Bündelscheide und in der Beschaffenheit und Verteilung der Holzelemente. Die aus der Bündel- struktur entnommenen Tatsachen sind durchaus im Einklange mit der durch den Vergleich der Drüsen gefolgerten Annahme.

Zu diesen Beweisen, die auf Strukturübereinstimmung beruhen, kommt ferner noch die Tatsache der innigen Vergesellschaftung. Wenn man vegetative und reproduktive Organe, die identische, bei anderen Pflanzen nicht bekannte Strukturmerkmale besitzen, stets in unmittelbarer Nähe findet, so kann man kaum umhin den Schluss zu ziehen, dass sie zusammen gehören.

Aus der Anatomie des Samenstielchens ist zu ersehen, dass der Same auf einem Blattgebilde getragen wurde; ob aber die samen- tragenden Blätter wedelähnlich oder mehr spezialisiert und zu einem Strobilus-ähnlichen Sprosse verbunden waren, dafür fehlen positive Beweisgründe. Durch einen Analogieschluss auf andere später zu me Fälle, scheint erstere Ansicht die wahrscheinlichere zu sein.

Der Bau des Samens.

Der Same selbst (Lagenostoma Lomaxi) ıst ähnlich‘ wie der der Cycadeen organisiert und bietet ungewöhnliche und interessante Merkmale. In der nebenstehenden Figur 4 ist ein schematischer Längsschnitt des Samens wiedergegeben; der Same ist noch in seiner Cupula eingeschlossen. Fig. 5 stellt weiter eine Serie von Querschnitten dar (A, B, C, D, an der Fig. 4 entsprechenden Höhen durchgeführt), die die Beziehungen der Organe in den ver- schiedenen Regionen veranschaulichen. Der Zentralkörper des Samens, der Nucellus, ist nur in der obersten Region mit dem Inte- gumente nicht verbunden; hier bildet derselbe eine kegelförmige Pollenkammer, welche durch die Mündung des Integuments, die Mikropyle (auch in Fig. 3 sichtbar) bis an die Oberfläche reicht. Der innere Teil der Pollenkammer stellt einen glockenförmigen Spalt dar, der zwischen der Wandung und der zentralen Gewebe- masse, die den Boden der Kammer einnimmt, gelegen ist —; in diesen Raume werden Pollenkörner häufig angetroffen. Derjenige Teil des Integuments, der mit dem Zentralkörper des Samens nicht ın Verbindung steht, hat eine merkwürdige kammerartige Struktur („Baldachin“), in dem seine innere Wandung in die der kantıgen Pollenkammer fest eingreift. Das Gefähsystem des Samens_ tritt aus dem Stielchen ın die Chalaza als ein einziges, mesarches und konzentrisches Bündel ein (Fig. 5 D); nach seinem Ver- lauf durch das harte Chalazalkıssen (karriert) spaltet sich das- selbe in neun peripherische Bündel, die das Integument wenige Zellagen unterhalb der Oberfläche durchlaufen und sodann je eins in

Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne. 409

jede Kammer des Baldachins eintreten. Der mittlere Teil des Samens wird eingenommen von der großen Makrospore oder dem Embryo- sack, ın dessen Innern sich Reste von Prothalliumgewebe mitunter

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Schematische Darstellung eines medianen Längsschnittes des Samens (Lagenostoma Lomaxi) in seiner Cupula. db, Baldachin; ec, Cupula; ck., Zentralkegel der Pollenkammer; gs., Gefäßbündelstränge; p%., Pollen- kammer; mpk., Mündung derselben. Die harte Samenschale ist schwarz gezeichnet, das weiche Innengewebe schraffiert, das Chalazalkissen karriert, die Cupula und das Stielechen punktiert, während die Gefäß- stränge weiß gelassen sind. A, B, C, D, Ebenen der in Fig. 5 dar- gestellten Querschnitte. auffinden lassen. Der Same wurde durch eine Trennungsschicht von seinem Stielchen abgelöst ; diese Schicht erstreckte sich durch die Samenbasis oberhalb der Insertionsstelle der Cupula (etwas

410 Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne.

unterhalb €, Fig. 4). Wie ın den anderen paläozoischen Samen hat sich auch im vorliegenden Falle kein Embryo nachweisen lassen.

Das kammerartige Integument oder Baldachin (Fig. 5 A) ist von erheblichem Interesse, da ein vielteiliger Ursprung desselben nicht

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Schematische Querschnitte des Samens in seiner Cupula durch die Ebenen A, B, ©, D der Fig. 4 geführt. Die Cupula und das Stielchen punktiert, die harte Schale samt den Septen des Baldachins schwarz, das Chalazalkissen karriert, das Füllungsgewebe schraffiert. Die Ge- fäßstränge sind weißgelassen. Im Querschnitt durch das Stielchen (D) sieht man das konzentrische Bündel mit drei Protoxylemgruppen.

unwahrscheinlich ist, wenn man es ım Zusammenhang mit dem Samen Lagenostoma physoides betrachet; bei letzterem scheint das Baldachin durch einen Quirl von freien Tentakeln vertreten, die unterhalb der Pollenkammer eingefügt sind und diese umklammern.

Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne. 411

In ihrer kürzlich erschienenen interessanten Abhandlung über die Anatomie der Öycadeensamen hat Miss M. Stopes (20, pp. 438 bis 452) gezeigt, dass das innere Bündelsystem, welches in der Peripherie des Nucellus oder in deren Nähe verläuft, als dem Integumente angehörig zu betrachten sei; in bestimmten Fällen treten nämlich diese Bündel wirklich in den freien Abschnitt des Integuments ein, wie z. B. bei COycas cireinalis und Zamia obliqua. Die Übereinstimmung zwischen Zagenostoma und C'ycasistdahereinemerkwürdiggenaue, wenn wir vorige mit ihrer Cupula respektiv Integument mit den inneren und äußeren Lagen (beide mit Gefäßsträngen versehen) der Samen- wandung von Cycas vergleichen. Miss Stopes hat auf diese Übereinstimmung aufmerksam gemacht (20, p. 473), wieauch H. Matte in einer fast gleichzeitig erschienenen Abhandlung (21, p. 168). Mit Rücksicht auf das Vorhergehende ist es interessant das von Griffith im Jahre 1835 geschriebene zu lesen!). Er sagt „Mit Bezug auf die Samenanlage von Cycas besitzt der Kern, wie Dr. Brown angıbt, nur eine Hülle; ich bin aber überzeugt, sowohl durch die Gewebeverschiedenheiten, die eine offenbare Trennungslinie andeuten, wie auch durch die Verteilung der Gefäße, dass diese Hülle aus zweien, der ganzen Länge nach verbundenen, besteht.“

Die Hauptabweichung von Zagenostoma dem Samen der heutigen botanischen Terminologie gegenüber liegt in dem Mangel eines Embryos, ein negatives Merkmal, welches sämtlichen fossilen Gymno- spermensamen der paläozoischen Gesteine gemeinsam ist. Viel- leicht haben diese frühzeitigen Samentypen die den Farnen eigene Art der fortlaufenden Entwickelung von der befruchteten Eizelle an beibehalten, wodurch eine bestimmte Ruheperiode, wie wir sie sonst mit dem Begriff eines „reifen Samens“ verknüpfen, ausgeschlossen wäre. Ist irgendwelche Pause eingetreten, so mag sie vielleicht der Befruchtung unmittelbar vorangegangen sein und zur Zeit des Reif- werdens der Mikrosporen in der Pollenkammer und der Befreiung der Spermatozoiden stattgefunden haben.

Unser Same unterscheidet sich von den heutigen Samen durch das frühzeitige Reifwerden seiner Gewebe. Schon vor der Befruch- tung hatten diese Samen den Abschluss ihrer Entwickelung erreicht und waren einer weiteren Vergrößerung unfähig. Die Stufe der Samenanlage, d. h. Persistenz des embryonalen Gewebezustandes im Nucellus und Integument bis nach der Befruchtung, war eine spätere Errungenschaft.

Etwas über die männliche Fruktifikation. Die Natur der männlichen Fruktifikation von Lyginodendron liegt noch verborgen.

1) Inseinen „Remarks on Gnetum “, p. 305, in Trans. Linn. Soc., Vol. XXI1(1859).

419 Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne.

Im Jahre 1874 beschrieb Stur!) Oalymmatotheca Stangeri, welche er einer Sphenopteris, die von dem Lyginodendron-Laube nicht unter- scheidbar ist, zurechnete. Diese Calymmatotheca besteht aus einer sich verzweigenden Rachis, deren endgültige Zweige zahlreiche stern- förmige Haufen trägt; sie ist im oberen Teil der Wiederherstellung in Fig. 1 angedeutet. Teile von Stur’s Originale sind in Fig. 6 wiedergegeben. Eine nähere Betrachtung der Exemplare?) führt zu einer Bestätigung der Meinung Stur’s wonach diese Haufen

Fig. 6.

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Die Calymmatotheca Stangeri Stur’s, nach Zeichnungen der Original- exemplare von Miss Woodward. a, Ein Teil des Exemplars, die Cupulae in Zusammenhang mit den Wedelspindeln zeigend, von Stur in Culm-Flora der Östrauer und Waldenburger Schicht, Taf. VIII (XXV), Fig. 7, abgebildet; db, Cupulae, aus dem abgebildeten (loe. eit. Fig. 6) Exemplar; c, Eine andere Cupula in Profilstellung mit Dornen, die vielleicht den drüsigen Emergenzen von Lagenostoma entsprechen.

sternförmig ausgebreitete Indusien sind (siehe besonders Fig. 6 Db), eher als gruppenweise zusammenstehende Sporangien oder Synangien, wie einige spätere Forscher aus Analogie mit den paläozoischen Farnfruktifikationen anzunehmen geneigt waren. Die letztere Deutung (sporangiale) ermutigte sicherlich eine Zeit lang zu dem Glauben dass Lyginodendron noch den Filicales angehöre, denn damals war natürlich noch nichts von seinen Samen bekannt. Die Tatsachen,

1) Stur, Culmfl. II, p. 151ff., Taf. VIII, Fig. 7 und Textfig. 27. 2) Der Direktor d. Geol. Reichsanstalt zu Wien hatte die Güte, diese Exem- plare der geologischen Abteilung des British Museum zu leihen.

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Öliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne. 413

die jetzt zum Vorschein gekommen sind, machen es jedoch nicht unwahrscheinlich, dass die „Indusienklappen“ in Stur’s Abdrücken nichts anderes als die leeren Samencupulae unserer Versteinerungen vorstellen. Und wenn diese Ansicht wohlbegründet ist, so würden die „Dornen“, die an der Rachis und selbst an den Klappen mit- unter erhalten sind (wie in Fig. 6, c), den Drüsen unser Cupulae (vgl. Fig. 3) entsprechen.

Damit ist aber die Sachlage nicht erschöpft. Miss M. Benson hat eine mit Struktur erhaltene Fruktifikation, die sie einer neuen Gattung Telangium einreiht, entdekt; Verfasserin ist geneigt, diese Fruktifikation als ein pollentragendes Synangium von Lygino- dendron Oldhamium zu betrachten, da dıe Exemplare mit letzterem zusammen auftreten (10, p. 161). Zur Zeit fehlt noch der endgültige Beweis des Zusammenhangs mit den Geweben von Lyginodendron, obschon Miss Benson ihre Annahme mit wertvollen Beweisgründen unterstützt.

In derselben Abhandlung wird der Same ZLagenostoma Lomazi von der Verfasserin als ein modifiziertes Synangium aufgefasst, in dem ein ım Zentrum gestelltes Sporangium allein als funk- tionierendes Makrosporangium übrig geblieben ist, während die peripherischen Glieder desselben steril geworden sind und das gekammerte Integument (Baldachin) darstellen. Diese kühne und geistreiche Ansicht ıst höchst interessant und mag in der Tat der Wirklichkeit entsprechen; einstweilen ist sie aber eine Hypothese, die auf eine Hypothese gegründet ist und man wird daher Weiteres über die Zugehörigkeit von Telangium mit Spannung abwarten.

Es erscheint demnach, als ob in einer Übergangsform wie Lyginodendron Oldhamium, deren Blätter, was Struktur und Form anbelangt, vollkommen farnartig waren, während ausgeprägte Oycadeenmerkmale zusammen mit Filicineenmerkmale in der Stamm- und Wurzelanatomie auftraten, die Samentracht schon ganz und gar erreicht war. Die aus den Fortpflanzungsorganen ersichtlichen Charaktere bestätigen also in ausgezeichneter Weise die Andeutungen, die man durch die Untersuchung der vegetativen Anatomie gewinnt.

Weitere Beispiele.

Diese Tatsachen waren kaum erkannt, als weitere Beispiele von samentragenden Oycadofilices zum Vorschein kamen. Mr. R. Kidston (9 und 14) hat mehrere Abdrücke aus den Kohlenlagern gefunden, welche große Samen an Ort und Stelle auf den Fiedern des Wedels von Neuropteris heterophylla aufweisen; letztere Pflanze stellt das Laub eines der Medullosen dar. Wir haben ferner andere Abdrücke, die gegenwärtig von E. A. N. Arber beschrieben werden, die die Zusammengehörigkeit von Zagenostoma-ähnlichen Samen zu

414 Oliver, Über die neuentdeekten Samen der Steinkohlenfarne.

Wedeln des Sphenopteris-Typus klarlegen. In einem Falle treten die kleinen Samen endständig auf Zweigen der schlanken Blatt- spindel auf und erscheinen noch in ihren Cupulae eingeschlossen (22). In mehreren neuerdings erschienenen Mitteilungen zeigt Grand 'Eury (11, 17, 24) Neigung viele der französischen Permo-Carboni- schen Samen aufGrund des Zusammenvorkommens den Oycadofilices der Neuropteris-Reihe (Medullosen) zuzuschreiben.

Endlich, zurzeit der Verfassung dieses Aufsatzes, wird noch ein weiterer Fall aus Amerika angekündigt. Abdrücke eines kleinen Samens, einer Zagenostoma in seiner Cupula nicht unähn- lich, sind von dem Paläontologen David White (23) mn Verbindung mit den Fiederchen von Aneimites fertilis, einem Sphenopteris-ähn- lichen Wedel der unteren Pottsville Formation in Virginia auf- gefunden worden.

Und so gesellen sich einer jeden Entdeckung bald weitere zu. In einem kurzen Zeitraum ist die allgemeine Auffassung der Carbonfarne einer Revolution unterworfen worden. Allmählich er- weisen sich diese Farne, der eine nach dem anderen, als Samenpflanzen, und es ist schwer zu sagen, auf welche relative Zahl sich diese Begriffsänderung ausdehnen wird. Es wird augenscheinlich eine große sein.

Die Pteridospermeae.

Die neue Sachlage mit bezug auf die Kohlenfarne ist von scharf- sinnigen Forschern, welche sich mit der Untersuchung von Gymno- spermen und fossilen Pflanzen beschäftigen, leise vermutet worden; das geht aus vorsichtigen Andeutungen in der Literatur hervor. Die drohende umfassende Beförderung einer ganzen Klasse vom Zu- stand der Pteridophyten zu dem der Samenpflanzen, denn das ist, was uns bevorsteht, muss jedoch der großen Mehrzahl der Botaniker eme Offenbarung sein.

Gegenwärtig darf man die Artenzahl der Samenpflanzen unge- fähr auf 125000 schätzen, diejenige der Gefäßkryptogamen auf 4000, d.h. die ersteren sind den letzteren, was Zahl der Arten anbetrifft ım Verhältnis von 51 zu 1 überlegen. Vor wenigen Jahren hätte man bloß dieses Verhältnis umkehren müssen, um die damalige Ansicht über die relative Zahl von Samenpflanzen und Pteridophyten in

der paläozoischen Flora, „dem Zeitalter der Gefäßkryptogamen*, wie es benannt wurde, zu veranschaulichen. In der Zukunft

kann es darauf hinaus kommen, dass wir, wenn auch nicht ein wirkliches Übergewicht, so doch etwas wie ein ungefähres Gleich- gewicht zwischen samentragenden Pflanzen und den echten Gefäß- kryptogamen im paläozoischen Zeitalter anerkennen müssen. Was die „Farne“ anbetrifft, scheinen wir dieser Schlussfolgerung schon näher zu kommen und sie wird durch ein Übermaß von Beweisen berechtigt, denen man nicht widerstehen kann.

Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne. 415

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Die gegenwärtige Gruppe der Oycadofilices wurde auf vegeta- tive und anatomische Merkmale gegründet, jezt ist es aber möglich weiter vorzuschreiten, denn eh. dieser Übergangstypen Helen sich als den Samehtragenden Pflanzen angehörig erwiesen. Die Existenz dieser cn Spermophyten a am besten durch die Aufstellung einer besonderen Klasse gekennzeichnet; diese Klasse mag Pteridospermeae (19, p. 239) benannt und vorläufig folgendermaßen umgrenzt werden. Sie umfasst „diejenigen paläo- zoischen Pflanzen, dıe im Habitus und in manchen Merkmalen ihrer inneren Organisation den Farnen ähnlich waren, aber vermittelst Samen fortgepflanzt wurden.“ Für eine genauere Beschreibung müssen wir ausgedehntere Kenntnisse der reproduktiven Merkmale abwarten; zur Zeit können wir die Familien der Zyginodendreae und der Medullosae zu der neuen der Pteridospermeae rechnen.

Für diejenigen Übergangsformen, deren Fortpflanzungsmethoden noch im Dunkeln schweben, wird die Gruppe der Oycadofilices aufrecht erhalten werden müssen; sollten unsere Kenntnisse jedoch jemals vollständig werden, so würde diese Gruppe ihre Existenz- berechtigung verlieren.

Die Erkennung der samentragenden Natur von Lyginodendron und der Medullosen scheint ein Siegel auf den Filicineenursprung der ganzen Klasse der Cycadeen zu setzen und die so oft aus- gesprochene Ansicht, dass der große Komplex der Gycadofilici- neen die Stätte darstellt, aus der die Oycadeen und wahrscheinlich auch die Koniferen entsprungen sind, zu bestätigen. Obschon es noch vor der Zeit ist in diesem selben Komplex nach einem mög- lichen Ursprung der Gnetales oder gar der Phanerogamen selbst bestimmt nachzuforschen, so ist eine solche Möglichkeit doch nicht zu übersehen. Der Fortschritt unserer Kenntnisse, welche einen Ausdruck in der neuen‘ Klasse Pferidospermeae findet, wurde wirklich auf dem Wege der anatomischen Untersuchung errungen, und wer kann wissen, ob dieselbe Angriffsmethode sich nicht auch für alle anderen Spermophyten als erfolgreich erweisen wird.

Schluss.

Eine Kenntnis der allerersten Samen, der Ursamen, d. h. der Anschlussformen an das Farnsporangium, wird noch abgewartet. Lagenostoma Lomaxi, obwohl es primitive Merkmale besetzt, ist dennoch ein vollkommen organisierter Same. In dieser Hin- sicht ist der anscheinend primitive Typus Heterangium, welches eine @leichenia-ähnliche Stelle und das Laub einer Sphenopteris elegans besitzt, von besonderem Interesse; die Fortpflanzungs- methoden derselben sind aber noch ganz unbekannt. Man darf auch nicht allen auf Pflanzen, deren Organisation offenbar der einer Cycadoficinee ist, fahnden. Die eigentlichen Farne sind sorg-

416 Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne.

fältig auf die ersten Anfänge des samentragenden Habitus zu durch- forschen.

Es ist ja möglich, dass das Problem nicht lösungsfähig ist und dass die uralten Urspermophyten zu einer Zeit existierten, die zu ent- legen ist, um versteinertes Material zur Aufklärung dieser Fragen darzubieten. Und in dieser Hinsicht ist es von Bedeutung, dass die Cordaiten, d. h. die vorherrschenden paläozoischen Vertreter der Gymnospermen, schon im Devon als vollkommen ausgebildete Gruppe auftreten.

Es wird endlich nicht uninteressant sein, zu zeigen, durch welche Mittel die in diesem Aufsatz kurz beschriebenen Entdeckungen zu- stande gekommen sind. Der Weg wurde durch die anatomischen Untersuchungen von Williamson, von seinen Zeitgenossen und Mitarbeitern angebahnt. Die von Williamson und D. H. Scott gemeinsam unternommene Arbeit über Heterangium u. Lyginodendron') bedeutet einen wichtigen Fortschritt, denn es trat hier die Über- gangsnatur der vegetativen Organe dieser Formen so klar zutage, dass die Frage nach der Natur des Fortpflanzungsprozesses (ob kryptogamisch oder spermophytisch) vollkommen offen da stand. Die Untersuchung von Medullosa anglica?) ergab ein ähnliches Resultat und dasselbe galt auch in anderen Fälle.

Als man aber auf die vielen in der Steinkohlenformation vor- kommenden Samen, deren Zugehörigkeit unbekannt war und die nicht den Cordaiten zugerechnet werden konnten, Bezug nahm, so schienen manche geneigt, die samentragende Natur der Cycadofilices anzuer- kennen. Also vorbereitet, waren die Botaniker auf das Weitere gefasst. Vom Zufall abhängig waren nur noch solche Nebensachen wie der eigentliche Moment, wo die notwendigen Tatsachen ans Licht kämen und die besondere Form, durch deren Entdeckung der Weg angebahnt würde.

Zum Schlusse mag hervorgehoben werden, dass ein sehr will- kommener Gesichtszug der neuen Entdeckungen in dem gemeinsamen Anteil der verschiedenen Kategorien der fossilen Beweisgründe zu finden ist. Diejenigen Beweisgründe nämlich, die sich auf das Studium der anatomischen Struktur der echten Versteinerungen stützen, zeigen vollständige Übereinstimmung mit den aus Farn- wedelabdrücken erhaltenen Andeutungen. Und zwar, obschon die ersteren für einen sicheren Fortschritt notwendig waren, haben sich letztere als äußerst wertvoll für die Verwirklichung des Habitus dieser alten Samenpflanzen und zur Feststellung der Art und Weise der Anheftung der Samen an die Wedel erwiesen; und diesen Wert werden sie auch in der Zukunft beibehalten°).

1) Loe. eit. 2) D. H. Scott, On Medullosa anglica, Phil. Trans. Vol..191, B. (1899). 3) Während des Druckes dieser Zeilen kommt die Nachricht der Entdeckung

Oliver, Über die neuentdeckten Samen der Steinkohlenfarne. 417

Meinem Kollegen, Herrn Dr. F.E. Fritsch bin ich zu herzlichen Danke verpflichtet, indem er mir die schwierige Arbeit der Über- setzung dieses Aufsatzes in die Deutsche Sprache abgenommen hat.

London, Februar 1905.

Literaturverzeichnis.

Die vor dem Jahre 1900 erschienenen wichtigsten Abhandlungen sind in Zeiller’s „El&ments de Pal&obotanique,“ Paris 1900 und D. H. Scott’s „Studies in Fossil Botany‘“, London 1900 angeführt.

1900. 1. G. Wild, „On Zrigonocarpon olivaeforme,“ Manchester Geol. Soc. Trans. Vol. 26. 1901. 2. D.H. Scott, „The Seed-like Fructification of Lepidocarpon,“ Phil. Trans. B. Vol. 194, p. 291. 1902. 3. M. Benson, „A new Lycopodiaceous Seed-like Organ.“ New Phytologist, Vol. 1,.p: 58. 4. F.W. Oliver, „A Vascular Sporangium.“ New Phytologist, Vol. 1, p. 60. 5. J. Lomax, On some new Features in Relation to Lyginodendron. Brit. Assoc. Report. 1902. 1903. 6. Oliver and Scott, „On Lagenostoma Lomaxi,“ P.R. S. V.71, p. 477. . D. H. Scott, „The origin of Seed-bearing Plants,“ Lecture delivered before the Royal Institution of Great Britain, May 15. 1903. (Deutsche Über- setzung in Naturwissenschaftl. Rundschau, Nr. 52—53, 1903.) 8. F. W. Oliver, „The Ovules of the Older Gymnosperms.“ Annals of Botany, Vol. 17, p. 451. 9. R. Kidston, „On the Fructification of Neuropteris heterophylla,“ Proc. Roy. Soc., Vol. 72, p. 487. 1904. 10. M. Benson, „Telangium Scotti, a new species of Telangium (Calym- matoiheca) showing structure.“ Ann. of Bot. Vol. 18, p. 161. ll. Grand “Eury, „Sur les rhizomes et les racines des Foug£res fossiles et des Oycadofilices,“ Comptes rendus, t. 138, p. 607. 12. R. Zeiller, „Obs. an sujet du mode de fructification des Oycadofilieinees“, Comptes rendus, t. 138, p. 663. 13. F. W. Oliver, „On Stephanospermum“, Trans. Linn. Soc. 2rd Ser. Bot., Vol.: 6, p. 392. 14. R. Kidston, „On the Fructification of Neuropteris heterophylla“. Phil. Trans. -B.Vol- 197, p: 1. 15. F. W. Oliver, „Notes on Trigonocarpus and Polylophospermum.,, New Phytologist, Vol. 3, p. 96. 16. B. Renault, Quelques remarques sur les Uryptogames anciennes et les sols fossiles de vegetation. Comptes rendus, 16. mai 1904. 17. Grand’Eury,' „Sur les graines des Neuropteridees“ comptes rendus, 6.1995 D2 23. 18. F. W. Oliver, „An Exhibit of Specimens of Seed-bearing Plants from the Palaeozoie Rocks.“ New Phytologist, Vol. 3, p. 176. 19. Oliver and Scott, „On the Structure of the Palaeozoic Seed Lageno- stoma Lomaxi, with a statement of the Evidence upon which it is referred to Lyginodendron.“ Phil. Trans. B. Vol. 197, p. 193.

von Wedelabdrücken von Pecopteris Pluckeneti im Zusammenhang mit Samen durch Grand ’Eury (25). Ohne auf die Frage, ob diese Pflanze als eine wahre Pecopteris aufzufassen ist, einzugehen, muss man zugeben, dass dieses neue Beispiel eines der wertvollsten der ganzen oben angeführten Reihe ist; hier finden wir nämlich zahl- reiche Samen (Carpolithes granulatus Gr.) in Verbindung mit Farnwedeln, die sowohl unveränderte sterile wie auch wenig veränderte samentragende Fiederchen aufweisen.

XXV. 27

448 Rössle, Die Bedeutg. der Immunitätsreaktionen f. d. Verwandtschaft d. Tiere.

20. M. ©. Stopes, „Beitr. zur Kenntnis d. Fortpflanzungsorgane d. Cyca- deen,“ Flora, 93. Bd., p. 435.

21. H. Matte, „Recherches sur lT’appareil libero-ligneux des Cycadacees,* Caen. 1904.

22. Seottand Arber, „On some new Lagenostomas,“ Brit. Assoc. Rep. 1904.

23. D. White, ‚The Seeds of Aneimites,“ Smithsonian Misc, Colleet., Vol. 47, Pt.-3, pP 322

24. Grand ‘Eury, „Sur les graines des neuropteridees,“ Comptes rendus, t. 139, p. 782.

1905. 25. Grand ’Eury, „Sur les graines trouvees attachees au Pecopteris Plucke-

neti Schlot.“ Comptes rendus, t. 140, p. 920.

26. D. H. Scott, „What were the Carboniferous Ferns?“ Tourn. R. Mier. Boe., 1905, p- 137.

Die Bedeutung der Immunitätsreaktionen für die Ermittelung der systematischen Verwandtschaft der

Tiere. Von Privatdozent Dr. Robert Rössle. (Schluss.)

Bevor wir jedoch auf die besonders für den Zoologen inter- essanten Ergebnisse Nutall’s und seiner Mitarbeiter eingehen, sei über die Herstellung, die Eigenschaften und die Verwendbar- keit der Präzipitine noch einiges gesagt, welches zum Verständnis des folgenden notwendig erscheint: Wie außerordentlich fein die Reaktionsfähigkeit des Warmblüterorganismus gegenüber der Ein- führung körperfremden Eiweißes ist, beweist die Angabe von Ober- mayer und Pick, nach welcher 0,02 g Eiweiß, ım Laufe eines Monats injiziert, genügt haben, um spezifische Präzipitinbildung hervorzurufen, ja nach Schur sollte dies sogar mit 0,004 g prä- zipitinogener Substanz möglich sein. Welches feine Reagens ein wirksames spezifisches Serum darstellt, geht daraus hervor, dass der Nachweis von Hühnereiweiß mittelst eines Antihühnereiweiß- serums noch in einer Verdünnung von 1:200000 nicht selten ge- lingt; Ascoli will deutliche Reaktion sogar noch mit einer Ver- dünnung von 1:1000000 gesehen haben; so bietet es auch keine Schwierigkeit, sich z. B. ein Laktoserum zu verschaffen, welches mit Milch noch in 30—50000facher Verdünnung Niederschlag gibt. Das entstehende Präzipitat und die präzipitinogene Substanz ge- hören zu den Globulinen. Eintrocknung und Fäulnis verhindern nicht die Möglichkeit des spezifischen Nachweises. Aus Blut- mischungen fällt das Immunserum nur mit der spezifischen Blutart aus. Durch Einspritzungen eiweißhaltigen Menschenharns erhält man ein Präzipitin, welches mit solchem Harn und Serum von Menschen Niederschlag gibt, nicht aber mit eiweißhaltigem Harn von Kuh und Pferd. Beweist diese Tatsache einerseits den beson- deren Bau des Eiweißmoleküls für jede Tierspezies, so hat anderer-

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seits ganz neuerdings Uhlenhut gezeigt, dass hochdifferenzierte Organe bei verschiedenen Tieren gemeinschaftliche Stoffgruppen besitzen müssen. Während nämlich ein Auszug der Kristallinse vom Rind mit Rinderblutantiserum merkwürdigerweise keine Re- aktion gab, lieferte ein auf Rinderlinse eingestelltes (Kaninchen-) Antiserum mit Eiweißlösungen aus den Linsen auch anderer Säuge- tiere einen kräftigen Niederschlag. Auch Auszüge der Linsen von Vögeln, von Fröschen und Kreuzottern gaben schwache Reaktion, dagegen fiel der Versuch gegenüber Linsen von Fischen negativ aus. Es enthalten also die Linsen der Säugetiere, Vögel, Amphi- bien und Reptilien gleichartige und auffallenderweise mehr für das Organ als für die Tierspezies charakteristische Eiweißsubstanzen, so dass man berechtigt wäre, in diesem Falle von einer typischen „Organreaktion“ zu reden. Es wäre dieser Terminus einer von Nutall eingeführten Bezeichnung nachgebildet;; dieser Autor spricht nämlich von einer „mammalian reaction“ oder von einer „avian- amphibian“-Reaktion, wenn er die Reaktionen von besonders kräf- tigen Antiseris schildert, deren Wirkung sich auf die Blutarten vieler, nichtspezifischer Vertreter der Säugetiere, bezw. des Vogel- und Amphibienstammes erstreckt. Wie oben auseinandergesetzt wurde, gewinnt nämlich ein Serum, je mehr sein Titer durch er- folgreiche und gewaltsame Immunisation in die Höhe getrieben ist, desto mehr die Fähigkeit, auch nicht homologe, zunächst mehr, später weniger verwandte Blutarten niederzuschlagen, so dass man Sera erhält, welche nur an den ganz einschneidenden Punkten der Tierentwickelung stehen bleiben. Gerade solche Sera sind aber sozusagen für die Systematik in gröberen Zügen wertvoll. Man hat es also in der Hand, Überraschungen durch individuelle Be- sonderheiten der Versuchstiere abgesehen, sich mehr oder weniger spezifische Sera zu verschaffen; „spezifisch“ sei hier nur in dem Sinne von „ausschließlich“ verstanden; spezifisch im gewöhn- lichen Sinne bleiben ja auch Sera, welche mit vielen Blutarten reagieren, insofern, als die Reaktion mit dem homologen Serum, die mit nicht homologen in bezugauf Schnelligkeit und Intensität immer überwiegt. Was nun die Schlüsse betrifft, zu denen man durch den positiven Ausfall der Reaktion berechtigt ist, so muss bemerkt werden, dass dieser nur eine Blutsverwandt- schaft überhaupt feststellt. Welcher Art sie ist, ob man Vettern oder direkte Nachkommen im Stammbaum vor sich hat, darüber besagt sie natürlich gar nichts, auch haben wir in der Menge des Niederschlags bei der wechselnden Stärke der Antisera nur einen Maßstab von geringer absoluter Wertigkeit für den Grad der Ver- wandtschaft; die Reaktion erlaubt nur den Vergleich: Das Tier A ist dem Tier B näher verwandt als das Tier ©; darüber, wie nahe verwandt, ist, streng genommen, kein Urteil gestattet. Wir kommen 27*

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darauf noch zurück bei Besprechung des Wertes der Präzipitin- reaktion als systematischer Methode.

Im folgenden seien nun die wesentlichsten Ergebnisse Nutall’s über die Blutsverwandtschaft der Tiere zusammengestellt. Wesent- liche, neue Gesichtspunkte zur Klassifikation der Tiere sind be- greiflicherweise nicht gefunden worden. Bei der natürlichen Über- einstimmung zwischen anatomischem und chemischem Bau der Organismen ist es nicht überraschend, dass durch die biochemische Methode eben nur bestätigt werden konnte, was die Hilfsmittel der vergleichenden Anatomie längst für die Systematik geleistet haben. Es würde uns vielmehr nicht natürlich erscheinen, dass eine Tierform, die einer anderen in bezug auf Skelett und Organ- entwickelung sehr gleicht, in bezug auf die Körpersäfte sehr ver- schieden von ihr sein sollte. Dagegen erscheint es wunderbar, dass, wie weiter unten aus dem Nachweis der Verwandtschaft von Vögeln und Reptilien hervorgeht, gemeinsame Eigenschaften des Blutes sich durch Zeitalter erhalten haben, während deren sich Lebensweise und Nahrung der Arten verändert haben und dass trotz dieses Wechsels sich im Blut das Zeichen der gemeinsamen Abstammung finden lässt.

Was den Nachweis der tierischen Herkunft des Menschen auf biochemischem Wege betrifft, so hängt die Entstehung des Nachweises mit der Geschichte der Transfusion zusammen. Indem sich ergab, dass die Transfusion von Blut nur zwischen nahverwandten Tieren (Hase und Kaninchen; Hund, Wolf und Fuchs) unschädlich ist, durfte man in der Ungiftigkeit des einen Blutes für das andere ein Zeichen von Verwandtschaft erblicken. Die Giftigkeit beruhte, wie man seit den Untersuchungen von Landois wusste, in der hämolytischen Wirkung des Serums der einen Art für die Blut- körperchen der andern. Aber erst Friedenthal (1900) benützte diese Tatsache zur Eruierung von Blutsverwandtschaft zwischen Mensch und Affe. Er zeigte, dass die Transfusion von defibriniertem menschlichem Blut in den Schimpansen nicht von Vergiftungs- erscheinungen (Hämoglobinurie) gefolgt war, dass menschliches Serum in vitro Blut des Urang-Utang und Gibbon nicht lakfarben machte, dass es aber Blutkörperchen von Macacus sinteus, M. eyno- molgus, Rhesus memestrinus (alle zur Familie der Cynomorphen oder Cercopitheciden gehörig), Pithesciurus sciureus und Ateles ater und von Lemur varius löste; umgekehrt löste Serum von Macacus menschliche Erythrocyten. Gradunterschiede in der Giftigkeit hat der Autor nicht angegeben. Zur Bestimmung von solchen Unter- schieden in der Fremdheit der Blutsorten eignen sich auch die Präzipitine besser. Schon 1901 hat Nutall die Befunde Frieden- thal’s mittelst der letzteren bestätigt und erweitert. Er hat auch eine volumetrische Methode erdacht, die es ermöglicht, durch ein-

Rössle, Die Bedeutg. der Immunitätsreaktionen f. d. Verwandtschaft d. Tiere. 421 fache Ablesung der Höhe (Menge) des Präzipitats die Verwandt- schaftsgrade zu vergleichen. Zum besseren Verständnis mögen hier zwei seiner Tabellen Platz finden als Beispiele für die quantitativen Verhältnisse, wie sie ein Vergleich der Niederschläge, gemessen nach der Nutall’schen Methode, ergibt: Angenommen, ein Anti- schafserum, in der Menge von 0,1 ccm zu 0,5 ccm homologer, d. 1. Schafblutlösung (Verdünnung 1: 100) gegeben, habe 0,03 cem Nieder- schlag geliefert. Setzt man diese Menge gleich 100, so erhielt er mit nicht homologen Blutarten Niederschläge ın folgenden relativen Mengen:

Schar 22 32 .2.20.28100./2Schwein. . =. -. =: 120 Orks er Pferd, te Anlıloper 022 27.2.7 :50- Katze 20. 22.12 Schwenshirsche Ar lund: = en ee Kenntier 2...0.,... 230 =Känguruhr, 2.2. 85

Entsprechend mit einem Antischweinserum: Schwein 100, Pferd 16, Schweinshirsch 14, Katze 14, Hund 13, Schaf 13, Känguruh 5. (Man bemerke auch, dass man mit Antischweinserum für Schaf die Prozentzahl 13, mit Antischafserum für Schwein die Zahl 20 er- hält. Schwein und Schaf erweisen sich also jedesmal gleich ent- fernt verwandt, ob man ein Antiserum gegen das eine oder das andere Tier verwendet. Gerade diese Reziprozität der Reaktion darf wohl bei Beurteilung des Wertes der Methode als gewichtig in die Wagschale geworfen werden. Es spricht sicher für die Brauchbarkeit der biologischen Reaktion, wenn sozusagen das Tier A sich dem Tier B ebenso verwandt erweist als das Tier B dem Tiere A. Der geringe Unterschied der Verhältniszahl (13 und 20) ist gegenüber 100 ja belanglos und darf auf Rechnung der un- gleichen Stärke der Antisera gesetzt werden, deren Einstellung auf gleiche Höhe man ja nicht ganz beherrscht.) Es gibt nun noch eine andere Art und Weise, die Resultate der mittelst präzipi- tierender Sera angestellten Versuchsreihen zu registrieren. Die eben erwähnte volumetrische Methode und die prozentuale Aus- rechnung der verschiedenen Quantitäten Präzipitates ist mühsam und erfordert viel Zeit. Einfacher und für die gewöhnlichen Zwecke ausreichend ist es, die mittelst eines bestimmten Antiserums mit nicht homologen Blutarten gemachten Reaktionen zu zählen und die Prozentzahl des positiven Ausfalls der Reaktion anzugeben, ferner die positiven Proben in drei Gradkategorien zu sondern: sie werden bezeichnet als „volle Reaktion“, „starke Reaktion“ und „schwache Reaktion“. Diese Betrachtungsweise ist ım folgenden bei der Notierung der Resultate mit den verschiedenen Antiseris eingehalten.

Um auf die genealogischen Beziehungen von Mensch und

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Affen wieder einzugehen, so befinden sich die Resultate Nutall’s nicht nur in Übereinstimmung mit den hämolytischen Versuchen Friedenthal’s, sondern vollkommen auch mit dem Stammbaum, wie ihn Häckel 1895 für die Primaten aufstellte. Nutall erhielt mit einem seiner Antimenschensera z. B. folgende Reihe: Ausfall der Reaktion: mit Homo sapiens (4 Rassen), ın 100°/, (davon 71°/, volle Reaktion), mit Anthropoiden (3 Spezies), 100°/, (davon 100°], starke Reaktion), mit Oynomorphen (Cercopitheciden) (26 Spezies), 92°/, (davon 10°/, starke Reaktion), Cebiden (9 Spezies) 78", (darunter nie starke Reaktion), Napaliden (3 Spezies) 50°/, (immer nur schwache Reaktion); mit Blutlösungen von Lemuroideen (Pro- simiern) gab ein Antimenschenserum nie positive Reaktion. Es ergibt sich also, dass das Blut aller Affen der alten Weit dem menschlichen Blute ungleich ähnlicher ist als das Blut der neu- weltlichen Affen!).

Auch aus den Reaktionen, die man mit Antiaffenseris erhält, gewinnt man eine Bestätigung des Huxley’schen Satzes, dass die Verschiedenheiten, welche den Menschen vom Gorilla und Schim- pansen unterscheiden, nicht so groß sind als die Unterschiede, welche diese Menschenaffen von den anderen Affen trennen. So gab ein Antischimpansenserum mit Menschenblut von verschiedenen Individuen in allen Fällen volle Reaktion, desgleichen mit dem Blut verschiedener Vertreter der Anthropoiden. Seiner geringen Stärke war es zuzuschreiben, dass es bereits in Berührung mit Blut von Cynomorphen nur schwache Reaktion gab. Wenn es auch, wie Nutall und Uhlenhut aussprechen, im allgemeinen, bei der hier vorliegenden Absicht zweekmäßiger ist, recht stark wirksame Sera zu verwenden, so ist doch für die feinere Abstufung der Ver- wandtschaft gerade im engeren Kreis auch ein schwaches Serum tauglich.

Ein gegen Simia satyrus (Orang) präpariertes Serum lieferte eine Anzahl kräftiger Reaktionen gegen Blut von Cynomorphen. Aber weder dieses noch das vorige reagierten je mit Blut von Halbaffen.

Mit einem schwachen, gegen Cercopithecus hamadryas L. (Mantel- pavian) gerichteten Serum erhielt Nutall positive Reaktion mit Menschenblut in 87°/,, mit Blut von Anthropoiden in 75°/,, von Cynomorphen (Cercopitheciden) in 100°/,, von Cebiden (Rollaffen) in 46°/,, von Hapaliden in 25°/,. In der entfernteren Tierreihe tritt hier, wie manchmal, ganz unvermittelt eine positive Reaktion

1) Auf dem Anthropologenkongress in Greifswald 1904 hat Uhlenhut aller- dings über positive Reaktion von Antimenschserum mit Blut von Halbaffen be- richtet. Auch Friedenthal erwähnt ganz neuerdings positiven Ausfall mit Lemuroideenblut.

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mit dem Blut eines Ungulaten und zweier Carnivoren unter Hun- derten von negativen Proben auf. Es ist dies ein Punkt, auf den noch zurückzukommen sein wird.

Von den Ergebnissen der biochemischen Methode aus der übrigen Tierreihe seien noch einige herausgegriffen: Ein Antikatzen- serum erwies, dass die Familien der Feliden, Hyäniden einander recht nahe stehen. Ein Antihyänenserum gab auffallende Reaktionen mit Vertretern der Pinnipedier und bestätigte die nahe Bluts- verwandtschaft zwischen Feliden und Hyäniden. Ein Antiseehund- serum wirkte auf Blut von anderen Carnivoren in 37°/, der Fälle positiv, mit dem von Säugetieren aus anderen Klassen nur in 8°/ (nie positiv mit Blut von Cetazeen).

Ein sehr kräftiges Antischweinserum lieferte die oben be- sprochene Gruppenreaktion für Säugetiere („Mammalian reaction“). Auffallend viele und starke Reaktionen gab dieses Serum mit mehreren Cetazeen. Dass dies kein individueller Zufall war, ergibt sich aus der Tatsache, dass auch sonst Antiungulatensera (z. B. ein Antirenntierserum) mit Cetazeenblut kräftig reagierte. Nutall beruft sich zur Erklärung dessen auf Flower und Lydekker, welche früher schon vom rein anatomischen Standpunkte die Ähn- lichkeit zwischen primitiven Ungulaten und den Cetazeen betonten. Umgekehrt gab ein Serum gegen Balaenoptera rostrata mit Blut von Ungulaten eine auffallend hohe Zahl von positiven Reaktionen (allerdings nur schwache Ausfällung); desgleichen mit dem von Edentaten und Chiropteren (keine positive Reaktion mit Primaten). Ein Serum gegen Onychogale unguifera (Marsupialia) erwies sich, obwohl nicht schwach, als sehr exklusiv, was wohl darauf hin- deutet, wie sehr die Beuteltiere auch in bezug auf ihre Blut- beschaffenheit abseits stehen. Mit Blut von Makropodiden lieferte dieses Serum immer positive Reaktionen („volle“ Reaktion in 40°/,), aus den übrigen Ordnungen der Marsupialier wurde nur einmal (unter 6) positive Reaktion mit Blut von Didelphiden (3 verschie- dene Spezies), einmal mit einem Dasyuridenblut (es stand nur eines zur Verfügung) verzeichnet.

Die Nachforschungen Nutall’s beschränkten sich nicht auf die Säugetiere. Welche Kluft das Blut von Vögeln und Säugetieren trennt, erwies eine umfassende Versuchsreihe, wonach ein wirk- sames Antihühnerblutserum, mit 385 Proben von Säugetierblutarten geprüft, niemals einen Niederschlag absetzte. Dasselbe Serum, mit 320 Blutsarten von allen möglichen Vögeln zusammengebracht, gab hingegen in 87°/, der Fälle positive Reaktion. Am häufigsten waren die Misserfolge in den Familien der Falconiden, Charadriiden und Passeres. Diese wären nach der biochemischen Methode der Ver- wandtschaftsbestimmung den. Gallinaceen am entferntesten, die Columbiden und Lamellirostrer (Anseriformes) ıhnen am nächsten

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verwandt. Den Casuariden (gezeigt mittelst Antiserums gegen Strauß) stehen zunächst die Charadriiden.

Von Interesse sind ferner die Beziehungen zwischen Reptilien und Vögeln, wie sie ein gegen Hühnereiweiß gerichtetes, präzipi- tierendes Serum aufzudecken vermag. Die einschlägigen Versuche sind von Nutall begonnen und von Graham Smith in seinem Laboratorium weiter geführt worden. Das genannte Serum gibt Reaktionen auch mit Blut von Hühnern, weniger mit dem von Schwan, Papagei, Storch, Krähe, Emu und Reiher; ebenso mit dem Eiweiß von Emueiern und mit Blutlösungen von Alligator, Chelone midas und Testudo ibera. Umgekehrt erwies sich ein Antialligator- serum als wirksam auch gegen Eiereiweiß von Vögeln! Die Er- gebnisse der zahlreichen Versuchsreihen lassen sich dahin zusammen- fassen, dass Vögel und Ohelonier einander nahe stehen, Vögel und Krokodilier weniger nahe, aber immerhin noch näher als Vögel und Lacertilier, bezw. Ophidier. Auch die Präparation von Antıi- seris gegen Chelonier, Krokodilier und Ophidier zeigten in über- einstimmender Weise, dass man einerseits Chelonier und Kroko- dilier, andererseits Lacertilier und Ophidier näher zusammengehörig betraghten darf. Wenn wir schließlich noch berichten, dass ein Antikrabbenserum nur mit Decapodenblut reagierte, dass ein Anti- froschserum, ein Antihummerserum und ein Antiammocoetesserum sich als sehr exklussiv erwiesen; dass Xiphosuren (ZLimulus polyphemus) den Decapoden fernstehen, den Spinnen nahe zuge- hörig sein müssen, so sind aus allen denjenigen Teilen der Organismenreihe, die sich zunächst einer derartigen Bearbeitung in systematischer Hinsicht zugänglich erwiesen, Beispiele beige- bracht.

Im ganzen hat Nutall 16000 verschiedene Proben mit 900 Brut- arten mit Hilfe von 32 Antiseris angestellt. Bei diesem ungeheueren Materiale kann natürlich von Zufälligkeiten keine Rede sein; oft- mals freilich war die Menge des zur Verfügung stehenden Materials zu gering, um genügend viele Proben damit zu machen, oder es war bei der oft weiten Reise, der nicht immer sachkundigen Ge- winnung derartig verändert, dass seine Verarbeitung nicht zu klaren Resultaten führte. Dann dürfen wir aber der großen Erfahrung des Autors glauben, wenn er auffällige und ausnahmsweise Re- aktionen als durch Zufall oder Verunreinigung entstanden deutet. Jeder, der mit der Herstellung von spezifisch wirksamer Seris ver- traut ıst, wird außerdem aus eigener Erfahrung berichten können, wie selbst bei einem Impfmateriale von großer Gleichmäßigkeit durch individuelle Besonderheiten der Versuchstiere der Erfolg der Immunisierung modifiziert werden kann. Nutall hat seine Antisera fast ausschließlich vom Kaninchen gewonnen. Es gibt dazu kein besseres Versuchstier. Aber nicht nur versagt es natürlicherweise,

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wenn man es zur Beschaffung von Antistoffen gegen nahe ver- wandte Tiere (z. B. Meerschweinchen) verwenden will, sondern man hat auch bei Impfung mit recht heterogenem Material, z. B. mit menschlichem Serum unter Umständen mit Misserfolgen zu rechnen, deren Ursachen uns noch vollkommen dunkel sind. Andererseits ist bei Anstellung von Präzipitinreaktionen oft übersehen worden, dass es natürlich vorhandene, sogen. normale Präzipitine gibt, welche bei Versuchsreihen störende Überraschungen herbeiführen können; so enthält z. B. das Serum einer unvorbehandelten Ziege normale Präzipitine gegen die Sera von Huhn und Meerschweinchen, das Serum eines gesunden Hundes solche gegen Hühnerserum und -Eiereiweiß. Dies alles sind aber Umstände, welche den Wert der Präzipitinreaktion nicht schmälern. Man kann behaupten, dass die biochemische Methode genügt hätte, ein brauchbares System der Tiere aufzustellen, wenn wir nicht schon eine ausgebildete Syste- matik besäßen. Wenn wir sehen, welches neue Licht durch sie auf die Anthropogenie fällt, wenn wir uns des Hinweises auf die Stammesgeschichte der Vögel erinnern, des Winkes in bezug auf die Blutsverwandtschaft der Cetaceen und Ungulaten, oder wenn wir, um nur noch einen Punkt zu erwähnen, in den Wirkungen eines Antipferdserums erkennen, welche isolierte Stellung die Equiden einnehmen, so wird man zugeben, dass die Methode, welche in der Nahrungsmittelchemie und in der gerichtlichen Medizin so schnell eine unersetzliche Handhabe geworden ist, auch für die zoologischen Zwecke einen erheblichen Wert besitzt. Man wird wünschen, dass sie sich namentlich noch als Methode zur quantı- tativen Verwandtschaftsbestimmung verfeinern lassen wird, so dass es möglich werde, zu messen, ob z. B. der Choleravibrio dem Typhusbazillus näher verwandt ist als der Mensch dem Kaninchen. Noch ist auch nicht versucht worden, ob sie der vergleichenden Anthropologie dienen kann.

In neuester Zeit hat nun die Präzipitinreaktion nach mehr- facher Richtung hin eine Erweiterung ihrer Grenzen erfahren. Es ist oben erwähnt worden, dass es gewöhnlich nicht gelingt, gegen Blut nahe verwandte Tiere Präzipitine zu gewinnen; so hatte z.B. noch Nutall umsonst versucht, im Kaninchen gegen das Serum von anderen Nagern zu behandeln; in einer jüngst erschienenen Arbeit behauptet Friedenthal, dass man dies durch genügend lang fortgesetzte Immunisierung erreichen könne; er hatte Erfolg, wenn er z.B. ein Kaninchen 10mal mit dem gesamten defibrinierten Blute einer Maus spritzte. Wie weit hier eine Gesetzmäßigkeit vorliegt und bis zu welchen Graden der Verwandtschaft sich die Immunisierung auf diese Weise treiben lässt, bleibt noch dahin- gestellt. Wie es unmöglich gewesen war, Antikörper zwischen nahe verwandten Tieren zu erhalten, so scheiterte bisher, wie schon

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erwähnt, die Präzipinreaktion noch an einer anderen, durch Ver- wandtschaft gesetzten Grenze: Mittelst eines bestimmten, spezifischen Antiserums konnte bisher keine Differentialdiagnose zwischen Blut- arten sehr ähnlicher Herkunft getroffen werden. Angenommen, es handelte sich um die gerichtliche Entscheidung, ob ein be- stimmter Blutfleck von Schaf oder Ziege stammte, so ließ die An- wendung eines Antischaf- oder Antiziegenserums im Stich, weil der Unterschied der Reaktion in dem spezifischen und in dem so nahe verwandten, nicht homologen Blut zu gering war. Ham- burger hat ganz neuerdings diese Schwierigkeit auf einfache Weise behoben, indem er sich nicht mit der Anwendung eines Anti- serums begnügt, sondern auf dieselbe fragliche Blutlösung alle diejenigen Antisera einwirken lässt, die in dem betreffenden Falle überhanpt in Betracht kommen. Auf Grund der bekannten Tatsache, dass die Reaktion des Blutes mit dem homologen Serum am kräftigsten ausfällt, gelingt die Differenzierung auch nahe verwandter Blut- arten. Voraussetzung ist, dass die Antisera wenigstens annähernd gleichwertig sind, was sich nach Hamburger durch gleichmäßige Behandlung der Tiere, Vorproben mit verschiedenen Blutarten und entsprechende Verdünnung der Antisera erreichen lassen soll. So- viel über die ganz neuerdings gelungene und vom zoologisch-syste- matischen, sowie vom forensischen Standpunkt nicht unwichtige Verfeinerung der biochemischen Diagnose.

Die Präzipitinreaktion kann heute als willkommene Bestätigung der Deszendenztheorie gelten. Sie hat die Verwandtschaftsbezieh- ungen von Tieren nach einer Richtung hin geklärt, welche bisher der experimentellen Prüfung nicht zugänglich gewesen war, indem sie die Verwandtschaft der Körpersäfte erwies. Man darf sich freilich nicht der Hoffnung hingeben, in der Präzipinreaktion eine Methode zu besitzen, welche geeignet wäre, Arten und Varie- täten zu unterscheiden. Sie ist dazu ebensowenig imstande, wie jene andere Art des physiologischen Experiments, die Kreuzung der Arten und Varietäten. Die Natur machte eben keine Ab- teilungen, sondern Übergänge. Aber auch in anderer Hinsicht er- innern die Resultate der Bastardierung an die biochemischen Fest- stellungen: das physiologische Experiment hier wie dort befindet sich nicht immer in Übereinstimmung mit dem, was die Morpho- logie sagt. Diese bezeichnet z. B. zwei Exemplare als „gute Arten“ und die Kreuzung weist sie als fruchtbar miteinander. Anderer- seits zeigt ein Antiserum zwei Tiere einander recht nahe stehend, welche im morphologischen System weit getrennt sind. Bisher galt der anatomische Befund als vornehmstes Kriterium bei der Anweisung eines Platzes ım System. Man wird sich vielleicht ent- schließen müssen, man möchte sagen, namentlich was die rela- tiven Entfernungen im System betrifft, fernerhin das physiolo-

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gische Experiment als gleichgeeigneten Wegweiser zu benützen, und in der Systematik alle Hilfsmittel zu benützen, die uns heute zur Verfügung stehen. Vielleicht ist man berechtigt, zu behaupten, dass die Immunitätsreaktionen gerade von der historischen Ent- wickelung des Tierstammes ein getreueres Bild geben, als die des- kriptive Anatomie, insofern nämlich als die Eigenschaften der Körpersäfte, wie wir gesehen haben, sich offenbar viel beständiger durch die Zeitalter bewahren, als die morphologischen Charaktere, in denen sich die Anpassungsfähigkeit der Organismen an verän- derte Nahrung und Lebensweise viel stärker offenbart. Der An- nahme, dass die chemische Zusammensetzung der Körpersäfte eine konstantere Bildung darstellt als z. B. das Skelett, widerspricht nun aber gerade wieder die Bildung der Antikörper im tierischen Organısmus. Wir können sie ja kaum anders auffassen, als eine wunderbare Variabilität des Blutes, als eine unendlich feine und zweckmäßige Anpassung an den eingeführten Giftstoff. Wir kommen hiermit zum Schluss noch mit einigen Worten auf die Beziehungen der Immunitätslehre zur Lehre Darwin’s. So verlockend es wäre, diesen Beziehungen zu folgen, so muss es doch denjenigen überlassen werden, das im Kampfe um Darwin’s Theorien viel- leicht einmal zu Bedeutung gelangende Gebiete der Immunität- zu erörtern, welche dieses und die einschlägigen Streitfragen be- herrschen.

Dasjenige, was wir heute wohl als das sicher Unvergängliche an Darwin’s Lehre ansehen dürfen, hat durch die biochemischen Reaktionen eine glänzende Stütze erfahren. Wie aber steht es mit anderen Punkten? Wie sollen wir erklären, was uns Handhabe zur Feststellung von Blutsverwandtschaft geworden ist? Dass ein Kaninchen die Fähigkeit besitzt, gegen das Blut eines Känguruh oder eines anthropoiden Affen einen spezifischen Giftstoff zu bilden? Es erwirbt ohne weiteres diese Eigenschaft, die niemals vorher je ein Kaninchen besessen hat, eine Eigenschaft, welche nicht im Kampf ums Dasein erworben sein kann, es sei denn, dass man annimmt, nicht diese spezielle Fähigkeit, ein Antikänguruh- oder Antiaffenserum zu produzieren, sei erworben und vererbt, sondern eine generelle Fähigkeit, auf Einführung fremden Eiweißes mit spezifischen Giftstoffen zu antworten. Nimmt man dieses letztere an, so ergibt sich die interessante Aufgabe, die Entstehung dieser Fähigkeit nachweisbare beliebige spezifische Antikörper zu bilden, in der Tierreihe zurückzuverfolgen. [30]

München, 18. Februar 1905.

428 James and Glen Liston, A Monograph of the Anopheles Mosquitoes in India.

S. P. James and W. Glen Liston, A Monograph of the Anopheles Mosquitoes in India. Kalkutta 1904.

Zu einer wirksamen Bekämpfung der Malaria ist die Kenntnis der biologischen Verhältnisse der Anopheles-Arten von großer Wichtigkeit, weil sie es erst ermöglicht, gegen die Verbreiter der Malaria vorzugehen und das Übel an der Wurzel zu fassen. Von den in Frage kommenden tropischen Mosquitos sind bisher die indischen Arten in ihren biologischen Verhältnissen am genauesten studiert worden. Das obengenannte Werk fasst die bisher gemachten Beobachtungen zusammen, enthält daher eine Menge sehr wichtigen biologischen Tatsachenmaterials und bietet dem Tropenarzt, der die Malaria an Ort und Stelle studiert, einen vorzüglichen Wegweiser. Denn obwohl sich die Beobachtungen nur auf indische Anopheles- Arten beziehen, werden sie doch mutatis mutandis auch auf andere (Gegenden Anwendung finden können, da die Anopheles überall im wesentlichen unter gleichen Verhältnissen leben, wenn auch die Arten verschiedener Gebiete verschiedene sind. Es ist daher viel- leicht nicht ohne Interesse, die bisher festgestellten biologischen Tatsachen kurz zu rekapitulieren, zumal dem Buche, dem sie ent- nommen sind, wohl kaum eine sehr weite Verbreitung beschieden sein dürfte.

Von größter Wichtigkeit ist vor allem eine genaue Kenntnis der Verbreitung der einzelnen Arten, wobei zwischen räumlicher und örtlicher Verbreitung wohl zu unterscheiden ist. Eine Art mit ausgedehntem Verbreitungsgebiet kann in demselben doch nur be- schränkte Standorte haben. Verschiedene Arten haben innerhalb desselben Verbreitungsgebietes oft ganz verschiedene Standorte. Die Fauna zweier nur wenige Meilen voneinander entfernten Lo- kalıtäten kann eine ganz verschiedene sein. Es sind dies allerdings lauter allgemein gültige Grundsätze, die auf viele andere Tiergruppen auch anwendbar, hier aber von größter praktischer Bedeutung sind. Die Ursachen solcher Unterschiede wie die angegebenen sind in lokalen Verhältnissen zu suchen, in der Beschaffenheit der Brutplätze, ın klimatischen und physikalischen Verhältnissen, schließ- lich auch in der Ernährungsweise der einzelnen Arten. In einer Gegend, die nur flache Tümpel hat, wird man Anopheles rossit finden, ın einer Gegend, die nur fließendes Wasser hat, An. listoni; An. gigas bevorzugt bergiges Gelände, An. rossii scheint neben der bereits angeführten Eigenschaft an die Nähe menschlicher Woh- nungen gebunden. Die absolute Häufigkeit der Anopheles steht in direktem Verhältnisse zur Beschaffenheit und Ausdehnung ihrer Brutplätze, ein Satz, der ohne weiteres einleuchtet. Daraus” ergibt sich auch sofort eine Abhängigkeit von den Jahreszeiten, weil mit denselben die Wasserverhältnisse sich ändern. Aus fortgesetzten Beobachtungen erhält man daher leicht die jährliche Häufigkeits- kurve einer Art. Die relative Häufigkeit dagegen, das reichliche Vorhandensein einer Art, die Seltenheit oder das gänzliche Fehlen an-

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derer Arten am selben Platze richtet sich nach den Lebensge- wohnheiten der Anopheles-Arten in der Jugend und in erwachsenem Zustande.

Für die Art der Verbreitung kommen vier ständige Faktoren in Betracht:

1. Direkter Flug über beträchtliche Strecken.

2. Allmähliche progressive Verbreitung von einem ursprüng- lichen Brutplatz aus.

3. Verschleppung von Eiern und Larven durch Wasserläufe (nicht auch durch Wasservögel? Ref.)

4. Verschleppung der Imagines durch Wagen, Wind etc.

Eine Vernichtung der Brutplätze an einem Ort ist daher kein durchgreifendes Mittel, da man immer mit der Einschleppungsge- fahr rechnen muss. Nach den bisher vorliegenden Beobachtungen, die sich auf mehrere Arten beziehen, darf man annehmen, dass die Ano- pheles sich durch direkten Flug im allgemeinen nicht weiter als !/, engl. Meile von ihren Brutplätzen entfernen. Wenn eine Art plötzlich in größerer Entfernung von ihren bekannten Brutplätzen auftritt, so darf man an eine Verschleppung denken.

Jede Spezies bevorzugt eine besondere Art von Brutplätzen. Es ist fast unmöglich, eine Wasseransammlung zu finden, die nicht gelegentlich von irgendeiner Spezies als Brutplatz benutzt wird. Wenn sich an einem Ort Wasseransammlungen verschiedener Art befinden, so leben in jeder derselben die Larven ganz bestimmter Arten. Eine treffliche Illustration dieser Verhältnisse gibt folgendes Beispiel: In Mian Mir (Indien) befanden sich auf einem Gelände von ganz beschränktem Umfange Bewässerungsgräben, trübe, schlammige Tümpel und tiefe, klare Tümpel mit reichlichem Pflanzen- wuchs. In derselben Gegend waren drei Anopheles-Arten reichlich vertreten. An. culicifacies, An. rossii und An. fuliginosus. Die Larven dieser Arten lebten aber nicht etwa vermischt, wie man zunächst annehmen möchte, sondern immer streng getrennt, An. culieifacies ın den Bewässerungsgräben, An. rossii in den schlammigen Tümpeln, An. fuliginosus ın den klaren bewachsenen Tümpeln. Ein weiteres Beispiel ist ebenfalls sehr bezeichnend: Bei einer Nieder- lassung eingeborener Truppen lebten Larven von An. stephensi zahlreich in den von den Soldaten benutzten irdenen Wasserge- fäßen, in den im Umkreis sehr reichlich vorhandenen Tümpeln da- gegen keine einzige. Nach ihrer Vorliebe für ganz bestimmte Brut- plätze lassen sich die Anopheles leicht in biologische Gruppen teilen und man kann aus dem Charakter einer Gegend sofort er- sehen, welche Anopheles-Arten man in ihr zu erwarten hat. Für Indien sind die drei bereits erwähnten Arten von Brutplätzen zu unterscheiden:

fließendes Wasser,

flache schlammige Pfützen und Tümpel,

tiefe klare Sümpfe und Tümpel mit reichlichem Pflanzenwuchs.

Was für Indien gilt, wird mit unwesentlichen Abänderungen auch auf andere Länder anwendbar sein; höchstens wird man noch

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eine vierte Art von Brutplätzen zufügen müssen, nämlich Brack- wassertümpel (z. B. in Kamerun), oder man wird, wo es keine Tümpel und Sümpfe gibt, die ständigen Wasseransammlungen auf Pflanzen in Betracht ziehen müssen, wie z. B. im brasilianischen Urwald.

Unter ungünstigen Verhältnissen, wenn z. B. Sümpfe und Tümpel austrocknen oder zugeschüttet werden, weichen die Anopheles wohl auch notgedrungen von ihren sonstigen Brutgewohnheiten ab und begnügen sich mit Zisternen, Trögen, Gefäßen, überhaupt mit jeder kleinen Wasseransammlung.

Nach ihren Beziehungen zum Menschen lassen sich die Ano- pheles in „zahme“* und „wilde“ Arten einteilen, d. h. in solche, die man gewöhnlich in der Nähe von Niederlassungen und in Wohnungen findet und andere, die nur selten menschliche Wohnungen auf- suchen und meist entfernt von diesen gefunden werden. Ein Bei- spiel für die erste Gruppe ist in Indien An. rossii, für die zweite An. barbirostris.

Je häufiger in einer Gegend die Anopheles sind, desto größer ist die Zahl der Malariafälle. Jedoch verhalten sich die Anopheles- Arten gegen die Malaria verschieden und die häufigste Art ist nicht immer auch Malariaüberträger. Das letztere gilt z. B. von An. rossö, der in Indien zu den häufigsten Arten gehört und immer die Nähe menschlicher Wohnungen aufsucht. Die gleichzeitige An- wesenheit mehrerer Arten ist oft sehr schwer festzustellen, weil sie die Gewohnheit haben, sich zu verstecken und sich Gegenstände von gleicher Farbe als Ruhepunkt auszusuchen, weshalb sie dem Blick leicht entgehen. Es ist daher nicht immer leicht, in Malaria- gegenden, die mehrere Anopheles-Arten beherbergen, den bezw. die eigentlichen Übeltäter zu ermitteln.

Die Anopheles saugen nur nachts und können bei Tage selbst in einem dunkeln Raume gewöhnlich nicht zum Saugen gebracht werden. Direktes Sonnenlicht tötet sie in kurzer Zeit, daher suchen sie tagsüber die dunkelsten Winkel auf. Hierin verhält sich Ano- pheles wesentlich anders als Oxlex, der sowohl bei Tage wie bei Nacht fliegt und sticht. |

Erwachsen können die Anopheles mehrere Monate am Leben bleiben. In der Gefangenschaft wurden Arten über zwei Monate ge- halten. In den Tropen überdauern sie die heiße, trockne Jahres- zeit in den Häusern, saugen in regelmäßigen Zwischenräumen, schreiten jedoch nicht zur Fortpflanzung, außer wenn ihnen künstlich Gelegenheit geboten wird. Eine Uberwinterung von erwachsenen Anopheles wurde in Indien noch nicht beobachtet. Gewisse Arten, wie z. B. An. rossii, scheinen während des Winters gänzlich zu ver- schwinden. Dagegen wurde beobachtet, dass erwachsene Larven überwintern und wahrscheinlich ist die Überwinterung im Larven- stadium die gewöhnliche.

Die Eier werden gewöhnlich auf die Oberfläche von Tümpeln etc. abgelegt und entwickeln sich in ungefähr 48 Stunden. Werden sie auf feuchten Schlamm abgelegt, was ziemlich häufig vorkommt,

Be) 7

Dutton, Todd and Christy, The Congo Floor-Maggot. 4531

so entwickelt sich der Embryo innerhalb der Eischale und kriecht sofort aus, wenn er in Wasser gebracht wird. So erklärt sich die Erscheinung, dass in Tümpeln und Gräben, die vorher kein Wasser enthielten, unmittelbar nach einem Regenguss junge Larven auf- treten können.

Die Larven nähren sich wie bei Oulex von kleinen Wassertieren und niederen Pflanzen. Sıe können auf nassem Schlamm mehrere Stunden der Sonne ausgesetzt bleiben, sterben jedoch, wenn der Schlamm so stark abtrocknet, dass er seine glänzende Oberfläche verliert. Unter günstigen Bedingungen wachsen die Larven in einer Woche heran, doch kann die Entwickelung auch 10—12 Tage dauern. Die Puppenruhe dauert 2 Tage. Im ganzen geht die Ent- wickelung etwas langsamer vor sich, als bei den nächstverwandten Ouliciden: sie dauert 3 Tage länger als bei Owlex und 4 Tage länger als bei Steyomyia. K. Grünberg. [47]

J. Everett Dutton, J. L. Todd and Cuthbert Christy. The Congo Floor-Maggot.

A bloodsucking Dipterons larva found in the Congo Free State. Liverpool School of Tropical Medizine. Memoir XIII, p. 49—56, t.3. Liverpool 1904.

Es ist seit langer Zeit bekannt, dass die Larven verschiedener Musciden parasitisch auf Menschen, Säugetieren und andern Wirbel- tieren leben, teils unter der Haut, teils in Höhlungen, z. B. Nase, Augenhöhle, Ohren, sowie in der Schädelkapsel. Es sei erinnert an die in Russland sehr häufige Wohlfahrtia magnifica (Sehin.), deren Larve auf Menschen und Hunden lebt und die gelegentlich auch bei uns vorkommt, an Zueihia sylvarım (Meig.), deren Larven in der Schädelhöhle von Kröten gefunden werden, an die ın Mittel- und Südamerika heimische Compsomyia macellaria (F.), welche häufig Menschen und Säugetiere befällt. Auch aus Afrika kennen wir seit langer Zeit eine Fliege, Cordylobia anthropophaga (Blanch.), welche über ganz Mittelafrika verbreitet ıst und deren Larve ın Hautbeulen von Menschen, Affen, Hunden und anderen Säugetieren lebt. Alle diese Arten gehören zur Unterfamilie der Oalliphorinen und sind nahe Verwandte unserer Schmeißfliege. Calliphora erythro- cephala (Meig.).

Ein ganz neuer Fall von Parasitismus, wie er bisher bei keiner Dipterenlarve beobachtet war, wird nun in der obengenannten Abhandlung geschildert. Auch hier handelt es sich um eine Mus- ciden- (wahrscheinlich Calliphorinen-) Larve; diese ist aber nicht während der ganzen Larvenperiode an ihren Wirt gebunden, sondern sie lebt in den Hütten der Eingeborenen, tagsüber in der Erde ver- graben (daher die Bezeichnung „Fußbodenmade“) und kommt nur nachts hervor, um Blut zu saugen. Sie verhält sich also ganz ähnlich wie die Bettwanze oder die sogen. persische Wanze.

432 Dutton, Todd and Christy, The Congo Floor-Maggot.

Die Larve ist am Kongo in der Gegend zwischen Tumba und Lutete außerordentlich häufig. Sie lebt in dem Lehmboden der Eingeborenenhütten, oft in großer Zahl, und vergräbt sich bis zu einer Tiefe von 3 engl. Zoll, in feuchtem Boden noch tiefer. Be- sonders häufig sind die Larven dort, wo die Eingeborenen auf Matten direkt auf der Erde schlafen; unter einer Matte wurden ge- legentlich bis zu 50 Larven gefunden. Weniger häufig sind sie in Hütten, wo erhöhte Betten benutzt werden. Die Eingeborenen be- haupten indessen, dass die Larven imstande seien, sich von der Erde auf niedrige Bettstellen emporzuschnellen. Ein solches Ver- halten wurde jedoch nie beobachtet, vielmehr glauben die Verfasser, dass die Larven kriechend auch auf erhöhte Bettstellen gelangen. Die meisten Larven enthalten Blut in verschiedenen Stadien der Verdauung. Die Larven verlassen nur nachts ihre Schlupfwinkel um bei den schlafenden Menschen Blut zu saugen. Werden sie dabei gestört, so lassen sie sich fallen; andernfalls nehmen sie eine reichliche Menge Blut zu sich und ziehen sich dann wieder zurück. Leider werden über die Art, wie die Larven saugen und über eventuelle pathologische Erscheinungen bei den Befallenen gar keine Mitteilungen gemacht. Dagegen wird die Vermutung ausgesprochen, dass die Larven vielleicht als Verbreiter der Schlafkrankheit in Betracht kommen könnten.

Die Larven, welche sich in allen Altersstadien in den Hütten finden, erreichen eine Länge von 15 mm. Über die Dauer des Larvenstadiums ist nichts ermittelt. Die Puppenruhe dauert vier- zehn Tage bis drei Wochen. Zur Verpuppung sollen die Larven aus der Erde hervorkommen. (Sie würden sich hierin gerade um- gekehrt verhalten, wie die andern Oallıphorinenlarven, die zur Ver- puppung in die Erde gehen. Ref.)

Gleichzeitig mit der Larve lebt in den Hütten häufig eine große braune Fliege, wahrscheinlich die zu der Larve gehörige Imago. Leider sind die Verfasser nicht auf den so naheliegenden (Gedanken gekommen, die Larve zu züchten, wodurch sich die Iden- tität leicht hätte feststellen lassen. Die erwähnte Fliege ist Auch- meromyia luteola (F.), eine in Mittel- und Südafrika weitverbreitete Art, sie gehört zu den Oalliphorinen und ist sehr nahe verwandt mit der oben erwähnten Cordylobia anthropophaga (Blanch.)

Beschreibung und Abbildungen der Larven sind leider recht ungenau und wür den zu einem sicheren Wiedererkennen der Larven nicht ausreichen. Es ist zu wünschen, dass wir über Entwickelung und Lebensgewohnheiten dieses interessanten Parasiten, dem viel- leicht eine große pathologische Bedeutung zukommt, bald Näheres erfahren. [48]

K. Grünberg.

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Der KGoebel, und :.Dr. R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut einsenden zu wollen.

By Ba,

Inhalt: Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie. Haberlandt, Über den Begriff „Sinnesorgan“ in der Tier- und Pflanzenphysiologie. Jordan, Einige neuere Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. Schillings, Mit Blitzlicht und Büchse.

Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie'). Von J. Reinke.

Wir Naturforscher dürsten nach Tatsachen, nach immer neuen Tatsachen. Wir sammeln sie, wo wir sie finden. Wir suchen sie durch sorgsame Beobachtung ım einzelnen festzustellen und auszu- sondern aus dem Chaos der auf uns einstürmenden Erscheinungen. Liebe zur Wissenschaft, unbezwingliche Sehnsucht nach Wahrheit sind die Triebfedern, Erfahrungen über das Wesen der Dinge zu machen. Im Gewinn solcher Erfahrungen verzehren wir die Kräfte unseres Lebens; unser Lohn besteht ın der andächtigen Freude, mit der wir vor jeder uns gelungenen Enthüllung einer Tatsache stehen.

Wie wir die Tatsachen lieben und preisen, so hassen und ver- folgen wir die Hypothesen. Unablässig ringen wir danach, uns von diesen unheimlichen Gästen zu befreien, sie zum Tempel der Wissenschaft hinauszukehren. Aber alle Anstrengung ist vergebens. Die Beseitigung der Hypothesen gelingt uns nicht. Die Hypothese ist eine Hydra; schlagen wir einer den Kopf ab, so sprossen zahl-

1) Rede, gehalten in der Eröffnungssitzung des internationalen botanischen Kongresses zu Wien am 12. Juni 1905.

XXV. 28

434 Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie.

reiche neue Köpfe hervor, und unsere Stellung im Kampfe wird ungünstiger als zuvor.

Sollen wir unter solchen Umständen verzagen, am Erfolge der Wissenschaft verzweifeln? Mit nichten! Die Erfolge sind da, sind unbestreitbar, und von Herzen wollen wir uns ihrer freuen. Doch was ist zu tun? Wir sollen uns friedlich mit den Hypothesen aus- einandersetzen, da ihre Ausrottung ein Ding der Unmöglichkeit ist. Nur darf solch ein Friede kein fauler sein. Ich will damit sagen: wenn wir die Hypothesen neben den Tatsachen im Inventar der Wissenschaft zulassen, so sollen wir genau wissen und angeben können, was tatsächliches Wissen und was Hypothese ist.

Zur Lösung dieser Aufgabe bietet sich uns eine hilfreiche Hand. Die derbere, solide, gleichsam in Reiterstiefeln einherschreitende Naturforschung besitzt eine holde, aus Morgenröte gewobene Schwester, die Naturphilosophie. Beide haben einander längere Zeit verächtlich den Rücken zugekehrt; doch heute ist dies Schmollen überwunden. Unbewusst haben sie sich nach und nach einander genähert und schließlich die Hände ineinander gelegt. Man hat erkannt: nur wenn beide vereint in gegenseitiger Achtung am Tempel der Wissenschaft als Priesterinnen dienen, können sie für den Fortschritt der Menschheit ersprießliches wirken. Darauf kommt es an.

Wie die Forschung Pflegerin des tatsächlichen Wissens, ist die Naturphilosophie recht eigentlich Hüterin der Hypothesen. Aber will sie dauernd mit der Forschung in Freundschaft zusammen- arbeiten, so muss sie die von jener ermittelten Tatsachen berück- sichtigen und mit unerbittlicher Strenge darüber wachen, dass alle solche Hypothesen als Unkraut beseitigt werden, die mit sicher gestellten Tatsachen m Widerspruch stehen. Durch Duldung, ja Züchtung von Hypothesen, dıe ohne die feste Grundlage von Tat- sachen hımmelan flogen, hat sich einst die Naturphilosophie um allen Kredit gebracht.

So haben wir also zwischen guten und schlechten Hypothesen zu scheiden, und nur von den guten soll ferner die Rede sein; es sind solche, die die Naturforschung sich gefallen lassen darf, weil sie im Einklang mit ihren Tatsachen stehen.

Durch die feste Grundlage, die fortan die Forschung der Philo- sophie gewährt, bewahrt sie diese vor Irrungen und Ausschrei- tungen. Dafür erzeigt die Philosophie der Forschung sich nützlich, indem sie letztere durch neue Hypothesen zu immer neuen Beob- achtungen herausfordert. Sagt doch schon der Philosoph von Sans- soucı, der in seinen Bemerkungen gewöhnlich den Nagel auf den Kopf trifft, ın einem am 18. August 1761 an den Marquis d’Argens gerichteten Briefe: „Die spekulative Philosophie taugt nur dazu, unsere Neugierde zu nähren.“ Ja, eine solche Neugierde

Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie. 435

im edelsten Sinne des Wortes ist die wahre Tiebfeder der Natur- forschung.

Man könnte fast sagen: in der Hypothese berührt sich die Wissenschaft mit der Kunst. Denn das Wesen der Hypothese ist Dichtung. Dichtung ist keineswegs Verneinung der Wahrheit, im Gegenteil: jede Dichtung birgt einen Kern von Wahrheit, der nur umwoben wird vom Zauber der Phantasie, der Kunst; sie kann nicht nur, sie soll Wahrheit enthalten. Insofern der Naturforscher auch Hypothesen aufstellt, ist er Dichter, und wer nicht alle Hypo- thesen zurückweist, nimmt ein gutes Stück Dichtung in seine Natur- anschauung auf.

Mit Heinrich Hertz!) erblicke ich das Ziel der Naturwissen- schaft darin, geistige Nachbilder der Naturvorgänge und ihrer Be- ziehungen zueinander zu gewinnen. Ich habe an anderer Stelle mich so ausgedrückt, dass die von uns ermittelten einzelnen Tat- sachen Mosaiksteinen gleichen, die wir durch einen Kitt von Hypo- thesen unter Zuhilfenahme der Phantasie zu einem Bilde zu ver- einigen suchen; unablässig müsse unser Bemühen dahin gehen, die Fugen zwischen den Mosaiksteinen so schmal wie möglich zu machen. Der ausgezeichnete Mathematiker Poincar& gibt in seinem Buche „La science et ’hypothese“ (Deutsche Ausgabe S. 143) dem gleichen Gedanken folgenden Ausdruck: „Man stellt die Wissen- schaft aus Tatsachen her, wie man ein Haus aus Steinen baut; aber eine Anhäufung von Tatsachen ist so wenig eine Wissen- schaft, wie ein Steinhaufen ein Haus ist.“

Hypothesen sind hier das Band, durch das Steine und Balken zu einem Hause, Mosaikstückchen zu eimem Bilde ver- einigt werden. Diese Hypothesen sind vom Verstande ersonnene und erschlossene Ergänzungen des Tatsachenmaterials. Wir haben uns nur davor zu hüten, die Hypothesen mit den Tatsachen zu verwechseln oder dogmatisch den Tatsachen gleich zu setzen; das würde zu Illusionen führen, die der Wissenschaft nicht zur Ehre gereichen.

Ein paar Beispiele mögen das Gesagte erläutern. Die denkende Verknüpfung der Erscheinungen des Lichts, der strahlenden Wärme, der Elektrizität hat zur Ergänzungshypothese des Äthers geführt. Die Vereinigung der chemischen Tatsachen zu einem Gesamtbilde führte zu den Ergänzungshypothesen der Atome, der Moleküle, der stereochemischen Molekularstruktur, der Atom- und Molekular- gewichte u. s. w. Wer wollte es wagen, diese geistigen Ergän- zungen, in der wir eine ganze Welt von Beziehungen zu fasslichem

1) Die große Bedeutung von Hertz’ Mechanik auch für die Biologie habe ich dargelegt in meinem Aufsatz: Mechanik und Biologie, Deutsche Rundschau, Jahrg. 28, Heft 3 (1901).

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436 Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie.

Ausdruck bringen, aus dem wissenschaftlichen Bilde der Gegenwart zu streichen? Und doch sind alle jene Begriffe nicht Tatsachen, sondern provisorische Urteile. Es ist unerlaubt, den Äther und die Moleküle den Tatsachen zuzurechnen. Wir dürfen nur sagen: es sieht so aus, die Tatsachen laufen so ab, als ob die Verbin- dungen sich in Molekülen sonderten, als ob Atome und ein Äther da wären.

Je größer die Tragweite einer solchen Hypothese, um so höher ihr wissenschaftlicher Wert. Der Äther, die Moleküle, die Atome sind dadurch zu Voraussetzungen der Forschung geworden und haben als solche einen hohen (wenn auch lediglich provisorischen) Wert für den Fortschritt der Wissenschaft gewonnen. Niemand wird sie mit wıllkürlichen, aus der Luft gegriffenen Fiktionen ver- wechseln. Letztere wären als unzulässig durchaus zu verwerfen; sie führen zu schädlichen Vorurteilen, wie die zulässigen Ergänzungs- hypothesen nützliche Voraussetzungen der Forschung sein können, in dieser Hinsicht den Axiomen sich nähernd. Die Axiome sind im Grunde auch nur hypothetische Voraussetzungen, an deren Richtigkeit niemand zweifelt. Eine solche Voraussetzung ist z. B. die unerschütterliche Überzeugung von der Beständigkeit der physi- kalisch-chemischen Gesetze. Wir zweifeln nicht daran, dass jene Gesetze vor Milliarden von Jahren die gleichen waren, wie heute, und dass sie ın alle Zukunft unverändert bestehen werden; die Er- fahrung reicht aber nicht aus, diese Überzeugung zu bekräftigen.

Doch es wird Zeit, dass wir unsere Beispiele der Biologie entlehnen, der uns näher liegenden Wissenschaft von den Pflanzen und Tieren.

Ich möchte mir erlauben, das Wesen der biologischen Vor- gänge zunächst an einem Modell zu erörtern, das uns lauter Tat- sachen vor Augen stellt in einfachster und durchsichtigster Form, so dass wir der Ergänzung durch Hypothesen gar nicht be- dürfen: es ıst das eine Partie Billard. Vielleicht könnte man so weit gehen, zu sagen, die Partie Billard sei selbst ein biologischer Vorgang, da sie sich ohne Mitwirkung eines lebendigen Menschen gar nicht vorstellen lässt. Man denke sich einen Automaten, einen mechanischen Apparat, der auf dem Billard die Bälle hin und her wirft: nie wird er eine Partie zustande bringen. Ich wenigstens halte dies für so undenkbar, so unmöglich, wie das perpetuum mobile.

Betrachten wır das Billardspiel etwas genauer. Gegeben ist uns ein Mechanismus, der sich zusammensetzt aus den auf ebener Tafel ruhenden Kugeln und einer Betriebskraft, die als potentielle Energie in den Muskeln des Spielers ruht. Diese Muskeln sind Akkumulatoren und zugleich Transformatoren von Energie, was beides zum Wesen einer Maschinenleistung gehört. Unwillkürlich

Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie. 437

denken wır an ein Automobil, das durch einen Akkumulator elek- trischer Energie betrieben wird, die sich fortwährend in die mecha- nische Energie des bewegten Fahrzeuges umsetzt.

Zu Beginn des Spiels liegen die Kugeln in einer Anfangs- konfiguration. Dann wird durch den Stoß ein Teil der gespeicherten Muskelenergie in mechanische Energie verwandelt, die den Kugeln eine Bewegung erteilt, die durch die Reibung am Tuch in Wärme übergeht; ist die ganze, durch den Stoß auf die Kugeln übertragene Energiemenge zu Wärme geworden, so liegen die Kugeln wieder still, die Endkonfiguration einer Phase ist erreicht. Durch Wieder- holung solcher Phasen wird das Spiel zu Ende geführt.

Die Dynamik des ganzen Vorganges liegt klar vor Augen. Die Analyse einer einzigen Phase genügt, um sie aufzuzeigen, etwa der letzten Phase einer Partie. Das Endergebnis hängt ab von drei bemerkenswerten Kausalbeziehungen. Erstens von der Anfangs- lage der Kugeln; zweitens von der Energie des Stoßes, die nach dem ersten Hauptsatz der Energetik quantitativ gleich ist der dafür verbrauchten Muskelenergie und der durch die Reibung der Kugeln erzeugten Wärme. Die dritte Kausalbeziehung ist zugleich eine Finalbeziehung; es ıst die der angestoßenen Kugel erteilte Rich- tung, die äußerst genau bestimmt sein muss, damit das Ende der Partie erreicht wird. Während die im Stoß den Kugeln mitgeteilte Energiemenge auch von einem Automaten geliefert werden könnte, ist ein die Stelle des Spielers vertretender genau zielender Automat unvorstellbar. In der zielenden Tätigkeit des Spielers tritt em spezifisches Lebensprinzip zum Mechanismus des Spiels hinzu, ohne welches die Durchführung einer Billardpartie undenkbar wäre.

Nicht unähnlich ist der Gang der Lebenserscheinungen bei Pflanzen und Tieren. Das Leben beruht auf Bewegungen, die an einem Mechanismus, einer Maschine, dem Tier- oder Pflanzenkörper ablaufen. Pflanzen und Tiere sind, wie alle von Menschen ge- fertigte Maschinen, Transformatoren und Akkumulatoren von Energie. Wie in den Maschinen sind auch in Tieren und Pflanzen die ein- zelnen Teile und die von diesen abhängigen Phasen des ganzen Lebensprozesses final genau aufeinander abgestimmt; sie würden sonst die so komplizierte Lebensbewegung nicht durchführen können. Darauf möge etwas näher eingegangen werden.

Die grünen Blätter der Pflanzen sind Transformatoren des ihnen zustrahlenden Sonnenlichts, also einer besonderen Energie- form, in chemische Energie, die im Innern der Pflanze gespeichert wird. Gewisse Organe der Pflanze, die man sonst auch Reserve- stoffbehälter nennt, wie die Knollen und Samenkörner, können als Akkumulatoren chemischer Energie angesehen werden. Solche Organe sind es besonders, die den Tieren und dem Menschen zu ihrer Ernährung dienen. Wir erwachsenen Menschen können von

438 Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie.

solcher Pflanzenkost leben; sie bedeutet für uns nichts weiter als die Zuführung chemischer Energie, die im Innern unserer Gewebe wieder in mechanische Energie umgewandelt wird, um die Lebens- bewegungen unserer Zellen zu unterhalten, wie die Bewegung einer Lokomotive durch Verzehrung der Steinkohle unterhalten wird, die gleichfalls gespeicherte chemische Energie ist.

Doch die Pflanzen arbeiten in der angedeuteten Weise nicht bloß für das Wohlergehen der Tiere, sondern die Pflanzenzellen selbst müssen einen Teil der von ihnen durch Umwandlung von Sonnenenergie erworbenen chemischen Energie durch Atmung ver- zehren, um die Betriebskraft zur Unterhaltung der eigenen Lebens- bewegungen zu haben. Auch sonst finden wir im Innern der Pflanze eine unausgesetzte Umbildung von Energie. Wo immer z. B. ein Stärkekorn abgelagert wird, ist es ein Vorgang der Akkumulation von Energie; wird dies Stärkekorn später wieder in Zucker ver- wandelt und dieser in der Atmung verbrannt, so ist das eine weitere Transformation von Energie. Kurz, eine Fülle energetischer und zugleich maschineller Prozesse tritt uns im Pflanzenleben ent- gegen, deren Reihe immer damit endet, dass Stoffe mit einem Minimum von Energieinhalt wie Kohlensäure und Wasser ent- stehen und die chemische Energie schließlich in Wärme übergeht, wie die mechanische Energie der bewegten Billardkugeln.

Doch die energetische Betrachtung des Stoffwechsels, wobei die verbrennlichen Kohlenstoffverbindungen des Organismus lediglich als Arbeitsstoffe zur Geltung kommen, ist eine einseitige. Ein Teil jener Verbindungen findet auch als Baumaterial Verwendung, überall dort, wo Keime von Tieren und Pflanzen sich entwickeln, wo Wachstum irgendwelcher Art vorkommt, was ja bei Pflanzen nur ausnahmsweise zu völligem Stillstande gelangt. In jenen Vor- gängen der Entwickelung und Fortpflanzung treten uns ganz neue Erscheinungen entgegen.

Während der Stoffwechsel es gestattete, die Tiere und Pflanzen als Maschinen zu betrachten, versagt dieser Gesichtspunkt gegenüber der Fortpflanzung und Entwickelung. Der einfachste Fortpflanzungs- prozess ist die Teilung einer Zelle in zwei Tochterzellen. Die Zelle ist hinsichtlich ihres Stoffwechsels eine Maschine; doch eine komplizierte Maschine, die sich durch Teilung verdoppelt, gibt es nicht. Wenn ein Apfelbaum eine mikroskopische Keimzelle absondert und diese zu einem neuen Apfelbaum sich entwickelt, so ist das kein maschineller Prozess; eine Maschine, die das vermöchte, ist undenkbar. Darum sind die Pflanzen und Tiere zugleich Maschinen und Nichtmaschinen; das letztere rechtfertigt den Begriff des Organismus, der in Wesen und Eigenschaften weit über die Maschinen hinausragt und eine besondere Gattung von Geschehenseinheiten darstellt.

Hier ıst der Punkt, wo die Hypothese mit ihren Ergänzungen

Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie. 439

des Naturbildes einsetzt. Indem sie von der Voraussetzung ausgeht, dass das mechanische Geschehen, wie es die Welt des anorganischen ausmacht, das einfachere sei, glaubt sie hypothetisch auch die Vorgänge der Fortpflanzung und a Entwickelung auf ein ee Geschehen zurückführen zu sollen, das wir in seinen Einzelheiten nur noch nicht hinreichend durchschauen. Durch solche Hypothese wird das Leben als ein Spezialfall dem anorganischen Geschehen einzureihen versucht.

Man hat dies die Maschimentheorie des Lebens genannt. Eine solche Theorie verknüpft durch mehr oder minder gut begründete Ergänzungshypothesen eine größere Reihe von Tatsachen zu einem abgerundeten Gedankenbilde. Doch die solcher wissenschaftlichen Theorie zugrunde liegenden Voraussetzungen sind einseitig. Darum kann es nicht wundernehmen, dass auch eine entgegengesetzte Theorie der Lebenserscheinungen sich geltend macht, die man als Vitalismus zu bezeichnen pflegt.

Die Maschinentheorie der Organismen, oder, wie auch seit Kant gesagt wird, der Mechanismus, wird von manchen in einen ausschließenden Gegensatz zum Vitalismus gebracht; das ist zurück- zuweisen. Man verlangt häufig eine Wahl zwischen verschiedenen Meinungen, deren eine nur richtig sein könne. Und doch ist die andere Meinung keineswegs falsch; unrichtig ist nur jenes Verlangen. Jede der beiden Meinungen beleuchtet nur eine Seite der Sache, sie ıst die richtige Konsequenz des eingenommenen Standpunktes, und beide Standpunkte können von vornherein gleichberechtigt sein. Dies dürfte auch die Sachlage im Kampfe zwischen Mecha- nismus und Vitalismus sein auf dem Felde der Biologie.

Nach meiner Überzeugung verhält es sich mit den Lebens- vorgängen, insbesondere mit den Vorgängen der Fortpflanzung, Vererbung und Entwickelung wie mit dem Billardspiel. Auch letzteres ist zerlegbar in ein mechanisches und ein vitales Moment. So leugnet auch der Vitalismus das maschinelle Geschehen im Lebensprozesse der Pflanzen und Tiere keineswegs, ihm ist die maschinelle Seite des Lebens Voraussetzung. Aber wenn man auch die physikalisch-chemische Analyse der Lebensvorgänge noch so weit treibt, immer bleibt ein Rest von Erscheinungen, für den jene Erklärungsmittel versagen; schon Kant sagte, es sei vergeblich, für die Erklärung der Entwickelung eines Grashalms auf einen Newton zu warten. Für die Bildung jeder einzelnen Zellform in der Pflanze müssen die kleinsten Substanzteilchen mit einer nicht fehlenden Sicherheit zurechtgerückt und geschoben werden, wie es der Billardspieler mit den Kugeln tut, und wie bei einer kunst- vollen Stickerei jedes Fädchen und jede Farbe den richtigen Platz erhalten muss. Dazu sind Kräfte erforderlich, die sich einer che- misch-physikalischen Erklärung nicht fügen wollen. Wenn wir die

440 Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie.

unendlich feine Ordnung und Harmonie der Teile berücksichtigen, die sich im Aufbau einer Rose oder Orchidee oder gar des mensch- lichen Körpers offenbart, wo die geringste Abweichung oder Stö- rung zu Erkrankungen führt, wird uns sogar der Gedanke nahe gelegt, jene ordnenden, aufbauenden Kräfte seien nur vergleichbar einer Intelligenz, wie sie in der Intelligenz des Billardspielers sich geltend macht; doch einer Intelligenz, die soweit über menschliche Intelligenz hinausragt wie der menschliche Körper über jede von Menschenhand gefertigte Maschine erhaben ist. Dies führte zur naturphilosophischen Hypothese einer unbewussten Intelligenz der Natur.

In der Gegenwart ist das Vorhandensein eines solchen, me- chanisch nicht erklärbaren Restes unter den die Organismen bilden- den Kräften unbestreitbar; und da Zukunftsmusik in der Wissen- schaft keinen Platz haben sollte, ist mit dieser Tatsache einfach zu rechnen.

Es ist daher die starke Seite des Vitalısmus, dass er den korrektesten Ausdruck für die dermalen bekannten Tatsachen bildet. Doch auch der Mechanismus besitzt seine starke Seite, sie liegt indessen auf einem anderen Felde.

Indem der Mechanismus die Hypothese aufstellt, dass alle Lebensvorgänge mechanisch erklärbar seien, dass dies für den „vitalen Rest“ bislang nur noch nicht gelungen sei, macht er diese Hypothese, die zunächst als Ergänzungshypothese gedacht war, zu einer Arbeitshypothese, zu einem heuristischen Prinzipe der Forschung. Als Arbeitshypothese ist der Mechanismus für den Fortschritt der biologischen Erkenntnis von größtem Werte ge- worden. Diese Arbeitshypothese ward zum Füllhorn einer unge- messenen Zahl von Problemen. Die Geschichte der Biologie hat dem Mechanismus soweit Recht gegeben, als es gelungen ist, auch in den Erscheinungsreihen der Fortpflanzung, Vererbung und Ent- wickelung eine große Zahl mechanisch erklärbarer Einzelvorgänge festzustellen und herauszuschälen. Kein Biologe hat Aussicht auf erfolgreiche Arbeit, der nicht die Voraussetzungen jener Arbeits- hypothese zu der seinigen macht, und seine Probleme den Ge- sichtspunkten des Mechanismus unterordnet. Nur diesem Verfahren verdankt die Forschung einen Sieg nach dem andern. Wir arbeiten in der biologischen Forschung durchweg mit der Voraussetzung, als ob der Organısmus ein Mechanismus wäre, und haben dieser Voraussetzung die wichtigsten Resultate zu danken. Um nochmals auf unser altes Beispiel zurückzukommen, lassen sich auch in der Tätigkeit des Billardspielers zahlreiche rein mechanische Momente nachweisen. Trotzdem bleibt hier wie in der Entwickelung der Organismen ein Rest, den wır als Tatsache hinzunehmen haben; wir nennen ihn die menschliche Intelligenz. Machen wir sie zum

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Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie. 441 YI g &

Maßstab der Organısmen, dann sieht es so aus, als ob eine der menschlichen weit überlegene Intelligenz ihren Aufbau geleitet hätte.

Über dies „es sieht aus, als ob“ kommt der wenns nicht hinaus, wie auch die Physik nicht darüber hinauskommt, zu sagen: es Seht aus, als ob ein Äther den Weltraum erfülle. Beides end Hypothesen. Andererseits handeln wir in der biologischen For- schung, als ob alles mechanisch zuginge. Denn als eine Schwäche des Vitalismus ist einzuräumen, dass er als Arbeitshypothese, als heuristisches Prinzip der Forschung bislang nur sehr wenig ge- leistet hat; in dieser Hinsicht sind die Hypothesen des mem und des Ahern; einander nicht gleichwertig.

Wir sind nunmehr an Ta ee Begriff der Arbeits- hypothese und der aus ihr entspringenden Probleme gelangt.

Unter den biologischen Problemen können wir zwei Arten unterscheiden, die sich als praktische und als logische Probleme kennzeichnen lassen.

Unter den praktischen Problemen, deren klare Formulierung zu den wichtigsten Aufgaben des Biologen gehört, verstehe ich solche Fragen, die sich der Behandlung durch Beobachtung und Experiment zugänglich erweisen und durch diese wichtigsten For- schungsmittel eine Bejahung oder Verneinung erfahren können. Als logische bezeichne ich solche in der Biologie diskutierte Pro- bleme, auf die der Maßstab der Erfahrung keine Anwendung findet, und in denen es sich daher meist nur um die Erörterung von Möglichkeiten handelt; sie laufen daher alle mehr oder weniger auf naturphilosophische Ergänzungshypothesen hinaus. Dennoch kann auch diesen Problemen mitunter ein gewisser heuristischer Wert nicht abgesprochen werden.

In bezug auf die praktischeu Probleme besteht so wenig Mei- nungsverschiedenheit unter den Naturforschern, dass ich nicht auf sie einzugehen brauche Um so mehr bedarf die zweite Art der Probleme einer etwas eingehenderen Würdigung.

Ich nannte jene Probleme logische mit Rücksicht auf das Eingreifen der Naturphilosophie. Beschränken wir aber in der Biologie das Wort Problem auf solche Fragen, die prinzipiell wenigstens praktisch lösbar sind, die durch Erfahrung eine be- Jahende oder verneinende Antwort finden können, so sind jene zweiten Probleme für den Naturforscher überhaupt keine Pro- bleme, sondern Scheinprobleme. Denn sie ergeben nur Hypothesen, die nicht Arbeitshypothesen im praktischen Sinne sein können. Sie sind empirisch unlösbar. Wohl wird unser Denken durch sie herausgefordert; doch das Ergebnis dieses Nachdenkens wird nur Gegenstand des Glaubens, nicht Gegenstand der Forschung und des Wissens sein können. Dennoch spielen solche Hypothesen und Pseudoprobleme in der Geschichte der Biologie eine Rolle

44° Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie.

ei

und haben in weiteren Kreisen der Laienwelt oft erst das Inter- esse an den biologischen Zeitfragen rege gemacht.

Es wird sich empfehlen, das Gesagte an zwei Beispielen zu erläutern.

Nach der Abstammungslehre haben Tierreich und Pflanzen- reich im Laufe der Erdgeschichte eine Entwickelung durch- gemacht. Wie viele empirische und hypothetische Elemente sich in dieser Lehre vereinigen, möge unerörtert bleiben. Doch zum Begriff der Entwickelung gehört ein Anfang. Die am meisten ver- breitete Annahme der Biologen geht dahin, dass jener Anfang des organischen Lebens auf der Erde in kleinsten und einfachsten Zellen bestanden habe, die sich teilweise bis zu den höchstorganisierten Pflanzen und Tieren entwickelten, teilweise aber auf der Stufe einzelliger Protozoen, Bakterien u. s. w. stehen blieben.

Ein solcher Anfang des Lebens auf der Erde und nur darum handelt es sich muss namentlich dann stattgefunden haben, wenn wir die Kant-Laplace’sche Theorie annehmen, wonach unsere Erde einst ein glühender Ball war, und das Leben erst nach dessen Abkühlung einzusetzen vermochte. Verwirft man diese Theorie und nimmt dagegen an, die Erde sei von Ewigkeit her so beschaffen gewesen, wie sie jetzt ist, so könnte auch von jeher Leben auf ihr bestanden haben. Allein die letztere Hypo- these, die auch mit den Tatsachen nur. schwierig vereinbar wäre, wird von wenigen geteilt.

Nimmt man einen Anfang des Lebens und damit der Entwicke- lung nach erfolgter Abkühlung der Erdoberfläche an, so fragt es sich weiter, ob die Urzellen aus dem anorganischen Material der erkalteten Erdrinde entstanden sind, oder ob sie von anderen Weltkörpern aus die Erde besät haben. Man sieht, es handelt sich hier um ein Problem, das der Erfahrung gänzlich entzogen und nur der logischen Erörterung zugänglich ist. Darum ist diese Frage für die Naturforschung ein Pseudoproblem, und nur in natur- philosophischem Sinne kann von einem wirklichen, d. h. logischen Proplem gesprochen werden. Tatsächlich kann nur die Möglich- keit oder Unmöglichkeit der Vorgänge erörtert werden; höchstens käme noch die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit in Be- tracht.

Der tellurische Ursprung der ersten Organismen ist in der Hypothese der sogen. Urzeugung behauptet worden.

Diese Hypothese steht mit aller Erfahrung in Widerspruch. Wir dürfen nach dem übereinstimmenden Ergebnis aller Beob- achtungen und Versuche behaupten, dass in der Gegenwart lebendige Zellen niemals aus anorganıschem Material entstehen. Nach dem Axiom von der Unveränderlichkeit der physikalischen und chemi- schen Gesetze dürfen wir aber auch folgern, dass dies vor sehr

Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie. 443

langen Zeiten ebensowenig geschehen ist. Wie ich mehrfach durch eingehende theoretische Untersuchungen gezeigt habe, ist es für die in den anorganischen Verbindungen der Erdrinde waltenden chemischen und energetischen Kräfte ihrer Eigenart wegen unmög- lich, aus sich heraus lebendes Protoplasma zu gestalten, einen Elementarorganısmus zu bilden. Mir erscheint die Urzeugung prin- zipiell so unmöglich, wie ein Perpetuum mobile. Von der Unmög- lichkeit der Urzeugung gehen auch die Vertreter der Besamungs- hypothese aus. Dieser Gedanke wurde zuerst von Herrmann Eberhard Richter geäußert (vgl. Schmidt’s Jahrb. f. Medizin 1865, 1870, 1871).

Richter hält das Dasein organischen Lebens ım Weltraum für ewig. Der Kohlengehalt der Meteoriten soll von organischen Resten herrühren. Doch sollen auch sehr kleine Keime niederster Organismen frei im Weltraum umherfliegen. Sie geraten dadurch von den Planeten, so auch von unserer Erde, in den Weltraum, dass sie, bis in die obersten Luftschichten emporwirbeln und mit diesen abgestoßen werden; doch können sie auch in humusreichen Bruchstücken eines zerplatzten Himmelskörpers in den Weltraum hinausgeschleudert werden. Bei der niederen Temperatur des Weltraums (—200°) können die darin befindlichen Keime Jahr- tausende lebendig bleiben. Da auf diese Weise Keime von Orga- nismen von einem Weltkörper auf einen anderen gelangen können, so braucht das Leben niemals einen Anfang genommen, sondern sich nur durch Fortpflanzung erhalten zu haben. Auch die Erde wurde in dieser Weise von anderen Weltkörpern aus bevölkert.

Bald darauf (1871) hat es auch Lord Kelvin für möglich erklärt, dass die Erde durch Keime, die in Spalten von Meteor- steinen steckten, besamt worden sei.

Wenn wir einmal die Möglichkeit zugeben wollen, dass bei der großen Kälte des Weltraumes ausgetrocknete Keime niederer Organismen lange Zeit latent lebendig bleiben können, so sind doch Richter’s Hilfshypothesen über die Abstoßung solcher Keime aus der Atmosphäre in den Weltraum ganz unzulänglich; ihre Fortbewegung und ihr Hinabfallen auf die Erde, soweit es nicht durch Meteorsteine geschehen soll, wird gar nicht erörtert.

Richter’s Hypothese hat neuerdings einen Verfechter gewonnen in dem schwedischen Chemiker Arrhenius (die Umschau 1905 Nr. 25), ein Beweis, dass auch dieser Chemiker Urzeugung für un- möglich hält.

Arrhenius geht davon äus, dass der Himmelsraum von fein verteiltem Staub erfüllt sei, wovon ein Teil aus Sporen niederer Organismen, sagen wir kurz Bakterien, gebildet werde. Man darf annehmen, dass der Durchmesser solcher Sporen ein Zehn- tausendstel Millimeter nur um weniges übertrifft. Wie Richter,

444 Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie.

erörtert auch Arrhenius die Frage, auf welche Weise solche Sporen aus den obersten Schichten unserer Atmosphäre entgegen der Schwere in den Weltraum geschleudert werden könnten. In jenen Schichten herrscht nur noch ein Tausendstel Milligramm Luftdruck. Durch Luftströmungen können solche Körper aber nie aus der Erdatmosphäre entfernt werden; Arrhenius zieht die Möglichkeit heran, dass die Abstoßung durch elektrische Kräfte erfolge. Die Körperchen müssten dann negativ elektrisch geladen sein.‘ Die Fortbewegung der Sporen ım Weltraum soll hierauf durch den von Maxwell entdeckten Strahlungsdruck des Sonnen- lichts geschehen. Dieser würde solchen Sporen im Weltraum bald eine enorme Geschwindigkeit erteilen und er dürfte für die Über- führung von Lebewesen von einem Planeten zum andern eine große Rolle spielen. Die Sporen würden bei einem Durchmesser von 1!/, Zehntausendstel Millimeter von der Erdoberfläche zum äußersten Planeten unseres Sonnensystems etwa ein halbes Jahr, bis zum nächsten Fixstern 3000 Jahre gebrauchen. Auf solche Weise sollen alle neu entstandenen Planeten alsbald besamt werden.

Wenn schon das Hinausschleudern der Sporen aus der Atmo- sphäre eines Planeten in den Weltraum durch Elektrizität eine der Erfahrung unzugängliche Hypothese ıst, so hat es doch Ar- rhenius unterlassen, auch nur die Möglichkeit zu erörtern, wie die Sporen aus dem Weltraum lebend ın die Atmosphäre unserer Erde gelangen können. Ich meinerseits halte dies für unmöglich, weil ich überzeugt bin, dass sie vermöge ihrer Geschwindigkeit schon beim Anprall an die Sauerstoffmoleküle der äußersten Luft- schicht verbrennen müssten.

Diese Besamungshypothese, die lediglich Möglichkeiten dis- kutiert, wurde ersonnen, um einen tellurischen Ursprung der Orga- nismen zu vermeiden, da ihre Anhänger von der Unmöglichkeit der Urzeugung überzeugt sind. Ich meinerseits halte aber auch die Besamung aus dem Weltraum für überaus unwahrscheinlich. Was bleibt da übrig?

Für die biologische Forschung genügt es, das Dasein der Organismen als etwas Gegebenes hinzunehmen, wie sie das Da- sein der Materie als etwas Gegebenes hinnimmt. In diesem Sinne hat sich auch Wiesner ausgesprochen!).

Wenn ich dagegen von naturphilosophischem Gesichtspunkt aus erkläre: es sieht mir so aus, als ob nach dem Erkalten des Erdballs intelligente Kräfte eingesetzt haben, um aus den Verbin- dungen der Erdkruste lebendige Urzellen zu gestalten, so braucht sich die Naturforschung durch solches Urteil nicht beeinflussen zu lassen.

I) Wiesner, Die Beziehungen der Pflanzenphysiologie zu anderen Wissen- schaften. Wiener Rektoratsrede von 1898.

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Reinke, Hypothesen, Voraussetzungen, Probleme in der Biologie. 445

Als zweites in diese Gruppe von Hypothesen gehöriges Bei- spiel nenne ich Darwin’s Selektionslehre mit Einschluss der ihr von Weismann gegebenen Erweiterung. Auch sie beschränkt sich auf die Erörterung von Möglichkeiten, da noch niemand beobachtet hat, dass eine neue Art oder auch nur ein neues Organ wirklich durch Naturzüchtung entstanden ist. Obgleich die ganze Selektionshypothese vielleicht irrig ist, hat sie dennoch durch die von ihr ausgehende Anregung wichtige Fortschritte der Wissen- schaft herbeiführen helfen. Selbst eine falsche Hypothese kann als Arbeitshypothese unter Umständen segensreich wirken.

Mögen Selektionslehre wie Besamungshypothese richtig oder unrichtig sein, mögen sie uns wahrscheinlich oder unwahrscheinlich dünken, sie beruhen beide lediglich auf naturphilosophischer Spe- kulation.

Ich eile zum Schluss. Der wahre Geist der Wissenschaft zeigt sich darin, dass, wenn wir ratlos vor der großen Sphinx stehen, wir den Mut haben, dies zu sagen, mag auch Trauer und Resignation uns erfüllen. Das Mysterium hebt schon an mit der Grundfrage: haben die Bilder unseres Bewusstseins ihren Ursprung in uns selbst oder werden sie durch Einwirkung einer Außenwelt in uns erzeugt, ausgelöst?

Auch die Phantasie ıst als Wissenschaftsfaktor unentbehrlich, ohne sie gelangen wir nur zu farblosen und öden Abstraktionen. Denken und Phantasie wirken zusammen am Aufbau unserer wissen- schaftlichen Vorstellungen.

Erkennt man eine Hypothese nicht als solche, so ıst Gefahr, dass sie zur lllusion werde; davor haben wir uns zu hüten. Eın abschreckendes Beispiel sind die mit dogmatischer Sicherheit kon- struierten Stammbäume der heute lebenden Pflanzen und Tiere. Machen wir so viele Hypothesen wie wir wollen nur müssen wir uns ganz klar darüber sein, dass es Hypothesen sind.

So gelangen wir zum Friedensschluss zwischen Forschung und Hypothese. Der Friedensschluss besteht darin, dass wir wissen, was Tatsache und was Hypothese ist, und dass wir nur solche Hypothesen zulassen, die den Tatsachen nicht widersprechen. Die Arbeitshypothese wird dann Werkzeug der Forschung.

Wir können die Naturwissenschaft vergleichen einem Gewebe, zu dem die Naturforschung den Aufzug, die Naturphilosophie den Einschlag liefert. Die von beiden gesponnenen Fäden müssen ver- schiedene Farben haben; dass diese Farben sich nicht verwischen, sei unsere Sorge.

Überall stoßen wir in den Naturwissenschaften auf ein: „es scheint, als ob...“, und kommen über Wahrscheinlichkeitsabwä- gungen und Wahrscheinlichkeitsbegriffe nicht hinaus. Das ist menschlich, ist ein Kennzeichen menschlicher Wissenschaft. „Wenn

446 Haberlandt, Über den Begriff „Sinnesorgan“ in der Tier- u. Pflanzenphysiol.

man die Wahrscheinlichkeitsrechnung verwirft,* sagt Poincare in seinem schönen Buche (S. 187), „so verwirft man die ganze Wissenschaft.“

Über den Begriff „Sinnesorgan“ in der Tier- und Pflanzenphysiologie. Von G. Haberlandt.

Um die anatomisch-physiologischen Analogien zwischen den von mir ın verschiedenen Arbeiten!) nachgewiesenen Aufnahms- oder Perzeptionsorganen der Pflanzen für äußere Reize und den der gleichen Funktion dienenden Sinnesorganen der Tiere klar und be- stimmt zum Ausdruck zu bringen, habe ich jene Perzeptionsorgane der Pflanzen gleichfalls als „Sinnesorgane“ bezeichnet. Von bota- nischer Seite ıst dagegen, so viel ich weiß, bisher kein Widerspruch erhoben worden; denn die Anwendung des Ausdruckes „Sinnes- organ“ ist in der Tat nur die Konsequenz des Entwickelungsganges, den die Reizphysiologie der Pflanzen in den letzten Jahrzehnten eingeschlagen hat. Von zoologischer und tierphysiologischer Seite haben sich jedoch vereinzelte Stimmen gegen die Übertragung des Ausdruckes und Begriffes „Sinnesorgan“ auf das Gebiet der Pflanzen- physiologie ausgesprochen. Am schärfsten hat sich wohl OÖ. Bütschli geäußert, der es in einer sonst wohlwollenden Besprechung meines Breslauer Vertrages?) geradezu für „verwirrend und irreführend“ erklärt, wenn von dem Empfindungsvermögen, den Sinneswahr- nehmungen und Sinnesorganen der Pflanzen gesprochen wird. Es sei mir gestattet, auf die Ausführungen des hervorragenden Heidel- berger Zoologen in Kürze zu erwiedern und bei dieser Gelegenheit die Charakterisierung der pflanzlichen Perzeptionsorgane als „Sinnes- organe“ nochmals zu begründen.

Bütschli geht in seiner Polemik von der Behauptung aus, dass „Empfinden, Wahrnehmen, Sich-Orrentieren“* rein psycho- logische Vorgänge seien, für die man niemals die physiologischen Begleiterscheinungen einfach substituieren könne. Nun weist aber Bütschli selbst darauf hin, dass psychische Vorgänge in anderen Lebewesen nur mittelst eines Analogieschlusses, „auf Grundlage der Übereinstimmung ihres Baues und ihres Verhaltens mit mir selbst,“ wahrscheinlich gemacht werden können. „Je weiter sich

1) G. Haberlandt, Sinnesorgane im Pflanzenreich zur Perzeption mecha- nischer Reize, Leipzig 1901; Die Sinnesorgane der Pflanzen, Verhandlungen der Gesellsch. deutscher Naturforscher u. Arzte 1904, Allg. Teil. Mit Anmerkungen ver- sehen ist dieser Vortrag bei J. A. Barth in Leipzig erschienen; Die Lichtsinnes- organe der Laubblätter, Leipzig 1905.

2) Zoologisches Oentralblatt, XII. Jahrg. 1905, S. 7ff.

Haberlandt, Über den Begriff „Sinnesorgan“ in der Tier- u. Pflanzenphysiol. 447

jedoch der Organismus vom menschlichen Bau und Verhalten ent- fernt, desto unsicherer muss ein solcher Analogieschluss werden.“ Das ist gewiss ganz richtig und oft genug schon hervorgehoben worden. Daraus folgt aber, dass der Physiologe, wenn er die Begriffe Empfindung, Empfindungsvermögen etc. im rein psycho- logischen Sinne auffasst, bei allen Tieren, deren Bau sich von der Organisation des menschlichen Körpers stark entfernt, wie z. B. bei den Arthropoden, Mollusken, Echinodermen, Würmern, die Aus- drücke Empfindung, Wahrnehmung, Sınnesorgan etc. strenge ver- meiden muss; der Analogieschluss auf das Vorhandensein psychischer Vorgänge wird bereits vollkommen unsicher. Bekanntlich ist diese Konsequenz vor einer Reihe von Jahren von Beer, Bethe und v. Uexküll'!) gezogen worden, die eine ganz neue „objektivierende* Nomenklatur für die Physiologie des Nervensystems in Vorschlag brachten. Statt „Perzeption des Reizes“ sagen diese Forscher „Rezeption des Reizes“, da „Perzeption* sowie „Wahrnehmung“ ein psychologischer Begriff sei, resp. ein psychisches Geschehen bezeichne. Statt von „Sinnesorganen“ wird demnach von „Rezep- toren“ gesprochen und an Stelle der Ausdrücke „Tast-, Geruchs-, Geschmacks- und Sehorgan* werden die neuen Termini Tango- rezeptor, Stiborezeptor, Gustorezeptor und Photorezeptor gebraucht. Meines Wissens hat aber diese neue Nomenklatur, der sich Bütschli konsequenterweise vollinhaltlich anschließen müsste, in zoologischen und tierphysiologischen Kreisen wenig Anklang gefunden. Man spricht nach wie vor von den Tastorganen, Seh- organen und überhaupt von den Sinnesorganen der Würmer, In- sekten und anderer „niederer* Tiere, von deren psychischen Er- lebnissen wir doch gar nichts Sicheres wissen.

Es ıst auch leicht einzusehen, warum auf diese Ausdrücke nicht verzichtet wird. Der Grund liegt auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie und Physiologie. Von den Sinnes- organen des Menschen als reizaufnehmenden Apparaten führt eine lange, ununterbrochene Kette von mannigfachen Übergangs- formen zu den analog gebauten uud analog fungierenden Or- ganen der niederen Tiere. Der Anatom und Physiologe hat um so weniger Grund, diese Organe anders zu benennen als beim Menschen und dem ihm nahestehenden Tieren, als es ıhm von seinem Standpunkte, von seiner Fragestellung aus ganz gleichgültig ist, wie weit die psychischen Begleiterscheinungen der physiologi- schen Vorgänge im System des Tierreiches hinabreichen. Welche Unsicherheit und Verwirrung müsste eintreten, wenn von Sinnes-

1) Vorschläge zu einer objektivierenden Nomenklatur in der Physiologie des Nervensystems, Biol. Centralblatt, 1899 und Physiologisches Oentralblatt, 1900. Vgl. auch H. E. Hering, Inwiefern ist es möglich, die Physiologie von der Psycho- logie sprachlich zu trennen? Biol. Centralblatt, 1903.

448 Haberlandt, Über den Begriff „Sinnesorgan“ in der Tier- u. Pflanzenphysiol.

organen nur dann gesprochen würde, wenn das Kriterium des psychischen Geschehens erfüllt ist. Der subjektiven Auffassung wäre Tür und Tor geöffnet. Der eine Forscher, der den Insekten Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögen zuschreibt, würde ihre reizaufnehmenden Apparate „Sinnesorgane“ nennen, ein anderer Forscher, der in denselben Tieren bloße „Reflexmaschinen“ erblickt, würde die gleichen Organe als „Rezeptoren“ bezeichnen. Eines Kri- terıums halber, das einem anderen Wissens- und Forschungsgebiete, der Psychologie, entnommen ist, würde auf anatomischem und physiologischem Gebiete ein fortwährendes Schwanken der Begriffe und Ausdrücke stattfinden.

Ein solches Schwanken wäre aber sogar in der Physiologie des Menschen unvermeidlich. Es ıst ja hinlänglich bekannt, dass ein und dieselbe Reizbewegung, die nach Reizung eines Sinnes- organes ausgelöst wird, das einemal das Ergebnis eines Willens- aktes, das anderemal, im tiefen Schlafe, oder nach langer Übung, eine bloße Reflexbewegung ist. Das einemal ist also beim Ablauf der physiologischen Reizkette ein psychisches Korrelat vorhanden, das anderemal nicht. Soll man nun das reizaufnehmende Organ nur im ersteren Falle als „Sinnesorgan“, ım letzteren Falle dagegen bloß als „Rezeptor“ bezeichnen? Das wäre zweifellos irreführend, denn ın beiden Fällen fungiert das reizaufnehmende Organ in gleicher Weise; die physiologischen Zustandsänderungen, die durch den Reiz in ihm hervorgerufen werden, sind dieselben, ob sich ein psychisches Geschehen daran knüpft oder nicht. Ein Organ aber, das in beiden Fällen, bei gleichem Bau, auch vollkommen gleich fungiert, kann nicht einmal so und das anderemal anders bezeichnet werden.

Es ist also konsequenterweise in bezug auf diese Frage nur folgende Alternative möglich: Entweder verzichtet der vergleichende Physiologe, schon vom Menschen angefangen, vollständig auf alle Ausdrücke, die auch ın der Psychologie gebraucht werden und verwendet durchaus neue Termini; oder er gebraucht die bis- her üblichen Ausdrücke Empfindung, Wahrnehmung, Sinnesorgan etc. unter Abstrahierung von eventuellen psychischen Korrelaten ım rein physiologischen Sinne, indem er nur die materiellen Vorgänge ins Auge fasst, welche die Reizerscheinungen, soweit sie objektiv er- forschbar sind, unter allen Umständen vorstellen. Dem Physiologen sind eben jene Vorgänge, die Bütschli „die physiologischen Be- gleiterscheinungen“ nennt, die Hauptsache und die eventuellen psychologischen Vorgänge bloße „Begleiterscheinungen“.

In diesem Sinne wird auch heute noch von der überwiegenden Mehrzahl der Zoologen und Tierphysiologen selbst bei niederen Tieren von „Sinnesorganen“ gesprochen. Man hat sich, die Kon- tinuität der historischen Entwickelung der Wissenschaft und ihrer

Haberlandt, Über den Begriff „Sinnesorgan“ in der Tier- u. Pflanzenphysiol. 449

Begriffe wahrend, für die zweite Eventualität entschieden. Miss- verständnisse sind dabei nicht zu befürchten, solange sich der Forscher darüber klar bleibt, dass die Sinnesorgane physio- logisch betrachtet zur Auslösung von Reizbewegungen, psychologisch betrachtet zur Auslösung von Bewusst- seinsvorgängen dienen. In beiden Fällen sind sie zunächst die Aufnahmsorgane für äußere Reize. Ihre primäre Funktion ist jedenfalls die physiologische; sie allein ist bei den meisten Tieren objektiv nachweisbar.

Nur im physiologischen Sinne habe ich in meinen bisherigen Arbeiten von den Sinnesorganen der Pflanzen gesprochen und dies auch an verschiedenen Stellen ausdrücklich hervorgehoben!). Ich knüpfte damit nur an die in der neueren pflanzenphysiologischen Lite- ratur allgemein üblichen Begriffe und Ausdrücke wie „Empfindung“, „Empfindungsvermögen®“, „Wahrnehmung“, „Sich-Orientieren“, „Sensibilität“ ete. an. Wenn mir Bütschli den Gebrauch dieser Ausdrücke vorwirft und ıhn als „irreführend“ bezeichnet, so geht daraus nur hervor, dass er die neuere reizphysiologische Literatur, soweit sie sich auf das Pflanzenreich bezieht, nicht hinreichend kennt. Es hätte ıhm sonst nicht entgehen können, dass die oben- erwähnten Termini in den Schriften aller neueren Pflanzenphysio- logen, die sich mit den Reizerscheinungen der Pflanzen beschäftigt haben, wie Ch. Darwin, Pfeffer?), Noll, Czapek, Nemeec, Jost u.a. immer wiederkehren, ohne dass deshalb die von Bütschlı befürchtete Irreführung und Verwirrung eingetreten wäre. Allen diesen Forschern sind jene Termini die Ausdrücke für rein physio- logische Begriffe, genau so wie in tierphysiologischen Arbeiten. Sie werden angewendet, weil die eingehende Untersuchung der pflanzlichen Reizerscheinungen ergeben hat, dass diese den Reiz- vorgängen im tierischen Organismus vollkommen analog sind. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Reizbarkeit des tierischen und des pflanzlichen Protoplasmas ist eben nicht vorhanden; die Übereinstimmung ist im Gegenteile eine überraschend große®). Das ist ja bekanntlich das Hauptergebnis der vergleichenden Reizphysio- logie der letzten Jahrzehnte.

Wenn daher Bütschli, um mich zu widerlegen, die Frage auf- wirft, warum man seit altersher nicht auch die Reizbarkeit der Pflanzen als „Empfindungsvermögen“ bezeichnet habe, so kann ich darauf

1) Vgl. G. Haberlandt, Sinnesorgane im Pflanzenreich, S. 1ff., 7, 8; Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter, S. 120, Anmerkung.

2) In W. Pfeffer’s „Pflanzenphysiologie“, II. Auflage werden u. a. folgende Ausdrücke angewandt: „Empfindungsvermögen, Unterschiedsempfindung, Sensibilität, sensorischer Vorgang, Perzeption, Tastreizbarkeit, Sinnesorgane“ (II. Bd. S. 440).

3) Es ist also unrichtig, wenn Bütschli in bezug auf diese Dinge von „grund- verschiedenen Verhältnissen“ spricht.

XV. 29

450 Haberlandt, Über den Begriff „Sinnesorgan“ in der Tier- u. Pflanzenphysiol.

nur mit den treffenden Worten Pfeffer’s antworten, die dieser For- scher elf Jahre vor meinem Breslauer Vortrag bei gleicher Ge- legenheit gesprochen hat!): „Da die meisten Reizreaktionen höherer Pflanzen langsam verlaufen, da ferner nur dem bewaffneten Auge von den freischwimmenden Organısmen Kenntnis wird, so ist es wohl zu verstehen, wie dem Menschen sich die Ansicht aufdrängte, dass die Pflanzen nicht ım gleichen Sinne reizbar seien wie die Tiere. Einem solchen Glauben wäre gewiss nicht der Mensch ver- fallen, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, von seiner Kindheit ab in mehr als tausendfacher Vergrößerung alles Leben und Treiben der Pflanzenwelt zu überblicken. Von Jugend auf hätte sich vor dem Auge dieses Menschen das große Heer der frei herumschwär- menden niederen Pflanzen und niederen Organismen herumge- tummelt.... Ein solches Auge würde aber auch, wie es in der Tat das Mikroskop zeigt, die wachsenden Stengeln und Wurzeln gleichsam in herumtastender Bewegung erblicken und in jeder höheren Pflanze schnell verlaufende Reizreaktionen erkennen. Unter dem Ansturm solcher Eindrücke wären zweifellos Reizbarkeit und Empfindung als ein selbstverständliches Gemeingut aller Pflanzen angesprochen worden ... Sicher hätte dann Aristoteles den Pflanzen eine empfindende Seele zuerkannt.“ Die geringere Schnellig- keit in der Ausführung der Reizreaktionen ist es also, die in der Regel, doch durchaus nicht immer, die pflanzlichen von den tierischen Reizbewegungen unterscheidet. Das ıst aber selbstverständlich kein prinzipieller, sondern nur ein ökologisch bedeutsamer Unterschied. Er kann nicht hinreichen, um den Pflanzen das Empfindungs- vermögen abzusprechen, wenn man es den niederen Tieren zuer- kennt.

Wird dies zugegeben, dann sind auch die Aufnahmsapparate für äußere Reize, die die Auslösung der Reizbewegungen vermitteln, bei Tieren und Pflanzen gleich zu bezeichnen. Nennt man sie bei den ersteren „Sinnesorgane“, dann müssen sie auch bei den letz- teren so genannt werden; und zwar um so mehr, als nach meinen und soweit es sich um die Statolithenorgane handelt, auch nach Nömee’s Beobachtungen, die prinzipielle Übereinstimmung im ana- tomischen Bau der Aufnahmsorgane bei Tieren und Pflanzen zu- weilen eine überraschend große ist. Organe von wesentlich gleichem Bau und gleicher Funktion sind auch gleich zu benennen. Das Gegenteil wäre „irreführend und verwirrend“.

In Bütschli’s Ausführungen kehrt schließlich auch ein Argu- ment wieder, dem ich bisweilen schon im mündlichen Gespräche mit Zoologen oder Tierphysiologen begegnet bin: die Aufnahms-

1) W. Pfeffer, Die Reizbarkeit der Pflanzen, Verhandlungen der Gesell- schaft deutscher Naturforscher und Arzte, Allg. Teil, 1893. S. 9 des Separatabdr.

Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. 451

organe der Pflanzen für äußere Reize können deshalb nicht als „Sinnesorgane“ bezeichnet werden, weil die Pflanzen kein Nerven- system besitzen. Hierbei wird aber eine physiologische Voraus- setzung mit einer histologischen verwechselt. Nicht im histo- logischen Sinne ist das Nervensystem der Tiere für die Funktion ihrer Sinnesorgane unentbehrlich, sondern im physiologischen. Die Reizleitung als solche ist das wesentliche, nicht aber, wie die reizleitenden Einrichtungen histologisch beschaffen sind. Reizleitende Strukturen kommen bekanntlich auch bei den Pflanzen vor; die Plasmaverbindungen oder „Plasmodesmen“ zwischen den einzelnen Zellen sınd schon oft genug mit tierischen Nervenfasern verglichen worden.

Solange man also die Aufnahmsorgane für äußere Reize in der Tierphysiologie als „Sinnesorgane“ bezeichnet, und nicht nur beim Menschen und den ihm nahestehenden Tierformen, sondern auch bei „niederen“ Tieren von Sinnesorganen spricht, solange wird man auch die prinzipiell gleich gebauten und gleich fungieren- den Organe der Pflanzen als Sinnesorgane bezeichnen müssen. Denn „die typische Verschiedenheit“ zwischen Pflanzen und Tieren, die Bütschli am Schluss seiner Ausführungen annımmt, ist auf dem Gebiete der allgemeinen Lebensvorgänge, insbesondere aber auf dem der Reizerscheinungen, nicht vorhanden. [54]

Einige neuere Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. Von Hermann Jordan, Zürich.

Mit den Vorbereitungen zur Veröffentlichung einer größeren Arbeit beschäftigt, die zum Teil auch auf dasjenige Gebiet sich erstrecken soll, welches die vergleichenden Psychologen ihr Eigen nennen, habe ich mich dem Problem der Berechtigung einer ver- gleichenden Psychologie zuwenden müssen. Es sind zwei Gründe, die mich veranlassen, das Folgende schon jetzt, d. i. geraume Zeit vor definitiver Publikation den Fachgenossen zu unterbreiten: 1. kann, nachdem einige Jahre lang ein erbitterter Streit um jenes Problem geführt worden- ist, ein „zusammenfassendes Referat“ ') nicht ganz unwillkommen sein; 2. hoffe ich einige Definitionen in Anwendung bringen zu können, die etwas schärfer sind, als die bisher üblichen. Um so mehr aber muss mir daran liegen, meine Ansichten öffentlicher Kritik zu unterbreiten, ehe ich ihnen defini- tive Form gebe.

459 Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere.

Im Jahre 1902 hat J. von Uexküll!) eine Untersuchung er- scheinen lassen, in der er die Frage, ob vergleichende Psychologie als Erfahrungswissenschaft möglich sei, aufs schärfste verneint. Psychische Vorgänge kennen wir überhaupt nur am Subjekt, an Objekten beobachten wir lediglich Bewegungserscheinungen. Be- wegungserscheinungen aber und psychische Vorgänge sind absolut inkommensurable Größen; nie gibt uns die genaueste Kenntnis physischer Vorgänge an einem Tiere, sei es an den Muskeln, sei es im Nervensystem, einen Anhaltspunkt zur Erkenntnis psychi- schen Geschehens. Mithin sind Erfahrungen über ein solches nicht zu erlangen, vergleichende Psychologie als Erfahrungswissenschaft

ist unmöglich. Hs sollte scheinen, dass diese edlen würde ihr Autor sie auch wesentlich weniger exakt und nicht mit Hilfe des erkenntnistheoretischen Apparates dargestellt haben einen

Einwand gar nicht zuließe; und doch zeigt die in der Folge ent- standene Literatur, dass v. Uexküll überzeugte Gegner gefunden hat. Wenn aber Naturforscher sich nicht abschrecken lassen, ihre exakte Methode an ein derartig gebrandmarktes Gebiet zu ver- schwenden, so muss hier, neben einer Art „metaphysischen Be- dürfnisses* noch ein anderes Moment zu suchen sein. Eine These, mag sie noch so genau bewiesen sein, findet, wie die Erfahrung lehrt, in der Regel ihre Gegner. Untersuchen wir jedoch objektiv die antagonistischen Argumente, so ergibt sich meist ein verschieden- artiger Gebrauch der Begriffe als Ursache der Kontroverse. Wir wollen hier nun versuchen, einige dieser einander widersprechen- den Anschauungen herauszugreifen, auf eine gemeinsame Basıs der Definition zu bringen, dann aber sehen, ob das wirre Gesamtbild vergleichend psychologischer Arbeiten, sich nicht zum mindesten einfacher darstellen lässt.

Uexküll sagt: Da über das Psychische am Objekte Erfah- rungen nicht zu sammeln sind, so ist vergleichende Psychologie als Erfahrungswissenschaft unmöglich. Wir haben in diesem Satze zwei Be zu definieren: „Erfahrungswissenschaft“ und „ver- he Psychologie“. Ich werde ım uanclen von dem Rechte (Gebrauch machen, innerhalb bescheidener Gen für meinen Zweck zu definieren, ein nn welches mich vorab lediglich zu Konse- quenz verpflichtet.

Erfahrungswissenschaft ist diejenige Disziplin, in welcher man durch Bohne von Erscheinungen Tatsachen sammelt, diese sodann durch Schlüsse zueinander in Beziehung bringt ?).

1) J. v. Uexküll. Im Kampf um die Tierseele. Wiesbaden, J. F. Berg- mann 1902 (S. A. aus Erg. Physiol. II. Herausg. von Asher und Spiro). Eine frühere Publikation: Biol. Oentralbl. Bd. 20, p. 497—502, 1900.

2) Dieser Satz steht natürlich in keinerlei Widerspruch zu dem Postulate: „Den Naturvorgang zu beschreiben,“ gibt vielmehr den Weg hierzu an.

Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. 453

Die Schlüsse, um die es sich handelt, sind vor allem Induktions- schlüsse, durch welche wir die Erscheinung mit einer bestimmten Ursache verknüpfen, und durch welche wir allein unsre Erfahrungen verallgemeinern können. Deduktionsschlüsse haben einmal nur für Einzelfälle Bedeutung und sind überhaupt erst möglich auf Grund voraufgegangener Induktionsschlüsse, da wir durch diese erst das Allgemeine erhalten, welches den Deduktionsschlüssen zur Voraus- setzung dient!). Dass Induktionsschlüsse Gewissheit, also Tat- sachen zu geben nicht im Stande sind, braucht hier nicht dargetan zu werden; was sie geben ıst „Wahrscheinlichkeit“. Das ist eine varıable Größe, die in Kurvenform dargestellt, sich assymptotisch dem Werte + Gewissheit nähert.

Kurz, Erfahrungswissenschaft verfügt über ein Tatsachenmaterial und über ein erschlossenes Material, welches wir den „Wahrschein- lichkeitsgehalt“ nennen wollen. Erfahrungstatsachen ohne Schlüsse obiger Art sind noch keine Wissenschaft, da wir für solche Tat- sachen gar kein anderes Mittel haben, sie miteinander ın Be- zıehung zu setzen, als eben diese Schlüsse. Schlüsse ohne Tat- sachen (ev. Axiome) aber sind undenkbar.

Was ist „vergleichende Psychologie?“ Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir vorab den Begriff „Psychologie“ schlechtweg definieren. Psychologie, als Erfahrungswissenschaft nur als solche hat sie für uns Bedeutung ist diejenige Disziplin, deren Objekte Bewusstseinsinhalte und Bewusstseinsvorgänge sind. Diese aber sind nur am Subjekt erkennbar: so kann denn die Psychologie ihren tatsächlichen Inhalt nur am Subjekte gewinnen. Von Bedeutung für unsere spätere Betrachtung ist hingegen folgen- des: Als einen Teil des „wahrscheinlichen“ Inhaltes der Psychologie dürften wir die per analogiam erschlossene Gleichheit der Erschei- nungen in Objekten ansehen, die dem Subjekte ähnlich sind, also den anderen Menschen. Ich sage, um einen Teil, denn es handelt sich m Wirklichkeit nur um einen nebensächlichen Teil: Psycho- logie ın ihrer Gesamtheit ist am Subjekte entstanden und braucht vorab nur für dieses zu gelten, da ein jeder jede einzelne Aussage an sich selbst, also am Subjekte nachprüfen kann. Was aber für uns vorab zu wissen wichtig, ist die Tatsache, dass Bewusstseins- inhalte und -vorgänge Gegenstand des tatsächlichen und wahr- scheinlichen Teiles der Psychologie sind.

Hiernach also wäre vergleichende Psychologie, also Psycho- logie der Tiere, die Wissenschaft, deren tatsächlicher und wahr- scheinlicher Inhalt als Gegenstand Bewusstseinsinhalte und -vorgänge besitzt. Das ist unmöglich. Soweit würde v. Uexküll mit abso- luter Sicherheit Recht haben, allein seme Wahrheit wäre vorab

1 ) Bezüglich der Induktionsschlüsse sei auf J. St. Mill verwiesen.

454 Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere.

eine rein formale. Es bleibt für unsere Untersuchung die Frage: Ist eine Wissenschaft denkbar, deren tatsächlicher Inhalt der ver- gleichenden Physiologie (hier: der Lehre von den objektiv wahr- nehmbaren Bewegungserscheinungen) event. auch der menschlichen Psychologie angehört, deren wahrscheinlicher Inhalt das psychische Geschehen der Tiere ist?!)

Dies sei an der Hand einiger Publikationen im folgenden untersucht. Die Frage, welche alle in Betracht kommenden Au- toren beschäftigt, und die sich mit unserer obigen Frage deckt, lautet: Ist, fußend auf das Tatsachenmaterial der vergleichenden Physiologie und der menschlichen Psychologie, ein Schluss auf das Vorhandensein von Bewusstsein und somit auf gewisse Kategorien von Bewusstseinsvorgängen, oder gar auf Bewusstseins- inhalte möglich? (Viele Autoren halten diese beide Fragen nicht genügend auseinander.)

I. Ansichten, die sich auf einen metaphysischen Seelenbegriff stützen.

Für den Naturforscher gibt es keine „rationale Psychologie“, daher denn auch eine naturwissenschaftliche Disziplin sich nicht auf einer bestimmten Vorstellung vom Wesen der „Seele“ auf- bauen darf. Denn ein logisches Gebäude, welches eine „Theorie“ ?) zur Grundlage hat, ist selbst eine Theorie; eine solche darf aber niemals zum positiven Teile einer Erfahrungswissenschaft ge- rechnet werden. Hier sind Theorien lediglich notdürftige Brücken um eine (vielleicht nur vorläufig) nicht ausfüllbare Lücke zu be- decken, und zwar dadurch, dass sie zeigt: es ist möglich, das Problem auf uns bekannte Erscheinungen zurückzuführen. Wo sich aber derartige offene Fragen dem Naturforscher schon zu Beginn seiner Untersuchungen stellen, da wird er will er Natur- forscher bleiben ihnen aus dem Wege zu gehen haben. Dies aber geschieht stets dadurch, dass man die (erfahrungs-) wissen- schaftliche Aussage so allgemein fasst, dass sie alle theoretischen Möglichkeiten einschließt, mit andern Worten von ihnen ganz und gar unabhängig ıst.

Da wir nun vergleichende Psychologie lediglich als Erfahrungs- wissenschaft betrachten wollen, so werden wir vorab zu zeigen haben, dass die metaphysische Beweisführung einiger Autoren für uns bedeutungslos ist. In einem zweiten Abschnitte werden wir dann den Teil ihrer Lehrgebäude auszugsweise betrachten, der auch unabhängig von jeder Metaphysik Geltung hat, zugleich mit den

1) Auf das Versehen v. Uexküll’s innerhalb einer Erfahrungswissenschaft nur „absolut Exaktes“ (sagen wir „Tatsachen“) gelten zu lassen, macht schon Forel aufmerksam.

2) Im Sinne der Naturforscher: unbewiesene oder gar unbeweisbare Hypothese.

Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. 455

Arbeiten solcher Autoren, die auf metaphysischen Sätzen gar nicht fußen.

Gegen die frühere Publikation v. Uexküll’s (Biol. Centralbl. Bd.20 p. 497) wendet sich Wasmann (ibid. Bd. 21 p. 23). Das Haupt- argument v. Uexküll war: zwischen physischem und psychischem Geschehen gibt es keinen Kausalzusammenhang. Hiergegen sagt W as- mann (p. 26f.): Wenn wir davon absehen, welche Art der Kausalıtät zwischen physischen und psychischen Erscheinungen besteht, so lehrt schon die physiologische Psychologie, dass eine solche vor- handen ist. Für Wasmann gilt der Satz als „bewiesen“, dass es objektiv physische und psychische Erscheinungen gibt, die durch ein Kausalgesetz sui generis als Glieder ein und derselben Kette miteinander verbunden sind.

Hiergegen ist vorab zu sagen, dass es für die vergleichende Psychologie nicht auf einen Kausalzusammenhang zwischen physi- schem und psychischem Geschehen an ein und demselben Subjekte ankommt, sondern vielmehr darauf, dass solche Kausalıtät auch generell sei, d. h. gleiche Ursachen, auch bei verschiedenen Indi- viduen gleiche Wirkungen habe. Solches zu beweisen aber ist die physiologische Psychologie nur teilweise imstande, nämlich für Bewusstseinsvorgänge und nur innerhalb der Spezies Homo. Auf die Bewusstseinsinhalte (-„Qualitäten“) vermag sich der Beweis als solcher nicht zu erstrecken, aus Gründen, die ja bekannt genug sind. Eine Ausdehnung unserer Schlüsse auf das Gesamtgebiet des Bewusstseins aber wäre erst dann zulässig, wenn der Satz, dass Bewusstseinsvorgänge objektiv reale und selbständige Glieder in einer Kausalkette sind, tatsächlich bewiesen wäre; dann nämlich würden Bewusstseinsvorgänge (und -inhalte), letztere als objektiv reale Bestandteile der Vorgänge, nicht nur durch gleiche Ursachen bedingt sein, sondern auch gleichen Wirkungen gegenüber (den Handlungen) als Ursache auftreten. Allein, die objektive Realıtät unserer Bewusstseinsvorgänge und -inhalte, so also, wie sie dem Subjekte erscheinen, ist nicht die einzige Möglichkeit: Weder den psychophysischen Parallelismus, noch die Identitätslehre kann Wasmann durch Beweise als Möglichkeiten ausschließen. Nach diesen aber würde generelle, d. i. für ein jedes Individuum in gleicher Weise gültige Kausalität, nur den physischen Phänomenen zukommen, die denn auch in sich geschlossene Kausalketten dar- stellen würden. Der Zusammenhang zwischen diesen und deren subjektiven Erscheinungsformen, bezw. deren Parallelprozessen, würde auch ein kausaler sein, ohne uns jedoch das Recht zur Annahme zu geben, dass dieser Zusammenhang für verschiedene Individuen im oben dargetanen Sinne der nämliche sei.

Hätte v. Uexküll gesagt: zwischen physischem und psychischem Geschehen lässt sich eine allgemeingültige Gesetzmäßigkeit

456 Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere.

nicht nachweisen, dann konnte ıhm der Naturforscher Was- mann jede theoretische Möglichkeit, als solche anerkennend, nicht widersprechen. Ich hoffe, nicht missverstanden zu werden: den Metaphysiker Wasmann betrifft diese Kritik nicht, weil wir mit ihm uns gar nicht zu beschäftigen haben.

Ich muss mit wenigen Worten dem Einwande begegnen, Wasmann habe in seiner Erwiderung an Forel!) die Identitäts- lehre widerlegt. Ich begnüge mich im folgenden wiederum mit einer Stichprobe, da wir denjenigen Versuch als Beispiel wählen wollen, den Wasmann anstellt, um die Unmöglichkeit der Iden- titätslehre zu beweisen. In den übrigen Teilen seiner Untersuchung benützt Wasmann von den beiden Möglichkeiten: „Psychisches Geschehen ist ein Geschehen sui generis“, und „Psychisches Ge- schehen wird subjektiv als Geschehen sui generis erkannt“ nur die erstere, wodurch eben diese Teile, als naturwissenschaftlich nicht brauchbar, aus dem Kreise unserer Betrachtungen ausscheiden.

Der Monist, sagt also Wasmann, der wie Forel die Existenzberechtigung der vergleichenden Psychologie verteidigen will, widerspricht sich selbst, denn für ıhn bleibt für den rein psychischen Vorgang „gar kein objektiver Gehalt übrig, also nur eine rein subjektive Illusion“.

Hiergegen ist zu sagen: 1. Wenn sich dergestalt dıe Möglich- keit beweisen ließe, dass (menschliche) Psychologie als Erfahrungs- wissenschaft unzulässig sei, so würde diese Disziplin, als nicht auf erwiesenermaßen festem Boden stehend, den Erfahrungswissen- schaften nicht mehr angehören. Allen, der Satz enthält keinen Beweis. Warum muss eine subjektive Erscheinungsform Illusion sein, unwürdig wissenschaftlicher Behandlung? Wenn man den transzendentalen Beweis überhaupt benutzt, soll man ıhn auch konsequent benutzen. Solange man nicht beweisen kann, dass die Resultate der Erkenntniskritik, die sich vor allem auf Kant, und wir dürfen wohl sagen auch auf Johannes Müller stützen, falsch sind, muss man sich bewusst bleiben, dass auch die Gegen- stände der Biologie nicht „objektiv real“ sind, sondern dass wir im ganzen nur mit mathematischen Funktionen unbekannter „Realitäten“ arbeiten. Was also im vorliegenden Falle die Autoren „objektiv“ und „subjektiv“ nennen, sind zwei mathematische Funk- tionen der gleichen Unbekannten ?); die eine derselben ist allgemein erkennbar, die andere nur dem Subjekte (die transzendentale De- duktion des Begriffs „erkennen“ voraussetzend). Beide Funktionen zeigen bestimmte Gesetzmäßigkeit, lassen also eine wissenschaft-

1) Biol. Centralbl. Bd. 23, 1903, p. 545. 2) Dieser Satz hat naturwissenschaftliche Gültigkeit, da er alle Möglichkeiten als solche zulässt. Fx=X und F,x=F,x (Wasmann) und deren Gegensätze,

Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. 457

liche Erforschung zu (vorab: Gehirnphysiologie und menschliche Psychologie).

Genug, Beweise, die jede weitere Möglichkeit ausschließen, die wır also innerhalb einer Erfahrungswissenschaft als solche an- erkennen können, vermag Wasmann gegen die Identitätslehre nicht zu erbringen. Gegen die Lehre vom psychophysischen Parallelismus aber wendet er sich nicht.

Auf die Arbeiten zweier weiterer Autoren, die ein meta- physisches Theorem an die Spitze ihrer Auseinandersetzungen stellen, sei mir gestattet einzugehen. Forel!) vertritt als Monist die Identitätslehre und sucht diese den andern Anschauungen gegenüber zu beweisen. Ich kann mich nur kurz auf die ent- sprechenden Ausführungen einlassen (S.A. des Vortrags p. 6) und verweise im übrigen auf denjenigen Teil der Wasmann’schen Ausführungen (l. c.), die dartun, dass Forel ein solcher Beweis nicht gelungen ist. Der dualistische Standpunkt Wasmann’s sagt Forel muss die Existenz einer Seele annehmen, für die das Substanzgesetz nicht gilt.

„Ist sie energielos gedacht (Wasmann), d. h. vom Energie- gesetz unabhängig, so sind wir bereits beim Wunderglauben an- gelangt, der die Naturgesetze nach Belieben aufhebt und stören lässt...“ Das ıst natürlich nur die Begründung eines Stand- punktes, kein Beweis. Ein Induktionsschluss der Art: „Überall in der Natur begegnen wir dem Substanzgesetz, also müssen wir dieses auch bezüglich des psychischen Geschehens voraussetzen“, kann darum nicht zwingend sein, weil wir in der übrigen Natur ein Analogon zu psychischem Geschehen (innerhalb des Subjektes) gar nicht kennen.

Zur vergleichenden Psychologie stellt sich Forel soweit „Theorien“ in Betracht kommen ähnlich wie der Parallelıst

Claparede?) der etwa folgendes ausführt: Ich kümmere mich nicht um die psychische Parallelkette (Forel: um die subjektive Erscheinungsform 1. ec. p. 4 Abs. 2) weder beim Menschen (als Objekt), noch bei Tieren, sondern nur um die physische Kausal- kette. (Neurokym = Forel). Da nun aber gewisse Handlungen der Tiere nur mit psychologischer Ausdrucksweise darstellbar sind, so bin ich gezwungen, die auf sie sich beziehende Forschungsart „Psychologie“ zu nennen. Beide Auffassungen würden einer Real-

1) A. Forel, 1902. Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen und einiger anderer Insekten. Verh. 5, intern. Zool.-Kongr. Berlin 1901. S.A. Ahnliches: München, Reinhard 1901—1902. Die Berechtigung der vergl. Psychologie und ihre Objekte. Journ. f. Psychol ete.

2) E. Clapar£de, 1903. Les principes de la psychologie animale. Ann. Psychol. Ann. 9, p. 483-494. 1901. Les animaux sont-ils conscients? Rev. philos. T. 61 und Genf, Eggimann,

458 Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere.

kritik wohl standhalten, wenn ihre Autoren ihren rational-psycho- logischen Standpunkt als Tatsache beweisen könnten: das dürfte wenigstens vorderhand nicht möglich sein. Es ist nicht nötig, in diesem Abschnitte auf diese beiden Autoren einzugehen. Ich werde in dem nun folgenden zeigen, dass die eigentlich natur- wissenschaftliche Lehre der drei Forscher, die uns bislang ein- gehender beschäftigten, wesentlich unabhängiger von ihrer meta- physischen Prämisse sind, als man dies auf den ersten Blick wähnen sollte.

Überblicken wir kurz das Gesagte: wir haben bei einigen Autoren die metaphysischen Theoreme, welche jene an die Spitze ihres Lehrgebäudes stellen, als solche charakterisiert, und gezeigt, dass wir innerhalb einer Erfahrungswissenschaft keinen der dar- gebotenen Beweise gelten lassen dürfen, dass also alles dasjenige, was auf diesen Anschauungen sich aufbaut, und unabhängig hiervon nicht möglich ist, aus dem Bereiche unserer Betrach- tung auszuscheiden habe.

ll. Die Versuche, die Möglichkeit einer vergleichenden Psychologie auf rein naturwissenschaftlichem Wege zu beweisen.

Wir fragen uns also jetzt: gibt es eine Wissenschaft, die un- abhängig von „Theorien“ d. h. auf realem Boden stehend, über ein Tatsachen- und „Wahrscheimlichkeits“-Material verfügt, von dem das letztere zum mindesten das Bewusstsein der Tiere oder dessen Inhalt zum Gegenstande hat?

Ich will mich vorab, um nicht unübersichtlich zu werden, im wesentlichen an einen einzigen Autor halten, der zwar selbst kein Experimentator ıst, dafür aber die Resultate anderer Autoren zu Deduktionen benutzt, deren Objektivität und klare Darstellung her- vorgehoben zu werden verdient, ich meine Fr. Lukas!): Wie schon erwähnt, wollen wir hierbei auch die Arbeiten anderer Autoren ein- flechtend berücksichtigen, vor allem aber auch auf diejenigen zurückkommen, die uns schon beschäftigt haben. An einem Schema soll sich zeigen, wie tatsächlich im einer Frage die in Betracht kommenden Autoren emig sind. Die Frage lautet: Ist Bewusst- sein als solches bei Tieren erkennbar?

Der Weg zur Beantwortung dieser Frage ist folgender: Man beobachtet die Handlungen (d. h. die Bewegungserscheinungen) der Tiere, scheidet diejenigen aus, die sich rein mechanisch er- klären lassen, dann werden bei einigen Tierformen Handlungen residuieren, die eine solche Erklärung nicht zulassen, bei denen sich ein fester Kausalnexus zwischen unmittelbar vorliegen-

l) Franz Lukas. Psychologie der niedersten Tiere. Wien und Leipzig, W. Braumüller, 1905, 8°, 276 8.

Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie‘‘ wirbelloser Tiere. 459

den Ursachen und den Wirkungen (das sind die „Handlungen‘“) nicht nachweisen lässt. Solche Handlungen aber besitzen ein Analogon in gewissen Handlungen des Subjektes, und werden bei diesem (so lehrt die subjektive Erfahrung) durch Bewusstseins- vorgänge bedingt. Wir haben also gleiche Wirkungen unter gleichen oder doch sehr ähnlichen äußeren Bedingungen auf ähn- lichem Substrate. Dürfen wır per analogiam beim Tiere auf Vor- gänge von gleicher Dignität wie unsere Bewusstseinsvorgänge schließen ?

Wir fanden ım verallgemeinernden Induktionsschlusse die vornehmste Methode zur Gewinnung des „Wahrscheinlichkeits- materials“. Dieser Schluss lehrt uns, dass mit großer Wahr- scheinlichkeit diese Wirkung, die bei einem bestimmten Individuum eine bestimmte Ursache hat, unter gleichen Bedingungen bei einem beliebigen anderen Individuum der gleichen Art von der näm- lichen Ursache herrührt. Von dieser Form des Induktionsschlusses lässt sich der Analogieschluss aber gar nicht scharf scheiden! Setzen wir in obigen Satz statt „gleiche Art“ „ähnliche“ Art, so ist die Definition des Begriffes „Analogieschluss“ gegeben. „Gleich“ ist die Übereinstimmung aller, „ähnlich“ nur eines Teils der Merk- male. Nun überlege man, wann in einer Erfahrungswissenschatt, vor allem in der Biologie, bei solchem Schlusse Objekte mit Über- einstimmung aller Teile in Betracht kommen? Sensu stricto nie- mals. Genug, den Analogieschluss abzulehnen, den Induktions- schluss aber gelten zu lassen ist ein Unding. Und was bleibt uns bezüglich des letzteren anders übrig? Freilich dürfen wir auch hier nicht vergessen: die durch alle jene Schlüsse erzielte Wahr- scheinlichkeit ıst keine konstante Größe: mit abnehmender Zahl gleicher Merkmale nimmt die Ordinate der Wahrscheinlichkeits- kurve ab, um sich schließlich dem Werte „— Gewissheit“ assymp- totisch zu nähern.

Was aber erschließen wir mit diesem Verfahren? Vorab nur das Vorhandensein von Vorgängen, die den am Subjekte als „Be- wusstsein“ erkannten ebenbürtig sind, und damit natürlich auch die Fundamentalkategorien dieser Vorgänge, wie Empfinden, Vorstellen schlechtweg ete.; nicht mehr. Die Bewusstseinsinhalte müssen vorab eine Frage für sich bleiben, auf die wir später zurückkommen werden.

Reduzieren wir nunmehr die Ansichten von Wasmann, Forel und Olaparede (und natürlich auch von anderen) auf unsere breitere naturwissenschaftliche Basıs, so ergibt sich bezüglich des Vorstehenden vollkommene Übereinstimmung. Denn ich glaube weder Forel noch Glaparede falsch zu verstehen, wenn ıch an- nehme, dass es auch ihnen darauf ankommt, ım Nachweis von Neurokym- oder physischen Parallelvorgängen einen Anhaltspunkt

460 Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere.

dafür zu gewinnen, dass hier dem Bewusstsein ebenbürtige Vor- gänge stattfinden. Solange aber Wasmann von jeder Meta- physik abstrahiert, wird auch er mehr nicht für bewiesen halten können. Ich sehe ganz davon ab, dass solange wir Bewusst- seinsinhalte ausdrücklich aus dem Kreise unserer Betrachtung fernhalten, die Frage, ob es objektives Bewusstsein, oder aber lediglich objektive Korrelate eines solchen gibt, ganz wesenlos ist.

Wenden wir uns nun, wie gesagt, zu den Ausführungen von Lukas (l. e.). Von der Zulässigkeit des Analogieschlusses ausgehend, untersucht dieser Autor vorab die Kriterien, die einem solchen zur Grundlage dienen könnten, und stellt drei Gruppen solcher Kriterien auf:

1. Morphologische Kriterien: Solche sind als möglich denkbar, z. B. könnte man von großer Entwickelung des Zentral- nervensystems auf Vorhandensein von Bewusstsein schließen; allein ein solcher Schluss wäre gar zu unzuverlässig, da auch ein kompli- zierterer, aber doch rein mechanischer Reflexmechanismus solch größeres System voraussetzen müsste. Wertvoller sind die Daten, welche der Bau von Sinnesorganen uns an die Hand gibt (Ss. u.).

2. Physiologische Kriterien: Wenn wir die Bewegungen der Tiere studieren, um diejenigen kennen zu lernen, die wir nach Analogie mit dem Menschen „bewusst“ nennen müssen, so wird es sich vor allem darum handeln, mit aller Schärfe festzustellen, welche von unseren Handlungen als „bewusst“ d.h. als durch Bewusst- seinsvorgänge bedingt (nicht nur von solchen begleitet) anzu- sehen sind. Also, mit anderen Worten, wir bedürfen einer genauen Definition der einzelnen menschlichen Handlungsarten. Wir unter- scheiden:

I. Willkürliche Bewegungen: Diesen geht „Absicht“ und Vorstellung der Bewegung voraus. Ihr Ablauf erfolgt nicht immer ın der gleichen Weise, auch sind sie individuell zweckmäßig, d.h. sie passen sich der gerade vorliegenden Notwendigkeit an.

II. Unwillkürliche Bewegungen. a) Als unwillkürliche Bewegungen mit psychischer Veranlassung sind beim Menschen die Ausdrucksbewegungen zu nennen. Während nun diese Bewegungen beim Tiere ihren Zweck haben (so z. B. das Zeigen der Zähne in der Wut als Angriffsstellung), ist beim Menschen dieser Zweck verloren gegangen, die Bewegung aber ist als Ausdruck des Affektes geblieben. Um also eine Bewegung als Ausdrucksbewegung zu erklären, „müssen wir vorher schon das Vorhandensein von Bewusstseimserscheinungen eben als Ursache dieser Bewegungen erkannt haben“. Mir scheint aus dieser Argu- mentation vor allem hervorzugehen, dass eine Bewegung, die unseren „Ausdrucksbewegungen“ äußerlich zu analogisieren ist, uns bei einem Tiere nie das Recht gibt, zu sagen, es sei tatsächlich eine Aus-

Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. 461

drucksbewegung; solange wir eben diese Bewegungen auf Grund objektiver Kriterien nicht scharf von der folgenden Gruppe ab- grenzen können.

b) Unwillkürliche Bewegungen mit physischer Ver- anlassung. Hier haben wir wieder zu unterscheiden, ob die Ver- anlassung eine äußere (Reflex), oder aber eine innere seı. Im letzteren Falle unterscheiden wir automatische Bewegungen, wenn sie kontinuierlich, und Impulsivbewegungen, wenn sie akzidentell auftreten. Alle diese Bewegungen zeigen einen gleichförmigen Ablauf und sind ausschließlich „generell zweckmäßig“, d. h. einem gewissen Durchschnitte möglicher äußerer Bedingungen angepasst. Zu den Reflexen sind noch die Mitbewegungen als Bestandteile jener zu rechnen, die gar nicht zweckmäßig, aber gleichförmig ın ihrem Ablaufe sind.

Schwierig zu beurteilen sind die komplizierten Reflexe als Reaktionen auf Reizkomplexe, und gar die Antwortbewegungen (beim Menschen z. B. mechanisches Lesen), als komplizierte Reak- tionen auf mehr oder weniger einfache Reize. Aber auch alle diese Bewegungen können beim Menschen unterhalb der Schwelle des Bewusstseins verlaufen, werden uns also niemals ein Kriterium für das Vorhandensein von Bewusstsein an die Hand geben können, um so weniger, als diese Antwortbewegungen zwar ontogenetisch aus Bewusstseinshandlungen entstehen, phylogenetisch aber echten Reflexen ihren Ursprung verdanken (e. g. Ausweichmechanismen).

Was bleibt hier als wahres Kriterium für das Bewusstsein? Wechselnder Ablauf? Dieser charakterisiert die Willkürbewegungen, aber auch manche unwillkürliche, wie Impulsivbewegungen, kom- plizierte Reflexe, manche automatische und Antwortbewegungen. Es bleibt als einziges Kriterium übrig: die individuelle Zweck- mäßigkeit, die ausschließlich Willkürhandlungen zu- kommt. Freilich dürfen wir nicht vergessen, dass „individuelle Zweckmäßigkeit“ nicht immer als solche zu erkennen ist (Antwort- bewegungen können sie leicht vortäuschen); dass ferner der Ana- logieschluss nur Anspruch auf Wahrscheinlichkeit erheben kann und drittens, dass wir eigentlich kein Kriterium besitzen, welches Be- wusstsein mit Bestimmtheit ausschließt.

3. Teleologische Kriterien: Bei uns tritt Bewusstsein auf, wenn es notwendig ist; z. B. verlaufen die Prozesse an der glatten Muskulatur solange unter der Schwelle des Bewusstseins, bis sie pathologisch werden: dann erst wird die Schwelle überschritten, Bewusstseinshandlungen können dem erkrankten Organe zu Hilfe kommen. Wenn also sagt Lukas sich die besondere Nützlich- keit des Bewusstseins für eine Tierform ergibt, so haben wir das Recht, mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass dem Tiere auch Bewusstsein zukomme. Als Spezialfall hiervon ist das Ver-

469 Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere.

halten aufzufassen, wenn Tiere befähigt sind, auf geringe äußere Ursachen hin sehr ausgiebig zu reagieren: dann werden wir findet sich keine andere physische Veranlassung zu jenem Miss- verhältnis zwischen äußerer Ursache und Wirkung überlegen müssen, „ob sich die fraglichen Erscheinungen durch die Annahme von Bewusstsein nicht einfacher erklären lassen, als durch die An- nahme physischer Ursachen, die nicht beobachtet werden können“ (ser pe2l).

Wir wollen den Versuch machen, diese Argumente etwas schärfer zu analysieren. 1. Die morphologischen Argumente, soweit sie sich auf das Zentralorgan beziehen, werden vom Verfasser selbst derartig gering eingeschätzt, dass wir sie übergehen dürfen. Hin- gegen wird -— so lehrt vor allem der spezielle Teil der Arbeit ziemlich großes Gewicht auf den Bau der Sinnesorgane gelegt. L. e. p. 237 finden wir folgende Argumentation: „Während also die einfacher gebauten Augen bei dem Mangel eines lichtbrechen- den, bilderzeugenden Apparates nur zur Aufnahme von Intensitäts- und höchstens noch Qualitätsunterschieden des Lichtes dienen können, ıst das Auge der Alciopiden und Torreiden, vermöge seines Baues auch zur Erzeugung von Bildern auf der Netz- haut geeignet und ein Analogieschluss von dem Bau des Auges auf das Vorhandensein von Gesichtserscheinungen derselben Art, wie bei uns, wäre also gestattet...“. Im folgenden wird aus- drücklich gesagt, dass „bewusste Gesichtsempfindungen“ gemeint sind.

Ich bin absichtlich auf die Analyse von Analogieschlüssen von der Ursache auf die mittelbare Wirkung (eine solche liegt hier vor), nicht eingegangen, weil sie für unsere Betrachtungen von sehr geringer Bedeutung zu sein scheinen. Jedenfalls bieten bei einem komplizierten Reaktionsmechanismus Schlüsse von der äußeren Ursache auf die mittelbare innere Wirkung nicht mehr Wahrscheinlichkeit, als diejenigen von der äußeren Wirkung auf die innere Ursache: Die Zahl der Möglichkeitskategorien ist die nämliche. Nun haben wir bis jetzt vom Analogieschluss und dessen Wahrscheinlichkeitsbeweis gesprochen, ohne uns Klarheit zu verschaffen, welcher Grad von Wahrscheinlichkeit noch inner- halb eines Beweises zulässig ist. Hier sei folgendes festgestellt: Gelingt es uns nicht bei Vorhandensein einer größeren Zahl von Möglichkeiten durch Schlüsse, die Wahrscheinlichkeit für eine einzige dieser Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen, so ist der Versuch eines Beweises als gescheitert zu betrachten. Denn be- weisen, heißt eben andere Möglichkeiten (ev. mit Wahrscheinlich- keit) ausschließen. Mit anderen Worten, sobald die Wahrschein- lichkeit !/, beträgt (an unserer Kurve der Punkt, an der sie sich dem Werte „— Gewissheit“ zuzukehren beginnt) wird sie für uns

Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. 463

belanglos. Was lehrt das Vorstehende für die Beurteilung des Wurmauges? Ist hier eine andere Wirkung d. h. ein anderer Zweck der Bilderzeugung mit gleicher Wahrscheinlichkeit anzu- nehmen, als die der Erzeugung von Empfindung? Ich glaube ja: Dass komplizierte Reflexe durch komplizierte Reize verursacht werden, hörten wir schon. Als solche komplizierte Reize sind nun auch die Erregung bestimmter Gruppen von Nervenfasern (des Optikus) anzusehen: Mit anderen Worten, eine, wenn auch primitive Bilderzeugung. Dies lässt sich beweisen: Ein mit optischem Apparat versehenes (Bilder-)Auge hat Haberlandt be- kanntlich bei einer Pflanze: Fittonia Verschaffelti nachgewiesen. Hier bedingt Reizung einer bestimmten Stelle der „Retina“, ihrer- seits bedingt durch den optischen Apparat, einen sagen wir Tropismus. Anschauung (und nur Anschauungen stehen ın Be- zıehung zum „Bilderauge“) sind als Bewusstseinsvorgänge mit Wahrscheinlichkeit hier auszuschließen, da die Pflanze komplizierterer Bewegungen, zu denen Bewusstseinsvorgänge als Ursache anzu- nehmen möglich wäre, gar nicht fähig ist. Mithin ist hier ein zweiter, dem ersten gleichwertiger Analogieschluss möglich, der Beweis von Lukas aber abzulehnen').

2. Wenden wir uns nunmehr zunächst der dritten Gruppe von Kriterien zu, den teleologischen. Wenn dem höchsten Tiere Bewusstseinsvorgänge zur Verfügung stehen, sobald es ihrer bedarf, so ıst damit noch gar nicht gesagt, dass dies für niedere Tiere die geringste Bedeutung habe; dann nämlich nicht, wenn Bewusst- sein eine phylogenetische Akquisition und nichts Primäres_ ist: Das Gegenteil dieser Annahme würde sich aber naturwissenschaft- lich nicht beweisen lassen. Die vergleichende Physiologie lehrt, dass Funktionsentwickelung, d. h. Anpassung des Organismus an neue Notwendigkeiten anfänglich stets unter Beibehaltung und Veränderung älterer Vorrichtungen erreicht wird (Anpassungs- material). Als Beispiel mag die Verdauung bei den höheren Cölen- teraten dienen: Der alte Modus ist Phagozytose, die neue Not- wendigkeit aber Aufnahme großer Nahrungskörper. Der rein spekulative Forscher wird schnell bereit sein, zu sagen: wie in unserem Darme, so wird bei den Cölenteraten zu dem dargetanen Zwecke Saft ins Lumen ausgeschieden, das Lösungsprodukt aber resorbiert. Tatsächlich aber ist das falsch: Die Cölenteraten haben noch durchaus keine Darmzellen unserer Art akquiriert, sondern sie helfen sich noch wenn ich so sagen darf mit Phago- zytose, bieten uns aber eine erstaunliche Mannigfaltigkeit der An- passung dieses Verdauungsmodus an die Ernährung. Kurz: Die teleologische Methode, so berechtigt sie bei Organismen d. h. An-

1) Ahnliches ließe sich gegen Wasmann’s Argument der Mimikry von Ameisengästen ausführen, auch eine solche bedingt vorab nur Reizkomplexe.

464 Schillings, Mit Blitzlicht und Büchse.

passungsprodukten ist, gibt wahrscheinlichen Aufschluss nur für die Wirkung, niemals für die Ursache.

Was die quantitativen Unterschiede zwischen äußerem Reiz und Reaktion betrifft, die, wie wir hören, nach Lukas auch als Kriterium für Bewusstsein anzuerkennen sind (unter Berufung auf J. S. Mill’s Methode der Rückstände), so ist gar nicht einzusehen, warum bei einem Energie produzierenden Organismus gerade Be- wusstsein als Relais anzunehmen ist. Lukas sagt p. 252: „Und endlich spricht auch der Umstand, dass viele Würmer schon aus weiter Entfernung ihre Nahrung wittern, für das Vorhandensein von Geruchsempfindungen“, während auf kurze Entfernungen (hei

tiefer stehenden Tieren) schon der Reiz hinreicht. Es ist mir unverständlich, was der Begriff Bewusstsein in diesem, wie mir scheimt, rein energetischem Prozess zu tun hat. (Schluss folgt.)

C. G. Schillings. Mit Blitzlicht und Büchse.

Neue Beobachtungen und Erlebnisse in der Wildnis inmitten der Tierwelt von Aquatorial-Ostafrika.

Mit 302 urkundtreu in Autotypie wiedergegebenen photographischen Original-Tag- u. Nacht-Aufnahmen des Verf. Gr. 8. XVI u. 558 S. u. einem Bildnis des Verf. Leipzig, R. Voigtländers Verlag.

Der lange Titel des vorliegenden Buchs zeigt schon an, was es bringt. Nicht gelehrte Auseinandersetzungen eines Zoologen von Fach, aber lebhafte Schilderungen eines begeisterten Tierfreundes und leidenschaftlichen Jägers, der seinen Ruhm nicht darin sucht, möglichst viele „Bestien zur Strecke zu bringen“, sondern nur so viele zu töten, als zur Bereicherung unserer Museen unbedingt er- forderlich ist, im übrigen aber darauf ausgeht, unsere Kenntnis von den Tieren durch naturgetreue Aufnahmen und durch Beschreibung ihrer Lebensweise an ihren natürlichen Wohnplätzen zu vermehren. Ein nicht geringer, vielleicht der Hauptwert des Buches liegt in den wohlgelungenen, ohne alle Retouche wiedergegebenen photogra- phischen Aufnahmen. Doch wird man auch die mit Begeisterung geschriebenen Schilderungen mit Vergnügen lesen und in des Ver- fassers Klagen über die drohende oder fast schon ganz eingetretene Vernichtung vieler Tiere einstimmen. Beigegeben sind, außer einer kurzen Einleitung des Herrn Heck, Angaben über die von Herrn S. gesammelten Säugetiere (115 Arten) und Vögel (355 Arten); erstere stammen aus der Feder des Herrn Matschie, letztere sind von Herrn Reichenow verfasst. Unter jenen Arten sind vier Säugetiere und fünf Vögel neuendeckte Spezies, während zahlreiche Arten für das bereiste Gebiet neu nachgewiesen sind. Die Durcharbeitung des von Herrn S. gesammelten Materials, welches er den Museen von Berlin, Stuttgart, München, Karlsruhe, Wien u. a. überwiesen hat, wird gewiss noch viel zur Erweiterung unserer Kenntnisse von der ans Ostafrıkas beitragen. P.

V erlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

iologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

XXYV.Ba. 15. Juli 1905. NM 14.

Inhalt: Schultz, Über Verjüngung. Jordan, Einige neuere Arbeiten auf dem Gebiete der

„Psychologie“ wirbelloser Tiere (Schluss). Mareus, Ein Rachiskern bei Ascariden. Retzius, Zur Kenntnis der Entwickelung der Körperformen des Menschen während der fötalen Lebensstufen. Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube? Zacharias, Forschungsberichte aus der Biologischen Station zu Plön. Berichtigung.

Über Verjüngung. Von Eugen Schultz (St. Petersburg).

Ein Artikel von Bühler: „Alter und Tod“ in dieser Zeitschrift, dazu die spannenden Untersuchungen R. Hertwig’s über Actino- sphaerium, mögen als nächste Beweggründe genannt werden, wes- wegen ich hier einige Ansichten über Verjüngung ausspreche, zu denen ich durch Studium der Regeneration und Reduktion gekommen bin. Es wird vielleicht dadurch die Aufmerksamkeit der For- scher auf einige Punkte dieser Frage gelenkt, die unbeachtet ge- blieben sind.

Nachdem ich bei einer Reihe von Formen versucht habe, zu prüfen, ob die Regenerationsfähigkeit nur auf überall im Organismus verstreuten Reservezellen beruht, oder ob schon differenzierte Zellen die Fähigkeit haben, sich zu dedifferenzieren embryonal zu werden, um durch neue Differenzierung Neues und oft Verschiedenes zu bilden, entschloss ich mich für die letztere Ansicht. Ich sah am Atrium genitale hungernder Planarien nicht nur das ganze Organ als solches seine Entwickelung zurück zum Ausgangspunkte zur Anlage nehmen, sondern ich sah auch die schon differenzierten Epithelzellen dieses Organes, welche keine undifferenzierten Zellen

XXV.- 30

466 Schultz, Über Verjüngune.

aufweisen, ihren Zusammenhang untereinander lösen, sich abrunden und den Charakter embryonaler Zellen annehmen. Auch Ribbert sah ein Embryonalwerden transplantierter Zellen, ähnliches be- hauptet für Geschwülste Hansemann. Nach alle dem war es für mich nicht mehr zweifelhaft, dass die Fähigkeit der Verjüngung wirklich der lebenden Materie eigen ist. Doch sollte man auch diesen Beobachtungen misstrauen denn es wäre ja immerhin möglıch, dass Reservezellen für ein Organ, wıe das Atrium genitale, ım benachbarten Parenchym lagern, von dort in das Atrıum drängen, sich an dıe Wände desselben legen und so eine Verjüngung vor- täuschen so sprechen doch für die Verjüngungsfähigkeit der Zellen Beobachtungen an Einzelligen. Viele Protozoen, besonders Süß- wasserformen, bilden ın ungünstigen Lebensbedingungen Oysten; so viele Ciliaten, Suctorien, Flagellaten, Sporozoen. Während der Eneystierung bilden sich die meisten Organellen zurück, entdiffe- renzieren sich, so die Pseudopodien, Geißeln, Cilien, der Kragen der Flagellaten, das Cytostom, der Oytopharynx, das Cytopyge, oft die ganze Alveolarschicht. In günstigen Bedingungen wird die Uyste gesprengt und die entdifferenzierten, verjüngten Zellen bilden ihre Organellen wieder neu, ohne dass eine Teilung oder eine Kopu- latıion vorausgegangen wäre. Von Verjüngung sprach in ähnlichen Fällen schon Alexander Braun und definierte sie als ein „Zu- rückgehen auf einen früheren Lebenszustand“, auch Goette be- diente sich dieses Begriffes in ausgiebiger Weise. Weismann dagegen will sich mit dem Begriffe nicht befreunden und ist nicht geneigt, die Encystierung als einen Verjüngungsprozess aufzufassen. „Was kann denn hier überhaupt verjüngt werden? Die Substanz des Tieres nicht, denn zu dieser kommt nichts hinzy, und folglich kann auch neue Kraft nicht hinzukommen ... Ganz etwas anderes ist es mit der Konjugation ... ..“ Aber Verjüngung ist Aufgeben, nicht Erwerb; ein Fallenlassen aller Spezialisierung, alles Starren und Vergrößerung der Möglichkeiten differenter Entwickelung. Als ein Verlust und ein Absterben, nicht als Erwerb erscheint die Verjüngung auch nach den Beobachtungen R. Hertwig’s an Aectino- sphaerium. Noch etwas könnte man gegen den Begriff der Ver- Jüngung bei Einzelligen einwenden, nämlich, dass hier kein „Zurück- gehen auf einen früheren Lebenszustand“ nachweisbar ıst, da die meisten Protozoen sich durch Teilung vermehren und so keine ontogenetische Entwickelung durchmachen. Mir scheint es, dass man bei den Protozoen aber gerade die ontogenetische Entwicke- lung bei der Encystierung beobachten kann, nur dass hier die Ent- wickelung ohne Vermehrung und ‘die Vermehrung ohne Entwicke- lung möglich ıst. Wie dem auch sei, eine Entdifferenzierung und neue Differenzierung geht jedenfalls bei der Bildung von Dauer- cysten vor sich, und das ıst alles, was wir zu wissen brauchen.

Schultz, Über Verjün gung. 467

Die Entdifferenzierung geht bei Planaria lactea, wenigstens was die Kopulationsorgane betrifft, dieselben Stadien zurück, welche die Entwickelung vorher durchmachte. Ob das immer so ist, ist schwer zu bestimmen. Oft sehen wir nur ein Abwerfen früherer Ausscheidungen so bei den Zellen, die bei Regeneration von Palychaeten das Bauchmark liefern sollen. Sie lösen sich von ihren ziemlich dicken Zellhäuten und verlassen dieselben. Viele Teile, wie Wimpern oder vielleicht auch Plasmaverzweigungen werden von der sich entdifferenzierenden Zelle eingezogen.

Welches sind nun die Ursachen der Entdifferenzierung? Proto- zoen werden zur Entdifferenzierung durch verschiedene Umstände geführt, so durch Verderben des Wassers, Winterschlaf, Hunger, Überfütterung ete. Verschiedene schädliche Einflüsse rufen immer dieselbe Erscheinung des Embryonalwerdens hervor. Doch ist es bei Protozoen nicht auf den ersten Blick verständlich, was sie beı rückläufiger Entwickelung gewinnen. Die Encystierung sollte ge- nügen, ihnen über ungünstige Zeiten hinauszuhelfen ; warum dennoch die Organe rückgebildet werden, darin liegt die Frage über das Wesen der Verjüngung verborgen. Bei Metazoen wird eine Ent- differenzierung der Zellen im Falle von Regeneration beobachtet. Hier ist sie verständlich, weil, um Neues und oft gar Verschiedenes zu bilden, die Zelle auf embryonalere Stufen zurückkehren muss. In vielen pathologischen Fällen nach Hansemann, wie auch bei Transplantation nach Ribbert, scheint Verjüngung der Zellen ein- zutreten, ohne dass sie zweckentsprechend scheint, nur weil die Zellen wohl von bestimmten Reizen getroffen oder nicht getroffen werden. Die Reize, welche die Verjüngung auslösen, scheinen gleichfalls verschiedenartig genug zu sein: Kälte, Hunger, schlechte Umgebung, Verwundung oder Bloslegung. Endlich fällt es m vielen Fällen von Regeneration schwer, einen Reiz ausfindig zu machen, so dass Driesch sich veranlasst sieht, das Nichtvorhanden- sein eines Organes selbst als direkte Ursache der Regeneration und folglich, von unserem Standpunkte, der Verjüngung anzu- nehmen.

Ist nun die Verjüngungsfähigkeit der Zelle unbeschränkt, kann dieselbe Zelle ihren Weg zurück zum embryonalen Zustande immer von neuem nehmen und immer von neuem sich differenzieren? Beı Metazoen ist die Frage schwer zu lösen, denn es ist möglich, ja wahrscheinlich, dass bei jeder neuen Regeneration immer andere Zellen den Ausgangspunkt der Anlage bilden. So sind Beobach-

tungen über die Häufigkeit der Regeneration und wir haben solche Beobachtungen nicht direkt maßgebend für unsere Frage.

Anderes wäre es, hätten wir Daten über die Reduktionsfähigkeit der Einzelligen, wie oft ein Exemplar, sich immer wieder encystierend, seine Organellen rückbilden kann. Solche Beobachtungen wären

30*

468 Schultz, Über Verjüngung.

unschätzbar für das Verständnis des Lebens als solches und für den Begriff des Alterns. Wenn wir die potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen im Auge behalten, so liegt kein Grund vor zu „weifeln, dass die Dedifferenzierung und Verjüngung sich unzählige Male wiederholen könnte. Würde bei jeder solchen Reduktion ein noch so geringer, nicht zu ersetzender Verlust eintreten, so verlören die Dauercysten bildenden Protozoen zu gleicher Zeit mit dieser Schutzeinrichtung ıhre Unsterblichkeit, die betreffenden Arten würden verschwinden und die Einrichtung wäre überhaupt unmög- lich. Oder man müsste annehmen, ie gerade zum Ausgleiche der Verluste während der Reduktion die Kopulation en wurde. Nun aber ıst es Kulagin, Calkıns und Loisel gelungen, Kulturen von Infusorien zu erhalten, die sich beliebig lange durch Teilung mit Ausschluss der Kopulation vermehrend, keine Degene- rationen aufwiesen, wenn nur die Lebensbedingungen normal blieben (denn so sind wohl die Experimente Loisel’s aufzufassen). Nun aber haben die betreffenden Tiere (Stylonychia, Vorticella‘)) jedenfalls unzählige Male, als sie Teile ihrer Vorfahren waren, Dauercysten gebildet und müssten daher Kulturen, bei denen die Kopulation ausgeschlossen wird, wenn wirklich qualitative Verluste während der Reduktion vor sich gegangen waren, durchaus degenerieren.

Nehmen wir an, dass auch die Zellen der Metazoen das gleiche Vermögen der Verjüngung haben und ein grosser Teil hat sie de a ein anderer wohl potentiell, so wären auch die Metazoen rekell unsterblich, angenommen, dass Verjüngungsreize sie träfen.

Die interessanten Beobachtungen Metschnikoffs, wonach bei greisen Papageien das Gehirn von Riesenzellen angefressen wird, spricht dafür, dass von allen Geweben das Nervensystem dasjenige ist, welches uns am meisten mit dem Tode droht. Zu gleicher Zeit ıst es aber auch das resistenteste in ungünstigen Lebens- bedingungen, wie es vielerseits und jüngst von mir bei hungernden Planarien nachgewiesen worden ist. Diese Resistenz scheint aber nicht die Verjüngungsfähigkeit ersetzen zu können, die dem Nerven- system fehlt oder sehr gering ıst. Wirklich sehen wır bei Regene- ration von Platoden und Anneliden das Nervensystem nicht aus dem alten differenzierten Bauchmarke sich entwickeln, sondern vom Parenchym oder Ektoderm neugebildet werden. Es scheint, als ob das Altern eines Gewebes davon abhängt, ob dasselbe öfters einer physiologischen Regeneration unterworfen worden war, ob dasselbe überhaupt dazu fähig ıst oder nicht. Blutzellen, Epithel, Drüsen- zellen scheinen bis ıns Alter jugendfrisch zu bleiben, man findet

1) Bei Paramaecium hat man wunderbarerweise nie Encystierung beobachten können.

Schultz, Über Verjüngung. 469

bis ıns tiefe Alter bei ihnen Mitosen. Bindegewebe und Knochen, auch wohl Muskeln altern wohl früher, verlieren früher ihre Regene- ratıonsfähigkeit. Das Nervensystem, das wohl keine physiologische Regeneration erleidet, altert zuerst.

Ähnlich wie mit der relativen Lebensdauer der einzelnen Ge- webe steht es mit der Lebensdauer verschiedener Arten. Wir müssen erwarten, dass die Arten, welche periodisch einer Hunger- periode unterworfen sind, wo also eine Menge Zellen verbraucht werden, um nachher wieder neu gebildet zu werden, also die Tiere, die sich zu verjüngen Gelegenheit haben, eine besonders lange Lebensdauer aufweisen ım Vergleiche mit nahestehenden Arten, die keine solche Hungerperiode durchmachen. Man weiß, wie ver- jüngend oft der Typhus also eine 6wöchentliche Hungerperiode auf den Menschen wirkt, und wirklich werden ja während dieser Zeit nicht nur das Fettgewebe, sondern auch Muskeln und viel- leicht auch viele anderen Gewebe eingeschmolzen. Der Winter- schlaf müsste danach den Tieren, welche denselben durchmachen, besonders günstig sein, ihre Organisation stärken und ihnen zu einem relativ längeren Leben verhelfen. Während des Winter- schlafes wird nicht nur das Fett des betreffenden Tieres aufgebraucht, sondern auch die Muskeln und wohl auch viele andere Gewebe. Der Verbrauch ist oft ein enormer, worauf einige unten angeführte Beispiele hinweisen. In unserer Auffassung der Bedeutung des Winterschlafes liegt ein fundamentaler Gegensatz gegenüber den Ansichten Bühler’s. Nach ıhm müsste Hunger, Winterschlaf ete. zu einem vergrösserten Aufbrauche des gegebenen „Quantums an Bildungsmaterial“ führen und zu früherem Tode des Organısınus.

Nun fehlen leider über das Alter der Tiere fast jegliche Beob- achtungen. Weismann konnte trotz aller Nachfragen nur wenige Angaben darüber sammeln und das Gesammelte antwortet nicht auf unsere Fragestellung.

Wir müssten nach unserer Anschauung erwarten, dass unter den Säugern der Siebenschläfer, Dachs, Fledermaus, das Murmel- tier, welches 10 Monate schläft, der Bär, der während des Wimter- schlafes sogar seine Jungen säugt, der Hamster u. a. ein be- sonderes langes Leben aufweisen; doch fehlen Beobachtungen darüber.

Die Vögel erreichen oft ein sehr hohes Alter. Papageien stehen hierin nicht so allein: Finsch sagt, dass Raben, Störche, Adler und andere Vögel ebenso alt werden. Weissenborn (nach Finsch) führt eine Nachtigall an, die 30 Jahre im Käfig gehalten wurde. Nun haben diese Tiere zwar keinen Winterschlaf und keine Hungerperiode. Im Gegenteil, ihr Leben wird fast von keiner Ruheperiode unterbrochen und vergeht in rastloser Tätigkeit. „Alle Vögel erwachen früh aus dem kurzen Schlafe der Nacht,“ sagt

+70 Schultz, Über Verjüngung.

Brehm, „die meisten sind rege, noch ehe das Morgenrot den Himmel säumt. In den Ländern jenseits des Polarkreises machen sie während des Hochsonnenstandes zwischen den Stunden des Tages und deren der Nacht kaum einen Unterschied. Ich habe den Kuckuck noch ın der zwölften Abendstunde und in der ersten Morgenstunde wieder rufen hören und während des ganzen da- zwischen liegenden Tages in Tätigkeit gesehen. Wer hier im Hoch- sommer früh in den Wald geht, vernimmt schon mit dem ersten Grauen der Dämmerung die Stimmen der Vögel. Eine kurze Zeit in der Nacht, einige Minuten dann und wann am Tage scheinen ihnen zum Schlafe zu genügen“ etc. Die beständige Beweglichkeit und Regsamkeit der Vögel gestaltet das Leben derselben zu einem im höchsten Grade aufreibenden und scheinbar für die Fortdauer physiologisch ungünstigen. Ihre Langlebigkeit widerspricht somit vollkommen der verbreiteten Ansicht, wonach hohes Alter mit einer trägen, wenig Stoffwechsel beanspruchenden Lebensweise vereint ist. . Nach unserer Ansicht, nach der die Länge des Lebens abhängig ıst von der Verjüngungsfähigkeit, muss ein so aufreiben- des Leben, wie dasjenige der Vögel, gerade ın allen Geweben be- ständige Verjüngung und Regeneration hervorrufen. Nur das Nervensystem, welches so wenig Regenerationsfähigkeit hat, ver- fällt dem Alter, wie es Metschnikoff an Papageien nach- gewiesen hat.

Die Amphibien und Reptilien scheinen alle ein hohes Alter zu erreichen, soweit die leider so geringen Beobachtungen in dieser Richtung beweisen. Schildkröten werden 100 Jahre alt; Ophisaurus apus AD—60 Jahre. Was aber besonders wichtig und worauf man keine Aufmerksamkeit gewandt hat, ıst, dass Alters- erscheinungen bei Reptilien überhaupt nicht zu beobachten sind. Alle diese Tiere haben einen Winter- oder Trockenschlaf. Nun könnte man annehmen, dass die lange Lebensdauer bei Amphibien und Reptilien in der Weise durch den Winter- und Hungerschlaf erreicht wird, dass sie in eine Art von Scheintod verfallen und die Lebensprozesse auf ein Minimum reduziert werden. Mir schemt diese Art der Erklärung falsch, denn ist der Umsatz während des Winterschlafes auch minimal, so werden doch infolge der langen Dauer desselben Gewebe aufgebraucht, die bei normalem Umsatze nicht angerührt werden, der Hunger greift viel tiefer in die Organı- sation hinein und wirkt deswegen umgestaltender, als es die ge- wöhnlichen Lebensbedingungen zu tun vermögen. Ein Scheimtod aber liegt überhaupt nicht vor, überwinternde Amphibien und Reptilien frieren nicht ein, schützen sich vor Erfrieren. Der Ver- brauch während des Winterschlafes ist nicht so gering, wie man glauben könnte. Schildkröten verlieren während des Winterschlafes ein Viertel ihres Gewichtes, ein enormer Prozentsatz, wenn man den

Schultz, Über Verjüngung. 471

Panzer und das Skelett, welche wohl nur höchst wenig beim Ver- luste beteiligt sind, abrechnet.

Weiterhin liegen Angaben über Insekten vor, deren Leben meist sehr kurz ist. Dagegen erreichen Käfer ein höheres Alter auch sie verfallen dem Winterschlafe.. Göze beobachtete (nach Weismann) Wanzen in den Vorhängen eines alten, 6 Jahre lang nicht benutzten Bettes, „die ausgehungerten Tiere waren aber ganz durchsichtig.“ Vielleicht hängt ihre Langlebigkeit damit zu- sammen, dass diese Tiere überhaupt leicht periodischem Hunger ausgesetzt sind, bei der geringen Fähigkeit, selbstwillig den Ort zu wechseln und auf weite Beute zu gehen.

Bei den Pflanzen haben wir dem Blütenfalle während der kalten oder trockenen Jahreszeit keine solche Bedeutung für die Lebensdauer der Pflanze beizumessen, wie den periodischen Re- duktionen im Tierkörper; denn auch die immergrünen Bäume ver- jüngen ihre Ernährungs- und Geschlechtsorgane beständig, außer- dem können die Blätter selbst bei gleichbleibendem Klima, wie wir an Welhwitschia mirabilis der Kalahariwüste sehen, 100 Jahre alt werden. Die Länge des Lebens der Pflanzen hängt in so engem und direktem Masse vom Klıma und Samenbildung ab, wıe es aus- führlich und klug von Hildebrandt dargelegt ist, dass fast keine anderen Faktoren daneben zur Geltung kommen.

Ist es auch möglich und wahrscheinlich, dass bei den Tieren die Lebensdauer in engem Verhältnisse mit der Vermehrungsweise der Tiere steht, wie es Weismann will, d. h. dass Tiere, welche wenig Eier legen oder Schutz der Nachkommen aufweisen, älter werden, als solche, deren Nachkommenschaft groß ist, so ist der Hunger doch ein mächtiges Hilfsmittel, diese längere Lebensdauer zu erwirken.

Wenn die Protozoen potentiell unsterblich sind, woher können es die Metazoen nicht sein; denn ‚das Alter der Metazoen bleibt immerhin ein Faktum. Ob in der Kopulation die Ur- sache der Unsterblichkeit des Einzelligen und der Keimzellen liegt, wird immer mehr fraglich, seitdem auch andere Reizmittel ge- nügten, degenerierende Infusorienkolonien aufzufrischen, seitdem Weismann schon 20 Jahre Cypris auf rein parthenogenetischem Wege züchtet, ‚seitdem immer mehr Fälle apogametischer Ent- wickelung bei Pflanzen entdeckt werden und noch jüngst Treub die ausschließlich parthenogenetische Fortpflanzungsweise für Fleus hirtus nachgewiesen hat. In der Differenzierung der Metazoen- zellen die Ursache des Todes zu sehen (Cholodkowsky) haben wir gleichfalls keinen Grund, da eine Entdifferenzierung ja möglich ıst und oft vor unseren Augen vor sich geht. Das Lebensferment Bütschli’s, welches mit dem Alter ausgehen soll, ist wohl nicht ernst zu nehmen.

472 Schultz, Über Verjüngung.

Wenn wir die Frage kurz und allgemein fassen wollten, so könnten wir antworten, dass das Altern eine Folge des Ausbleibens der Verjüngung ist. Periodisch hungernde Tiere scheinen ja eine längere Lebensdauer als nicht hungernde Verwandte zu haben. Auch sind nicht alle Gewebe regenerationsfähig und um so weniger jedes Organ. Für das Nervensystem wenigstens ist die Teilung der fertigen Ganglienzelle nicht gut bewiesen und ihre Verjüngung scheint ausgeschlossen zu sein. Wenn wir bedenken, welche Be- deutung das Nervensystem, so z. B. das trophische für alle Ge- webe der höheren Wirbeltiere und besonders der Menschen hat, so begreifen wir, dass ein Fehlen der Verjüngungsfähigkeit dieses Gewebes alleın genügt, alle Erscheinungen des Alterns hervorzurufen.

Holzgewächse altern eigentlich streng genommen nicht. Die Blätter einer tausendjährigen Eiche sind ebenso jung und frisch, wie diejenigen einer emjährigen. Solche Bäume gehen meist in- folge äußerer Zufälle zugrunde, wie durch Sturm, Blitzschlag ete. Viele Pflanzen können sich vegetativ ununterbrochen fortpflanzen, s odass ihre Gewebe eigentlich unsterblich sind), dasselbe beweisen Schaffung von Ablegern, Pfropfen ete. Wodurch ist nun diese potentielle Unsterblichkeit bei Pflanzen zu erklären, wo sie den vielzelligen Tieren fehlt. Hier können wir zwei Erklärungen an- führen: Erstens fehlt der Pflanze wohl das Nervensystem, also das am wenigsten regenerationsfähige Gewebe. Andererseits kommt es bei ıhnen zu keiner Aufspeicherung von Zerfallprodukten. Jickeli nämlich sieht m der Unvollkommenheit des Stoffwechsels und der Anhäufung von Exkreten die Ursache des Alterns. Was die Tiere betrifft, so müssen wir zwar eingestehen, dass bei ihnen die Funktion der Exkretionsorgane nicht zu genügen schemt, den Organismus zu reinigen; aber ob das Altern diesem Umstande zuzuschreiben ist, bleibt doch fraglich, wenn wir bedenken, wie intensiv der Stoffwechsel der Vögel ist und wie lang dagegen ihr Leben.

Ob die Verjüngsfähigkeit und damit die potentielle Unsterb- lichkeit in der phyletischen Entwickelung der Tierwelt überhaupt nicht zu erreichen war, ist eine andere Frage. Warum, selbst wenn die periodische Verjüngung nur zur relativen Verlängerung des Lebens führen kann, treffen wir sie nicht überall in lebenden Tieren. Die Unsterblichkeit des Individuums selbst, da die Ver- jüngungsfähigkeit desselben gegeben ist, schien nicht unerreichbar. Wenn sie dennoch nicht erreicht wurde, ja, im Gegenteil, wie

1) Bühler sagt zwar: „Eine Form des Alterns zeigen doch alle: sie haben eine Grenze des Wachstums.“ Die Grenze des Wachstums kann man aber unmög- lich als Alterserscheinung deuten. Eine gewisse Größe ist wohl eine Anpassungs- erscheinung, die festgehalten werden muss, soll das Individuum im Kampfe ums Dasein ausharren.,

Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie‘“ wirbelloser Tiere. 473

Weismann nachwies, die Lebensdauer so kurz normiert wurde, wie es bei der gegebenen Vermehrungsweise möglich war, so lag die Schuld daran nicht an irgendwelchen Eigenschaften der „lebenden Materie“ als solcher. Die Natur hatte alle Mittel in Händen, das Individuum unsterblich zu machen, aber sie wählte für dasselbe den Tod. Statt der beständigen Verjüngung der einzelnen Organe durch Zellen derselben, wählte sie die Ver- jüngung des ganzen Organısmus von einer Zelle aus. Sie nahm uns die Unsterblichkeit und gab uns statt dessen die Liebe.

Literatur.

Braun, Al. „Betrachtungen über die Erscheinung der Verjüngung in der Natur,“ Leipzig 1851.

Brehm, „Tierleben,“ vergl. Bd. I, Vögel, III. Auflage.

Bühler, „Alter und Tod,“ Biol. Centralbl. Bd. XXIV, 1904.

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Calkins, N., „Studies on the life-history of protozoa. III The six hundred and twenty three generation of Paramaecium caudatum.“ Biol. Bull. III, 1902.

Driesch, H., „Neue Antworten und neue Fragen der Entwickelungsphysiologie“. Ergebnisse d. Anat. u. Entwickelungsgesch. Bd. XI, 1901.

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Loisel, G., „Sur la sönescence et sur la conjugaison des Protozoaires.‘“ Zool. Anz Bd, 8X VT,21903:

Metschnikoff, Mesnil et Weinberg, Recherches sur la vieillesse du perroquets. Eitudes biologique sur la viellerse II. Ann. Inst. Pat. XVI, 1902.

Ribbert, „Über Veränderungen transplantierter Gewebe.“ Arch. f. Entwickelungs- mechanik Bd. VI, 1897.

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Treub, M., „L’organe femelle et !’embryogendse dans le Fieus hirtus Vall.“ Ann.

Jard. Bot. Buitenzorg T. XVII, 1902. Weismann, A., „Über die Dauer des Lebens,“ Jena 1882. Über Leben und Tod,“ Jena 1884.

Einige neuere Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. Von Hermann Jordan, Zürich. (Schluss. 3. Der wertvollste Teil der Argumentation dürfte der physıo- logische sein (Nr. 2). Ohne mich hier auf eine Besprechung im

474 Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere.

einzelnen einlassen zu können, seı darauf hingewiesen, dass die vorwiegend am Subjekte gewonnene Einteilung der Bewegungen, objektiviert, sich wesentlich vereinfachen würde. Objektiv ist das Kriterium individueller, genereller oder aber fehlender Zweck- mäßigkeit nicht sehr brauchbar, da den „Willkürhandlungen“ nur subjektive individuelle Zweckmäßigkeit zuzukommen braucht, die als solche für den Beobachter nicht nachweisbar wäre. Hingegen lässt sich bei allen „unwillkürlichen“ Bewegungen zeigen, dass sie bleiben nur Reiz und Bedingungen gleichförmig stets gleich- förmig ablaufen. Bei allen scheinbaren Abweichungen, wie bei komplizierten Reflexen, lassen sich eben auch Abweichungen in den äußeren Ursachen oder den allgemeinen Bedingungen finden!). Aus dem Grunde kann auch Wasmann’s Argumentation nicht ohne weiteres als zwingend anerkannt werden, wie sie sich in der Pole- mik dieses Autors gegen Loeb findet (Biol. Centralbl. Bd. XXI, 1900, p. 342). Wenn man aus dem wechselnden Verhalten der Motten gegenüber dem Lichte auf Empfindungen schließen will, so muss man vorab zeigen, dass Ursachen und Bedingungen nicht schwanken. Einen derartigen Beweis habe ich aber nicht finden können. Schon verschiedene Schwelle der miteinander streitenden Sinne (Rezeptoren für Licht und Wärme) bei verschiedenen Indi- viduen würde eine hinreichende Erklärung für das Schwanken der Phänomene sein.

Es bleibt nach alledem die Schwierigkeit, dass einzelne Be- wegungen keine bislang wahrnehmbare Ursachen besitzen, vor allem Impulsivbewegungen. Einmal sind diese überaus einfacher Natur und werden nicht leicht als Bewusstseinshandlungen imponieren ; ferner muss es Sache experimenteller Forschung sein, die unbe- kannten Ursachen dieser Bewegung festzustellen: Dann aber fallen auch sie unter den von Beer, Bethe und v. Uexküll erweiter- ten Begriff des Reflexes, als einer Reaktion (Antikinese), die, bei gleichbleibenden Ursachen und Bedingungen, stets in gleicher Weise abläuft.

Unter den Begriff: Antwortbewegung wird auch eine Form der Handlung fallen, die Wasmann?) „Instinkt im engeren Sinne“ genannt, und in seinen schönen Schriften klar definiert hat. Wenn wir nun auch die Möglichkeit zugeben müssen, dass derartige Hand- lungen bewusst seien (eine Möglichkeit, die auch bei keiner Form des Reflexes sich ausschließen lässt), so ist es doch ganz unmög- lich, ein objektives Kriterium, d. h. also ein solches Kriterium für die Handlung eines Tieres zu finden, das, am Objekte erkennbar, eben diese Handlung als durch einen Gefühlston bedingt, erkennen

1) Zool. Anz. Bd. 22, 1899, p. 275. 2) Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. Zoologica Bd. 11, 1899, H. 26. Instinkt und Intelligenz im Tierreich. Freiburg i. Br. 1897.

Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. 475

lässt (Instinkt). Dies gilt natürlich nur für Instinkthandlungen ım engeren Sinne, soweit sie eben unter gleichbleibenden Ursachen und Bedingungen gleichförmig ablaufen. Tatsächlich gilt, und zwar ex definitione, der Satz: Nicht modifizierbar (ähnlich: „nicht ge- lernt“), also „Reflex“. Allein es wäre ganz falsch, zu behaupten: Reflex, also unbewusst. Wir müssen aber als feststehend annehmen, dass, liegt ein Reflex unserer erweiterten Definition vor, der Ana- logieschluss stets beide Möglichkeiten: bewusst und unbewusst als gleich wahrscheinlich hinstellen wird, mithin in diesem Falle er ein positives Resultat zu geben nicht imstande ist.

Vielleicht war es nicht ganz glücklich, den Begriff Reflex der- gestalt zu erweitern, wie die oben genannten Autoren es getan haben: Missverständnisse sind tatsächlich durch diese Beibehaltung eines Wortes, welches ursprünglich rein mechanische und unbe- wusste Bewegungen bezeichnete, heraufbeschworen worden. H.E. Ziegler!), von der richtigen Erkenntnis ausgehend, dass jeder „Reflex“ einen ererbten Mechanismus darstellt, schlägt den unver- fänglichen Namen „Kleronomie* vor.

Den Reflexen oder Kleronomien gegenüber stehen alle die- jenigen Bewegungen, die in ihrem Ablaufe nicht voll und ganz von unmittelbar vorliegenden Ursachen und äußeren (peripheren) Be- dingungen abhängig sind. Also diejenigen Handlungen, die wohl stets auf Grund mittelbarer, zeitlich zurückliegender Ursachen von dem Tiere „modifiziert“ werden können, und die Beer, Bethe, und v. Uexküll (l. e.) Antiklisen nennen. Tatsächlich lehrt die Erfahrung, dass die Abänderung in der Regel „in individuell zweckmäßiger“* Weise erfolgt, als Anpassung an den eben vor- liegenden Zweck. Daher sind die Begriffe: „Willkürhandlungen“ (Lukas), „Plastizität“ (Forel) und „Antiklisen“ im Prinzip gleich definiert. Das nämlich versteht Wasmann unter „Instinkte im weiteren Sinne“. Forel’s Begriff der „ererbten Plastizität“ müssen wir nach dem oben Gesagten ablehnen, da am Individuum betrachtet „ererbt“ und „plastisch“ einander ausschließen, phylo- genetisch aber der Ausdruck einen zwingenden Beweis für die Vererbung erworbener Eigenschaften voraussetzt. (Vergl. Lukas Auseinandersetzungen über Antwortbewegungen, um die es sich hier natürlich handelt.)

Zu was berechtigt uns die Feststellung einer Antiklise?

Man gestatte mir ein Beispiel ?).

E. G. Spaulding?’) bringt eine größere Anzahl von Kupagurıs

1) Biol. Centralbl. Bd. XX, 1900, p. 1.

2) Ich wähle absichtlich kein solches, das an den Hymenopteren beobachtet wurde, da diese wesentlich bekannter sind.

3) An Establishment of Association in Hermint Crabs, Hupagurus longicarpus. Journ. comp. Neurol. Psychol., Vol. 14, 1904, p. 49—061. /

476 Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere.

in ein Aquarium, welches zur einen Hälfte hell, zur anderen aber dunkel ist. Die Einsiedlerkrebse sind positiv heliotropisch, sammeln sich also im hellen Teile des Aquarıums. Nunmehr trennt der Autor die beiden Abteilungen durch ein Drahtsieb voneinander, so dass sie nur durch eine kleine Öffnung kommunizieren, und bringt Futter (Fundulus) ın den dunkeln Teil. Er beobachtet Tag für Tag, wie vorab nur wenige Exemplare gegen ihren Tropis- mus in den dunkeln Teil der Nahrung nachgehen (am ersten Tage 10°/, ın 15 Minüten), dann ımmer mehr, bis schließlich am achten Tage von 29 Tieren, 23= 97°/, in 5 Minuten den Weg zur Beute gefunden haben. Nun reinigt er das Sieb und den Futterplatz aufs gründlichste, bringt aber kein Futter mehr ins Aquarium. Der Erfolg ist, dass am neunten Tage von 28 Exemplaren 24 86°), ın 5 Minuten zum (leeren) Futterplatze gehen, ein Verhalten, welches sie noch nach neun weiteren Tagen zu 82°/, zeigen. Die Anordnung des Aquarıiums an sich würde niemals die Tiere ver- anlassen, gegen ihren Tropismus durch die kleine Öffnung in den dunkeln Teil des Aquariums zu gehen. Der nämliche, an sich wir- kungslose Reizkomplex verursacht die dargetane Erscheinung, wenn ein anderer Reizkomplex, dessen Eingangspforten ganz andere Or- gane sind, eine Reihe von Tagen gewirkt hat.

Ähnlich ist der bekannte Versuch mit Octopus (Autor und (Juelle vermag ich nicht anzugeben), der sich ausgehungert auf einen Pagurus stürzt, sich an dessen Wächterin, Adamsia, brennt, und vor dem symbiotischen Paare die Flucht ergreift. Nunmehr flieht er aber auch vor (arcines, seinem eigentlichen Beutetier!) etc. Kurz, auch hier wırd der normale Ablauf eines Reflexes nicht nur gestört, sondern wesentlich geändert, und zwar durch einen zeitlich zurückliegenden Reiz, der insofern mit dem unmittelbaren Reize inkommensurabel ist, als er sich ganz anderer Rezeptoren (und Effektoren) bedient.

Eine Veränderung der Bahnen, als einzig mögliche mechanische Erklärung, kommt also schon darum nicht in Betracht, weil eben die Bahnen des Nahrungsreflexes nicht vom Brennreiz, die Bahnen des Fluchtreflexes aber nicht vom Jagdreiz (Careinus) affızıert werden können. Kurz, hier versagt der Analogieschluss (oder Induktionsschluss) mit bezug auf mechanische Erklärung, die Be- dingungen für seine Anwendung auf Vorgänge sind gegeben, die den vom Subjekte als Bewusstseinsvorgänge erkannten ebenbürtig sind’).

1) Ich verdanke die Kenntnis dieses Versuches Herrn v. Uexküll.

2) Dies ist natürlich kein Widerspruch gegen H. E. Ziegler’s Hypothese von den angefahrenen Bahnen, die sich ja eben auf „Vorgänge von der Dignität unserer Bewusstseinsvorgänge“ bezieht, mit deren eigentlichem Wesen wir uns aber gar nicht zu beschäftigen haben, sondern lediglich mit der Frage, ob solche bei den Tieren überhaupt vorhanden seien.

Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere. 477

Ganz anders freilich verhält es sich mit der Frage nach der Art der Bewusstseinsinhalte. Wir haben gesehen, eine gene- relle Kausalität zwischen physischem Geschehen und der Form, unter dem das sogenannt psychische erkannt wird, lässt sich nicht nachweisen, daher denn auch der Analogieschluss auf Bewusst- seinsinhalte nicht möglich ıst. Ein solcher setzt, wie wır sahen, kausale Beziehungen voraus. Mehr noch: Wenn Tiere anders ge- artete Bewusstseinsinhalte besitzen, als wır und wer wollte das Gegenteil beweisen? so würden wir für diese weder Vorstellungen noch Begriffe haben. Nur wenige Autoren verkennen das Zwingende dieses Satzes. Doch kann ich nicht über die Arbeiten eines fran- zösischen Forschers hinweggehen, der die ganze neuere Literatur für und wider vergl. Psychologie nicht berücksichtigend, in ganz auffallender Weise gegen obiges verstößt.

Lecaillon') berichtet vorab über eine Reihe interessanter Beobachtungen über die Brutpflege von Spinnen: Beraubt er z.B. Mütter ıhres Kokons, so adoptieren sie fremde Nester, bringt er dann die Mutter dieses letzteren zur ersten Spinne, so entsteht ein Kampf, der exakt beschrieben wird und bei dem die echte Mutter Siegerin bleibt. Bezüglich dieser letzteren sagt er 1. ce. p. 81: „La souffrance &prouvce par les femelles, dont on contrarie l’amour maternel peut &tre compris dans le sens que I’homme donne habı- tuellement ä ce mot. Rien ne justifie l’opinion encore repandue d’apres laquelle les phenomenes psychiques que l’on observe chez les anımaux sont de nature absolument differente de ceux que l’on connait chez ’homme ...“ Gewiss nicht, aber nichts beweist die gegenteilige Annahme, und einzig und allein darauf würde es ankommen. Nur ein solcher Beweis würde dem Autor das Recht geben, von „Wut, Trauer, Klugheit, Ausdauer, Geduld etc.“ bei seinen Tieren zu reden?).

Auch Lukas, dessen Objektivität wir ın seiner Exposition haben anerkennen müssen, verfällt im speziellen Teile seines Buches zuweilen in ähnliche Anthropomorphismen. Z. B. 1. c. p. 243 nımmt er bei den Würmern „Geschlechtstrieb“ an, p. 255256 „Farben- gefühle“, und das bei Erscheinungen, die nach seiner eigenen Ein- leitung gar das Recht nicht geben, auf Bewusstsein zu schließen: Die Feststellung von Möglichkeiten aber ist nicht Aufgabe der Wissenschaft. Was ist denn sensu stricto unmöglich? Aber auch

1) Sur la biologie et la psychologie d’une araignee (Chiracanthium carnifex Fabricius), Ann. Psychol. Ann. 10, 1904, p. 63—83, 3 Fig. (Ähnliches in C.R. Soc. Biol. Paris, T. 57, p. 508, 543, 568.)

2) Ähnliche Ansichten vertritt R. Dubois in seiner neuesten Polemik gegen Nuel (EC. R. Soc. Biol. Paris, T. 58, p. 474), auf die einzugehen um so weniger am Platze ist, als auch Dubois den Standpunkt des Abstinenten mit demjenigen ver- wechselt, den man Negativismus nennen könnte. Anm. b. d. Korrekt.

478 Jordan, Arbeiten auf dem Gebiete der „Psychologie“ wirbelloser Tiere.

über die Art des „Farbengefühls“ glaubt er, ım Gegensatz zu Graber Schlüsse ziehen zu können: „Allein, was hätte es denn für einen Sinn, wenn wir sagen würden, die Würmer haben Farben- gefühle, aber ganz anderer Art als wir, so dass wir uns von ihnen gar keine Vorstellung machen können. Für unsere Erkenntnis wäre damit gar nichts gewonnen. Wenn wir daher behaupten, dass die Würmer und andere niedere Tiere Gefühl haben, so müssen wir auch zugeben, dass die sinnlichen Gefühle geradeso wie bei uns den polaren Gegensatz ım Gefühlston, den Gegensatz von Angenehm und Unangenehm zeigen...“ Da wir uns eben von den sehr wohl möglichen „Farbengefühlen anderer Art“ keine Vorstellung bilden können, so folgt nach meiner Meinung lediglich, dass wir über diese Bewusstseinsinhalte nichts aussagen dürfen.

Auch Forel, Wasmann und andere brauchen für Tiere Aus- drücke, die sich auf psychische Qualitäten beziehen. Allein Forel sagt ausdrücklich: Ich bezeichne hiermit lediglich die entsprechen- den physischen Neurokymvorgänge, und Wasmann sagt: die Ausdrücke für Empfindungsqualitäten sind variabel, bezeichnen bei verschiedenen Tieren verschiedene Qualität der Empfindung bei gleichem Reiz. (Wasmann dürfte wohl nur so lange Recht haben, als er beweisen kann, dass dem Tiere überhaupt Empfindung zu- kommt.)

Das Vorgehen dieser beiden Autoren, wenn auch nach meiner Meimung durchaus zulässig, ıst nicht ungefährlich: Trotz ausdrück- licher Definition wird der Leser sich der Vorstellung nur selten er- wehren können, als erfahre er, was er selbst empfinden oder fühlen würde, wenn er in dem beschriebenen Falle eine Ameise gewesen wäre.

Im ganzen, halten wir daran fest, sind die obenstehenden Defi- nitionen insofern von negativem Werte, als durch sie ausdrücklich gesagt wird:

Über die Qualitäten der Bewusstseinsinhalte können wir nichts aussagen.

Eilen wir zum Schlusse:

Es lässt sich eine naturwissenschaftliche Disziplin denken, die ein Erfahrungsmaterial im wesentlichen der vergleichenden Physiologie entlehnt, auf Grund eben dieses Materials Schlüsse auf das Vorhandensein von Bewusstsein zieht, hierdurch also ihren „Wahrscheinlichkeitsgehalt“ gewinnt. Dadurch, dass das Vorhanden- sein von Bewusstseinsvorgängen (im definierten Sinne) mit Wahr- scheinlichkeit festgestellt werden kann, ist in vielen Fällen auch die Bestimmung der Art des Vorganges möglich allerdings nur soweit dies ohne Kenntnis der Qualitäten der Bewusstseinsinhalte geht, da eine solche nicht zu erlangen ist.

Diese Disziplin „vergleichende Psychologie“ zu nennen, ist

Marcus, Ein Rhachiskern bei Ascariden. 479

formal unzulässig, solange man nicht den Begriff „Psychologie“ anders definiert, als wır es getan haben. Forel bedient sich dieses Hilfsmittels, indem er zur Psychologie schlechtweg auch das ob- jektive Studium „physischer“ Vorgänge im Zentralnervensystem rechnen wiıll!). Man könnte hiergegen einwenden, dass in diesem Falle der Begriff Psychologie sich gar nicht vom Begriff Gehirn- physiologie abgrenzen lässt.

Die eigentliche Tätigkeit des „vergleichenden Psychologen“ wird aber, und zwar vor wie nach, darin bestehen, „Antiklisen“ oder „enbiontische* Prozesse (Ziegler) festzustellen, also recht eigentlich wird sie eine physiologische sein. Die Schlüsse, die sich auf Bewusstsein ziehen lassen, werden (unter Ausschluss der In- halte) niemals mannigfaltig sein, in der Regel aber sich mit Fest- stellung der Antiklise ganz von selbst ergeben. Kurz, wenn ich meinen, allerdings ım Prinzip nicht neuen?) Standpunkt formal definieren soll, so würde ich sagen: Die Physiologie des Zentral- nervensystems niederer Tiere zerfällt ın die Lehre von den Re- flexen (Kleronomten) und von den Antiklisen (den enbiontischen Prozessen). Mit der Feststellung dieser letzteren ist (event. still- schweigend) die Wahrscheimlichkeit vorhandenen Bewusstseins be- wiesen. In diesem letztgenannten Abschnitte würde ım wesent- lichen dasselbe geleistet werden können, als innerhalb desjenigen Faches, das von einer Reihe Autoren „Vergleichende Psychologie“ genannt wird.

Ein Rhachiskern bei Ascariden. Von Dr. Harry Marcus. (Aus dem zoologischen Institut in München.)

Bei der Beliebtheit der Ascariden zu cytologischen Studien ist es merkwürdig, dass keiner der zahlreichen Forscher, die sich mit der Ovo- oder Spermatogenese befassten, als Nebenbefund einen Kern ın der Rhachis konstatiert hat. Die älteren Autoren interessierten sich sehr für die Rhachis selbst und es war eine Streitfrage, ob sie eine „scheinbare“ sei, d. h. aus Sektoren bestehend, die von jeder Eizelle geliefert werden sollte (M eissner 1855), oder ob sie „wirklich“ sei, also nach damaliger Auffassung „die ım Zentrum der Röhre be- findlichen noch nicht zur Isolation der Eier verwandte ‚körnige Masse“ (Munk 1858). Ähnlich Clapar&de (1858). Zum Beweise hatten diese letzteren Forscher mit einer unglaublichen Geschicklichkeit grosse Teile der Rhachis herauspräpariert. Dass sie, wie auch

1) Nur unter diesen speziellen Verhältnissen der Definition hat Forel’s Be- griff des „Unterbewusstseins“ für die Psychologie unmittelbare Bedeutung. 2) Vergl. Beer, Bethe und v. Uexküll.

480 Marcus, Ein Rhachiskern bei Ascariden.

A.Schneider (1866) und Leuckart (1876) keinen Kern darin fanden, darf uns nicht wundernehmen beı der unvollkommenen Methode. Die ersten Forscher, welche dıe neueren Schnitt- und Färbemethoden an diesem Objekt anwandten, waren v. Beneden und Julin (1884) die

Biel, Le ee de PR ae er 2 S o re EEE = a & % & e nm £\ &n. a, ‘@ ° En En ® ON h = 4 S Bin * ON A » N BR N !% Gase\ Re Br. \ 3x ER Es Be Pr, Ders z re e ee. SR ER = & ED 8 8 7 Cm in E ® 6 -" % . e 2 DZ y $ >. 55 > ‘8 } > c wu % Ze Y nl 5 > # > + F e er ur n e/ 5 D EZ MD E. ar RA \ 4 > £ 3% s & nu „87 # 5 F x w ® ® A ® ) FM un, * „oe a onen Fig. 2. Fig. 3 % © ® % se & x

eine sehr eingehende Beschreibung der Rhachis in ihrer Ausbreitung gaben. Ihre Befunde bestätigte O. Hertwig (1890), ohne sich näher damit zu befassen. Einen Kern hatten diese Forscher nicht gesehen. In den zahlreichen emschlägigen Arbeiten über Entwicke- lung der Geschlechtsprodukte wird die Rhachis kaum erwähnt und,

Marcus, Ein Rhachiskern bei Ascariden. 481

soviel ich die Literatur kenne, nichts über ihr Wesen ausgesagt. Eine Ausnahme hiervon macht ©. Schneider (1902): „Die Rhachis erscheint als umfangreicher Spindelrestkörper, der allen Zellen ge- meinsam ist, entsteht also durch unvollständige Kernteilung“. Diese Hypothese wird durch einen Kern hinfällig, wie ihn die Abbil- dungen zeigen.

Fig. 1 geht durch die Wachstumszone von einer weiblichen Asc. megalocephala. Man kann an den Kernen der radıär gestellten Ovocyten ein Synapsisstadium erkennen trotz der schwachen Vergröße- rung (Zeiss. Obj. DD Oe. 4). Das Chromatin (blaugrün) ist zackıg oder in Klumpen angeordnet, daneben sieht man einen roten Nukleolus oder deren zwei (Fig. 5). Diese Gebilde liegen in einem hellen Hof, deutlich von der Kernmembran umgeben. (Färbung Methylgrün und Säurefuchsin.) Im Zentrum sehen wir die Rhachis mit exzen- trisch liegendem Kern, während die Mitte die typische vakuolsierte Beschaffenheit zeigt. Der Kern ist auch im nächsten Schnitt ebenso deutlich sichtbar (Schnittdicke 5 u). Der Rhachiskern ist chro- matinarm, scharf kontnriert und zeigt ein rotes Kernkörperchen mit Vakuole.

Ein ähnliches Bild könnte ich von einem Kurspräparat geben, das ich der Güte des Herrn Privatdozenten Dr. R. Goldschmidt verdanke, der beim Kurs den Kern zufällig zuerst erblickte. Hier ist bei Ase. kımbr. ebenfalls in der Wachstumszone in der Rhachis eın Kern, der ebenfalls scharf konturiert ıst und einen Nukleolus mit Vakuole zeigt. Diese Rhachiskerne sınd bedeutend größer als die umliegenden Geschlechtskerne, so dass an eine zufällige Verlage- rung nicht gedacht werden kann. Auch die Struktur ist durchaus abweichend, wie man sich an der Fig. 2 und 3 überzeugen kann. Beide Bilder sind mit Zeiss homog. Immers. '/,,, Oc. 4 mit dem Zeichenapparat gezeichnet, Fig. 2 ist der Rhachiskern, Fig. 3 eine Ovocyte desselben Schnittes. Es ist mir leider nicht geglückt, eın Totalpräparat so herzustellen, dass man entscheiden könnte, ob mehr Kerne in einer Rhachis vorhanden sind oder nur dieser eine. Letzteres scheint mir wahrscheinlicher, so dass wir dann ın der Rhachis eine Riesenzelle vor uns hätten, wie die Verson’'sche Zelle von Bombyx mori. Auch sonst findet man bei Ascaris Zellen von ungeheuren Dimensionen, da bekanntlich dies Tier hauptsächlich durch Zellvergrößerung wächst und nur im Darm durch Zellteilung. In den Geschlechtsröhren nehmen die Ascariden jedoch keine Sonder- stellung ein, weshalb ich die Rhachis in erster Linie mit der Verson’schen Zelle vergleichen möchte. Aber wenn sich auch mehrere Kerne in der Rhachis finden sollten, so ändert dies nichts an dem Wesen der Sache, dass die Rhachis zelliger Natur ist, Über ihre Entstehung hoffe ich später Näheres mitteilen zu können.

Februar 1905.

xXXV. 31

489 Retzius, Zur Kenntnis der Entwickelung der Körperformen des Menschen.

Anmerkung bei der Korrektur. Auch bei Ascaris mystax habe ich inzwischen einen Rhachiskern gesehen. In einer Ovarialröhre von Asc. megal. fand ich 2 Rhachiskerne.

Zitierte Literatur.

1. E. van Beneden und Julin (S4). La spermatogenese chez l’ascaride m&galo- c@phale. Bruxelles 1884.

2. Clapar®de, E. Uber Eibildung und Befruchtung bei den Nematoden. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. IX, 1858.

3. Hertwig, ©. Vergleich der Ei- und Samenbildung bei den Nematoden. Arch. f. mikr. Anat. 1890.

. Leuckart, R. Die menschlichen Parasiten, Bd. II. Leipzig u. Heidelberg 1870.

5. Meissner, G. Beobachtungen über das Eindringen der Samenelemente in den Dotter. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. VI, 1855.

6. Munk. H. Über Ei- und Samenbildung und Befruchtung bei den Nematoden. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. IX, 1558.

7. Schneider, A. Monographie der Nematoden. Berlin 1866.

8. Schneider, K. ©. Lehrb. d. vergleichenden Histologie der Tiere. Jena 1902.

Gustaf Retzius, Zur Kenntnis der Entwickelung der Körperformen des Menschen während der fötalen

Lebensstufen. Mit 13 Tafeln in Lichtdruck. Biologische A ns herausgeg. von Prof. Dr. Gustaf Retzius, N. F., Bd. XI, Nr. 2, Stockholm 1904, 8. 3476. Folio.

Die Erkenntnis der Körperformen hängt selbstverständlich auf das innigste zusammen mit der Lehre von den sogen. Proportionen, die ja nicht nur von den Anatomen, sondern von alters her auch ns der Künstler behandelt worden ist. Es erscheint aber kaum minder klar, dass ein Verständnis der Maßverhältnisse des vollentwickelten, erwachsenen Körpers nur dann vollständig zu nennen sein möchte, wenn es mit Rücksicht auf die Vorgänge fötaler Gestaltausbildung gewonnen wurde. Der Schlüssel für die Abweichungen und Variationen der menschlichen Gestalt in Ab- hängigkeit von Individualität, Rasse, Geschlecht u. s. w. ist natur- gemäß ın Besonderheiten der Keimanlage und späterer fötaler Stufen zu suchen, und dies gilt für den Menschen in gleicher Weise, wie für Anthropoiden, niedere Säugetiere und alle übrigen Geschöpfe.

Die ım Titel bezeichneten Untersuchungen von Retzius sind nun eigentlich in ihrer Art die ersten, die das Problem der fötalen Gestaltentwickelung in dem angedeuteten Sinn in umfassender Weise zu ergründen versuchen. Es wird daher bei der ungewöhn- lichen allgemein-biologischen Bedeutung des Gegenstandes und der neu gewonnenen Ergebnisse am Platze sein, den wesentlichsten Inhalt dieser Untersuchungen in Kürze zusammenzufassen.

Zum Studium der fötalen Proportionen lagen zunächst ab- gesehen von Tierföten 39 menschliche Embryonen vor, die unter Schonung des Skeletts, der Knorpel und Gelenkbänder "präpariert in verdünntem Glyzerinalkohol aufbewahrt wurden, um zur Messung

Retzius, Zur Kenntnis der Entwickelung der Körperformen des Menschen. 483

von Kopf, Wirbelsäule und Extremitäten Verwendung zu finden. Eine zweite Fötusserie, die ohne weitere Präparation zur Kon- servierung gelangte, diente auch zu Untersuchungen über die feinere Ausmodellierung der Körperteile. Postfötale Zustände wurden noch nicht hinzugezogen. Tabelle I bringt die absoluten Maße der menschlichen skelettierten Föten, Tabelle II die ent- sprechenden Maßverhältnisse, Tabelle III und IV in gleicher Weise die absoluten und relativen Messungsergebnisse von 48 nicht skelet- tierten menschlichen Föten.

Hinsichtlich der Entwickelung der äußeren Körperform han- delte es sich zunächst um die Frage, wie lange während der Em- bryonalperiode noch ein allgemeiner Typus vorherrscht und wann die ersten Anzeichen einer Individualisierung deutlich hervorzutreten beginnen.

Nach den Befunden von Retzius wäre anzunehmen, dass eine Individualisierung der äußeren Körpergestalt schon im vierten Embryonalmonat sich im bemerkenswerter Weise kennzeichnet und ım fünften und in den folgenden Monaten mit steigender Ausprägung wahrnehmbar wird. Sogar unter Zwillingen des fünften und auch schon des vierten Monats konnte diese Individualı- sierung gut nachgewiesen werden. Doch liegen Anzeichen be- sinnender Individualisierung, v. a. einzelner Züge des Antlitzes, möglicherweise schon im dritten Monat vor. FD: speziellen, aus Vererbung von den Eltern herrührenden Züge überwinden gewisser- maßen allmählich siegreich den generellen Ty pus.“

Am Kopfe ist ein auffallend langes Festhalten am brachy- cephalen Typus in der Fötalperiode her vorzuheben, auffallend zumal in einem so langköpfigen Lande wie Schweden.

Die Augen fand Retziıusim3. Monat oft etwas schief nach unten- außengerichtet; ihre Entfernung voneinander vermindert sich nach dem 4. Monat relativ immer mehr. Früh treten die Augenfurchen und das Philtrum in die Erscheinung, die Nasolabialfurche ıst schon im zweiten Monat deutlich, die Supra- und Inframentalfurchen werden dies im dritten Monat.

An den Händen waren die größten von den bleibenden Furchen (Venus- und Marslinie) schon im dritten Monat ausgeprägt.

Zu Beginn dieses Monats treten auch die distalen Meta- karpalballen auf, die sich im vierten und fünften Monat relativ zurückbilden.

Um diese Zeit (Beginn des dritten Monats) wird eine Reihe distaler Metatarsalballen deutlich im Gestalt von vier bis fünf rundlichen oder ovalen Erhabenheiten, die sich nach und nach durch eine Art Verschiebung gegen die fibulare Seite hin den inter- digitalen Spalten gegenüberstellen und später ebenfalls verhältnis- mäßig an Umfang zurücktreten, während die Phalangenballen dauernd gut ausgeprägt bleiben.

Bei einzelnen menschlichen Individuen bleiben die metakar- palen und metatarsalen Tastballen, die in der Regelin der Postfötalzeit rudimentär werden, auch im erwach-

ale

484 Retzius, Zur Kenntnis der Entwickelung der Körperformen des Menschen.

senen Zustand bestehen „als stark markierte höckerartige Erhe- bungen oder Falten“, ın deren Bereich die umkleidende Haut eine feinere Tastempfindung aufzuweisen scheint. Die Nervenend- verästelungen ın den Tastballen bei ähnlichem Verhalten wäre zu untersuchen ım Zusammenhang mit Funktionsprüfungen in ent- sprechenden Fällen; für Methylenblaubehandlung war noch kein hinreichend frisches Material vorhanden.

Das Studium der eigentlichen Proportionen beim Menschen- fötus ergab unter anderem den Satz, dass die Gesamtkörperlänge während der ganzen Fötalperiode ein lebhafteres Wachstum ent- faltet, als die sogen. Steißscheitellänge. Die Kopfhöhe nimmt allmählich relativ ab, und zwar sowohl ım Verhältnis zur ganzen Körperlänge, als auch zur Scheitelsteißlänge. Dagegen zeigt die Halswirbelsäule eine Tendenz zur relativen Verkürzung; kon- stante Proportionsveränderungen an den übrigen Abschnitten der Wirbelsäule waren ım Verlaufe der Embryonalentwickelung nicht zu ermitteln. Die relative Größe des Kopfumfanges sinkt von den früheren Stadien an ım Zusammenhang mit der bekannten relativen Verkleinerung des fötalen und kindlichen Kopfes während des fortschreitenden Wachstum.

In der Längenentfaltung der oberen Gliedmaßen tritt schon im dritten, noch deutlicher im vierten und fünften Monat des Em- bryonallebens ein erstes relatıives Maximum ein, das ıhre für das Fötalleben geltende relative Länge (im Verhältnis zum Körper) be- zeichnet. Die untere Extremität wächst anfänglich (während des 2.—7. Monats) langsamer als die obere, bleibt also an Länge hinter ihr zurück, beschleunigt aber ın den letzten Monaten des Fruchtlebens ihr Wachstum, so dass sie hinsichtlich ihrer Länge nach und nach einander immer näher kommen, bis schließlich (ziem- lich bald nach der Geburt) ein umgekehrtes Verhältnis eintritt; das relative Maximum (zur Körperlänge) der für die fötale untere Extremität geltenden Länge wird etwa im fünften Monat erreicht. In den Proportionen der oberen Extremität sind vom 3.—10. Monat keine auffallenden Veränderungen wahrnehmbar; an der unteren Extremität wird um die Mitte der Fötalperiode eine geringe Ver- längerung des Unterschenkels und Fußes ım Verhältnis zur ganzen Extremität erke nnbar.

Schon aus den angedeuteten wenigen Sätzen, die hier hervor- gehoben werden konnten, ergibt sich ohne weiteres eine Reihe praktischer Nutzanwendungen für das fernere Studium der Pro- portionen, deren Besonderheiten und Variationen einer genetischen Betrachtung bisher wenig zugänglich schienen. Auch die Rassen- anthropologie gelangt damit in ein neues Stadium, ihre Ergebnisse in ein neues Licht. Die Lehre von den Wachstumsgesetzen, in deren Gebiet es auch in anatomischer Beziehung noch viel zu tun gibt, hat mit den vorliegenden Untersuchungen eine überraschende Bereicherung ihrer tatsächlichen Grundlagen gewonnen. Die präch- tigen Lichtdruckt: ıfeln werden nicht nur den biologischen Spezial- [orschern, sondern vor allem auch dem Künstler eine Fülle von

Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube ? 485

Genuss und Anregung gewähren als Urkunden, die bestimmt sınd,

auch jenseits der Grenzen der von ihrem Autor hervorgehobenen

Probleme der Forschung dienstbar zu sein. [51] Dr. Richard Weinberg, Dorpat.

Naturwissenschaft oder Köhlerglaube? Von Prof. Dr. Aug. Forel.

Im Band 23 Nr. 16 und 17 (August 1903) des biologischen Centralblattes hat Pater Erich Wasmann S. J. unter dem Titel „Die monistische Indentitätstheorie und die vergleichende Psycho- logie* den Versuch gemacht, meine monistische Anschauung (Forel: Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen, München 1901 beı Ernst Reinhardt) zu widerlegen. Meine Zeit hat mir bisher eine Er- widerung nicht gestattet. Unterdessen hat Wasmann eine Des- zendenzlehre sui generis ausgearbeitet und zum besten gegeben, die neuerdings von K. Escherich, „Kirchliche Abstammungslehre (Beilage zur „Allgemeinen Zeitung“ vom 10. und 11. Februar 1905) vortrefflich kritisiert worden ist. Ich verweise auf letztere Ar- beit. Da Wasmann beginnt, Wanderapostel seiner neuen Lehre zu werden, halte ich es für meine Pflicht, ihm nun zu antworten. Wir müssen jedoch vorher, um den Wortgefechten der Sophismen zu entgehen, mit etwas Erkenntnistheorie beginnen.

Es sollte nachgerade nicht mehr über die erste Grundlage einer jeden Erkenntnistheorie diskutiert werden, nämlich über die folgen- den Punkte:

1. Dass wir nur Verhältnisse zwischen den Erscheinungen, die wir von den Dingen haben, kennen und kennen können.

2. Dass dasjenige, was wir Erscheinungen nennen nichts anderes als Symbole sind, durch welche die vermutete Realität der Außen- welt sich uns vermittelst unserer Sinne kundsibt.

3. Dass, obwohl wir die Realität (die vermutete „Wesenheit“) der äußeren Dinge nicht anders als symbolisch kennen, dennoch die Analogieschlüsse unserer Erfahrungen uns das Vorhandensein jener Außenwelt unbedingt nachweisen. Nur symbolisch bekannt, heißt nicht unbekannt. Wenn auch die blind, taubstumm und anosmisch geborene Laura Bridgmann die Außenwelt nur durch die Sym- bole des Tastsinnes erkennen konnte, hat selbst sie das Vorhanden- sein ihrer Realität sicher festgestellt. Obwohl einerseits die Hallu- zinanten das Vorhandensein unreeller Dinge wahrnehmen und somit auch oft irrtümlich wähnen, gelingt es uns anderseits leicht, durch die Kontrolle anderer Menschen darzutun, dass ihre Trugwahrneh- mungen eben Trug sind. Wir stellen dabei noch die folgende wichtige Tatsache fest, nämlich, dass jene Trugwahrnehmungen stets nur aus Erinnerungsbildern (Engrammen nach Semon) früh-

486 Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube?

erer Wahrnehmungen zusammengesetzt sind, die eine reelle Grund- lage hatten. „Nihil est intellectu (cerebro) quod non prius fuerit in sensu (intravit in cerebrum)“. Und somit dient selbst die Erscheinung der Trugwahrnehmung (auch der Träume) dazu, das Vorhandensein der reellen Außenwelt indirekt nachzu- weisen.

4. Dass somit ein Gegensatz zwischen objektivem Erkennen und subjektivem Erkennen nicht besteht. Wir erkennen überhaupt nur subjektiv. Das, was wir objektiv nennen, ist nur das Resultat der Vergleichung verschiedener subjektiver Reihen, resp. der An- gaben verschiedener Sinne untereinander. Dieses Resultat beruht auf unserem Abstraktionsvermögen und letzteres auf den Gesetzen des Gedächtnisses und der Assoziation oder der Engraphie (siehe Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im organischen Ge- schehen; Leipzig, Engelmann 1904). Als einziges Element der Erkenntnis bleibt somit die Empfindung. Diese ist uns in ihren (Jualitäten direkt gegeben. Nichtsdestoweniger können wir sie in- direkt analysieren und den Nachweis liefern, dass ıhr Zustande- kommen auf die Einwirkung zusammengesetzter Energiekomplexe (d. h. x-Elemente) der Außenwelt beruht, insbesondere, dass ihre (Jualitäten an und für sich keineswegs auf einheitlichen Vorgängen der Dinge beruhen, sondern uns nur direkt subjektiv einheitlich erscheinen. Ja, wir sind soweit gekommen, die komplizierten Be- dingungen teilweise festzustellen, unter welchen gewisse Empfin- dungsqualitäten entstehen oder nicht entstehen müssen (z. B. die Farbenempfindung „weiıß*). Die von den unsrigen ganz verschiedenen Bedingungen und Äußerungen des Geruchsinnes vieler Insekten ließen mich auf eine andere Qualität desselben (topochemischer Ge- ruch) schließen (Die psych. Fähig. d. Ameisen, München 1901 beı E. Reinhardt).

5. Die Naturwissenschaft beruht, wie das Erkennen überhaupt, auf der Vergleichung der Resultate unserer Sinnesempfindungen. Wir vergleichen und kontrollieren die Angaben unserer verschiedenen eigenen Sinne untereinander und (per Analogieschluss) mit den- jenigen der Sinne anderer Menschen, wie uns dieselben vermittelst der Symbolik der Sprache per Analogie bekannt gegeben werden. Dieses hat uns erlaubt, mit allerlei Hilfsmitteln soweit zu kommen, dass wir die ungeheuren Fehlerquellen, resp. Illusionen, welchen unsere unmittelbaren Sinneseindrücke leider ausgesetzt sind, immer genauer und sicherer zu korrigieren imstande sind. Nicht nur die immer sich wiederholenden und dadurch untereinander vergleich- baren Reize der Außenwelt helfen uns zu dieser Korrektur, sondern auch das gründliche Studium unserer eigenen Psychologie und ihrer Pathologie. Denn jede scheinbar direkt uns gegebene subjektive Empfindung (soweit sind wir glücklich in unserer Erkenntnis ge-

Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube? 487

kommen) stellt das kombinierte Resultat der direkten Einwirkung der Reize der Außenwelt auf unsere Sinne mit ihrer Verarbeitung in unserem Gehirn dar. Erkennen wir also alles zunächst nur sub- jektiv, so ist doch die sogen. objektive Erkenntnis, das heißt die sekundäre oder indirekte Verarbeitung und Vergleichung der verschiedenen subjektiven Reihen untereinander zum Hauptkon- trolleur des unmittelbaren Subjektivismus geworden, und zwar ledig- lich durch den wissenschaftlichen Analogieschluss. Hierbei vergisst aber der Mensch fast immer, dass die altgewohnten psychischen Elemente, mit welchen er arbeitet, nur das indirekte Resultat sekun- därer Verarbeitungen von Empfindungen, somit Abstraktionen sind. Er verfällt in den erkenntnistheoretischen Fehler, sie als unmittel- bar gegeben anzunehmen und verwechselt beständig seine eigenen sekundären Hirnprodukte mit dem direkten Spiel der Außenwelt auf seine Sinne. So tut z. B. der Gelehrte, der dıe Begriffe „Materie“ oder „Licht“ für „objektive Realitäten“ erklärt. Der Ausdruck „Energie“ bezeichnet nur das synthetische X für die vielen Detail- x der reellen Dinge, die uns von der introspektiven Seite unserer Hirntätigkeit versinnbildlicht und deren Sinnbilder dann von jener Tätigkeit überhaupt verarbeitet und geordnet werden. Man gestatte mir hier ein triviales Beispiel:

Wenn ich vor mir einen Apfel sehe, fühle und rıieche, so be- haupte ich, es läge ein reelles Ding der Außenwelt, der Apfel vor mir. Dieses Ding ıst aber kompliziert zusammengesetzt. Ich kann es teilen in räumlich getrennte Teile. Habe ıch die Hälfte des Apfels gegessen, so bleibt die andere Hälfte auf dem Tisch vor mir, während die erste Hälfte in meinen Magen gewandert ist. Selbst der enragierteste Spiritualist wird das Vorhandensein reeller Äpfel in der Außenwelt nicht leugnen, deren Symbole auf meine Sinne wie auf die Sinne unzähliger anderer Menschen in uns, d. h. in unsere Gehirne, allmählich den synthetischen Begriff Apfel gebildet haben. Der Begriff des einen konkreten Apfels besteht aber aus Sinnesqualitäten: Form, Resistenz, Farbe, Geruch, Geschmack ete. Diese Qualitäten, obwohl jede für sich mir sinnlich direkt gegeben, entsprechen jedoch jede an und für sich keiner besonderen äußeren Realität, sondern nur je einer besonderen sinnlichen Schwingungs- art in meinem Gehirn. Ich kann zwar ein Stück des Apfels vom übrigen trennen oder essen, weil jedes Atom des Apfels einer Re- alität entspricht, aber ich kann weder das Resistenzbild, noch die Gesichtswahrnehmung, noch die Geruchs- oder Geschmackswahr- nehmungen dieses bestimmten Apfels jedesfür sich allein wachsen lassen, oder essen, d. h. erzeugen oder verschwinden machen, ohne zugleich die anderen Qualitäten zu erzeugen oder zu verändern. Nenne ich also abstrakt den Begriff Apfel, so erkenne ich doch, dass dahinter einzelne Realitäten existieren, während umgekehrt die mir alleın

485 Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube ?

direkt psychologisch gegebenen Empfindungen meiner einzelnen Sinne keinen einzelnen getrennten von denjenigen der Empfindungen der anderen Sinne verschiedenen Realitäten entsprechen, sofern sie stets und untrennbar in einer. bestimmten Zusammensetzung er- scheinen oder verschwinden. In diesem Sinne muss ich erkennen, dass der Apfel eine Realität ıst, während sein Gesichtsbild, sein Resistenzbild, sein Geruchsbild und sein Geschmacksbild nur für mich verschiedene sinnliche Symbole der gleichen freilich recht kom- plizierten und in anderer Art zersetzbaren Realıtät sind. Einer einfacheren Realität entspricht die gesehene, gehörte und gefühlte gleiche Schwingung einer gleichen Stimmgabel. In diesem Sinne behaupte ich nun, sind unsere subjektiven Seelenerscheinungen keine Scelenrealität an und für sich, die von der Realität der Gehirn- tätigkeit verschieden wäre. Es sind nur für uns zwei verschiedene Erscheinungsformen der gleichen Realität. Die eine ist direkt ge- fühlt (die psychische), die andere indirekt (die sogen. objektive oder physiologische Hirntätigkeit), d. h. allerdings nur wissenschaftlich aus sekundären subjektiven Reihen erschlossen, aber deshalb nicht weniger feststehend. Da aber Seele und Gehirntätigkeit vonein- ander ın ihrem Erscheinen so untrennbar sind, wie der gesehene Apfel von dem betasteten Apfel, oder wie die gefühlte von der gehörten Stimmgabelschwingung, so schließen wir auf deren reelle Identität. Ich habe wiederholt erklärt, dass ich aus diesem ein- [achen Grunde den zweideutigen Ausdruck Parallelismus verwerfe, weil er einen falschen dualıstischen Begriff hineingeschmuggelt, indem er glauben lässt, es handle sich zwischen Psychologie und Physiologie des Hirns um zwei parallel einherlaufende „Dinge“, während es sich nur um zwei Erscheinungsformen der gleichen Re- alıtät handelt. Dies dürfen wir wissenschaftlich bestimmt behaupten, d. h. auf Grund von Analogieschlüssen annehmen, solange man uns nicht einwandfrei eine gehirnlose Seele oder ein seelenloses lebendes Menschenhirn dargestellt haben wird. Dass kranken Ge- hirnen eine kranke Seele entspricht, bestätigt natürlich nur die Iden- tıtätslehre. Davon zeugt die ganze Psychiatrie.

6. Die frühere Scholastik hatte beim Menschen zwei Formen des logischen Erkennens angenommen, die Deduktion und die In- duktion. Die Induktion oder der Analogieschluss liegt an der Basıs der Naturwissenschaft. Wir haben soeben unter 5 gezeigt, wie sie aus Sinnesempfindungen natürlich, ja instinktiv entsteht. Wie steht es aber mit der Deduktion? Aus sogen. Prämissen, deren absolute Richtigkeit man voraussetzt, zieht man einen Schluss, der ın den Prämissen enthalten sein muss. Nun sollte man nach- gerade wissen, dass die reine Mathematik allein uns absolut sichere Prämissen geben kann und dass gerade diese Mathematik uns den Nachweis liefert, wie der geringste Fehler in den Prämissen jeden

Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube ? 489

Schluss zum Trugschluss gestaltet. Was ist aber das, „die reine Mathematik?“ Das sind Gleichungen zwischen den reinsten Ab- straktionen, also den Zahlen. Ein großer Mathematiker sagte selbst, die Mathematik ist nur „eine andere Art, das gleiche zu sagen.* Sehr komplizierte Vorstellungen werden durch Zahlen oder Buch- staben versinnbildlicht und dann diese untereinander verglichen. Die Mathematik ist nur deshalb absolut wahr, weil sie nichts reelles enthält. Wenn ich sage, dass zweimal zwei vier ist, so ist es nur deshalb absolut wahr, weil zweimal zwei eine andere Art ist, den abstrakten Begriff vier auszudrücken. Hier kann man freilich ab- solut richtige Prämissen haben und deshalb bildet die Deduktion die einzige wahre mathematische Logik. Aber mit der reinen Mathematik kommen wir aus dem reinsten Nichts nicht heraus und sobald wir sie für reelle Dinge anwenden, so setzen ihre Berech- nungen immer die Richtigkeit der Analogıieschlüsse voraus, aus welchen unser symbolisches Erkennen der reellen Dinge besteht. Sıe fallen oder stehen mit derselben.

Der deduktive Schluss ıst demnach in den reinen Naturwissen- schaften so gut wie unbrauchbar. Er nützt nur bei mathematischen Hilfsformeln. In der Tat, wenn wir etwas Richtiges damit zu finden, resp. zu beweisen vermeinen, kennen wir tatsächlich dieses Richtige schon längst durch Analogieschluss. Es ist eigentlich nur ein kindliches Vergnügen, das wir uns machen, nachträglich Syllo- gismen (d. h. Prämissen und Schlüsse) zu konstruieren, um etwas nachzuweisen, das für uns schon längst feststand. Sobald wir je- doch mit Prämissen arbeiten, die irgendwie zweifelhaft sind, ist die ganze deduktive Spekuliererei der reinste Schwindel, das heißt, ein Kartengebäude von Sophismen, resp. Trugschlüssen.

Wir müssen also die scheinbar harmlose Kinderei, die darın besteht, wissenschaftliche Fragen mit Syllogismen behandeln oder gar lösen zu wollen, als direkt schädliche, notwendig zu Fehl- schlüssen führende Manier verurteilen. Zu dieser Überzeugung hat uns die erdrückende Macht der wissenschaftlichen Tatsachen, das heißt der, auf Grund induktiver Analogieschlüsse erzielten Resultate der Wissenschaft, geführt. Aus dieser festen Burg des mensch- lichen Erkennens dürfen wir uns nicht mehr vertreiben lassen, wenn wir nicht den Krebsgang des Obskurantismus wiederbeginnen wollen, der leider immer noch die größte Gefahr für den Menschen be- deutet, der „an Worte so trefflich glaubt, weil sich damit so trefflich streiten und sich kein Jota davon rauben lässt“, wie es Goethe so wunderbar gesagt hat.

7. Weitere Erkenntnisse gibt es für den Menschen nicht, als den Köhlerglauben, der da meint, einemehr oder minderanthropomorphisch gedachte „persönliche“ Weltallmacht (Gott) habe sich dem Menschen unmittelbar geoffenbart. Es ist hier nicht der Platz, darzulegen,

490 Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube?

wie aus solchem Köhlerglauben die anthropomorphischen Götzen persönlicher Gottheiten entstanden sind, deren Priester uns beständig mit ihren Machtsprüchen, indem sie sich als Anwälte jenes persön- lichen Gottes aufspielen, unser wissenschaftliches Denken und Wollen zu verkümmern versuchen. Zwischen der Induktionsmethode des Naturerkennens und dem Köhlerglauben gibt es keine Brücke. Entweder, oder; hie Rhodus, hic salta. Der Deduktionsschluss der Mathematik hat mit dieser Frage nichts zu tun, indem er sich nicht auf das Erkennen des Zusammenhanges zwischen den Er- scheinungen der Weltrealitäten bezieht. Er hat sich nur um Zahlengleichungen zu kümmern. Entweder hat sich das große Rätsel der Weltallmacht dem Menschen direkt geoffenbart oder nicht. Hat er es getan, so muss man es anders, als mit erwiesener- maßen falschen alten Legenden, Machtsprüchen, leeren und angeb- lichen Wundern beweisen können, die stets ın Nichts zerrinnen, sobald man die Wissenschaft hineinleuchten lässt.

Jedenfalls sollen die Köhlergläubigen bei ihrem wahren Köhler- glauben bleiben und aufrichtig bekennen „Wir glauben aus Gefühl, auch ohne Beweis und gegen die Beweise des Wissens.“ Sie sollen nicht immer wieder den Versuch machen, durch Wortgefechte die Begriffe zu verwirren. Letzteres tut aber leider auch Wasmann in hohem Maße in und außerhalb seiner wissenschaftlichen Ar- beiten, wie es ihm Escherich nachgewiesen hat.

Nun zu meiner spezielleren Antwort.

Die Ausführungen Wasmann’s gegen mich im biologischen Centralblatt sind nichts als leeres Wortgefecht und dies wird nach den obigen Auseinandersetzungen jeder unbefangene Leser selbst leicht herausfinden. Um nieht zu weitschweifig zu werden, will ich dies an einzelnen Sätzen nachweisen. Wasmann betrachtet Seele und Leib als voneinander reell verschieden und schreibt: „Die reelle Verschiedenheit des psychischen und des materiellen Elements wird dadurch gefordert, dass, wie auch v. Uexküll richtig hervorgehoben hat, die psychischen Erscheinungen der Empfindung und des Bewusstseins ihrem Wesen nach durchaus verschieden sind von jedermateriellen Energieform und daherauch nicht ein mecha- nisches Äquivalent einer materiellen Energieform sein können. Die physiologischen Vorgänge, welche die psychischen Erscheinungen be- gleiten, sind allerdings materieller Natur und unterliegen deshalb dem mechanischen Energiegesetze. Die psychischen Erscheinungen selber aber können diesem Gesetze nicht unterliegen, eben weil sie psy- chisch und nicht mechanisch sind. „Das sind leere Worte der beiden Autoren v. Uexküllund Wasmann. Der Ausdruck „mate- rielle Energieform“ ist nur die verallgemeinerte Abstraktion der Theorie der Außenwelt, wie wir sie durch die unzähligen Induktiv- schlüsse der Wissenschaft auf Grund unserer Empfindungen ge-

Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube? 491

wonnen haben. Hirnenergie und Empfindung oder Bewusstsein sind voneinander gerade so wenig in ihrem „Wesen“ verschie- den, wie die gehörte und die gesehene Schwingung der oben besprochenen Stimmgabel, insofern wir diejenige physiologische Großhirnenergie im Auge halten, die eben unseren Bewusstseins- erscheinungen entspricht. Sie sind nur formell, als Symbole ver- schieden, entsprechen aber im Gehirn einer gleichen Realität. Alles Wortgefecht kann darüber nicht hinweghelfen. Wäre die direkt psychische Seite (Empfindung, Bewusstsein) jener Realität etwas anderes, als die indirekt psychisch erkannte Seite derselben (Hirntätigkeit), so wären alle Tatsachen, die uns die Psychiatrie, die Hirnpathologie, die Hirnphysiologie und der Hypnotismus ver- raten, undenkbar. Zu dieser Erkenntnis führt uns also die Induk- tion, das heißt der Analogieschluss. Wir sehen, wie jede Verände- rung der Hirntätigkeit oder des Neurokyms sich durch eine ent- sprechende Änderung der Seele ausdrückt. Das eine schwindet und entsteht für uns mit dem anderen, genau wie die verschiedenen Sinnessymbole mit der „Schwingung“ der oben besprochenen Stimm- gabel. Denn das Wort „Schwingung der Stimmgabel“ bezeichnet nur die synthetische Abstraktion, die unser Denken aus der Ver- gleichung und Verarbeitung der Empfindungen verschiedener Sinne gebildet hat, um auszudrücken, dass sich dabei erwiesen habe, es handle sich nur um ein gleiches reelles Ding (die Schwingung). Das Wort „physiologische Hirntätigkeit“ bezeichnet ebenfalls nur die synthetische Abstraktion, die unser Denken aus der Vergleichung und Verarbeitung derjenigen Sinnesempfindungen bildet, die sich auf sein eigenes Organ, unser Gehirn, und seine Tätigkeit (von außen sinnlich apperzipiert) beziehen, und beweisen, dass nur Varie- täten des gleichen Neurokyms an der Basis einer jeden wahrge- nommenen Hirntätigkeit liegen. Unser Denken vergleicht dann aber zweitens noch die physiologische Hirnthätigkeit mit seiner direkten psychologischen Introspektion ın diesem seinem gleichen Organe. Daraus entsteht die physiologische Psychologie, die aus dem gleichen Grunde zur Identitätslehre führt, weıl sie die Untrennbar- keit von Neurokym und Empfindung als Realitäten dartut. Damit allein fallen alle weiteren Ausführungen Wasmann’s. Doch wollen wir ıhm ım Detail folgen.

Wasmann behauptet, ich stelle die vergleichende Psychologie der Nervenphysiologie gegenüber. Ich’ stelle beide nach dem eben Gesagten nicht einander gegenüber, sondern betrachte sie als zweı Forschungsmethoden der gleichen Realität.

Er behauptet weiter: „Dass das Denken seiner Realität nach nichts mehr sei als ein materieller Gehirnprozess, ist zwar eine Behauptung, die bereits so alt ist wie die materialistische Welt- anschauung“ und so fort. Wir haben aber niemals behauptet, dass

492 Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube ?

„das Denken ein materieller Gehirnprozess sei“. Das sind eben die sophistischen Wortgefechte, mit welchen man das wissenschaftliche Denken (die Induktion) deduktiv verwirrt. Nochmals müssen wir es laut sagen: Die Materie kennen wir nicht. Die Worte Materie und Energie sind nur Notausdrücke für die uns unbekannte Realität der Außenwelt und wir wollen da- mit nicht das Wesen der Welt und unseres Ich, sondern nur ihr gegenseitiges Verhältnis erklären. Wenn wir be- haupten, dass die physiologische Hirntätigkeit und das Denken reell (nicht formell) identisch sind, „vergeistigen“ wir oder wenn man will „verseligen“ wir unsere Hirntätigkeit eigentlich viel aus- drücklicher, als wir unsere Seele „materialisieren“, denn unsere seelische Empfindung ist uns unmittelbar gegeben, während die von uns sogen. Außenwelt nur von den Herren Theologen und von Herrn Wasmann an der Spitze, willkürlich als seelenlose Materie dualistisch herabgewürdigt wird. Dass aber die Sinnes- empfindung ihrem Wesen, somit ihrer Realität nach von jedem materiellen Vorgang grundverschieden sei, wie Wasmann be- hauptet, ıst eben nichts, als eine leere Behauptung, die erst nach- gewiesen werden muss und für welche nicht der mindeste Beweis vorliegt. Grundverschieden vom Neurokym erscheint für uns die Empfindung nur durch ihre subjektive Qualität, wie die gehörte Stimmgabelschwingung uns von der gesehenen grundverschieden erscheint, also nur formell und nicht reell. Das Reelle können wir überhaupt nur erschließen und nicht empfinden. Nun zitiert Wasmann meine eigenen Worte: „Mit dem Wort Identität oder Monismus sagen wir, dass jede psychologische Erscheinung mit der ıhr zugrunde liegenden Molekular- oder Neurokymtätigkeit der Hirnrinde ein gleiches reelles Ding bildet, das nur auf zweierlei Weise betrachtet wird. Dualistisch ıst nur die Erscheinung, mo- nistisch dagegen das Ding. Wäre dem anders, so gäbe es, durch das Hinzutreten des rein Psychischen zum Körperlichen oder Cere- bralen, ein Plus an Energie, das dem Gesetze der Erhaltung der Energie widersprechen müsste. Letzteres ist jedoch niemals er- wiesen worden und würde allen Erfahrungen der Wissenschaft Hohn sprechen. In den Erscheinungen unseres Hirnlebens, so wunderbar sie auch sind, liegt absolut nichts, das den Natur- gesetzen widerspricht und die Herbeirufung einer mystischen über- natürlichen „Psyche“ „berechtigt...“ „In der Tat kann eine dualistisch gedachte Seele nur energielos oder energiehaltig sein. Ist sie energielos gedacht (Wasmann), d. h. vom Energiegesetze unabhängig, so sind wir bereits bei dem Wunderglauben angelangt, der die Naturgesetze nach Belieben aufhebt und stören lässt. Ist sie energiehaltig gedacht, so treibt man damit nur Wortspiel; denn eine dem Energiegesetz gehorchende (separate) Seele ist nur ein

Zacharias, Forschungsberichte aus der Biologischen Station zu Plön. 493

willkürlich aus dem Zusammenhang gerissener Teil der Gehirn- tätigkeit, dem man nur „seelisches Wesen“ verleiht, um es ıhm gleich wieder wegzudekretieren.“ Wasmann sucht dies zu wider- legen, während ich daran festhalte. Wasmann schreibt: „Die ganze logische Beweiskraft dieser Argumentation beruht offenbar auf der Voraussetzung, dass das mechanische Energiegesetz eine absolut allgemeine Geltung haben müsse, nicht bloß für die ma- teriellen, sondern auch für die sogen. psychischen Vorgänge ... Wenn aber das Denken in sich selber keine mechanische Energie- form ist, dann ist es völlig gegenstandslos, sich für die Identität des Psychischen mit den materiellen Gehirnprozessen auf das me- chanische Energiegesetz zu berufen.“

Hierauf ist zu erwidern, dass wir gar nicht voraussetzen, son- dern beobachten. Ich muss annehmen, dass Wasmann weder die Gehirnphysiologie, noch die Psychiatrie, noch den Hypnotismus gründlich kennt, sonst könnte er seine Behauptung nicht aufrecht erhalten. Der Denkfehler wird hier mit dem Worte Energieform begangen. Der Begriff der Energie, wie der Begriff der Materie, ist nur ein abstrakter verallgemeinerter Notbegriff, wie schon oben gesagt. Wasmann muss uns erst beweisen, dass das Energiegesetz keine absolute Geltung habe. Er muss uns das separate Bestehen einer Seele ohne Hirn oder von der Hirntätigkeit unabhängig wissenschaftlich nachweisen. Er hat es freilich versucht, indem er sich auf angebliche Wunder am anderen Orte berufen hat, z. B. eine Wunderheilung in Lourdes, bei welcher eine langjährige Pseud- arthrose plötzlich von der heiligen Jungfrau dort in einen festen Knochen umgewandelt worden sein soll, als Beweis angeführt, dass der Schöpfer auch heute noch zuweilen das Energiegesetz zuschanden macht. Nach Wasmann sollen zwei holländische Ärzte diesen geheilten Knochen vor und nach der Heilung untersucht und die Sache beglaubigt haben. Warum ist dieser berühmte Fall aber nur in katholischen Schriften beglaubigt? Warum scheuen sich die ärztlichen Beglaubiger derartiger Wunderdinge vor einer ein- wandfreien und sachkundigen Nachprüfung solcher haarsträubender Behauptungen? Im Dunklen wird diese Wunderwissenschaft ge- trieben, ungefähr wie diejenige aller Kurpfuscher und sogen. Natur- heilkünstler. Jede derartige Behauptung ist bis jetzt, sobald sie an das wissenschaftliche Tageslicht gebracht werden konnte, ın ihrer ganzen rohen Nichtigkeit zerronnen. (Schluss folgt.)

Forschungsberichte aus der Biologischen Station zu Plön. Herausgegeben von Dr. Otto Zacharias. Teil XII. Stuttgart, Erwin Naegele, 1905. Die biologische Station zu Plön entwickelt sich unter der tat- kräftigen Leitung ihres Gründers, Dr. Otto Zacharias, immer

494 Zacharias, Forschungsberichte aus der Biologischen Station zu Plön.

mehr zur Zentralstelle für Süßwasserbiologie und Planktonkunde. Das beweist aufs neue der soeben erschienene 12. Teil der „For- schungsberichte“, der sich mit einem Umfang von 418 Seiten,

Tafeln, 3 Tabellen und 34 Abbildungen im Text würdig seinen Vorgängern anreiht; aber nicht nur an Umfang, sondern auch an Mannigfaltigkeit des Inhalts.

Es sei uns gestattet, an dieser Stelle ein kurzes Bild von der Reichhaltigkeit des Bandes zu geben. Den Reigen eröffnet der Direktor der biologischen Station selbst, Dr. Zacharias, mit einem Aufsatz: „Uber die systematische Durchforschung der Binnen- gewässer und ıhre Beziehung zu den Aufgaben der allgemeinen Wissenschaft vom Leben.“ Er versteht es, auch demjenigen, der nicht Fachmann ist auf diesen Gebieten, die Bedeutung derartiger Forschungen klar zu legen, sowohl in theoretischer als auch in praktischer Beziehung. Und wenn er zum Schlusse kommt: „Im nationalökonomischen Interesse sowohl als auch in dem der Wissen- schaft liegt es also, dass die Bestrebungen der Süßwasserbiologie und diejenigen der fortgeschrittenen modernen Teichwirtschaft regierungsseitig möglichst gefördert werden, zumal da allen Unter- suchungen der Meeresforschung zugunsten der Seefischerei schon seit Jahren das Wohlwollen des Staates und der gesetzgebenden Körperschaften in einer Weise zuteil geworden ist, welche als ein Maximum tatkräftiger Unterstützung betrachtet werden kann. Die Zukunft der biologischen Forschung und auch die- jenige des Fischereiwesens liegt aber sicher nicht ledig- lich auf dem Meere, sondern ebensowohl im Schoße un- serer binnenländischen Tümpel, Teiche und Seebecken,“ so wird ihm jeder Leser gerne beipflichten.

Franz Ruttner (Prag) berichtet als zweiter über seine mit Unterstützung der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissen- schaft, Kunst und Literatur in Böhmen ausgeführten Untersuchungen:

„Über das Verhalten des Oberflächenplanktons zu verschiedenen Tageszeiten im Großen Plöner See und in zwei nordböhmischen Teichen.“ In dieser auf exakten Beobachtungen fußenden Abhand- lung weist Ruttner vertikale Wanderungen vieler Planktonorga- nismen nach, die wahrscheinlich als ein biologischer Vorgang, der in seinen Hauptzügen durch das Verhalten dieser Organismen zum Lichte bestimmt wird, anzusehen sind, ım Gegensatz zu Ostwald, der ın physikalischen Verhältnissen, speziell die innere Reibung des Wassers, den Hauptfaktor suchte.

Frau Dr. Rina Monti, Privatdozentin in Pavia, referiert sodann über „Physiologische Beobachtungen an den Alpenseen zwischen dem Vigezzo- und dem Onsernonetal (1904)“. Diese in- teressante Studie, die sich auf 4 kleine Seen, alle über 1900 m Meereshöhe gelegen, erstreckt, berücksichtigt nicht nur das Plankton, sondern auch das Leben im Seegrund. Wichtig ıst namentlich eine, die Untersuchungen Ruttner’s trefflich ergänzende Beobachtung, dass die Planktozoen in diesen kleinen Wasserbecken statt verti- kale, horizontale Wanderungen ausführen; sie verlassen die sonnigen

Zacharias, Forschungsberichte aus der Biologischen Station zu Plön. 495

Seeteile und sammeln sich zu dichten Schwärmen da an, wo das Wasser ruhig im Schatten liegt.

Ein Sammelreferat über „Bisherige Resultate varıations- statistischer Untersuchungen an Planktondiatomaceen“, von P. Vogler, St. Gallen, schließt sich an. Die kleine Arbeit, erläutert durch 2 Tafeln und 8 Abbildungen ım Text, zeigt die große Be- deutung, welche der Variationsstatistik für planktontologische Unter- suchungen zukommt.

Nur kurz erwähnen wollen wir die sehr hübsche Studie von Dr. OÖ. Zacharias über „Franz von Leydig’s Anteil an der Er- forschung der einheimischen Süßwasserfauna®. Interessante und wichtige Resultate enthält eine weitere Arbeit von Dr. Max Voigt (Leipzig): „Die vertikale Verteilung des Planktons im Großen Plöner See und ihre Beziehungen zum Gasgehalt dieses Gewässers.“ Es werden darın die jährlichen und täglıchen Wanderungen einer großen Zahl von Planktonten genau verfolgt, dabei zugleich auch der Gehalt des Wassers an N, O und CO, ın den verschiedenen Schichten bestimmt, Dabei ergab sich namentlich deutlich ein Zu- sammenhang zwischen dem CO,-Gehalt des Wassers und der Massen- entwickelung des Phytoplanktons. Je mehr pflanzliches Plankton, um so weniger CO,; vom Dezember bis April, wo das Phyto- plankton überwiegt, ist in der ganzen Wassersäule keine Spur von Kohlendioxyd vorhanden. In anderen Zeiten verhalten sich die verschiedenen Tiefenzonen verschieden.

Kapitel VII und VIII bilden zwei kleine Abhandlungen von E. Lemmermann (Bremen) über „Brandenburgische Algen; neue Formen“ und „Beiträge zur Kenntnis der Planktonalgen“. Der bekannte Algenspezialist setzt hier seine in den Plöner Berichten und anderen Zeitschriften ‘begonnenen Mitteilungen fort. Wir möchten bei diesem Anlass nur einem Wunsche einmal Ausdruck geben, mit dem Verwenden von Personennamen bei der Taufe neuer „Arten“ etwas sparsamer umzugehen; Lemmermann be- schreibt z. B. auf den S Seiten seiner ersten Mitteilung neu: eine Oscillatoria schultzü, eime Lyngbya hieronymusii und kindani, eine Salpingoeca marssonii und eine Lepocinchs marssonü. Wohm soll das schließlich führen?

In der klaren Erkenntnis, dass für denjenigen, der die bıo- logische Gewässerkunde zu seiner Spezialität gemacht, vergleichende Beobachtungen an Seen der verschiedensten Gebiete notwendig seien, unternahm Dr. Zacharias im Frühjahr 1904 eine Studien- reise nach der Schweiz und Italien. Über eine Menge eigener Beobachtungen und Anregungen berichtet er sehr einlässlich unter dem Titel: „Hydrobiologische und fischereiwirtschaftliche Beob- achtungen an einigen Seen der Schweiz und Italien“ (mit 18 Ab- bildungen). Der Berichterstatter führt uns an den Genfersee, Züricher- see, Vierwaldstättersee, Lago Maggiore, Lago di Lugano, Lago di Como; nach Mailand, "Verona, Modena, Florenz, Rom, Pavia, an den Gardasee, und zum Schluss noch nach Ne :apel und Venedig. In buntem Wechsel entrollt er vor uns ein Bild von dem, was da

496 Berichti&ung.

überall in Erforschung des Süßwassers geleistet worden ist. Er stellt uns die Hauptvertreter der Süßwasserbiologie der verschie- denen Gebiete, von der Planktontologie bis zur praktischen Fisch- zucht, vor. Dass Zacharias manche interessante Einzelbeobachtung da und dort machte, ıst eigentlich selbstverständlich. Die Lektüre dieser Arbeit muss also nicht nur denjenigen, welche einen kurzen Überblick über den Stand der Süßwasserbiologie in Europa wün- schen, sondern auch dem, der neue Beobachtungen sucht, empfohlen werden.

Von vier weiteren Originalarbeiten müssen wir uns mit der Angabe der Titel begnügen: Eine „biologische Studie“ von Dr. Max Wolff (Berlin) behandelt: „Das Ephippium von Daphnia pulex* ; Zacharias teilt exakte „Beobachtungen über das Leuchtvermögen von Ceratium tripos“ mit, und referiert über „die Station für Fisch- zucht und Hydrobiologie an der Universität Toulouse“; D. J. Scour- field (Leytonstone, England) endlich untersuchte „Die sogenannten ‚Riechstäbchen‘ der Cladoceren“.

Den Schluss des Bandes bildet ein „Bericht über die Literatur der biologischen Erforschung des Süßwassers ın den Jahren 1901 und 1902“, verfasst von Prof. Dr. K. W. v. Dalla Torre (Inns- bruck). Der Verfasser gedenkt, diesen Bericht von Jahr zu Jahr fortzuführen. Welche ungeheure Arbeit in einem solchen Bericht steckt, ergibt eine kurze Durchsicht der 60 Seiten. Dem Süß- wasserbiologen wird er zum Nachschlagen fast unentbehrlich sein. Der Wert ist noch ve rgrößert dadurch, dass bei den wichtigeren Arbeiten ganz kurze Inhaltsangaben beigesetzt sind.

Soviel zur Charakterisierung des vorliegenden ande; die kurze Übersieht über den Inhalt desselben spricht eigentlich für sich selbst, so dass wir uns einer weiteren Würdigung enthalten dürfen. Wir wünschen dem verdienten Herausgeber dieser Be- richte, dass seinem Unternehmen auch fernerhin die Sympathien der Behörden und Privaten aller interessierten Kreise bewahrt bleiben mögen. Dass seine Tätigkeit eine fruchtbringende ist, hat er genugsam bewiesen!

Es sei zum Schlusse noch darauf aufmerksam gemacht, dass die Plöner Forschungsberichte vom 1. Juli 1905 ab "vierteljähr- lıch ausgegeben werden unter dem Titel: „Archiv für Süßwasser- biologie und Planktonkunde*; eine Neuerung, die gewiss von allen Seiten begrüßt werden wird. [49]

St. Gallen (Schweiz), im April 1905. Prof. Dr. P. Vogler.

Druckfehlerberichtigung.

Seite 349, 8. Zeile von unten soll stehen: Befruchtungsorganen statt Befruchtungen; Seite 350, 7. Zeile von oben soll stehen: Ichthyotaenia percae statt Ichthyotaeniapereae; sag 351, 5. Zeile von oben soll stehen Sexualorgane statt Suxualorgane; Seite 352, 2. Zeile von oben soll stehen: bisher noch statt hinternach.

V erlag von ; Georg Thieme in Te: ipzig Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt,

Unter Mitwirkung von

Dr.K-Goebel wd. Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

RRXV.Bad. 1. August 1905. Ne 15.

Inhalt: Doflein, Beobachtungen an den Weberameisen (Oecophylla smaragdina). Zierler, Bei- träge über die Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der fossilen Suiden. Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube? (Schluss). Locb, Studies in General Phy- siology. Kuckuck, Der Strandwanderer, Deutscher Verein für Öffentliche Gesund- heitspflege.

Beobachtungen an den Weberameisen. (Oecophylla smaragdina.) Von Dr. F. Doflein.

In diesem Jahrgang des biologischen Zentralblattes hat Forel Beobachtungen Göldis an südamerikanischen Ameisen veröffent- licht und dabei hervorgehoben, dass Göldi durch die Feststellung dass Componotus senex Smith seine Nester in ähnlicher Weise wie Oecophylla smaragdina baut, eine willkommene unabhängige Bestätigung der Ridley’schen Beobachtung gegeben habe. Dies gibt mir den Mut, einige Erfahrungen zu veröffentlichen, welche ich ın Ceylon an den Nestern von Oecophylla smaragdina gesammelt habe und welche die wunderbare Tatsache bestätigen, daß diese Ameisen beim Bau ihrer Nester ihre Larven als Werkzeug benützen. Auch wird es vielleicht von Wert sein, wenn ich eine Anzahl von Ab- bildungen abdrucken lasse, welche nach meinen Präparaten und den nach der Natur angefertigten Skizzen gemacht wurden. Ich hebe jedoch hervor, dass ich nur ganz gelegentlich und nebenher diese Beobachtungen gemacht habe, da meine Reise ganz andere Zwecke verfolgte; unvorbereitet trat ich diesen seltsamen Er- scheinungen gegenüber, welche sofort meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.

XXV. s

(sb) [86]

498 Doflein, Beobachtungen an den Weberameisen.

Es wird am zweckmäßigsten sein, wenn ich meine sämtlichen Tagebuchnotizen über Oecophylla smaragdina mitteile, da sich aus ihnen am klarsten die Übereinstimmung meiner Beobachtungen mit

denjenigen Rid- Fig. 1. leys ergibt.

Zum erstenmal sah ich die Tiere, als ich bei einem Aufenthalt von we- nigen Stunden den botanischen Garten der Insel Penang in der Straße von Ma- lakka besuchte. Ich fand dort auf Bäu- men eine Anzahl der kugligen Blatt- nester einer roten ziemlich großen Ameise. Ein Ver- such, diese Nester zu untersuchen, wurde zunächst von den tapferen Tieren erfolgreich abge- schlagen. In we- nigen Augenblicken war ich von mehr als hundert Amei- sen bedeckt, welche mit ıhren scharfen Mandibeln ın die Haut meiner Hände und Beine, meines Halses und Ge- sichtes bissen und mich stachen. Ihre Stiche und Bisse sind ganz außer-

Blattnest (Hauptnest) von Oecophylla smaragdina. ordentlich schmerz- haft, und ich hatte

minntenlang zu tun, um meine Angreifer los zu werden. Schließ- lich gelang es mir aber doch, eines der Nester aufzureißen. Man konnte deutlich erkennen, dass die lebenden Blätter des Baumes zum Nestbau verwendet waren und zwar in ganz einfacher

Doflein, Beobachtungen an den Weberameisen. 499

Weise, indem sie nur zusammengebogen waren und indem ihre Ränder mit einer seidenartigen Masse zusammengewoben waren. Diese selbe Masse füllte auch alle Lücken und Öffnungen zwischen den Stielen u. s. w. aus. Ferner konnte ich damals schon er- kennen, dass die Blätter auf der Innenseite von zahlreichen Schild- läusen bedeckt waren. Leider reichte aber die Zeit zu weiteren Beobachtungen nicht aus.

Ich hatte aber bald Gelegenheit die Bekanntschaft der gleichen Ameisenart zu erneuern, da Oecophylla smaragdina im tropischen Indien, Indonesien und Polynesien weit verbreitet ist. Im Dschungel von Nordceylon traf ich das Tier oft, und es machte sich mir häufig in der unangenehmsten Weise bemerkbar, wenn ich etwa beim Streifen durch die Büsche an einen Ast stieß, an welchem ein Nest hing. Die Blattnester sind ja meist noch vollkommen grün, die Blätter leben alle noch, und so fällt es oft schwer, sie im Blattwerk eines Baumes oder Strauches zu erkennen. Am un- angenehmsten waren die Überfälle der Ameisen, wenn ich gerade einen Vogel oder sonst ein interessantes Tier in seiner Tätigkeit beobachtete; es ist fast unmöglich, ganz still zu halten, wenn man am ganzen Körper mit den ätzenden Bissen des kleinen Gegners bedeckt wird. In Vavuniya Vilankulam hatte ein Volk der roten Weberameise, wie man das Tier mit einem deutschen Namen wohl bezeichnen kann, seine Behausungen ganz in der Nähe des Häuschens, in welchem ich wohnte, aufgeschlagen. Das Hauptnest befand sich an einer unzugänglichen Stelle, aber an den Schlingpflanzen, welche das Haus überwucherten, hingen zahlreiche kleine Nebennester. Wo eine größere Kolonie von Schildläusen die Blätter bedeckte, hatten die Ameisen dieselben zusammengebogen und miteimander durch Gespinste verbunden. In diesen Nestern oder besser gesagt zeit- weiligen Behausungen fanden sich nur Arbeiterinnen, Larven und Geschlechtstiere fehlten vollkommen. Solche Nebennester werden nur für die Dauer ihrer Ausnützung errichtet; man findet sie oft verlassen an den Bäumen, und da sie oft abgestorben sind viel- leicht infolge der Schädigung der Blätter durch die Schildläuse so sind sie an den Bäumen weithin bemerkbar und sehen ähnlich aus wie etwa in unseren Breiten die Raupennester. Ich sah die Ameisen ihre Nebennester eifrig besuchen und ein unablässiger Strom von Arbeiterinnen bewegte sich auf den Zweigen, welche die Neben- nester untereinander und mit dem Hauptnest verbanden. Ubrigens schienen die Nebennester nicht einem Staat anzugehören, sondern das Eigentum von mindestens zwei verschiedenen Staaten zu sein. Denn ich bemerkte, dass Individuen, welche ich aus emem Neben- nest herausnahm und auf ein anderes versetzte, von den Insassen des letzteren hinausgebissen wurden-

Ich suchte natürlich sofort dem Geheimnis der Bauweise bei

32*

500 Doflein, Beobachtungen an den Weberameisen.

dieser Ameise auf den Grund zu kommen. Die Beobachtungen von Ridley, Green und Holland waren mir unbekannt und ich hatte nur in Chuns Reisewerk über die deutsche Tiefseeexpedition eine Notiz über die Verwendung der Larven zum Bau bei eimer west- afrıkanıschen Ameise gelesen. Ich wusste nichts von der weiten Verbreitung der Gattung und so dachte ich zuerst an die Möglich- keit einer anderen Baumethode, wobei mich zwei Beobachtungen irre leiteten. Ich hatte gesehen, dass der von den Schildläusen auf der betreffenden Pflanze ausgeschiedene süße Saft sich zu langen Fäden ausziehen ließ, welche sich sehr lange erhielten. Das brachte mich auf den Gedanken, dass die Ameisen dies fremde Produkt beim Bau ihrer Nester werwenden könnten, und eine Ameise, welche Teile eines Spinnennetzes in ihren Mandibeln fortschleppte, war die Ursache zu der zweiten falschen Annahme ähnlicher Art.

Leider hatte ich dort nie Gelegenheit, die Tiere beim Neubau eines Nestes zu überraschen und auch die von mir geöffneten und beschädigten Nebennester wurden von den Besitzern verlassen und nicht wieder repariert.

Ähnlich erging es mir später in Peradeniya, wo meine Zeit hauptsächlich durch Termitenstudien in Anspruch genommen war. Obwohl mich der vortreffliche Regierungsentomologe Mr. Green mit seinem Rat und seiner Hilfe unterstützte, konnte ich dort nur einige Stadien des Nestbaues sehen und konnte nur Material von Nestern und Ameisen und den sie ın der Form und Färbung nach- ahmenden Spinnen sammeln.

Ich musste Peradeniya verlassen und der letzte Tag meines Aufenthaltes in Oeylon war herangekommen. Es schien, als müsse ich in die Heimat zurückkehren ohne die Oecophylla, für welche mich das stärkste Interesse erfasst hatte, bei der Bautätigkeit beobachtet zu haben. Ich wollte aber noch einen letzten Versuch wagen und begab mich am Morgen vor der Abreise in aller Frühe in die nächste Umgebung von Colombo und war auch so glücklich, nach ganz kurzem Suchen einen Baum zu entdecken, an welchem sich zahlreiche Nester von Oecophylla befanden. Allerdings war es ein hoher Baum und ich musste weit in die Krone hinaufklettern und auf einem dünnen Ast eine krampfhafte Stellung einnehmen, um die Tiere beobachten zu können. So war ich aber ganz in die Nähe eines großen Nestes gelangt, welches von hunderten von Arbeiterinnen, von Geschlechtstierent) und von zahlreichen Larven bevölkert war. Ich konnte dies feststellen, als ich einen Riss in der Wandung des Nestes anbrachte. Aus ıhm stürzten die wehr- haften Insassen sofort in Mengen hervor und ich spürte an allen Teilen meines Körpers ihre schmerzhaften Bisse. Die Weberameise

1) Auffallenderweise lauter Männchen.

Doflein, Beobachtungen an den Weberameisen. 501

ist ein guter Verteidiger der Bäume, auf denen sie sich angesiedelt hat; ihrer Beisswut ist es wohl auch zuzuschreiben, dass nicht früher das Geheimnis ihrer Bautätigkeit gelüftet wurde. Sie macht auch die Mimiery der Spinne Saltieus platatoides zu einer wirksamen Schutz- anpassung.

Nachdem ich mit Mühe meine Haut und meine Kleider von den kleinen Angreifern gereinigt hatte, welche zum Teil eher ihre Köpfe abreissen ließen, als dass sie ihre Mandibeln öffneten, konnte ich beginnen, das Nest selbst und seine Insassen zu beobachten.

Die Oberfläche des_Nestes und alle zuführenden Äste waren mit Arbeiterinnen bedeckt, welche nur auf den zwei hinteren Bein- paaren standen und die vorderen samt den Antennen drohend in

Er er

Arbeiterin von Oecophylla smaragdina in Abwehrstellung.

die Höhe streckten und die Mandibeln weit aufrissen, bereit, auf jeden Gegner sich zu stürzen (vgl. Fig. 2). Es war ein entzückender Anblick, alle diese schön rot gefärbten Tiere von dem satten Grün des tropischen Laubwerks sich abheben zu sehen. Zu gleicher Zeit hörte man andauernd ein knisterndes, raschelndes Geräusch. Es war dies durch das Einhaken und Loslösen der feinen Krallen an den glatten Blattoberflächen verursacht. Diese Krallen müssen für das Leben auf den vielfach so ausserordentlich glatten Blättern der tropischen Bäume ein sehr geeignetes Hilfsmittel sein. Einige Exemplare waren, wie ich das auch bei anderen Nestern schon beobachtet hatte, durch eine merkwürdige Durchsichtigkeit des Hinterleibes ausgezeichnet. Diese ist jedenfalls durch den süßen Saft der Schildläuse hervorgerufen; denn ich fand sie vor allem

502 Doflein, Beobachtungen an den Weberameisen.

bei den Exemplaren, welche sich in schildlauserfüllten Blattnestern aufhielten. Der Hinterleib ist bei diesen Exemplaren sehr stark aufgetrieben, es sind die Chitinlamellen der Segmente meist von- einander getrennt und die intersegmentalen Häutchen stark gedehnt. Es ist aber sehr auffallend, dass die ganzen Gewebe durchsichtig werden, als seien sie von dem Saft imprägniert. Ich habe nieht mit Sicherheit feststellen können, ob es sich um besondere Indi- viduen handelte, welche diese Durchsichtigkeit zeigen, und empfehle diesen Punkt der Beachtung künftiger Beobachter. Es wäre hoch- interessant, ließe sich hier eine Vorstufe der Honigtöpfe von Myr- mnecocystus, Melophorus und Plagiolepis nachweisen.

Fig. 3.

Reparatur eines Spaltes im Nest von Oecophylla smaragdina.

Während noch die Hauptmasse der Tiere zur Verteidigung des Nestes sich anschickte, sonderte sich von ihnen eine kleine Truppe ab, welche sich an dem von mir in der Nestwand angebrachten Rıss zu schaffen machte. Sie stellten sich in ganz merkwürdiger Weise ın einer geraden Reihe auf, wie dies die Abbildung Fig. 3 zeigt. An der einen Seite des Spaltes hatten sie mit ihren Mandibeln den einen Blattrand erfasst, auf der anderen Seite des Spaltes krallten sie sich mit allen 6 Füßen an der Blattoberfläche fest. Dann zogen sie ganz lang- sam und behutsam an, setzten ganz vorsichtig einen Fuß nach dem andern etwas rückwärts und so sah man ganz deutlich die Ränder des Spaltes sich allmählich einander nähern. Es war ein bizarrer

a

Doflein, Beobachtungen an den Weberameisen, 9053

Anblick, die Tiere alle einander ganz parallel aufgestellt bei der Arbeit zu sehen.

Nun kamen andere herbei und fingen an, den Rändern des Spaltes entlang die Reste des alten Gewebes sorgfältig weg- zuschneiden. Sie bissen mit ihren Mandibeln das Gewebe durch und zerrten so lange daran, bis es in Fetzen sich loslöste, Solche Fetzen trugen sie in den Mandibeln an eine exponierte Stelle des Nestes und ließen sie im Winde davonfliegen, indem sie die Man- dibeln bei einem Windstoß weit öffneten. Ich sah auch, wie eine ganze Reihe von Ameisen zusammen einen großen Fetzen des Gewebes auf eine Blattspitze hinaustrugen und wie sie dort wie auf Kommando gleichzeitig ihre Mandibeln öffneten und so das große Stück fortflattern ließen.

Das dauerte fast eine Stunde, dann kam plötzlich ein stärkerer Windstoß, entriss den am Spalt ziehenden Ameisen dessen Ränder

Fig. 4.

und machte die ganze Arbeit nutzlos. Aber die Tiere ließen sich in ihrer Tätigkeit nicht beirren. Von neuem stellte sich eine lange Reihe am Spalt auf und nach einer halben Stunde hatten sie dessen Ränder einander wieder ziemlich nahe gebracht.

Schon verzweifelte ich an der Möglichkeit die Hauptsache zu sehen, da kamen aus dem Hintergrunde des Nestes mehrere Ar- beiterinnen hervor, welche Larven zwischen ihren Mandibeln hielten. Und sie liefen nicht etwa mit den Larven davon, um sie in Sicher- heit zu bringen, sondern sie kamen mit ihnen gerade an die ge- fährdete Stelle, an den Spalt. Dort sah man sie hinter der Reihe der Festhalter herumklettern und ganz eigenartige Kopfbewegungen ausführen. Sie hielten die Larven sehr fest zwischen ihren Man- dibeln, so dass diese in der Mitte ihres Leibes deutlich zusammen- gedrückt erschienen (vgl. Fig. 4). Vielleicht ist der Druck von Wichtigkeit, indem er die Funktion der Spinndrüsen anregt. Es sah ganz merkwürdig aus, wenn sie mit ihrer Last durch die Reihen

504 Doflein, Beobachtungen an deu Weberameisen.

g

der festhaltenden Exemplare hindurchstiegen. Während letztere auf der Außenseite des Nestes sich befanden, führten erstere ihre Arbeit im Innern des Nestes aus. Sie waren daher viel schwerer zu beobachten. Doch konnte ich nach einiger Zeit mit aller Deut- lichkeit sehen, dass sie die Larven mit dem spitzen Vorderende nach oben und vorn gerichtet trugen und sie immer von der einen Seite des Spaltes zur anderen hinüberbewegten. Dabei warteten sie erst ein wenig auf der einen Seite des Spaltes als ob sie dort durch Andrücken des Larvenkopfes das Ende des von der Larve zu spinnenden Fadens anklebten, fuhren dann mit dem Kopf quer über die Spalte herüber und wiederholten auf der anderen Seite dieselbe Prodezur. Allmählich sah man, während sie diese Tätig-

Mikroskopisches Bild des Gewebes der Oecophylli smaraagdınu.

keit unermüdlich fortsetzten, den Spalt sich mit einem feinen seiden- artigen Gewebe erfüllen.

Es war kein Zweifel, die Ameisen benützten tatsächlich ihre Larven als Spinnrocken und zu gleicher Zeit als Weberschiffchen. Indem mehrere Arbeiterinnen ganz nahe beieinander arbeiteten, konnten sie die Fäden einander überkreuzen lassen, so dass ein ziemlich festes Gewebe entsteht. Man kann dasselbe mit der Schere zer- schneiden und kleine Stücke sehen unter dem Mikroskop sehr eigen- artig aus. Man sieht eine Menge von feinen Fäden sich über- kreuzen und an einzelnen Stellen sieht man ganze Stränge sich in einer Richtung gemeinsam hinziehen (Fig. 5). Das stimmt sehr gut mit meinen Beobachtungen der Entstehung des Gewebes überem. Die Ameisen pflegen zuerst an einer Stelle häufig mit den Larven hin und her zu fahren, ehe sie den Ort wechseln und ihre Fäden kreuz und quer spannen. Dadurch entstehen nach kurzer Zeit an mehreren Stellen vor dem Gewebe eine Art von Stricken, welche offenbar

Br.

en, 2

Doflein, Beobachtungen an den Weberameisen. 505

den festhaltenden Ameisen einen Teil ihrer Arbeit abnehmen. Man sieht unter dem Mikroskop auch, dass die Fäden des Gewebes an manchen Stellen miteinander verklebt erscheinen. Diese Tatsache erklärt sich sehr einfach, wenn wir bedenken, dass der Faden, wenn er aus der Spinndrüse der Larve hervorgeht, zunächst noch auf einige Momente feucht und klebrig ist.

Den Faden selbst konnte ich in seiner Entstehung nicht beob- achten. Er ist zu dünn und zu durchsichtig, um mit bloßem Auge gesehen zu werden. Ich versuchte mit einer starken Lupe ihn zu erkennen, aber im Nu waren meine ganzen Augenlider von Dutzenden der Ameisen bedeckt, und ich konnte froh sein, dass ich, nachdem ich ihrer Herr geworden war, überhaupt noch sehen konnte.

Ich konnte nicht warten, bis die Ameisen den Spalt vollkommen zugewoben hatten. Ich musste an Bord gehen, um meinen Dampfer nicht zu verpassen. Aber ich hatte doch mein Ziel erreicht, ich hatte eines der interessantesten Schauspiele, welche das Tierreich bietet, mit eigenen Augen gesehen und hatte eine wichtige Beob- ee die vielfach in Zweifel gezogen worden war, en können. Ich hatte das einzige Tier bei seiner Tätigkeit belauscht, welches ein „Werkzeug“ zur Erreichung seiner Ziele benützt.

Was ich bisher geschildert habe, waren meine eigenen Beob- achtungen, wenn ich auch hie und da Deutungen mit ihnen ver- knüpfte. Ich möchte hieran noch einige Erörterungen anschließen, welche sich auf folgende Punkte beziehen:

1. Die Spinnfähigkeit der Larven.

2. Die Arbeitsteilung.

3. Die Konvergenz bei Oecophylla smaragdina und Campo- notus senex.

4. Die Literatur.

1. Die Fähigkeit der Oecophylla-Larven, Fäden zu spinnen, ist ja keine isolierte De emmns Wie viele nen: Hymenopterenlarven, so besitzen auch die Larven zahlreicher Ameisengattungen wohl aus- gebildete Spinndrüsen, welche dem erwachsenen Tier fehlen. Den In dienen sie, um vor der Verpuppung sich emen Kokon zu fertigen. Auffallend ist also bei Oecophylla nur die Ausnützung der Spinnfähigkeit der Larve durch die Arbeiterin. Chun hat durch einen Schüler die Larven von Oecophylla auf Schnitten unter- suchen lassen, wobei festgestellt wurde, dass die Spinndrüsen eine sehr bedeutende Entwickelung besitzen. Es ist allerdings nicht ge- sagt, ob sie sehr viel größer sind, als bei den gewöhnlichen euro- päischen Formen, bei denen sie nach der Abbildung von Ch. Perez ebenfalls recht beträchtlich zu sein scheinen '!).

1) Zusatz bei der Korrektur. Ich habe mittlerweile Larven von Oeco- phylla in toto aufgestellt und auf Schnittserien untersucht und kann bestätigen,

506 Doflein, Beobachtungen an den Weberameisen.

2. Wir sahen, dass eine interessante Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Individuen die Oecophylla zu ihrer überraschend kunst- vollen Bautätigkeit befähigt. Können nun alle Individuen bei den Arbeiten die verschiedenen Rollen übernehmen, oder finden wir eine Differenzierung der Instinkte in besonderen Individuen, oder finden wir schließlich, dass sogar morphologisch unterscheidbare Arbeitersorten vorkommen, von denen je eine für ein besonderes Geschäft bestimmt ıst? Auf diese Möglichkeit bin ich durch Fragen aufmerksam geworden, welche bei Gelegenheit eines Vortrages an mich gerichtet wurden, da das zur Demonstration aufgestellte Material kleine Arbeiterinnen als Träger von Larven und daneben große Arbeiterinnen zeigte. Nun lassen sich in meinem Material, welches aus einem Neste stammt, tatsächlich ziemlich erhebliche Größenunterschiede zwischen den verschiedenen Arbeiterindividuen nachweisen. Auch sind auffallenderweise alle die Individuen, welche noch im Tod die Larven zwischen den Mandibeln halten, kleine Exemplare. Auch erinnere ich mich, dass mir die Größe der Indi- viduen, welche die Blätter zusammenhielten und derjenigen, welche zur Verteidigung sich auf dem Nest aufstellten, schon bei der Beobachtung aufgefallen war. Es wäre also möglich, dass solche Unterschiede vorliegen und künftige Beobachter möchte ich bitten, darauf zu achten, ob besonders geartete Individuen

1. das Festhalten,

2. das Weben mit den Larven,

3. die Verteidigung,

4. das Aufsammeln von Blattlaushonig besorgen. Wir wissen ja, dass bei vielen Ameisen die Arbeits- teilung eine temporäre sein kann und dass beliebige Individuen zeitweise für das ganze Nest eine bestimmte Tätigkeit ausschließlich besorgen. Ich erinnere nur an die Erfahrungen Lubbocks mit den Ameisenindividuen, denen die Sorge für die Puppen zufällt. Er beobachtete, dass oft eine einzige Ameise die Wartung der Puppen für den ganzen Stock übernahm. Dabei war an diesen Individuen von morphologischen Besonderheiten nichts zu entdecken und es ist aus seinen Experimenten sogar ersichtlich, dass dieselben durch beliebige Arbeiterinnen ersetzt werden können.

Es ıst also sehr wohl möglich, dass die von mir bemerkten Größenunterschiede zufällige sind.

3. Ich habe schon ın der Einleitung erwähnt, dass man neuer- dings auch bei Oampanotus senex in Brasilien die gleiche Gewohn- heit, die Spinndrüsen der Larven auszunutzen, entdeckt hat. Und da man ähnlich gebaute Nester auch bei anderen Ameisenformen dass die Spinndrüsen eine enorme FEntwickelung besitzen, indem sie wohl gut die Hälfte der Leibeshöhle der Larven ausfüllen.

Doflein, Beobachtungen an den Weberameisen. 507

beobachtet hat, so ist anzunehmen, dass man dieselbe Gewohnheit noch öfter feststellen wird. Da drängt sich natürlich die Frage auf, wie sind diese verschiedenen Ameisenformen zu dieser nütz- lichen Errungenschaft gekommen, stammen sie von einer Form ab oder haben sie unabhängig voneinander jene Fähigkeit erworben? Überlegt man alle Möglichkeiten, welche zum gegenwärtigen Zustand geführt haben können, so erkennt man bald, dass die Erörterung der Frage bis zu einem gewissen Grade eine müßige sein muss. Erlernung in der Sklaverei, Abstammung von einer Form, selb- ständige Erwerbung konnten mit annähernd gleichem Recht dis- kutiert werden. Darüber werden wir wohl nie sicheren Aufschluss erlangen. Wir können aber festhalten, dass ähnliche Bedingungen zur Erwerbung der gleichen Gewohnheit bei den verschiedenen Formen auf durchaus natürlichem Wege geführt haben kann, wenn wir bedenken, dass die Spinnfähigkeit bei den Larven der Ameisen eine weitverbreitete Eigenschaft ıst und ferner dass Gedächtnis und Lernfähigkeit nicht zu bestreitende Eigenschaften der Ameisen sind. Die natürlichen Grundlagen zur Entwickelung eines solchen Instinktes sind bei vielen Ameisen gegeben, nur bei wenigen sind sie in dieser Weise ausgenützt. Die gleiche Konvergenz finden wir wieder bei den Honigtöpfen von Myrmecoeystus, Melophorus und Plagiolepis, und ich werde demnächst auf die gleiche Erscheinung bei der Be- sprechung der Pilzgärten der Termiten zu sprechen kommen.

4. Zum erstenmal wurde die Benützung der Larven von Oeco- phylla smaragdina durch Ridley (Journal of the Straits Branch of the Roy. Asiatic Society, Singapore 1890 p. 345) beschrieben. Ich war aufs äußerste überrascht, seine Schilderung mit meinen Tages- buchnotizen von 1905 sogar ın vielen zufälligen Einzelheiten über- einstimmend zu finden. Ich habe alle Vorgänge in derselben Weise vor sich gehen sehen wie er; nur konnte ich die von ihm geschil- derte Kettenbildung durch Aneinanderklammern mehrerer Individuen nicht beobachten. Auch waren die von mir untersuchten Nester im Innern ohne Steine und Sand. Bei der Genauigkeit seiner übrigen Beobachtungen werden auch diese richtig sein. Später haben Holland und Green (E. E. Green, Transact. Entom. Soc. London 1896 Proc. p. IX) eine Bestätigung gebracht. Chun ließ von einem Schüler die Larven anatomisch untersuchen (Aus den Tiefen des Weltmeers, II. Aufl. 1902). Dahl hat über ihre Nester, speziell die Gewohnheit, Vorratsnester anzulegen, einiges berichtet. Sonst werden die Tiere in der Reiseliteratur oft erwähnt, doch habe ich seither keine genauere Schilderung der Nestbau- tätigkeit finden können. Prof. Chun teilte mir neuerdings mit, Saville-Kent habe in seinem mir nicht zugänglichen Reisewerk (A Naturalist in West-Australia) die Tatsache schon konstatiert und die „Spinnrädchen“ abgebildet.

508 Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden.

Beiträge über die Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der fossilen Suiden. F. E. Zierler, an der kais. russ. Universität Dorpat appr. Zahnarzt.

Unter den entwickelungsgeschichtlichen Problemen nımmt für den Zahnarzt die Frage nach der Entstehung und allmählichen Differenzierung des heterodonten Säugetiergebisses eine vor vielen anderen wichtige Stelle ein.

Bedeutende Forscher haben sich dem Studium dieser Frage ın eingehender Weise zugewendet und die Literatur darüber ist eine überaus reichhaltige geworden. Aber trotz der vielen und um- fassenden Studien gehen die Anschauungen der einzelnen Autoren so weit auseinander wie kaum auf einem anderen entwickelungs- geschichtlichen Gebiet.

In neuerer Zeit hat sich besonders die Frage ın den Vorder- grund des Interesses gedrängt, ob die mehrhöckerigen Zähne des Säugetiergebisses resp. desjenigen des Menschen durch allmähliche Umbildung aus einem einfachen Kegelzahn oder durch Verschmelzung mehrerer Kegelzähne zu einem einzigen entstanden seien.

Für die erstere Anschauung sind eine Reihe namhafter Autoren, wie Gope, Osborn, Fleischmann, Schlosser etc. eingetreten. Sıe führen zum Teil sehr gewichtige Beweise dafür an, dass die komplizierten Formen der Säugetierzähne durch allmähliche Um- wandlung eines ursprünglich einspitzigen Zahnes entstanden sein müssen.

Besonders klar zeigen alle embryologischen Untersuchungen, dass auch die vielwurzeligen sowie die sogen. Faltenzähne aus einer einzigen Zahnanlage und nicht aus mehreren hervorgehen, so dass ein Zweifel hierüber kaum mehr obwalten kann.

Ausgehend von dem einfachen Kegelzahn, wobei die erste ur- sprüngliche Spitze zur Unterscheidung von den neu hinzugetretenen nach der Terminologie von Cope-Osborn im Oberkiefer als Proto- conus, ım Unterkiefer als Protoconid bezeichnet wird, folgt auf dieses haplodonte Stadium das triconodonte, indem zu dem Proto- conus ım Oberkiefer zwei Nebenhöcker, Paraconus und Metaconus, im Unterkiefer zum Protoconid die zwei Nebenhöcker Paraconid und Metaconid hinzutreten.

Diese erste Komplikation Trieonodontentypus bei welchem Paraconus, Protoconus und Metaconus, resp. Paraconid, Protoconid und Metaconid in einer Reihe stehen, führt zu der nächsten Form, dem Trituberkulartypus, bei welchem die Nebenhöcker mehr seit- lich neben dem Protoconus resp. Protoconid stehen. Im Oberkiefer stehen diese Nebenhöcker auf der labialen, recte buccalen Seite, im Unterkiefer hingegen auf der lingualen.

Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden. 509

Der Trituberkulartypus bildet nun die Grundform für die meisten Säugetiermolaren, doch treten schon sehr früh zu den genannten Höckern noch neue hinzu.

Zunächst wäre als solche weitere Komplikation das Auftreten eines kleinen Höckers hinter dem Protoconid, des Hypoconides (Talon) zu betrachten.

Diesem entspricht am Oberkiefer, und ebenfalls hinter dem Protoconus, noch ein Hypoconus, womit ein Quadrituberkulars- stadium erreicht ist.

Weiter können zwischen Paraconus und Protoconus, sowie zwischen Metaconus und Hypoconus sich noch weitere Höcker ent- wickeln, welche je nach der Lage als Paraconulus resp. Meta- conulus bezeichnet werden. (Osborn.)

Im Unterkiefer entsteht durch weitere Ausbildung des Talon (Hypoconid und Entoconid nach Osborn) ein vierter Hügel und die ursprünglichen drei Spitzen sind durch scharfe Kämme ver- bunden.

Diese Form wird von Cope als Tuberkular-Sektorialtypus bezeichnet.

Durch Hinzutreten weiterer Zwischenhöcker entstehen quinque- und sex-tuberkuläre Zähne und endlich, zumeist durch Anfügung von Höckerpaaren am hinteren Ende, multituberkuläre Formen, die 20 und mehr einzelne Höcker ın sehr variabler Anordnung der einzelnen Elemente aufweisen.

Die Entstehung dieser so differenten Formen aus dem ein- fachen Kegelzahn erklären Osborn, Cope, Schlosser aus mecha- nischen Gesetzen und als Folge von Anpassung an die verschiedenen Existenzbedingungen. In engem Zusammenhang mit den Ver- änderungen der Zahnform steht aber auch die Ausbildung des Kiefergelenkes, indem hierbei dieses sowohl als auch die Zahnform abwechselnd in ursächliche Beziehungen zueinander treten.

Schlosser schließt eine klassisch zu nennende Arbeit über die Differenzierung des Säugetiergebisses (Biolog. CGentralblatt 1390, Nr. 8 und 9) mit den Worten: „— die verschiedene Ausbildung der M, Pr, J und C sowie die so häufig auftretende Reduktion und Resorption gewisser Zähne sprechen wohl deutlich genug dafür, dass Gestalt und Zahl dieser Organe nicht etwa als etwas von An- fang an Gegebenes, Unveränderliches aufgefasst werden darf, sondern vielmehr ganz und gar abhängig ist von den Existenzbedingungen der betreffenden Säugetiergruppe. So lange diese keine nennens- werten Veränderungen erleiden, erfährt auch Zahl und Gestalt der Zähne keine tiefgreifenden Änderungen; sobald aber das Tier sich einer anderen Lebensweise anpasst, muss eine bedeutende Modifi- kation des Gebisses erfolgen, die in sehr vielen Fällen auch mit dem Verlust gewisser Zähne verbunden ist.“

510 Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden.

Diesen hier kurz entwickelten Anschauungen, welche wohl auch die meistverbreiteten genannt werden können, stehen aber bereits eine Reihe namhafter Autoren wie Kükenthal, Röse, Dybowski, Magitot u. a. gegenüber, welche die auch von Gaudry schon 1878 ausgesprochene Ansicht vertreten, dass die Backenzähne der heutigen Säugetiere durch Konfluenz mehrerer kegelförmiger einfacher Zähne entstanden seien.

Kükenthal führt für seine Ansicht besonders seine Befunde bei den Bartenwalen und Phoca barbata als Beweise an. Er sagt am Schluss einer Rede über diesen Gegenstand: „Auf Grund unserer Beobachtungen an den Zähnen der Bartenwale können wir uns die Umwandlung der Reptilienzähne in Säugetierzähne folgender- maßen vorstellen. Bei der eintretenden Verkürzung der Kiefer rückten die Zahnkeime der einspitzigen Reptilienzähne näher und näher aneinander und verschmolzen gruppenweise zu mehrspitzigen Zähnen, den ursprünglichen Backenzähnen der ersten Säugetiere. Durch die infolge verschiedener physiologischer Leistungen ge- forderten Umformungen bildeten sich die Backzähne aus, wie wir sie bei den jetzt lebenden Säugetieren kennen.“ Dieser Gegensatz zweier Theorien rief eine Reihe zum Teil sehr bedeutender und umfangreicher Arbeiten hervor, welche auf ontogenetische Unter- suchungen sich stützend zu der Frage Stellung nehmen.

Wenn nun auch die Ontogenie als die auf einen kurzen Zeit- raum zusammengedrängte Phylogenie in hohem Grade geeignet er- scheinen muss, uns in morphologischen Fragen und daher auch in der vorliegenden nach der allmählichen Differenzierung der Säuge- tierbezahnung einem Urteil näher zu bringen, so lässt sie uns gerade hier ım Stich, weil wir an dem fossilen Material, das für uns hier so sehr wichtig ist, keine ontologischen Untersuchungen anstellen können.

Obgleich nach Röse „die Urkunden der Paläontologie in der vorliegenden Frage noch sehr mangelhaft sind, die vergleichende Anatomie ihren Dienst gänzlich versagt“, so erschien es mir dennoch interessant, sich mir bietende Gelegenheiten zu benützen und an paläontologischem Material phylogenetische Untersuchungen darüber anzustellen, ob wir es bei den Backenzähnen der heutigen Säuge- tiere mit einer Konfluenz mehrerer kegelförmiger Reptilienzähne zu einem oder mit Umgestaltung des kegelförmigen Einzelzahnes zu den komplizierten Formen des multituberkulären Backenzahnes zu tun haben.

Vorausgesetzt, dass wir eine phylogenetische Formenreihe auf- stellen können, erschien es mir auf dem Wege solcher Unter- suchungen fast leichter, aus den zeitlich weiter ausgedehnten Etappen fortschreitender Entwickelung ein eimwandfreies Material aufzustellen, als das aus den stets ın hohem Grade subjektiv

Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden. 511

bleibenden Untersuchungen auf ontogenetischer Basis, wie z. B. außer den bereits genannten Autoren neuerdings Taeker, Naw- roth u. a. sie angestellt haben, um zu einem Ergebnis zu ge- langen.

Bezüglich der Abstammung der Mammalia von den niederen Vertebraten hält Huxley die Amphibien für näher verwandt mit den Säugetieren als die Reptilien. Owen und Cope bezeichnen die Theromorphen als die den Säugetieren nächststehenden Ver- wandten und Gope nennt sie geradezu die Ahnen derselben. Ich brauche mich hier nicht direkt einer dieser Ansichten anzuschließen, obgleich mit Bezug auf die Bezahnung die Ansicht Cope’s als die näherliegende erscheint. Man hat wohl auch der Bezahnung oft eine nicht immer gerechtfertigt große Bedeutung für die Systematik eingeräumt.

Wir finden differenzierte und mehrhöckerige Zähne nicht erst bei den Säugetieren, sondern wir treffen dieselben schon bei den Fischen an. Außer den kugeligen und pflastersteinartigen zum Zermalmen der Nahrung geeigneten Backenzähnen mancher Ver- treter dieser Vertebratengruppe kommen bei den Selachiern Zähne mit Nebenzacken vor oder als pflasterartige Konkreszenzen mit stumpfkonischen Kronen.

Ein fossiler Selachier, Pleurocanthus (Diplodus) aus der Gas- kohle von Nyran bei Pilsen, zeigt uns Zähne mit zwei langen divergirenden, auf gemeinsamer Basis sitzenden Spitzen, denen sich häufig noch eine kleine dritte Spitze zwischen den beiden großen oder auch noch eine vierte äußere Spitze zugesellt.

Die Zähne von XNotidianus primigenius (Oligozän bei Alzey) haben 5-——-6 nach rückwärts an Höhe abnehmende Spitzen; Hypodus (Muschelkalk bei Bayreuth) besitzt auf seinen quer verlängerten Zähnen neben einer größeren Mittelspitze jederseits mehrere an Höhe abnehmende Nebenspitzen.

Viel wichtiger ıst uns hier jedoch die Bezahnung der den Säugern näherstehenden Ahnen derselben aus der Klasse der Reptilien.

Das meist homodonte Gebiss der Amphibien zeigt als erste bemerkenswerte Komplikation die Ausbildung von Fangzähnen, welche analog den Canini der höheren Vertebraten im vorderen Teile des Maxillare auftreten. Zu erwähnen wäre noch die gruppen- weise Anordnung der seitlichen Zähne einiger Stegocephalen, wie Branchiosaurus, Dolichosoma u. a.

Im Gegensatz zu den Amphibien mit akrodonter und pleuro- donter Bezahnung ist das Gebiss der Reptilien schon ein voll- kommeneres zu nennen. Vasodentin fehlt gänzlich und Zement nimmt an dem Aufbau des Zahnes weniger teil. Die aus diehtem Dentin mit Schmelzüberzug bestehenden Zähne zeigen allerdings

512 Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden.

noch in seltenen Fällen zwei Wurzeln und mehr als eine Spitze der bereits cölodont und thecodont werdenden Bezahnung. Die Form der Reptilienzähne ist in der Regel noch konisch zugespitzt oder hakenförmig; aber auch pflasterförmige, kugelige, seitlich zu- sammengedrückt erscheinende blatt- oder schaufelförmige Zähne sind vertreten.

Unter den Reptilien zeichnen sich vorzugsweise die Thero- morphen durch eine ungewöhnliche Differenzierung des Gebisses aus, welches durch das Vorhandensein von Schneide-, Eck- und Backen- zähnen dem Säugetiergebiss am nächsten steht.

Die Zähne der Theromorphen sind durchwegs in Alveolen ein- gekeilt, fehlen jedoch auch zuweilen vollständig oder es besteht nur ein einzelner Fangzahn im Oberkiefer, der nach seiner Lage und Form dem Caninus der Raubtiere entsprichı. Neben den Kieferzähnen tragen bei vielen Theromorphen auch Pterygoid, Palatınum und Vomer Zähne. Meist sind dieselben nur klein, („Körnelzähnchen“), sie können aber auch, wie bei den Placodonten, den Hauptteil der Bezahnung ausmachen.

Als älteste Theromorphen, aus dem Perm von Nordamerika, kennen wir z. 2. die Olepsydropiden, Pariotichiden und Diadektiden. Die Glepsydropiden (Cope) besitzen lange, vorne und hinten zu- geschärfte, die Pariotichiden seitlich zusammengedrückte, am oberen Rand gekerbte, und die Diadektiden zwei ungleiche Spitzen tragende Zähne. Eine letzte und hinsichtlich der Bezahnung besonders interessante Gruppe bilden die bereits genannten Placodonten.

Bei diesen entwickelten sich die leistungsfähigsten und größten Zähne des Oberkiefers auf dem Palatum. Durch die auffallende Verschmelzung der Flügelbeine und Gaumenbeine zu einer festen Knochenplatte als Basıs für die pflasterförmigen Zähne hat sich hier das Kopfskelett dem Gebiss akkomodiert.

Die erwähnten Plasterzähne sind zwar zumeist glatt, zeigen aber auch vielfach feine Fältelung der leicht gewölbten Kaufläche. Ein für die Entwickelung mehrhöckeriger Backenzähne wichtiger Vertreter der Theromorphen ist wohl der Galesaurus planieps en aus der Triasformation, welcher dreispitzige aber einwurzelige Backenzähne besitzt, deren Höcker vom Eckzahn anfangen, nach hinten an Ausbildung zunehmen, bis der letzte wieder etwas kleiner wird.

Diese dreihöckerigen Zähne mit durchwegs nur einer Wurzel scheinen mir sehr: gegen die Kükenthal’sche Theorie von der Verschmelzung mehrerer Kegelzähne zu einem mehrhöckerigen Zahne zu sprechen.

Bei einem so frühzeitigen Auftreten eines mehrspitzigen, aber einwurzeligen Zahnes ist eine so weitgehende regressive Entwickelung, während welcher alle Wurzeln bis auf eine

Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden. 513

verschwunden sein könnten, nicht wohl anzunehmen. Alle Bei- spiele von solcher Rückbildung resp. Reduktion von Zahnwurzeln zeigen uns nur, wie gerade die Wurzeln die größte Persistenz be- sitzen. Ich erinnere nur an den meist zweiwurzeligen Pr! beim Menschen und seine Entwickelung durch die Reihe der Lemuriden und anthropoiden Affen oder, wenn man diese angefochtene und anfechtbare Ahnenreihe nicht geltend lassen will, an die onto- genetische Entwickelung desselben.

Es liegt da doch bedeutend näher, dass sich von den ge- zähnelten Kämmen der seitlich zusammengedrückt erscheinenden Theromorphenzähne einzelne wenigere Elemente den Existenzbe- dingungen entsprechend zu brauchbareren und größeren Spitzen entwickelt haben.

Als erste Säugetiere treten die Allotherien in der Triasperiode auf.

Nach Cope Multituberkulata genannt, drückt sich in diesem Namen der Charakter der Bezahnung aus.

Neben dem vielhöckerigen Typus finden wir aber unter dieser Ordnung, besonders bei den Plagiaulacidae, Formen von Backen- zähnen, welche auch mit dem Höckerzahn bereits so sehr differieren, dass sie auch die Entwickelungstheorie nach Osborn, Cope, Max Schlosser u. a. durchaus nicht stützen. Wenn nach dieser Theorie der mehrhöckerige Zahn aus dem Kegelzahn sich dadurch entwickelt, dass vor und hinter der Hauptspitze (Protoconus) noch je eine kleinere Nebenspitze erscheint, in den weiteren Entwicke- lungsstadien zu dem triconodonten Typus, trituberkulären, Tuber- kular-Sektorialzahn u. s. w. noch immer mehrere Spitzen, Höcker und Joche hinzutreten, so erscheint es sehr auffallend, dass sich diese Etappen in der Phylogenie der Säuger eigentlich nicht nach- weisen lassen. Vielmehr setzen schon die ältesten aus der Trias bekannten Säugetiere und ebenso schon die als deren Ahnen be- zeichneten Theromorpha gleich mit so sehr differenziertem Ge- biss ein.

Gerade dieser Umstand würde sich sehr für Kükenthal’s Theorie verwerten lassen, wenn auch mit einer später noch zu er- wähnenden Modifikation. Mit Bezug auf die sich gegenüberstehen- den genannten Theorien der Differenzierung des heterodonten Säugetiergebisses möchte ich an mir zugänglich gewesenem Ma- terial aus paläontologischen und zoologischen Sammlungen zu München, Wien, Würzburg und Hamburg einige Beobachtungen und Untersuchungsergebnisse skizzieren.

Nach geltenden Anschauungen namhafter Zoologen, denen meines Wissens z. Z. nicht widersprochen ist, ließe sich eine phylo- genetische Formenreihe etwa in folgendem Schema aufstellen.

Unberücksichtigt zu lassende verwandte Seitenlinien sind nur in ihren Anfängen und in Parenthese angeführt.

xXXV. 33

514 Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden.

Condylarthra

Ban. ne

Periptychidae (Phenacodontidae)

Artiodactyla (Anthracotherida u. Anoplotheridae)

ee Bunodonta (Selenodonta) Suidae Anthracotheridae Obesa I,

re

Choeropotamus (Eohyus) im Eocän Palaeochoerus (Tinohyus im Miocän Choerotherium Sus antiquus

Phacochoerus aethiop. Cuv. (Diotyles torquat. u. labiatus) } Phacoch. Aelianus Rüpp.

(Sus africanus L.) | Porcus babyrussa L. Potamochoerus africanus Schreb.

(P. larvatus Fr. Cuv.) Sus scrofa L. Sus vittatus.

recent.

Von der primitivsten, noch wenig differenzierten Urform, den Condylarthrae ausgehend, hat für die gewählte Formenreihe nach Cope die Familie der Periptychiden mit größter Wahrscheinlich- keit als Ursprung zu gelten.

Wir finden hier ein vollständiges bunodontes Gebiss, 3. 1. 4. / 3.

Die 4 P sind relativ groß und zumeist einspitzig, doch auch mitunter mit kleiner Innenspitze. Der Größe entsprechend haben die P zwei Wurzeln, die 3 M sınd trigonodont oder quadrituberkulär.

Die den Periptychiden zunächst stehenden Artodactyla haben in ihren älteren Vertretern das ursprüngliche Gebiss von 44 Zähnen. Die Backenzähne sind brachydont. Die M haben vier paarweise angeordnete Höcker, wozu sich noch häufig ein bald vorne, bald hinten auftretender Zwischenhöcker gesellt. Viele Artiodactyla weisen noch weitere Nebenhöcker oder kräftig entwickelte Basal- leisten auf. Der letztere untere M hat fast immer einen unpaaren fünften Höcker oder mindestens halbmondförmigen Talon.

Obwohl dies Gebiss ausgesprochen heterodont genannt werden muss, ist P 4 in seinem Habitus den Molaren sehr ähnlich und enthält die Bestandteile derselben bei einfacherem Aufbau aber bevorzugteren Ausbildung der vorderen Hälfte. (v. Zittel, Paläo- zoologie.) Nach dem Gebiss können wir die Artiodaktylen in drei

Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden. 515

Hauptklassen einteilen: Bunodonta, Bunolophodonta und Seleno- donta. Wegen ihres primitiveren Gebisses ist für vorliegende Untersuchungen die Gruppe der Bunodonta als die näher liegende zu bezeichnen. Aus gleichen Gründen beschränke ich mich auf die Familie der Suiden. Bunodontes Gebiss: a a. 3-.1-4—3-3

Obere und untere Molaren haben vier niedrige, konische Haupt- höcker mit vielfach sehr zahlreichen Nebenhöckern. Die ältesten fossilen Formen haben sechs- und fünfhöckerige Molaren (Pantolestes Uope, Cebochoerus), spätere besitzen nur vier Haupthöcker mit zahl- reichen kleineren Nebenhöckern.

Einer der ältesten bekannten Suiden aus dem mittleren Eocän, Pantolestes Cope(Homacodon Mar sh.)hat Molaren mit sechskonischen Höckern und kräftig entwickelter Basalleiste. Die Prämolaren sind langgestreckt und P, mit einem zweiten, nach innen gelagerten Höcker ausgestattet. Das obere Eocän zeigt uns noch zwei typische Suiden, von denen (ebochoerus Gervaıs fünfhöckerige Molaren ohne Basalleiste aufweist. Nur der letzte obere Molar besitzt nach rück- wärts noch emen Talon. Die Prämolaren sind einspitzig mit Basal- wulst. Die Molaren von Choeropotamus sind bereits nurmehr vier- höckerig mit zwei bis drei kleinen Zwischenhöckern; Prämolaren sind kurz und einspitzig.

Diese eocänen Suiden zeigen somit eine deutlich regressive Entwickelung, welche von da ab bei den miocänen Vertretern bis zu den rezenten Formen konstant bleibt.

Palaeochoerus (Unt. Miocän) hat Molaren mit vier Höckern und Basalleiste, letzter M mit Talon, Prämolaren sind ein- bis mehr- spitzig.

Sus antiquus Kamp (Sus erymantheus Roth) aus dem oberen Miocän, ein wahrscheinlicher Nachkomme des Palaeochoerus, hat wie dieser nur Mol. mit vier Haupthöckern und zahlreichen, warzen- förmigen Nebenhöckern.

Andere eocäne und miocäne Suiden der neuen Welt können wegen der Verschiedenheit dieses tiergeographischen Gebietes mit den Suiden der alten Welt nicht wohl ın nähere Betrachtung gezogen werden.

Eine besonders auffallende Erscheinung ist das Verhalten von P, bei Palaeochoerus Meißneri (H. v. Meyer) aus dem unteren Miocän von Eckingen bei Ulm, Sus antiguus Kaup, oberes Mioeän, sowie bei dem lebenden Sus vittatus.

Bei Palaeochoerus Meiß. besitzt P, fast zentral auf der Kau- fläche dieses ziemlich quadratisch geformten Zahnes einen Haupt- höcker, dessen schneideförmige Ausläufer sich von vorne nach rückwärts ziehen. An der Außenseite (buccal) ziehen sich an den Ecken basale Wülstehen empor; lingualwärts ıst der Zahn durch

II 33%

516 Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden.

drei bis vier ziemlich gleich hohe, kleine, aber noch wenig differen- zierte Höckerchen umsäumt, die sich aus einer basal angelegten Wulst erheben.

Bei Sus antiquus ıst derselbe Zahn bei ziemlich gleichem Habitus mit mehreren Höckern versehen. Der zentrale Haupthöcker des P, bei Palaeochoerus Meißneri hat sich geteilt und bildet nun die beiden größten Höcker.

Jene drei basalen Erhebungen an P, des Palaeochoerus finden sich bei Sus antiguus etwas nach dem Zentrum des Zahnes gerückt und machen einem neu hinzutretenden Basalbande an der palatinen Seite des Zahnes Platz, welches aus vielen kleinen warzigen Höckerchen besteht.

Eine weitere Fortsetzung dieser Progressivität erfährt derselbe Zahn bei den rezenten Suiden Sus scerofa und Sus vittatus. Be- sonders deutlich ist das bei ersterem zu beobachten. Die beiden Außenhöcker der buccalen Zahnseite, welche bei Sus antiquus noch glatt ın die Spitze verlaufen, setzen bei Sus scrofa seitliche Neben- höcker an, welche besonders bei dem vorderen Höcker eine deut- liche Umwandlung in eine dreiteilige Spitze zeigen, wie solche für die ersten Prämolaren und allgemein für den trituberkulären Backenzahn typisch ist.

Aus dem basalen Höckerband des Sus antiqguus entwickeln sich in der Mitte der palatinalen Seite drei Höcker in erhöhtem Maße, welche nun den dritten dreiteiligen Innenhöcker bilden.

Die zwischen diesem und den beiden Außenhöckern befind- lichen kleinen Erhebungen werden aus dem Zentrum mehr nach der vorderen Hälfte des Zahnes verlegt, ohne jedoch trotz der Beengung an Platz eine Reduktion in der Zahl zu erleiden.

Ein ganz ähnliches Verhalten wie bei P, ist auch an M, nachweisbar, welcher auf dieselbe Weise eine Vermehrung der Höcker erfährt, die bei einigen Suiden, wie erwähnt, die Zahl von 26—28 erreichen.

Auf Grund dieser Befunde dürften sich wohl mit Bezug auf die Differenzierung des Gebisses einige Schlussfolgerungen unge- zwungen ableiten lassen. Die fossilen Formen der Bunodonten aus dem Eocän haben ursprünglich Molaren mit fünf Höckern, deren Zahl sich später auf vier vermindert. Dieser Umstand würde der Kükenthal’schen Theorie zur Stütze dienen, wenn nicht im weiteren Verlauf der Entwickelung bei gleichbleibender Zahnzahl die miocänen Formen, wie Palaeochoerus, zu den vier Höckern erst eine Basalleiste beim M, noch einen Talon anlegen würden, wobei Sus antiguus des oberen Miocän diesen Elementen noch sehr zahl- reiche Nebenhöcker hinzufügt. Die Prämolaren des Cebochoerus aus dem oberen Eocän sind noch einspitzig mit Basalband; der miocäne Palaeochoerus hat bereits mehrspitzige Prämolaren, die

Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden. 517

sich in ihrem Aufbau in den späteren Formen immer komplizierter gestalten.

Es erscheint dabei die Annahme weniger nahe zu liegen, dass es sich um zutage tretenden Atavismus handeln könne, oder dass sich an der Bildung neuer Höcker auch neue Zahnpapillen be- teiligt haben könnten. Viel entsprechender ıst den angeführten Befunden wohl der Schluss, dass die Vermehrung der Höcker auf Teilung der bestehenden allein zurückzuführen ist.

Bei den relativ so starren Gesetzen der Vererbung wäre es ferner auffallend, dass zwischen Höckerzahl und Zahl der Wurzeln sich durchaus keine konstanten Beziehungen nachweisen lassen. Hätten die einzelnen Höcker ebensoviele einzelne Kegelzähne zu repräsentieren, so müsste ein entsprechendes Verhältnis der Wurzel- zahl mindestens mit Bezug auf die Haupthöcker vorhanden oder doch in den Hauptzügen nachweisbar sein, denn gerade die Wurzeln verhalten sich viel persistenter, weil sie den Einwirkungen ver- änderter Existenzbedingungen mehr als die Zahnkronen entzogen sind. Nun zeigt uns die ontologische Untersuchung über die Zahn- entwickelung, dass das primäre Moment des ganzen Vorganges in der Bildung der Krone, resp. der Zahnoberfläche liegt und dass die Entwickelung der Wurzeln nicht nur zeitlich, sondern auch nach seiner Bedeutung als ein sekundärer Vorgang aufgefasst werden muss, der sich eben dem primären Teil akkomodiert je nach den Anforderungen, welche die einzelnen Zähne an ihre Stützgebilde im Kiefer stellen. Die Form der Krone selbst ist wohl in erster Linie mit Bezug auf seine Veränderungen als ein Produkt der Ernährungsweise anzusprechen, erworben und variiert in Abhängig- keit von den Ernährungsverhältnissen.

Diese Schlüsse aus der phylogenetischen Entwickelung der Suiden stimmen auch vollkommen mit den Ergebnissen ontoge- netischer Untersuchungen überein, nach welchen wir es bei dem mehrhöckerigen Backenzahn der Suiden nicht mit einer Ver- schmelzung mehrerer Kegelzähne zu einem, sondern mit einem Epidermoidalgebilde zu tun haben, das sich aus einfachen Anfängen allmählich umgewandelt und in regressiver oder progressiver Ent- wickelung innerhalb der Grenzen, welche Vererbung solchen Um- bildungen ziehen, den Existenzbedingungen angepasst hat.

Aber auch die Cope-Osborn’sche Theorie, insoferne als stets ein einspitziger oder einhöckeriger Zahn die typische Ausgangs- form sein solle, scheint nicht einwandfrei zu sen. An den Fischen ist schon bei den ältesten Formen dieser Klasse eine sehr hetero- donte Bezahnung anzutreffen. Obgleich hier wie bei den Amphi- bien die physiologischen Anforderungen, welche an die Bezahnung gestellt werden, noch nicht so verschieden sein konnten wie bei den höheren Vertebraten, so ist bei demselben doch schon eine

518 Zierler, Differenzierung des Gebisses aus der Phylogenese der foss. Suiden.

sehr verschiedenartige und oft vielspitzige oder mit breiten Kau- flächen ausgestattete Bezahnung vorhanden. Sogar ziemlich selten finden wir das Ausgangsstadium eines einfachen, kegelförmigen Zahnes im Sinne der Gope-Osborn’schen Theorie.

Dass aus sogen. Kegelzähnen sich später durch Hinzutreten von Basalanschwellungen, kleinen oder größeren Knospen und Höckerchen ein multituberkulärer Zahn entwickeln kann, ıst wohl als erwiesen zu betrachten; andererseits aber kann man nicht sagen, dass der einspitzige Kegelzahn das typische Ausgangsstadium, nicht einmal die häufigste Ausgangsform der Entwickelung sei.

Das allererste Auftreten der Zahngebilde bei den ältesten und niedersten Fischen lässt an denselben schon Fältelung des Schmelzes und die sehr ursprüngliche Ausbildung mehrerer Spitzen erkennen, die bei den Amphibien und Reptilien schon sehr früh bis zur Entwickelung eigentlicher Mahlzähne fortschreitet.

Wie ein sehr verschiedenartiges Gebiss als viel ursprünglicher anzusehen ist, als die ÖOope-Osborn’sche Theorie gestattet, sehen wir z. B. besonders deutlich an der ziemlich engbegrenzten Gruppe der Marsupialia, bei denen wir alle möglichen Gebissarten antreffen. Von ıhnen kann man nun wohl kaum annehmen, dass sie vor ıhrem ersten uns bekannten Auftreten in der Triasperiode alle die von der Gope-Osborn’schen Theorie erforderten Etappen «durchlaufen haben ohne Spuren davon zu hinterlassen.

Allerdings wäre hier der Einwand möglich, diese Entwickelungs- stufen brauchten nicht bei den Marsupialien auffindbar zu sein, sondern bei den reptilienartigen Vorfahren derselben. Damit kommen wir aber nach Cope selbst wieder auf die T’heromorpha zurück, die ebenfalls wieder mit äußerst heterodontem, raubtier- artigem Gebiss einsetzen.

Es erscheint daher die Anschauung an großer Wahrscheinlich- keit zu gewinnen, dass als das allein Primäre bei der Bezahnung nur die epitheliale Zahnanlage anzusehen sei, aus welcher sich schon ziemlich direkt die den Existenzbedingungen der betreffenden Tiergruppe am besten entsprechende Bezahnung entwickelt.

Erst sekundär können Umbildungen eintreten, wobei selbst- verständlich auch der einfache Kegelzahn ein Ausgangsstadium sein oder durch Zusammenrücken der Zahnanlagen im verkürzten Zahn- bogen von einer Verschmelzung mehrerer Kegelzähne zu einem die Umwandlung in einen multituberkulären Typus vor sich gegangen sein kann.

Selbstverständlich machen vorliegende, an der Formenreihe der Suiden registrierte Befunde und Untersuchungen in ihrem be- scheidenen Umfange keinen Anspruch darauf, eine Entscheidung ım Streit berufener Biologen herbeiführen zu wollen. Es sind lediglich Versuche einer Beitragsleistung, die beim Besuch größerer

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"rs

Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube ? 519

paläontologischer Sammlungen aus dem Interesse an zahnentwicke- lungsgeschichtlichen Fragen entstanden sind.

Literatur.

Cope, The homologies and origin of the types of molar teeth in the Mammalia. Journ. Philad. Acad. 1874.

Dybowski, Studien über Säugetierzähne. Vorl. Mitt. Verhandl. d. zoolog. bot. Ges. Wien 1889, Bd. XXXIX.

Fleischmann, Die Grundform der Backenzähne bei Säugetieren und die Homo- logie der einzelnen Höcker. Sitz.-Ber. d. Akad. d. Wiss. Berlin 1891.

Gaudry, Les enchainements du monde animal dans le temps geologique. Mammi- feres tertiaires 102, 1878, p. 54.

Koken, Die Geschichte des Säugetierstammes. Naturwissensch. Rundsch. 1892.

Kekesthan Über den Ursprung und die Entwickelung der Säugetierzähne. Öffentl. Rede, 30. Mai 1591 in der Aula der Univ. Jena. Jen. Ztschr. f. Naturw. 1892.

Leche, Studien über die Entwickelung des Zahnsystems bei den Säugetieren. Morph. Jahrb. Bd. XIX.

Leche, Nachträge zu Studien ete. Morph. Jahrb. Bd. XX, 2.

Magitot, Des lois de la dentition. Journ. anatom. physik. Paris, Tom. 19, p. 59.

Nehring, Über die Gebissentwickelung der Schweine. Landw. Jahrb. 1588.

Osborn, The Evolution of nen Molars to and from the Tubereular Type. American Naturalist 1888.

Röse, Das Zahnsystem der Wirbeltiere. Ergebnisse d. Anat. u. Entwickelungs- geschichte 1894.

Zur Phylogenie des Säugetiergebisses. Biolog. Centralbl. 1892.

Schlosser, Beiträge zur Stammesgeschichte der Huftiere und Versuch einer

Systematik der Paar- und Unpaarhufer. Morph. Jahrb. XII, 1887. Die Differenzierung des Säugetiergebisses. Biolog. Centralbl. 1890/91. v. Zittel, Grundzüge der Paläontologie. Zuckerkandl, Anatomie d. Mundhöhle in Scheff’s Handbuch der Zahnheilkunde.

Naturwissenschaft oder Köhlerglaube? Von Prof. Dr. Aug. Forel. (Schluss.

Nach Wasmann sollen wir zur Identitätshypothese durch eine Petitio principii gelangen. Er sagt darüber: „Erst setzt man als unumstößliche Wahrheit voraus, dass alles Geschehen in der Welt seiner eigentlichen Realität nach nur mechanisch sein könne und daher dem mechanischen Energiegesetze, das man als „die Naturgesetze* schlechthin bezeichnet, unterstehen müsse; und dann schließt man aus dieser en dass auch das Denken seiner Realität nach mechanisch sein müsse, weil es sonst mit dem Energie- gesetze unvereinbar wäre! Auf diese Weise ist es selbstverständlich sehr leicht, die restlose Identität des Psychischen mit den materiellen Gehirnprozessen zu beweisen; denn sonst wäre es ja „den Natur- gesetzen widersprechend“, „wunderbar“, „mystisch“, „übernatür- lich“ u. s. w. Aber man beweist damit in Wirklichkeit kaum etwas

520 Forel, Naturwissenschaft und Köhlerglaube ?

anderes, als dass es auch auf diesem Gebiete einen „Dogmatismus“ der Weltanschauung gibt.“

Es fällt uns aber, nochmals gesagt, gar nicht ein, mit den Worten mechanisch und Energiegesetz die Realitiät der Welt zu er- klären. Das Energiegesetz ıst nur der Ausdruck unserer auf vor- handenen Forschungen beruhende Erkenntnis des Zusammenhanges der Erscheinungen, nichts weiter. Mit dem Tage, wo die Wissen- schaft uns zeigen würde, dass es nicht stimmt, werden wir es fallen lassen; aber bisher stimmt es. Die Petitio principii macht Was- mann, der die Wissenschaft sagen lassen will, was sie uns nicht sagt und seinen Offenbarungsglauben in unsere Erkenntnis hinein- zwängen will. Ich wiederhole: So lange wir in jedem Detail- punkte das Psychische und das Physiologische zusammen erscheinen und verschwinden und durch die gleichen Dinge gestört werden sehen, wie es uns die Psychophysiologie und alle Gehirnwissen- schaften beweisen, müssen wir an ihrer Identität festhalten, bis man uns ein separates Erscheinen der Seele nachweist. Ich habe in meinem Lehrbuch über den Hypnotismus deutlich gezeigt, wie ein Unterbewusstsein, d.h. Introspektion, eine seelische, scheinbar unbewusste Erscheinungen unseres Gehirnlebens introspiziert. Außer uns (d. h. jeder außer sich) können wir freilich das Vorhandensein der Seelenerscheinungen nicht direkt, sondern nur indirekt durch Analogieschlüsse nachweisen. Ich komme auf diesen Punkt nicht zurück. Ich habe diese Frage im besagten Buch (vierte Auflage 1902, Stuttgart bei Enke), in meinem Vortrag über Gehirn und Seele und so fort zur Genüge erörtert.

Amüsant ist es, wie Wasmann weiter ausführt: „Wenn es richtig ıst, dass dh ganze Realität des Psychischen auf die ma- teriellen Gehirnvorgänge (bezw. auf die entsprechenden Vorgänge in. anderen Nervenzentren) sich beschränkt, so gehört die Psycho- logie in der Tat in die Rumpelkammer der leeren Abstraktionen.* Dieses braucht nach dem Gesagten keiner Widerlegung mehr. Wasmann kehrt den Strumpf geradezu um und nennt Abstraktion das direkte Empfinden!

Ich übergehe einige weitere Ausführungen, die bereits schon widerlegt sind und an deren Schluss Wasmann sagt: „Nach Forel ist somit eigentlich das Schicksal der Psychologie schon entschieden ; sie ıst keine Psychologie mehr, sondern nur noch Nervenphysiologie.“ Das ıst wieder das gleiche Missverständnis. Die Optik und die Akustik sind deshalb auch da nicht die gleichen Disziplinen, wo sie die Erscheinungen der gleichen Dinge behandeln, wie im obigen Beispiel der Stimmgabel. Die Verschiedenheit der psychologischen und der physiologischen Methode bleibt berechtigt, weil sie das gleiche reelle Geschehen von zwei ganz verschiedenen Seiten resp. in zwei ganz verschiedenen Erscheinungsformen studieren. Was-

Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube ? 921

mann sollte sich nicht an einige, vielleicht nicht ganz korrekte Ausdrücke meiner früheren Schriften halten, sondern beim Kern der Frage bleiben. Mit seinen weiteren Syllogismen lässt er mich schließlich sagen: „Die reine Psychologie sei nichts als eine sub- jektive Illusion.“ Dieser Einwand richtet sich von selbst.

Er behauptet weiter: „Nun vermag uns aber die „innere Be- obachtung“* gar nichts über den objektiven Gehalt der Gehirn- prozesse zn berichten; die Introspektion kann niemals an die „mole- kulare Tätigkeitswelle der Nervenelemente* herankommen, sondern stets nur an die Bewusstseinsvorgänge.“ Das ist wieder ein Spiel mit den Ausdrücken objektiv und subjektiv, wie oben erklärt. Die innere Beobachtung berichtet uns ebensogut in ihrer Art über die Realität der Gehirnprozesse, als die physiologische Methode, genau, wie wir die Schwingung der Stimmgabel so gut mit dem Gesichts- sinn, wie mit dem Gehörsinn erkennen. Die Introspektion gibt uns z. B. vortrefflich Aufschluss über die Gesetze der Assoziation und des Gedächtnisses (der Engramme; siehe Semon, Mneme). Wenn also Wasmann weiter behauptet: „Die reine Psychologie hat somit als Formalobjekt keine Eigenschaft, sondern eine bloße subjektive Illusion einer solchen,“ so sind das leere Worte.

So fährt Wasmann fort, zum Zweck seiner syllogistischen Deduktion in künstlicher Weise eine Antithese zwischen Subjekt und Objekt aufzubauen. Ich will aber nicht wiederholen, was ich anfangs darüber sagte. Schließlich theoretisiert er ein skeptisches reines Nichts aus unseren Ansichten heraus und behauptet trium- phierend: „Ich sage daher: Indem die Identitätstheorie Forel’s die molekularen Gehirnprozesse, welche das materielle Substrat unserer Bewusstseinsvorgänge sind, mit dem objektiven Inhalt unserer Erkenntnis verwechselt, werden alle Wissenschaften zu einer reinen subjektiven Illusion. Wir sind damit dem absoluten Skeptizismus rettungslos verfallen.“ Diese Verwechslung liegt nicht bei mir, sondern nur in dem Kopfe Wasmann’s, nämlich in der deduk- tiven Konstruktion, die er sich aus meinen Ansichten gemacht hat, wie man nun wohl schon längst eingesehen haben wird.

Am Schluss, in einem Nachtrag, nımmt Wasmann Bezug auf einen Aufsatz von mir in der politisch-anthropologischen Revue „Monismus und Psychologie“, in welchem ich ihm bereits deutlich gezeigt hatte, wie sein Versuch, mich ad absurdum zu führen, ge- scheitert war. Wasmann hatte nämlich folgendes Raisonnement aufgestellt:

„Das „Psychische“ ist nach Forel seiner Realität nach nichts weiter als eine Summe materieller Gehirntätigkeiten, die man „von psychischer Seite“ betrachtet; zieht man daher von dem „Psyche* genannten Ding diese materielle Summe ab, so bleibt eine reine

Null als Rest,“

522 Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube?

Darauf hatte ich ıhm erwidert, er könne ebensogut schreiben:

„Die Materie ist nach Forel ıhrer Realıtät nach nichts weiter, als eine Summe psychologischer Vorgänge, die uns als Außenwelt (unter anderem als Gehirn und seine Physiologie) erscheint. Zieht man von dem „Materie“ genannten Ding jene psychische Summe ab, so bleibt eine reine Null als Rest. Für die Realität der Materie ist somit ın Forel’s Monismus kein Platz übrig.“

Er gibt nun die Sache zu und sagt, dass wenn a=b ist, es vollständig gleichgültig ist, ob man a oder b wegnimmt, es bliebe immer nur eine Null übrig. Wenn er aber daraus folgert, dass nicht seine Beweisführung, sondern die Natur des Monismus absurd sei, so verfällt er wiederum in einen anderen scholastischen Sophis- mus. Ich war es nämlich nicht, der die Null herauskonstruierte, sondern nur er; seine Formel a—=b deckt sich gar nicht mit der Identitätshypothese. Letztere sagt nämlich selbstverständlich nicht, dass ein Etwas aus zwei Nullen bestehe, wie mich Was- mann sagen lässt, sondern dass die Realität weder a noch b ist, indem a und b nur zwei symbolische Denkformen sind für ein gleiches, sehr reelles, wenn auch in seinem Wesen uns unbe- kanntes Etwas. Mein Gehörbild der Stimmgabelschwingung und mein Gesichtsbild derselben sind beide nicht die reelle Schwingung selbst, sondern nur Symbole davon, also nicht a=b.

Die weiteren Ausführungen Wasmann’s setzen nur das Wort- gefecht fort. Wenn ich früher gesagt habe, der einzige objektive (Gehalt unserer Bewusstseimsvorgänge liegt in den Neurokymtätig- keiten des Gehirns, so habe ıch selbstverständlich nur sagen wollen, dass die verglichenen Subjektivismen, die wir objektiv nennen, uns das reelle Sein des Dinges, das zugleich Gehirn und Seele ist, sicherer und genauer erkennen lassen, als der direkte Sub- jektivismus und dazu war ich deshalb berechtigt, weil unser Oberbewusstseinssubjektivismus uns nur je einen kleinen Teil der Großhirntätigkeit dazu noch synthetisch (allerdings dafür viel feiner und vollkommener nuanciert) reflektiert, während wir ihre übrigen Teile auf indirektem physiologischem (objektivem) Wege erkennen. Nun fragt noch Wasmann:

„Welcher Unterschied besteht dann noch zwischen dem „wissen- schaftlichen Monismus“, den Forel vertritt, und zwischen dem „metaphysischen Monisinus“, den er durch Umkehrung meines Satzes ad absurdum geführt hat?“

Ich habe den metaphysischen Monismus gar nicht ad absurdum geführt, sondern nur Wasmann’s Raisonnement. Ich habe nur Folgendes behauptet:

Die Identitätshypothese ergibt sich zwingend aus der natur- wissenschaftlichen Beobachtung unseres Gehirnes, seiner Physio- logie und unserer eigenen Psychologie, ganz besonders, wenn

57

Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube? 23 man dieselben mit dem Gehirn und der Biologie der Tiere ver- gleicht. Deshalb, weil sich die psycho-physiologische Identitäts- hypothese aus der direkten naturwissenschaftlichen Beobachtung ergibt, gehört sie zum Bereich der Wissenschaft und nicht zur Metaphysik. Die Analogieschlüsse der psychologischen Wissen- schaft verlieren aber allmählich ihre Sicherheit, je mehr wir uns vom Menschen entfernen und zu den niedrigsten Organismen ge- langen, die kein Nervensystem mehr besitzen oder wenn wir gar zur unorganischen Materie hinüberspringen. Die Anerkennung der Psychologie anderer Menschen beruht, ich wiederhole es, für mich bereits auf Analogieschluss. Dieser steht aber auf fester wissen- schaftlicher Basis. Ich kann daher mit Bestimmtheit sagen, mein Gehirn und meine Seele sind eins, mit nahezu wissenschaftlicher Sicherheit behaupten, dass mein Kleinhirn, meine Streifenhügel, mein Rückenmark, das Gehirn eines lebenden Hundes oder eines lebenden Orang-Utangs ebenfalls eine Psychologie besitzen, die von der meimigen (derjenigen meines Großhirns) sich nur graduell, aber nicht prinzipiell unterscheidet, weil ich die Gesetze des Nerven- lebens mehr oder weniger gut kenne. Ich kann dagegen nicht mehr ohne einen gewissen metaphysischen Sprung von der Seele einer Zelle oder einer Amöbe sprechen, und der Sprung wird erst ganz luftig, wenn ich durch die Annahme einer erst vermuteten, wenn auch sehr wahrscheinlichen Urzeugung zum anorganischen Molekule gelange. Nichtsdestoweniger muss dieses Überspringen der Identitätshypothese oder des wissenschaftlichen Monismus zu einem metaphysischen Monismus, d. h. zu einer Weltanschauung, die, wie bei Bruno, Spinoza, Haeckel etc. das Weltall beseelt sein lässt, jedem denkenden Forscher wenigstens als eine plausible Metaphysik erschemen. Somit ist der Sehlussatz Wasmann’s wiederum ein Wortgefecht, der da sagt: „Entweder nimmt Forel an, dass der materiellen und der psychischen Seite unserer sogen. psychischen Tätigkeiten ein und dieselbe objektive Realität zu- grunde liege und dann unterscheidet sich sein „wissenschaft- licher Monismus“ in gar niehts mehr von dem „metaphysischen“ Monismus; denn das Wesen des letzteren besteht ja gerade darin, dass er Materie und Geist für reell ein und dasselbe Ding erklärt, das nur auf zweierlei Weise erscheine. Oder Forel nimmt an, dass der materiellen und der psychischen Seite der sogen. psychischen Tätigkeiten zwei verschiedene Realitäten zugrunde liegen und dann ist er offenbar nicht mehr „Monist“, sondern „Dualist“, wie ich es auch bin.“ Selbstverständlich halte ich, nochmals gesagt, die materielle (lese physiologische) und die psychische Seite unserer psychischen Fähigkeiten für die gleiche Realität. Aber daraus folgt nicht, wie Wasmann die Leser glauben lässt, dass ich wissenschaftlich beweisen könne, ein Sauerstoffmolekül habe

924 Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube?

zugleich eine physische und eine psychische Seite. Letzteres ge- hört bereits in das Gebiet der Metaphysik und hat die Wissenschaft wenigstens vorläufig nicht zu beschäftigen. Freilich gibt die Iden- tıtätshypothese dem metaphysischen Monismus eine sehr große Glaubwürdigkeit. Das gibt uns jedoch nicht das Recht, daraus schon, wie Haeckel, einen wissenschaftlich-dogmatischen Lehrsatz zu machen.

So wenig wie Wasmann hat Reinke mit seinem Neovitalıs- mus das Recht, aus der Tatsache, dass wir noch kein lebendes Wesen produzieren konnten, zu schließen, dass wir es nie können werden. Hier muss ich einer sonderbaren Vorstellung entgegen- treten. Wasmann lässt die Evolution teilweise gelten (siehe Escherich |. c.), will aber die direkte Schöpfung verschiedener Stammformen durch Gott zulassen. Er will vielleicht aus allen Ameisen eine Stammform machen, ferner aus der Gattung Equus und natür- lich auch aus den Menschen. Gott hätte also aus einer Urameise alle 5000 heute bekannten Ameisenformen durch Evolution selbst entstehen lassen, ferner alle Pferdearten aus einem Urpferd und alle Menschenformen aus einem Urmenschen. Es ist fast nicht zu glauben, dass ein ernster Naturforscher wie Wasmann solche Dinge auch nur vermuten kann. Die Stammverwandtschaft der Wirbeltiere untereinander z. B. ıst aus ihrer vergleichenden Anatomie so evident, wie nur etwas. Dass unser Steißbein vom Affenschwanz herrührt, ıst nicht zu bezweifeln, ebensowenig der polyzoische Ursprung unserer Wirbelsäule, der tierische Ursprung unserer später verödenden Thymusdrüse u. s.f.£ Wenn Wasmann aus den Pferden und den Menschen zwei Urarten macht, muss er dies erst recht aus den Vögeln und den Säugetieren tun. Ist er sich aber dabei bewusst, in welchem lächerlichen Licht er seinen Schöpfer erscheinen lässt, der, offenbar, nur um den doch auch von ıhm stammenden gesunden Verstand der Menschen zum Narren zu halten, genau die gleichen Knochen in ihren Armen, wie in den Flügeln der Vögel und in den Flossen der Walfische erschafft, während er sonst die Flossen und die Flügel auf andere Modelle bei anderen Tieren entstehen lässt? Wenn Wasmann die Augen aufmachen will, so muss er sich doch die Frage stellen, warum (ott dieses Vexierbild den Menschen vormacht und ihnen in der Struktur der Lebewesen eine Stammverwandtschaft vorschwindelt, wenn dieselbe nicht ın Wirklichkeit, auch für Gehirn und Seele, vorhanden ist. Etwas mehr Respekt sollte ein Theologe vor dem (reiste seines Schöpfers haben, wenn er denselben auslegen will.

Und hier müssen wir uns auch noch mit Reinke und anderen auseinandersetzen. Das Wort Urzeugung oder generatio spon- tanea gibt zu Missverständnissen Anlass. Aus nichts wird nichts. Es kann daher keine generatio spontanea nach alten Begriffen

Forel, Naturwissenschaft oder Köhlerglaube? 595

geben, sondern nur eine evolutive Umwandlung von anorganischen Molekülen in lebende Moleküle. Ein weiteres Missverständnis liegt in dem Streit darüber, ob die lebenden Wesen aus einem oder aus mehreren Urwesen stammen. Dieser Streit ist nach meiner Ansicht völlig müßig. Dass es sich nicht um direkte Schöpfungen (durch Gott) eines Urpferdes oder eines Urmenschen mit Haut, Haar und Knochen, wie es Wasmann zurecht stutzt, handeln kann, ist für jeden Unbefangenen, der im Buch der Natur zu lesen versteht, sofort klar. Die Urzeugung, d. h. die Umwandlung un- organischer Moleküle in organische Wesen, kann nur an einer Stelle stattfinden, wo beide dadurch ineinander übergehen, dass das che- mische Molekül immer komplizierter und vielgestaltiger wird, wäh- rend das lebende Wesen seine allereinfachsten Formen des Seins daraus bildet. Also nicht beim Equus oder Homo, sondern bei dem Molekül und bei den Urbestandteilen der Zelle ist der Übergang zu suchen. Wenn auch die Zelle uns seit Schwann als „Lebens- element“ erscheint, so können wir heute wohl behaupten, dass sie nichts weniger als ein Element ist. Die Zelle ist eine bereits hoch- komplizierte Lebensform, deren Bestandteile wir erst kennen lernen müssen, um weiter gegen das Molekül hinzudringen. Einstweilen kennen wir die Chemie der lebenden Zelle noch gar nicht und wir haben deshalb ebensowenig das Recht, ihre vermutete Mechanik zu konstruieren, als ihr „die Dominanten“ Reinke’s zuzuschreiben. Dagegen dürfte es einleuchten, dass, wenn es einen Zustand der Energie gibt oder einst gegeben hat, in welchem die uns durch die Chemie und Physik bekannten anorganischen Vorgänge in primitivste Lebensvorgänge übergehen, dass dann dieser Zustand nicht auf einem einzigen mikroskopischen Punkt des ganzen Weltalls beschränkt sein oder gewesen sein kann. Folglich kann nicht die organische Welt aus dem molekularen Urahn einer Urzelle allein entstanden sein. Der gesunde Menschenverstand (die ad- äquate Anpassung unseres Denkens an die Außenwelt) zwingt uns vielmehr anzunehmen, dass es an vielen Orten sehr viele solche molekuläre Urahnen von Urzellen gegeben haben muss. Das ist aber eben der Ring, der uns in der Kette fehlt, nämlich: der mole- kuläre Urahn der ursprünglichsten Zellenformen, die sich dann später allmählich durch Engraphie und Zuchtwahl bei räumlicher Sonderung höher entwickelt und differenziert haben. So und nicht anders können wir uns vorläufig vorstellen, dass zu irgendeiner geologischen Zeit die ersten Keime des organischen Lebens ent- standen sein müssen und wahrscheinlich auch heute noch entstehen. Reinke’s Polemik gegen diese Annahme ist mehr als schwach. Nun wird mir mein Freund und Gegner in metaphysischen Glaubensdingen Wasmann meine harte Kritik verzeihen müssen. Ich sage es ihm hier ganz offen: In ihm liegen zwei Menschen,

526 Forel, Naturwissenschaft und Köhlerglaube ?

die ich Wasmann S. (Sciens) und Wasmann J. (Jesuit) nennen will. Es ist für mich offengestanden eine der wunderbarsten Natur- erscheinungen, dass diese beiden Menschen im gleichen Gehirn bisher in glücklicher Ehe zusammenleben konnten und nicht schon längst geschieden worden sind. Mein Freund ist Wasmann S,., mein Gegner dagegen Wasmann J. Da letzterer nun in einer Weise an die Öffentlichkeit tritt, die meinen Freund WasmannS. mit Füßen tritt, bin ich gezwungen, schärfer mit der Sprache herauszutreten. Einst hatte ich in Zürich ein Gespräch mit dem damals in seinen ehelichen Gegensätzen noch weniger scharf her- vortretenden Ehepaare Wasmann S. J. und dieses Gespräch be- zeichnet die ganze Situation. Wir waren bald über die Wort- gefechte hinaus. Ich gab rückhaltlos zu, dass der Mensch das Wesen des Weltalls unmöglich ergründen kann, dass es also für den Menschenverstand ein metaphysisches Welträtsel gibt und immer geben wird, das man meinetwegen Gott nennen mag, sofern man ihm keine persönlichen, d. h. menschlichen Attribute verleiht. Seinerseits gab mir Wasmann zu, dass man den religiösen Glauben und die Offenbarung mit wissenschaftlichen Argumenten nicht be- weisen könne. Das kanonische Recht entscheide hierüber, und was es gesagt habe, gelte. Nun fragte ich ihn, was dann, wenn die Wissenschaft weiß und die Religion schwarz sagt? „Nun, ich sage, dass die Religion recht hat,“ antwortete Wasmann und die Wisssen- schaft unrecht, denn letztere kann sich täuschen; freilich hat auch die Kirche, resp. haben sich ihre menschlichen Ausleger getäuscht, aber sie haben sich dann auch korrigiert, indem Gott ihnen wieder den rechten Weg gezeigt hat. Nun, sagte ich, kommt es schließ- lich immer auf menschliche Auslegungen heraus, diejenigen der Religion durch die Priester und diejenigen der Wissenschaft resp. der Natur und ihrer Gesetze, durch die Gelehrten. Der Unter- schied zwischen Ihnen und mir besteht darın, dass Sie der Aus- legung durch die Priester, die Sie für von Gott inspiriert halten und ich der Auslegung durch die Vertreter der Wissenschaft den Vorzug gebe. Damit war unser Gespräch beendet, wir waren beide an der Mauer angelangt, die uns trennt. Für Wasmann ist die priesterliche Auslegung göttliche Inspiration, für mich aber mensch- liches Machwerk schlimmster Sorte und aus diesem Gegensatz werden Wissenschaft und Offenbarungsgläubige niemals heraus- kommen. Eine Wissenschaft, die nur so lang unbeeinflusst und unabhängig bleibt, als sich ihr kein Dogma, kein Glaube entgegen- stellt, hört eben mit diesem Moment auf, Wissenschaft zu sein. Wasmann S$. ist ein Gelehrter, vor dessen Schärfe und Ge- wissenhaftigkeit ich den Hut abziehe. Wasmann J. ist ein scho- lastischer Jesuit. Wasmann S. liegt aber als Sklave in der Zwangs- jacke von Wasmann J. und kann nur in denjenigen Gebieten frei

Loeb, Studies in General Physiology. 527 und er selbst sein, in welchen er mit Wasmann J. in gar keinem Konflikt kommt. Sobald der Konflikt entsteht, hört das wissen- schaftliche Denken von Wasmann S. auf un fangen die Syllo- gismen und die Scholastik von Wasmann J. mit ihren Wort- Serselhs an. Ich kann mir das Rätsel meines Freundes Wasmann S. J. nicht anders erklären, aber es war nötig, ihm einmal hier klares Wasser einzuschenken.

Ich betone endlich, dass ich trotz allem niemals an der vollen Ehrlichkeit und Loyalität Wasmann’s gezweifelt habe. Wie Esche- rich bin ich der Überzeugung, dass 5 nur die Früchte der von Kindesbeinen an eingesaugten dialektischen Scholastik vorliegen, die für den rennen Geist nur ein bedingtes Dasein zu- lassen.

In seinem oben zitierten prächtigen Werk über die Mneme führt Semon die Erscheinungen des Gedächtnisses, der Assoziation, der Ontogenie, der Dean und der Vererbung auf das einzige Gesetz der Mnerie kurck, Hier kann man wunderbar deutlich erkennen, wie die gleichen Gesetze des psychologischen und das indirekt erschlossene physiologische Geschehen regieren. Es sei Wasmann zur Beherzigung empfohlen.

Jacques Loeb. Studies in General Physiology. Part. L Gr. 8. XIII und 423 S. Part. II. XI und 363 S. The Decennial publications of the University of Chicago. Chicago. The university of Chicago

Press. 1905. (Für Europa: Fischer Unwin, London.)

Herr Jacques Loeb hat sich durch seine schönen Untersuch- ungen zur allgemeinen Physiologie schon lange einen hervorragenden Platz unter den biologischen Forschern gesichert. In den Schulen von Fick ın Würzburg und Goltz ın Straßburg vorgebildet, hat er in den reich ausgestatteten Instituten von Chicago "und San Fran- cISCOo, Wo er jetzt als hervorragender Lehrer tätig ist, eine seiner Begabung zusagende Forschungsgelegenheit gefunden. Er bietet in den zwei vorliegenden Bänden eine Sammlung seiner Abhand- lungen zur allgemeinen Physiologie. Die meisten derselben sind zuerst ın deutscher Sprache erschienen und sind von Herrn Professor Martin H. Fischer für die vorliegende Ausgabe ins Englische über- setzt worden. Sämtlichen hier vereinigten Studien liegt der ge- meinsame Gedanke zugrunde, eine Kontrolle über die Lebenser- scheinungen zu gewinnen. Ein Teil derselben beschäftigt sich mit den Mitteln, die Bewegungsrichtung der Tiere durch äußere Ein- wirkungen eindeutig zu bestimmen und so den Problemen des Instinkts und Willens physiologisch näher zu kommen; andere be- schäftigen sich mit den Problemen der Heteromorphose, d. h. der Entwiekelung eines Organs an der Stelle eines anderen; eine dritte Reihe endlich behandelt die künstliche Anregung der Entwickelung

598 Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege.

an unbefruchteten Eiern bei verschiedenen Tierklassen. Alle, welche auf diesen Gebieten der Biologie Untersuchungen anstellen wollen, wird die Zusammenstellung der von Herrn L. gelieferten wichtigen Voruntersuchungen ein willkommenes Hilfsmittel sein, zumal ein gut gearbeitetes Register die Benutzung des Buches sehr erleichtert. J.R. [59]

P. Kuckuck: Der Strandwanderer. Mit 24 Tafeln nach Aquarellen von J. Braune, 8°, 76 S.

G. Hegi u. G. Danzinger: Alpenflora. 8°, 68 8., 221 farb. Abbild. auf 30 Taf. J. F. Lehmann’s Verlag, München 1905.

Die beiden vorliegenden Büchlein sind keine eigentlich wissen- schaftlichen Werke. Sie sind in erster Linie für jene Naturfreunde bestimmt, die auf der Reise eine möglichst bequeme und anschau- liche Anleitung zur Beobachtung der Natur, in der sie ihre Muße verbringen, haben wollen; und dafür sind die Werkchen in Format und Ausführung vortrefflich geeignet. Die Abbildungen sınd aber so ausgezeichnet, dass sie auch als vortrefflicher Atlas zur Er- sgänzung von Floren und zum Unterricht dienen können. Jeder Abbildung ist ein kurzer, durchaus wissenschaftlicher Text von den berufenen Verfassern beigefügt, der auf wenigen Zeilen den wissen- schaftlichen und die Trivialnamen des betreffenden Wesens anführt und eine Charakteristik der äußeren Erscheinung und der Lebens- bedingungen gibt; entsprechende Familien und Klassencharakte- rıstiken fehlen nicht, dagegen Bestimmungstabellen oder Systemüber- sichten vollständig. Register der deutschen und lateinischen Namen werden den vielfältigen Gebrauch der Büchlein erleichtern.

Im Strandwanderer sind nicht nur die Strandpflanzen und Meeresalgen, sondern auf noch mehr Tafeln als jene die gesamte Tierwelt der deutschen Meere, die man zufällig am Strand, be- sonders aber mit Hilfe der Fischer erlangen kann, behandelt.

w. [58]

Deutscher Verein für Öffentliche Gesundheitspflege.

Die diesjährige Jahresversammlung des Vereins wird vom 13.—16. September in Mannheim stattfinden, kurz vor der am 24. September beginnenden Versamm- lung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Meran.

Folgende Verhandlungsgegenstände sind in Aussicht genommen:

1. Typhusbekämpfung; 2. Die Bedeutung öffentlicher Spiel- und Sportplätze für die Volksgesundheit; 3. Müllbeseitigung und Müllverwertung; 4. Schwimm- bäder und Brausebäder ; 5. Selbstverwaltung und Hygiene.

Von meiner Reise zurückgekehrt bitte ich für mich bestimmte Zusendungen und Anfragen in bezug auf Bearbeitung einzelner Teile meiner Sammlungen zu richten nach Berlin S'* Sebastianstr. 76. Prof. A. Voeltzkow.

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

RXVLBEO; 15. August 1905. Ne 16.

Inhalt: Issakowitsch, Geschlechtsbestimmende Ursachen bei den Daphniden. Lebedinsky, Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars. Weinberg, Biologische Faktoren in Staat und Geschichte. Haberlandt, Die Sinnesorgane der Pflanzen. Luciani, Physiologie des Menschen. Handbuch der Physiologie des Menschen. Henriksen, Eine Biologische Station zu Grönland. Simroth, Abriss der Biologie der Tiere. Legahn, Physio-

logische Chemie. Davenport, Statistical Methods with speeial reference to biologieal variation.

Geschlechtsbestimmende Ursachen bei den Daphniden. (Vorläufige Mitteilung.) Von Alexander Issakowitsch. (Aus dem zoologischen Institut München.)

In seinen Beiträgen zur Naturgeschichte der Daphnoideen unterwirft Weismann die Fortpflanzungsfrage der Daphnien einem sehr eingehenden Studium und kommt zu dem Resultat, dass diesen Tieren eine ceyklische Fortpflanzungsweise eigen sei. Unter eyklischer Fortpflanzung versteht Weismann eine Art Generations- wechsel; es würde die parthenogenetische Fortpflanzung (durch Sommereier) nach einer bestimmten Zahl parthenogenetischer Generationen von der geschlechtlichen Fortpflanzung durch (Winter- eier) abgelöst. Weismann will die Unabhängigkeit des Auftretens der Geschlechtstiere von äusseren Lebensbedingungen und die Fixirung der Geschlechtsperioden auf bestimmte Generationen nachgewiesen haben. Er beantwortet die Frage: „Wovon hängt der Eintritt einer Geschlechtsperiode ab?“ in folgender Weise. Das Auftreten der Geschlechtsperioden ist an bestimmte Generationen gebunden. Es besteht aber eine indirekte Abhängigkeit der Cyklus- form von den äusseren Lebensverhältnissen; diese äußert sich darın, dass die Anzahl der den Geschlechtsperioden vorausgehenden un-

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geschlechtlichen Generationen einerseits um so kleiner ist, je häufiger durchschnittlich die Kolonien der betreffenden Art von Vernichtungsperioden heimgesucht werden; andererseits um so größer je seltener die Vernichtungsperioden eintreten. Solche Arten, welchen regelmäßig nur einmal im Jahre die Existenz- bedingungen (durch die Winterkälte) entzogen werden, haben den längsten Oyklus; Arten, welche sehr häufig der Vernichtung (durch Austrocknen, Kälte etc.) ausgesetzt sind, haben einen sehr kurzen Cyklus. Im ersten Fall kann sich nur ein Cyklus im Jahr ab- spielen, im letzteren deren zwei oder mehrere. Daher unterscheidet er monocyklische und polycyklische Arten.

Diese Ansichten W eismann’s trafen auf vielerseits geäußerten Widerspruch. Eine große Anzahl Forscher hielt an der Meinung fest, dass gerade die äußeren Existenzbedingungen durch ihre un- mittelbare Bewirkung das Auftreten der Geschlechtsperioden her- vorriefen. Indem ich mir die Besprechung dieser Arbeiten für meinen späteren ausführlicheren Bericht vorbehalte, muss ich jedoch hier sofort darauf hinweisen, dass die Versuche und Beobachtungen, welche diese Meinung stützen sollten, nirgends genügend beweis- kräftig waren. Ihre sich oft widersprechenden Ergebnisse konnten die Existenzberechtigung der Anschauungen Weismann’s nicht er- schüttern. Die Erklärung dieser Sachlage ıst in den großen Schwierigkeiten gegeben, mit denen eine exakte, in ihren Be- dingungen streng umgrenzte Kulturführung zu kämpfen hat. Daher beschränkten sich auch die meisten Forscher auf Beobachtungen der Daphnien-Kolonien ın der Natur, im Freien. Dass die Resultate solcher Beobachtungen oft vollkommen widersprechende und un- klare waren, kann uns nicht überraschen wer weiß, was da alles für Einflüsse mit im Spiele waren.

Die von mir auf Anregung von Herrn Professor R. Hertwig im letzten Sommersemester begonnenen Untersuchungen hatten nun das Ziel durch möglichst genaue Kulturführung einerseits tiefer in die Frage nach den geschlechtsbestimmenden Ursachen bei den Daphnien einzudringen zu versuchen, andererseits die eben be- sprochenen Anschauungen Weismann’s über die cyklische Fort- pflanzung zu prüfen.

Die Untersuchungen bestanden darin, dass ich die Lebens- bedingungen der Tiere auf verschiedene Weise veränderte und die Resultate untereinander verglich. Die Versuche stellte ich an einzelnen Tieren an und trennte sie von der Nachkommenschaft; letztere züchtete ich ebenfalls für sich weiter. Dieses Vorgehen erhöht die Schwierigkeit der Kulturführung, hat aber den großen Vorteil, dass es ein vollkommneres Überwachen und möglichste Würdigung aller Vorgänge an jedem einzelnen Individuum ge- stattet. Im Folgenden will ich nun kurz 1. über die Ergebnisse,

Issakowitsch, Geschlechtsbestimmende Ursachen bei den Daphniden. 531

welche ich durch das Studium der Temperatureinwirkungen bei gleichen Ernährungsbedingungen und 2. durch das Beobachten der Einwirkung verschiedentlicher Ernährungsbedingungen bei gleicher Temperatur erzielt habe, berichten.

Für die Kulturen dienten mir Tiere von der Spezies „Simoce- phalus vetulus“ O. F. Müller, die ich in den ersten Tagen des Februars 1905 ın großer Anzahl in einem mit Schlamm und Wasser gefüllten Gefässe des Institutes fand. Die Tiere waren eben erst in dem Gefäß neu aufgetreten, somit aus den Winter- eiern hervorgegangen.

Die Wirkung der Temperatur.

Meine Kulturen führte ich bei 3 verschiedenen Temperaturen:

a) Wärmekultur b) Zimmerkultur c\) Kältekultur 24° C. 16.20. En E:

a) Wärmekulturen.

In der Temperatur von 24° führte ich 2 Kulturen, deren jede ihren Anfang von je einem parthenogenetischen Weibchen nahm. Die eine ergab vom 6. Februar bis zum 15. Aprıl 6 parthenogenetische Generationen mit mehr als 70 Würfen ungefähr 500 Individuen. Alle Tiere waren parthenogenetische Weibchen! Erst vor einigen Tagen ist diese Kultur ausgestorben. Die Zahl der Individuen hat sich seit dem 15. April beinahe verdoppelt doch waren es immer und immer wieder nur parthenogenetische Weibchen, die geboren wurden, kein einziges Männchen. Schließlich hatte die Kultur einen Punkt erreicht, wo ıhre Fortpflanzungsfähigkeit zu erschlaffen begann: die Weibchen bildeten jetzt seltener Eier, oder es waren letztere entwicklungsunfähig und zerfielen im Brutraum des Muttertieres. Nach längerer Unfruchtbarkeit starben die senilen Weibchen eines natürlichen Todes.

Die zweite Wärmekultur ergab vom 6. Februar bis zum 15. April auch 6 Generationen mit mehr als 70 Würfen, eben- falls rund 500 Tiere. Die große Mehrzahl der Tiere waren partheno- genetische Weibchen, doch traten oft (meist in geringer Zahl) auch Männchen und geschlechtliche Weibchen auf. Je länger die Tiere der Temperatur von 24° C. ausgesetzt waren, desto deutlicher trat die Tendenz zu Tage zur reinen Parthenogenesis überzugehen, in 80°/, der beobachteten Fälle ist dieser Übergang tatsächlich kon- statirt worden und ich glaube die Überzeugung aussprechen zu dürfen, dass bei einer noch längeren Fortführung der Kultur man diesen Übergang in jedem einzelnen Falle nachweisen könnte. Vor einigen Tagen habe ich diese Kultur, da sie nichts neues mehr zu bieten vermochte, abgeschlossen.

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b) Zimmerkulturen.

Bei 16° C. führte ich 2 Kulturen, deren jede von je einem parthenogenetischen Weibchen ihren Ursprung nahm. Der erste ergab vom 6. Februar bis zum 15. April 2 Generationen mit 13 Würfen ungefähr 100 Tiere. Der erste Wurf bestand aus Weibchen, worauf fünfmal nur Männchen geboren wurden. Im sechsten Wurf wurden parthenogenetische Weibchen abgesetzt (von denen wiederum Männchen zur Welt gebracht wurden 2. Gene- ration; 3 Würfe). Darauf folgten wieder 2 Würfe nur männlicher Tiere. Die Kultur ist ausgestorben aus Mangel an Weibchen.

Die zweite Zimmerkultur ergab vom 6. Februar bis zum 15. April 3 Generationen mit über 30 Würfen etwa 250 Tiere. Die Jungen verhielten sich dem Geschlecht nach wie in der eben beschriebenen Kultur doch war der Übergang von den Weibchen zu den Männchen durch einen gemischten Wurf vermittelt. Zum Schlusse bildete das Muttertier ein Ephippium. Die Weibchen der ersten Geburten beider Zimmerkulturen bildeten Wintereier und Ephippien, warfen aber ihre Ephippien, weil die Tiere unbefruchtet waren, leer ab. Der erste Wurf nach abgestreiftem leerem Ephippium bestand immer nur aus parthenogenetischen Weibchen, der zweite war entweder rem männlich (selten wenigstens zur Mehrzahl männ- lich) oder bestand wiederum aus einem Ephippium. Nach Ab- wurf des letzteren wiederholte sich der eben beschriebene Vor- gang; der erste Wurf war rein weiblich, der zweite männlichen Charakters oder wieder ein Ephippium u. s. w. Diese Kultur ist ebenfalls aus Mangel an Weibchen erloschen.

c) Kältekulturen.

Diese Kulturen waren immer kurz, wurden daher oft wieder- holt. Sie hatten eine noch stärkere Tendenz zur Bildung von Ge- schlechtstieren als die Zimmerkulturen. Es traten meist schon im ersten Wurf Männchen auf und bald starb aus Mangel an Weib- chen die Kultur aus. Manchmal bildeten die Tiere, in die Kälte gebracht, sofort Ephippien. Nach Abwurf derselben bestand der nächste Wurf, wenn das Tier vorher unbefruchtet war aus Weib- chen, war dagegen das Tier vorher befruchtet und das Winterei im Ephippium abgeworfen aus Männchen. Es ist klar, dass diese Kulturen auch bald ausstarben.

Wenn wir nun die zitierten Resultate schon zusammenfassen wollten, so könnten wir den folgenden Satz aufstellen: „Die Tem- peratur ıst eine geschlechtsbestimmende Ursache und zwar begünstigt hohe Temperatur die Entwickelung der Eikeime zu ungeschlecht- lichen, die mittlere und niedere Temperatur die Entwickelung zu geschlechtlichen Tieren, mit von mittlerer zur niedrigen Temperatur steigender Kraft.“ Die Resultate scheinen auch darauf hinzuweisen,

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dass die Ernährung vollkommen jeden Einflusses auf das Geschlecht der Daphniennachkommenschaft entbehrt die Nahrung wurde den Tieren in allen diesen Versuchen in gleich reichem Maße ge- boten und die Veränderungen im Geschlecht der Nachkommen verliefen parallel den Veränderungen der Temperatur. Um diesen zweiten Schluss auf seine Richtigkeit zu prüfen, erschien es ange- messen, Versuche anzustellen, die speziell auf die Erforschung der Wirkung der Ernährung gerichtet wären. Dazu war es erforderlich, bei einer konstanten Temperatur die Tiere verschiedenen Ernäh- rungsbedingungen auszusetzen. Als konstante Temperatur wählte ich nun die hohe Temperatur von 24° C., da sie bei guter Ernäh- rung die Parthenogenesis begünstigt und das Auftreten von Ge- schlechtstieren verhindert; wird ıhr bei mangelhafter Ernährung dieselbe hohe Bedeutung zuzuschreiben sein ?

Durch die große Schwierigkeit, die ın der Beschaffenheit des Nährstoffes (Detritus) wurzelt, eine allmähliche Abstufung in der Ernährung der Tiere zu erzielen, wurde ich gezwungen, mich auf Hungerversuche zu beschränken.

Ich brachte dazu die Tiere in reines (filtriertes) Brunnenwasser und ließ sie längere Zeit (bis 8 Tage) ım diesem ausharren. Zu diesen Versuchen wählte ich Weibchen, bei denen eben Eier in den Brutraum übergetreten waren; das tat ich um sicher zu sein, dass die nach diesen in den Brutraum gelangenden Eier ihre ganze Entwickelung bei mangelhafter Ernährung durchzumachen gezwungen sind. Ich berücksichtigte daher hauptsächlich die Brut, welche sich aus diesen zweiten Eiern entwickelte. Und diese Brut bestand immer aus Geschlechtstieren! Ungeachtet der hohen Temperatur waren die Jungen immer nur Männchen und Wintereier entwickelnde Weibchen!

Ehe ich nun auf dies wichtige Resultat näher eingehe, möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers einer Erscheinung zulenken, die ich früher eben nur gestreift habe, nämlich dem bei niedriger Temperatur auffallenden Verhalten des ersten nach Abwurf eines Ephippiums folgenden Wurfes: Nach dem Abstreifen eines leeren Ephippiums besteht die nächstfolgende Brut immer aus partheno- genetischen Weibchen; die äußeren Bedingungen mögen sein, wie sie wollen. Daraus folgt, dass die Ursache dieser Erscheinung ım Inneren des Tieres zu suchen sei. Das unbefruchtete Winterei wird im Eierstock aufgelöst und resorbiert, was bedeutet, dass dem Eierstock des Tieres Nahrung in großem Maße zugeführt wird. Die darauf folgende Brut besteht aus parthenogenetischen Tieren. Nach Geburt dieser Tiere wird das vorherige Gleichgewicht zwischen Temperatur und Ernährung wieder hergestellt und die nächste Geburt bringt wieder Geschlechtstiere in die Welt. Will es nicht scheinen, dass in dieser Erscheinung alles zugunsten der Ernährung als geschlechtsbestimmender Ursache spricht?

534 Issakowitsch, Geschlechtsbestimmende Ursachen bei den Daphniden.

Es lässt sich nun noch eine schwerwiegende Tatsache für die Wichtigkeit der Ernährung in der uns interessierenden Frage an- führen. Diese Tatsache war schon Weismann bekannt, doch meiner Meinung nach, von ihm falsch gedeutet. Ich spreche von der interessanten Tätigkeit des Eierstockepithels, während der Ent- wickelung der Sommereier. Das Epithel der Röhre, die bei den Daphniden als Eierstock funktioniert, besteht bei einem erwachsenen Individuum, wenn das Lumen der Röhre von Eigruppen und Ei- zellen ausgefüllt ıst, aus so flachen Zellen, dass es längere Zeit übersehen wurde. Bei den eben geborenen Weibchen sind diese Zellen dagegen so blasıg aufgetrieben, dass die Röhre wie ein Strang blasiger Zellen erscheint. Wenn nun aus dem Keimlager junge Keimzellen vorzudringen anfangen, so drücken sie sich ın die Masse der blasigen Epithelzellen ein, die unter dem Einflusse des Druckes die sie anfüllende Flüssigkeit an die Eizellen abgeben und auf ihre unscheinbare Normalgröße zusammenschrumpfen. Das ist

ein Ernährungsvorgang die Epithelzellen funktionieren gewisser- maßen wie Zwischenhändler sie beziehen aus dem umgebenden

Medium, ın dem der Eierstock liegt, Nährmaterial, verbrauchen es aber nicht für sich, sondern übergeben es dem vorrückenden Ei zu seiner Entwickelung. Sind die Eier reif und aus dem Eierstock in den Brutraum übergetreten, so ımbibieren sich die zusammen- geschrumpften Epithelzellen von neuem von außen und füllen wieder das ganze Eierstockslumen aus, um abermals ihren Inhalt an die nachrückenden neuen Eigruppen abzugeben.

Bei der Wintereibildung existiert dieser Vorgang nicht! Die Epithelzellen bleiben dabei flach und untätig, das Winterei wächst und ernährt sich auf Kosten der anderen Eikeimgruppen, die sich im Eierstock befinden. Warum funktioniert hier der Epithelzellen- apparat nicht?

Weismann sucht diese Frage zu beantworten, indem er an- nimmt, dass die Tätigkeit dieser Epithelzellen nur für die Schnellig- keit der Eibildung von Bedeutung sei und schließt daraus, dass bei der Wintereibildung, wobei es auf Schnelligkeit nicht ankomme, die Tätigkeit der Epithelzellen überflüssig wäre, und daher einge- stellt wird. Meiner Ansicht nach ist diese Erklärung Weismann’s sehr unwahrscheinlich.

Ich denke, dass Weismann hier die Aufeinanderfolge der Erscheinungen nicht richtig aufgefasst hat ich glanbe nicht, dass die Epithelzellen ihre Tätigkeit einstellen, wenn ein Winterei sich bildet, sondern umgekehrt, dass das Winterei entsteht, wenn die Epithelzellen ihre Tätigkeit eingestellt haben. Den Grund hierfür erblicke ich in den Ernährungsverhältnissen des Tieres: wenn der Organısmus des Tieres reich an freien Nährstoffen und Reservestoffen ist, so werden diese leicht durch Vermittlung der Eierstockepithelzellen

Ikassowitsch, Geschlechtsbestimmende Ursachen bei den Daphniden. 535

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den Eiern zugeführt. Ist der Organismus dagegen schlecht ernährt, so können die Eierstockepithelzellen ihm keine Nährstoffe entziehen und das in Entwickelung begriffene Ei nimmt seine Zuflucht zur Auflösung und Resorption jüngerer Keimgruppen, was die Ent- stehung eines Wintereies zur Folge hat.

Wenn wir nun annehmen, dass bei niedriger Temperatur die assımilatorische Tätigkeit der Zelle herabgesetzt wird, und ın Be- tracht ziehen, dass der Stoffwechsel eines in Entwickelung be- griffenen Eikeimes ein viel intensiverer ıst, als der aller anderen Zellen des Organısmus, so müssen wir daraus schließen, dass bei niedriger Temperatur die Ernährung des Eies eine sehr ungünstige ist, da das Tier dem Eierstock nicht genügend Nährstoffe liefern kann. Wir müssen daraus folgern, dass dann im Eierstock Ver- hältnisse eintreten, wie die vorhin beschriebenen und müssen erwarten, dass ein Winterei oder die wegen ihrer kleineren Größe und Kurzlebigkeit zur Entwickelung weniger Nährstoffe bedürfenden männlichen Tiere ım nächsten Wurf abgesetzt werden. Dass es sich tatsächlich so verhält, konnten wir aus den besprochenen Tem- peraturkulturen ersehen. Ich hoffe schon durch diese Beweis- führung die Anschauung gekräftigt zu haben, für welche auch die folgenden Parallelkulturen sprechen, nämlich, dass die Ernährung eine geschlechtsbestimmende Ursache ist, und dass die Temperatur nur indirekt, durch Rückwirkung auf die assimilatorische Tätigkeit der Zelle, diese Bedeutung besitzt.

Die Parallelversuche, die ich als letzten Beweis für die Be- rechtigung dieser Anschauung anführen will, stellte ich in folgender Weise an: Ich entnahm aus der an erster Stelle genannten Wärme- kultur die gesamte Nachkommenschaft eines parthenogenetischen, einer späteren Generation angehörigen Weibchens, verteilte die Jungen auf zwei gleich große Gruppen, beließ die eine davon unter den alten Temperaturverhältnissen (24° C.), während ich die andere der Kälte (8° ©.) aussetzte und verglich die Vorgänge in den beiden Hälften der Brut untereinander. Diese Versuche stellte ich sechsmal an und die Resultate waren in allen Fällen so über- einstimmend, dass ich die folgenden zwei Tabellen als Typus der- selben erläutern kann.

Tabelle 1. Tabelle II. 24° C. 8°C. 24° 0. 8°C. Tr nn N en N Zn Q Q Q Wintereier Q d ® Wintereier Q dg Q tot tot Winterei tot

Winterei

536 Lebedinsky, Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars.

In der Tabelle I sieht man den Charakter der Nachkommen- schaft zweier Geschwisterweibchen, nachdem sie getrennt und das eine der Temperatur von 24° O©., das andere der Temperatur von C. ausgesetzt wurde, in zwei Parallelreihen nebeneinander wieder- gegeben. Vor dieser Trennung lebten beide gemeinschaftlich längere Zeit bei der Temperatur von 24°C. und hatten dreimal partheno- genetische Weibchen geboren. Das bei der ursprünglichen Tem- peratur belassene Mutterweibchen pflanzte sich in der partheno- genetischen Weise unverändert fort, bis es altersschwach wurde und starb. Das in die Kälte versetzte Tier brachte dagegen zwei- mal Männchen und schließlich zwei Wintereier zur Welt.

In der Tabelle II ist die Nachkommenschaft von 10 Geschwister- weibchen zu ersehen. Ich teilte diese Tiere in zwei Gruppen (von je 5 Tieren) und zog eine Gruppe bei 24°C. weiter, während die andere in die Temperatur von 8°C. übertragen wurde. Nach dem von der Tabelle I Gesagten glaube ich die zweite nicht näher be- sprechen zu müssen. Sie spricht für sich selbst.

Auf was ich in diesen beiden Fällen besonders aufmerksam machen möchte, ist die Tatsache, dass das Winterei die Reihe der Fortpflanzungsprodukte bei sinkender Temperatur oder Ernährung immer abschließt das sahen wir auch an den Zimmer-, Kälte- und Hungerkulturen. Der folgende Gedankengang, scheint mir, entspricht daher den Tatsachen:

Wenn die Ernährung des mütterlichen Organismus soweit ge- sunken ist, dass er nicht mehr im stande ıst, dem Ei zu seiner Entwickelung zum Weibchen genügend Nährstoffe zu bieten so entwickelt sich das anspruchslosere Männchen daraus. Sinkt die Ernährung des Muttertieres noch tiefer, ist es nicht mehr fähig, das Ei wenigstens zum männlichen Tiere zu entwickeln, so tritt eine große Anzahl primärer Eizellen zusammen, um auf Kosten der ganzen Menge ein einziges befruchtungsbedürftiges Winterei zu bilden.

Aus allem Vorhergesagten hebe ich nun folgenden Schluss hervor: Die Ernährung und die Temperatur (letztere durch ihre Rückwirkung auf die Ernährung) sind ausschlaggebend für das Auftreten oder Verschwinden der Geschlechtstiere.

Eine zyklische Fortpflanzungsweise im Sinne Weismann’s besitzen die Daphniden nicht. [63

1. Juni 1905.

Die Embryonalentwicklung der Pedicellina echinata Sars. Von Dr. J. Lebedinsky, Professor an der Universität in Odessa.

Unsere Kenntnisse über die Embryonalentwickelung der Ento-

prokten sind mehr als mangelhaft. Es sind ın der Tat nur zwei

"TORTEN

Lebedinsky, Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars, 557

Arbeiten, die dieses Thema behandeln: die Hatsche k’sehe (1) Arbeit über die Entwickelung der Pedieellina, aus dem Jahre 1877, ist ohne weiteres zu veraltet und kann dem modernen Standpunkte nicht mehr befriedigen. Dazu kommt noch, dass die Beobachtungen nur auf optischen Schnitten ausgeführt sind, und dadurch ist das Innere der Entwickelungsvorgänge wenig berührt. Die zweite der dies- bezüglichen Arbeiten ist diejenige von Harmer (2) On the Structure and Development of Loxosoma,“ aus dem Jahre 1885. Der Forscher behandelt die Entwickelung von Zoxosoma auf wirklichen Schnitten und das Endresultat seiner Untersuchungen ist dieses, dass er die Beobachtungen von Hatschek bestätigt, außer jenem Teile, der den Dorsalorgan oder Entodermsäckchen betrifft.

Der wesentliche und beiden Arbeiten gemeinsame Mangel legt darin, dass beide Beobachter die Entwickelung des Mesoderms wenig berührt haben, indem die definitive Differenzierung desselben völlig beiseite gelassen ist: welche Organe bilden sich aus dem Mesoderm und wie bilden sie sich das sind die Fragen, die bis heute unbeantwortet sind. Es ist um so mehr beachtungswert, dass es nämlich die Entwickelung des Mesoderms ist, die schon allein die wichtigen Tatsachen geben kann, die die Morphologie, sowie die systematische Stellung dieser Tiere erklären vermögen. Nur aus dem Mangel der embryologischen Tatsachen ıst es zu erklären, warum die systematische Stellung der Entoprokten so unsicher und zweifelhaft ist. Die ausführliche Arbeit Ehler’s (3) über die Ana- tomie der Entoprokten gibt keine befriedigende Lösung der mor- phologischen Fragen. Zur richtigen Beurteilung anatomischer Er- gebnisse muss man in letzter Instanz an die Embryologie dieser Tiere appellieren, die wenig bekannt ist.

Das Material habe ich während meines Aufenthalts auf der zoologischen Station zu Neapel und auf der marinen Station ın Banyuls s/m gesammelt. Ich spreche den Beamten der beiden Stationen auch an diesem Ort meinen Dank aus.

Die ersten Entwickelungsmomente spielen sich im Ovarium ab, hier findet die Reifung sowie die Befruchtung des Eies statt. Das unreife Ei enthält ein großes Keimbläschen, im Stadium der ersten Richtungsspindel kann man acht kurze stäbchenförmige Chromosomen beobachten, die in der Äquatorialplatte angeordnet sind. Schon auf diesem Stadium dringen die Spormatozoen ins Ei hinein, es sind mehrere, von denen aber nur ein einziges die Befruch- tung ausführt, indem es sich in den Samenkern umwandelt. Was die überflüssigen Spermatozoen betrifft, befinden sie sich im Ei ziemlich lang: man kann die Spermatozoen auf vorge- schrittener Blastula stadica noch beobachten, indem sie in die Zellen hineingedrungen sind und hier der allmählichen Zerstörung unterliegen.

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Das reife und befruchtete wird in das Atrium abgelegt, indem dasselbe, die Vagina passierend, mit einer zarten Hülle bekleidet wird. Die Embryonalentwickelung verläuft bekanntlich in dem Atrium des Muttertieres, wo man mehrere Embryonen (bis 20) in ver- schiedener Stadien findet. Die Furchung des Eies ist total-ınäquat und verläuft in der Weise, wie sie Hatschek beobachtet hat. In- dessen habe ich der Segmentation keine genauere Untersuchung gewidmet. Auf dem Stadium von sieben Blastomeren existiert schon eine bipolare Blastula, deren anımale Hälfte aus drei kleinen und die vegetative aus vier großen Blastomeren besteht. Die Blastomeren begrenzen eine winzige Furchungshöhle. Die definitive Blastula ist ganz kugelig, ihre beiden Hälften unterscheiden sich voneinander scharf, indem die vegetativen größeren Zellen grobkörnig sind und sich schwach färben, die anımalen kleineren Zellen ein feinkörniges Plasma enthalten, das sich gut tingiert. Das charakteristische einer solchen Blastula stellen zweı Zellen dar, die auf der Grenze zwischen den beiden Hälften der Blastula liegen, durch mehrere Zellen von- einander abgetrennt. Diese zwei Zellen unterscheiden sich von den übrigen Zellen der Blastula durch mehrere Eigentümlichkeiten: sie sind abgerundet, groß, färben sich schwach und enthalten einen auffallend großen Kern, der mit einem hellen Hofe umgeben ist. Die bipolare Blastula ist von nun an bilateralsymmetrich, da die zwei großen Zellen links und rechts liegen. Eine solche bipolare und bisymmetrische Blastula ist noch dadurch bemerkenswert, dass die Anlagen zu den drei Keimblättern oberflächlich liegen. Die vege- tatıve Hälfte stellt das Entoderm dar, die anımale das Ektoderm und die zwei großen Zellen sind die Urmesodermzellen. Eine defi- nitive gegenseitige Anordnung der Keimblätter realisiert sich durch die Gastrulation, indem die vegetative Hälfte der Blastula sich abplattet und dann invaginiert. Die eingestülpten Entodermzellen begrenzen eine spaltförmige Gastralhöhle, die mit eimem weiten Blastoporus nach außen kommuniziert. Dieser letztere ist verlängert und an seinem Hinterende liegen die beiden Urmesodermzellen, die ihre oberflächliche Lage immer noch behalten und durch andere Zellen voneinander getrennt sind. Ist die Gastrulation beendet, so kommen beide Urmesodermzellen in die Segmentationshöhle zu liegen jederseits des Entoderms, wie es Harmer in seiner Fig. 6 ganz richtig abgebildet hat. Kein einzigesmal habe ich beobachtet, dass die Zellen sich berühren, wie das Hatschek in Wort und Bild dargestellt hat (siehe s. Fig. 13). Die Gastrula ist jetzt etwas verlängert, ihre Gastralhöhle kommuniziert nach außen durch den Blastoporus, der in derselben Richtung wie Gastrula selbst aus- gezogen ist Mit diesem Stadium sind die drei Keimblätter ange- legt, im Verlauf der weiteren Entwickelung differenziert sich jedes in die entsprechenden Organe.

Lebedinsky, Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars. 559

Das Ektoderm. Nach der Abschnürung des Entodermsackes plattet sich die Ventralfläche des Embryo ab und verdickt sich bedeutend, indem ihre Zellen ein hohes einschichtiges Zylinder- epithel darstellen. Das ektodermale Organ, das zuerst erscheint, ist die Kittdrüse; ıhre erste Anlage bietet ein Feld von hohen Zellen in der Mitte des anımalen Poles dar, die etwas zusammen- gedrückt und fächerartig angeordnet sind. Die Zellen färben sich schwach und sehen blass aus. Bei weiterer Entwickelung stülpt sich die Anlage ein, indem die mittleren Zellen sich zuerst ein- senken, und die benachbarten Zellen mitziehen. Die Wand der Ein- stülpung besteht aus dem einschichtigen Zylinderepithel, das eine gut ausgeprägte Höhle begrenzt, diese letztere ist stark bewimpert. In späteren Stadien wird das Epithel der Drüse mehrschichtig, indem die Zellen des Bodens sich stärker vermehren, während der Hals der Drüse aus einschichtigem Epithel besteht. Bei der an die Trochophera erinnernden Larve ist die Drüse birnförmig, ihre kanal- artig gewordene Höhle verläuft nur durch den Hals, der Boden aber stellt eine solide Anhäufung von Zellen dar. Diese letzteren haben ihren embryonalen Charakter aufgegeben und sind den Ganglienzellen sehr ähnlich. Im letzten Embryonalstadıum erzeugen diese Zellen einige Fasern und so bildet sich eine Punktsubstanz, die von kleinen Zellen umgeben ist. Von seiten der Kittdrüse gehen zwei symmetrische Faserzüge aus, die als Kommissuren zum Dorsal- organ verlaufen. Die Kittdrüse ıst jetzt etwas verschoben und be- findet sich auf der Vorderfläche des Embryo über dem Dorsalorgan, dessen Entwickelung derjenigen der Kittdrüse sehr ähnlich ist.

Das Dorsalorgan legt sich als eine bisymmetrische Ektoderm- verdickung der Vorderfläche des Embryo an. Die Verdickung, deren hohe Zellen einen großen Kern enthalten, stülpt sich ein und wandelt sich in ein Säckchen um. Die innere Fläche des Säckchens, das durch einen Hals nach außen kommuniziert, ist mit langen Cilien bekleidet. Später bildet das Säckchen zwei laterale Diver- tikel, die den stärker verdickten Seiten des Säckchens entsprechen. Das bis jetzt einschichtige Epithel des Säckchens wird mehrschichtig, indem die Wände der Divertikel besonders verdickt werden und aus mehreren, vier bis fünf Reihen von Zellen bestehen. Bei den Em- bryonen, die der Trochophera nahe stehen, sind die Teile des Dorsalorgans histologisch differenziert: der Hals derselben, der ein kurzes mit einer kleinen Öffnung nach außen kommunizierendes Röhrchen darstellt, besteht aus dem einschichtigen Epithel, das be- wimpert ist; während der Boden des Organs und beide Divertikel eine vollständige histologische Differenzierung darbieten, indem sie aus Leidig’scher Punktsubstanz und kleinen Zellen bestehen. Das Dorsalorgan stellt somit ein typisches Ganglion dar. Das Dorsal- organ schickt Faserzüge aus, die als Kommissuren zu anderen Bil-

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dungen verlaufen. Solche Kommissuren sind in der Zahl von drei Paaren vorhanden: das erste Paar vorläuft zur Kittdrüse (diese Kommissuren sind schon oben erwähnt), das zweite Paar tritt an die bilateralsymmetrische Verdickung der Vorderwand des Atriums, die die Anlage des Ventralganglions darstellt; das dritte Paar von Kommissuren verbindet das Dorsalorgan mit den Verdickungen auf der Lateralwand des Atriums, die ein zweites rudimentäres Ganglion dartellen.

Was die anderen Ektodermalorgane wie Ösophagus, Rektum, Atrium anbetrifft, so ıst ihre Entwickelung schon von Hatschek richtig beobachtet worden. Alle diese Organe befinden sich auf der Ventralseite des Embryo. Diese verdickt sich bedeutend, indem sie aus einem einschichtigen Zylinderepithel besteht und bildet fast gleichzeitig drei Einstülpungen: die mittlere repräsentiert die Atrium- anlage, von den beiden anderen entspricht eme dem Ösophagus, die zweite dem Rektum. Die ösophageale Einstülpung wächst nach innen und nımmt die Form eines verlängerten Rohres an, das mit dem blinden Ende an den Magen stößt. Die innere Fläche des Ösophagus ist mit Cilien bekleidet, besonders lang sind die Cilien, die die Mundöffnung umkreisen. Die Kommunikation des Ösopha- gus mit dem Magen entsteht sehr früh, wie es Hatschek schon beobachtet hat, indem die Scheidewand resorbiert wird. Das Rektum bietet nichts besonderes in seiner Entwickelung: die ektodermale Einstülpung verlängert sich als ein dünnes Röhrchen, das mit seinem verjüngten Innenende den Mitteldarm berührt und mit ihm kommuni- ziert. Die Zellen des Rektums werden sehr abgeplattet und das Lumen ist mit kurzen Oilien ausgekleidet.

Die Entwickelung des Atriums ist komplizierter. Die flache Atrialfalte, die die erste Anlage des Atriums darstellt, vertieft sich immer mehr und bildet zuletzt eine geräumige Höhle, deren Wand aus einem einschichtigen bewimperten Zylinderepithel besteht. In späteren Stadien wird das Atrium viereckig und bildet die Blut- taschen, die als Falten oder Divertikel der Atrialwand entstehen und von Ecken abgehen. Die Wände des Atriums, die sich zwischen den Divertikeln befinden, unterscheiden sich als eine vordere, zwei seitliche und eine hintere Wand. Jede von diesen vier Wänden trägt je eine Verdickung. Die Verdickung: der vorderen zum Ösophagus gewendeten Atrialwand ist bilateralsymmetrisch; sie besteht aus einer Reihe von hohen bewimperten Zellen und stellt die Anlage des Ventralganglions dar. Dieses letztere entwickelt sich sehr langsam noch beı der Larve, die zum Ausschlüpfen fertig ist, befindet sich die Anlage des Ventralganglions fast im demselben Zustande wıe in den früheren Stadien, was schon Hatschek ganz richtig beobachtet hat. Die hintere Wand des Atriums, die dem Rektum zugewandt ist, bietet auch eine bisymmetrische Verdickung

Lebedinsky, Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars. 541

dar, die derjenigen der Vorderwand in allen Verhältnissen ähnlich ist, nur sind ihre Zellen etwas niedriger. Ich betrachte dieselbe als Anlage eines selbständigen Ganglions, das nur bei dem Embryo existiert, also ein embryonales Ganglion ist. Dasselbe kann Hinter- ganglion genannt werden, im Gegenteil zum Ventralganglion, da sein Vorderganglion ist.

Die Seitenwände des Atriums bilden je eine Verdickung, die aus hohen bewimperten Zellen besteht und die Anlage eines Gang-

Nrectum

Laterallängsschnitt, oc. 2+ ob. E. Zeiss. Frontalschnitt, oc. 4—+ ob. ©. Zeiss. Ag. = Ausführungsgang der Exkre- ov. = Ovarium II. paar Somiten.

tionsorgane. t. Testiculus III. paar Somiten. Atrh. = Atriumhöhle. Vga. Ventral- oder Hinterganglion- Atre. Einstülpung zum Somit. anlage. ©. = Kommissur zur Ventralganglion-

anlage. = Kommissur zum mittleren Gang-

lion. Do. = Dorsalorgan. Ex. = Exkretionsorgan I. paar So-

miten. Hg. = Hinterganglionanlage. Mg. = Mittelganglionanlage.

Mgn.— Magen.

lions darstellt, dessen beide Hälften durch die Einstülpung des medialen Teiles der Ventralfläche zur Bildung des Atriums selbst getrennt sind. Dass diese seitlichen Verdickungen die Anlage eines Ganglions darstellen, dokumentiert sich noch aus den Kommissuren, die dieselben mit dem Dorsalorgan resp. „Kopfganglion!)“ ver- binden. Dieses seitliche Ganglion ist auch ein embryonales, da es bei dem erwachsenen Tiere nicht bekannt ist; dasselbe kann als ein mittleres Embryonalganglion bezeichnet sein. Zu den ektodermalen

1) Im Sinne Harmer’s, der spricht: „The dorsal organ is not a budding structure, but is the supra-oesophogeal ganglion“, 1. e. p. 326.

542 Lebedinsky, Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars.

Bildungen gehören noch die Atrialrinne und die distalen Abschnitte der Geschlechtsorgane. Darüber wıll ich unten sprechen.

Das Entoderm. Die eigentümliche Verschließung des Blasto- porus führt zur Bildung eines vorübergehenden Anhanges am Magen. Der Verschluss erfolgt langsam, von hinten nach vorne. Ist der Hinterteil des verlängerten Blastoporus schon geschlossen, so schnürt sich hier das Entoderm vom Ektoderm ab, und so entsteht eine scheinbare Verlängerung des Entodermsackes nach hinten, welche nun durch einen kurzem Strang mit dem Reste des Blastoporus verbunden ist. Bei weiterer Schließung des Blastoporus wird dieser Strang zwischen den Ektodermzellen eingeklemmt, um sich später vom Ektoderm zu sondern. Ich bin geneigt, diesem entodermalen Strang eine wichtige morphologische Deutung zuzuschreiben: der- selbe, als ein Divertikel des Darmes, das zum Blastoporus Be- zıehung hat, kann mit Recht als ein rudımentäres Notochord be- trachtet werden. Der abgeschnürte Entodermsack bietet in seiner weiteren Entwickelung, die schon von Hatschek richtig beobachtet wurde, nichts Besonderes. Derselbe differenziert sich in zwei sehr ungleiche Abschnitte: der vordere ist viel größer und stellt den Magen dar, dessen Ventralwand sich histologisch differenziert und zur Leber wird; der hintere kleinere Abschnitt stellt den Mittel- darm dar, jenen kleinen Teil des Darmtraktus, der als zwiebel- förmig zu bezeichnen ist und vom Rektum durch eine scharfe Ein- schnürung getrennt ist. Die innere Fläche des Mitteldarmes sowie des Magens ist mit kurzen Cilien bekleidet. Der Magen kommuni- ziert später mit dem Ösophagus und der Mitteldarm mit dem Rektum.

Das Mesoderm. Das Mesoderm erscheint in zwei Formen: als Mesenchym und als Cölothel. Das Mesenchym entsteht auf Kosten des Ektoderms; die Stelle, von der die Bildung des Mesen- chyms ausgeht, bietet eine bisymmetrische Ektodermverdickung dar, die auf der Hinterfläche des Embryo in demselben Niveau wie die Anlage des Dorsalorgans liegt. Die Zellen der einschichtigen Verdickung, die sich schwach färben und daher blass aussehen, teilen sich karyokinetisch in schräger Richtung, wobei einige Zellen sich aus dem Verband loslösen. Diese letzteren sind wirkliche Wanderzellen, da sie schon auf dem nächsten Stadium von ihrer Entstehungsstelle weit entfernt sind, indem einige von ihnen an verschiedenen Punkten an das Ektoderm angeschmiegt sind. Was das Schicksal der Mesenchymzellen betrifft, kann ich nichts Posi- tıves mitteilen, da ich diese Frage nicht verfolgt habe. Jedenfalls ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Zellen sich in die Muskel-

zellen umwandeln, da die gesamte Muskulatur des Embryo die spindelförmigen sowie die verästelten Fasern mesenchymatischen

Ursprungs ist.

Lebedinsky, Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars. 545

Das Cölothel entwickelt sich aus zwei Urmesodermzellen aus, die schon oben erwähnt sind. Diese teilen sich karyokinetisch und bilden je eine kurze Reihe von kleineren Zellen. Durch fortgesetzte Zellteilung entsteht jederseits Mesodermstreifen, dessen Zellen in zweı, stellenweise in drei Reihen gelagert sind. Im nächsten Stadium ordnen sich die Zellen des Mesodermstreifens in zwei epitheliale Reihen resp. Schichten, die eine spaltenförmige Höhle begrenzen. Die Anordnung der Zellen zum Epithel des Mesodermstreifens geht von vorne nach hinten, wo die Mutterzellen immer noch neue Zellen abteilen, die locker liegen. Die anfangs spaltenförmige Höhle ver- größert sich bedeutend und die Mesodermstreifen wandeln sich in die Cölomsäcke um, deren Wand aus einem einschichtigen Epithel besteht. Bei Embryonen, die dem Trochophora-Stadium entsprechen, zeigen die Uölomsäcke quere Einschnürungen, die ım Vorderteile des CGölomsackes zuerst auftreten und von hier nach hinten fort- schreiten. Auf dem letzten Embryonalstadium, kurz vor dem Aus- schlüpfen des Embryo, sind die Cölomsäcke definitiv differenziert, indem jeder von ihnen sich ın drei Somiten gliedert, die als drei Paar Blasen metamer aufeinanderfolgen. Im spätesten Embryonal- stadium sind die Somiten nicht mehr gleich groß, wie sie es im Anfange waren und zeigen eine verschiedene histologische Diffe- renzierung: die vorderen Somiten, die die kleinsten sind, stellen Bläschen dar, deren Wand aus kubischen Zellen besteht; diese letzteren färben sich sehr schwach und ihre Kerne liegen immer in dem inneren zur Höhle gewendeten Ende. Jedes Bläschen schickt einen hohlen Fortsatz aus, der als ein schlankes Kanälchen nach außen kommuniziert, indem beide Öffnungen vor der Ventralganglion- anlage getrennt liegen. Was die funktionelle Bedeutung dieser Bläschen anbetrifft, so repräsentieren sie die Exkretionsorgane des Embryo, denen der unpaare Ausführungsgang wie derselbe bei dem erwachsenen Tier existiert beim Embryo noch fehlt. Das Lumen der Kanälchen ıst stark bewimpert. Die mittleren Bläschen, die ben Somiten des zweiten Paares entsprechen, sind die größten, ihre Wand besteht aus dem einschichtigen kubischen Epithel, dessen Zellen sich schwach färben und deren Kerne peripherisch ange- ordnet sind.

Die hinteren Bläschen, die den Somiten des dritten Paares entsprechen, bieten eine scharf ausgezeichnete histologische Diffe- renz dar: ihre Zellen sind kubisch oder polygonal, ıhr Plasma grob- körnig und die großen Kerne sind mit einem hellen Hofe umgeben. Die Zellen sind embryonalen Keimzellen am meisten ähnlich. Was die Bedeutung der mittleren sowie der hinteren Bläschen betrifft, so stellen sie die Anlagen der hermaphroditischen Geschlechts- organe dar, indem die mittleren den Ovarien und die hinteren den Hoden entsprechen. Diese Deutung der Bläschen die ich nur

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provisorisch ausspreche stimmt mit der Lagerung überein, die die Bläschen zur Anlage der Vagina haben. Diese letztere entsteht als eine mediale Falte des Atriumbodens, die später rinnenförmig wird und sich von vorne nach hinten allmählich abschnürt. Das Hinterende des Rohres schnürt sich nicht ab, und so entsteht eine Eingangsöffnung, die mit der Atriumshöhle kommuniziert.

Ich habe noch eine bemerkenswerte Besonderheit in der Ent- wickelung der hinteren Bläschen hervorzuheben: im Bereiche der hinteren Somiten bilden sich ein Paar Einstülpungen der Atrialwand, indem jede kanalförmige Einstülpung mit seinem blinden Ende an das entsprechende Bläschen resp. Somit zutritt. Wir haben hier die anatomischen Beziehungen, wie sie bei der Entwickelung des Metanephridiums stattfinden. Ein zweites Paar Einstülpungen der Atrialwand tritt auch an die mittleren Somiten heran, aber sie sind kurze Falten, keine Rohre wie diejenigen der hinteren Somiten.

Meine Ergebnisse der Embryonalentwickelung der Pedicellina fasse ich zum Schluss noch kurz zusammen.

Das reifende enthält in der ersten Richtungsspindel acht Chromosomen. Bei der Befruchtung dringen im das Ei mehrere Spermatozoen hinein, von denen aber nur ein einziges die Befruch- tung bewirkt. Die überflüssigen Spermatozoen geraten in die Furchungszellen und gehen hier zugrunde.

Die Eifurchung ist total-inäquat, aus der Eifurchung resultiert eine bipolare Blastula, die mit Auftreten von Urmesodermzellen auch bisymmetrisch wird. In der Blastula sind die Keimblätter ober- flächlich schon angedeutet. Eine definitive Sonderung der Keim- blätter realisiert sich durch die Invaginationsgastrula: die einge- stülpte Hälfte der Blastula stellt das Entoderm dar, die animale wird zum Ektoderm, zwei Urmesodermzellen liefern das Mesoderm.

Das Dorsalorgan resp. „Kopfganglion“ bildet sich durch Ein- stülpung des Ektoderms. Dasselbe differenziert sich zu Fasern und Ganglienzellen; die bewimperte Höhle des Organs kommuniziert nach außen. Das Dorsalorgan schickt drei Paar Kommissuren: 1. zur Kittdrüse, 2. zur Anlage des vorderen oder Ventralganglions und 3. zur Anlage des mittleren rudimentären Ganglions.

Die „Kittdrüse“ entsteht als eine Einstülpung des Ekto- derms, differenziert sich in Punktsubstanz und Ganglienzellen, aber diese Differenzierung ist undeutlich.

Das Atrium bildet sich als eine Einstülpung auf der Ventral- fläche des Embryo. Die Wände des Atrium bilden Verdickungen, die die Ganglionanlagen darstellen.

Das Nervensystem des Embryo besteht aus dem „Kopf- ganglıon“ (Dorsalorgan) und der Bauchkette, die durch drei Gang- lienanlagen dargestellt ist. Das „Kopfganglion* (Dorsalorgan) ist mit der Ventralganglionanlage durch zwei Schlundkommissuren ver-

ach

Lebedinsky, Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars. 545

bunden, die den Ösophagus umfassen nnd einen wirklichen Schlund- ring bilden.

Die Vagina entsteht als eine mediale Einstülpung des Atrium- bodens. Die Abschnürung der Vaginalanlage geht von vorne nach hinten.

Das Entoderm bildet bei der Schließung des Blastoporus ein Divertikel, das vom morphologischen Standpunkte ein rudimentäres Notochord darstellt. Der Entodermsack differenziert sich in zwei sehr ungleiche Abschnitte: der größere ist der Magen und der kleinere der Mitteldarm.

Das Mesenchym entsteht aus einer Ektovermverdiekung, die bissymmetrisch ist und sich auf der Hinterfläche des Embryo befindet.

Das Gölothel entwickelt sich aus zwei Urmesodernzellen. Diese teilen sich und bilden zwei Mesodermstreifen. Die Zellen der Mesodermstreifen ordnen sich epithelartig an, wodurch sich die Mesodermstreifen in die Cölomsäcke umwandeln. Diese letzteren gliedern sich regelmäßig ın drei Paar Somiten, die metamer ange- ordnet sind. Die vorderen Somiten werden die Exkretionsorgane des Embryo, indem jedes mit einer Öffnung für sich nach außen kommuniziert. Die mittleren und die hinteren Somiten stellen die Anlagen der hermaphroditischen Geschlechtsorgane dar, indem die mittleren den künftigen Ovarıen und die hinteren den Hoden ent- sprechen. An den mittleren, sowie den hinteren Somiten treten paarige Einstülpungen der Atrialwand hervor, eine Einrichtung, die einem Entwickelungsstadium der Metanephridien ganz identisch ist.

Zum Schlusse habe ich noch an die mitgeteilten Beobachtungen einige Bemerkungen theoretischer Natur anzuschließen; ich be- schränke mich auf zwei Punkte, die meiner Meinung nach die Mor- phologie der Entoprokten in befriedigender Weise erklären. Das sind das Nervensystem und die Mesodermbildungen. Ich bestätige völlig die Beobachtung von Harmer, wonach das Dorsalorgan ein Ganglion ist. Ich habe noch hinzuzufügen, dass die sog. Kittdrüse auch ein Ganglion darstellt, also sind in der Kopfregion der Ento- prokten-Embryonen zwei Ganglien. Man kann nun die Frage auf- werfen, ob sie phylogenetisch zwei selbständige Bildungen dar- stellen und welche von ihnen dann die Scheitelplatte repräsentiert, oder ob beide Bildungen nur Teile eines und desselben Organs sind, welches sich in zwei Teile gesondert hat. Ich bin geneigt, die erstere Anschauung anzunehmen und betrachte die „Kittdrüse“ als eine Scheitelplatte, die sich aboral anlegt und später ventral- wärts verlagert ist. Was das Dorsalorgan anbetrifft, so ist sein Homologon unter den übrigen Anlagen des Scheitelfeldes der Anne- lidenlarve zu suchen. Die Kopfganglienanlagen sind durch die Schlundkommissuren mit der Bauchkette verbunden, die aus drei Paar Ganglienanlagen besteht. Die Zusammensetzung des Nerven-

XXV. 3)

546 Lebedinsky, Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars.

systems des Pedicellina-Embryo aus dem Kopfganglion und .der Bauchkette erlaubt uns, den Körper der Entoprokten als einen aus dem Kopflappen und drei Segmenten bestehenden zu betrachten. Eine solche Betrachtung findet eine weitere Bestätigung in der Entwickelung des Mesoderms. Das Vorhandensein von Mesoderm- streifen und die Umwandlung derselben in die Gölomsäcke, die in drei Paar Somiten gegliedert werden, weisen darauf hin, dass wir es in den Entoprokten mit Tieren zu tun haben, die metamer gebaut sind und ein wirkliches Cölom haben!). Die drei Paar Somiten lassen erkennen, dass die Entoprokten dreigliederige Tiere sind. Das spätere Schicksal der Somiten bietet nichts Auffälliges. Die primäre Funktion der Somiten ist eine exkretorisch-geschlechtliche, sekundär haben sich diese Funktionen getrennt und wurden von verschiedenen Somiten übernommen.

Die Morphologie des Nervensystems und des Mesoderms gibt uns sichere Hinweise auf die systematische Stellung der Ento- prokten, die zurzeit sehr verschiedenen beantwortetist. Hatschek(5) hat die Entoprokten vollständig von den Ektoprokten abgetrennt und reiht dieselben unter die Scoleciden ein?), welche nach Hatschek „Tiere mit primärer Leibeshöhle, mit Mesenchymmuskeln, mit Pro-

tonephridien sind und auf die Trochopkora direkt zurückführbar

sind.“ Vom morphologischen Standpunkte, den wir aus der Em- bryologie der Entoprokten gewonnen haben, sind die Entoprokten keine Scoleciden, da sie ein embryonales UGölom haben und ihre Exkretionsorgane echte Metanephridien sind. Der Bau der Ex- kretionsorgane war ein Hauptargument für die Beurteilung der Entoprokten als Scloeiden. Nun aber ist die alte und viel um-

strittene Frage, ob das Lumen des Exkretionsorgans intra- oder interzellulär ist, embryologisch im letzteren Sinne beantwortet.

Den letzten Versuch Stiasny’s(7), das Problem auf anatomischem Wege zu lösen, betrachte ıch als einen ganz misslungenen. Harmer(2) gibt folgende morphologische Beurteilung der Ento- prokten: „the Entoprocta, larval and adult, are true Trochospheres, possessing a ventral flexure of the alimentary canal, no true body- cavity, and a pair of head-kidneys“. Diese Beurteilung ist mit derjenigen Hatschek’s fast identisch, aber was die systematische Stellung anbetrifit, so ıst Harmer zu einem anderen Schlusse an- gekommen: „The nearest allies of the Entoprocta are the trocho- sphere larvae of Mollusca or Chaetopoda and the adult Rotifera“. Derselben Meinung ist auch E.Schultz (8), welcher in letzter Zeit die Ansicht ausgesprochen hat: „Die Entoprokten sind geschlechts-

1) Aus theoretischen Betrachtungen kommt Schimkewitch (4) zum Schluss, dass die Entoprokta das Cölom einmal gehabt haben und „ont probablement perdu pour la seconde fois leur cavit@ coelomique,“ p. 224.

2) Dieser Anschauung schließen sich auch Korschett und Heider(6) an.

Lebedensky, Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars. 547

reife Larven der Weichtiere“. Beide Ansichten sind jetzt nicht mehr haltbar, da die Entoprokta nur der Trochophora ähnlich, aber keine echten Trochophoren sind.

Es gibt noch eine dritte Ansicht, nach der die Entoprokten unter die Bryozoen eingereiht und an die Ektoprokta enge ange- gliedert und beide Gruppen als Brachysclecida zusammengefasst werden. Diese Ansicht ist meines Wissens von Ehler’s(3) am gründlichsten ausgeführt worden, indem der genannte Forscher in seinen Betrachtungen vom Cephalodiscus ausgeht. Zwischen Cephalodiscus und den Pedicelliniden existiert eine vielfache Über- einstimmung: 1. der Körper ist in Stiel und Leib geschieden, indem bei beiden Formen der Leib des Tieres schief auf dem Stiele be- festigt ist, 2. das äußere Körperepithel beider Formen trägt keine Kutikula, 3. auf der freien Oberfläche des Cephalodiscus grenzt sich ein Bezirk ab, welcher der Fläche des Atrium entspricht, insofern auf ihm symmetrisch zur Medianebene gelagert sind: die Öffnungen des Exkretionsapparates, das Nervensystem und die Mündungen der Geschlechtsorgane, und 4. die sekundäre Körperhöhle beider Tier- formen stellt Ehlers in Abrede, da er ein die Körperhöhle aus- kleidendes Peritoneum nicht gesehen hat.

Von diesen Angaben besitzen die die Exkretions- und Ge- schlechtsorgane sowie die Körperhöhlen betreffenden eine größere morphologische Bedeutung. Denn wir sehen, dass die Einrichtung der Exkretions- sowie Geschlechtsorgane des Cephalodiscus dem embryonalen Zustand entsprechenden Organe bei Pedicellina gleicht. Der unpaare Ausführungsgang der beiden Organe stellt bei Pedi- cellina eine sekundäre Einrichtung dar. Was die sekundäre Leibes- höhle des Cephalodiscus anbetrifit, so ist ihre Existenz zurzeit nicht mehr zweifelhaft und besteht dieselbe aus drei Segmenten, wie auch bei dem Embryo der Pedicellina. Diese kurz angedeuteten Betrach- tungen scheinen mir genügend, um die Entoprokta in erster Linie dem @ephalodiscus anzugliedern.

Literaturverzeichnis.

1. Hatschek, B. Embryonalentwickelung und Knospung der Pedicellina echinata. Zeit. f. w. Zool. 29. 1887.

2. Harmer, S. On the Structure and Development of Loxosama. Quart. Journ. of mier. Sc. XXV. 1885.

3. Ehlers, E. Zur Kenntnis der Pedicellinieen. Abhandl. d. königl. Gesell. d. Wissensch. zu Göttingen. 36. 1559 —90.

4. Schimkewitch, W. Sur les relations g@netiques de Metazoaires. ÜCongres international de Zoologie. Deuxi&me Partie. Moscou. 1895.

5. Hatschek, B. Lehrbuch der Zoologie. Jena 1888.

6. Korschelt, E. und Heider, K. Lehrbuch der vergleichenden Entwickelungs- geschichte der wirbellosen Tiere. Jena 1893.

35*F

548 Weinberg, Biologische Faktoren in Staat und Geschichte.

7. Stiasny, G@. Beitrag zur Kenntnis des Exkretionsapparates der Entoprokten. Arbeit aus dem zool. Inst. Wien, Tom. XV, 1904.

8. Schultz, E. Ftudes sur la reg@neration chez les vers. Travaux de la Soeidte Imper. des Naturalistes de St Petersbvurg. T. XXXIV. 1904.

Biologische Faktoren in Staat und Geschichte.

Von Richard Weinberg, Dorpat.

Versuche, die anatomisch-physiologischen Grundlagen ganz all- gemein auf das Gebiet der Politik anzuwenden, können nicht ohne weiteres gut geheiken werden. Nicht mit Unrecht warnt ein neuerer Schriftsteller vor dem „Hineinzerren“ der wiıssenschaft- lichen Anthropologie in das Tosen der Parteikämpfe!). Es liegt auch unzweifelhaft eine Gefahr in jeder gewaltsamen Ausbeutung wissen- schaftlicher Ergebnisse. Aber geschichtliche und staatliche Entwicke- lungen außer allem Zusammenhang mit den biologischen Wurzeln sich vorzustellen, ist unmöglich. Ja man darf sich wundern, dass von den Anthropologen wohl vielfach die Frage des Einflusses der Kultur auf den Menschen erörtert worden ist, dass aber das um- gekehrte Problem, die Rückwirkung des Menschen und seiner organischen (anatomisch-physiologischen) Eigenschaften und Kräfte auf die Kulturzustände und -einrichtungen bisher nicht nur unge- löst, sondern fast unberührt dasteht.

Dass indessen dieses zweite Problem jenem ersten keineswegs an Bedeutung nachsteht, erläutern mit geschickter Beweisführung die Forscher der historisch-anthropologischen Richtung, vor allem jene, die den biologischen Entwickelungsgedanken der historischen und sozialen Theorie bewusst zugrunde legen?). Wir wollen es ver- suchen, hier zunächst in kurzen Sätzen den wesentlichen Gedanken- sang dieser Untersuchungen darzustellen.

Der Satz, dass die Entwickelung gesellschaftlicher Verbände mit bestimmten biologischen und physiologischen Verhältnissen in Zusammenhang steht, wird in gewissem Sinne schon von Marx angedeutet. Allein „Individuum“ und „Gesellschaft“ sind dem Sozialismus noch durchweg abstrakte Begriffe, ohne Fleisch und Blut. Es ist ein großer Mangel der sozialistischen Theorien, dass sie der anthropologischen Grundlagen samt und sonders entbehren. Es bleibt bei ihnen unbeachtet, dass das Individuum mit seinen

1) R. Martin, Anthropologie als Wissenschaft und Lehrfach. Jena, G. Fischer, 1903.

2) Vgl. hierzu insbesondere die Darstellungen von Dr. L. Woltmann (Die anthropologische Geschichts- und Gesellschaftstheorie, Leipzig und Eisenach 1903), denen die vorliegende Zusammenfassung sich auf das engste anschließt, um die Betrachtungsweise dieses Autors vollkommen zutreffend wiederzugeben.

Weinberg, Biologische Faktoren in Staat und Geschichte. 549

angeborenen und ererbten Fähigkeiten und Besonderheiten organisch verwachsen ist mit Rasse und Familie, und dass Familie und Stamm, gleich den daraus hervorgehenden Klassen eine reale anthropologische Unterlage haben. Die bestehenden Unterschiede der Fähigkeiten, Triebe und Bedürfnisse führen zu einer fort- währenden Differenzierung der Gesellschaft in Einzelgruppen, die, wie wir heute wissen, als Verkörperung bestimmter anthropoligischer Gliederungen und Merkmale sich darstellen. So lange also der Mensch selbst abstrakter Begriff bleibt, wird das eigentliche Wesen sozialpolitischer Völkereinrichtungen nicht zu ergründen sein. Die Forschung hat sich an den leibhaftigen Menschen selbst 'zu halten, so wie er tatsächlich in Natur und Geschichte uns entgegen- tritt. Es ist merkwürdig, dass die Betrachtung in einseitiger Weise vielfach ausschließlich von den politischen Einrichtungen allein ausgehen konnte, ohne von dem eigentlichen Menschen und seinen Rassen, Familien und Individuen als den organischen Schöpfern und Trägern politischer und geistiger Geschichte Notiz zu nehmen. Der einseitige Standpunkt bisheriger historisch-wissenschaftlicher Forschung umfasste einzig und allein die Geschichte von Ideen (Sprache, Kunst, Religion, Recht), während die Geschichte des Menschen als Urheber aller Wissenschaften, Künste und Rechts- einrichtungen fast gänzlich unbeachtet blieb!

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Den Einfluss biologischer Bedingungen und in erster Linie der Entwickelungsgesetze auf das innere staatliche Leben der Völker behandelt nun Woltmann’s neuestes Werk über „Politische An- thropologie“ zum ersten Male in systematischer, durchgreifender Bearbeitung !).

Der Begriff „politische Anthropologie“ umfasst nach L. Woltmann die Gesamtheit aller naturwissenschaftlichen Faktoren, die auf das soziale Leben und auf die staatliche Entwickelung der Menschheit zurückwirken. Die Anwendung der Grundsätze der Deszendenztheorie auf die Lehre von der politischen und gesetz- geberischen Völkerentwickelung ist gleichbedeutend mit Begründung einer politischen Theorie auf dem Boden naturwissenschaftlicher, d. h. biologischer und anthropologischer Erkenntnisse. Die Natur- geschichte des Menschen führt, indem sie über seine angeborenen, ererbten und erworbenen Kräfte und Eigenschaften Licht breitet, schließlich zu dem Nachweis, dass die Gesetze der Entwickelung

1) Ludwig Woltmann, Dr. phil. et. med., Politische Anthropologie. Eine Untersuchung über den Einfluss der Deszendenztheorie auf die Lehre von der politischen Entwickelung der Völker. IV und 326 S. Eisenach und Leipzig, Thüringische Verlagsanstalt.

550 Weinberg, Biologische Faktoren in Staat und Geschichte.

dieser Kräfte und Eigenschaften die eigentliche Grundlage bilden aller staatlichen Einrichtungen, Tätigkeiten und Vorstellungen, die zu irgendeiner Zeit im Laufe der Menschheitsentwickelung hervor- traten. Mit anderen Worten: Die biologische Geschichte der Menschenrassen bietet den Schlüssel zum Verständnis der Geschichte der Staatentwickelung. Jaesist (E.Haeckel) die sog. Weltgeschichte nichts anderes, als ein Teil der organischen Entwicklungsgeschichte.

Die Gesamtheit der Menschen, die ein Staat in sich umfasst, bildet bekanntlich nur selten eine nationale Einheit. Gewöhnlich vereinigt ein Staat mehrere oder viele Nationen, die nach Sprache, Herkunft, Sitten, Gewohnheiten voneinander abweichen. Volk ist staatliche Zusammengehörigkeit. Beides, Volk und Nation, ist nicht immer gleichbedeutend mit Rasse. Völker umfassen vielfach Reihen und Summen von Rassenelementen. Der Begriff „Rasse“ wird bestimmt durch Gemeinsamkeit der körperlichen Merkmale und Blutsverwandtschaft der Rassenbestandteile. Besteht zugleich Gemeinsamkeit der seelischen Anlagen, dann ist Rasse und Nation identisch. Für die Wissenschaft erwächst aus diesem Verhalten das Problem, die kriegerischen und geistigen Kräfte der Staaten aus den physiologischen Besonderheiten und Unterschieden der den Staat zusammensetzenden Rassen zu erklären. Wir wissen ferner, dass die Rassen des Menschen den gleichen biologischen Gesetzen der Variabilität und Erblichkeit, der Anpassung und Zuchtwahl, der Blutmischung, Vervollkommnung und Entartung gehorchen, wie die Arten, Varietäten und Typen aller übrigen tierischen und pflanzlichen Organismen. Die physiologische Ausrüstung mit Or- ganen, Instinkten und Fähigkeiten und das Gesetz der progressiven und regressiven Abänderung ist entscheidend für das Schicksal der Rassen, Familien und Individuen.

Von solchen Grundsätzen ausgehend sucht nun Woltmann eine naturhistorische Theorie der Völkerentwickelung zu begründen. Er geht dabei naturgemäß zunächst evolutionistisch vor und verfolgt die Grundlagen der staatlichen Einrichtungen und ihre historische Differenzierung während der wichtigsten Entwickelungs- epochen. Ein anderer Weg der Untersuchung ist der biologische: hier gilt es, die Entwickelung der Staaten zu erklären als Erzeug- nisse sozial-psychischer Lebenstätigkeiten organischer Wesen, in ihren Beziehungen zu einander und zu der umgebenden Natur. Mit Hilfe der Anthropologie endlich sucht die Theorie darzutun, in welcher Weise und bis zu welchem Grade das historische Schick- sal und die Entwickelung der Staaten bestimmt wird durch die Natur des Menschen und die psychiche Differenzierung seiner Rassen und Individuen.

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Weinberg, Biologische Faktoren in Staat und Geschichte. Hl

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Es ıst, führt Woltmann weiter aus, eine der Grundwahr- heiten der historischen Anthropologie, dass die soziale, politische und geistige Entwickelung der Menschheit sich in letzter Linie als Ergebnis physiologischer Vorgänge darstellt und dass die Prin- zıpien der Differenzierung, Anpassung und Zuchtwahl einzelner Individuen oder Gruppen entsprechend ihren natürlichen Anlagen in hohem Grade bestimmend sind für Entstehung und Charakter der politischen Einrichtungen.

Bekanntlich zeigen die verschiedenen Gruppen der Menschheit eine außerordentliche Mannigfaltigkeit ihrer geistigen Kultur und ihres politischen Verhaltens. Diese Unterschiede hängen bis zu einem bestimmten Grade unzweifelhaft ab von Ungleichheiten der natürlichen Lebensbedingungen und von der historischen und sozialen Lage der Rassen. Allein entscheidend in erster Linie sind überall Unterschiede der natürlichen Fähigkeiten der Rassen, Familien und Individuen. Dass solche innere Unterschiede zwischen den Menschenrassen tatsächlich vorkommen, wird jetzt selbst von Forschern anerkannt, die geneigt sind, alle körperlichen und kultur- historischen Abweichungen auf den Einfluss äußerer Bedingungen, geographischer, klimatischer und anderer Verhältnisse zurückzu- führen. Es fragt sich nur: Was ist die Ursache dieser inneren, physiologischen Unterschiede?

In erster Linie sind es ohne Zweifel Besonderheiten der Leistungsfähigkeit des Nervensystems und vor allem des Gehirns, die jenen Rassenunterschieden als Grundlage dienen. Auf der Kraft des Gehirns beruht der Instinkt der Erfindung, der Geist der Entdeckung und Unternehmung, die Fähigkeit fremde Ideen aufzunehmen und zu verarbeiten. Gewisse Rassen haben in kurzer Zeit und ganz spontan eine selbständige Kultur hervorgebracht, während andere unter gleichen oder ähnlichen äußeren Verhältnissen nicht über die Stufe der Barbarei sich erheben konnten. Die Unterschiede zwischen beiden beruhen im wesentlichen auf Besonder- heiten des Seelenlebens. In erster Linie ist die Entwickelung des Rassentemperaments von hervorragender politischer Be- deutung, denn gerade in dieser Beziehung zeigen sich hochgradige Unterschiede. Ein starkes Temperament, verbunden mit einem hochentwickelten Intellekt, Trieb zur Freiheit und Erfindungs- geist sind Bedingungen, von denen in erster Linie der Grad der politischen Kultur einer Rasse abhängt. Das mongolische Phlegma neigt zu Verknöcherung der sozialen Verhältnisse und zu zähem Festhalten am Hergebrachten. Hingegen bei den aktiven Rassen, die nur arısche Völker umfassen, finden wir einen lebhaften Trieb zur Herrschaft, Selbständigkeit und Freiheit, einen unwiderstehlichen Tätigkeitsdrang, den Geist der Freiheit, den Instinkt des Forschens,

552 Weinberg, Biologische Faktoren in Staat und Geschichte.

der Kontrolle und des Zweifels. Freude an oberflächlicher Be- obachtung, geringe Beweglichkeit, Unfähigkeit zu freiem künst- lerischem Schaffen sind lenkte passiver Rassen, die früh in der Geschichte auftreten und an Masse weitaus im Übergewichte sind. Auf natürlichen Unterschieden des are beruht der rauhe, kriegerische, herrschsüchtige Charakter, der manche Rassen auszeichnet im Gegensatze zu anderen, die friedliebend, weich, unter- würfig (Ägypter!) erscheinen. Was die Historiker unter „schwachen“ und en& Völkern verstehen, ist im wesentlichen bedingt durch den verschiedenen Grad ihrer Aktivität als Folge einer natürlichen physiologisch begründeten Ungleichheit der Menschen- rassen.

11.

Den Unterschieden der seelischen Anlagen entsprechen nun Besonderheiten morphologischer Art. Die Fähigeren sind öfter von ansehnlicher Körpergröße; die Entwickelung von Skelett und Muskeln und eines proportional gebauten Körpers ist unter sonst gleichen Bedingungen maßgebend für die kriegerische und indu- strielle Leistungsfähigkeit und somit auch für den nationalen Wohlstand der Rasse. Am auffallendsten jedoch äußern sich Unter- schiede der geistigen Beanlagung am Kopf und Schädel. Die Größe der Gehirnkapsel wächst, ohne ein absoluter Maßstab geistiger Befähigung zu sein, deutlich in der Richtung von den niedersten Rassen (Australier, Neger, Malaien) zu den Kulturvölkern Asiens (Mongolen) und den Rassen Europas. Von jenen 60—70 Kubikzoll Substanz, die die Hirnhemisphären umfassen, hängt das Schicksal des Menschengeschlechts ab. Man hat das Gehirn nicht mit Un- recht einem Riesenbuche verglichen, worin mit zahllosen Hiero- glyphen die ganze Menschheitsgeschichte aufgezeichnet ist.

Auch der Form, nicht bloß der Größe nach ist der Schädel ein Abbild des Gehirns. Mit dem Umfang des Schädels weist auch seine Form auf psychische Beziehungen. Es ist eine physio- logische Wahrheit, dass die höchsten Seelen- und Geistestaten den vorderen oder Stirnlappen entspringen. Je höher die Rasse, desto besser entwickeln sich diese Hirnteile. Verbrecher und Schwach- sinnige haben kleine Stirnlappen im Gegensatz zu der mächtigen breiten „Denkerstirn“ der geistigen Elite. Je größer die Stirn, bemerkt L. Woltmann, desto mehr streckt sich der Schädel in die Länge. Viele historische Anthropologen halten daher die dolichocephale Schädelform für ein Merkmal hoher seelischer Ver- anlagung. Dass auch Australier und Neger extreme Langköpfe sind, wird darauf zurückgeführt, dass die Dolichocephalie hier Folge sei stärkeren Hervortretens der Hinterlappen, die ein im Lichte unserer gegenwärtigen Erkenntnisse recht bedenklicher Satz

Weinberg, Biologische Faktoren in Staat und Geschichte. 553

keine direkte Beziehungen zu den eigentlichen Verstandestätigkeiten haben sollen. | 1802

Auch die Standes- und Klassenschiehtung der Gesellschaft ist zufolge der Darstellung W oltmann’s erklärbar aus einer Diffe- renzierung der körperlichen und seelischen Anlagen.

Jeder Stand ist, wie es scheint, Träger bestimmter anthro- pologischer Charaktere, die zur Ausbildung kommen einerseits auf Grund angeborener Rassen- und Stammeseigentümlichkeiten, anderer- seits kraft der Variation und Anhäufung individueller Potenzen inner- halb der Grenzen einer Rasse. In Südrussland zeigt der Adel der Ukräne in der Tat größeren Körperwuchs und bessere Entwickelung des Kopfes im Verhältnis zu der Bürger- und Bauernbevölkerung. In Frankreich, in Deutschland und in vielen anderen Ländern sind die Städter anscheinend langköpfiger, als die Landbewohner. Der Muskel- arbeiter ist durchweg brachycephal, der Kopfarbeiter dolichocephal. Man weiß, was ein „Quadratschädel“ im Gegensatz zu dem „long- headedman“ im Volksmunde bedeutet. In Japan sollen die höheren Stände durch größeren Wuchs, schmales Antlitz und länglichen Schädel vor dem Proletariat sich auszeichnen. Es gibt auf Tahiti einen besonderen „Königstypus“ von schlankerer Gestalt und hellerem Teint als die Volksmassen. In Staaten mit farbiger und weißer Bevölkerung ist letztere herrschendes sozialpolitisches Element.

Alle diese Unterschiede sind nicht hervorgerufen durch Übung oder besondere Ernährungsbedingungen, sondern abhängig von den angeborenen und ererbten Naturanlagen. Die Kopfformen z. B. sind unzweifelhaft angeboren und persistent. Ebenso stehen Kopfgröße und Körperlänge vor allem in Abhängigkeit von der angeborenen Wachstumsenergie, die der betreffenden Rasse zukommt.

Y:

Scheinen demnach staatliche Entwickelungen bedingt durch die physiologischen Gesetze der Rassenentfaltung und sind Stände, Berufe, Gesellschaftsklassen ausgezeichnet durch Besonderheiten, die vorwiegend auf Rassenunterschieden beruhen, so ist zu fragen: in welcher Weise gestalten sich die anthropologischen Rassenan- lagen zur Grundlage von Kultur und Geschichte?

Nicht alle glauben an einen wirklichen Zusammenhang zwischen Rasse und Kultur. Andererseits gibt es Forscher, die den brachyce- phalen Rassen geistige Hegemonie gegenüber den Dolichocephalen zuerkennen und sich dabei auf die Tatsache stützen, dass die ältesten Schädel, die sich in Europa fanden, lang und schmal erscheinen, während mit fortschreitender Kultur immer größere Massen von Brachycephalen aus den Gräbern hervortauchen.

Woltmann zeigt in einer historischen Skizze, dass als einer

554 Weinberg, Biologische Faktoren in Staat und Geschichte.

der ersten überzeugten Vorkämpfer einer rassengeschichtlichen Theorie der Zivilisation Herder auftritt. Ihm erscheinen als Ur- sprungsquell aller höheren Kulturen jene „schöngestalteten und wohl- gebildeten Rassen“, die um das Mittelmeer herum zu finden sind. Es sind dies im Grunde die nämlichen Volksstämme, die späterhin von Klemm nach psychologischen Gesichtspunkten als „aktive“ Rassen aufgeführt wurden. Nach Klemm’s Darstellung sind diese aktiven Rassen ausgezeichnet durch schlanke Gestalt, hohen Wuchs und körperliche Kraft, runde Schädelform und große, nach vorn ausladende Stirn, welliges Haupthaar und weiße zarte Haut. Nach heutigen Begriffen verkörpern Klemm’s Aktive alle wesentlichen Merkmale der Kaukasier und Arier. Die Passiven mit den Mongolen und Negern sind von den Ariern anthropologisch deutlich verschieden. Keiner von den Negerstämmen hat sich über die Stufe der Wildheit und Barbareı erhoben, und von den Mon- golenvölkern erklommen nur wenige aus eigener Kraft die ersten Stufen der Zivilisation. Hohe Erzeugnisse eines selbständig schaffenden Kulturgeistes bieten die arischen Mittelmeervölker schon bald nach ihrem späten Eintritt in die Geschichte. Die nordische Rasse, führt Woltmann aus (Polit. Anthrop. S. 287), ist die geborene Trägerin der Weltzivilisation. Durch Vermischung mit anderen Rassen hat sie diese physiologisch auf 'ein höheres Niveau gehoben, sowohl Mittelländer, wie Mongolen und Neger. Im Bereiche des amerikanischen Kulturkreises erinnern die Inka morphologisch an unsere Kaukasier. Vier Jahrhunderte vor Columbus haben Normannen das Ostufer Nordamerikas bestiegen! Nach China, Babylon, Ägypten sind schon früh hellfarbige Eroberer gedrungen, überall Zeugen ihrer Rassenanlagen zurücklassend. In uralten Volksliedern rühmen die ÜOhinesen stolz ihr eigenes schwarzes Haarkleid, wohl im Gegensatz zu hellhaarigen Fremd- lingen. Und die Ägypter führen uns auf Darstellungen aus dem 14. Jahrhundert vorchristlicher Zeit Typen mit weißer Haut, blauen Augen und blondem Haar vor, die sie schon damals, anscheinend durch Berührung mit der nordischen Rasse, wohl kannten. Weniger klar sind die Beziehungen der hellen nordischen Rasse zu der Kultur Vorderasiens. Anzeichen dieser Kultur finden sich indessen in der Rassengeschichte der Juden, aus deren Körperbau noch heute amoritische Einflüsse hervorleuchten sollen. In Mittelasien und im Süden Europas sind ausgedehnte Kulturherde entstanden, „aus denen Spitzen und Blüte der ganzen Menschheit hervorwuchsen. Diese Kulturen sind ganz und gar ein Werk der nordischen Stämme. Die Juden, Perser, Griechen, Römer sind ursprünglich echte Söhne der blonden hellen Rasse gewesen, die nach und nach durch Vermischung mit dunkleren Eingeborenen ihre Merkmale mehr oder minder verloren haben.“

Weinberg, Biologische Faktoren in Staat und Geschichte. 555

Man beachte in diesem Zusammenhang die jetzt vielfach vertretene Hypothese des europäischen und zumal nordeuropäischen Ursprunges der Indogermanenrasse im Gegensatz zu der früheren Lehre ihrer Ein- wanderung aus Asien. Die Indogermanen sollen mitteleuropäischem Boden oder Skandinavien entstammen. Zu klassischer Zeit waren nicht nur Germanen, sondern auch Gallier und Slaven hochge- wachsen, blond, blauäugig, von weißem Teint, wie die alten Schrift- steller bezeugen. So war es auch in vorklassischer Zeit bei den Griechen und Römern. Augustus, Nero, Galba, Alexander der Große sind von reinem germanischen Typus. Cäsar mit seinem dunklen Inkarnat war anscheinend Mischling.

Wir wissen heute auf Grund der anthropologischen Funde, betont Woltmann, dass überall in den führenden Staaten und Ständen ger- manisches Vollblut und germanisches Mischblut überwiegt, dass die ganze europäische Zivilisation, auch in den slavischen und romanischen Ländern, eine Leistung der germanischen Rasse ist. Die Franken, Normannen und Burgunden in Frankreich, die Westgoten in Spanien, die Ostgoten, Longobarden und Bajuvaren in Italien haben die anthropologischen Keime zu der Kultur dieser Staaten gelegt. „Das Papsttum, die Renaissance, die französische Revolution, die napoleonische Weltherrschaft sind Großtaten des germanischen Geistes. Die bedeutendsten Päpste haben zum großen Teil ger- manischen Typus. Die herrschenden Dynasten und- Patrizier ın Florenz, Genua, Venedig, Mailand sind Abkömmlinge germanischer Barbaren, ebenso die großen künstlerischen Genies, welche die geistige Wiedergeburt der Menschheit schufen. Selbst das neue Italien ist ein Werk der germanischen Elemente, die von Ober- italien aus die politische und geistige Reorganisation ins Werk setzten!) und Griechenland wurde vornehmlich durch die Tapferkeit der eingewanderten blonden Albanesen vom Türkenjoch befreit.“

Doch führte Kulturerzeugung bei der nordischen Rasse zu einem natürlichen Ausjätungsprozess, der die Reihen der füh- renden Stände und Klassen dahinstreckte und lichtete. Daher der nur zum Teil germanische Typus der heutigen Bevölkerung Deutschlands. Die Zahl der Langköpfe hat sich von Jahrhundert zu Jahrhundert verringert und zwar in Deutschland sowohl, wie ın Frankreich, Österreich und Russland. In den Städten und in den intellektuell vorherrschenden Gesellschaftsklassen sind die Lang- köpfe einem langsamen Vernichtungsprozess und Ersatz durch Rund- köpfe ausgesetzt. Man hat gesagt, die ganze Kulturgeschichte sei wesentlich ein Kampf zwischen Kurz- und Langschädeln. Bei

1) Ein reiches anthropologisches Tatsachenmaterial zu dieser Frage bringt L. Woltmann’s soeben erschienenes Werk: „Die Germanen und die Renaissance in Italien.“ Mit über hundert Bildnissen berühmter Italiener. Leipzig, Thüringische Verlagsanstalt 1005. Anmerkung bei der Korrektur.

556 Luciani, Physiologie des Menschen.

diesem Kampf ist nach Ansicht von Woltmann nur die ger- manische Rasse, die überall, wo sie auftritt das kriegerische Element bildet, dazu berufen, die Erde mit ihrer Herrschaft zu umspannen, die Schätze der Natur und der Arbeitskräfte auszubeuten und die passiven Rassen ihrer Kultur dienstbar zu machen.

Mögen über die Stellung der Germanen und Nordeuropäer und über andere Einzelfragen der historischen Anthropologie noch so abweichende Meinungen hervortreten, die Bedeutung des Rassen- faktors in der Geschichte kann nıemand leugnen. Er beherrscht hier alle anderen Probleme; in ihm, in der wahrscheinlichen physiologischen Ungleichheit der Menschenrassen verbergen sich, wie die historische Anthropologie nachzuweisen versucht, die Rätsel der Völkergeschichte. [60]

Dorpat, April 1904.

G. Haberlandt. Die Sinnesorgane der Pflanzen. Ein Vortrag. 16. 46 Seiten, Leipzig. Joh. Ambrosius Barth. 1904.

Herr H. hat den Vortrag, welchen er in der zweiten allgemeinen Sitzung der 76. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte gehalten hat, mit Anmerkungen versehen, einzeln erscheinen lassen. Auf den Inhalt desselben einzugehen, können wir uns ersparen, da Herr H. seinen Standpunkt erst vor kurzem in diesem Blatte selbst klargelegt hat (vgl. Nr. 13). Ein ausführlicheres Referat über seine schönen Untersuchungen über den Lichtsinn der Pflanzen werden wir demnächst bringen. Wem jedoch daran liegt, den wesentlichen Inhalt der früheren Beobachtungen des Herrn Verfassers und andrer kennen zu lernen, wird von der vorliegenden kleinen Schrift sicherlich mit großem Genuss Kenntnis nehmen.

P. [68]

Luigi Luciani. Physiologie des Menschen. Ins Deutsche übertragen und bearbeitet von Dr. Silvestro Baglioni und Dr. Hans Winterstein; mit einer Einführung von Max Verworn. Erster Band Gr. S. XVII und 502 Seiten. Jena. Gustav Fischer. 1905.

Mit unermüdlichem Fleiß arbeiten berufene und wohl auch weniger berufene Gelehrte an der Herausgabe von Lehrbüchern und unternehmende Verleger bringen sie auf den Markt. Unter diesen zahlreichen Erscheinungen nımmt das Buch des römischen Physiologen Lucianı einen so hervorragenden Platz ein, dass man den Uebersetzern wie der Verlagshandlung Dank schuldet, dass sie es deutschen Lesern leichter zugänglich gemacht haben.

Herr L. nimmt seit Jahren einen ehrenvollen Platz unter den Forschern ein. In diesem Buche, das auf vier starke Bände be- rechnet ıst, hat er mit eisernem Fleiß zusammen getragen, was ihn jahrelanges Studium der Literatur und eigene Untersuchungen

Handbuch der Physiologie des Menschen. 557

über die Lebenserscheinungen des Menschen gelehrt haben. Wer an das Studium der Physiologie, nach Ueberwindung der ersten Schwierigkeiten herantritt, nachdem er sich aus einer Vorlesung und einem kurzen Kompendium die erste Uebersicht verschafft hat, wird in L’’s Buch einen guten und vielfach anregenden Führer zu eingehenderer Kenntnis finden. Mag auch der Spezialist in diesem oder jenem Punkte zu anderen Ergebnissen gelangt sein, als sie hier vorgetragen werden, er wird doch stets eingestehen müssen, dass der Verfasser in ehrlichem Ringen zu seinen Ansichten gelangt ist, sie klar darstellt und musterhaft begründet. Auf jeder Seite erhält man den Beweis, dass er die Literatur gründlich stu- diert und aus dem Guten das Beste zu schöpfen sich bemüht hat. Es ist mir öfter bei der Durchsicht neuerer Lehrbücher aufgefallen, dass ein Uebermaß von Zitaten neuerer, selbst unbedeutender Bei- träge aus unseren so fleißig arbeitenden Instituten gegeben, darüber aber die Würdigung der grundlegenden, um 30-50 Jahre zurück- liegenden Arbeiten etwas zu kurz gekommen ist. Das trifft auf Herrn L’s Buch nicht zu. Er kennt den geschichtlichen Werde- gang unserer Wissenschaft gut genug, um ihn gut und klar wieder- zugeben, und er ist als Forscher selbständig genug, um einen be- stimmten Standpunkt zu wählen und sich nieht mit einem Aufzählen verschiedener, einander widersprechender Angaben zu begnügen, aus denen eine klare Anschauung zu gewinnen häufig sehr schwer ist.

Die Uebersetzer haben hie und da kleine Zusätze gemacht, die zuweilen den Rahmen der Darstellung ohne genügende Vermitte- lung durehbrechen. Die Uebersetzung selbst ist im ganzen lobens- wert. Nur selten wird der Leser durch nicht vollkommen deutsche Wendungen und gelegentlich durch Austriacismen gestört. Die Ausstattung ist so trefflich, wie man es von den Werken der be- kannten Verlagshandlung gewöhnt ist. 7rR.29.|69]

Handbuch der Physiologie des Menschen.

In vier Bänden. Bearbeitet von Bohr (Kopenhagen), R. du Bois-Reymond (Berlin), Boruttau (Göttingen), Cohnheim (Heidelberg), Cremer (München), Frank (München jetzt Gießen), v. Frey (Würzburg), Gürber (Würzburg), Hofmann (Leipzig), v. Kries (Freiburg), Langendorff (Rostock), Metzner (Basel), Nagel (Berlin), Overton (Würzburg), Pawlow (St. Petersburg), Schäfer (Berlin), Schenk (Marburg), Schultz (Berlin), Sellheim (Freiburg), Thunberg (Upsala), Tigerstedt (Helsingfors), Tschermak (Halle), Weinland (München), Weiß (Königsberg), Zoth (Graz) herausgegeben von W. Nagel (Berlin). Dritter Band. Gr. 8. XVII und 806 Seiten. Braun- schweig. Vieweg und Sohn. 1905.

Nachdem nahezu 25 Jahre verflossen sind, seitdem das „Hand- buch der Physiologie“, welches Hermann unter Mitwirkung nam- hafter deutscher Physiologen herausgegeben hat, vollendet wurde, hat es Herr Nagel unternommen, im Verein mit einer Anzahl von Forschern, welche naturgemäß einer jüngeren Generation ange- hören, ein ähnliches Werk zu bearbeiten. Er hat sich aber seine

558 Henriksen, Eine Biologische Station zu Grönland.

Mitarbeiter, wie das obige Verzeichnis zeigt, nicht bloß in Deutsch- land gesucht, sondern auch einige wohlbewährte Kräfte des Aus- lands herangezogen, allerdings solche, die auch schon bisher in deutscher Sprache zu schreiben pflegten und die wir gern zu den unsren zählen. Das Werk ist auf einen etwas geringeren Umfang berechnet als das ältere Handbuch. Doch kündigt die Verlags- handlung schon jetzt einen auf zwei Teile berechneten Ergänzungs- band an. Bisher liegt vollendet der dritte Band vor, welcher die Physiologie der Sinne behandelt!). Er bringt eine Einleitung zu diesem wichtigen und schwierigen Kapitel der Physiologie von den Herren Nagel und von Kries, die Dioptrik des Auges von Herrn Schenk, die Lehre von den Wirkungen des Lichts auf die Netzhaut von Herrn Nagel, die Lehre von den Gesichtsempfin- dungen von Herrn von Kries, von den Augenbewegungen und (sesichtswahrnehmungen von Herrn Zoth, von der Ernährung und Zirkulation des Auges und von dessen Schutzapparaten von Herrn Weiß, dann die Abschnitte Gehörsinn von Herrn Schäfer, Ge- ruchssinn und Geschmackssinn von Herrn Nagel, Druck-, Tem- peratur- und Schmerzempfindungen von Herrn Thunberg, endlich Lage-, Bewegungs- und Widerstandsempfindungen von Herrn Nagel. Aus ihnen möchte ich vor allem die Arbeiten des Herrn von Kries „zur Psychologie der Sinne* (S. 16—29) und „die Gesichtsempfin- dungen“ (S. 109-282) hervorheben. Herr von Kries hat selbst soviel zur Aufklärung dieser schwierigen Fragen beigetragen, dass die vorliegende zusammenfassende Darstellung sowohl den Physio- logen wie allen anderen, die sich für den Gegenstand interessieren, von Wert sein wird. Auf Einzelheiten einzugehen ist bei der An- zeige eines Handbuches nicht möglich. Doch darf ich wohl sagen, dass jeder, der sich über den jetzigen Stand der Lehre in allen ın diesem Bande behandelten Fragen unterrichten will, denselben mit Befriedigung zu Rate ziehen wird. 160]

Eine Biologische Station zu Grönland.

Die Freigebigkeit, welche die Regierung und wohlhabende Bürger der Vereinigten Staaten und einige andere Länder den höheren Lehranstalten gegenüber zeigen, ist, wie wohl bekannt ist, nicht allen Ländern eigen. Diesen weniger bevorzugten Ländern sollten wir deshalb den Beweis liefern, dass wir uns dessen unge- achtet interessieren für das, was sie zur Förderung des biologischen Studiums beitragen.

Herr Dr. Morten P. Porsild, ein dänischer Botaniker, hat seine Regierung ersucht, eine biologische Station in Grönland zu errichten. Da nun die Wissenschaft international ist, so ist es von eben so großem Interesse für uns in Amerika und Deutschland

1) Seitdem ist noch eine Hälfte des ersten Bandes herausgekommen, welche späterer Besprechung vorbehalten bleibt. Dabei wird sich vielleicht auch Gelegen- heit finden, auf einige Teile des Ganzen etwas genauer einzugehen.

Henriksen, Eine Biologische Station zu Grönland. 559

wie für die dänischen Biologen, dass ein solches Institut errichtet werden soll, und es ist unsere Pflicht, denselben dieses Interesse zu zeigen und sie aufmuntern, für die Sache zu arbeiten.

Die Wichtigkeit der biologischen Stationen trat um so deut- licher an den Tag, je mehr sich unser Gesichtskreis über biologische Fragen erweiterte. Wir haben eben eine Periode verschwinden sehen, in welcher der Zoologe seine ganze Zeit mit mikroskopischen Studien im Laboratorium zubrachte. Erst in der allerneuesten Gegen- wart hat das Wort „Biologie“ eine beträchtlich erweiterte Bedeu- tung angenommen. Mit diesem Worte wird nicht nur die Anatomie bezeichnet, sondern auch die Physiologie und alles, was dieselbe in wechselwirkender Weise beeinflusst. "Seine Bedeutung schließt ın sich ein nicht nur den Begriff „Einzelwesen“, sondern auch „Kolonien“ und die Beziehungen zwischen denselben, und es sind gerade diese, die man untersucht, wenn man die Biologie eines Tieres zu lernen wünscht. Biologie ıst heute, mehr wie jemals zuvor, eine Wissen- schaft des Lebens. Die Phy sik, Chemie, Physiologie, Anatomie, Paläontologie sind nun nicht länger abgesonderte Zweige der Wissen- schaft, sondern sıe alle vereinigen sich zu einem eroßen Ganzen, zu einer großartigen Wissenschaft des organischen Lebewesens.

Die Arbeiten des Herrn Prof. J. Loeb haben dieses bestätigt. Der Professor hat u. a. den Beweis geliefert, dass eine kleine Ab- weichung in der Quantität der Kalıumsalze im Wasser den größten Einfluss ii die Sn yonale Entwickelung vieler Organismen ausüht.

Herr Prof. Frank R. Lillie hat "gezeigt, dass wir in den Furchungszellen von Unio eine Anpassung in Größe und Geschwindig- keit der Teilung haben an die Größe der Organe der Larven. Diese, welche für die Larven von größter, für die Erwachsenen aber von geringerer Bedeutung sind, sind größer und teilen sich viel schneller als die anderen. Es ist erwiesen worden, dass das spezifische Gewicht des Wassers von großer Wichtigkeit ist für die Entwickelung der jungen Kabeljau. Ist das spezifische Gewicht um ein geringes zu hoch, so können die jungen Kabeljau den dadurch erhöhten Widerstand, auf den sie stoßen, wenn sie Nah- rung in der Tiefe suchen wollen, nicht überwinden. Ist das spe- zifische Gewicht dagegen zu niedrig, so finden sie es entsprechend schwer wieder in die Höhe zu gelangen. Nur wenn das Wasser die richtige Temperatur und das richtige Gewicht hat, können sie sich ernähren und entwickeln.

Solche wichtige Fragen können also nur festgestellt werden, wenn man eine richtige Kenntnis von dem Leben des Tieres hat. Eine große Arbeit, die auf die Wichtigkeit der natürlichen Zucht- wahl hinzielt, kann nur durch das Studium des Lebens des Tieres durchgeführt werden. Die größten biologischen Fragen liegen zum Teil im Studium der Natur. Für diese neue Richtung des bio- logischen Studiums müssen wir besonders den deutschen Zoologen danken. Sie sind schon lange in derselben weitergeschritten und haben uns mit sich geführt.

„Zurück zur Natur“ ist die Lösung und wir sollten deshalb

560 Davenport, Statistical Methods with special reference to biological variations.

jede günstige Gelegenheit bewillkommen, die den Naturforschern aller Länder geboten wird, die Natur zu studieren: Dieses ıst be- sonders der Fall, wenn wir in der nächsten Zukunft ein biologisches Institut in Grönland erwarten dürfen. Die Lage und Fauna sind dort so verschieden von denen anderer Länder, dass man großen Resultaten entgegensehen muss, wenn den Zoologen eine Gelegen- heit gegeben wird, die erönländische Fauna in ihrer Heimat zu studieren.

Wir sollten nicht vergessen, dass ın solchen Laboratorien un- sere größten Naturforscher herangebildet wurden und die größten zoologischen Werke wurden dort geschrieben. Deshalb steht zu hoffen, dass die dänische Regierung die Bedeutung eines solchen Instituts zu würdigen weiß und ihr Teil zur Förderung des bio- logischen Studiums beitragen wird. Wir aber können mithelfen an dem Projekt, wenn wir das richtige Interesse dafür bezeugen.

Ohio State University U.S.A., April 1905. [49]

Martin E. Henriksen.

H. Simroth. Abriss der Biologie der Tiere.

Zwei Bändchen.

A. Legahn. Physiologische Chemie. Zwei Bändchen. Leipzig. Göschensche Verlagshandlung. 1905.

Die bekannte „Sammlung Goeschen“ enthält eine Reihe, zum Teil vortrefflicher kurzer Lehrbücher aus allen Gebieten des Wissens. Die je zwei Bändchen der Herren S. und L. können einem Leser, der nicht als Fachmann an das Studium der betreffenden Wissen- schaften herantritt, wohl genügen. Er findet in ihnen das Wesent- lichste in klarer, wenn auch gerade nicht tiefer eindringender Weise zusammengestellt. R. [69]

C. B. Davenport. Statistical Methods with special

reference to biological variation. 24 edition. 16. VIII und 223 Seiten. New-York. John Willey und Sons. London. Chapman und Hill. 1904.

Dies kleine Werkchen, dessen erste Auflage Bd. XX, S. 83 an- gezeigt wurde, ist in der vorliegenden zweiten Auflage insbesondere durch Aufnahme der neuen von Pearson ausgearbeiteten statısti- schen Methoden bereichert worden. Von den Tabellen ist beson- ders Nr. 4 (die Integrale der normalen Wahrscheinlichkeitskurve) erheblich erweitert. Dass die Logarıthmen auf sechs Dezimalstellen mit ausführlichen Partialteiltabellen angegeben sind, erscheint mir als unnütze Raumverschwendung. Es ist ein anerkannter Grund- satz, dass die Genauigkeit der Rechnungen nicht weiter gehen soll, als es die Exaktkeit der Messungen erfordert. Dafür genügen vierstellige Tafeln wohl ın allen hier in Betracht kommenden Fällen.

P. [67] Verlag von Georg Thieme in n Leipzig, _ Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

XXYV.DBd. 1. September 1905. N 17.

Inhalt: Wille, Über die Schübeler’schen Anschauungen in betreff der Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. Lendenfeld, Uber die Fauna der Antarktis. Haberlandt, Die Liehtsinnesorgane der Laubblätter. Weininger, Geschlecht und Charakter.

Über die Schübeler’schen Anschauungen in betreff der

Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. Von Professor Dr. N. Wille.

Nach ca. 25jährigen Anbauversuchen mit Kulturpflanzen im bo- tanischen Garten in Christianıa und bei verschiedenen Privatleuten hier und da in Norwegen, stellte Professor Dr. F.Chr. Schübeler im Jahre 1879 sechs Sätze t), die er später „Naturgesetze“* nannte?), über die Veränderungen auf, denen seiner Annahme nach Pflanzen unterworfen sein sollten, wenn man sie einige Zeit hindurch weiter nördlich oder in größerer Höhe über dem Meere, als sie gewohnt waren zu leben, kultivierte.

Diese sechs Sätze lauten °):

1. Wenn Getreide in Skandinavien nach und nach aus dem Tiefland in ein Gebirgsgegend versetzt wird, so kann es sich daran gewöhnen, seine volle Entwickelung in derselben, ja selbst in kürzerer Zeit, aber mit einer niedrigeren Mitteltemperatur als vorher zu erreichen und wenn es, nachdem es einige Jahre hin-

1) F. C. Schübeler: „Växtlivet ji Norge med särligt Hensyn til Plantegeo- grafien“. Christiania 1879, S. 85.

2) F. ©. Schübeler: „Fröavl i Norge“, Christiania 1889, S. IH.

3) In dieser Abhandlung sind die ursprünglich norwegisch geschriebenen Zi- tate so genau wie möglich übersetzt worden.

KXV. 36

562 Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.

durch auf der vermutlich größten Höhe über dem Meere, ın wel- cher Getreide noch reifen kann, wieder an seinen ursprünglichen Ausgangspunkt zurückgebracht wird, so wird es ın den ersten Jahren früher reifen als dieselbe Sorte, sobald sie die ganze Zeit hindurch nur ım Flachlande angebaut worden ist.

2. Ebenso verhält es sich mit Getreide, das allmählich aus einer südlichen in eine nördlichere Breite gebracht wird, obwohl die Wärme geringer und die Wolkenbedeckung größer wird, sowie auch mit Hinsicht auf frühere Entwickelung, wenn das Getreide wieder nach Süden zurückgebracht wird.

3. Der Same verschiedener Pflanzen nimmt bis zu einem ge- wissen Grade an Größe und Gewicht zu, je weiter die Pflanze nach Norden geführt wird, vorausgesetzt, dass sie ihre vollständige Ent- wickelung durchlaufen kann; er nimmt aber wieder bis auf seine ursprüngliche Größe hinab ab, wenn die Pflanze an ihren Aus- gangspunkt zurückgebracht wird. Dasselbe findet statt mit den Blättern verschiedener Baumarten und anderer Gewächse.

4. Samen, die ın nördlichen Gegenden gereift sind, geben größere und kräftigere Pflanzen und sind gleichzeitig widerstands- fähiger gegen rauhe Witterung, als wenn dieselben Arten oder Formen aus Samen aus südlichen Ländern erzogen werden.

5. Je weiter man nach Norden kommt, desto stärker wird, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, die Farbstoffabsonderung an Blüten, Blättern und Samen ım Verhältnis zu denselben Arten oder Varietäten, wenn sie in südlichen Breiten wachsen.

6. Bei denjenigen Pflanzen, an welchen gewisse Organe sich durch irgendein Aroma auszeichnen, nimmt dieses Aroma, voraus- gesetzt, dass die Pflanze ihre volle Reife erlangt, zu, je weiter nach Norden man kommt, während dagegen die Zuckermengen, wenig- stens in den Früchten, abnehmen.“

Diese Sätze erregten innerhalb der botanischen Fachkreise große Aufmerksamkeit und man konnte sie sogar bis auf die neueste Zeit hinab!) als Beweis dafür angeführt sehen, dass durch direkte Anpassung der Pflanze an äußere Lebensverhältnisse Mutationen entstehen können.

Es musste ja nun nahe liegen, diese ausgezeichneten, erwor- benen Eigenschaften von Pflanzen, die in nördlichen Breiten wuchsen, in der Praxis auszunützen; denn es musste in südlicheren Ländern ja vorteilhaft sein, sich derartig wertvolle Samen zur Aussaat zu verschaffen, selbst wenn sie etwas mehr kosteten. Es wurden denn auch von praktischen Leuten besonders in Schweden Versuche ge-

I) R. von Wettstein: „Der gegenwärtige Stand unserer Kenntnisse be- treffend die Neubildung von Formen im Pflanzenreiche“. (Bericht d. Deutsch. bot.

Ges. Bd. 18, Berlin 1901, S. 198.) Idem: „Über direkte Anpassung,“ Wien 1902, S. 15.

Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. 563

macht, die Schübeler’schen Naturgesetze ökonomisch auszunützen durch Eröffnung eines Exports nordischer Samen nach südlicheren Ländern. Es zeigte sich aber doch sehr bald, dass die großen Hoffnungen, die man anfänglich in dieser Hinsicht gehegt hatte, sich nicht erfüllten; in der Praxis kam nämlich zutage, dass Samen aus nördlichen Gegenden eine besondere Überlegenheit nicht auf- wiesen, wenn sie in südlichen Ländern ausgesät wurden, und der beabsichtigte Samenexport schrumpfte bald zu einer Unbedeutend- heit zusammen.

Es dürfte daher an der Zeit sein, die Schübeler’schen Be- hauptungen einer kritischen Untersuchung zu unterziehen, zumal da die Forschungen des letzten Dezenniums über Mutationen, Bastardierung und die ökologischen Verhältnisse der Pflanzen be- deutungsvolle und zum Teil ganz unerwartete Resultate gebracht haben. Es erscheint daher schon a priori als möglich, dass man jetzt bei näherem Studium der Tatsachen, welche die Grundlage der Schübeler’schen Gesetze bilden, zu anderen Folgerungen ge- langt als wie sie vor 20— 40 Jahren natürlich und möglich waren.

Es sind vier verschiedene Arbeiten, in denen F. ©. Schübe- ler!) nach und nach die Tatsachen niedergelegt hat, auf welchen er die erwähnten sechs Gesetze aufgebaut hat. In Wirklichkeit stellt er indessen diese Gesetze in ihren Hauptzügen schon in der ersten jener Arbeiten (1862) auf und sammelt später Beobach- tungen offenbar mit dem Ziele vor Augen, jene Sätze ausführlicher zu begründen.

Schlägt man in der erstgenannten Arbeit („Kulturpflanzen,*“ S.24) nach, so findet man, dass Schübeler’s Versuche nur darin bestanden, dass er Samen verschiedener Pflanzenarten, welche ın Canada, Frankreich oder Deutschland gesammelt waren, in Nor- wegen (den größten Teil in Christiania, einige in Trondhjem) aus- säen ließ; er beobachtete dann an den Samen eine Gewichtszu- nahme von bis 71°/,. Auf der anderen Seite ließ er Samen aus Norwegen in Breslau aussähen, wo man eine Gewichtsabnahme von bis 27,6°/, feststellte. Diese Versuche sind jedoch im allgemeinen nur ein einziges Jahr lang und in Massenkultur ausgeführt worden und man hat keine Bürgschaft dafür, dass die ausgesäten und die abgeernteten Samen nach einheitlichen Grundsätzen verglichen sind, da nämlich die Einsammlung an den verschiedenen Stellen von verschiedenen Personen vorgenommen worden zu sein scheint. Die

1) F. C. Schübeler: „Die Kulturpflanzen Norwegens“. Christiania 1862. Idem: „Die Pflanzenwelt Norwegens. Ein Beitrag zur Natur- und Kultur- geschichte Nordeuropas“. Christiania 1873—75. Idem: „Växtlivet i Norge med särligt Hensyn tit Plantegeografien“. Christiania 1879. Idem: Viridarium norvegicum. Norges Växtrige. Et Bidrag til Nord-Europas Natur- og Culturhistorie, Bd. 1—3. Christiania 1886—1889. DR

S 36*

564 Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.

Versuche ermangeln daher der wesentlichsten Bedingungen, um wirklich als streng komparativ gelten zu können.

Dass die Vegetationsdauer sich nach Norden zu stark verkürzt, schließt Schübeler ebenda („Kulturpflanzen“, S. 26), wie es scheint, im wesentlichen aus dem, was man ihm über Getreideaussaat und Erntezeit in Alten (in Norwegen 70° n. Br.) erzählt hat, sowie aus den Angaben eines. schwedischen Journals über Saat- und Ernte- zeit in Piteä (65° 19° 13°“ n. Br.) aus den Jahren 1740—51 und in Upsala (59° 51‘ 34“ n. Br.) aus den Jahren 1747—52. Dass der Farbstoff ın den Früchten nach Norden hin zunimmt, schließt Schübeler („Kulturpflanzen,“ S.29) aus sehr wenigen und keines- wegs einwandsfreien Versuchen unter anderem mit Weizen aus Bessarabien, der, nachdem er einige Jahre in Norwegen gewachsen war, mehr gelbbraun wurde, mit Bohnen aus Canada, die in Trond- hjem ausgesät und dort größer und farbiger wurden; während um- gekehrt Erbsen und Bohnen aus Norwegen, die in Breslau ausgesät wurden, sowohl an Größe als Färbung abnahmen. Ganz besonders hebt er als beweiskräftig hervor, dass Erbsen, die in Christiania angebaut worden waren und eine weißgelbe Farbe hatten, wenn sie ım nördlichsten Norwegen einen Sommer hindurch kultiviert wurden, grasgrüne Samen bekamen; wurden sie dann wieder einen Sommer lang in Christianıa angebaut, so kehrte die weißgelbe Färbung der Samen zurück. Da hierbei auf den ungleichen Reife- grad der in Rede stehenden Samen kaum Rücksicht genommen worden sein kann, ebensowenig wie auf mögliche Kreuzungen und latente Eigenschaften entsprechend dem Mendel’schen Gesetze, erscheinen diese Beweise bei kritischer Betrachtung ziemlich schwach.

Betreff der stärkeren Farbenpracht der Blüten im Norden be- ruft sich Schübeler ım wesentlichen auf eine Beobachtung von Professor Göppert auf einer Reise in Norwegen. Bezüglich des stärkeren Aromas der Früchte weist er auf seinen eigenen Ge- schmack und den einzelnen anderer Personen hin, also auf voll- kommen subjektive Tatsachen. Später hat freilich Ch. Flahault !) Untersuchungen veröffentlicht, welche die Behauptungen über die reichere Farbenpracht der Blüten sowie über bedeutende Größen- zunahme der Blätter in nördlichen Ländern zu stützen scheinen; indessen lassen sich auch gegen diese Untersuchungen einige Ein- wände erheben, so dass es wünschenswert wäre, wenn die For- schungen über diesen Gegenstand in etwas größerem Maßstabe wieder aufgenommen würden.

In den folgenden der erwähnten Schübeler’schen Arbeiten vermehrt er die Zitate aus anderen Verfassern und teilt die wei-

1) Ch. Flahault: „Nouvelles observations sur les Modifications des Vege-

taux suivant les Conditions physiques du Milieu“. (Annales des Sciences naturelles. 6®e Ser. Botanique, I. 9, Paris 1880.)

LE: FE

Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. D6D

teren, nicht sehr zahlreichen Versuche mit, die seiner Meinung nach die in der ersten Arbeit aufgestellten Behauptungen unter- stützen, und in der letzten Arbeit („Viridarium norvegicum“) endlich sammelt er überhaupt alles, was nach seiner Auffassung als Beweis für dieselben dienen kann.

Ich will hier im wesentlichen nur eine der verschiedenen Fragen behandeln, nämlich die behauptete kurze Vegetationsperiode bei Pflanzen, besonders Getreidearten und Kartoffeln, die im hohen Norden oder hoch im Gebirge angebaut werden.

Es zeigt sich auch hier, dass einwandsfreie, vergleichende Ver- suche nicht vorliegen. Es werden nur nach anderen eine Reihe Angaben über die Zeit zwischen Aussaat und Ernte gemacht, in- dessen sind diese Angaben nicht immer mit der notwendigen Kritik behandelt. So wird z. B. („Viridarium,“ Bd. 1 S. 117) über Kar- toffelbau in Alten (70° n. Br.) gesagt: „Die Kartoffeln werden ge-” wöhnlich in den ersten Tagen des Juni gelegt und blühen Mitte Juli oder einige Tage später.“ Hier ist es offenbar dem Verfasser nicht bekannt gewesen, dass man in diesen nördlichen Gegenden die Kartoffeln immer erst auskeimen lässt, ehe man sie legt; die Angabe über die auffallend kurze Zeit zwischen Aussaat und Blüte ist demnach irreleitend. ;

Außer Pflanzensamen aus hohen nördlichen Breiten sollen auch („Viridarium,“ Bd. 1, S. 141) Samen von in größerer Höhe über dem Meere lebenden Pflanzen bei der Aussaat eine auffallend kurze Vegetationsperiode besitzen. Indessen beruhen diese Behaup- tungen ım wesentlichen auf Angaben in der Literatur, nicht auf vergleichenden Versuchen.

Während meines Aufenthalts als Lehrer an der höheren Land- wirtschaftsschule in Aas bei Christiania erhielt ich im Sommer 1891 eine Probe von Gerste aus einem der höchstgelegenen Höfe in Thelemarken (ca. 2300° ü. M.), welche zusammen mit in Aas (300° ü. M.) geernteter Gerste ausgesät wurde. Das Resultat war, dass die Gerste aus Thelemarken zwar einige Tage früher keimte und daher eine kurze Zeit einen kleinen Vorsprung hatte, dann aber im Laufe der Entwickelung bald von der aus Aas stammen- den Gerste eingeholt wurde. Ein Unterschied in der Reifezeit ließ sich nicht nachweisen. Leider hatte ich keine Gelegenheit, ‘diesen durchaus nur vorläufigen Versuch fortzusetzen, dem ich daher auch keine wissenschaftliche Beweiskraft beilege, doch machte mich dieser Versuch schon damals misstrauisch gegenüber den Schübe- ler’schen sogen. „Naturgesetzen*.

Ursprünglich nahm Schübeler an, dass es in nördlichen Breiten das Licht wäre, welches die von ihm angenommene, merk- würdige Wirkung hervorbrächte („Kulturpflanzen,“ S.9): „In dem folgenden werde ich versuchen, durch bestimmte Tatsachen den

566 Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.

auffallenden Einfluss nachzuweisen, den das Licht der Sonne (un- abhängig von der Wärme gedacht) auf die Vegetation Norwegens ausübt“. Man ersieht aus seiner Arbeit, dass er durch eine Ab- handlung von Robert Hunt über verschiedene Arten von Licht- strahlen auf diesen Gedanken gebracht worden ist. Schübeler betont also das Licht als den wesentlichsten Faktor ım Pflanzen- leben und unterzieht („Kulturpflanzen,“ S. 1—5) die früheren For- scher: A. de Candolle, Quetelet, Babinet und Boussin- gault, die das Hauptgewicht auf die Wärme gelegt hatten, einer ausführlichen Kritik. Später wurde indessen diese Schübeler’- sche Annahme einer im hohen Norden während des Sommers weit größeren Lichtmenge von dem Professor der Astronomie an der Universität Christianıa Fearnley bestritten, der in einer kleinen Abhandlung!) zu dem Ergebnis kommt, „dass Christiania (59° 9‘ n. Br.), zu jeder Zeit tagsüber weniger Licht und Wärme ge- nießt als Proskau (50° 5’ n. Br.), nämlich der erste Ort durch- schnittlich 0.90, der letztere 0.95 in den fünf Monaten, Mai—Sep- tember, ferner dass Piteä (65° n. Br.) minder reich bedacht ist als Upsala (59° 9 n. Br.), nämlich jenes mit durchschnittlich 0,98 täglıch, dieses mit 1,00 in den vier Monaten Mai— August.“

Infolgedessen gibt Schübeler, wenngleich widerstrebend, ın seiner letzten Arbeit („Viridarium,“ Bd.I, S. 147) seine frühere Be- hauptung bezüglich der eigentümlichen Einwirkung des Lichtes auf: „Nach dem hier Angeführten kann man, wenigstens, was die Gerste betrifft, irgendeinen sicheren: Zusammenhang zwischen der Belichtung (ebensowenig, wie früher gezeigt, zwischen der Erwär- mung) und vielleicht auch zwischen der Summe von Belichtung und Erwärmung und der Vegetationsperiode der Pflanzen nicht nachweisen. Indessen deuten die zahlreichen Tatsachen, welche beweisen, dass die Entwickelung der Pflanzen in gewissen Hin- sichten in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis zu der geo- graphischen Breite steht, unabweislich darauf hin, dass diese Ent- wickelung in dieser oder jener Wirksamkeit der Sonne ihren Grund haben muss. Da diese jedoch nicht an und für sich auf einer di- rekten Wirkung der Wärmestrahlen, ebensowenig wie auf einer ähnlichen Wirkung des Lichtes beruhen kann, es sei denn, diese Wirkung läge in dem oben nachgewiesenen ununterbrochenen An- dauern des Lichtes, so erscheint es nıcht unwahrscheimlich, dass diese Ursache, zum mindesten teilweise in sekundären, tellurischen Wirkungen der Sonnenstrahlung zu suchen ist, ohne dass man in- dessen bei dem gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft nach- weisen kann, welcher Art diese sind oder sein können.“

1) Fearnley: „Fordelingen af den Lys-og Varmemängde, som Jorden modtager fra Solen.“ (Forhandlingeri Videnskabs-Selskabet i Christiania Aar 1568. Christiania 1869, S. 350.)

Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. 567

Es ist jedoch wohl kaum notwendig, derartige besondere, mystische Wirkungen seitens der Sonne anzunehmen, um das Ver- halten der Kulturpflanzen im nördlichen Norwegen zu erklären.

Vor allem ist nämlich die Temperatur während der eigentlichen Sommermonate in diesen Gegenden keineswegs so niedrig, wie man geneigt sein könnte, zu glauben.

Nach H. Mohn!) ist nämlich nach 50Jjährigen Beobachtungen die Mitteltemperatur für drei verschiedene Orte im südlichen, west- lichen und nördlichen Norwegen während der Sommermonate Mai bis einschließlich September:

Mitteltemperatur 1840—1890 in Norwegen:

Mai | Juni | Juli | August September |

CE C. CLaR| Aas (59° 40' n. Br.) . . 9,20 | 14,0° | 15,6° | 14,7° 10,5°%0 Christrania (599 55“n. Br.) || 10,5° | 15,5° | 12,0° | 15,9° 11,53 Südnorwegen Hamar (60° 48° n. Br.) . || 8,5° | 13,5° | 15,20 | 13,9 9,50 | Ullensvang (60° 20‘ n. Br.) || 9,8° | 13,5° | 14,8° | 14,4° EN ee Bergen (60° 23° n. Br.) . 9,40 | 12,8% | 14,492 21422 11553 | TEEN Elorö (61% 36° n.. Br.) - SH 111,92 13:88 113,70 inas © Karasjok (69° 17° n. Br.) Dose 9.19% 12. Se, 32 | Norde Tromsor(69% 39 n7 Br.).. Be | ae” || OD Ka | en Alten (69° 58 n. Br) . 3A mr: 12, ae 11,82 2.02 | a

Da es nur die Monate Juni, Juli und August sind, welche für das Wachstum der Pflanzen in diesen nördlichen Gegenden eine entscheidende Bedeutung haben, so wird man sehen, dass die Wärme, welche die Pflanzen genießen, im nördlichen Norwegen nicht sehr viel kleiner ist als im westlichen, ja selbst im südlichen Norwegen. An einzelnen Tagen hat man in Alten während des Sommers eine Lufttemperatur von 30.5°C., in Südvaranger sogar 31° C. beobachtet.

Hierzu kommt indessen noch ein anderer sehr wesentlicher Umstand, auf den Schübeler nur wenig Rücksicht genommen hat, nämlich die Lage des Bodens gegen das einfallende Sonnenlicht sowie die Bodenbeschaffenheit selbst. Schon in den ein wenig höher liegenden, engen Tälern Südnorwegens findet man, dass im wesentlichen nur Abhänge gegen Süden bebaut werden. Ich habe in einer früheren Abhandlung?) diese Tatsache in folgender Weise kurz besprochen: „Auf den ‚Oplandene‘ (Umgebungen des Mjösen)

1) H.Mohn: „Klima-Tabeller for Norge. I. Luftens Temperatur.“ (Videnskabs- Selskabets Skrifter. I. Mat. nat. Kl. 1895. Nr. 10. Christiania 1895. S. 18, 19.)

2) N. Wille und Jens Holmboe: „Dryas octopetala bei Langesund. Eine glaziale Pseudorelikte.“ (Nyt Magazin for Naturvidenskaberne. B. 41. Christiania 1903. S. 40.)

568 Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.

werden die schrägen Abhänge nach Norden „Lushatsiden“ genannt, weil sie im allgemeinen reich mit Aconitum septentrionale (in der Volkssprache ‚Lushat‘ genannt) bewachsen sind; diese Abhänge werden als wenig geeignet zum Ackerbau angesehen, da das Ge- treide hier schwer reif wird. Ihre Exposition nach Norden führt nämlich mit sich, dass sie wenig Sonnenwärme empfangen und sie sind infolgedessen kalt und feucht.“

Im nördlichen Norwegen spielt diese Rücksicht aber noch eine viel größere Rolle, dort wird überhaupt nicht die Rede davon sein, einen anderen als warmen und trockenen Boden, der gegen kalte Winde gut geschützt ist und eine günstige Lage gegen das ein- fallende Sonnenlicht hat, als Acker anzubauen. Unter diesen Um- ständen wird die Wärme des Erdbodens bedeutend größer werden als dort, wo man wie ım südlichen Norwegen verhältnismäßig flachere Böden bebaut. Da auch im nördlichen Norwegen die Sonne während des größten Teiles der Vegetationsperiode Tag und Nacht über dem Horizonte bleibt, wird dort der Boden während der Nacht auch nicht so stark abgekühlt werden wie im südlichen Norwegen, wo die Sonne nachts verschwindet. Im Flachlande des südlichen Norwegens, wo größere Flächen feldmäßıg bebaut werden, hat man im allgemeinen nur ziemlich wenig Dünger für seinen Acker; hingegen hat man in den Tälern und besonders im nördlichen Norwegen, wo die Viehzucht eine größere Rolle spielt und die Acker- stücke sehr klein sind, Gelegenheit, sein Feld reichlicher zu düngen.

Die Angaben über die Vegetationsperiode der Getreidearten werden im allgemeinen immer in der Weise gemacht, dass man die Zeit zwischen dem Tag der Aussaat und dem der Ernte an- gibt. Im südlichen Norwegen, wo größere Ackerflächen bebaut -werden, beginnt die Aussaat früher, weil der Boden eher schnee- frei wird, indessen kann hier viel längere Zeit zwischen Aussaat und Keimung vergehen als auf den nach Süden gelegenen Ab- hängen, wo die Bodenwärme ziemlich rasch die notwendige Höhe erreicht, sobald die Erde schneefrei geworden ist. Hierzu kommt noch, dass man im südlichen Norwegen, wo man im Herbst keine Nachtfröste zu fürchten hat, das Getreide so lange stehen lässt, bıs es vollständig reif ıst, während man es in den höher gelegenen Tälern und im nördlichen Norwegen so zeitig als möglich aberntet und es nach der Ernte nachreifen lässt. Eine Folge hiervon wird dann auch sein, dass im Norden in Wirklichkeit eine sehr wirk- same Auswahl des am frühesten reifenden Getreides stattfindet; denn diejenigen Getreideähren, die bei der Ernte noch nicht so weit sind, dass sie bei der Nachreife völlig keimfähige Körner lie- fern, bilden das sogen. Leichtkorn, das bei der Reinigung des (etreides abgeschieden und somit zur Aussaat im nächsten Jahre nicht gebraucht wird. Im Flachlande des südlichen Norwegens

“=

EB:

Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. 569

erntet man ım allgemeinen nicht eher als bis alles reif ist, und da nun die spätreifenden Ähren oft schwere Körner enthalten, werden gerade diese hier ins Saatkorn gelangen und sich ım folgenden Jahre vermehren. Da man ja in der Landwirtschaft tatsächlich immer mit Mischungen vieler verschiedener Mutationen arbeitet, die durch den Einfluss stark ausgeprägter Standortsverhältnisse so gesichtet werden können, dass eine einzige oder einige wenige Muta- tionen die herrschenden werden, so kann die Bildıns früh oder spät reifender Sorten befriedigend genug durch diese Auswahl er- klärt werden, ohne dass man eine direkte Anpassung annehmen braucht. Auf alle diese Faktoren, die man berücksichtigen muss, um sich eine Meinung darüber bilden zu können, inwieweit der Anbau von Kulturpflanzen in nördlichen Breiten neue Mutationen mit anderen Eigenschaften hervorgebracht hat, hat Schübeler indessen keine Rücksicht genommen und konnte zum Teil auch keine Rücksicht auf sie nehmen, da sie außerhalb der Gesichts- punkte, die zu seiner Zeit bekannt oder maßgebend waren, lagen.

Indessen ist es auch noch die Frage, ob nicht das ganze, von Schübeler benutzte Material an und für sich ungenügend war, um daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Schübeler

‚hat sich bezüglich der kurzen Vegetationsperiode der Getreidearten

im nördlichen Norwegen wesentlich auf Angaben einzelner, dort ansässiger Personen gestützt, die teils in Abhandlungen teils ıhm persönlich Mitteilungen über die Saat- und Erntezeit in einzelnen Jahren gemacht haben. Es scheint, als ob hier der Lokalpatrio- tismus insofern eine Rolle gespielt hat, als man hauptsächlich An- gaben aus besonders günstigen Jahren gemacht, dagegen solche aus schlechten Jahren verschwiegen hat.

Vor einigen Jahren wandte sich ein bekannter norwegischer Landwirtschaftslehrer L. P. Nielssen, der Direktor der a sten Landwirtschaftsschule Norwegens bei Bodö (67° 17‘ n. Br.) geworden war, an mich, da er fand, dass die Va onen der Getreidearten dort oben nicht mit den Schübeler’schen Ge- setzen übereinstimmte. Ich forderte ihn auf, seine Beobachtungen sowie die Sammlung statistischer Angaben mehrere Jahre hindurch fortzusetzen, um so zu zuverlässigeren Ergebnissen zu gelangen. Dies hat er auch getan und in mehreren, später herausgegebenen, höchst interessanten Arbeiten !) ein umfassendes Vergleichsmaterial

1) L. P. Nilssen: Har Planterne kortere Vegetationstid i Nordland end söndenfjelds?“ (Naturen. Aarg. 22. Bergen 1898.) Idem: ,„Kort Beskrivelse af Nordlands Amts Herreder med Hensyn tit Korndyrkningen sammesteds samt en liden Redegjörelse angaaende den midlere Växttid for Kornet i Nordland.“ Bodö 1895. Idem: „Lidt om Planternes Vegetationstid m. m. En sammenlignende Fremstilling mellem Forhold i Nord og Syd. (Tidsskrift for det norske Landbrug. Aarg. 11. Christiania 1904.)

570 Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.

vorgelegt, aus welchem hervorgeht, dass die vorgebliche kurze Wachstumsdauer von Pflanzen im nördlichen Norwegen wenigstens bezüglich der Getreidearten keineswegs den tatsächlichen Verhält- nissen entspricht. Er hat in seiner letzten Arbeit für die Gerste Angaben über die Vegetationsdauer aus allen norwegischen Ämtern zusammengestellt. Di Angaben sollen hier wieder sen werden.

Anzahl der Wachstumstage für Gerste in Norwegen:

nt rzeste A nzahl Längste Anzahl Im Mittel von Tagen von Tagen Smaalenener sure, m. 65 103 85,6 Hedemarken . . Er 78 97 86,0 Jarlsberg und Laur vl So 95 87,9 Christians. em a. 1 102 90,5 Buskerude. ser... 0 s0 100 91,4 Romsdal MER 90 134 95,4 Nedenäs . . ET 87 103 95,8 Lister und Mand al ERSIERERG: 84 112 96,8 Akershus. Sea, so 107 97,0 PLOMSORER ET FR sl 1613 99,6 Bratsberg.. . SE PER: 2 108 99,8 Söndre Ber senhus ser a: 87 112 100,7 Nordre Bergenhus . a rl 76 121 100,9 Nordlande. oe © Sr 2aehe 57 130 104,2 Binmarken? 2:92 „RR 104 —?) | 105,0 Söndre Trondhjiem . . . . 92 115 105,2 Nordre Trondhjiem . . . . 97 123 106,5 Slavanger. 2, une, 95 122 106,7

Diese Tabelle weist ganz andere Ziffern auf, als wie man sie den Schübeler’schen Gesetzen entsprechend erwarten sollte, sie zeigt nämlich, dass die Vegetationsperiode der Gerste am längsten ist in den Küstenämtern, am kürzesten aber in den Ämtern des Binnenlandes. Mit anderen Worten, wo in Norwegen Küstenklima herrscht, dauert im allgemeinen die Wachstumszeit der Gerste lange, ganz gleich ob sie unter niedrigeren oder höheren Breiten wächst. Dort aber, wo kontinentales Klima herrscht, ist: die Vege- tationsperiode der Gerste im allgemeinen kurz. Diese Tatsachen würden vielleicht noch stärker hervortreten, wenn man in jedem Amt diejenigen Orte, aus denen die betreffende Angabe stammt, genau verzeichnet hätte. Denn in vielen Ämtern sind sowohl Gegenden mit ozeanischem als auch solche mit kontinentalem Klima vorhanden. Selbstverständlich können auch in der oben wieder- gegebenen Tabelle Fehler sein und lassen sich überhaupt pflanzen- Ba Gesetze nicht allein mit statistischen Daten beweisen,

1) Die Ürschstauh der Wachstumstage kann hier nicht angegeben werden, da die Gerste in Finmarken oft nicht mehr reift.

-.

»

Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. Ayal

indessen zeigt die Tabelle jedenfalls, dass die Daten, auf welche Schübeler seine Behauptung betreffs einer viel kürzeren Vege- tationsperiode im nördlichen Norwegen gründete, einer eingehen- deren Prüfung nicht standhalten, weshalb es auch unnütz wäre, diese Behauptung in ihrer Allgemeinheit aufrecht erhalten zu wollen, so lange wenigstens, als sie nicht durch neue Untersuchungen bewiesen ist.

Vor emigen Jahren wurden von dem Landwirtschaftschemiker F. Werenskjold!) eine Reihe Analysen der sechszeiligen Gerste aus verschiedenen Gegenden in Norwegen ausgeführt, aber auch das Ergebnis dieser Analysen spricht, wie man aus der unten- stehenden Tabelle ersehen kann, nicht dafür, dass die Gerste ım nördlichen Norwegen andere Eigenschaften besitzen sollte als ım südlichen:

Die Körner der sechszeiligen Gerste enthalten im Mittel nach Trockenstoff berechnet:

Gerste aus Asche Fett Eiweiss Amid Fasern Stärke Extrakt Nordland . . . || 2,65—3,36 |1,96—2,33 | 9,79 —14,67 | 0,59—0,73 | 4,59—7,31 | 51,01—63,43.| 15,88— 21,61 Gudbrandsdal . 2,65 2,03 8,92 0,48 4,63 65,33 15,96 Hedemarken.. . 2,96 —3,40 | 2,03— 2,22 | 9,35 —11,96 | 1,44— 2,09 | 4,68 —5,58 | 58,50—60,05 | 16,35— 18,36

von 1897. 2,41 1,87 11,86 0,70 4,84 65,02 13,30 Smaalenene . . 2,54 2,08 12,68 0,88 4,75 55,41 21,33

Sämtliche Proben sind (mit Ausnahme einer einzigen aus Hedemarken von 1897) im dem für das südliche Norwegen un- günstigen Jahre 1898 geerntet. Aus den Analysen geht hervor, dass die verschiedenen Bestandteile der Gerstenkörner in ihrer Menge stark schwanken können, indessen lässt sich kaum ein be- sonderes Übergewicht für einen dieser Bestandteile nachweisen, wenn man Körner aus dem nördlichen mit solchen aus dem süd- lichen Norwegen vergleicht. Denn daraus, dass in einem Einzel- falle bei Gerste aus Nordland sich die Eiweißmenge als größer, in einem anderen Einzelfalle die Stärkemenge sich als geringer erwie- sen hat als bei Gerste aus Gudbrandsdalen oder Hedemarken, kann man selbstverständlich ein allgemeines Gesetz nicht ableiten, da ın anderen Fällen wieder das Umgekehrte vorkommt. Eher darf man annehmen, dass die Düngung und andere zufällige Umstände hier eine Rolle gespielt haben.

Wenn Schübeler in dem sechsten seiner Gesetze sagt, dass bei Früchten das Aroma nach Norden hin zunimmt, die Zucker-

1) F. H. Werenskjold: ,„Nogle Byganalyser.“ (Tidsskrift for det norske Landbrug. Aarg. 7. Christiania 1900, S. 68.)

572 Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.

menge aber abnimmt, so beruht diese Behauptun& nur auf sub- jektiven Urteilen verschiedener glaubwürdiger Personen, nicht aber auf direkten Untersuchungen und genauen Messungen.

Da der Sommer ım nördlichen Norwegen kurz ist, so ist es klar, dass spät reifende Sorten, die ihre volle Reife nicht erdangen, eine geringere Zuckermenge aufweisen können, wenn sie ım hohen Norden gebaut werden. Jedoch zeigen die von W erenskjold bei der aus dem nördlichen Norwegen stammenden Gerste fest- gestellten Stärkemengen, dass diese nicht zurückstehen braucht.

Da man nicht annehmen kann, dass der Zucker als Reservestoff so völlig verschiedenes Verhalten zeigen werde, so liegt es a priori nahe, sich vorläufig gegenüber den noch unbewiesenen Angaben über das verschiedene Auftreten des Zuckers bei Früchten derselben Sorte aus dem südlichen und aus dem nördlichen Norwegen zweifel- haft zu verhalten. Man könnte vermuten, dass es sich hier wie mit der Wachstumsdauer verhält, nämlich, dass das Küstenklima die Zuckermenge herabsetzt, das kontinentale Klima sie dagegen vermehrt. Jedoch müssen, ehe man dies konstatieren kann, eine größere Anzahl von Bestimmungen der Zuckermenge bei Pflanzen derselben Art, aber aus verschiedenen Klimaprovinzen vorliegen. G. Bonnier?) und Ch. Flahault haben bezüglich der Honigab- sonderung bei denselben Pflanzen einerseits aus Dovre ın Norwegen, andererseits aus Frankreich vergleichende Untersuchungen vorge- nommen, deren Resultate aber auch nicht mit den Schübeler’- schen Gesetzen übereinstimmen, insofern nämlich die Honigmenge bei Pflanzen aus nördlichen Breiten größer war als bei solchen aus südlicheren Breiten.

Mit Hinsicht auf Schübeler’s Behauptung, dass das Aroma mit zunehmender geographischer Breite steigt, liegen genügend zahlreiche direkte und objektive Beobachtungen, nach denen man sich eine begründete Ansicht hierüber bilden könnte, noch nicht vor. Es ist freilich eine vergleichende Untersuchung von C. Nico- laysen?) über die Bestandteile des Öles aus den Früchten von Carum Carvi aus Christianıa ım südlichen und aus Tromsö im nördlichen Norwegen vorhanden, indessen zeigt diese, dass die Sache komplizierter ist, als man hätte erwarten sollen. Denn freilich gab Kümmel aus Christiania 6,1°/, Öl und solcher aus Tromsö 6,4°/,, was mit dem Schübeler’schen Gesetz übereinstimmte, in- dessen ıst das Kümmelöl kein einfaches Produkt, sondern enthält vielmehr Carven und Carvol, die sich verschieden verhalten. Nico-

1) G. Bonnier et Ch. Flahault: „Observations sur les Modifications des Vegötaux suivant les Conditions physiques du Milieu.“ (Annales des Sciences na- turelles. 6e Ser. Botanique. T. 7. Paris 1879. 8. 17.)

2) Carl Nieolaysen: „Om den norske Karveolje.“ (Nyt Magazin for Natur- videnskaberne. Bd. 31. Christiania 1590. S. 223.)

Wille, Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. 573

laysen hat diese Bestandteile von Kümmelöl aus Pflanzen aus Christiania, dem Gudbrandsdal und Tromsö berechnet. Die Zu- sammensetzung ist die folgende:

Gudbrandsdal Tromsö (ea. 61° 30‘n, Br.) | (692 39° n. Br.)

Christiania (Han. Br.)

Carvol SE Be, 48,9%, >47, 1.05 48,0°%,

WAVE ER ae ©, Herne | 52,9%, 52,0%],

Hieraus geht hervor, dass der Breitengrad offenbar ohne Be- deutung ist (vorausgesetzt, dass man dies aus den Untersuchungen eines einzigen Jahres schließen darf); denn das Kümmelöl von dem nördlichsten Standort Tromsö steht in seiner Zusammensetzung in der Mitte zwischen den Olen von den zwei südlichen Standorten der Kümmelpflanze.

Wenn ich im vorhergehenden zu zeigen versucht habe, dass die objektiven Tatsachen, auf welche F. C. Schübeler seine ur- sprünglich vor nunmehr bald einem halben Jahrhundert vorge- brachten Behauptungen über gewisse Eigentümlichkeiten der Vege- tation in hohen, nördlichen Breiten einer unparteiischen Kritik gegenüber nicht länger bestehen können, so ist es doch deshalb nicht meine Absicht, diesem hochverdienten Gelehrten hierdurch etwas von seiner Bedeutung zu rauben. Jedoch führt der Fort- schritt der Wissenschaft oft mit sich, dass man die Tatsachen später in anderer Weise deutet, und dass Theorien, die zu ihrer Zeit plausibel erschienen, in einer späteren Zeit dem wachsenden Wissen entsprechend abgeändert werden und Beweise, die man in dem einen Zeitraum für genügend ansah, in dem nächsten für unzureichend erklärt werden müssen.

Das große Verdienst wird jedenfalls immer an den Namen F.C.Schübeler’s geknüpft sein, dass er zuerst auf die eigentüm- lichen Vegetationsverhältnisse im nördlichen Europa aufmerksam geworden ist und sie einer vergleichenden Untersuchung unterzogen hat. Er hat diese verwickelten Fragen nicht lösen können, weil seine Hilfsmittel nicht ausreichend waren, was indessen kein Grund ist, dass es nicht dem gegenwärtigen Jahrhundert besser gelingen sollte, sie zu lösen. Sie müssen zu lösen versucht werden, denn sie haben, wie Schübeler mit seinem scharfen Blick klar erkannte, nicht nur wissenschaftliche, sondern auch eine sehr große, direkte, ökonomische Bedeutung für die Pflanzenkultur nicht allein in Nor- wegen, sondern sicher auch in ganz Nord- und Mitteleuropa.

Diese Fragen können indessen nur durch exakte Untersuchungs- methoden gelöst werden, wie sie sich nur von einer wissenschaft-

574 Lendenfeld, Über die Fauna der Antarktis.

lich ausgerüsteten Station, an welcher die Arbeit während einer Reihe von Jahren systematisch betrieben werden kann, ausführen lassen.

Von dänischer Seite wird gegenwärtig eifrig daran gearbeitet, die Errichtung einer wissenschaftlichen Versuchsstation bei Disko auf Grönland zu erreichen. Wenn eine solche Station auch unge- fähr unter demselben Breitengrad in Alten in Norwegen errichtet werden könnte, so würde sicherlich das Zusammenarbeiten dieser Stationen unter sich und mit den amerikanischen und europäischen Versuchsstationen außerordentlich wichtige Ergebnisse ebenso für die Pflanzenphysiologie wie für die Pflanzenkultur liefern können.

Alten (70° n. Br.) liegt mit seinen lebhaften Dampfschiffs- verbindungen mit dem südlichen Norwegen außerordentlich günstig für die Errichtung einer wissenschaftlichen Station, welcher hier ein ausgedehntes Arbeitsfeld zur Verfügung stände. Schon 1838 —39 stellte eine französische Expediton unter Lottin und Bravais in Alten Beobachtungen über Erdmagnetismus und Nordlichter an, später haben norwegische Expeditionen von 1882 ab wiederholt ähnliche Beobachtungen dort vorgenommen. Auf der Naturforscher- versammlung 1886 in Christiania, betonte der norwegische Meteo- log Aksel Steen!) sehr stark die zahlreichen Gründe, welche für die Errichtung einer internationalen arktischen Station in Alten, insbesondere zu magnetischen Beobachtungen, sprechen.

Nach meiner Auffassung finden sich zahlreiche wichtige bota- nische und landwirtschaftliche Fragen, die ihrer Lösung bedeutend näher gebracht werden könnten, wenn sie von einer arktischen Ver- suchstation im nördlichen Europa (außer der auf Grönland geplanten) untersucht würden. Die wirtschaftlichen Kräfte Norwegens reichen indessen wohl nicht dazu aus, neben all den Ansprüchen, die von anderen, unentbehrlicheren, wissenschaftlichen Institutionen gestellt werden, auch eine derartige Station auszurüsten. Da aber die Er- gebnisse einer solchen auch für die übrigen europäischen Länder von Interesse sein würden, so haben wir hier einen jener Fälle, in welchen internationales wirtschaftliches Zusammenarbeiten er- forderlich sein kann, um Resultate zu erzielen, die sowohl in wissen- schaftlicher wie im praktischer Hinsicht internationale Bedeutung haben. [70]

Über die Fauna der Antarktis. Von Robert von Lendenfeld.

T. V.Hodgson und E. A. Wilson haben vorläufige Berichte über die während der Discoveryreise beobachteten und gesammelten

1) Aksel Steen: „Om magnetiske iagttagelser i polaregneme.“ (Nyt Magazin for Naturvidenskaberne. Bd. 31. Christiania 1890.)

Lendenfeld, Über die Fauna der Antarktis. 575

antarktischen Tiere veröffentlicht!), welche eimen Einblick ın die faunistischen Verhältnisse in hohen südlichen Breiten gestatten. Das diesen Berichten zugrunde liegende Material wurde haupt- sächlich ın der, zwischen der Erebus- und Terrorinsel und dem Vıktoriafestlande gelegenen Mac Murdochmeeresstraße, wo, unter 77° 50°‘ S, die Discovery zweimal überwinterte, aufgesammelt. Einiges wurde auch weiter östlich, in der freien Rossee, zwischen 77° und 78° südlicher Breite, sowie an einigen weiter nördlich in der Rossee gelegenen Stellen erbeutet. Unmittelbar vom Schiff aus wurden nur wenige Schleppnetzzüge ausgeführt, dagegen in der Nähe des eingefrorenen Schiffes an Eislöchern und an einem Eisspalt, worin Netze hin- und hergezogen wurden, sehr viel und systematisch das ganze Jahr hindurch gearbeitet.

Ein auffallender Charakterzug der Meeresfauna jener Gegend ist der Reichtum an Spongien, von denen etwa 50 Arten erbeutet wurden. Sie kommen am massenhaftesten in Tiefen von 30—40 m vor, und scheinen am Grunde ausgedehnte Bestände zu bilden. Medusen, Siphonophoren und Ctenophoren sind ebenfalls häufig. Diese litten jedoch beim Aufsammeln sehr, da sich der niederen Temperatur wegen stets Eis in ihnen bildete, sowie sie aus dem Wasser genommen wurden. Öfters wurde eine bei 30 em im Durch- messer haltende Chrysaora-ähnliche Meduse und einmal eine große Periphylla beobachtet. Solmundella und Phialidium waren häufig. Diphyes und Halistemma wurden ebenfalls angetroffen. Eine große Beroe und mehrere, wenigstens drei, Arten von Öydippiden wurden gefangen. Die Schleppnetze brachten Hydroidpolypen, Actinien und Alcyonarien herauf. Eine Umbellula wurde vor der Eismauer aus einer Tiefe von 914m heraufgeholt. Die in Tiefen von 366-549 m ausgeführten Züge förderten zwei Korallenarten zu- tage.

Echinodermen sind in der Rossee sehr zahlreich. Mit jedem, in Tiefen bis 91 m ausgeführten Zuge wurde Kchinus erbeutet. Auch Cycethra und Hemiaster, sowie einige Holothurien, Oucumaria und andere, wurden gefunden. Ein Crinoid war in Tiefen über 183 m häufig. Unter den Seesternen zeichnete sich Asterias brandtir durch sein massenhaftes Auftreten aus. Auch viel Ophiuriden, Ophoosteira antarctica, Ophionotus victoriae und andere wurden er- beutet.

In den Spongienbeständen sind ein Phascolosoma sowie ein Nematod häufig und es enthielt der Darm einer jeden Robbe zahl- reiche parasitische Nematoden.

1) In: Geographical Journal, Bd 25, Nr. 9, p. 392—401. Dr. Wilson war so liebenswürdig, mir briefliche Erläuterungen bezüglich der Namen der in seinem Berichte erwähnten Spezies zukommen za lassen, wofür ich ihm bestens danke.

2

576 Lendenfeld, Über die Fauna der Antarktis. sn 3 g

Von Polychäten wurden viele Arten, jedoch nur in geringer Stückzahl aufgesammelt. Es gab Polynoiden und Terebelliden, letztere an den Grundteilen der Spongien. Eine Nereis lebt sym- biotisch mit einer Alcyonarie. Eine Eunice wurde aus größerer Tiefe heraufgeholt. Sagitten fanden sich oft im Schwebenetze. Einige scheinen über 76 mm lang gewesen zu sein. Am Grunde wurden öfters große, bis meterlange, 2!/, cm breite Nemertinen zusammen- gerollt liegen gesehen. Die meisten von diesen waren purpur- braun, einige aber weiß. Eine zweite, kleinere Art wurde öfters gefangen.

An den Zug- und Lotleinen hing öfters ein merkwürdiges Gebilde, welches die Gestalt eines bis 6 m langen und bis 6 mm breiten, gallertigen, teilweise bräunlich gefärbten Bandes hatte. Die meisten Stücke gingen, weil sie fest anfroren, zugrunde. Nur eines wurde mit heimgebracht. Hodgson bezeichnet es vorläufig als eine Nemertine, meint aber, dass es sehr wahrscheinlich was anderes ist und vielleicht etwas mit einem Cephalopoden zu tun hat.

Schizopoden und Copepoden treten in mehreren Arten massen- haft auf; von Cumaceen wurden jedoch nur wenige, zwei Arten angehörige Stücke erbeutet, und auch Ostracoden waren verhältnis- mäßig selten. Bei den winterlichen Planktonzügen an der Eis- spalte wurde stets ein grünliches Leuchten des gefangenen Plank- tons wahrgenommen, das nach Hodgson hauptsächlich von den CGopepoden und Ostracoden ausging. Die große Kuphausia australis wurde in sehr bedeutender Menge zwischen dem 66. und 72. Grad südlicher Breite angetroffen. Sie bildet hier die hauptsächliche Nahrung der weißen Robbe und der Pinguine. Von Isopoden wurden eine große Idotheide und mehrere Arten von Arcturus ge- funden. In den Spongienbeständen kamen große Mengen von Gnathia, Tanais und Muniden vor. Eine blinde, Gnathia-ähnliche Form wurde weiter nördlich im Packeisgebiet aus einer Tiefe von 3713 m heraufgeholt. Cymothoiden wurden frei sowohl als in den Mägen von Robben gefunden. Im Sommer wurde Nebalia ın be- trächtlicher Menge angetroffen. Die Amphipodenfauna ist eine sehr reiche. Es wurden über 50 verschiedene Arten erbeutet. Eine Art tritt in großen und dichten Schwärmen auf. Von dieser wurden oft bei einem Zuge 1000030000 Stück gefangen. Von Decapoden wurden Orangon und Pandalus, beide in Tiefen über 183 m angetroffen.

Es wurden zahlreiche Pyenogoniden, Nymphon, Colossendeis, Phoxichilus ete., sowie auch das Pentanymphon antareticum mit dem überzähligen Beinpaar, erbeutet.

Von Mullusken wurden ungefähr 50 Arten aufgesammelt. Die meisten sind klein und leben in den Spongienbeständen. Eine, in mit Byssus ausgekleideten Höhlen lebende Zima-Art, und ein schönes

R Lendenfeld, Über die Fauna der Antarktis. 577

2 Wr

Trophon, sind häufig. Aus größeren Tiefen wurden einige Chitonen und ein Neobuceinum eatoni heraufgebracht. Ferner wurden Schalen von Pecten colbeecki und Anatina gefunden. Von dem oben er- wähnten, zweifelhaften Organismus abgesehen, wurden keine Üe- phalopoden gefangen. Dass solche in der Gegend leben, wird jedoch durch das Vorkommen ihrer Schnäbel in den Mägen der Robben dargetan.

. Bryozoen sind ungemein häufig, besonders in Tiefen von etwa 183 m und mehr. Einmal wurden an den Fransen einer Falle, die sich höchstens ein paar Meter weit über den Boden bewegt hatte, 15 Arten auf einmal aus einer Tiefe von 325 m heraufgebracht. In größeren Tiefen wurde auch ein Brachiopod gefunden.

Eine große Menge von Cephalodiscus wurde aus einer Tiefe von 183 m hervorgeholt.

Ascidien und Salpen kommen ın 77°—78° S zwar vor, sind hier aber selten. Weiter nördlich in der Rossee wurden aber sehr zahlreiche Salpen beobachtet.

Die Fische sind sehr zahlreich. Am reichsten sind die Gattungen Notothenia und Trematomus vertreten, von denen mehrere Arten sehr oft ın den Fischfallen gefangen wurden. Der größte erbeutete Fisch war ein Angehöriger der Gattung Notothenia oder einer ähnlichen. Er wurde an einem Eisloche harpuniert und maß 117 cm in der Länge. In den Planktonnetzen fanden sich stets große Mengen kleiner, junger Fische.

Unter den antarktischen Vögeln ist in erster Linie der Kaiser- pinguin (Aptanodytes forsteri) zu erwähnen. Dieser brütet im Winter an den südlichsten offenen Stellen am Südrande des beweglichen, und am Nordrande des festliegenden Meereises. Im Sommer gehen Alte und Junge mit dem Packeis nach Norden, um im Herbste wieder nach Süden zurückzukehren. Eine andere in der Rossee sehr häufige Art, der Adelepinguin (Pygoscelös adeliae), geht im Sommer nach Süden, um zu brüten und wandert im Herbst nach Norden, um den Winter an Nordrande des Packeisgürtels zu verbringen. Ein ähnliches Leben führt der Schneesturmvogel (Pagodroma nivea). An den südlichsten offenen Stellen finden sich demnach im Winter der Kaiserpinguin, im Sommer aber Adelepinguine und Schnee- sturmvögel. Diese drei Vögel sind auf die Eisregion beschränkt. Trifft man sie im freierem Wasser an, so kann man sicher sein, dass größere Eismassen in der Nähe sind. Dasselbe lässt sıch nicht von Thalassaeca antaretica und Priocella glacialoides sagen, welche im Winter weit nach Norden gehen und sich keineswegs bloß in der Nähe des Eises aufhalten. Zu den eigentlichen Eiıs- vögeln ist auch Megalestris m’cormicki zu vechnen, die nie ın größerer Enfernung vom Eise beobachtet wurde und viel weiter südlich lebt als die verwandte antarktische Raubmöve.

xXXV.

wo 1

578 Lendenfeld, Über die Fauna der Antarktis.

Es ist bekannt, dass im ausgebildeten Zustand der Kaiser- dem Königspinguin sehr ähnlich ıst, dass sich diese beiden aber in früher Jugend wesentlich durch die Farbe ihres Dunenkleides unter- scheiden: Die Kaiserpinguinküchlein sind weiß, die Königspinguin- küchlein dunkelbraun. Ganz ähnliche Verhältnisse werden bei den antarktischen Albatrossarten Diomedea chionoptera und regia ange- troffen. Auch die jungen Lobodon carcinophagus Robben sind weiß. Die weiße Färbung der Jungen dieser antarktischen Tiere könnte vielleicht eine Schutzfärbung sein. Dies würde das Vorhandensein von ihnen gefährlichen Raubtieren voraussetzen und darauf hin- weisen, dass, obwohl derartige Tiere gegenwärtig in der Antarktis nicht vorkommen, einstens solche dort gelebt hätten. Wilson hält dies jedoch nicht für wahrscheinlich und meint, dass bei den Tieren in hohen Breiten eine allgemeine Tendenz des Weißwerdens besteht, hervorgerufen durch die Einwirkung der dort herrschenden Kälte, oder aber dass dieses Weißwerden auf die Einwirkung des Sparsamkeitsprinzips in der Natur zurückzuführen sei. Sehr be- stimmt drückt er die Meinung aus, dass die weiße Farbe die ant- arktischen Tiere weder vor Feinden schützt noch ihnen den Nah- rungserwerb erleichtert. Von besonderem Interesse ist in dieser Hinsicht der Riesensturmvogel Ossifraga gigantea. Im weniger hohen südlichen Breiten sind die allermeisten von diesen Vögeln dunkel gefärbt und es kommt auf ein Paar hundert nur ein weißer. Je weiter man nach Süden vordringt, um so häufiger werden die hellfarbigen und ın den höchsten Breiten, wo sie noch vorkommen, bilden die hellen oder weißen 20°/, aller, die man sieht.

Ich habe ın einer Reihe von Schriften auf die große Wichtig- keit des Sparsamkeitsprinzips hingewiesen und betont, dass die Deszendenztheoretiker diesem Prinzip im allgemeinen viel zu wenig ;edeutung beimessen. Ich glaube, dass wie Wilson alternativ andeutet, das Aufhören der Nützlichkeit der dunklen Farbe für die antarktischen Tiere, infolge der Wirkung des Sparsamkeits- prinzips, zu einem Verlust der Farbe führen kann. Selbstver- ständlich wird die Wirkung dieses Prinzips in Gestalt einer Tendenz zum Weißwerden in die Erscheinung treten. Es ist im vorliegen- den Falle jedoch noch ein besonderer Umstand zu berücksichtigen. In den Tropen und gemäßigten Zonen ist die Färbung der dem Sonnenlichte ausgesetzten Oberseiten der Tiere wohl nicht bloß zum Zwecke des Unauffälligerscheinens, sondern auch deshalb selektiv gezüchtet worden, weil sie den Vorteil gewährt, der von der Sonne ausgehenden Strahlung das Eindringen in das Unter- hautgewebe und die inneren Organe zu verwehren. In den Polar- gebieten wird diese Strahlung, deren Schädlichkeit jedem Bergsteiger aus eigener, schmerzlicher Erfahrung wohl bekannt ist, durch die Dicke der Luftschicht, welche die niedrig stehende Sonne zu durch-

Lendenfeld, Über die Fauna der Antarktis. 579

dringen hat, großenteils aufgehalten, so dass hier eine vor der- selben schützende Farbstoffschicht an der Körperoberfläche über- flüssig ist.

Von Säugetieren kommen ım antarktischen Gebiet nur Robben und Waltiere vor.

Ob zwar die antarktischen Robben gewisse gemeinsame Merkmale haben, die anderen Robben nicht zukommen, und so eine eigene, antarktische Gruppe bilden, sınd sie doch in bezug auf Gebiss und andere Eigenschaften so sehr voneinander verschieden, dass man sie in verschiedenen Gattungen hat unterbringen müssen.

Drei Robbenarten sind, obwohl sie wenigstens die Weddell- robbe in einzelnen Stücken auch weiter nördlich, bis Kerguelen angetroffen werden, als eigentlich antarktische Tiere anzusehen. Die erste Robbe, die beim Vordringen nach Süden auf dem Packeis angetroffen wird, ist die weiße Robbe, Lobodon carcinophagus. Warum sie so benannt wurde, weiß Wilson nicht zu sagen, denn sie frisst nie eine Krabbe. Diese Art ist auf dem Packeis sehr häufig. Weiter südlich, an der Küste des Viktorialandes, wurde sie aber nur selten angetroffen. Die weiße Robbe wird von Orca gladiator so eifrig verfolgt, dass man nur ein Stück in zehn findet, dessen Haut nicht die langen Rissnarben der Bisse jenes Zahn- wales trägt. Diese Narben finden sich vornehmlich an der Unter- seite. Die Männchen haben außer diesen noch andere, kürzere, über den ganzen Körper verteilte Narben, welche von ihren Kämpfen untereinander herrühren. Unter. 77° 50° S, in der Gegend, wo die Discovery festsaß, war die Weddellrobbe, Leptonychotus weddelh, sehr häufig. Die Mitglieder der Expedition lebten hauptsächlich von ihr. Das Fleisch ist dunkel und grob, aber nicht immer zäh. Das Fett schmeckt schlecht und muss vor der Zubereitung sorg- fältig herauspräpariert werden. Die Leber ist ausgezeichnet. Diese Robbe ist sehr sangeslustig. Wilson gibt einen Auszug aus seinem Tagebuch über die Töne, die sie hervorbringt. „Sie gab erst einen langen, volltönenden Seufzer zum besten, der ın hoher Lage beginnend, tief ausklang, sonst aber dem Tone der Eis- pressung glich. Darauf folgte ein rasches Schnaufen und Grunzen, wie von einem Meerschweinchen. Dieses ging in klagende, pfeifende Laute über, welche mit einem, jenem des Gimpels ähnlichen Rufe endigten. Den Schluss bildete ein gellender Pfiff und ein lauter Schnaufer, der klang, als ob die Robbe den Atem zu lange ange- halten hätte“. Bekanntlich bringt auch die weiße Robbe allerlei merkwürdige Töne hervor. Die Weddellrobbe ruht im Sommer gewöhnlich am Lande, im Winter oft im Wasser. Packeisschollen betritt sie nicht gerne. Viel weniger häufig als diese ist die Ross- robbe (Ommatophoca rossi), von der im ganzen nur sechs Stück erbeutet wurden.

37*

580 Haberlandt, Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter.

Außer diesen drei Arten wurde ein junges Männchen einer anderen Art erbeutet, welches eine Länge von 366 cm hatte. Es ähnelt dem Seeelephanten der Me’Quaire-Inseln und ist vielleicht nur ein nach Süden verirrtes Stück von Macrorhinus leoninus. Auch Seeleoparden (Sternorhynchus leplonyx) kommen ım antark- tischen Gebiete vor. Diese sind aber weit nach Norden verbreitet und bis Australien häufig, weshalb sie nicht als eigentlich antark- tische Tiere angesehen werden können.

Das Gebiss der weißen Robbe bildet einen, dem Walfischbein ähnlichen Rost, durch den das Tier das aufgenommene Wasser ausspritzt, wobei die kleinen pelagischen Kruster, die darin ent- halten sind und die Nahrung der Robbe bilden, in der Mundhöhle zurückbleiben. Die Rossrobbe hat feine zurückgebogene, scharf- spitzige Zähne, mit denen sie die Cephalopoden erfasst, die den Hauptteil ihrer Nahrung zu bilden scheinen. Die Weddellrobbe nährt sich von Seichtwasserfischen und der Seeleopard von Pinguinen. Der einzige erbeutete Seeelephant scheint gehungert zu haben, vermutlich weil er die Weichtiere, die ihn in seiner nördlichen Heimat zurNahrung dienen, in der Antarktis nicht fand.

Während die Seelöwen und Seebären der gemäßigten, süd- lichen Zone, äußere Ohren und einen dichten Pelz haben und sich bei der Bewegung am Lande der hinteren Extremität bedienen, findet man bei den ın höherem Maße an das Wasserleben ange- passten antarktischen Robben weder äußere Ohren noch einen rich- tigen Pelz, auch bedienen sie sich bei der Bewegung am Lande nicht mehr der hintern Extrenizät.

Es wurden wenigstens sechs verschiedene Arten von Waltieren beobachtet. Ross hatte seiner Zeit berichtet, dass Hubalaena australis ın der Rossee vorkäme, worauf Walfänger dahin segelten, ohne jedoch je eine Hubalaena zu Gesicht zu bekommen. Auch die Mitglieder der Discoveryexpedition fanden keine Eubalaenen. Wilson gibt zwar zu, dass Ross sich bezüglich dieser Wale ge- täuscht, und Physalis australis, die dort häuffg ist, mit Kubalaena australis verwechselt haben könnte, hält es aber für leicht möglich, dass zu Ross’s Zeiten wirklich die echte Eubalaena in der Ross- see vorgekommen sei, seither aber durch die ruchlose Verfolgung von seiten der Walfänger in den nördlich angrenzenden Meeres- teilen in jener Gegend völlig ausgerottet worden sei. [75]

G. Haberlandt, Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter. Leipzig 1905.

Seit den Untersuchungen von Frank und den darauffolgenden

von Wiesner wissen wir, dass eine besondere Form des Helio-

a

Haberlandt, Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter. 581

tropismus, der Transversal-, Plagio- oder Diaheliotropismus, dorsi- ventrale Laubblattspreiten veranlasst, sich in eine günstigste Lage zum einfallenden diffusen Licht, die „fixe Lichtlage“ Wiesner's, einzustellen. Dabei ist die Spreite senkrecht zur Richtung des stärksten diffusen Lichtes des zur Verfügung stehenden Lichtareals gestellt, oder mit anderen Worten, senkrecht zur Resultierenden der das diffuse Licht zusammensetzenden Strahlen; nur in diesem Falle ist die größtmögliche Ausnützung der Lichtstrahlen ver- wirklicht.

Eine diesem Ziele zustrebende Orientierungsbewegung ist aber nur dann denkbar, wenn eine Perzeption nicht nur des Licht- reizes überhaupt, sondern insbesondere der Lichtrichtung ge- geben ist. Hierin unterscheiden sich die Blätter von den positiv heliotropischen Stengelorganen und Blattstielen, die bekanntlich auf einseitige Belichtung mit vermindertem Wachstum der be- lichteten Seite reagieren. Ein Stengel oder Blattstiel „empfindet“ es, wenn er von einer Seite stärker beleuchtet wird als von der anderen. Für das dorsiventrale Blatt kommt es jedoch eben nicht nur auf Helligkeitsunterschiede, sondern auf die Einfallsrichtung des Lichtes an; das Blatt „will“ nicht gleichmäßig beleuchtet sein, sondern mit der einen (oberen) Seite eine größtmögliche Lichtmenge auffangen.

Die nötigen Orientierungsbewegungen werden bei stiellosen Blättern vom Basalteil der Lamina bewerkstelligt, bei gestielten ıst der Blattstiel das Bewegungsorgan. In Fällen höherer Diffe- renzierung hat er an seinem oberen oder unteren Ende ein Gelenk- polster entwickelt, das dem Blatte zeitlebens die Fähigkeit zu tropistischen Bewegungen sichert; wo solche Gelenke fehlen, geht das Bewegungsvermögen gewöhnlich mit der Wachstumsfähigkeit verloren, doch sind auch häufig die Stiele völlig ausgewachsener Blätter noch bewegungsfähig.

Ist somit der Stiel derjenige Teil, der die Bewegung ausführt, so braucht er darum noch nicht das Perzeptionsorgan zu sein: es kann entweder nur der Stiel, oder nur die Blattfläche, oder endlich beide zur Perzeption der Lichtrichtung fähig sem. Tatsächlich sind nur die letzteren beiden Möglichkeiten in der Natur verwirklicht; damit erklärt es sich aber auch, dass frühere Be- obachter, die nur mit einer oder mit wenigen Arten gearbeitet haben, zu völlig entgegengesetzten Anschauungen über die berührte Frage kommen konnten. Ein schönes Beispiel für das Zusammen- wirken beider Faktoren bieten Tropaeolum maius und Lobbianum: „Der positiv heliotropische Blattstiel bewirkt gewisser- maßen die grobe Einstellung in die Lichtlage, die Lamina reguliert die feinere Einstellung.“ Dieses Zusammenwirken von Blattstiel und Spreite, wie es bei den meisten Schling- und

582 Haberlandt, Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter.

Kletterpflanzen, und jwahrscheinlich auch sonst sehr häufig vor- kommt, ist in hohem Grade biologisch vorteilhaft. Bei starken Stürmen oder beim Abbrechen einzelner Stützäste geraten die Blätter häufig in eine solche Lage, dass die Unterseiten beleuchtet, die Oberseiten beschattet sınd. Da aber die Blattspreiten nur dann einen dirigierenden Einfluss auf die Blattstiele ausüben können, wenn ihre Oberseiten beleuchtet sind, so würden solche Blätter niemals wieder in die günstige Lichtlage zurückgelangen können, wenn nicht die Blattstiele ihre eigene Lichtempfindlichkeit besäßen und durch ihre positiv-heliotropischen Krümmungen zunächt die grobe Einstellung in die fixe Lichtlage vermitteln würden. Bei der Rosskastanie wird der die Lamina treffende Lichtreiz auf die Spreitengelenke, nicht mehr bis zum Basalgelenk des verdunkelten Blattstiels fortgeleitet. Gänzlich unempfindlich sind die Blattstiele von Degonia discolor und Monstera deliciosa; hier werden sie nur durch die Spreite dirigiert. Eigenartig verwickelt liegen die Verhältnisse an den Primärblättern von Phaseolus multiflorus: unter normalen Verhältnissen ist der Blattstiel bezw. sein Gelenkpolster das die Richtung des einfallenden Lichtes perzipierende Organ und vermag ganz allein die Lamina ın die fixe Lichtlage zu bringen; doch gelang es unter besonderen Versuchsbedingungen, auch einen dirigierenden Einfluss der Lamina auf das angrenzende Gelenk nachzuweisen.

Wie perzipiert aber die Blattspreite die Lichtrichtung? Haber- landt ging, entgegen Sachs u. A., von der Ansıcht aus, dass die Lichtrichtung nur indirekt, durch Schaffung einer Lichtdifferenz, zur Geltung kommt. Ein allgememer Helligkeitsunterschied ın be- zug auf die Lichtrichtung kann von der Blattfläche direkt nicht wahrgenommen werden; die Empfindung, dass dieselbe, diffus be- leuchtet, schief zur Richtung der Resultierenden aller Lichtstrahlen gestellt sei, kann ihr nur zuteil werden durch ein bipolar gebautes Organ, in welchem durch Helligkeitsunterschiede besonderer Art eine Perzeption des Lichtreizes in bezug auf die Richtung ermög- licht wird, ähnlich, wie es ın minder vollkommenen tierischen Augen geschieht. Im Laufe seiner Untersuchungen fand Haber- landt diese Anschauung auf Schritt und Tritt bestätigt.

Das Organ der Perzeption ist die obere Epidermis bezw. die einzelne Zelle derselben. Das ergibt sich schon aus theoretischen Erwägungen über die Durchleuchtungsverhältnisse im Blatt: unterhalb der Epidermis liegt das dichte, sehr chloro- phylihaltige Palisadenparenchym, in welchem die heliotropisch wirksamsten Strahlen von stärkerer Brechbarkeit bedeutend abge- schwächt werden; auch muss in den tieferen Schichten die Zer- streuung des Lichtes eine Perzeption der Richtung sehr erschweren. Experimentell wurde es bewiesen dadurch, dass von unten be-

Haberlandt, Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter. 5853

leuchtete: Blattspreiten, sofern eine Reaktion des Stieles ausge- schlossen war, keinerlei Orientierungsbewegung mehr zeigten, sowie (vgl. unten) durch geeignete Veranstaltungen zur Ausschaltung der Richtungsperzeption durch die Epidermis. Diese ist durch ihre Farblosigkeit und Durchsichtigkeit als Perzeptionsorgan ganz be- sonders geeignet; der gelegentliche Gehalt an Anthocyan wirkt nicht störend, da dieses die stärker brechbaren Strahlen nur sehr wenig absorbiert. Als den eigentlichen Ort der Reizwahrnehmung überhaupt sieht H. mit anderen Pflanzenphysiologen die äußere Plasmahaut als Sitz der Reizempfindung an; in unserem Fall dürfte wesentlich die Plasmahaut der Innenwand der Epidermis- zellen oder die der angrenzenden Mesophylizellen in Frage kommen.

Die primitivste Form einer Vorrichtung zur Erzielung einer Unterschiedsempfindlichkeit sieht Haberlandt darin, dass (bei flacher Deckwand) die Bodenwand der Hautzellen nicht eben ist, sondern bogig oder in Form einer abgestumpften Pyramide gegen die nächste Zellenlage vorgewölbt ist. In der fixen Lichtlage wird dann nur das Mittelfeld dieser Zellwand vom stärksten Licht senk- recht getroffen, die Randzone hat schrägen Lichteinfall. Schief- stellung des Blattes bringt eine Seite dieser Randzone in helleres Licht als das Mittelfeld, sie stört das „heliotropische Gleich- gewicht“, damit ist die Möglichkeit, die Lichtrichtung zu perzi- pieren, gegeben.

"Verbreiteter als die oberseits flache ist die mehr oder weniger papillöse Epidermis. Schon in der Papille wäre ein Anlass zur Unterschiedswahrnehmung gegeben, in ganz ähnlicher Weise, wie soeben von der Bodenwand dargelegt wurde. Durch die flachere oder steilere Vorwölbung wirken aber die einzelnen Zellen als plankonvexe Sammellinsen, eine Wirkung, die durch starke Lichtbreehung im Zellsaft, etwa durch Gerbstoffgehalt, verstärkt werden kann; die Unterwand kann dabei eben oder selbst nach innen vorgewölbt sein, was für den Helligkeitsunterschied nicht gleichgültig ist. Durch diese Sammellinsen findet eine Licht- konzentration statt, die zu weit stärkeren Helligkeitsdifferenzen zwischen Mittelfeld und Randzone führt, als im erstbeschriebenen Falle. Die Papillen mögen auch nach Stahl als „Strahlenfänge“ dienen, ihren Hauptwert sieht Haberlandt in der Linsenfunktion. Zuweilen (so bei Tropaeolum) ist nicht die ganze Oberwand, son- dern nur deren Mitte vorgewölbt, bei ebener Randzone. Die Linsen erzeugen nicht immer einen scharfen Lichtpunkt, aber doch ein deutlich begrenztes helles Mittelfeld, eine Tatsache, die der Verfasser in einer Reihe höchst interessanter Mikrophotogramme vorführt; in einem Falle (Anthurium Waroequeanum) ist sogar in den kleinen hellen Kreisen ein deutlich erkennbares Bild eines vor das als

584 Haberlandt, Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter.

Lichtquelle dienende Fenster gestellten Gegenstandes mitphoto- graphiert. Der Focus fällt übrigens durchaus nicht immer mit der Basalwand zusammen.

Dass die Linsenfunktion nun aber auch wirklich die Per- zeption der Lichtrichtung bedingt und nicht bloß nebenher vorhanden ist, das wurde durch eine Reihe von Versuchen (mit zum Teil recht schwieriger Methodik, da Perzeption durch den Blattstiel ausgeschaltet, auch der Widerstand mancher Blattober- flächen gegen Benetzung überwunden werden musste) erwiesen: untergetauchte Blätter waren nicht mehr imstande, in die fixe Lichtlage einzurücken, denn nun waren die Sammellinsen wirkungslos. Dauernde Benetzung ist bekanntlichermaßen für Blätter nıcht zu- träglich; hier ein neuer Grund dafür: weil die Linsenwirkung, und damit die Perzeption und die Erreichung der fixen Lichtlage ausgeschlossen ist.

Anhaltende Benetzung ihrer Oberfläche müsste also für die Blätter höchst ungünstig sein. Wie dieser Schaden vermieden werden kann, das lehren besonders schön die (meist an feuchten Standorten der Tropen heimischen) Pflanzen mit Sammetblättern, d.h. mit sehr stark gewölbten kegelförmigen Papillen. Wenn man auf solche Blätter eine dünne Wasserschicht aufträgt, so ragen die abgerundeten Kuppen der Zellen aus dem Wasser gleich Inseln hervor und fungieren nach wie vor als Sammellinsen; auch bei dauernder Benetzung sind solche Blätter imstande, die Licht- richtung zu perzipieren.

(sanz besonders auffallend sind diejenigen Bildungen der Außen- wand, die ihrerseits eine Sammellinse darstellen: so besitzt Colovasia antiqguorum starke konkav-konvexe Deckwände, Vinca mator, Lonicera fragrantissima eine zentrale, bikonvexe Linse. Zu- weilen übernehmen metamorphosierte, verkieselte Haare die Linsen- funktion, so bei der Schattenform von Campanula persicifolia (die Pflanzen hellerer Standorte sınd behaart; die „Rückbildung“ der Haare ist schon vor Jahren von Heinricher beschrieben, aber nicht richtig erkannt worden) und bei der Verbenacee Petraea volubalıs.

Ein Beispiel für Klinotropismus ıst Anthurium Waroequeanum (wohl auch noch andere Arten der Gattung), dessen von hohen Stielen herabhängende Blätter gegen dıe sonst normale fixe Licht- lage einen Winkel von 10—20° bilden; dementsprechend stehen die stark gewölbten Papillen der Epidermis nicht senkrecht, sondern etwas geneigt zur Blattebene. Über die Bilderzeugung gerade bei dieser Pflanze vgl. oben.

Viele Blätter besitzen Schleimzellen ın ihrer Oberhaut; es werden einige Beispiele erläutert, bei denen die Schleimzellen eben nicht oder nicht wegen des Schleimgehaltes perzeptionsfähig sind;

Haberlandt, Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter. 585

dagegen ist bei Urvillea ferruginea die Mehrzahl der Hautzellen mit en Schleimpolstern versehen, die durch starke Licht- brech ung wiederum als Linsen wirken.

In jungen Blattspreiten sind oft die Papillen schon ebenso ausgebildet wie im erwachsenen Blatt; bei Tropaeolum sind die Epidermiszellen in der Jugend viel stärker vorgewölbt, erst später bildet sich die mittelständige Papille (vgl. oben) aus, die dann übrigens nur einem Teil der Zellen eigen ist.

Aus dem Kapitel: Die Lichtperzeption bei einigen Kryptogamen —— sei hier nur auf die merkwürdigen Verhältnisse von Selaginella Kraussiana u. a. aufmerksam gemacht: Im Grunde der papillösen Epidermiszellen liegt ein muldenförmiger Chloroplast, der von einer ziemlich starken, lichtbrechenden, gut begrenzten Plasmahaut aus- gekleidet wird, welche das eigentlich perzipierende Organ sein könnte. |

Als höchster Grad der Differenzierung sind die lokalen Licht- sinnesorgane einiger Pflanzen anzusehen, die in verschiedenster Weise zustande kommen können, und welche Verfasser, in Analogie mit den „Richtungsaugen“ mancher niederer Tiere, als „Ocellen* bezeichnet.

Den Übergang dazu bildet das erwähnte Tropaeolum, bei dem nur ein Teil der Oberhautzellen die Papille besitzt. Acer Pserudo- platanus hat eine Epidermis mit starken Kutikularleisten, welche durch Lichtzerstreuung die Perzeption der Richtung erschweren; dazwischen finden sich Gruppen von 1—20 Zellen mit glatter Kutikula. Diese Zellen fallen zwar ım Querschnitt nicht besonders auf, der Linsenversuch zeigte aber so deutlich die hellen Mittel- felder, dass an der Eignung als Lichtsinnesorgan kaum zu zweifeln ist. Ähnlich ist es bei Acer platanoides, wo Zellen oder kleine Zell- gruppen über den Knotenpunkten des Adernetzes der Kutikular- leisten ermangeln, aber deutlich papillös sind. Andere Arten der Gattungen besitzen eine gleichmäßig schwach papillöse Epidermis mit zarten Kutikularleisten; ım gleichen Genus also verschiedene Typen der Perzeptionsorgane.

Sehr auffallend sind die Ocellen von Dioscorea quingqueloba: größere, meist einzelne, stark vorgewölbte Zellen, zu oberst in der Papille eine Membranverdickung, zum Teil ın Porm einer bikon- vexen Linse. Das schönste seiner Beispiele fand Haberlandt ın Fittonia Verschaffeltii. In Oberansicht zeigt die Epidermis größere kreisrunde Zellen, deren Zwischenräume von kleineren eckigen Zellen ausgefüllt sind. Die ersteren sind stark papıllös, die Spitze der ee wird von einer besonderen Zelle (oder von zwei über- einanderstehenden) von Linsenform und mit stark lichtbrechendem Inhalt (Gerbstoff) gebildet. Auch hier liegen wohl, wie bei Cam- panula persicifolia (vgl. oben), umgewandelte Haargebilde vor; die

586 Haberlandt, Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter.

biologischen Verhältnisse dürften ähnliche sein, wie bei den Sammet- blättern; es scheint, als ob die Blätter dieser Pflanze dem Zustand schwacher Benetzung angepasst wären: in diesem Fall ist der Licht- punkt wesentlich schärfer als bei trockener Epidermis.

Ähnliche Organe besitzt das Blatt von Impatiens Mariannae, doch sind hier alle Übergänge von mehrzelligen, gekrümmten Haaren bis zu einfachen stark papillösen Zellen vorhanden, der Zahl nach herrschen jedoch zweizellige Ocellen, mit papillöser größerer und bıkonvexer kleinerer Zelle, vor.

Von Anführung weiterer Einzelheiten glaubt Referent absehen zu sollen; erwähnt sei noch, dass fünf Arten von Peperomia be- schrieben werden, deren jede ihre besondere Art von Lichtsinnes- organen besitzt. Hier und anderwärts wirken denn auch Gerbstoff- blasen oder Öltropfen als Sammellinsen mit, zum Teil in recht verwickelten Kombinationen. Sitz der Reizwahrnehmung ist dann wohl auch eine tieferliegende Zelle, z. B. selbst im Schwamm- parenchym.

Das Fazit seiner Untersuchungen und Betrachtungen zieht Haberlandt in folgenden Worten:

„Das euphotometrische Laubblatt vermag nicht nur dank seiner Unterschiedsempfindlichkeit die veränderte Intensitätsverteilung als solche wahrzunehmen, es vermag auch zu unterscheiden, in welcher Richtung diese Änderung der Intensitätsverteilung vor sich ge- gangen ist, ob sich das helle Mittelfeld in bezug auf die Blatt- spreite basıpetal oder akropetal, nach der rechten oder linken Seite verschoben hat. Das ist nur dann möglich, wenn die akropetale Verschiebung des Mittelfeldes eine in bezug auf den Ort andere Empfindung oder Erregung auslöst als die basipetale Verschie- bung; das gleiche gilt für den Unterschied zwischen Rechts und Links. Es scheinen also die in den verschiedenen Teilen der lichtempfindlichen Plasmahaut durch den Lichtreiz bewirkten Em- pfindungen, analog den Empfindungen in den verschiedenen Netz- hautstellen des menschlichen Auges, spezifisch verschiedene „Lokal- zeichen“ (nach Lotze) zu besitzen, welche das Blatt darüber orientieren, nach welcher Seite hin sich das Mittelfeld verschoben hat. Und durch Vermittelung dieser Lokalzeichen wırd dann ge- rade jene Blattstielkrümmung oder Drehung ausgelöst, welche die ursprüngliche Intensitätsverteilung wieder herstellt. Eine sichere Perzeption der verschiedenen Intensitätsverteilung des Lichtes auf der Oberfläche der empfindlichen Plasmahaut ıst natürlich nur dann möglich, wenn eine indirekte Reizung benachbarter Partien der Plasmahaut durch Reizleitung, genauer gesagt durch die Fortleitung der Erregung, ausgeschlossen ist.“

Historisch entstanden können wir uns die Lichtsinnesorgane denken aus Zellen, die „zufällig“, infolge höherer Turgescenz,

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Haberlandt, Die Lichtsinnesorgane der Laubblätter. 587

vorgewölbte Außen- oder Innenwände besaßen; zuweilen ıst auch die untere Epidermis papıllös, obwohl sie nicht als Perzeptions- organ funktioniert (welch letzteres vielleicht noch zu beweisen wäre!).

Beim Lesen des hochimteressanten Buches bekommt man wohl hier und da den Eindruck, als sei die Darstellung ein wenig opti- mistisch gefärbt. Auch wäre der Lehre von der Perzeption durch die Blattspreite bezw. durch deren ÖOberhaut eine weitere Ver- tiefung durch recht umfangreiche Versuchsreihen zu wünschen; be- züglıch der Methodik enthält die Arbeit manchen schätzenswerten Hinweis. Jedenfalls liegt aber hier eine im allgemeinen wohl- begründete Theorie vor. Dass die Linsenfunktion der betreffen- den Zellen objektive Tatsache ıst, das zeigen die nicht wohl zu widerlegenden photographischen Aufnahmen. Nun könnten freilich die Linsenapparate, wie Hunderte anderer Organe, da sein, ohne einen besonderen „Zweck“, eine der Pflanze nützliche Funktion zu erfüllen. Dem steht indessen entgegen, dass die beschriebene Weise tatsächlich die einfachste und natürlichste ıst, nach welcher eine Empfindung der Lichtrichtung (d. ı. der Resultierenden der das diffuse Licht zusammensetzenden Strahlen), überhaupt denkbar ist. Eine parallel- und flachwandige Zelle würde, unter Voraussetzung einer Unterschiedsempfindlichkeit!) der horizontalen und vertikalen Wände (sc. der ihnen anliegenden Plasmahäute), nur geeignet sein, wahrzunehmen, dass die Resultierende (vgl. oben) von einer auf der Blattfläche senkrechten Linie um einen gewissen Winkel ab- weiche und in welcher Ebene dieser Winkel gelegen sei; ob aber innerhalb dieser Ebene das Licht von der einen oder der anderen Seite komme, würde nur dann wahrgenommen werden können, wenn die Seitenwände undurchsichtig wären. Da sie das nicht sind, könnte eine planparallel begrenzte Zelle eben nur die Tat- sache und den Grad der Schiefstellung, nicht die Richtung der- selben perzipieren. (Vielleicht kommt dergleichen wirklich vor; darauf könnte die von H. auf S. 17 mitgeteilte Beobachtung hin- deuten, wonach Blätter des wilden Weines (Ampelopsis qwinquefolia) gegebenen Falles zunächst nicht die Aufwärtsbewegung in die fixe Lichtlage ausführen, sondern sich vielmehr noch weiter zurück- schlagen, so dass sie in eine noch ungünstigere Lichtlage kommen, und erst nach einigen Tagen die vorteilhafteste Stellung erreichen.) Die Linsenfunktion der Epidermiszellen, verbunden mit entsprechender Reizempfindlichkeit, ist jedenfalls ein höchst ein- facher Weg, das Blatt völlig über die Lichtrichtung zu orientieren. Dass gerade Schattenpflanzen, die auf beste Ausnützung einer ge-

1) Analog der Perzeption der Schwerkraftwirkung nach der Statolithentheorie von Haberlandt und Nemec.

588 Weininger, Geschlecht und Charakter.

ringen Lichtmenge angewiesen sınd, die Linseneinrichtung am schönsten zeigen, ıst allein schon eine wesentliche Stütze der neuen Theorie. Hugo Fischer. [76]

Dr. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller 1903 (GES RR TIER):

Derselbe: Über die letzten Dinge.

Mit einem biographischen Vorwort von Moritz Rappaport. Wien und Leipzig, Wil- helm Braumüller 1904 (XXV, 183 8.).

Emil Lucka: Otto Weininger, sein Werk und seine

Persönlichkeit. Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller 1905 (158 S8.).

Wenn die Diskussion über Weininger’s sensationelles Werk: (seschlecht und Charakter bereits zu festen Gesichtspunkten der Beurteilung geführt hätte, so könnte das Referat über das nach- gelassene Werk Weininger’s und das, was seine Freunde Lucka und Rappaport zu seinem Andenken zu sagen wissen, ziemlich kurz ausfallen. Es wäre darauf hinzuweisen, dass mit Ausnahme einer sehr feinen Analyse von Ibsen’s Peer Gynt sich in dem Band über die letzten Dinge wenig Druckreifes findet und vieles, von dem man mit Sicherheit sagen kann, dass es der Autor vor ‚der Publikation noch selbst entfernt haben würde. Ganz auffallend aber bei einem so jungen Mann, wie Weininger es war, ist der Umstand, dass eigentlich kein einziger Gedanke in dem neuen Buche angeschlagen wird, der dem Leser des Hauptwerkes nicht schon bekannt wäre; vielleicht lässt sich dies aber so erklären, dass Weininger noch so durchaus unter dem Eindruck der von ihm geleisteten erheblichen Arbeit stand, dass sein Geist genötigt war, noch für eine Weile an immer denselben Gedanken sıch zu betätigen. Auf diese Gedanken aber sind wir um so mehr genötigt, einzugehen, als auch das Vorwort von Rappaport und das Werk- chen von Lucka sich nicht mit dem Leben, sondern mit der Lehre Weininger’s beschäftigen und diese gegen Angriffe und Missver- ständnisse zu verteidigen suchen.

Die Art und Weise, wie das Buch Weininger’s aufgenommen worden ist, ja sogar der große „Erfolg“, den es gehabt hat, sind keine erfreulichen Zeichen für das geistige Niveau unseres Lese- publikums. Die wissenschaftlichen Kreise, die allen Grund gehabt hätten, sich mit dem Buch zu beschäftigen, sind mit einem sub- jektiv berechtigten Ekel darüber zur Tagesordnung übergegangen, und was ın Zeitungen und Journalen darüber geschrieben wurde, zeigt leider meist mit voller Klarheit, was das größere Publikum

Weininger, Geschlecht und Charakter. 589

in diesem Buche anzog. Es war ein erneutes Auftauchen der alten Seeschlange der Frauenbewegung in einer äußerst fragwürdigen Gestalt, es war der Selbstmord des jungen Autors, den man natür- lich auf der einen Seite sofort als „tragisch“ bezeichnete, auf der andern als abscheuliches Exempel verwertete und darüber verlor man dann aus den Augen, dass neben einer Philosophie des Koitus, die ja allerdings auch in dem Buch zu finden ist, eine ganze Reihe ernster wissenschaftlicher Fragen darin behandelt werden, die eine andere Art der Aufmerksamkeit durchaus verdient hätten.

Es ıst vor allem. das Problem der Methode der Psychologie, welches Weininger immer aufs neue beschäftigt, und das an den verschiedensten Stellen seines Buches das Leitmotiv zu seinen Ausführungen abgibt. Früher ein Schüler von Mach und Ave- narıus, wie wir aus Lucka erfahren, hat er eingesehen, was diese Psychologie nicht leisten kann, und glaubt nun im jugend- lichen Feuereifer, dass sie überhaupt Nichts oder nur Wertloses zu leisten vermag. Was sie nicht leisten kann und auch als Natur- wissenschaft nicht leisten will, ist ja klar genug. Sie kann zu keinen Wertunterschieden kommen, weil sie, wie alle Naturwissen- schaft, eine freie Betrachtung ihres Objekts zur Voraussetzung hat, und sie kann keine selbständige unabhängige Kraftquelle im Seelen- leben anerkennen, weil sie wie alle Naturwissenschaft keine Kraft- quellen, sondern nur Kraftträger kennt und nicht ruhen darf, bis jeder Substanzbegriff sich in Relationsbegriffe aufgelöst hat.

So ausreichend nun dieser Standpunkt für die Betrachtung vieler körperlicher Objekte sein mag, so schwierig ist seine voll- ständige Durchführung auf dem psychischen Gebiet. Weininger weiß diese Schwierigkeiten mit großer Treffsicherheit und hin- reißender Darstellungsgabe herauszuspüren. Aber auch hier be- gegnen wir sofort einem methodologischen Fehler, der sich sodann durch sein gesamtes Buch hinzieht. Dass es zwei Arten der Psycho- logie geben muss, ist ihm deutlich, aber erstens kann er sich nicht enthalten, sie in einen Wertunterschied zu bringen, und zwischen einer höheren im Sinne von einer wertvolleren und einer wert- loseren Psychologie zu unterscheiden, und zweitens versucht er es, sie auch dem Objekte nach zu trennen. Auf dem Gebiete der Sinnesempfindungen ist es ihm unmöglich, die Leistungen der experimentellen Psychologie für nichts zu achten, da soll also diese Art der Psychologie ihren Wirkungskreis haben. Aber sie soll sich nicht unterstehen, über solche Dinge wie Wille, Charakter, Intellekt, Person und Ich mitzureden. Dass ein solches Verbot kindisch ist, liegt auf der Hand. Es war vielleicht möglich, auf dem Boden einer frühern Metaphysik zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu unterscheiden, denen verschiedene Objekte zugewiesen schienen, aber durch das Gebiet des Psychi-

590 Weininger, Geschlecht und Charakter.

schen eine solche Grenzlinie zu ziehen, ıst von vornherein aus- sichtslos.

Wohl aber hat Weininger ganz mit Recht die Notwendigkeit zweier Behandlungsweisen des psychologischen Gebiets heraus- gefühlt, einer wertenden und einer wertfreien. Gemeinsam ist beiden eben nur ihr Objekt, aber die Kategorien, mit denen sie arbeiten, müssen notwendigerweise in beiden so verschieden sein, dass es fraglich erscheinen kann, ob ein einziger Begriff ın beiden (rebieten sich verwenden lässt. Das ist nicht die Lehre von den zwei Wahrheiten, sondern das ist die Konstatierung verschiedener Interessen, die wir an demselben Objekt haben. Es ist nicht so, dass in dem einen Gebiete wahr sein kann, was in dem anderen falsch ist, sondern es ıst die Einsicht, dass ein Begriff, der in dem einen Gedankenzusammenhang berechtigt ist, in einem anderen zwecklos und unsinnig sein müsste. So ıst denn auch der Wert- begriff, der für die naturwissenschaftliche Psychologie gar nicht existiert, für die Psychologie, die Weininger fälschlich als die einzige ansieht, durchaus zentral, denn hier handelt es sich gerade darum, die Wertbegriffe im Erlebten scharf herauszuarbeiten und zum Bewusstsein zu bringen. Was ım naturwissenschaftlichen Er- kenntnisgebiet Art- und Gattungsbegriffe waren, wird hier zur mehr oder minder vollkommenen Annäherung an Idealtypen, welche alle zugleich einen Wert repräsentieren, und so muss denn der auf diesem Wege vorgehende Psychologe zur Bildung derartiger Ideal- typen schreiten. Nicht also darin liegt der Fehler Weininger’s, dass er einen idealen Typus des Menschen entwarf, der auf die Realisierung überzeitlicher Werte eingestellt, sich dem Genie an- nähert und als der absolut wertvolle Mensch zu betrachten ist. Dies war sein gutes Recht und ebenso war es sein gutes Recht, andere Typen zu entwerfen, welche eine Wertabstufung zu diesem obersten Typus darstellen und das Zurückbleiben hinter dem Ideal zeigen, wie „den Mann der Tat“, den „Verbrecher“ u.s. w. Auch die einzelnen charakterologischen Bemerkungen, namentlich über die Funktion des Gedächtnisses beim genialen Menschen, gewähren mindestens wertvolles Material, wenn sich auch über die Beziehung des Gedächtnisses zum Bewusstsein der logischen und ethischen Normen bereits gewagte Sätze mit einschleichen. Aber dass nun alle diese Typen dem Mann reserviert bleiben, dass das Weib als diesseits von Gut und Böse, als Wesen ohne Tätigkeit, ohne Seele aufgefasst und sie folgerichtig der naturwissenschaftlichen Psycho- logie als Gegenstand überwiesen wird, ist ein schlimmer methodo- logischer Fehler, ein Hinüberschreiten in ein anderes Gebiet, vor welchem gerade Weininger sich hätte hüten müssen. Denn hier hat lediglich die Empirie das Wort; sie allein könnte bestimmen, ob unter den genialen Individuen oder den Verbrechern sich Frauen

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Weininger, Geschlecht und Charakter. 591

oder Männer befinden, und diese Aufgabe kann offenbar nicht von einem auf Literatur und zufällige Bekanntschaften angewiesenen 21jährigen jungen Menschen gelöst werden.

Schon dadurch kommt Weininger in eine schiefe Stellung seiner eigenen Theorie gegenüber, dass er jeden wirklichen Menschen als aus männlich und weiblich gemischt ansehen muss. Das ist vollständig richtig, wenn wir das Verhältnis irgendeines wirklichen Objektes zu einem Idealtypus betrachten. Aber das würde eben auch die Möglichkeit zerstören, um alle empirischen Weiber dem Idealtypus zuzuordnen. Daher hilft sich Weininger an einer an- deren Stelle damit, dass er zwar bei Männern eine starke psychische Hinneigung zum Idealtypus Weib annimmt, bei den Weibern aber es leugnet, dass die männlichen Bestandteile in einzelnen derselben ihre Zugehörigkeit zum Idealtypus Weib tangieren könne. In Wahr- heit sind die Kategorien Mann und Weib eben naturwissenschaft- liche Kategorien und haben mit einer wertenden Psychologie ge- rade im Sinne Weininger’s nichts zu tun. Dies ergibt sich auch ganz klar aus einer Umkehrung der von Weininger gewählten Fragestellung. Es ist ziemlich leicht, die einzelnen höher ent- wickelten Frauenexemplare auf das Niveau des von ihm entworfenen Idealtypus Weib herabzudrücken, aber wie viele empirische Männer entsprechen nicht viel mehr dem von ihm verabscheuten unteren Niveau Weib als dem oberen Mann, das nach der Theorie für sie maßgebend sein müsste. Es ist eben nach beiden Seiten hin der Versuch einer solchen Unterordnung in Art- und Gattungsbegriffe von vornherein verfehlt.

Die emzigen Ansatzpunkte zum Neuen, die sich in dem Buch über die letzten Dinge zeigen, liegen nun durchaus in der Rich- tung einer Verlängerung der von Weininger in seiner Psycho- logie gezogenen Grundlinien. Denn ebenso wie neben einer natur- wissenschaftlichen Psychologie eine andere wertende Betrachtung der Tatsachen des Seelenlebens treten konnte, ebenso kann auch jeder Gegenstand, auch der körperliche, nicht nur daraufhin angesehen werden, was er ist, sondern auch was er bedeutet; neben die Natur- wissenschaft tritt die Naturphilosophie. Es ist fast selbstverständlich, dass auch hier W eininger die erkenntnistheoretische Orientierung zum großen Teil fehlt. Er glaubt, durch seine naturphilosophischen Sätze die Naturwissenschaft überholt und widerlegt zu haben; davon kann hier so wenig wie auf dem Gebiet der Psychologie die Rede sein. Wem es gleichgültig ıst, was die Dinge sind, wird nie Naturwissenschaft, wem es gleichgültig ıst, was sie bedeuten, nie Naturphilosophie treiben. Beides aber muss, gemäß diesem ganz verschiedenen Interesse, ganz getrennt und für sich behandelt werden. Daher haben solche Sätze wie der: „der Hund ıst der Verbrecher unter den Tieren“ naturwissenschaftlich gar keine Be-

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592 Weininger, Geschlecht und Charakter. %

deutung, sie sind für die hier maßgebenden Zusammenhänge barer Unsinn; naturphilosophisch liegt die Sache ganz anders. Ich halte auch hier den Satz nicht für richtig, aber er ist weit davon ent- fernt, sinnlos zu sein. Trügt nicht alles, so ist eine neue Zeit der Naturphilosophie im Anbruch, möge sie dann den folgenschweren Fehler der Naturphilosophie des deutschen Idealismus vermeiden, welche meinte, sich an die Stelle der Naturwissenschaft setzen zu können und es dann erleben musste, dass in gleicher Einseitigkeit ihr von der Naturwissenschaft die Existenzberechtigung abge- sprochen wurde.

Es ist leicht verständlich, weshalb in der Psychologie die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise erst in unserer Zeit Ein- gang gefunden hat, und weshalb die Naturphilosophie allemal im Anschluss an eine mächtige wertende Psychologie sich gebildet hat. Das unmittelbare eigene Erleben ist stets ein Wertendes; erst auf Umwegen vermöge einer Reihe schwieriger Abstraktionen können wir hier zu einer wertfreien Betrachtung hindurchdringen; bei den Objekten dagegen interessiert uns vor allen Dingen ihr Sein, ihre Naturgesetzlichkeit. Erst durch einen schwierigen Prozess vermögen wir zu der Einsicht durchzudringen, dass die- selben Kräfte, die des Menschen Brust so freundlich und so fürchterlich bewegen, auch im Tier, in der Pflanze, im Steine tätig sind, dass diese Dinge nicht nur sind, dass sie auch etwas be deuten.

Bei dem Marburger Religionsgespräch schrieb der Mystiker Luther trotzig sein „dies ist“ auf den Tisch, und dabei wollte er beharren. Der Rationalist Zwingli wollte an Stelle des „ist“ ein „bedeutet“ setzen. Das ist richtig für den Unterschied religiöser Spekulation, denn hier ıst alle Bedeutsamkeit an das Sein geheftet. Für den Bereich der wirklichen Dinge kehrt sich die Sache um; das Interesse der Rationalisten liegt bei dem Sein, das des Mystikers bei der Bedeutung. Niemals kann das eine Interesse durch das andere ersetzt werden; aber aus Kant können wir lernen, wie ent- gegengesetzte Interessen nebeneinander bestehen können. Und so können wir die Einseitigkeiten W eininger’s korrigieren, ohne doch die Freude an seinem reichen und vielgestaltigen Geiste zu ver- lieren und die Trauer darüber, dass er so früh der Menschheit entrissen wurde, der er gewiss manches beherzigenswerte Wort hätte sagen können. * [77]

Paul Hensel (Erlangen).

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

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> Biologisches Gentralblat.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

kerausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

XXV.Bd. 15. September 1905.

Ne 18.

Inhalt: Mereschkowsky, Über Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pilanzenreiche. Boecker, , Uber das Vorkommen von Limnocodium im Münchner botanischen Garten.

Huber Uber die Koloniegründung bei Atta sexrdens. Fruhwirtb, Die Züchtung der land- wirtschaftlichen Kulturpflanzen. Wasmann, Wissenschaftliche Beweisführung oder ‚In-

toleranz ?

Über Natur und Ursprung der Chromatophoren im

Pfilanzenreiche. Von €. Mereschkowsky, Privatdozent an der Kais. Universität in Kasan. I. Einleitung.

Der jetzt allgemein herrschenden Ansicht nach sind die Chro- matophoren der Pflanzen als Organe aufzufassen, d.h. als Gebilde, die sich in irgendeiner uns unbekannten Weise allmählich aus dem farblosen Plasma des Zelleibes differenziert haben. ‘So sagt Wilson (1902): „In the plants the plastids are almost certainly to be regarded as differentiations of the protoplasmie substance.“ Und dieselbe Behauptung findet man in fast jedem Lehrbuche der Botanik oft in noch viel entschiedener Form ausgedrückt.

Dass diese Anschauung keinenfalls eine auf direkte Beobach- tungen begründete Tatsache ist, sondern nur als eine Theorie an- gesehen werden kann, leuchtet von selbst ein. Denn es ist bis jetzt wohl noch keinem geglückt, eine solche Differenzierung des farblosen Plasmas in grüne Chromatophoren oder überhaupt ın Plastiden zu beobachten.

Fragt man sich, wie dennoch diese allgemeine Überzeugung entstehen konnte, so finden wir eine ganz natürliche Erklä-

xXXV. 28

594 Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche.

rung in der schon längst bekannten Tatsache, dass gewisse farb- lose Teile der Pflanzen, die ursprünglich kein Chlorophyll enthalten, später, wenn ans Licht gebracht, leicht ergrünen; so ist es z. B. hinsichtlich der farblosen Gewebe am Scheitel der Sprosse (Vegetationspunkt), ferner der Gewebe im Embryo oder in unter- irdischen Rhizomen etc. Alle diese Tatsachen lassen keinen Zweifel über das jedesmalige Neuentstehen des Chlorophylis auf- kommen.

Da aber das Chlorophyll neu entstand, so hielt man es für ganz natürlich, zugeben zu müssen, dass auch die Chlorophyliträger oder lan lomberen jedesmal von neuem entstehen.

Als dann Schimper (1885) in seinem klassischen Werke über COhromatophoren bewiesen hatte, dass, wenngleich das Chlorophyll jedesmal von neuem entsteht, die Träger desselben dic Plastiden schon von vornherein in den ungefärbten Pflanzenteilen in Form von winzigen, farblosen Leukoplasten anwesend sind, mit anderen Worten, dass Plastiden nie von neuem erscheinen, so wurde der alten Theorie jeder Boden entzogen. Die Gewohnheit jedoch, die Chlorophylikörner als Differenzierungsprodukte, ı. e. Organe der Zelle anzusehen, war so stark eingewurzelt, dass man auch nach der Entdeckung Schimper’s immer noch fortfuhr, diese Theorie, die jetzt völlig in der Luft schwebend geblieben war, als gültig anzusehen.

Fragt man nun nach Gründen, auf die sich diese Ansicht stützen soll, so begegnet man einem vollen Stillschweigen. Und das ıst kein Wunder, denn Gründe dafür gibt es nicht.

Dass die Ohromatophoren sich nicht aus farblosem Protoplasma differenzieren, sondern immer aus vorher existierenden, wenngleich auch farblosen Plastiden (Leukoplasten) entstehen, ist eine be- wiesene und allgemein anerkannte Tatsache. Die Verteidiger der Theorie, dass die Plastiden Organe sind, müssten also zu einer Hypothese Zuflucht nehmen und zugeben, dass, wenn auch heutzu- tage Plastiden nicht von neuem entstehen, es dennoch eine Zeit gegeben haben muss, wo die Zellen die Fähigkeit hatten, aus dem Protoplasma die Chromatophoren zu differenzieren, und dass dann diese sich weiter in ununterbrochener Kontinuität durch Teilung vermehrten, so dass die heutigen Chromatophoren die direkten Abkömmlinge dieser Urchromatophoren wären. In dieser Weise könnte noch die Differenzierungstheorie gerettet werden. Es müsste aber die vollständig bodenlose Theorie der heute noch erfolgenden Differenzierung der Öhromatophoren durch die Theorie der früheren Differenzierung ersetzt werden.

Solch eine Hypothese ıst aber aus zweierlei Gründen voll- ständig unzulässig. Vor allem sieht man durchaus nicht ein, warum Zellen, die früher die Fähigkeit gehabt hätten, aus ihrem Plasma

Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche. 595

Plastiden zu differenzieren), diese Fähigkeit heutzutage vollständig eingebüßt haben sollten?

Der Hauptgrund aber, warum diese Hypothese nicht ange- nommen werden kann, liegt darın, dass sie auf einem logischen Fehler beruht. Auch würden diejenigen, die in solcher Weise ihre Ansicht über die Natur der Chromatophoren stützen wollten, zu- gleich zeigen, dass ihnen eine richtige Vorstellung über die Natur der Vererbung fehlt.: Denn was behaupten die Anhänger dieser Anschauung? Sie behaupten, dass das Chromatophor ein Organ der Zelle sei.

Was ist aber unter einem Organe zu verstehen?

Ein Organ ist ein abgesonderter und zu gewissen, funktionellen Zwecken bestimmter Teil eines Organısmus, der jedesmal spontan (ontogenetisch) oder unter äußeren Einflüssen aufs neue aus ım Keimplasma verborgen liegenden Anlagen entsteht. In

diesem Sinne ist ein Auge, ein Herz, ein Blatt ein Organ; auch sind die Cilien der Infusorien, die Hoftüpfel der Tracheiden, die Stiele der festsitzenden Diatomeen Organe. Alles aber, was

nicht von dem Keimplasma seinen Ursprung nimmt, sondern kon- tinuierlich von einer Generation zur anderen direkt übergeben wird, ist kein Organ. Halten wir uns nicht streng an die oben ange- führte Definition des Begriffes Organ, so geraten wir unumgänglich in eine Verwirrung von Worten und Ideen, die uns sicher zu irre- führenden Schlüssen bringen würde.

Denken wir uns nun eine Zelle aus uralten Zeiten, die die Fähigkeit besaß, Chromatophoren aus ihrem Zellplasma zu difleren- zieren. Diese Fähigkeit konnte aber nicht auf einmal entstanden sein. Vielmehr müssen wir zugeben, dass diese Fähigkeit, resp. die Chromatophoren sich nur allmählich von Generation zu Gene- ration herausgearbeitet haben. Damit aber dieser Prozess sich ver- wirklichen konnte, musste die Differenzierungsfähigkeit des Proto- plasmas erblich geworden sein; denn nur in dieser Weise konnte jeder Schritt in der Ausbildung der Fähigkeit durch einen neuen Schritt ergänzt und vervollkommnet werden. Mit anderen Worten müssten die Chromatophoren, falls sie wirklich sich aus dem Zellen- plasma differenziert haben, erblich geworden sein.

Was heißt aber erblich werden? D. h., dass das bezügliche Organ, sei es in Form von Determinanten oder wie anders, im Keim- plasma enthalten, sozusagen materiell in demselben repräsentiert wäre. Und ist einmal irgend eine Eigenschaft oder Organ im Keim- plasma enthalten, dann erscheint das Organ in jeder neuen Gene- ration spontan als eine notwendige Folge der Keimplasmastruktur.

1) Auch fehlt jeder Grund, solch eine Fähigkeit den Urzellen überhaupt zu- zuschreiben. 38*

596 Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche.

Waren also zu irgendwelcher Zeit die Chromatophoren als diffe- renzierte Teile des Zellenplasmas erschienen, so müssen sie auch noch jetzt spontan in jeder pflanzlichen Zelle oder wenigstens im Ei und in der Spore aufs neue entstehen, sich aus dem Plasma differenzieren. Geschieht das nicht, so ist es ein sicherer Beweis dafür, dass die Chromatophoren sich nie im Plasma selbständig herausgebildet haben, dass sie kein Produkt der Differenzierung sind, mit anderen Worten: es sind keine Organe und sind es auch nie gewesen.

Sind aber die Chromatophoren keine Organe und sind sie es nie gewesen, dann bleibt nur die eine Möglichkeit übrig diese Gebilde als Organismen, als Symbionten aufzufassen. So wären wir auf rein deduktivem Wege zu diesem Schlusse gekommen. Wenden wir uns jetzt zur induktiven Methode.

Wie gesagt liegen absolut keine tatsächlichen Gründe vor, die Chromatophoren als Organe aufzufassen. Sehen wir also zu, ob es irgendwelche Gründe gibt, diese Gebilde als Symbionten zu be- trachten.

II. Gründe, warum ich die Chromatophoren als Symbionten auffasse.

Die Chromatophoren sind also keine Organe, die sich allmäh- lich aus dem Zellenplasma herausdifferenziert hätten. Es sınd fremde Körper, fremde Organısmen, die ins farblose Plasma der Zelle eingedrungen und mit derselben in symbiotisches Zusammen- leben getreten sind. Die Gründe, die diese Anschauung recht- fertigen, sind nun folgende.

1. Die Kontinuität der Chromatophoren.

Die Chromatophoren werden, wıe gesagt, niemals von neuem gebildet, sondern entstehen jedesmal durch Teilung vorher exi- stierender Plastiden, und da diese letzteren wieder von vorher existierenden entspringen u. Ss. w., so kommen wir zum logisch not- wendigen Schluss, dass das erste Ohromatophor einst in einen farb- losen Organismus eingewandert war. Mit anderen Worten: diese Kontinuität der Chromatophoren dıent als direkter Beweis dafür, dass dieselben fremde Körper oder Symbionten sind.

Man könnte nun fragen, ob denn auch diese Kontinuität ın genügender Weise bewiesen ist. Es lassen sich wohl zuweilen Stimmen hören, welche die Wahrheit dieses Satzes bezweifeln zu müssen glauben; es wird zuweilen darauf hingewiesen, dass Schim- per bloß bei einigen wenigen Phanerogamen die Existenz farbloser Plastiden (Leukoplasten) in den Eiern konstatieren konnte, und dass es einer größeren Anzahl von dergleichen Beobachtungen be- dürfte, um der Sache ganz sicher zu sein. Dieser Skeptizismus ist aber nicht gerechtfertigt. In der Tat, nehmen wir alle die ge-

Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche. 597

‚färbte Chromatophoren enthaltenden Gameten, also Eier der ver-

schiedenen grünen, braunen und roten Algen, ferner die Auxo- sporen der Diatomeen, die Zygosporen der Konjugaten, auch alle die gefärbte Chromatophoren enthaltende Isosporen und Zoosporen, besonders aber die unzähligen Fälle von Sporen der Dryophyta und Pteridophyta, die alle grün gefärbt sind, also Chromatopho»en ent- halten, in Betracht, so erhalten wir eine so enorme Anzahl von Tatsachen, die eine direkte Übertragung der Plastiden von Gene- ration zu Generation beweisen, dass ein Zweifel über ihre Kon- tinuität wohl nicht mehr bestehen kann.

Bezweifeln kann man ja schließlich alles. An der Kontinuität der Chromatophoren aber zu zweifeln, wäre ebenso wenig gerecht- fertigt, als wenn wir daran zweifeln würden, ob wirklich alle grünen Blätter die Fähigkeit besitzen, CO, zu assımilieren. .Denn sicher- lich ist nicht eine nur annähernd gleiche Zahl von grünen Pflanzen darauf hin experimentell nachgeprüft worden, wie die vielen Tausende von Fällen, wo die Kontinuität der Ohromatophoren direkt beob- achtet werden kann.

2. Die hochgradige Unabhängigkeit der Chromatophoren vom Zellkerne.

Zahlreiche Versuche haben es festgestellt, dass der Kern als Zentrum aller in der Zelle vorkommenden, konstruktiv-metabolischen Erscheinungen angesehen werden muss. Entfernt man in irgend- einer Weise den Kern aus der Zelle, so fallen alle synthetisch- morphologischen Erscheinungen aus; es werden die Schalen der Foraminiferen, die Zellmembran der Pflanzen, die Cilien der In- fusorien ete. nicht mehr gebildet, die Nahrungskörper in Amoeben werden nicht oder doch nur unvollständig verdaut!). Nur solche destruktiv-metabolischen Erscheinungen wie Bewegung, Atmung u. dergl. finden noch im kernlosen Protoplasma statt. Diese Be- obachtungen beweisen also, dass das Plasma ohne den Kern nicht imstande ist, auf synthetische Weise Stoffe zu bilden und zugleich, dass alle Organe der Zelle vom Kerne chemisch wie morphologisch abhängig sind. Diese beiden Kategorien von Erscheinungen, die chemische und morphologische, sind ja übrigens in intimster Weise verbunden; denn wie Claude Bernard es in so klarer Weise dargelegt hat, sind die morphologischen Erscheinungen nichts an- deres als der äußere Ausdruck von ihnen zugrunde liegenden, che- mischen Erscheinungen. Und so kann denn im kernlosen Plasma

1) Siehe jedoch Gruber (1904), der bei Amoeba viridis gefunden hat, dass Individuen, in welchen der Kern durch eine Pilzkrankheit zugrunde gegangen war, dennoch grüne Algen aufnahmen und dieselben anscheinlich in normaler Weise zu verdauen schienen, wie das auch schon früher von Dangeard (1594/5) beobachtet worden war.

598 Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im “Pflanzenreiche.

ohne Stoffsynthesis auch keine morphologische Synthesis zustande kommen.

Eine auffallende Ausnahme von dieser Regel bilden nun die Chromatophoren. Schnürt man durch Plasmolyse einen Teil des Plasmas einer grünen Pflanzenzelle so ab, dass er kernlos bleibt, so leben die sich darin befindenden Chromatophoren in ganz ebenso normaler Weise fort wie die im kernhaltigen Teile gebliebenen (Klebs (1887); sie wachsen, sie vermehren sich durch Teilung, sie assimilieren CO, und bilden synthetisch Stärkekörner (wohl zuerst Zucker). Mit einem Worte sie verhalten sich nicht wie vom Kerne abhängige Organe, sondern wie ganz selbständige Organismen. Selbst außerhalb des Plasmas fahren die Chromatophoren noch eine Zeit lang fort, CO, zu assimilieren, wie sich das durch die Bakterienmethode leicht nachweisen lässt. Auch entstehen gewisse Enzyme, z. B. Oxygenase, nicht im Kerne, wie so viele andere Fermente, sondern in Leukoplasten, wie das Chodat und Bach (1904) gezeigt haben. Fettbildung ist eine im Pflanzenreiche sehr häufige Erscheinung; die Chromatophoren aber bilden ganz beson- dere, von denjenigen, die sich im Cytoplasma befindenden, ganz verschiedene Fette. „Wiederum auch ein Beweis,“ bemerkt Schim- per, „dass die chemischen Vorgänge in Chromatophoren und Cyto- plasma (das vom Kerne abhängig ist, ©. M.) sehr ungleich sind“ deep):

Die Chromatophoren können also unabhängig vom Kerne wachsen, sich vermehren, Stoffe auf synthetischem Wege bilden; kurz sie benehmen sich durchaus nicht wie Organe, sondern wie selbständige Organismen und müssen deshalb auch als solche oder als Symbionten angesehen werden.

3. Die vollständige Analogie zwischen Ohromatophoren und Zoochlorellen.

Die Chromatophoren zeigen eine vollständige Analogie mit Zoochlorellen.

Betrachtet man eine Amoeba viridis Leydy, so kann zwischen dessen Zoochlorellen und den Chromatophoren irgend einer grünen Alge absolut kein prinzipieller Unterschied vorgebracht werden. In beiden Fällen sind die betreffenden Gebilde unabhängig vom Kerne, in beiden Fällen wachsen sie, teilen sie sich und benehmen sich wie selbständige Organismen. Auch werden die Zoochlorellen im Tiergewebe nie von neuem gebildet, sondern entstehen immer durch Teilung von anderen, vorher existierenden Individuen. Die "Analogie geht so weit, dass in Hydra viridis diese Gebilde schon im Eie des mütterlichen Organismus sich befinden und so durch das Ei von Generation zu Generation übergegeben werden. Wir haben also hier dieselbe Kontinuität der Zoochlorellen und Zooxan-

Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche. 599

thellen, wie wir sie hinsichtlich der Ohromatophoren gesehen haben.

Eine so volle Analogie macht es höchst wahrscheinlich, dass die Chromatophoren, ganz wie die Zoochlorellen, selbständige Orga- nismen vorstellen, die mit farblosen Zellen in symbiotisches Zu- sammenleben getreten sind.

Der einzige Unterschied zwischen beiden Gebilden liegt darın, dass die Zoochlorellen auch außerhalb der tierischen Zelle leben und sich vermehren können, während die Chromatophoren bald zugrunde gehen. Dieser Unterschied spricht aber nicht gegen die oben angeführte Analogie, wenn wir überlegen, dass die Chromato- phoren schon aus uralten Zeiten ins Plasma der ersten pflanzlichen Zellen eingedrungen sind und also Zeit hatten, während vieler Millionen von Jahren sich diesen besonderen Lebensbedingungen anzupassen, während die Zoochlorellen zu solchen Tieren wie In- fusorien, Hydra, Spongella erst verhältnismäßig unlängst in sym- biotisches Verhältnis eingetreten sind, wie das schon daraus her- vorgeht, dass von nahestehenden Arten die einen mit, die anderen ohne Zoochlorellen vorkommen. Kein Wunder also, dass die Chro- matophoren ihre Fähigkeit, selbständig zu leben, schon längst ver- loren haben.

4. Es gibt Organismen, die wir als freilebende Chromatophoren betrachten können.

Eine Theorie, wie die hier vorgeschlagene, würde viel an Wahrscheimlichkeit gewinnen, wenn es gelingen würde, die Existenz irgendwelcher den Symbionten ähnlicher, frei lebender Organis- men zu beweisen. Als solche Organısmen können nun die niedrigeren Formen der (yanophyceae angesehen werden. Denn zwischen einem Chromatophor und einer Aphanocapsa oder AMierocystis ıst der Unterschied sehr gering, wıe das aus der vorliegenden Tabelle zu ersehen ist.

" Oyanophyceae. Uhromatophoren. (Aphanocapsis, Microcystis u. dergl.) 1. Kleine, spangrüne, runde oder ovale 1.Kleine, grüne (ursprünglich wohl blau- Körper von sehr einfacher Struktur. grüne, wie bei Uyanomonas), runde oder ovale Körper von sehr einfacher Struktur.

1) Herrn Professor Famintzin, der sich viel mit dieser Frage beschäftigt hat und der, wie ich gehört habe, gleichfalls von der selbständigen Natur der Chro- matophoren überzeugt hat, scheint es wenigstens bisher nicht gelungen zu sein, die Chromatophoren außerhalb der Zelle zu kultivieren, wie er das hinsichtlich der Zoochlorellen tun konnte (1589).

000 Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche.

Uyanophyceae. Chromatophoren.

2. Das grüne Pigment durchtränkt gleich- 2. Das grüne Pigment durchtränkt gleich- mäßig das Plasma oder ist darin in Ge- mäßig das Stroma oder ist darin in stalt sehr kleiner Tröpfchen verteilt!). Gestalt sehr kleiner Tröpfchen verteilt.

3. Keine echten Kerne enthaltend, sondern 3.Keine echten Kerne enthaltend, son- bloß gewisse Gebilde (Nukleinkörner), dern bloß gewisse Gebilde (Pyrenoide), die als Vorläufer eines Kerns ange- die als umgewandelte, primitive Kerne sehen werden können ?). angesehen werden können.

4. Ernährung: Assimilation von CO, am 4. Ernährung: Assimilation von CO, am Lichte. Lichte.

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5. Fortpflanzung: durch Teilung. . Fortpflanzung: durch Teilung.

Wie man aus dieser Tabelle ersehen kann, ist die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Gebilden ganz auffallend groß. Die wenigen Unterschiede lassen sich in genügender Weise erklären durch die verschiedenen Bedingungen, unter welchen diese Gebilde seit ur- alter Zeit sich befinden: die Öyanophyceen leben frei im Wasser, die Chromatophoren sind im Zellplasma eingebettet.

Eine äußere Membran war unter en speziellen Lebensbe- dingungen den Symbionten nicht mehr so nötig, wie sie es für frei lebende Organismen ist, und könnte deswegen verloren ge- gangen sein. Die Nukleinkörner, die sich wohl in solchen Cyano- phyceen wie Microceystis, Aphanocapsa und dergleichen befinden und rudimentäre Kernanlagen vorstellen, konnten sich wohl mit der Zeit in Pyrenoide umgewandelt haben, die schließlich bei den höheren Pflanzen sich auch als nutzlos erwiesen haben und des- wegen verschwunden sind. Die Natur des Pigmentes hat sich auch etwas verändert und ist unter dem Einflusse des Protoplasmas rein grün geworden®). Wie ‘bekannt, ändert sich ja die Farbe des Pig- ments bei den Cyanophyceen sehr leicht (Gerassimoff 1902).

Die große Ähnlichkeit im äußeren Habitus, im Bau, sowie in der Fortpflanzungsart beider Gebilde macht es also höchstwahr-

1) Von Chromatophoren bei den Oyanophyceen kann meiner Meinung nach keine Rede sein; vielmehr sind sie s=lbst Chromatophoren. Denn das äußere Plasma, welches dem Oytoplasma der Pflanzenzellen gleich gesetzt werden kann, ist gleich- mäßig gefärbt, und wenn auch eine dünne, hyaline Außenschicht bisweilen zu unter- scheiden ist, so ist dieselbe wohl eher mit der Zellmembran der Bakterien zu homo- logisieren. Bir kleinen grünen Tröpfchen mit Kohl (1905) als Chromatophoren aufzufassen, würde uns dazu führen, auch von Chromatophoren in Chromatophoren zu reden! Denn A. Meyer (1895) hat ja ganz deutlich gezeigt, dass auch bei höheren Pflanzen solche grüne Tröpfchen im farblosen Stroma eingebettet sich be- finden.

2) Bei ohren Repräsentanten dieser Gruppe sind freilich durch die Unter- suchungen von Kohl, Olive, Philipps u. a. echte Kerne konstatiert worden.

3) Dass die Chromatophoren ursprünglich blaugrün gewesen sein dürften, zeigt uns CUyanomonas americana, über welche weiter unten Näheres. Auch das Fehlen von rein grünen Cyanophyceen macht das sehr wahrscheinlich.

Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche. 601

schemlich, dass die Chromatophoren ins Plasma eingedrungene Cyanophyceae sind. Dass die anderen Plastiden (Leukoplasten und Chromoplasten) nichts anderes als umgewandelte Chromatophoren (Chloroplasten) vorstellen, hat Schimper in genügender Weise be- wiesen.

5. Cyanophyceen leben tatsächlich als Symbionten ım Zellprotoplasma.

Wir haben gesehen, dass genügende Gründe vorliegen (Nr. 1 und Nr. 2), um die Chromatophoren nicht als Organe, sondern als in die Zelle eingewanderte, fremde Organismen zu betrachten. Wir haben ferner gezeigt, dass in ihrem Benehmen die Chromato- phoren eine volle Analogie mit Zoochlorellen aufweisen, die sicher- lich fremde Organismen darstellen. Schließlich haben wir gesehen, dass es in der Natur Organismen gibt (die niedrigeren Oyanophyceae), die höchstwahrscheinlich als frei lebende Vorfahren der Chromato- phoren anzusehen sind. Es bleibt uns jetzt nur noch ein Glied in der Kette der Beweise vorzubringen, um unsere Theorie als allseitig -und gründlich gestützt betrachten zu dürfen. Es bleibt uns nämlich zu zeigen übrig, dass Cyanophyceen wirklich ins Zellenplasma eindringen und dort als Symbionten fortleben können.

Derartige Tatsachen sind nun wirklich bekannt. In erster Linie ist es ein Rhizopod, die Paxlinella chromatophora (Lauter- born 1895), in welcher eine Cyanophycee parasitiert. Wäre die spangrüne Farbe dieser Uyanophycee in eine grüne umgewandelt, so hätten wir echte Uhromatophoren vor uns. Einen ähnlichen Fall scheint uns auch die Oyanomonas americana Davis (Davis 1894), eine Flagellate mit blaugrünen Körpern, darzubieten. Endlich haben wir den sonderbaren Fall einer OUyanophycee, der Füichelia inter- cellularis Schm., die in Symbiose mit einer Diatomee, der ARhüxo- solenia styliformis lebt. Wie diese Gyanophycee ins Plasma der Diatomee, das ja von einer kieselhaltigen Membran allseitig um- schlossen ist, gelangt, ist unbekannt (wahrscheinlich wohl im Sporen- stadium); die Tatsache zeigt aber, wıe leicht Cyanophyceen in symbiotisches Zusammenleben mit sogar von einer Zellmembran umschlossenen Zellen treten können.

11I. Bedeutung der Symbiosentheorie.

Die hier entwickelte Theorie scheint mir eine große Bedeutung zu haben und zwar nach zwei Richtungen hin.

A. Von dieser Theorie ausgehend, ist es allein möglich, den Ursprung und die Phylogenie der Pflanzenwelt richtig zu verstehen.

1. Dieser Theorie nach ıst eine Pflanzenzelle nichts anderes als eine Tierzelle mit in sie eingedrungenen Cyanophyceen; in- folgedessen ist die Pflanzenwelt von der Tierwelt abzu-

502 Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche.

leiten. Die Urpflanzen waren nichts anderes als Amoeben oder Flagellaten, in welche Cyanophyceen eingewandert waren.

2. Da ein solcher Prozess des Eindringens verschiedener Oyano- phyceen in verschiedene Amoeben und Flagellaten wiederholt stattgefunden hat (wie auch in neuerer Zeit das Eindringen der Zoochlorellen und Zooxanthellen), so ist der Ursprung der Pflanzenwelt ein in hohem Grade polyphyletischer.

3. Da es grüne, gelbe und rote Cyanophyceen gibt, wie es ja gleichfalls auch schon bei den direkten Vorfahren der Oyano- phyceen, den Bakterien, der Fall ıst, so können die drei Haupt- stämme des Pflanzenreiches die grünen, braunen und roten Algen, ın dieser Weise unabhängig voneinander ihren Ursprung genommen haben. Tatsächlich kennen wir ja auch grüne, gelbe und rote Flagellaten, und keiner wird wohl mehr daran zweifeln, dass die Flagellaten als diejenigen Organismen anzusehen sind, aus denen sich die höheren Pflanzenformen entwickelt haben. Die Zoosporen sowie die Gameten, die Antherozoiden nicht ausge- schlossen, repräsentieren gerade dieses Flagellatenstadium. Bei weiterer Evolution des Pflanzenreiches ist dieses bei den Flagellaten vorherrschende Stadium immer mehr und mehr unterdrückt worden, während das früher kaum merkbare, vegetative Stadium (Dauer- zellen) in den Vordergrund getreten ist!).

Was den Ursprung den beiderlei Symbionten, der Cyano- phyceen und der tierischen Zelle, anbelangt, so behalte ich mir die Besprechung dieser Frage für eine weitere Mitteilung vor.

Hier möchte ich nur kurz erwähnen, dass ich zur Überzeugung gekommen bin, dass das Leben auf Erden wahrscheinlich einen polyphyletischen Ursprung gehabt hat, indem es zweimal entstanden sein muss. Einmal, als das die Oberfläche der Erde bedeckende Wasser noch heiß war, und zwar in Form von kleinsten Bakterien, die dann den Mikrokokken und weiter den übrigen Bakterien, ferner den Cyanophyceen (als Nebenzweig) und schließlich den echten Pilzen (die Phycomycetes ausgenommen) den Ursprung gaben. Und das zweitemal, als das Wasser schon abgekühlt war und bereits organische Nahrung vorhanden war; da entstand ein ganz verschie- denes, amoebenartiges Plasma (wohl ın Form von kleinen Moneren), das dem Cytoplasma homolog ıst. Ins letztere drangen dann die kleinen Mikrokokken ein, um als Symbionten zu leben und schließ- lich den Zellkern (die Chromosomen?) zu bilden. Die tierische Zelle können wir als einfache Symbiose auffassen (Öytoplasma und Nukleus-Mikrokokken), die Pflanzenzelle als doppelte Symbiose (Tierzelle und Uyanophyceen). Ich unterscheide aber außer dem Tier- und Pflanzenreiche noch ein drittes von diesen beiden ganz

1) Siehe mein Gesetz von der Übertragung der Stadien (Mereschkowsky 1903).

Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche. 603

verschiedenes und streng gesondertes Reich das Pilzreich. Letzteres stellt gar keine Symbiose vor, denn hier hat sich der Kern als Differenzierungsprodukt herausgebildet, wie wır es noch heute bei Baeillus Bütschlii zu beobachten Gelegenheit haben (Schaudinn 1902).

B. Die Symbiosentheorie gibt ein viel tieferes Verständnis des ganzen Wesens der Pflanze. Alle die Eigentümlichkeiten, die eine Pflanze charakterisieren und sie vom Tiere unterscheiden, erscheinen im Lichte dieser Theorie als natürliche Folge einer Symbionte von Tierzelle und CO, assimilierender Cyanophyceen.

Was unterscheidet eine Pflanze von einem Tiere?

1. Die Pflanzenzelle besitzt eine feste Zellulosemembran; die Tierzelle hat keine solche.

2. Die Tierzelle braucht organische Nahrung, die sie in Form von festen Teilchen aufnehmen kann; die Pflanzenzelle nımmt nur flüssige Nahrung auf und braucht keine fertigen, organischen Stoffe.

3. Die Pflanze besitzt weder ein Muskel- noch ein Nerven- system und hat folglich auch kein psychisches Leben; sie ist ihrer Natur nach passiv. Das Tier ıst im höchsten Grade aktıv.

Stellt man sich auf den Standpunkt der heute herrschenden Theorie, nämlich dass die Chromatophoren nichts anderes als in einer farblosen Zelle entstandene Differenzierungsprodukte seien, so wäre es durchaus unbegreiflich, warum und wie die Entwicke- lung der Organısmenwelt zwei so grundverschiedene Richtungen eingeschlagen hat, wie die der tierischen und der pflanzlichen Welt.

Das Eindringen von Cyanophyceen löst das Problem der Ent- stehung der Pflanzenwelt mit allen ihren Eigentümlichkeiten in der einfachsten und klarsten Weise. Der erste von den drei oben an- geführten Unterscheidungspunkten ist als eine natürliche Folge dieses Eindringens der Oyanophyceen anzusehen und die übrigen gehen aus demselben, sowie einer aus dem anderen in streng logischer Weise hervor, wie das aus den folgenden Betrachtungen leicht zu er- sehen ist.

1. Da die Chromatophoren CO, zu assimilieren und Kohlen- stoffhydrate synthetisch aufzubauen imstande sind/ die sich leicht in Zellulose polymerisieren, so hat die Pflanzenzelle eine feste Zellulosemembran erhalten. Dies gestattete die Ausbildung eines starken Turgors innerhalb der Zelle, was es weiter möglich und vorteilhaft machte, durch eben diesen Turgor das äußere, resp. innere Skelett der Tiere zu ersetzen.

2. Die feste Zellhaut machte es wieder unmöglich, feste Nah- rung aufzunehmen; und so wurde die Pflanzenzelle darauf ange- wiesen, sich nur von löslichen Stoffen, die ja fast ausschließlich mineralischer Natur sind, zu ernähren.

604 Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche.

3. Die Pflanzenzelle erhält ohne irgendwelche Anstrengung und ın großer Menge fertige organische Nahrung (Kohlenhydrate), die ıhr die Chromatophoren bereitwillig liefern. Dank dessen braucht die Pflanzenzelle nicht alle die Anstrengung auszuüben, die eine tierische Zelle braucht, um ihre organische Nahrung aufzu- finden. In dieser Weise entstand die passive, quietische Natur der Pflanzenwelt, sowie der Mangel an Muskel und Nervengewebe, und infolgedessen auch eines psychischen Lebens.

Denken wir uns eine Palme ruhig am Ufer einer Quelle wachsend und einen Löwen, der neben ıhr im Gebüsch verborgen liest, alle seine Muskeln angestrengt, mit Blutgier in den Augen, fertig auf eine Antilope zu springen und sie zu erwürgen. Nur die Symbiosentheorie gestattet es, bis ins tiefste Geheimnis dieses Bildes einzudringen und die fundamentale Ursache, die zwei so ungeheuer verschiedene Erscheinungen, wie eine Palme und einen Löwen hervorbringen konnten, zu erraten und zu verstehen. Die Palme benimmt sich so ruhig, so passiv, weil sie eine Symbiose ıst, weil sie eine Unzahl von kleinen Arbeitern, grünen Sklaven (Chromatophoren) enthält, die für sie arbeiten und sie ernähren. Der Löwe hat sich selbst zu ernähren.

Denken wir uns jede Zelle des Löwens von Chromatophoren gefült, und ich zweifle nicht, dass er sich sofort neben der Palme ruhig hinlegen würde, sich satt fühlend oder höchstens noch etwas Wasser mit mineralischen Salzen bedürfend. [64]

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Boecker, Uber das Vorkommen von Limnocodium im Münchner bot. Garten. 605

Über das Vorkommen von Limnocodium im Münchner botanischen Garten. Von E. Boecker, eand. med. aus Gelsenkirchen.

Als ich vor einiger Zeit das Warmhaus für exotische Wasser- pflanzen des botanischen Gartens zu München besuchte, um die damals gerade blühende Vretoria regia ın ne zu nehmen, bemerkte ich bei der Durchmusterung es Hauptbassins nach Krustazeen etc. zu meinem nicht geringen Erstaunen, wie dasselbe an einer vom direkten Sonnenlicht getroffenen Stelle geradezu wimmelte von eigentümlich gestalteten, durchsichtigen Tierchen, in denen ıch sofort lebhaft hin- und herschwimmende Medusen er- kannte. Da ich wusste, dass Süßwassermedusen normal in Europa nicht vorkommen, untersuchte ich sie sofort eingehend und fand, dass es sich um Vertreter der ın Brasilien einheimischen Art Zimno- codium handelte, was mir auch später von Herrn Professor Hert- wig, dem ich meine Entdeckung mitteilte, bestätigt wurde.

Dieselbe Medusenart wurde schon vor mehr als einem Jahr- zehnt ım Londoner botanischen Garten, und zwar ebenfalls in einem Victoria regia-Bassın beobachtet und damals von Ray Lankester beschrieben. Späterhn sah sich R. F. Günther, dem wir die meisten Untersuchungen über Süßkwassermedusen verdanken, ver- anlasst, genauere Beobachtungen über das Limnocodium anzustellen, deren Resultate er ın dem Aufsatz: Some further contributions to our knowledge of the minute anatomy of Limnocodium veröffent- lichte. (In den Quart. Journ. of Micr. Science, march 1894. Vol. 35.) Was das Vorkommen der genannten Meduse auf dem europäischen Festlande angeht, so wurde 1902 ın Lyon ebenfalls eine Süßwasser- meduse gefunden, deren Identität mit Zimnocodium ich jedoch nicht bestimmt versichern kann, da ıch die betreffenden Akten nicht zur Hand habe. Außer diesem Fall ist das Zimnocodium nur noch in München angetroffen worden, wo ich dasselbe zuerst entdeckt habe, wie denn z. B. die Direktion des botanischen Gartens keine Kenntnis davon hatte. Daher wurde es vom hiesigen zoologischen Institut mit Freuden begrüßt, als ich dem Vorstand desselben von meiner Entdeckung Mitteilung machte. Herr Professor Hertwig hat sogleich eine große Menge der Tiere sammeln und für die mikroskopische Untersuchung vorbereiten lassen, so dass man wohl mit Recht hoffen darf, schon bald durch ıhn die vielen Schwierig- keiten, die das Limnocodium besonders hinsichtlich seiner Ein- reihung in das System darbietet, beseitigt zu sehen.

Im folgenden seien einige besondere Charakteristika der Limno- codien, die hier eine Größe von 1—-12 mm haben, angeführt, die ich teils der genannten Arbeit des englischen Forschers entnehme, teils selbst beobachtet habe.

606 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

Die Umbrella unserer Meduse ist hochgewölbt, trotzdem ragt aber noch der langgestielte Magen unter ihr hervor. Der Bau des Schirmrandes ist ähnlich demjenigen bei den Trachymedusen. Die Beobachtung Günther’s, dass die hohlen Tentakeln mit ihrem Grundteile in die Gallerte eingebettet seien, kann ich nicht be- stätigen, da sie, soviel ich gesehen habe, vollständig frei sind.

Die größten Schwierigkeiten bereiten hinsichtlich ihrer Anatomie und der Erklärung ihrer Genese die Statocyten, deren umhüllende Kapseln sich m das subumbrelläre Velumektoderm erstrecken. Das Entoderm des Magens, des Ringkanales und der vier Radıal- kanäle, besteht aus flachen Zellen; nur wo die letzteren die Ge- schlechtsorgane tragen, wird das Epithel mehr kubisch.

Merkwürdig ist es, dass die hier vorkommenden Exemplare scheinbar ausschließlich männlichen Geschlechtes sind, wie denn Günther auch nur Männchen untersucht hat.

Die oben erwähnte Schwierigkeit der systematischen Einreihung des Limnocodium rührt daher, dass das von H. Towler beobachtete Polypenstadium des Tieres, ebenso wie die Lage der Gonaden im Ektoderm der Radialkanäle das Limnocodium als eine Leptomeduse erscheinen lassen, während die allem Anschein nach entodermalen Sinnesorgane dagegen sprechen.

Um eimiges aus der Biologie der Limnocodien zu bringen, so halten sie sich im genannten Bassın nur an der am häufigsten vom direkten Sonnenlicht getroffenen Stelle auf, die außerdem noch der Heizung am nächsten liegt. Man sollte daher meinen, dass sie infolge ihrer tropischen Herkunft sehr wärmebedürftig wären, doch haben sie sich bei mir ın einem Einmachglase auf einem kühlen Zimmer bisher sehr gut gehalten, und habe ich trotz der viel niedrigeren Temperatur keine Abnahme ihrer Lebenstätigkeit be- obachten können.

Die Nahrung besteht aus Infusorien, Stückalgen, Amöben etec., deren Vorhandensein im Magen man unter dem Mikroskop direkt beobachten kann. [75]

Über die Koloniengründung bei Atta sexdens. Von Dr. Jakob Huber, (Parä).

Das Studium der pilzzüchtenden Ameisen aus der Gattung Alta gehört ohne Zweifel zu den anziehendsten Kapiteln der Biologie und bietet sowohl für den Zoologen wie für den Botaniker eine Menge der interessantesten Probleme. Seit den die Vermutungen Belt’s vollauf bestätigenden klassischen Untersuchungen Möller’s kann kein Zweifel mehr bestehen, dass die Arten der Gattung Alta (im weiteren Sinn) mit grossem mykologischen Verständnis und Geschick Reinkulturen des Pilzmycels von KRozites gongylo-

Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sewdens. 607

@ phora unterhalten und dass sie durch eine bis jetzt allerdings

noch nicht aufgeklärte Beeinflussung an demselben die Bildung be- sonderer Hyphenanschwellungen, der sogenannten Kohlrabi, hervor- rufen, von denen sıe sich und ihre Larven?) ernähren. Die Unter- suchungen Möller’s, die ja heutzutage so allgemein bekannt sind, dass ıch weiter nicht darauf zurückzukommen brauche, befassen sich ausschließlich mit dem definitiven, von zahlreichen Arbeitern verschiedener Kasten bevölkerten Ameisenstaat; über die Neuan- lage einer Kolonie hat dagegen Möller keine Beobachtgugen an- gestellt.

Auf welche Weise nun aber eine neue Kolonie mit ihrem Pilzgarten zu Stande kommt, das blieb vorläufig ein Rätsel, zu dessen Lösung zwar seitdem mehrere wichtige Beiträge erschienen sind, ohne jedoch auf alle Fragen befriedigend Aufschluss zu geben. Schon 1894 hat A.G. Sampoio de Azevedo, ein wissbegieriger bra- silianischer Laie, einige wichtige Beobachtungen über die Gründung neuer Kolonien bei Alta sexrdens gemacht und in seinem allerdings von manchen Irrtümern behafteten Büchlein „Sauva ou Manhu- uara* (Sao Paulo 1894) veröffentlicht. Dieser Beobachter grub ein Attaweibchen 10 Tage nach dem Hochzeitsflug aus (l. ce. p. 60 ff.) und fand in ihrer Höhle 2 weiße Häufchen liegen. Das eine be- stand aus 50—60 Eiern, das. andere aus einer filamatosen Masse, dem jungen Pilzgarten, welchen allerdings Sampaio nicht als solchen erkannte. 3!/, Monate nach dem Flug grub Sampaio ein Nest aus, dessen Ausführungsgang schon offen war. Zahlreiche Arbeiter von 3 verschiedenen Größen, jedoch alle bedeutend kleiner als die der entsprechenden Kasten bei definitiven Kolenien, waren schon dabei, Blätter zu schneiden und an dem etwa 30 Kubik- zentimeter großen Pilzgarten zu bauen. Sampaio schätzte die Zahl der Arbeiter auf 150—170, die der Larven und Nymphen auf etwa 150 und die der Eier auf 50.

Im Jahre 1898 brachte H. v. Ihering einen weiteren Beitrag zu dieser Frage (Die Anlage neuer Kolonien und Pilzgärten bei Atta sexdens, Zoolog. Anzeiger XXI. Bd. p. 238— 245). Er beschreibt eingehend das Sicheingraben des befruchteten Weibchens (siehe auch Sampaio ]. c. p. 57, 58). Nach 1—2 Tagen fand v. Ihering das Weibchen noch unverändert im Nest und erst einige Tage später wurde ein Häufchen von 20-30 Eiern und daneben ein 1—2 mm großer flacher Haufen des Pilzes (noch ohne Kohlrabi) ent- deckt. Hat dieser einen Durchmesser von 2 cm erreicht, so treten nach v. Ihering daran Kohlrabi auf und nun soll man auch die Ameise

1) Die Fütterung der Larven mit Kohlrabi wird zwar von Möller nicht er- wähnt, ist aber bei Atta sexdens von Herrn Prof. Goeldi und von mir wiederholt beobachtet worden. '

H0S Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

häufig daran fressen sehen. Aus den Eiern, welche auf/und in den Pilzgarten gebettet sind, hatten sich iwischen Larven entwickelt; nach Mesime des Pilzgartens in ein Terrarium ging aber der Pilz zurück ze die Larven gingen ein. v. Ihering vermutet, daß die vollständige Entwicklung bis zum Erscheinen der ersten Arbeiter 2—3 Monate in Anspruch nehmen werde. Er kommt dann zu folgendem Schluss: „Vermutlich wird die letzte Phase dieser ersten Brutperiode eine sehr schwierige sein, da ja keinerlei Eintragung von Blättern als Substrat für das Weiterwachsen des Pilzgartens erfolgt. Überhaupt ist eben dieses Gedeihen des Pilz- gartens noch weiterer Aufklärung bedürftig. Nach meinen hierin der Nachprüfung wie bemerkt bedürftigen Untersuchungen sind es zerbissene Eier, welche das organische Substrat für den Pilzgarten liefern, doch mag auch der humusreiche Boden selbst Nährstoffe enthalten.“

Die wichtigste Beobachtung v. Ihering’s besteht nun aber darin, dass er (an Alkoholmaterial) nachgewiesen hat, dass „jedes dem Nest entgangene Saubaweibchen ım hinteren Teil der Mund- höhle ein 0,6 mm große lockere Kugel trägt, welche aus den Pilz- fäden des Roxites gongylophora besteht, ren aber auch Stücke gebleichter, d. h. chlorophylloser Blattreste und allerlei Chitin- borsten enthält.“ : Durch diese Beobachtung ist natürlich erst die Möglichkeit einer Neuanlage des Pilzgartens durch das befruchtete Weibchen erklärt.

Im Jahre 1904 hat Herr Prof. Goeldi die Koloniegründung durch ein 'Attaweibchen in einem besonders zu diesem Zwecke konstruierten Nistkasten bis zur Bildung der Puppen und sogar bis zum Braunwerden derselben verfolgt, musste aber auch die Ent- täuschung erleben, dass die Brut vor dem Ausschlüpfen der Ima- gines zu Grunde ging. Immerhin war damit die Möglichkeit der Koloniegründung durch ein vollständig isoliertes Weibchen so viel als bewiesen. In der diesbezüglichen Mitteilung an den Zoologen- kongress ın Bern (1904 ) kommt Herr Prof. Gold: auf Grund des eigentümlich körnigen or des provisorischen Pilzgartens zu dem Schlüss, dass wahrscheinlich zerbissene Eier als Substrat für den Pilz verwendet würden.

Fassen wir somit die aus den bisherigen Beobachtungen ge- wonnenen Resultate zusammen, so kommen wir etwa zu der Vor- stellung des Vorganges, wie ıhn Herr Prof. Forel in einem vor kurzem in dieser Zeitschrift (Bd. XXV. p. 170 ff.) veröffentlichten Br resumiert hat. Dabei muss jedoch bemerkt werden:

dass es bis jetzt noch keinem Beobachter gelungen ist, die Ne einer Attakolonie bis zum Erscheinen der jungen Arbeiterinnen, geschweige denn bis zur Gründung des definitiven Pıilzgartens zu verfolgen,

Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens. 609

2. dass die Düngung des Pilzes durch zerbissene Eier bis jetzt zwar von 2 Autoren vermutet, aber nicht einwandsfrei nachge- wiesen worden ist,

3. dass über die Art und Weise der Larvenfütterung noch keine Beobachtungen vorliegen.

Am 20. Januar dieses Jahres (1905) begann Herr Prof. Goeldi eine neue Serie von Beobachtungen an mehreren Weibchen von Atta sexdens, welche sich in den von ıhm konstruierten Nistkästen in Erde eingegraben hatten. Anfangs hauptsächlich zur Unter- suchung des Pilzes beigezogen, wurde ich später mit der Fort- führung der Beobachtungen betraut, da Herr Prof. Goeldi durch andere Arbeiten in Anspruch genommen wurde. Während meiner über die Monate Februar, März und April fast ununterbrochen fortgesetzten Versuche und Beobachtungen erhielt ich jedoch von Seiten Herrn Prof. Goeldi's fortwährend tatkräftige Unterstützung und Anregung, namentlich auch durch Mitteilung der einschlägigen Literatur, wofür ich ıhm an dieser Stelle meinen herzlichsten Dank ausspreche.

Zu der am 20. Januar begonnenen Versuchsreihe, welche an- fangs etwa 12 befruchtete Weibchen umfasste, kamen bei Gelegen- heit späterer Flüge (23. Februar und 12. März) zwei weitere Reihen mit zahlreichen Exemplaren hinzu, welcher Umstand gestattete, anderweitige Kulturmethoden zu versuchen. Erwähnt sei hier nur, dass außer zahlreichen Kulturen in den Goeldi’schen mit Erde gefüllten Nistkästen auch solche in sogen. Kristallisierschalen (zur Beobachtung von oben) und in kleinen vorn und hinten durch Glasscheiben abgeschlossenen Gypskästchen (zur seitlichen Beobach- tung) angesetzt wurden, außerdem aber auch im Freien eine An- zahl Nester nach dem Sicheingraben der Weibchen markiert und nachher zur Kontrolle ausgegraben wurden !. Diese Versuche waren insofern von Erfolg gekrönt, als es gelang, nicht nur ın einer ganzen Anzahl von Fällen die Gründung der neuen Kolonie bis zum Erscheinen der Arbeiter lückenlos zu verfolgen, sondern auch in einigen Fällen noch den Beginn des Blattschneidens und Aufbaues des definitiven Pilzgartens zu beobachten ?). Die öftere aufmerksame Beobachtung des Attaweibehens und seiner Nach- kommenschaft ergab außerdem eine Anzahl von interessanten Resultaten, welche ich hier möglichst kurz zusammenfassen will,

1) Es sei hier gleich bemerkt, dass die ausgegrabenen jungen Kolonien in ihrer Entwickelung eine sehr erfreuliche Übereinstimmung mit den in Gefangen- schaft erzogenen aufwiesen (vgl. Fig. 2 u. 3).

2) Es handelt sich hier nur um eine Frage der Zeit, da ich gegenwärtig (3. Mai) außer 2 Kolonien, in welchen das Blattschneiden schon angefangen hat, 1 Dutzend andere Kolonien in Kultur habe, von denen die meisten schon 30 oder mehr Ar- beiter haben.

XXV. 39

610 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

indem ich die Einzelheiten der Versuchsanstellung, die ausführlichen Berichte über die einzelnen Versuchsreihen, sowie auch die speziell mykologischen Ergebnisse für eine illustrativ reicher ausgestattete Abhandlung vorbehalte.

Die allerersten Anfänge der Koloniegründung lassen sich am besten beobachten, wenn man die gefangenen Attaweibchen in Kristallisierschalen bringt, in welchen durch nasses Fließpapier die nötige Feuchtigkeit unterhalten wird!). An dem auf den Hoch- zeitsflug folgenden Tag sieht man das von der Ameise ausgespieene?) Pilzkügelchen am Boden der Schale liegen, wo es aber leicht über- sehen wird, da es nicht viel mehr als !/,;, mm im Durchmesser be- sitzt und außerdem oft nicht rein weiß, sondern gelblich oder bis- weilen sogar schwärzlich ıst, da ausnahmsweise der Pilz gegenüber den anderen Bestandteilen in den Hintergrund tritt°). Am dritten

1) Beim Fangen der Atta-Weibchen muss darauf gesehen werden, dass nie mehrere derselben zusammen eingesperrt werden, da sie sich sonst gegenseitig ver- stümmeln. Immerhin können in den Göldi’schen Nistkasten eventuell 2 Weibchen zum Sicheingraben veranlasst werden und dann kommt es bisweilen vor, dass sie eine gemeinsame Höhle beziehen und friedlich beisammen bleiben. In 2 Fällen, wo dies beobachtet wurde, kamen aber keine regelrechten Pilzgärten zustande und die Ameisen gingen schließlich ein, bevor sie es zu Larven gebracht hatten. Nur in einem Falle legten 2 Mutterameisen einen gemeinsamen Pilzgarten an und cer- zogen gemeinsem ihre Brut bis zum Erscheinen der Arbeiter.

2) Das Ausspeien des Pilzkügelchens kann man auch künstlich hervorrufen, indem man bei der lebenden Atta die Mundteile mit einer Pinzette ergreift und nach vorne zieht. Die Figuren 4 u. 5 geben Aufschluss über die Lage der Pilz- gattungen im Hypopharynx und den Mechanismus des Ausstoßens derselben.

3) Dies erklärt das auch in der Natur nicht allzuseltene Fehlschlagen der Pilzkultur. Die genaue Untersuchung einer großen Anzahl noch geflügelter in Alkohol konservierter Atta-Weibchen auf den Inhalt ihres Hypopharynx (poche infrabuccale nach Janet) ergab als konstante Inhaltsbestandteile außer dem Mycelflocken und den Substratfragmenten braune Borsten (die allerdings nach meiner Ansicht nicht, wie v. Ihering vermutet, von den Larven, sondern wohl von den Weibchen selbst stammen) sowie eine wechselnde Menge von Sandkörnern, die wohl wie die Borsten bei Gelegenheit der Toilette in den Hypopharynx gekommen waren (vgl. Janet, Anatomie du Gaster de la Myrmica rubra p. 15). In einigen Fällen überwog die Menge des Detritus entschieden diejenige des Pilzes. Dies brachte mich auf die Idee, ob vielleicht nicht der ganze Inhalt des Hypopharynx das Er- eebnis einer beim Exodus der Geschlechtstiere nach dem in der elterlichen Höhle sicherlich herrschenden Gedräng und daraus folgender Deteriorierung des Pilzgartens ausgeführten Selbstreinigung sei, bei welcher die den Beinen anhaftenden Partikel des Pilzgartens samt den aus der Höhle stammenden Sandkörnern und vereinzelten Borsten in die Mundhöhle aufgenommen worden waren. Diese Hypothese, die ja an und für sich plausibel erscheint, wird allerdings dadurch etwas erschüttert, dass im (sehr kleinen) Hypopharynx der Männchen, deren ich einige darauf hin unter- suchte, keine Spur vom Pilz zu entdecken war, obwohl ohne Zweifel der Ausflug derselben zu gleicher Zeit stattfand wie derjenige der Weibchen. Definitiv kann diese Frage natürlich nur durch genaue Beobachtung einer Atta-Kolonie unmittelbar vor dem Ausfliegen der Geschlechtstiere entschieden werden.

Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens. 611

Tag beobachtete ich fast in allen Fällen schon einige Eier (6—-10);

7

gewöhnlich zeigt dann auch schon die Pilzkugel zarte nach allen

Eingangsloch zur Höhle eines Atta- Weibchens. !/, nat. Größe. Die von der Ameise herausbeförderten Erdballen sind halbmondförmig um die Eingangs-

öffnung gelagert.

Fig. 2. Vertikaldurchschnitt durch eine im Freien ausgegrabene Höhle von Atta sexdens, 11 Tage alt. Nat. Gr. (Die Ameise ist entfernt.)

In Goeldi’schen Brutkasten erhaltene Höhle, 16 Tage alt. Nat. Gr. (Die Ameise ist entfernt.)

= N wS]

Fig. 4. Fig. 5.

Fig. 4. Halbschematischer Sagittaldurchnitt durch den Kopf eines Atta-Weibchens kurz nach dem Verlassen des elterlichen Nestes. Vergr. ca. 9. Der Mund ist geschlossen und die Pilzkugel in ihrer natürlichen Lage.

Fig. 5. Wie Fig. 4, nur sind die Mundteile etwas verzogen, um den Mechanismus des Ausstoßens der Pilzkugel zu verdeutlichen.

Richtungen ausstrahlende Fäden (Fig. 7). An diesem oder am folgenden Tag wird sie von der Ameise in zwei oder mehr Flocken

39*

622 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

Au fu

zerlegt (Fig. 8.) Von da an nimmt die Zahl der Eier während 10-12 Tagen täglich um etwa 10 zu, allerdings nicht bei allen Individuen lee malhe Auch die Pilzflocken werden größer und von Tag zu Tag zahlreicher. Sie haben 1—2 mm im Durchmesser

Fig. 6. Mycel aus dem provisorischen Pilzgarten, etwa 150mal vergr. Fig. 7. Eier und Pilz 2%. 24 Stunden nach dem Hochzeitsflug

Vergr. 5fach. Fig. 8. Eier und Pilz 3 x 24 Stunden nach dem Hochzeitsflug. Vergr. 5fach.

Fig. 9. Fig. 10.

Fig. 9. Pilz und Eier 7 % 24 Stunden nach dem Hochzeitsflug. Verg. 5fach. Fig. 10. 10 Tage alter Pilzgarten. Vergr. 6fach. d ein Dungtropfen.

und gleichen en miniature Baumwollsamen mit auswärts gezupften Fäden. Eier und Pilzflocken sind im Anfang noch separiert, aber bald werden sie zusammengetragen oder wenigstens ein Teil der Eier auf oder zwischen die Pilzflocken gelegt (Fig. 9). Nach 5-10 Tagen sind die Pilzfloeken so zahlreich, dass sie in einfacher

Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens. 615

Schicht zusammengelegt eine runde oder etwas elliptische Scheibe von etwa 1 cm Durchmesser bilden; von dieser Zeit an befinden sich die Eier gewöhnlich darauf (Fig. 10). Die Flocken gewinnen mit der Zeit mehr Zusammenhalt, so dass es mit etwelcher Sorg- falt gelingt, den ganzen tellerförmigen Pilzgarten, der am Rand gewöhnlich etwas verdickt ist, samt den Eiern vom Boden abzuheben.

Etwa 14—16 Tage nachdem das Attaweibchen ihre unter- irdische Wohnung bezogen hat, lassen sich zum ersten Mal einige deutliche Larven unterscheiden, welche zwischen den Eiern liegen, deren Zahl inzwischen etwa auf 100 angewachsen ist. Der Pilz- garten hat um diese Zeit meist einen Durchmesser von 1,2—1,5 cm. Die Zahl der Larven nımmt nun von Tag zu Tag zu, besonders auffallend ıst aber das rasche Wachstum der Larven, von denen einige in einer Woche annähernd 2 mm lang werden können. Etwa einen Monat nach dem Beginn der Gefangenschaft erschienen die ersten Puppen, unter denen man bald verschiedene Größen, die kleineren von: 1,5—2 mm, die größeren von 2,5—3, selten bei 4 mm Länge unterscheiden kann. Zu dieser Zeit hat der Pilzgarten, dessen Rand jetzt sehr deutlich verdickt ist, einen Durchmesser von etwa 2 cm erreicht. Während in den ersten Stadien des Pilzgartens von Kohlrabi rioch keine Spur zu sehen ist (cf. Fig. 7—11 und 6) treten jetzt am Rande des Pilzgartens diese Bildungen in geringer Anzahl und oft undeutlicher Abgrenzung auf. Nach weiteren 8 Tagen, wenn etwa 30 Puppen vorhanden sind, fangen die ersten an sich zu bräunen und wenige Tage darauf erscheinen die ersten jungen Arbeiterinnen, welche sich sofort mit den Puppen beschäftigen, einander gegenseitig und die Königin belecken und von den Kohlrabi fressen.

Es muss nun allerdings bemerkt werden, dass dieser Ent- wicklungsgang mit 40 Tagen als minimale Zeitdauer der günstigste ist, den ich in meinen Kulturen registriert habe. Doch gehörten zu dieser Kathegorie die Mehrzahl der dem letzten Flug (vom 12. März) angehörenden Attaweibchen. Einige von den zu gleicher Zeit ausgeflogenen Weibchen sind allerdings mit ihrer Brut noch sehr im Rückstand und bei der einzigen Brut der ersten Versuchs- . reihe, die es überhaupt bis zum Ausschlüpfen der jungen Ar- beiterinnen brachte, dauerte es 2 Monate und 3 Tage, bis die erste Arbeiterin auf den Beinen war. Dies sind in allgemeinen Zügen die Erscheinungen, die beim ersten Studium der Gründung einer neuen Kolonie von Atta sexdens bei oberflächlicher Beobachtung als wesentlich in Betracht kommen können. Es gibt nun aber eine Anzahl Fragen, deren Beantwortung für den Biologen unent- behrlich ist und deren Lösung nur durch intensivere Beobachtung möglich ist. Es sind dies die Probleme der Ernährung des Pilzes, der Mutterameise und der jungen Brut.

614 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexwdens.

Es erhebt sich vor allem die Frage: Welche Mittel wendet das Attaweibchen an, um das Wachstum des Pilzes, den sie in ihrer

Fig.

14 Tage alter Pilzgarten, mit etwa 100 Eiern und zahlreichen Dungtropfen. Vergr. 5fach.

4 Wochen alter Pilzgarten mit zahlreichen Larven und einigen Puppen. Vergr. 5Sfach. (In flacher Kristallisationsschale.)

Mundhöhle mitgebracht hat, zu bewirken und zu unterhalten? Denn

das ursprünglich mitgebrachte organische Substrat muss in kürzester

Zeit aufgebraucht sein und die Annahme, dass der ursprüngliche {o) )

Huber, Uber die Koloniegründung bei Atta sexdens. 615

Pilzknäuel von kaum mehr als !/, mm Durchmesser ohne weitere Nahrungszufuhr sich zu einem Pilzgarten von mehr als 2 cm Durch- messer mit Kohlrabibildung entwickeln könne, ist begreiflicherweise ganz ausgeschlossen.

Die mikroskopische Untersuchung des jungen Pilzgartens zeigt im Anfang allerdings noch kleine Partikel pflanzlichen Substrates, erkenntlich namentlich an Fragmenten der Epidermis, Stücken von Spiralgefäßen, korrodierten Stärkekörnern und Oxalatkristallen. Alle diese Dinge finden sich aber in entsprechender Menge in der ur- sprünglichen Pilzkugel und stammen also aus dem Pilzgarten der Mutterkolonie!). Später findet man in den den Pilzgarten zu- sammensetzenden Flocken nur noch pilzliche Elemente (Fig. 6), aller- dings an manchen Stellen schon ziemlich inhaltsleer, zerrissen und von gelblicher Flüssigkeit durchtränkt. Auch makroskopisch sind am Pilzgarten gelbliche Stellen sichtbar, ja manchmal hängen den Flocken deutliche gelbe oder bräunliche Tropfen an. Diese Tropfen liefern nun den Schlüssel des Rätsels von der Ernährung des jungen Pilzgartens.

Bei sorgfältiger stundenlanger Beobachtung der Ameise gelingt es nämlich, hier und da zu konstatieren, dass dieselbe plötzlich mit den Mandibeln ein kleines Stück aus dem Pilzgarten heraus- reißt, und dasselbe gegen das sich nach unten einbiegende Abdomen führt. Zu gleicher Zeit erscheint am After ein gelblicher oder bräunlicher klarer Tropfen, welcher mit dem Pilzflocken aufgefangen wird (Fig. 13). Darauf wird dieser unter fortwährendem Befühlen wieder in den Pilzgarten eingefügt (und zwar meist an einer anderen Stelle als wo er herausgenommen wurde) und mit den Vorderfüßen angedrückt (Fig. 14). Der Pilz saugt nun den Tropfen mehr oder weniger schnell auf; oft sind mehrere dieser Tropfen am jungen Pilzgarten noch deutlich wahrzunehmen (Fig. 10d, 11). Nach meinen Beobachtungen wird diese Prozedur gewöhnlich einmal oder zweimal per Stunde vollzogen, manchmal allerdings auch häufiger. Fast unfehlbar gelingt es dieselbe mehrere Male nacheinander zu beobachten, wenn man einer Mutterameise, welche keinen Pilz hat, wie dies ın den”-Kulturen hier und da vorkommt, ein Stück Pilzgarten eines andern Attaweibchens oder aus einer älteren Kolonie vorlegt. Die Mutterameise, welche beim Befühlen des Geschenkes eine sichtbare Erregung zeigt, macht sich gewöhn- lich nach wenigen Minuten daran, den Pilzgarten zu zerlegen und

1) Eine Verwendung von in der Erde enthaltenen Partikeln organischer Sub- stanz, wie sie v. Ihering vermutet, ist für die erste Periode an und für sich nicht wahrscheinlich, cher vielleicht für die Zeit nach dem Erscheinen der ersten Arbeiter. Jedenfalls standen meine in steriler Erde erhaltenen Pilzgärten in ihrer Entwicke- lung keineswegs hinter den im Freien aus sehr humusreicher Erde ausgegrabenen zurück.

616 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

neu aufzubauen, wobei sie jedes der abgetrennten Stücke zuerst in der beschriebenen Weise zum After führt und mit einem Düng- tropfen versieht.

Dass es sich hier um eine eigentliche Düngung des Pilzesmitden flüssigen Exkrementen!)der Ameisehandelt, darüber kann wohl kein Zweifel bestehen. Die übrige Pflege des Pilzgartens beschränkt sich auf ein häufiges Belecken, welches aber schwerlich sein Wachstum fördert, eher dasselbe etwas zurück- hält oder in besondere Bahnen lenkt, daneben wohl auch der Ameise zugute kommen wird, da der sich selbst überlassene Pilz in glashellen Tropfen eine Flüssigkeit absondert, die wohl von der Ameise konsumiert wird. Das Wachstum des jungen Pilzgartens ist also wohl ausschließlich einer Düngung mit Exkrementen zu- zuschreiben; seine körnige oder flockige Struktur und die stetige

Fig. 14.

Fig. 13. Düngung des Pilzgartens. Die Mutterameise führt den Pilzflocken zum After. Momentphotographie in Gipskästchen, nach Janet’schem Prinzip, speziell für Alta modifiziert von Goeldi-Huber. Nat. Gr.

Fig. 14. Düngung des Pilzgartens. Die Mutterameise fügt den gedüngten Pilz- flocken wieder dem Pilzgarten ein. Nat. Gr.

Zunahme der Flockenzahl erklärt sich nun auch leicht aus der

besonderen Prozedur des Düngens. Eine direkte Verwendung von

zerbissenen Eiern zur Düngung habe ich weder durch mikro- skopische Untersuchung des Pilzgartensn och durch direkte Beobach- tungen bestätigen können, wohl aber geht aus weiter unten zu er- wähnenden Beobachtungen hervor, dass auf indirektem Wege es doch Eier sind, die den Stoff zum Düngen liefern. Nach meinen

Erfahrungen beginnt das Düngen des Pilzes wenige Tage nach dem

Ausfliegen und dauert bis zum Aufbau des definitiven Pilzgartens.

Verfolgt man das Gebahren eines Attaweibchens während mehrerer Stunden, so kann man konstatieren, dass seine Tätigkeit mit einer gewissen Regelmäßigkeit eingeteilt ıst. Das Untersuchen der Höhle, Säubern und Ausebnen des Bodens etc. nımmt nach

l) Inwieweit dabei auch Drüsensekrete in Betracht kommen, ist natürlich schwer zu entscheiden.

Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sewdens. 617

der ersten Anlage der Höhle verhältnismäßig wenig Zeit mehr in Anspruch, wird aber in regelmäßigen Intervallen gewissenhaft be- sorgt. In zweiter Linie kommt das Besorgen des Pilzgartens, Be- lecken und Düngen desselben, was schon mehr Zeit in Anspruch nimmt. Die dritte und wichtigste Beschäftigung gilt der Brut.

Die Mutterameise bei ihrer Toilette. Nat. Gr.

Fig. 16.

Kohlrabihäufchen, etwas auseinander gezupft. Vergr. 150.

Die Eier und Larven werden fleißig beleckt, zu Haufen vereinigt, oder getrennt, im Anfang mit dem Pilz zusammengelegt oder davon separiert, später in der mittleren Vertiefung des Pilzgartens um- gelagert und einzelne davon weggenommen.

Das Eierlegen ist in den Gypskästchen und in den Go eldi’schen Nistkästchen leicht mit der Lupe zu beobachten und kann wie das Düngen sogar photographiert werden (Fig. 18 und 19). Die Ameise erhebt sich etwas auf den Mittel- und Hinterbeinen, krümmt

618 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

wie beim Düngen ihr Abdomen unten ein, wobei gewöhnlich schon das Ei erscheint, das dann nach lebhaftem Befühlen von den Man- dibeln gepackt wird. Erst nach längerem Betasten mit den Fühlern wird es dann zu den anderen Eiern in das Innere des Pilzgartens versenkt.

Dies ist allerdings nicht immer der Fall. Bei genauer Über- wachung, namentlich bei Profilansicht, wobei man das Spiel der Mundwerkzeuge deutlich beobachten kann, gelingt es öfter zu kon- statieren, dass das Ei, welches man schon abgelegt wähnte, nach lebhaftem Befühlen doch nicht deponiert wird, sondern wieder empor-

Fig. 17. Fig. 18.

Fig. 17. Die Mutterameise beim Belecken des Pilzgartens. Moment- photographie in Goeldi’schen Brutkasten. Nat Gr. Fig. 18. Eiablage. Nat. Gr.

Fig. 19.

Eiablage. Nat. Gr.

gchoben und nochmals betastet wird, um dann plötzlich zwischen den Mundwerkzeugen zu verschwinden. Es findet dabei keine leb- hafte Bewegung der Kiefer statt, die Ameise hält sich im Gegen- teil einige Sekunden ganz ruhig, den Kopf unmittelbar über dem Pilzgarten, nur mit den Fühlern, wie zum Zeichen des Wohlgefallens, leise pendelnd. Erst nachher geraten Kiefer und Zunge in leb- haftere Bewegung und die Vorderfüße werden in bekannter Weise durch den Mund gezogen. Offenbar entspricht die auffallende Pause in der Tätigkeit der Ameise einem Ausschlürfen oder Aussaugen des zwischen den Mundteilen zusammengepressten Eies. Selten kommt es vor, dass ein Ei sofort verspeist wird, gewöhnlich geht ein längeres Betasten und scheinbares Zögern voraus. Eben so

Fruhwirth, Die Züchtung der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen. 619

selten oder noch seltener wird ein schon abgelegtes Ei wieder auf- genommen und gefressen, wenigstens unter normalen Umständen, d. h. wenn ein Pilzgarten vorhanden ist. Fehlt hingegen dieser, so scheint dies auch häufiger vorzukommen, da man oft ein nach- trägliches Verschwinden schon gelegter Eier feststellen kann. Im allgemeinen ist das Fressen von Eiern eine sehr häufige Erscheinung. Ich habe sie einmal während einer zweistündigen Beobachtung 6mal und sogar während einer Stunde 4mal be- obachtet und bei allen Attaweibchen, die ich unter Beobachtung hatte, habe ich sie gelegentlich konstatiert. Nach meinen bisherigen Erfahrungen kann man annehmen, dass die Attaweibehen während der ersten Brutperiode durchschnittlich allermindestens 2 Eier in der Stunde, also annähernd 50 Eier pro Tag legt. Wie wir aber gesehen haben, nimmt die Zahl der Eier in den ersten 10-12 Tagen nur etwa täglich um 10 zu), es müssten also von 5 Eiern jeweils 4 gefressen worden sein. Berechnet man die Zahl der Eier für die Zeit der Entwicklung der Brut bis zum Erscheinen der ersten Ar- beiterinnen, also im Minimum 40 Tage, so kämen wir auf 2000 Eier, während die ganze Brut (Eier, Larven und Nymphen) um diese Zeit wohl niemals 200 übersteigt ?). Hier hätten wir also sogar

das Verhältnis von 9 verspeisten zu 10 gelegten Eiern (Schluss folgt.)

C. Fruhwirth. Die Züchtung der landwirtschaftlichen

Kulturpflanzen. Bd. I. Allgemeine Züchtungslehre. Zweite, gänzlich neubearbeitete Auflage. Mit 28 Textabbildungen. Berlin, Paul Parey, 1905, und Bd. II. Die Züchtung von Mais, Futterrübe und anderen Rüben, Olpflanzen und Gräsern Mit 29 Text- abbildungen. Berlin, Paul Parey, 1904.

Ueber den Inhalt des ersten Bandes dieses Werkes, der im Jahre 1901 erschien, wurde in dieser Zeitschrift ausführlich von mir berichtet. Wenn schon jetzt eine zweite Auflage dieses Bandes vorliegt, so beweist dieses, dass das Werk in den landwirtschaft- lichen Kreisen, für welche es in erster Linie geschrieben wurde, seinen Weg gefunden hat. Wie ich schon früher hervorhob, zeigt sich in der Arbeit des Verfassers eine große Objektivität, was na- türlich seine Vorteile und auch seine Nachteile hat. Diese Eigen- schaft hat aber ohne Zweifel dem Verfasser die schwierige Aufgabe der Bearbeitung einer neuen Auflage dieses Bandes ungemein er- leichtert. Es haben sich in den letzten fünf Jahren unsere An- sichten über Pflanzenzüchtung, zumal durch das Erscheinen der Mutationstheorie von de Vries in mancher fundamenteller Hinsicht sehr geändert. Und in solcher Sachlage ist es gewiss nicht leicht, eine neue Auflage eines Buches zu bearbeiten. Dennoch ist es

1) Später ist die Zunahme bedeutend geringer. 2) Direkte Zählungen haben 120—150 ergeben.

620 Fruhwirth, Die Züchtung der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen.

dem Verfasser gelungen, die neueren Ansichten zu verwerten, wäh- rend er doch im allgemeinen die frühere Einteilung seines Stoffes beibehielt; und dass dieses möglich war, verdankt er der Objek- tivität seiner früheren und auch jetzigen Darstellung.

Es kann natürlich nicht meine Aufgabe sein, hier nochmals eine ausführliche Uebersicht über den Inhalt dieses Bandes zu geben; ich werde mich im Gegenteil darauf beschränken, einige Punkte kurz hervorzuheben.

Der Umfang des Bandes ist von 270 auf 345 Seiten gestiegen, und mehr als in der ersten Auflage wurde minder Wichtiges durch Kleindruck als solches gekennzeichnet. Die Variationskurven wur- den viel ausführlicher besprochen und die Darstellung der ver- schiedenen Variabilitätsformen wurde in mancher Hinsicht erweitert und abgeändert.

Die Aufmerksamkeit der Botaniker sei auf die Tabellen auf S. 25 und 26 gelenkt, welche zur Vergleichung dienen der von de Vries gegebenen, botanischen Bezeichnungen der verschiedenen Formenkreise, mit denen des Verfassers, welche sich nur auf Kultur- pflanzen beziehen und den in landwirtschaftlichen Kreisen üblichen mehr angepasst sind.

Selbstverständlich wurden die Abschnitte über Bastardierung, unseren jetzigen erweiterten Kenntnissen gemäß, vollständig um- gearbeitet.

Ob es ein glücklicher Gedanke war, zumal im theoretischen Teile, einige größtenteils schematische Figuren einzufügen, wage ich zu bezweifeln. Das Buch war ohne Figuren geplant und die gegebenen machen es weder schöner noch besser. Aber wie dem auch sei, jedenfalls unterscheidet sich die neue Auflage in vielen wichtigen Punkten und sehr zu ihrem Vorteile von der ersten, und es wird gewiss das Buch in seiner geänderten Form seinen Weg noch besser als früher finden.

Ueber den zweiten Teil brauche ich hier nicht ausführlich zu refe- rieren. Diese spezielle Darstellung der landwirtschaftlichen Pflanzen- züchtung wendet sich natürlich mehr an die Züchter im engeren Sinne des Wortes. Ursprünglich hatte der Verfasser ein Zusammen- wirken mehrerer Autoren auf diesem Gebiete geplant, das sich aber nicht verwirklichen ließ. So war eine nur teilweise Bearbei- tung die Folge. Verschiedene Pflanzen werden nacheinander be- sprochen: Mais, Futterrübe, Kohlrübe, Wasserrübe, Kopfkohl, Möhre, /achorie, Winterraps, Winterrübsen, Leindotter, Weißer Senf, Sonnen- blume, Mohn und eine Anzahl verschiedener Gräser.

Zunächst werden bei jeder Pflanzenart die Blühverhältnisse dargestellt; ein weiterer Abschnitt ist den Befruchtungsverhältnissen gewidmet. Dann folgt ein Abschnitt über Korrelationen, welcher lehrt, wie groß bei Variabilität großen Umfanges die Aussicht ist, eine bestimmte Veremigung von Eigenschaften zu erhalten, und auch wie weit in der Regel bei Veredlungsauslese ein gleichförmiges oder entgegengesetztes Abändern einzelner Eigenschaften bei Aus- lese in bestimmter Richtung zu erwarten ist. Der letzte Abschnitt,

Wasmann, Wissenschaftliche Beweisführung oder Intoleranz ? 621

über Durchführung der Züchtung, zerfällt meist in drei Teile: über Veredlungsauslese, Auslese spontaner Variationen u. s. w. und Bastar- dierung. Moll. [71]

Wissenschaftliche Beweisführung oder Intoleranz? Eine letzte Erwiderung an Herrn Prof. Aug. Forel. Von E. Wasmann N. J.

Vor zwei Jahren "hatte ich in Bd. 23, Nr. 16 und 17 des Bio- logischen Centralblattes eine durchaus sachlich gehaltene Kritik der monistischen Identitätstheorie Forel’s veröffentlicht, auf welche er jetzt endlich in Bd. 25, Nr. 14 und 15 geantwortet hat. Ich glaubte, Forel’s Antwort würde sich ebenfalls in den Schranken einer ruhigen, sachgemäßen Erörterung halten. Diese Erwartung hat sich leider nicht bestätigt, wie schon der Titel von Forel’s Abhandlung „Naturwissenschaft oder Köhlerglaube“? andeutete.

Zweierlei ist mir aus der Antwort meines geschätzten Herrn Kollegen klar geworden: 1. Er bestreitet die Berechtigung einer logischen Kritik seiner monistischen Theorie. 2. Er bestreitet mir persönlich die Kompetenz, in den wichtigsten wissenschaftlichen Fragen mitzusprechen, weil ich als Jesuit ein Anhänger des „Köhler- glaubens“ seı.

Für die Kontroverse, um die es sich zwischen uns ursprüng- lich handelte, würde die Erörterung des ersten dieser beiden Punkte völlig genügen. Da jedoch Forel selbst, um sich die Beweis- führung mir gegenüber zu erleichtern, auf jenes zweite Gebiet über- gesprungen ist, so darf ich ihm auch hierauf die Antwort nicht schuldig bleiben, damit man nicht sagen könne: qui tacet, consen- tire videtur. In der Tat scheint mir in der Stellungnahme Forel’s zu der letzteren Frage eine zweifellose Intoleranz gegen Anders- denkende zu liegen.

1. Der erste Punkt bedarf überhaupt eigentlich keiner neuen Erörterung mehr. Es ist Forel nicht gelungen, meine Beweis- führung gegen seine monistische Identitätstheorie zu entkräften. Was er über die theoretischen Erkenntnisprinzipien vorausschickt, vermag ich nicht in allen Punkten zu billigen. Die einfache Wahr- heit, dass das Material für unsere Erkenntnis aus der äußeren und inneren Beobachtung geschöpft werden muss, war mir freilich ebensogut bekannt wie ihm. Sobald wir jedoch zur abstrakten Verarbeitung des aus der Sinneserkenntnis gewonnenen Materials übergehen, müssen wir, wenn wir nicht mit der Wahrheit ein frevelhaftes Spiel treiben wollen, logisch richtig denken. Logisch richtig denken ist aber gleichbedeutend mit syllogistisch denken. Wissenschaftliche Schlüsse, mögen sie nun der deduktiven oder der induktiven Gedankenreihe angehören, müssen notwendig auf logisch richtige Syllogismen sich zurückführen lassen sonst sind sie eben

6223 Wasmann, Wissenschaftliche Beweisführung oder Intoleranz ?

7

falsch. Es kann daher nur mein Mitleid erregen, wenn Forel (S. 489) meint, es sei eine „harmlose Kinderei“, „wissenschaftliche Fragen mit Syllogismen behandeln oder gar lösen zu wollen“. Ein streng logisches Denken wird niemals zu Fehlschlüssen führen, wohl aber jenes unklare und ruhelose Überspringen von einer Frage auf die andere, das einer syllogistischen Prüfung nicht stand zu halten vermag.

Da ich nun aber einmal bei meinem Kollegen Forel in dem Verdachte stehe, gegenüber der monistischen Identitätstheorie mit allzu parteiischer Logik vorgegangen zu sein, möchte ich auf einen von Karl Stumpf, Professor der Philosophie an der Universität Berlin, am 4. August 1896 gehaltenen Vortrag über „Leib und Seele“ verweisen); derselbe bildete die Eröffnungsrede des da- maligen internationalen Kongresses für Psychologie in München. Professor Stumpf steht jedenfalls nicht in dem Rufe, ein „Jesuit“ und ein Anhänger des „Köhlerglaubens“ zu sein; deshalb ist sein Urteil in dieser Frage wohl um so eher als „voraussetzungslos“ anzuerkennen. Als ich vor zwei Jahren meine Kritik der Identitäts- theorie im Biologischen Centralblatt veröffentlichte, war mir jener Vortrag noch unbekannt, indem ich erst später auf denselben auf- merksam wurde. (In der soeben erschienenen 3. Auflage meiner Schrift „Instinkt und Intelligenz im Tierreich“ [Freiburg ı. B. 1905] habe ich ihn im 12. Kapitel eingehend berücksichtigt.) Da jener Vortrag Stumpf’ allen, die sich für ihn interessieren, im Original zugänglich ist, werden hier einige kurze Bemerkungen genügen. Auf S. 15ff. unterzieht er die monistische „Zweiseitentheorie“ einer strengen Kritik und zeigt, dass sie dunkel und unklar sei, der sach- lichen Begründung entbehre und zur Erklärung des zu lösenden Problems nichts beitrage. Dann geht er zu den übrigen Formen der Parallelitätslehre über, welche das Geheimnis des Zusammen- hanges zwischen Physischem und Psychischem als ein unauflös- liches betrachten. Auch sie unterwirft er einer strengen Kritik und kommt dabei zum Schlusse, dass sie alle vergeblich versuchen, den in dem physischen und psychischen Geschehen tatsächlich vor- handenen Dualismus unter dem Mantel des Monismus zu ver- schleiern. Der Vorwurf des „Dualismus“, der von monistischer Seite erhoben wird, braucht uns, wie Stumpf (S. 36) richtig be- merkt, nicht sehr zu stören. „Vielen scheint er (der bloße Name Dualismus) wie das ärgste Schimpfwort zu klingen, das sie in keinem Falle auf sich sitzen lassen möchten; die jammervollste Konfusion ist ihnen lieber als ein Dualismus. Ich kann darin nichts so Fürchterliches finden, solange nur die Einheit des Zusammenwirkens und der obersten Gesetze gewahrt bleibt.“

I) In zweiter Auflage unverändert herausgegeben. Leipzig 1903.

Wasmann, Wissenschaftliche Beweisführung oder Intoleranz ? 623

Ich bin der Ansicht, dass es nur einen einzigen wahren Monismus gibt, nämlich die Einheit der ersten Ursache alles Seienden, welche wir Gott nennen, und die aus ihr entspringende Einheitlichkeit der Gesetze, die das Zusammenwirken der verschiedenen Formen des Seins regeln. Aber zu jenem anderen Monismus, der auf psychologischem Gebiete „Seele“ und „Leib“, und auf naturphilo- sophischem Gebiete „Gott“ und „Welt“ nur für zwei verschiedene Erscheinungsweisen oder Äußerungsweisen einer und derselben Realität hält, kann ich mich nicht bekennen, weil ich ihn durch mein logisches Denken als unhaltbar erkenne. Das ist kein „Köhler- glaube“, sondern meine wissenschaftliche Überzeugung.

2. Ich kann es im Interesse Forel’s nur bedauern, dass er von unserer Kontroverse über die vergleichende Psychologie und ihre Grundlagen auf den „Köhlerglauben* übergesprungen ist, den er mir zum Vorwurfe macht. Die Erkennbarkeit Gottes, und zwar eines „persönlichen“, d.h. von der Welt substantiell verschiedenen Gottes gehört zum großen Teile noch in das Gebiet der natürlichen Erkenntnis, nicht in dasjenige der übernatürlichen Offenbarung wie Forel (S. 489) meint. Dass er den in der christlichen Philosophie und Theologie landläufigen Unterschied zwischen natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis nicht gekannt hat, ist ıhm als Nichttheologen zu verzeihen; aber er hätte lieber von einer Sache . schweigen sollen, die ihm völlig fremd war. Wenn ein Theologe käme und über die Stammesentwickelung der Paussiden aburteilen wollte, ohne die geringste Kenntnis auf diesem Gebiete zu haben, so würde ich ihm sagen: „mein lieber Freund, das verstehst du nicht; deshalb lass es lieber bleiben.“ Darf man aber nicht das- selbe sagen, wenn jemand, der gar keine theologische Bildung be- sitzt, über das Verhältnis zwischen Wissen und Glauben und über die Glaubenslehre selber urteilen will? Der von Forel mir ge- machte Vorwurf des „Köhlerglaubens“ berührt mich daher nicht im geringsten, weil er auf theologischer Unkenntnis beruht. Aller- dings werde ich es mir mit Recht verbitten dürfen, dass man in einer wissenschaftlichen Kontroverse dazu seine Zuflucht nehme, den Gegner so leichten Kaufes des „Köhlerglaubens“ zu beschul- digen, um ihn in den Augen der Leser als inkompetent hinzustellen.

Zu meiner Verwunderung beruft sich Forel (S. 526) auch auf ein vertrauliches Zwiegespräch, welches wir einst über unsere Weit- anschauung hatten. Dass wir uns damals es war im August 1890 in freundschaftlicher Weise auch über diese Fragen be- sprachen, ist mir noch in angenehmer Erinnerung. Aber ich finde es befremdlich, den Inhalt jenes Gespräches jetzt in einer gegen mich gerichteten Streitschrift, die mich des „Köhlerglaubens“ be- schuldigt, verwertet zu finden. Befremdlich ist es mir ferner, den Inhalt jenes Gespräches, das vor 15 Jahren stattgefunden, in so

624 Wasmann, Wissenschaftliche Beweisführung Oder Intoleranz? Li

bestimmter Form hier wiedergegeben zu sehen, während es sich doch nur um eine ganz freie Reproduktion desselben handeln kann. Dass die Grundlagen der Offenbarung nicht durch die natürliche Vernunft beweisbar seien, habe ich Herrn Forel sicherlich niemals zugegeben. Dass aber das kanonische Recht darüber zu entscheiden habe, was Glaubenslehre sei und was nicht, das ist ein Schnitzer, der selbst einem einjährigen Studenten der Theologie die Scham- röte in das Gesicht treiben müsste. Es müssen Herrn Forel somit bei der Wiedergabe jenes Gespräches bedenkliche Gedächtnis- täuschungen unterlaufen sein.

Auch auf die von mir vertretene Entwickelungstheorie ist Forel (S. 524) zu sprechen gekommen. Es sind ihm dabei ähn- liche Missverständnisse unterlaufen wie Escherich in seiner Kritik in der „Beilage zur Allgem. Zeitung“, auf welche Forel sich be- ruft. Escherich hat aber dieselben später (Beilage z. Allgem. Zeitung vom 9. März 1905) großenteils selber als solche anerkannt und berichtigt. Forel hätte übrigens aus meinem Buche „Die moderne Biologie und die Entwickelungstheorie“ (Freiburg ı. B. 1904), das er von mir besitzt, sich hinreichend über meine wirk- lichen Anschauungen orientieren können. Er hätte dann wohl die „mit Haut und Haar und Knochen“ von Gott unmittelbar ge- schaffenen „Urpferde“, „Urmenschen“ u. s. w., die er mir (S. 525) zuschreibt, als Gebilde seiner eigenen Phantasie mühelos erkannt. Mit solchen tendenziösen Verdrehungen meiner Ansichten widerlegt man mich nicht, sondern beweist nur die eigene Voreingenommen- heit, die das ruhige Urteil trübt. Dem gegenüber möchte ich hier auf die viel objektiver gehaltene Besprechung meines obigen Buches durch Emery (Biolog. Centralblatt 1905, Nr. 5, S. 159) verweisen.

Am Schlusse seiner Arbeit (S. 526) hat sich Forel über das S. J. (Societatis Jesu) hinter meinem Namen ein Wortspiel erlaubt; das ich wenigstens in einer wıssenschaftlichen Zeitschrift kaum er- wartet hatte. Ob dadurch seine Beweisführung an Kraft und Würde gewonnen, lasse ich dahingestellt sein. Ich kann jedoch Herrn Forel und allen meinen übrigen Kollegen die Ver- sicherung geben, dass ich es mir zur hohen Ehre anrechne, Mit- glied des Jesuitenordens zu sein. Der von Forel konstruierte (segensatz zwischen dem S, das er mit „Sciens“ übersetzt, und dem J, das für ıhn „Jesuit“ heißt, besteht in Wirklichkeit nicht. Alles was ich an wissenschaftlicher Bildung besitze, habe ich direkt oder indirekt dem Orden zu verdanken, dem ich seit 30 Jahren angehöre und den ich als meine geistige Mutter verehre. Wer diesen Standpunkt nicht verstehen kann, der möge ihn wenigstens

achten. [79] Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer.

Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Biologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

ZXV Ba 1. Oktober 1905. Ne 19.

Inhalt: Huber, Uber die Koloniegründung bei Atta sewdens (Schluss), Hollrung, Jahresbericht über die Neuerungen und Leistungen auf dem (Gebiete der Pflanzenkrankheiten. Müller, Jahrbuch der landwirtschaftlichen Planzen- und Tierzüchtung. Wheeler, Some Remarks on Temporary Social Parasitism and the Phylogeny of Slavery Among Ants. Wasmann, Nochmals zur Frage über den Ursprung der temporär gemischten Kolonien und den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen. Grassberger und Schattenfroh, Über die Beziehungen von Toxin und Antitoxin.

Über die Koloniengründung bei Atta sexdens. Von Dr. Jakob Huber (Parä). (Schluss. )

Dass hier das Verhältnis noch ungünstiger liegt, ist ohne Zweifel dem Umstand zuzuschreiben, dass vom Erscheinen der Larven an auch diese mit Eiern gefüttert werden. Die Fütterung der Larven ist etwas schwieriger zu sehen als das Düngen, Eierlegen und Eierfressen des Weibchens, da die Larven nur selten so günstig liegen, dass man sie beim Fressen gut be- obachten kann. Doch ıst es mir schon wiederholt geglückt, die Prozedur von Anfang bis Ende unter der Lupe zu verfolgen. Nach- dem die Mutterameise das Ei zur Welt gebracht hat, betastet sie dasselbe zuerst während einiger Sekunden und wendet sich sodann an eine Larve, welche sie mit den Fühlern kitzelt, bis dieselbe an- fängt ihre Kiefer zu bewegen, worauf das Ei meist mit ziemlicher Kraft mit einem seiner Enden zwischen die Kiefer gestoßen wird, welche nun fortfahren sich gegen dasselbe zu bewegen. Dabei steht das bald senkrecht vom Körper der Larve ab, bald (und dieser Fall ıst der häufigere) liegt es mehr oder weniger ihrer Bauchseite an (Fig. 20 a). Im letzteren Fall drückt die Mutter- ameise das Ei oft noch durch einen Fußtritt an. Ist die Larve

XXV. 40

626 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

noch klein, so wird das Ei gewöhnlich nach kurzer Zeit wieder weggenommen und einer anderen Larve gegeben; eine große Larve jedoch ist im Stande, ein Ei im Verlauf von 3—5 Minuten voll- ständig auszuschlürfen, sodass nur noch die kollabierte Eihaut übrig bleibt (Fig. 20c), die später von der Mutterameise weggeleckt wird. Wenigstens habe ich einmal deutlich beobachten können, dass eine Larve, deren Mundteile in lebhafter Bewegung eine leere Eihaut bearbeiteten, von der Mutterameise beleckt wurde, worauf die Ei- haut verschwunden war und die Bewegung der Mundteile gänzlich aufhörte. Das schnelle Ausschlürfen des Eies, wobei die Larve

Fig. 20. Fig. 21.

Fig. 20. Larvenfütterung. a, b, c aufeinanderfolgende Stadien des Ausschlürfens des Eies. Vergr. ca. lOfach. (Zeichnung, verkleinert nach Mikrophoto-

graphien.) Fig. 21. Mutterameise über ihrem Nest, nach dem Erscheinen der ersten Ar- beiterinnen, von oben gesehen. (In flacher Kristallisationsschale.)

zusehends anschwillt, ist wohl der Grund, dass man nicht oft eine Larve mit einem Ei vor dem Mund zu sehen bekommt. Dass jedoch das Füttern der Larven mit Eiern recht häufig ausgeübt wird, habe ich bei längerer Beobachtung jedesmal konstatieren können. So habe ich z. B. an einem Vormittag bei zweistündiger Beobachtung 4malige Eiablage mit jedesmaliger Verfütterung an Larven, an einem Nachmittag bei ebenfalls zweistündiger Über- wachung sogar 8malige Eiablage mit 4maliger (in Wirklichkeit wohl noch öfterer) Fütterung beobachtet.

Ich vermute, dass die Eier, wenigstens bis zum Erscheinen der ersten Arbeiter, die ausschließliche Nahrung der Mutterameise und

Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens. 627

ihrer Brut sind. Nie habe ich gesehen, dass das Attaweibchen den Larven Mycel oder Kohlrabi von Roxites gereicht hätte.

Auch die Mutterameise selbst habe ich, im Gegensatz zu den Beobachtungen v. Ihering’s, nie Kohlrabi fressen gesehen. Diese Bildungen erscheinen zwar am Pilzgarten, sobald er etwa einen Monat alt ist, aber es ist mir aufgefallen, wie gleichgültig sich das Attaweibchen ihnen gegenüber verhält. Verschiedene Male habe ich sogar versuchsweise einer Mutterameise, die ihren Pilz ver- loren hatte, ein mit Kohlrabihäufchen besetztes Stück erwachsenen Pilzgartens gereicht, das sie auch sofort in Kultur nahm, ohne jedoch von den Kohlrabi Notiz zu nehmen. Diese waren noch wochenlang nach Beginn des Versuchs vollständig intakt und verschwanden schließlich nur, weil sie allmählich von Mycel überwuchert wurden. Vielleicht der beste Beweis dafür, dass der Pilz in der ersten Brutperiode bis zum Erscheinen der Arbeiter als Nahrungsmittel keine unentbehrliche Rolle spielt, ist der Umstand, dass ein Attaweibchen im Stande ist, ohne den Pilz die Brut (allerdings in reduzierter Zahl) zur Reife zu bringen. Diesen Fall habe ich allerdings in der Natur niemals und in künstlicher Kultur nur einmal beobachtet. Ein am 12. März ausgeflogenes Weibchen hatte bis zum 17. März aus ihrer Pilzkugel noch kein Mycel erzogen; die Kugel blieb schwarz. Am 18. März wurde ihm von einer anderen Ameise ein: Teil des Pilz- gartens gegeben, welcher sofort in Kultur genommen wurde und zuerst gut gedieh, aber in den ersten Tagen des April einging. Von da an wurde ohne Pilz gewirtschaftet. Die Zahl der Larven und Puppen war allerdings geringer als in anderen gleichaltrigen Kolonien, aber am 25. April waren dort schon 2 Arbeiterinnen und zwar verhältnismäßig große, und am 30. April sogar 7 ganz muntere Arbeiterinnen vorhanden.

Das Verspeisen von Eiern durch isolierte Ameisenweibchen ist zwar schon wiederholt durch das Verschwinden schon gelegter Eier auf indirektem Wege bewiesen, aber meines Wissens noch nie direkt beobachtet worden). Was das Füttern der Brut durch alleinstehende Mutterameisen anbelangt, so sind sowohl Janet wie Forel, wenn ich recht verstehe, der Ansicht, dass die Larven mit den von der Mutterameise in ihrem „sozialen Magen“ (jabot) aus den gefressenen Eiern aufbereiteten Nahrungssaft gefüttert werden. Dies ist nun allerdings bei Atta nicht der Fall: Die Eier werden hier direkt den Larven vorgesetzt. Ob diese. Art der Larven- fütterung bei anderen Ameisen auch vorkommt, darüber haben ver- gleichende Untersuchungen zu entscheiden. Auffallend ist. jeden-

1) Cf. Janet. Etudes sur les Fourmis. 3°me note. Bull. Soz. zool. de France 1893 T. XVIII p. 169—170, und Forel Biol. Centralbl. XXV p. 178—179.

40*

628 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

falls, dass bei Atta auch später die Larven nicht mit dem Magen- inhalt der Arbeiterinnen, sondern direkt mit Kohlrabi gefüttert werden.

Mit dem Erscheinen der ersten Arbeiterinnen beginnt für die junge Kolonie ein neuer Daseinsabschnitt. Einerseits treten an die- selbe neue Ansprüche heran, da die jungen Arbeiterinnen ohne Zweifel einen guten Appetit auf die Welt mitbringen; anderseits erwächst aber der Mutterameise eine nicht zu verachtende Hilfe beı der Pflege des Pilzgartens und der Brut, da die Arbeiterinnen vom ersten Moment ihres Daseins an bestrebt sind ihrem Namen Ehre zu machen. Die vielseitige, Intelligenz und Geschick er- fordernde Tätigkeit des Attaweibchens hört allerdings nicht plötz- lich auf, schon deshalb, weil die Arbeiter erst nach und nach herauskommen. Vom Erscheinen der ersten Arbeiterinnen an, die fast ohne Ausnahme der kleinsten Kaste von nur 2 mm Körper- länge angehören, nımmt ıhre Zahl täglich um 3—4 zu. Bald, aus- nahmsweise schon am ersten Tage, erscheint auch eine etwas größere Kaste von schon 3 mm Körperlänge. Die ersten Arbeiter- innen müssen natürlich noch von der Königin selbst abgeleckt, massiert und aufgerichtet werden. Sınd aber einmal einige Ar- beiterinnen vorhanden, so übernehmen diese ın Zukunft die Be- handlung der reifen Puppen bis zum Ausschlüpfen und die Königin beteiligt sich nur noch selten bei dieser Prozedur. Die Pflege des Pilzgartens wird von jetzt ab zwischen der Mutterameise und den Arbeiterinnen geteilt. Die erstere fährt fort den Garten in ge- wohnter Weise zu düngen, indem sie einzelne Flocken abreißt und zum After führt. Aber auch die jungen Arbeiterinnen düngen den Pilzgarten, indem sie einfach ihre Exkremente in Form von kleinen gelblichen Tröpfchen auf ıhn fallen lassen. Es ist drollig zu sehen, wie sie darauf sorgfältig die betreffende Stelle befühlen und wie bisweilen auch die Mutterameise herzukommt und befriedigt von der getanen Arbeit Notiz nimmt, indem sie die Stelle ebenfalls betastet und den Pilz ringsumher flüchtig beleckt. Außerdem fangen die jungen Arbeiterinnen jetzt an, kleine Mycel- flöckchen auf die frisch gedüngten Stellen zu transportieren, sodass der sich erhöhende Rand des Pilzgartens stellenweise aus kleinsten Flöckchen aufgebaut erscheint. Durch die vereinte düngende Tätig- keit der Königin und der Arbeiter nımmt der Durchmesser des Pilzgartens bisweilen noch etwas zu, übersteigt aber wohl selten 2,5 cm, bevor das Blattschneiden beginnt. Die Larven, deren Zahl jetzt wieder stark zunimmt, werden auch jetzt noch mit Eiern ge- füttert. Hier ist es besonders interessant zu sehen, wie der Mutter- ameise allmählich von den sich mehrenden Arbeiterinnen die Haupt- arbeit abgenommen wird. Oft kommt es noch vor, dass die Mutter-

Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexwdens. 629

ameise das Ei einer Larve nach allen Regeln der Kunst zwischen die Kiefer stößt, aber ın manchen Fällen kann man beobachten, (dies kommt allerdings auch schon vorher bisweilen vor) dass das Ei nicht ganz an die rechte Stelle kommt oder überhaupt nur irgendwo auf dem Nest deponiert wird, wo die Arbeiterinnen das- selbe packen und einer Larve reichen. Wie die Mutterameise, so reizen auch die Arbeiterinnen die Larven durch kitzeln mit den Fühlern zur Bewegung der Mundwerkzeuge, während das Ei ge- reicht wird. Meist konnte ich außerdem beobachten, dass ein Ei

a Fig. 22.

Pilzgarten mit Brut, nach dem Erscheinen der ersten Arbeiterinnen.

Am Rande des Pilzgartens sind neben den größeren Dungtropfen der

Mutterameise auch kleinere von den Arbeiterinnen herrührende zu sehen. Vergr. 3fach. (In flacher Kristallisationsschale.)

nacheinander verschiedenen Larven gereicht wurde und dass dabei die Arbeiterin dasselbe langsam mit ihren Kiefern ausdrückte.

Die Nahrung der Arbeiterinnen besteht aus Kohlrabi, die ja schon längere Zeit vorhanden waren und jetzt in größerer Anzahl am Rand des Pilzgartens erscheinen. Meist sind die kleinen Ar- beiterinnen noch nicht im Stande, ein Kohlrabihäufchen vollständig aufzufressen. Bisweilen werden dieselben nur an Ort und Stelle angebissen und der in kristallhellen Tropfen austretende Inhalt ab- geleckt, öfter jedoch werden sie abgerissen und von 2 oder 3 Ar- beiterinnen gemeinsam gefressen oder von einer zur anderen weiter gegeben. Es ist nun allerdings nicht unwahrschemlich, dass bei der Fütterung der Larven auch die Arbeiterinnen gelegentlich etwas

630 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

von dem aus den Eiern ausfließenden Saft aufsaugen. Einmal konnte ich sogar beobachten, wie eine Arbeiterin versuchte, ein Ei zwischen Mandibeln und Maxillen auszudrücken, wobei sie jedoch von einer andern Arbeiterin gestört wurde).

Was die Ernährung der Königin anbetrifft, so muss ich ge- stehen, dass ich über dieselbe noch keine Klarheit habe. Denn vom Erscheinen der jungen Arbeiter an habe ich nur ein einziges Mal, und auch da nicht mit völliger Sicherheit, beobachten können, dass eine Königin ein Ei gefressen hätte; so oft ich sie sonst Eier legen sah, wurden dieselben entweder deponiert oder den Larven gegeben. Kohlrabi frisst die Königm so wenig wie früher. Da- gegen habe ich oft beobachtet, dass eine Arbeiterin sich der Königin näherte, ihre Mandibeln weit öffnete und ihre Zunge der Königin darbot, welche sodann einige Sekunden daran leckte. Anfangs glaubte ich, dass es sich um eine Fütterung der Arbeiterinnen durch die Königin handelte; da jedoch die Arbeiterinnen Kohlrabi fressen, so erscheint dies wenig wahrscheinlich und die plausibelste Annahme ist wohl, dass die Arbeiter der Königin von ihren Nahrungssäften darbieten. Immerhin bedarf dieser Punkt erneuter Untersuchung und definitiver Aufklärung.

Unter den Arbeiterinnen, die, wie oben bemerkt, anfangs in 2 Größen vorhanden sind, lässt sich vorderhand noch keine deut- liche Arbeitsteilung erkennen. Einige Tage lang sieht man sie überhaupt fast ausschließlich auf den Pilzgärten beschäftigt, nur selten wagt sich die eine oder andere ein paar Schritte davon weg. Erst nach etwa einer Woche sah ich einzelne Arbeiterinnen mit Erdarbeiten beschäftigt, ohne dass ich deutlich den Eindruck hatte, dass es sich um Anlegen eines Ausganges handle. Jetzt erschienen aber auch nach und nach schon großköpfige Arbeiterinnen, die 4-5 mm lang sind. Bei einer meiner Kulturen habe ich am 9. Tage nach Erscheinen der ersten Arbeiterinnen, als ungefähr 35 derselben existierten, zum ersten Mal die jungen Arbeiterinnen lebhaft mit Minierarbeiten beschäftigt gesehen und zwar wurden nach ver- schiedenen Seiten etwa 2 mm breite Gänge gegraben, wobei sich auch die allerkleinsten Arbeiterinnen beteiligten. Bei einer andern Kolonie habe ich endlich am 2. Mai, 10 Tage nach dem Erscheinen der ersten Arbeiter, die Anlage eines Ausführungsganges beobachtet, dessen Mündung bald von einem ziemlich hohen aus Erde aufge- schütteten Krater umgeben war (Fig. 25). Bei einer andern Kolonie, die wie auch die obigen am 12. März angesetzt worden war, zeigte sich am 5. Mai die gleiche Erscheinung. In beiden Fällen wurden von den gebotenen Rosenblättern sofort Stücke abgeschnitten und

1) Dass bei Mangel an Kohlrabi es auch in älteren Kolonien vorkommt, dass . d ° 1. n . . . = . au die Arbeiterinnen Eier fressen, habe ich selbst in einem Falle konstatieren können.

Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexwdens. 631

in den Bau eingetragen. Damit ist die Übergangsperiode abge- schlossen und der Aufbau des definitiven Pilzgartens beginnt. Im Freien habe ich bis jetzt allerdings noch keine Ausführungsgänge angetroffen, doch ist durch obige Versuche gezeigt, dass 7 Wochen nach Beginn der Kolonie- gründung die jungen Ar- beiter schon ım stande sind, sich mit der Außen- welt in Verbindung zu setzen und mit dem Blatt- schneiden zu beginnen.

Um den Aufbau des definitiven Pilzgartens ge- nau beobachten zu können, wurde am Vormittag des 30. April in eine Kristallı- ? en. Ä sierschale ohne Erde, in SE FETTE TEE

welcher sich eine Königin Pilzgarten und Königin 3 Tage nach Beginn mit ihrem provisorischen des Blattschneidens, von oben gesehen. Eine Ar- beiterin füttert (?) eben die Königin. Nat. Gr.

Pilzgarten und mehr als 30 jungen Arbeiterinnen be- fand, ein Rosenblatt gelegt. Drei Stunden später fand ich dasselbe angeschnitten und schon die zu kleinen unförmlichen Brocken zu- saınmengekneteten Frag- mente an verschiedenen Stellen dem Rand des Pilz- gartens eingefügt. Wäh- rend des Nachmittags wur- den Mycelflöckchen von

andern Stellen, namentlich 1 in RE EEE auch mu der Unterseitedes Pilzgarten und Königin 3 Tage nach Beginn Pilzgartens, auf die Blatt- des Blattschneidens, von oben gesehen. (Beide partikelchen gepflanzt. An Figuren beziehen sich auf Versuchsserien in

den folgenden Tagen wurde flachen, leeren Kristallisationsschalen.)

durch fortwährendes Auf-

bauen von neuen Blattfragmenten mit nachfolgendem Bepflanzen mit Mycel') der Rand des Pilzgartens bedeutend Schal, so dass die Brut bald ın eine deutliche Konkr zu liegen kam, Fig. 23 u. 24), die schließ-

1) Das zuerst von Herrn Prof. Goeldi beobachtete Verpflanzen des Mycels durch die kleinsten Arbeiterinnen ist für den Aufbau des Pilzgartens von ganz be- sonderer Wichtigkeit.

632 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

lich (am 4. Mai) noch fast vollständig überwölbt wurde, während seitlich daran schon der Anfang zur Anlage peripherischer Kammern gemacht wurde, von denen eine als Aufbewahrungsort für die schon mehr oder weniger zerkleinerten und gekneteten Blattstücke diente. Während des Blattschneidens, an welchem sich begreiflicherweise nur die größten Individuen betätigen können, und dem Aufbau des definitiven Pilzgartens, an welchem auch die kleinsten Arbeiterinnen teilnehmen, scheint das Düngen nicht mehr ausgeübt zu werden, wenigstens habe ich es nicht nel beobachtet!). Die Königin scheint sich mit der neuen Mode der Pilzzüchtung nur schwer zu be- freunden. Sie hält sich jetzt öfters unbeweglich und wie schmollend seitwärts vom Pilzgarten auf und kommt nur herbei um die Arbeit zu überwachen und etwa flüchtig am Pilzgarten zu lecken, sowie um Eier zu legen und den Larven zu geben, wobei ihr aber öfter

Fig. 25.

Ausgangsöffnung (a) einer jungen Kolonie. g Glasplatte über der Nesthöhle. Daneben sieht man angeschnittene Rosenblättter und ein auf dem Rand der Öffnung liegen gelassenes Blattstück. Etwas verkleinert. (In einer flachen Kri- stallisationsschale.)

die Arbeiterinnen zuvorkommen und das Ei ıhr aus den Mandibeln oder selbst schon vom Abdomen wegnehmen.

Überhaupt beginnt nun für de Königin eine Zeit des all- mählichen Rückschrittes, welcher mit der schließlichen Herab- würdigung der sorgenden und emsig tätigen Mutter zu einer bloßen Eierlegmaschine endigt. Der tr eibende Faktor bei dieser allmählıchen Rückbildung Bes hauptsächlichin der Überzahlder Arbeiterinnen,

1) Es ist jedoch wahrscheinlich, dass später zu gewissen Zeiten, besonders wenn im Blattschneiden eine längere Pause eintritt, das Düngen des Pilzes mit den Üxkrementen der Arbeiterinnen eine wichtige Rolle spielt. Trotz großer darauf verwendeter Aufmerksamkeit habe ich bei definitiven Pilzgärten ein Düngen mit Exkrementen nur in wenigen Fällen beobachten können. Dass dasselbe aber wahr- scheinlich in großem Maßstabe ausgeübt wird, ist schon daraus zu schließen, dass oft auf den schon gelb gewordenen Partien älterer Pilzgärten, in denen die Blatt- fragmente schon vollständig ausgesogen sind, eine massenhafte Bildung von Kohlrabi erscheint.

Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens. 633

welche der Mutterameise bei ihren Verrichtungen überall in die @Quere kommen, und dem schnellen Wachstum des Pilzgartens, das eine Besorgung und selbst eine genügende Überwachung von Seiten der Mutterameise. vereitelt. Wahrscheinlich ıst auch die neue Methode der Pilzzüchtung der Königin nicht mehr sympathisch, so dass sie es aufgibt, sich daran zu beteiligen. Wir haben weiter oben schon gesehen, dass die Besorgung der reifen Puppen die erste Verrichtung ist, welche die Königin gänzlich den Arbeiterinnen überlässt. Die Besorgung der Larven beschränkt sich schon während des Übergangsstadiums auf die Verabreichung der Eier, die, wie wir gesehen haben, immer mehr den Arbeitern überlassen wird. Mit dem fortschreitenden Aufbau des Pilzgartens werden die Larven

Fig. 26.

Junge Adoptionskolonie von Atta sexdens. Der Pilzgarten hat schon

zahlreiche Kohlrabihäufchen, die als weiße Punkte sichtbar sind. Die

Königin (k) ist nur undeutlich sichtbar. (In Goeldi’schen Beobach- tungskasten.)

(und auch die Eier) allmählich ausser Bereich der Mutterameise gerückt.

Dass im Anfang das Füttern der Larven mit Eiern noch fort- dauert, ist nicht zu verwundern, da zu dieser Zeit die Zahl der Kohlrabi noch beschränkt-st und kaum für die erwachsenen Arbeiter ausreicht. Indessen habe ich doch einmal beobachtet, wie eine kleine Arbeiterin ein schon zur Hälfte verzehrtes Kohlrabihäufchen einer Larve darbot und schließlich in umständlicher Weise vor dem Mund derselben zerdrückte. Damit ist schon der Anfang gemacht zur späteren Fütterung der Larve mit Kohlrabi, die wahrschemlich allgemein wird, sobald Kohlrabi in Menge vorhanden sind. Wann die Fütterung der Königin mit Kohlrabi, die seinerzeit von Herrn Prof. Goeldi und von mir bei älteren Kolonien wiederholt be-

634 Huber, Über die Koloniegründung bei Atta sexdens.

obachtet worden ist, ihren Anfang nimmt, ist noch nicht festge- stellt worden, wahrscheinlich entschliessen sich die Arbeiterinnen auch dazu, sobald genügend Kohlrabi vorhanden sind. Falls meine Annahme betr. Fütterung der Königin durch die Arbeiterinnen während der Übergangszeit sich als richtig herausstellt, ist damit ein natürlicher Übergang von der ursprünglichen Einahrung zu der vegetabilischen Ernährung mit Kohlrabi gegeben.

Obwohl nun durch die vorstehenden Untersuchungen nachge- wiesen worden ist, dass bei Atta sexdens die Gründung einer neuen Kolonie durch ein isoliertes Weibchen leicht möglich ist und jeden- falls in der Natur oft vorkommt, so ist doch damit die Möglichkeit einer Koloniegründung durch Adoption nicht ausgeschlossen. Ver- schiedene Versuche die ich in dieser Richtung unternommen habe, sind stets günstig ausgefallen. So zeigt Fig. 26 eine Kolonie, die infolge Adoption einer Königin durch Arbeiter aus einem älteren Nest von Atta sexdens entstanden ist. Das Weibchen, welches schon einen Monat gefangen gehalten war, sich also noch mitten in der Brutpflege befand, wurde von den Arbeitern angenommen und in die unterirdische Kammer geschleppt. Zuerst versuchte es noch an der Pilz- und Brutpflege teilzunehmen, wurde aber von den zahlreichen Arbeitern in ersichtlicher Weise daran verhindert, so dass es zuletzt mehr und mehr in dumpfes Vorsichhinbrüten versank und nicht einmal mehr seine Eier selbst in Empfang nahm.

Die wichtigsten Resultate vorstehender Untersuchungen können in folgenden Sätzen zusammengefasst werden.

1. Das befruchtete Weibchen von Atta sexdens ıst imstande, in seiner selbstgegrabenen Erdhöhle allein und ohne von außen kommende Nahrungs- oder sonstige Hilfsmittel eine Kolonie zu gründen.

2. Die Zeit der Entwickelung der Kolonie bis zum Erscheinen der ersten Arbeiterinnen beträgt in Parä im günstigsten Falle 40 Tage; die ersten Larven erscheinen nach etwa 14 Tagen, die ersten Puppen nach einem Monat. Nach dem Erscheinen der ersten Arbeiterinnen vergeht mindestens noch eine Woche, im Freien wahrscheinlich noch längere Zeit (Übergangsperiode), bis die Kom- munikation mit der Außenwelt wieder hergestellt und mit dem Blattschneiden begonnen wird.

3. Der Pilz wird zuerst von der Mutterameise, in der Über- gangszeit auch von den jungen Arbeiterinnen, mit flüssigen Ex- krementen gedüngt.

4. Die Mutterameise nährt sich zuerst von ihren eigenen Eiern, von denen sie nur einen geringen Bruchteil zur Aufzucht ver-

Hollrung, Pflanzenkrankheiten; Müller, Pflanzen- und Tierzüchtung. 635

wendet. Außerdem beleckt sie den Pilz, frisst aber nicht davon. Vom Erscheinen der ersten Arbeiterinnen an wird die Mutterameise Er reinlich von diesen gefüttert. 5. Die Larven werden zuerst von der Mutterameise, während der

De aneenelde auch von den jungen en mit frisch- gelegten Eiern gefüttert, die sie ausschlürfen.

6. Die jungen Arbeiterinnen fressen von Anfang an Kohlrabi.

Parä, 4. Mai 1905.

Hollrung, M., Jahresbericht über die Neuerungen und

Leistungen auf dem Gebiete der Pflanzenkrankheiten. 6. Bd.: Das Jahr 1903. Berlin, P. Parey 1905. 8°. 15 Mk.

Müller, R., Jahrbuch der landwirtschaftlichen

Pflanzen- und Tierzüchtung. Sammelbericht über die Leistungen in der Züchtungskunde und ihren Grenzgebieten. 1. Jahrgang: Die Leistungen des Jahres 1903. Stuttgart, F. Enke 1904.

In einer Zeit, in der die Lösung allgemein biologischer Fragen von allen Seiten angestrebt wird, mittels theoretischer Spekulationen von den einen, mittels Laboratoriumsversuche von den anderen, ver- dienen ganz besonders und mehr als tatsächlich der Fall ist die Arbeiten auf den Gebieten des Pflanzenschutzes, der Pflanzen- und Tierzüchtung Beachtung. Denn auch sie behandeln direkt oder indirekt jene Fragen, aber auf Grund mehr oder minder großer, meist in der freien Natur ausgeführter Versuche und zwar mit Organismen, deren Lebensverhältnisse uns besser bekannt sind, als die irgend welcher anderer, durch die Jahrhunderte oder Jahr- tausende alte Beschäftigung mit ihnen, durch die hohe Bedeutung, die sie meistens für den menschlichen Haushalt haben.

Es dürfte also wohl angebracht erscheinen, auf den Inhalt der genannten beiden Jahresberichte hinzuweisen.

Der 6. Band des von Jahr zu Jahr sich verbessernden H ollrung)- schen Jahresberichtes beginnt mit einem Kapitel von E. Küster über Allgemeine Phytopathologie, der ihm als Leitsatz voran- schickt: „Alle Krankheitserscheinungen sind offenbar ursächlieh zurückzuführen auf irgendwelche Anomalien im Chemismus der Zellen und Gewebe“. Er führt dann eine Arbeit von Klebs an, dem es gelang, durch sich gleichbleibende günstige Bedingungen ein stetiges vegetatives Wachstum von Pflanzen, ohne Bildung von Fort- pflanzungsorganen zu erreichen, welch letztere aber sofort gebildet wurden, wenn die betr. Pflanzen in ungünstigere Bedingungen ver- setzt wurden). „Es ist also die Reihenfolge, in der wir an sogen. normalen Pflanzen bestimmte Gestaltungsprozesse sich abspielen sehen, keine mit den spezifischen Eigentümlichkeiten der Pflanze unauflöslich verbundene Erscheinung, sondern nur eine Folge der

1) Wir erinnern an die entsprechenden Verhältnisse bei der Parthenogenese der Blattläuse und beim Züchten der Schmetterlinge (Ref.).

636 Hollrung, Pflanzenkrankheiten; Müller, Pflanzen- und Tierzüchtung.

unter sogen. normalen Verhältnissen verwirklichten Existensbedin- gungen“. Die weiteren Kapitel dieses Abschnitts behandeln: Ein- fluss abnormaler Nährstoffzufuhr, Transpiration und Assimilation, abnormalen Turgors, abnormaler Belichtung und Temperatur, Ein- fluss von Verwundung, mechanischer Zerrung, von Giften und von anderen Organismen. Der 2. Abschnitt behandelt die spezielle Pathologie, die Naturgeschichte der Krankheitserreger und der von ihnen verursachten Krankheiten. Der 3. Abschnitt handelt von der Pflanzenhygiene. Ergebnisse über die Mengen des von verschiedenen Pflanzenarten verlangten Wassers, über die Rolle der Bodendurchlüftung, die z. B. den Wurzelbrand der Rüben ver- hindert, die Nematodenkrankheit fördert, über bessere Ernährung als Schutz vor und Heilmittel gegen Krankheit, wobei bes. das Kalium von größter Wichtigkeit ist, über die Bedeutung der Kalkoxalat- kristalle in den Pflanzen, die in der Neutralisierung von Kalk zu bestehen scheint, über die Züchtung widerstandsfähiger Varietäten, z. B. auch durch Kreuzung, u.s. w. Der 4. Abschnitt ist den Be- kämpfungsmitteln gewidmet, der Beziehungen zwischen Schäd- lingen und ihren Parasiten, den chemischen und mechan. Mitteln; von ersteren sind bes. die Versuche zur Heilung und Vorbeugung von Krankheiten durch innere Therapie interessant. Nicht nur sogen. organische Krankheiten, sondern auch Parasiten und zwar sowohl Pilze als Tiere (Schildläuse) wurden durch Einführung von Giften (Eisenvitriol u. a.) in dem Stoffwechsel der Pflanzen beseitigt.

Das Müller’sche Jahrbuch erscheint zum ersten Male. Wie der Herausgeber in der Vorrede ausführt, wissen wir über Züch- tungsfragen „betrübsam wenig, ja wir sind vielfach in manchen Fällen über die Erkenntnis selbst der einfachsten Vorgänge nicht hinausgedrungen“. Daran schuld ist einerseits der Mangel an ge- eigneten Versuchsstätten, andererseits die ungenügende metho- dische Behandlung der Züchtungsfragen. Gerade in bezug auf letzteren Mangel dürfte das Jahrbuch recht bedeutenden Nutzen stiften. Es beginnt mit drei Originalarbeiten. R. Anthony handelt über „Die Morphogenie oder Lehre von der Entstehung der Formen“; dieser neue Wissenschaftszweig hat „als Gegen- stand die Erklärung der Merkmale der Lebewesen und das Studium der aktuellen, erblichen Ursachen, von welchen dieselben abhängig sind“. Sie allein führt uns „zur Erkenntnis des Zusammenhanges der verschiedenen Lebewesen, ihrer Genealogie und damit auch zu ihrer Klassifikation, die nichts anderes sem sollte, als der voll- kommenste Ausdruck ihrer Verwandtschaft“. Die Methoden der Morphogenie sind Beobachtung und Versuch. U. Duerst stellt „Betrachtungen über die wissenschaftlichen Methoden zur Erforschung der Geschichte der Haustierrassen“ an. Er teilt sie ein in kulturgeschichtliche (Migrations-, prähistorisch- archäologische, archäologische und sprachwissenschaftliche) und in naturgeschichtliche Methoden (zoologische, paläontologische, ver- oleichend-anatomische, physiologische und zootechnische). Ein sechs Seiten langes Literaturverzeichnis über entsprechende Arbeiten

Wheeler, Some Remarks on Temporary Social Parasitism. 637

dürfte von besonderem Werte sein. E. Tschermak gibt einen Überblick über „DieLehre von den formbilden den Faktor en (Variation, Anpassung, Selektion, Mutation, Kreuzung) und ihre Bedeutung für die rationelle Pflanzenzüchtung“. Die Referate zerfallen in drei Abschnitte: 1. Biologie (Allgemeines, Varıa- tion, Vererbung, Kreuzung, Inzucht, Wachstum, Alter, Abstammung); 2. Pflanzen und : 3. Tierzüchtung. Bei diesen letzteren sind bes. wichtig die Kapitel über Arbeiten aus wissenschaftlichen Grenzgebieten, über Anatomie, Physiologie, Psychologie, geographische Verbrei- tung, tropische Züchtung, Hygiene, Förderung der Züchtung und Volkswirtschaftliches.

Ref. glaubt gezeigt zu haben, dass jeder Biologe eine Un- menge Wissenswertes ın beiden Jahresberichten finden kann, daher ihnen etwas größere Berücksichtigung nicht nur von seiten der Prak- tiker, sondern auch gerade von seiten der „reinen Wissenschaftler“, die nun allzuleicht die Fühlung mit dem wirklichen Leben verlieren, zu wünschen wäre.

In bezug auf die von Müller erwähnte erste Ursache des Tiefstandes unserer Kenntnis über Tier- und Pflanzenzucht sei noch erwähnt, dass von dem Genannten, Prof. Dr. R. Müller, Halle a. S., und von Dr. F. Dettweiler, Rostock '), eine Agitation ins Leben gerufen wurde zwecks Gründung biologischer Versuchs- anstalten. Als erster Schritt ıst ein Antrag bei der „Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft“ betr. Bildung eines Sunderausschusses für Biologie zu "verzeichnen?). Es wäre sehr zu wünschen, wenn diese Bestrebungen auch von seiten der akademischen Biologen die verdiente Unterstützung fänden. Reh. [72]

Some Remarks on Temporary Social Parasitism and

the Phylogeny of Slavery among Ants. By William Morton Wheeler, Curator of Invertebrate Zoology, American Museum of Natural History, New-York City, U.S.A.

In a paper covering nearly one hundred pages and occupying a prominent place in several recent numbers of the „Biologisches Centralblatt*, Father E. Wasmann of the Society of Jesus has embodied his latest views on the origin and development of slavery among ants?). This paper, which contains many valuable obser- vations, is written in such a manner as to produce the impression that its author discovered temporary social parasıtism and its signi- ficance in the development of slavery, and that my work on the

1) „Bielog. Versuchsstätten“, in: Deutsche landw. Tierzucht vom 21. April 1905 und „Biologie und Tierzucht“ in: Deutsche landwirtsch. Presse vom 27. Mai 1905.

2) Mitteil. Deutsche Landwirtsch. Ges. vom 8. Juli 1905, p. 212.

3) Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen. Biol. Centralbl. Bd. 25, :Nr. 4-9. Feb. 15,. May 1,.1905. pp.. 117—127; '129—144; 161—169; 193—216; 256—270; 274—222.

638 Wheeler, Some Remarks on Temporary Social Parasitism.

same subject is largely an American confirmation of his own. The bulk of the paper is increased by numerous observations on myrme- cophiles, observations which are quite irrelevant and serve to befog the whole matter at issue, so that future students may find the historical development of our ideas obscured ıf not completely falsıfied. This has led me to offer the following comments on Wasmann’s paper.

My own contributioßs to the subject of temporary social parasıtism and the development of slavery among ants are con- tained in three short papers published in the „Bulletin of the American Museum of Natural History“, a periodical of somewhat limited circulation even in America, and perhaps one of the last ın which the student would look for ethological work. In the first paper of the series, published Nov. 21, 1903), I called attention to the fact that the females of some of our North American species of Formica belonging to the rufa group are aberrant in color and pilosity or in being of diminutive stature. I was unable to explain these aberrations, but decided to study the habits of some one of the species at the earliest opportunity. This presented itself during the summer of 1904 when I found among the Litchfield Hills of Connecticut a number of colonies in all stages of growth of F. diffieilis var. consocians, a new variety of a form in which Emery had previously noted the occurrence of diminutive fulvous queens. I was able to establish the fact that the female of this variety, after her nuptial flight, regularly enters a depauperate and probably queenless colony of F. schaufussi var. incerta Emery, an ant belonging to the pallide-fulva group, for the purpose of starting her own family. A series of mixed colonies of the two species demonstrated to my satisfaction that the incerta workers, after adopting and caring for the consocians queen and nursing her offspring to maturity, eventually die and leave the consocians, nOW able to provide for themselves, to increase apace till they form a populous and pugnacious colony, which shows no traces of its lowly parasitic origin. The tiny stature of the queen is thus seen to be correlated, in all probability, with deficient or very tardy fertility and an inability on the part of the insect to establish a colony by herself alone like the females of the vast majority of ants. This singular phenomenon I designated as temporary social parasitism in order to distinguish it from the permanent social parasitism of the slave-holding or dulotic species and of such ab- jeetly inquilinous forms as Anergates atratulus. In glancing over the known mixed colonies among European and American ants I

1) Extraordinary Females in Three Species of Formica, with Remarks on Mu- tation in the Formicidae. Bull. Am. Mus. Nat. Hist., Vol. 19, Nov. 21, 1903,

pp. 645—649, 3 Fig.

Wheeler, Some Remarks on Temporary Social Parasitism. 639

arrived at the conclusion that a number of these which have been known for years as „abnormal“ or „accidental“ consociations of two species, were in all probability merely cases of temporary parasıtism, and I predieted that the various Formice of the rufa group on both continents (F. rufa, pratensis, truneicola, ezxsecta, exsectoides, pressilabris, ete.) would be found'to establish their colonies in the same way as F. consocians, namely, with the aid of workers of another Formica, presumably F. fusca or some one of its varieties. These views were first published Oct. 1, 1904, as a brief prelimi- nary note in the Journal of the American Museum of Natural History and some days later in more detailed form in the Bulletin of the same institution !).

While writing these papers I could hardly fail to see that young colonies of F. sanguinea and Polyergus rufescens, our typical slave-making ants, must also conform to the earlier colonial con- ditions of temporary social parasites like F\ consocians, but 1 was much hindered in developing my ideas by a statement in one of Wasmann’s earlier works?) where he says: „Eine befruchtete Königin von Formica sanguinea kann allein, ohne Mitwirkung eigener oder fremder Arbeiterinnen, eine neue Kolonie gründen.“ In support of this assertion he cites observations by Blochmann, long known to me as a conscientious worker. When I looked up the pertinent passage, however, I found that Wasmann had overstated a possibly inaccurate and certainly madequately recorded observation?).

1) A New Type of Social Parasitism among Ants. Bull. Am. Mus. Nat. Hist., Vol. 20, Art. 30. Oct. 11, 1904, pp. 347—375.

2) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen. Münster, Aschendorff’sche Buchdruckerei, 1891, p. 201.

3) Wasmann makes no allusion to this matter in his latest paper. He says, however, that he has been unable, during the more than twenty years he has been studying F. sanguinea under what appear to be exceptionally favorable circum- stances, to find a female of this species in the act of establishing her formicary, either alone or with the aid of F. fusca workers. Like myself he now accepts the latter alternative as the more probable, so I am led to believe that he would en- dorse my interpretation of Blochmann’s observations.

A number of experiments on artificial colonies of F. sangwinea subsp. rubi- cunda Emery, performed during the past July, have given me an insight into the method in all probability adopted by this insect while founding its colonies under natural conditions. A detailed account of these experiments will be published in the near future, but the results may be here briefly stated. When a deälated female rubicunda is confined in an artificial nest with as many as twenty workers of F. fusca var. subsericea and their brood, she is received with great hostility. At first her conduct is patient and insinuating, or even somewhat timid, but the persistent pulling and tweaking to which she is subjeeted by the workers, soon throws her into a frenzy of rage. She falls upon her tormentors, drives them from their brood and, when they persevere in returning, kills them one by one. With feverish haste she then appropriates the brood, secretes it in some corner and care- fully guards it, ever on the alert with open mandibles to attack any intruder, till the pup® are ready to hatch. She deftly frees the pale drab callows from

640 Wheeler, Some Remarks on Temporary Social Parasitism.

The inference that the slave-making ants are social parasites which differ from F. consocians ın keeping up a mixed condition of the colony by kidnapping the young of the host species from time to time, was an easy one to draw from my observations. It was, in fact, at once drawn by several correspondents to whom my paper on F. consocians was sent, among others by my friend Prof. Emery of Bologna. As soon as Il could satisfy myself of the dubious nature of Blochmann’s observation, I decided to publish my views on the phylogenetic development of the slave- making instincts in a separate paper. This was completed during October, 1904, but owing to the printer’s making a mistake in the size of the Bulletin pages, which were enlarged for the twenty- first volume, the article!) was much delayed, ‚and instead of ap- pearing very early in January, did not leave the press till Feb. 14, 1905.

Beginning with the number of the „Biologisches Oentralblatt*“ for Feb. 15 and ending May 1, 1905, Wasmann published the article above cited?). It contains views in surprisingly close accord with those published by myself on temporary social parasitism and the phylogeny of the dulotie instincets. The inferences on the latter subject must have been reached by Wasmann independently, because they appear ın the very first installment of his paper pu- blished Feb. 15, a day after the publication of my paper on the same subject. But as any one familiar with the facts of temporary social parasitism could have drawn these inferences, I am willing Wasmann should have whatever credit he may claim for this inde- pendent discovery if such it can be called although in this matter, as in that of temporary social parasitism, there can be no question about the priority of publication. It was not „gleich-

their pupal indusia, and immediately adopts them, thus quickly surrounding herself with the means of nourishing both herself and her progeny as soon as the latter are brought forth., The immediate result of these tacties is to produce a small mixed colony consisting of a female of one species of Formica and a number of workers of another, exactly asin the consocians-incerta colony, but with the interesting and important difference that in this case the incerta workers are effete or mori- bund, or, at any rate, older than the queen, whereas the subsericea workers in the case of rubieunda are younger than the queen and have before them arlease of life amounting to three or four years. Moreover, the result in the case of rubicunda is not achieved passively, by adoption of the queen, as in consocians, but actively, by conquest and abduction. Of course, none of these differences is apparent from mere inspection of an ineipient mixed colony of consocians or rubicunda; they can be ascertained only through studying the behavior of the queen during the period that elapses between the nuptial flight and the etablishment of her colony.

1) An Interpretation of the Slave-Making Instinets in Ants. Bull. Am. Mus. Nat. Hist., Vol. 21, Art. 1, pp. 1—16, Feb. 14, 1905.

2) Das Ms. dieses Artikels lief am 14. Dez. 1904 in Erlangen ein und wurde am 16. Dez. der Druckerei übergeben. Die Arbeit konnte aber, da ältere Manuskripte vorlagen, erst vom Februar 1905 ab erscheinen. Anmerkung der Redaktion.

a‘

Wheeler, Some Remarks on Temporary Social Parasitism. 641

zeitig“ as Wasmann states. Wasmann, however, manifestly desires to create the impression that he likewise discovered tem- porary social parasitism independently. I propose to show that he can have no adequate ground on which to rest such a claim.

A separate of my paper on temporary parasitism was, of course, sent t0 Wasmann, who courteously acknowledged its receipt in two postals dated Oct. 21 and Oct. 23, 1904. In his article he claims that the manuseript of his „Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen“ was half finished when mine was received (l. c. p. 267): „Die Ausarbeitung des vorliegenden Manuskriptes war schon zur Hälfte vollendet, als ich eine neue Arbeit von Wheeler zugesandt erhielt mit dem Titel „A New Type of Social Parasitism among Ants.“ Ich war nicht wenig erfreut, als ich bei Durchsicht dieser Arbeit fand, dass die da- selbst beschriebenen temporär gemischten Kolonien von Formiea consocians mit F. incerta das getreue Ebenbild unserer euro- päischen truncicola-fusca-Kolonien sind, deren Stadium 1—3 ich bereits 1902 als „Adoptionskolonien truncicola-fusca“ in der Allgem. Zeitschr. f. Entomologie beschrieben hatte. Nur der Name für jene Form der Symbiose ist verschieden, die Sache dieselbe. Wheeler’s Beobachtungsmaterial über F. consocians ıst jedoch reichhaltiger als das meine über trumcicola. Auch hat er zuerst ausgesprochen, dass jene temporär gemischten Kolonien eine ge- setzmäßige Form der Symbiose darstellen, obgleich sie wesentlich dasselbe sind wie die von mir 1902 beschriebenen „Adoptions- kolonien“. Ich war zwar ım Laufe der letzten zwei Jahre durch meine obenerwähnten Beobachtungen an der im Zimmer gehaltenen truneicola-fusca-Kolonie schon lange zur Überzeugung von der Ge- setzmäßigkeit dieser gemischten Kolonien gelangt, wurde aber zur Veröffentlichung der Resultate erst durch die Aufzucht von fusca- Sklaven in jener Kolonie (August und September 1904) veranlasst, da hierdurch das Problem des Ursprungs der Sklaverei bei den Ameisen sich lösen ließ.“

If not slightly disingenuous this paragraph is, to say the least, somewhat misleading. In the first place, is ıt not a little strange that Wasmann in his postals merely acknowledged- the receipt and „interesting“ contents of my paper without stating that he had found my predictions in regard to truncicola and other European forms of rufa to be in full accord with his own observations? True, he was not bound to make this admission, even if his manu- script was at that time half finished, but it would have been evi- dence of frankness and candor, would have given me great pleasure and would, perhaps, have been conducive to that „ruhige sach- gemäße Erörterung derartiger Fragen“ which he rather unctiously recommends in the concluding paragraph of his paper.

XXV. 41

642 Wheeler, Some Remarks on Temporary Social Parasitism.

In the second place, although he admits that I was the first to give expression to a general law, his words, nevertheless, pro- duce the impression that I have simply renamed or revamped certain facts to which he was the first to call attention. Now it is well known that Forel and not Wasmann was the first to explain certain mixed colonies of Formica, etc., as the result of the adoption of a queen of one species by workers of another. Colonies of precisely the same nature as the traumcicola-fusca colonies mentioned by Wasmann were, in fact, made known by Forel in his magnificent „Fourmis de la Suisse“ long before Wasmann’s time. There is, however, a great difference between observing and recording isolated phenomena or even collecting and classifying sımilar phenomena and discovering the law which pervades them. And in this case the difference was the greater, because Was- mann had regarded the phenomena as exceptions, as „abnormal“ or „accidental“; ın other words, he had not left them ısolated and unexplained, but had saddled them with a misleading interpretation).

Let us now endeavor to estimate the observations said by Wasmann to have furnished him „long ago“ with the conception of temporary social parasitism. During all the years that European ants have been under observation, only four mixed colonies of F. truncicola-fusca seem to have been recorded. One of these, found near Loco, Switzerland, was described by Forel in his „Fourmis de la Suisse“ (1874, p. 372); a second was found in 1903 in Saxony by Zur Strassen (teste Wasmann |. c. p. 130) and two have been found by Wasmann in Luxemburg (1900 and 1901). Both of these colonies were in a stage corresponding to the earliest I have described for F\. consocians-incerta, and in both cases Was- mann mistook the truncicola female for a female of rufibarbis till the middle of August, 1902. One of these colonies has been kept in an artificıial nest since April 8, 1901, and the observations on it are the basıs of Wasmann’s ıimplication that he independently discovered temporary social parasitism as well as the phylogenetie origin of slavery. Twenty pages are required to relate these obser- vations. They are doubtless very valuable, but they are nearly all on myrmecophiles (Atemeles, Lomechusa, etc.) and to that extent irrelevant to the question under discussion and merely useful ın inflating a few very simple and, in certain respects, inconclusive inferences. The facts concerning this colony may be briefly, and I believe adequately, stated as follows:

1) The words „abnormal“ and ‚accidental‘ are frequently used by Wasmann when his writing would gain in clearness by their avoidance. Thus I am said to believe that slavery in ants had a „rein zufällige Entstehung“ (p. 259), when such a conception never cerossed my mind. The presence of fusca workers even as a „byproduct“ in a sanguwinea nest is not due to „pure chance‘.

Wheeler, Some Remarks on Temporary Social Parasitism. 645

When found the colony comprised a truneicola queen and about a hundred fusca workers. The queen and fourteen of the fusca were confined in an artıficial nest. She commenced layıng during May, 1901, and by June a few Zrumeicola workers had been reared by the fusca. Later some pupx of the latter species were added for the purpose of strengthening the colony. During the year following (1902) a number of truncicola workers were reared from eggs laid by the queen and by August the colony contained about fifty fusca and as many frumeicola. In 1903 the queen began to lay as early as March, and, during the early part of the summer the fausca bore the brunt of nursing the brood. Fifty to sıxty truncicola workers were reared. Then the fusca workers began to die off till all had perished by August 25, so that necessarily a pure truneicola colony remained. During 1904 cocoons of sangwinea, rufibarbis and fusca were placed in the nest, but the trumeicola workers adopted the fusca workers only, so that the colony agaın became a mixture of fruncicola and fusca. The adoption of fusca and the rejection of the other species is very plausibly attributed by Wasmann to habit association: fusca being the species with whose aid the truneicola colony was started and reared and there- fore a familiar species from the outset.

Now I venture to maintain that no ıimpartial reader will for a moment admit that these observations, either alone or taken in connection with the other cases of what Wasmann has for years been in the habıt of callıng „abnormal“ or „accidental“ mixed colonies, are sufficient to accredit him with the independent dis- covery of temporary social parasitism as a general and regular phenomenon among certain Formicid&. There ıs absolutely nothing in the behavior of this fruncicola-fusca colony that could not have been predicted of any mixed colony of similar composition, that is, consisting of a fertile female of one and several workers of another species. It is perfectly clear that, under the circumstances, the fusca must some time have died off and left a pure trumeicola colony. Moreover, the observations prove next to nothing in re- gard to the phylogeny of slavery, since a colony of ants that appropriates pup& dumped into its nest, is not exhibiting true dulotie instinets even when the young are allowed to develop and thereby give rise to a mixed colony. In the case under discussion it could readily be predicted that the fusca pupzs would stand a much greater chance of survival than the pupx of sanguinea and rufibarbis.

I am far from denying that the above observations on a single truncicola-fusca colony may have suggested to Wasmann the con- ception of temporary social parasitism, but they assuredly do not establish it as a regular occurrence. In order to do this many more observations on wild colonies were needed and these were

41*

644 Wasmann, Über den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen.

first supplied in my paper on a „New Type of Social Parasitism among Ants“. Wasmann should not, therefore, treat my work on F. consocians as a sequel and confirmation, or even as „das getreue Ebenbild“ of his own on F. truncicola, but his own work as acquiring through mine whatever significance and validity it may possess. It is not I who have been approaching Wasmann’s point of view, as the reader of his paper may be led to believe, but the reverse.

In stating what I believe to be the truth in regard to the discovery of temporary social parasitism, I have no desire to arro- gate to myself any great amount of credit and much less do I wish to belittle the splendid work of Forel, Wasmann and other European myrmecologists who had hitherto failed to note this interesting occurrence among the ants that have been so long the objects of their attention. Compared with the ant-fauna of North America, that of Europe is in many respects very meagre, not to say monotonous. Hence it is easy to see how during the nearly forty years of diligent observation on the part of Forel and the more than twenty years devoted by Wasmann to similar studies, temporary social parasitism as a regular occurrence in species of Formica of the rufa group, should have passed unobserved. I am convinced that had these savants been able to study our much richer American Formica-fauna they would long since have detected not only the regularıty of the parasitism I deseribed as occurring‘ in such species as F\ consocians, F. mierogyna, etc., but also many other interesting facts which have hitherto escaped my observation.

Colebrook, Litchfield County, Connecticut, July 20, 1905. [78]

Nochmals zur Frage über die temporär gemischten Kolonien und den Ursprung der Sklaverei bei den

Ameisen. Von E. Wasmann 8. J. (Luxemburg).

Zu der vorstehenden Abhandlung Wheeler’s „Some remarks on temporary social parasıtism and the phylogeny of slavery among ants“ muss ich hier einige erläuternde Bemerkungen beifügen, welche zur Klarstellung der wirklichen Sachlage dienen sollen. Ich will mieh dabei möglichst kurz fassen und mich jeglicher Polemik enthalten, die eine Verständigung doch nur erschweren würde.

Die Publikationen, um die es sich hier handelt, bezeichne ich der Kürze halber mit a, b, c.

a) Wheeler, A new type of social parasitism among ants (Bull. Amer. Mus. Nat. Hist. Vol. 20, art. 30. Oct. 11, 1904, p. 347—375).

b) Wheeler, An interpretation of the slavemaking instincts in ants (Bull. Amer. Mus. Nat. Hist. Vol. 21, art. 1. Febr. 14, 1905, p.1—16).

Wasmann, Über den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen. 645

c) Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen (Biol. Centralbl. 1904, Nr. 4—9, 15. Febr. 1. Mai 1905).

Ich unterscheide drei Hauptfragen und einige Nebenfragen. Die Hauptfragen sind:

I. Wem gebührt die Priorität dafür, gewisse temporär gemischte Kolonien von Formica zuerst für gesetzmäßige Formen erklärt zu haben ?

II. Bin ich unabhängig von Wheeler durch meine eigenen Beobachtungen zu dem Resultate gelangt, dass die gemischten Kolonien von Formica truncicola mit F. fusca als gesetzmäßige Formen gemischter Kolonien anzusehen sind? Bin ich ferner un- abhängig von Wheeler zu der Überzeugung gekommen, dass der Ursprung des Sklavereiinstinktes in den temporär gemischten Adoptionskolonien zu suchen sei?

Ill. Wem gebührt die Priorität dafür, zuerst klar und bestimmt folgenden allgemeinen Satz über den Ursprung der Sklaverei auf- gestellt und begründet zu haben: Die Raubkolonien der sklaven- haltenden Ameisen sind ontogenetisch und phylogenetisch aus Adoptionskolonien hervorgegangen ?

I. Die Priorität dafür, gewisse temporäre Formen gemischter Ameisenkolonien zuerst für gesetzmäßige Formen erklärt zu haben, gebührt ohne Zweifel Wheeler; denn seine Arbeit (a) erschien bereits am 11. Oktober 1904, die meinige (c) am 5. Februar 1905. Daher hatte ich auch in dem von Wheeler neuerdings zitierten Passus meiner Arbeit (c) S. 268 gesagt: „Auch hat er zuerst ausgesprochen, dass jene temporär gemischten Kolonien eine gesetzmäßige Form der Symbiose darstellen.“ Diese Frage können wir daher als erledigt betrachten.

Il. Ich bin jedoch völlig unabhängig von Wheeler durch meine eigenen Beobachtungen an den truncicola-fusca-Kolonien zur Überzeugung gelangt, dass sie eine gesetzmäßige Form gemischter Kolonien sind, die durch Adoption einer truncicola-Königin in einer weisellosen fusca-Kolonie entstehen. Ich bin ferner völlig unab- hängig von Wheeler auf den Gedanken gekommen, in derartigen Adoptionskolonien den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen zu suchen.

Wheeler bestreitet dies, trotz der ausdrücklichen Versiche- rung, dass mein Manuskript (c) bereits zur Hälfte vollendet war, als ich seine Arbeit (a) am 21. Oktober 1904 zugesandt erhielt. Ich konnte daher damals mit Recht schreiben (c, S. 267), die von Wheeler entdeckten consocians-incerta-Kolonien seien „das getreue Ebenbild“* der truneicola-fusca-Kolonien. Meine Anschauungen über

l) Das Manuskript dieser Arbeit wurde bereits Ende November (oder Anfang Dezember?) 1904 an Prof. R. Hertwig in München gesandt und gelangte von diesem am 14. Dezember an die Redaktion in Erlangen.

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646 Wasmann, Über den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen.

letztere waren durch Wheeler’s Beobachtungen über erstere in der Tat glänzend bestätigt worden. Da jedoch Wheeler’s Publı- kation (a) im Oktober 1904, die meine (c) erst im Februar 1905 erschien, habe ich gar nichts dagegen, wenn man lieber sagen will, meine Beobachtungen an trunciecola-fusca bildeten eine- Bestätigung der seinigen an consocians-incerta.

Ich muss jedoch nochmals ausdrücklich betonen, dass ich durch meine Beobachtungen an F. truncicola und durch den Vergleich derselben mit der Gründung neuer Kolonien bei anderen Formica- Arten, wie sie in meiner Arbeit (c) niedergelegt sind, völlig un- abhängig von Wheeler zu meiner Ansicht über die Natur der gemischten Kolonien truneicola-fusca und über den Ursprung der Sklaverei im allgemeinen gelangt bin. Auch wenn Wheeler’s Ar- beiten a und b gar nicht erschienen wären, so würde ich trotzdem auf Grund meines Beobachtungsmaterials an den europäischen Formiciden meine Arbeit (c) veröffent- licht haben. Wheeler’s schöne Beobachtungen über consocians- incerta legen allerdings ein neues, sehr bedeutendes Gewicht in die Wagschale zugunsten der Richtigkeit jener Anschauungen. Aber dass meine Arbeit erst durch die seinige „ihre ganze Be- deutung und Beweiskraft“ (whatever significance and valıdity it may possess) erhalten habe, diese Behauptung Wheeler’s kann ich nur für eine Selbsttäuschung erklären.

Das Beweismaterial aus der europäischen Ameisenfauna, das für die neue Theorie spricht, ist nämlich keineswegs so unbedeu- tend, wie Wheeler es darzustellen versucht. Schon oft war mir die Vermutung gekommen, die sklavenhaltenden Ameisen gründeten ihre neuen Kolonien mit Hilfe von Arbeiterinnen der Sklavenarten. Für die Koloniegründung von Polyergus hatte ich bereits 1891!) auf Grund verschiedener Versuche von Forel und mir die Hypo- these aufgestellt, dass die isolierten Königinnen dieser Amazonen- ameise mit Arbeiterinnen von fusca und rufibarbis aus fremden Kolonien sich vergesellschaften und von ihnen ihre Brut erziehen lassen. Für die gemischten Kolonien von Strongylognathus testaceus mit Tetramorium caespitum hatte ich ebenfalls bereits 1891?) durch direkte Beobachtungen nachweisen können, dass sie höchstwahr- scheinlich als gesetzmäßige Allianzkolonien aufzufassen seien. Für die gemischten Kolonien von Anergates mit Tetramorium hatte v. Hagens schon 1867°) die Hypothese aufgestellt, dass sie durch

1) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen. 1. Aufl. S. S3--90. Die daselbst (8. 201) aus Blochmann entlehnte Angabe, dass F sangwinea ihre neuen Kolonien selbständig gründe, ist schwerlich haltbar und ich bin deshalb auch in meiner Arbeit e nicht mehr auf dieselbe zurückgekommen.

2) Ebendort, S. 106—115.

3) Berliner Entomol. Zeitschr. XI, S. 108.

Wasmann, Über den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen. 647

die Adoption eines Anergates-Weibchens durch Arbeiterinnen einer fremden Tetramortum-Kolonie gegründet werden; ich hatte diese Hypothese 1891!) und 19022‘, und Ch. Janet 1896?) und 1897%) näher erörtert. Dass bei Formica-Arten „Adoptionskolonien* vor- kommen, war ebenfalls schon länger bekannt; es fehlte nur noch der letzte Schritt zur Deutung ihrer Natur und Tragweite.

Bei den gemischten Kolonien von F! truncicola mit fusca lag aber völlig hinreichender Grund vor, sie für gesetzmäßige Adoptions- kolonien zu erklären, nachdem ich zweimal nacheinander in ver- schiedenen Jahren (1900 und 1901°)) eine trumeicola-Königin mit fusca-Arbeiterinnen vergesellschaftet getroffen hatte; denn A. trun- cieola ıst eine relativ seltene Ameise, und ganz junge Kolonien findet man selbst bei den sehr häufigen Arten F. fusca und rufi- barbis nur sehr selten. Die Entdeckung des Stadiums 1 der trun- cieola-fusca-Kolonien und die weitere Beobachtung einer dieser Kolonien bis zum Stadium 4, wo sie eine selbständige truncicola- Kolonie wurde, bot daher ein völlig sicheres Fundament für die Er- klärung des Ursprunges und der Entwickelung der truncicola-Kolo- nien überhaupt. Als nun im August 1904 durch die truncicola des erwähnten Beobachtungsnestes als Hilfsameisen fusca aufgezogen wurden, während sie die Kokons anderer Formica-Arten nicht so behandelten, da kam mir plötzlich mit überraschender Klarheit die Erkenntnis: die Raubkolonien der Ameisen sind ursprünglich Adoptionskolonien, und die Sitte der Raubameisen, bestimmte Sklavenarten zu erziehen, beruht darauf, dass mit Hilfe eben dieser Sklavenart ihre eigene Kolonie gegründet und die ersten Arbeiter- generationen der Herrenart aufgezogen worden sind: das psycho- logische Band war gefunden, das die Herrenart mit einer ganz be- stimmten Sklavenart verknüpft!

Dies war mein Gedankengang, der seine „ganze Bedeutung und Beweiskraft“ wohl nicht dem interessanten und mir damals völlig unbekannten Umstand verdankt, dass Wheeler in demselben Monat August 1904 ın Nordamerika die Assoziation von F! con- socians mit incerta entdeckte.

III. Wem gebührt die Priorität dafür, zuerst das allgemeine Gesetz über den Ursprung der Sklaverei aufgestellt und begründet zu haben: Die Raubkolonien der sklavenhaltenden Ameisen sind ontogenetisch und phylogenetisch aus Adoptions- kolonien hervorgegangen? Diese Gesetzmäßigkeit findet sich

1) Die zusammengesetzten Nester, S. 140 ff. 2) Allgem. Zeitschr. f. Entomol. 1902, Nr. 9, S. 167 ff. 3) Conference sur les fourmis, S. 27—28. 4) Rapports des animaux myrmekophiles avec les fourmis, S. 310— 313. 5) Eine dritte truncicola-fusca-Kolonie vom Stadium 1 traf ich kürzlich am 16. August 1905 wiederum bei Luxemburg. Siehe den Nachtrag zu dieser Arbeit.

648 Wasmann, Über den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen.

bereits im ersten Kapitel meiner Arbeit (c) S. 124-125 bestimmt und ausführlich formuliert. Auch die psychologische Begründung für den ontogenetischen Zusammenhang der sklavenhaltenden Kolo- nien ist dort bereits beigefügt: die Neigung der Arbeiterinnen der Raubameisenart, diePuppen bestimmter Hilfsameisen- arten zu erziehen, beruht eben darauf, dass ihre eigene Kolonie mit Hilfe eben jener fremden Ameisenart ge- gründet und auch die ersten Arbeitergenerationen mit Hilfe derselben Ameisenart aufgezogen wurden.

Dieser Abschnitt der Arbeit (c) erschien ım Biol. Centralblatt am 15; Februar 1905, am 14. Februar dagegen war Wheeler’s entsprechende Arbeit (b) erschienen. Wenn nun letztere dieselbe Theorie formuliert enthält, so müsste man sagen, wir seien fast gleichzeitig zu demselben Ergebnisse gelangt, Wheeler habe das- selbe aber einen Tag früher publiziert, ihm gebühre somit die wissenschaftliche Priorität.

Wheeler hält auf S. 4 seiner Arbeit (b) die Ansicht für sehr wahrscheinlich, dass die neuen Kolonien von F. sangwinea dadurch gegründet werden, dass die befruchteten Weibchen in eine Kolonie der Sklavenart sich aufnehmen lassen und dass die Sklaverei auf später hinzugekommenen Instinkten beruhe. Auf S. 15 zählt er ferner drei Faktoren für die Entstehung des Sklavereiinstinktes von F! sanguinea auf: die diskriminativen parasitischen Instinkte der Königin; die dıskrimimativen Raubinstinkte der Arbeiterinnen; die Erziehungsinstinkte der Arbeiterinnen. Wie diese drei Faktoren untereinander zusammenhängen, um aus einer ursprünglichen Adop- tionskolonie zu einer späteren Raubkolonie zu führen, das hat Wheeler nicht gezeigt. Er fügt sodann bei: „Wenn diese Er- klärung des Sklavereiinstinktes richtig ıst, so müssen wir annehmen, dass die Sklaverei herausgewachsen ist aus dem temporären sozialen Parasitismus .. .“

Hier haben wir in der Tat den auch von mir ausgesprochenen allgemeinen Satz über den ontogenetischen und phylogenetischen Ursprung der Raubkolonien aus Adoptionskolonien vor uns, wenn auch in etwas unbestimmterer Form. Wheeler gebührt also der Vorrang, jenen Satz um einen Tag früher publiziert zu haben. Wenn man jedoch die Begründung vergleicht, welche die Ar- beiten b und ce für den genetischen Zusammenhang der Raub- kolonien mit den Adoptionskolonien bieten, so wird man sofort einen sehr großen Unterschied bemerken. Was bei mir eine all- seitig durchdachte und abgerundete Theorie geworden ist, das ist bei Wheeler eine nur undeutlich erfasste Hypothese geblieben; sogar das psychologische Band, welches die Raubkolonien mit den Adoptionskolonien verbindet, ist ihm entgangen: dass nämlich die Rhaubameisen die Puppen ihrer bestimmten Hilfsameisenart deshalb

Be er

Wasmann, Über den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen. 649

erziehen statt sie wie andere Beute aufzufressen weil sie von derselben Hilfsameisenart selber (in den ersten Generationen) erzogen worden sind; daher existiert eine kontinuierliche Kette von Geruchswahrnehmungen, welche die Puppen der Sklavenart mit den Arbeiterinnen der Herrenart noch zu einer Art von Koloniegemeinschaft verbindet: hierin liegt aber gerade die Lösung des Rätsels der sonst unbegreiflichen Auslese, welche die Herren unter den von ihnen geraubten Puppen treffen (vgl. das 1. Kap. der Arbeit c).

Im übrigen kann ich das Urteil über den selbständigen Wert meiner Studie über den Ursprung und die Entwickelung der Skla- verei ruhig allen jenen überlassen, welche sie selber gelesen und mit Wheeler’s Arbeiten a und b verglichen haben.

Es bleiben nur noch emige kleine Nebenfragen zu erörtern. Wheeler macht sofort im Beginne seiner „Some remarks“ an meiner Arbeit (c) die Ausstellung, dass dieselbe auch zahlreiche Beobach- tungen über Myrmekophilen enthalte, welche den Umfang der Studie vermehren, obwohl sıe „ganz belanglos“ seien und nur dazu dienten, die ganze Sache zu verdunkeln. Einen derartigen Vorwurf muss ich allerdings befremdlich finden. Von den fast 100 Seiten meiner Arbeit finden sich Beobachtungen über Myrmekophilen auf kaum 16 Seiten; die übrıgen gehören also doch jedenfalls zum „Thema“, Aber auch jene beigefügten Beobachtungen sind schon insofern nicht belanglos, als sie das Verhalten der gemischten Kolonie truncicola- fusca gegenüber verschiedenen Gästen zeigen, ein Verhalten, das von demjenigen anderer Formica-Kolonien in manchen Punkten auf- fallend abwich; deshalb gehörten sie meines Erachtens zur Psycho- logie der erwähnten Ameisenkolonie. Wheeler’s Versuch, den Wert meiner Arbeit durch die Berufung auf jene Beobachtungen herab- zudrücken, scheint mir daher kein glücklicher zu sein. Allerdings, hätte es in meiner Absicht gelegen, Herrn Wheeler in der Publı- katıon seiner mit den meinigen verwandten Ideen zuvorzukommen, so wäre es zweckmäßiger gewesen, in einer „vorläufigen Mitteilung“ von wenigen Seiten die ganze Frage über den Ursprung der Sklaverei zusammenzufassen. Aber erstens wusste ich bis gegen Ende Ok- tober 1904, wo meine Arbeit bereits zur Hälfte geschrieben war, noch nichts von den korrespondierenden Entdeckungen und Hypo- thesen Wheeler’s; zweitens würde es mir aber überhaupt wider- strebt haben, ein solches „Konkurrenzmittel“ anzuwenden, zumal es bei einer derartigen Arbeit weniger auf ıhre Priorität als auf ihre Solidität ankommt.

Wheeler hat in seinen „Some remarks“ auch die Frage auf- geworfen, weshalb ıch ın den beiden Postkarten vom 21. u. 23. Okt. 1904, ın denen ich ihm den Empfang seiner Arbeit (a) anzeigte, nichts von meinen Beobachtungen über F. trunecicola er-

650 Wasmann, Über den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen.

wähnte, obwohl damals meine diesbezügliche Abhandlung (c) bereits im Manuskripte zur Hälfte vollendet war. Die Antwort ist: weil ich aus Mangel an Zeit die Korrespondenz auf das Nötige beschränken wollte und zudem hoffte, bald die fertige Abhandlung, deren Druck sich später verzögerte, an Wheeler absenden zu können. Hätte ich damals gewusst, dass eine briefliche Mitteilung über dieselbe ihm „grosse Freude“ bereiten würde, wie er jetzt versichert, so würde ich es wahrscheinlich nicht unterlassen haben, ihm jene Freude zu gewähren.

Nichts liegt mir ferner, als Wheeler’s von mir stets anerkannten Verdiensten um die biologische Ameisenkunde Nordamerikas Eintrag tun zu wollen. Zu der vorliegenden Frage musste ich jedoch ım Interesse der Wahrheit nochmals Stellung nehmen, und ich glaube hierbei Herrn Wheeler so weit entgegengekommen zu sein, als es nur immer möglich war.

Nachtrag. Ich füge hier einen zweiten Nachtrag bei zu meiner Arbeit (ec: „Ursprung und Entwicklung der Sklaverei bei den Ameisen.“ Ein erster Nachtrag ist bereits auf S. 239—291 (Biol. Centralbl. 1905 Nr. 9) gegeben worden.

1. Zum 2. Kapitel (Formica truneicola, S. 126).

Ganz nahe beim Fundort der zweiten truncicola-fusca-Kolonie vom Stadıum 1, die ich am 8. April 1901 bei Luxemburg gefunden hatte (S. 131), traf ich am 16. August 1905 abermals unter einem Steine eine trumcicola-Königin mit 30—40 fusca-Arbeiterinnen. Das eigentliche Nest befand sich in einer kleinen Erdhöhle, in der auch einige Arbeiterkokons lagen. Eine fausca-Königin war sicherlich nicht im Neste, das genau untersucht wurde. Die kleine Kolonie ‚wurde zur Beobachtung mit nach Hause genommen und in ein Lubbocknest übergesiedelt.

Die in dem Neste gefundenen Kokons waren Kokons von fusca, wie aus der Anwesenheit einiger frischentwickelter Arbeiterinnen und aus der Aufzucht der mitgenommenen Kokons sich ergab. Von truneicola waren keine Kokons vorhanden (auch keine Larven oder Eier, die überhaupt im Neste fehlten). Der Hinterleibsumfang der hruncicola-Königin war gering; sie schien erst vor kurzem vom Paarungsflug gekommen zu sein und. benahm sich auffallend un- ruhig. In dem Beobachtungsneste gaben sich die fesca mit ıhr nur wenig ab; meist saßen nur em paar fusca bei ihr; sie bildete jedenfalls noch nicht den sozialen Mittelpunkt der Kolonie. Hie und da wurde sie sogar längere Zeit von einer fusca an einem Fühler oder Beine festgehalten, aber im übrigen nicht feindlich behandelt, sondern manchmal beleckt.

Aus allen diesen Umständen darf man wohl schließen, dass die

Wasmann, Über den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen. 651

truncieola-Königin von dem diesjährigen Paarungsfluge stammte und erst in der Aufnahme begriffen war bei den fusca, ın deren Nest sie sich eingedrängt hatte. Soweit stellt diese truncicola- fusca-Kolonie eine noch frühere Entwicklungsstufe des Stadiums 1 dar als die beiden auf S. 131 meiner Arbeit erwähnten Kolonien.

Die junge truncicola-Kolonie vom Stadıum 4, welche im März 1905 noch ein fusca-Nest unter einem Steine bewohnte und dann 2 m weiter ein neues echtes truncicola-Nest gründete (vgl. S. 291 meiner Arbeit), ist seither ausgewandert. Vielleicht ist sie identisch mit einer am 4. Sept. 1905 entdeckten, 20 m davon entfernten Kolonie von trunciecola.

Am 4. Sept. 1905 fand ich unter einem Steine, der ein ver- lassenes fusca-Nest bedeckte, eine junge Königin von truncicola. Sie wurde in ein Lubbocknest mit Arbeiterinnen aus einer anderen fusca-Kolonie gesetzt, die sie anfangs indifferent duldeten und dann als Königin annahmen. Eine isolierte fusca-Königin, die ich am 8. Sept. gefunden und in dasselbe Lubbocknest gesetzt hatte, wurde dagegen sofort von den fusca angegriffen und getötet. Diese Ver- suche bestätigen somit, dass die truncicola-Kolonien durch Adoption einer truncicola-Königin in einem fusca-Neste entstehen.

Die von mir 1901—1905 in einem Lubbocknest gehaltene Kolonie von trunecicola-fusca, auf welche sich die Beobachtungen ım 2. Kapitel meiner Arbeit (S. 131ff.) beziehen, ist leider eingegangen, da ich im Juni und Juli 1905 zur Kur in Lippspringe abwesend war und das Nest unterdessen nicht nach meinen Anweisungen besorgt wurde.

2. Zum 8. Kapitel (F. fusca S. 194).

Auch Ch. Janet (Observations sur les fourmis, Limoges 1904) berichtet S. 34 über die selbständige Gründung einer Kolonie von F. fusca durch eine Königin nach dem Paarungsfluge. - Ich hatte bei meiner Arbeit diese Angabe leider übersehen.

3. Zum 4. Kapitel (F. sangwinea S. 200f. u. 290).

Aus brieflichen Mitteilungen meines Kollegen P. Hermann MuckermannS. J. (Prairie du Chien, Wisconsin N. A.), die er mir zur Publikation übersandte und die an anderer Stelle ausführlicher ver- wertet werden sollen, will ich hier zur Kenntnis des Sklavereiinstinktes von F. sanguinea subsp. rubicunda Em. folgendes wiedergeben:

Unter 11 Kolonien von F. sanguinea bei Prairie du Chien enthielten 5keine Hilfsameisen. Es waren sämtlich stark bevölkerte Nester.

Von den übrigen 5 Kolonien enthielten 3 Kolonien F. subsericea Say als Sklaven, 1 Kolonie F\. nitidiventris Em. und 2 Kolonien F. nitidiventris und subaenescens Em.

In diesen 6 Kolonien verhielten sich die Bevölkerungsziffern folgendermaßen:

652 Wasmann, Über den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen.

Kolonie 1: 1°/, subsericea, Zahl der rubicunda sehr groß. Nest- bau typisch rubieunda.

Kolonie 2: 50°/, subsericea, Zahl der rubieunda mäßig.

Kolonie 3: 80°/, subsericea, Zahl der rubieunda gering. Nestbau typisch subsericea.

Kolonie 4: 40°), nötidiventris.

Kolonie 5: 40°/, nitidiventris und 5°/, subaenescens.

Kolonie 6: Eine total degenerierte Kolonie. Sie enthielt 30 rubieunda-Königinnen, ungefähr 25 rubiceunda-Arbeiterinnen, 15 Arb. von subaenescens, 10 Arb. von nitidiventris und tief unten ım Neste 3 oder 4 Pseudogynen von rubicunda und eine Anzahl Eier.

Da P. Muckermann in einem der Kolonie 6 benachbarten Neste von F\ Schaufussi Mayr die Xenodusa cava fand, so vermutet er mit Recht ım Anschluss an seine früheren Beobachtungen hierüber!) dass in jener rabieunda-Kolonie die Larven von Xenodusa erzogen worden seien. Dadurch würde ın der Tat die auffallende Degeneration jener Kolonie am besten erklärlich sein; denn auch in den pseudogynenhaltigen, durch Lomechusa-Zucht degenerierten Kolonien der europäischen F! sangwinea ist die Zahl der Königinnen oft eine auffallend große im Vergleich zu jener der Arbeiterinnen (vgl. S. 201 meiner Arbeit c). Solche Extreme wie in dem von Muckermann beobachteten Falle sind mir allerdings noch nie begegnet.

Von besonderem Interesse ıst das von ihm berichtete Zahlen- verhältnis der sklavenlosen zu den sklavenhaltigen rubicunda- Kolonien (5:6) bei Prairie du Chien. Hiernach scheint sich die Ansicht Wheeler’s (vgl. cS.290) zu bestätigen, dass der Sklaverei- instinkt der nordamerikanischen Formen der blutroten Raubameise auf anderen (niederen) Entwicklungsstufen steht als derjenige unserer europäischen Stammform. Ob auch die von Forel aufgestellte völlig sklavenlose Rasse /(aserva) haltbar ist, bleibt noch fraglich.

Wheeler’s neue Versuche über die Gründung der rubicunda- Kolonien siehe unten im 4. Nachtrag.

4. Zum 6. Kapitel (Polyergus S. 263).

Emery?) hat auf dem 6. internat. Zoologenkongress in Bern kürzlich die Hypothese aufgestellt, dass das Weibchen von Polyergus nach dem Paarungsfluge in eine schwache Kolonie der Sklavenart eindringe und dort eine Anzahl Puppen raube, welche die ersten Hilfsameisen für ıhre neue Kolonie liefern. Bei dem kriegerischen

l) Wasmann, Neue Bestätigungen der Lomechusa-Pseudogynentheorie \ Ver- handl. d. deutsch. Zool. Ges. 1902 S. 98—108) S. 106; Muckermann, F\. sanguinea subsp. rubicunda Em. und Xenodusa cava Lec., or the discovery of pseudogynes in a district of Xenodusa cava (Entomolog. News, Dec. 1904, p. 339—341).

2) Sur V’origine des fourmilieres (Compt. Rend. 6. Congr. Intern. Zool. de Berne. 1904, p. 459—461).

Wasmann, Über den Ursprung der Sklaverei bei den Ameisen. 653

Charakter von Polyergus und der Gewohnheit der Weibchen, manch- mal sogar an den Sklavenraubzügen teilzunehmen, scheint diese Hypothese an und für sich wenig Schwierigkeiten zu bieten. Forel bemerkte dagegen in der Diskussion !), die Weibchen von Polyergus beteiligten sich nicht an dem Puppenraub, wenn sie auch die Ex- peditionen begleiten. Mir scheint ferner bedenklich, ob die Polyergus- Königin mit ihren Säbelkiefern imstande ist, die Kokonhülle der Arbeiterpuppen zu öffnen, wenn diese ausschlüpfen sollen. Forel hat jedoch einmal einen Fall beobachtet, wo ein Weibchen einer Puppe behilflich war beim Abstreifen ihrer Haut. Da nicht selten bei F\. fusca und rufibarbis auch unbedeckte Puppen vorkommen, so ist die Hypothese Emery’s aus diesem Grunde jedenfalls nicht von der Hand zu weisen.

Ferner dürften Wheeler’s Versuche über die Gründung neuer Kolonien von F. sanguwinea subsp. rubieunda, die er in einer An- merkung seiner Arbeit „Some remarks“ mitteilt, eine Bestätigung der Hypothese Emery’s bieten. Hiernach vertreibt oder tötet die in das Sklavennest hineingesetzte rubrcunda-Königin ihre Angreifer und raubt dann die Puppen derselben, die sie aufzıeht. Daher wird die Hypothese Emery’s, dass die Königin der Herrenart durch Eindringen in ein Sklavennest und durch gewaltsame An- eignung von fremden Arbeiterpuppen ihre neue Kolonie gründet, künftighin ebenfalls berücksichtigt werden müssen bei der Frage nach dem ontogenetischen Ursprung neuer Kolonien sklavenhaltender Ameisen. Wahrscheinlich werden sich auch Übergänge finden zwischen dieser Bildungsweise und zwischen der Adoption der fremden Königin ın eineın weisellosen Sklavenneste, sodass beide Hypothesen zu vereinigen wären. Es sei noch bemerkt, dass Forel bereits 1874 in seinen „Fourmis de la Suisse“ (p. 418) die Ent- stehung neuer Kolonien von sklavenhaltenden Ameisen zu erklären versuchte durch eine Allianz befruchteter Weibchen der Herrenart mit ihnen begegnenden Arbeiterinnen der Sklavenart. Hierin liegt schon der Gedanke ausgesprochen, dass die Raubkolonien ontogene- tisch aus Adoptionskolonien hervorgehen. Für Strongylognathus und Anergates hat v. Hagens bereits 1867?) die Vermutung auf- gestellt, dass ihre Weibchen in einem Teil einer grösseren Kolonie von Tetramorium sich adoptieren lassen und dadurch neue gemischte Kolonien gründen. Die Priorität für die Adoptionshypothese gebührt also an und für sich weder Wheeler noch mir, sondern jenen älteren Autoren, obwohl sie von uns auf Grund neuer Beobachtungen weiter ausgebaut worden ist.

1) Nach meinem Gedächtnis aufgezeichnet, in den Verhandlungen nicht enthalten. 2) Uber Ameisen mit gemischten Kolonien (Berl. Entomol. Ztschr. XT. S. 101 bis 108) S. 108.

654 Grassberger u. Schattenfroh, Über die Beziehungen von Toxin und Antitoxin.

R. Grassberger u. A. Schattenfroh. Über die Beziehungen

von Toxin und Antitoxin. Leipzig und Wien, 1904, Franz Deuticke. gr. 8. 103 S

Die Autoren behandeln in ihrer Monographie ausschließlich ihre eigenen Erfahrungen über ein einziges Toxin das zuerst von ihnen durch F iltrieren der Kulturflüssigkeit dargestellte Rausch- brandgift über ein von ihnen damit am Rinde gewonnenes anti- toxisches Serum und über Versuche fast nur an. Meerschweinchen. Die ausführliche Veröffentlichung dieser, man möchte beinahe sagen einfachen Versuchsreihe, erscheint aber gleichwohl sehr dankens- wert. Denn die Verf. haben unzweifelhaft darin recht, dass der so außerordentlich heftig geführte Streit über das Wesen und die Beziehungen der Toxine und der Antikörper z. T. an einem Mangel an Material, d. h. an allseits anerkannt zuverlässigen und voll- ständigen Versuchsreihen leide, und schon deshalb oft unfruchtbar sein müsse. Warum aber, trotz des überall lebhaften Interesses und der zahlreichen Mitarbeiter, ein solcher Materialmangel auf diesem Forschungsgebiet bestehen bleiben kann, wird der Ferner- stehende am besten erkennen, wenn er die vorliegenden Versuchs- protokolle betrachtet und sieht, welche Hekatomben Versuchstiere, welche mühseligen Vorbereitungen zur Gewinnung der nötigen Toxin- und Antitoxinmengen, welche Sorgfalt und Geduld der Be- obachter, welche Variation der einzelnen Versuchsbedingungen not- wendig sind, wenn auch nur in einem verhältnismäßig "einfach ge- lagerten Fall die Beziehungen zwischen Toxin und Antitoxin einiger- maßen aufgeklärt, die Bedingungen der aktiven Immunisierung festgestellt "werden sollen.

"Es ist nicht möglich, die einzelnen Ergebnisse der Untersuchung und die Schlüsse, die die Verf. daraus auf die allgemeinen, sich wider- ‚streitenden Theorien ziehen, ın kurzen Worten wiederzugeben n— man müsste entweder ausführlich dem Originale folgen oder wäre in Gefahr, nur ganz wenigen, mit den Antikörpertheorien sehr wohlvertrauten Lesern verständlich zu bleiben. Deshalb seien nur wenige Punkte herausgehoben.

Verhältnismäßig einfach liegen die Beziehungen zwischen Rausch- brandtoxin und Antitoxin, weil ersteres immer ein seiner Giftwir- kung entsprechendes Bindungsvermögen für Antitoxin hat. Ob man frische oder alte, konzentrierte oder verdünnte Lösungen durch Antiserumzusatz wirkungslos zu machen sucht, niemals treten der- artige Unregelmäßigkeiten auf, wie sie Ehrlich zur Annahme der Toxoide, nämlich von Toxinmodifikationen, die zwar ungiftig sind, aber Antitoxin zu binden vermögen, geführt haben. Sehr ausge- sprochen aber zeigen die ın verschiedenem Grade mit Antiserum versetzten Rauschbrandgiftlösungen das Auftreten einer „Toxonzone*, d.h. um von der eben. noch tödlichen Mischung, in der man also eine freie Dosis letalis minima anzunehmen pflegt, zu der eben ganz wirkungslosen Toxin-Antitoxinmischung zu gelangen, muss man der gleic ‚hbleibenden Toxinmenge nicht eine zur Neutralisation der Dosis letalis minima ausreichende Antitoxineinheit, sondern eine vielfach

Grassberger u. Schattenfroh, Über die Beziehungen von Toxin und Antitoxin. 655

größere Antitoxinmenge zufügen; alle zwischenliegenden Gemische sind zwar nicht tödlich, rufen aber charakteristische, wenn auch sehr abgestufte Erkrankungserscheinungen hervor. Der Abstand zwischen der tödlichen und der unschädlichen Dosis ist nun nicht nur für alle Toxin-Antitoxinmischungen größer als für reine Toxin- lösungen, sondern auch für verschiedene einzeln bereitete Toxin- lösungen und solche verschiedenen Alters ganz verschieden. Da ihn die Verf. aber auch einfach durch Verdünnung der Toxin- und Antiserumlösungen vor dem Mischen sehr vergrößern konnten, so schließen sie, dass hier keine besonderen Körper (die Toxone Ehrlich’s), sondern die Bindungsart von Toxin und Antitoxin die qualitativ andere Wirkung verursache.

In vielfach varıierten Versuchen untersuchen die Verf. dann, wie in den verschiedensten Toxin-Antiserumgemischen sich sogleich, nach längerem Lagern und nach Erhitzen noch frei wirksame Toxin- bezw. Antitoxinmengen, gewissermaßen durch Abtitrieren mit frıschem Antitoxin- oder Toxinzusatz, nachweiseu lassen. Sie kommen zu den anscheinend wohlbegründeten Schlüssen, dass sich Toxin und Antitoxin in wechselnden Proportionen zu binden ver- mögen und dass sich diese Verbindungen in verschiedener Weise unterscheiden. So sind die toxinarmen „Überantitoxingemische“ sehr stabil; obgleich das freie Toxin durch Erhitzen leicht zerstört wird, das freie Antitoxin dagegen hitzebeständig ist und aus einem eben abgeglichenen Toxin-Antitoxingemisch durch Erhitzen auf 60° beträchtliche wirksame Antitoxinmengen frei gemacht werden, ge- lingt dies bei den „Überantitoxingemischen“ nicht, sie werden durch Erhitzen nicht antitoxisch wirksamer. Dagegen sind die toxin- reichen „Ubertoxingemische“* anfänglich labile Verbindungen, sie geben beim Erhitzen nachweisbare Toxinmengen ab, werden aber mit der Zeit stabiler, ıhr Toxiın erscheint dann fester gebunden.

Aus den Immunisierungsversuchen der Verf. ergeben sich zwei wichtige Tatsachen: erstlich gelingt es bei den überhaupt gegen Rauschbrand leicht immunisierbaren Rindern, eine kräftige aktive Immunität mit Antitoxinproduktion hervorzurufen lediglich durch Einverleiben der gänzlich unschädlichen „Überserumgemische“: wenn dies auch eine Erfahrung ist, die bei anderen Tierarten keine Bestätigung fand, so regt sie doch zu vielen Hoffnungen, z. B. auch für prophy laktische Immunisierungen beim Menschen an. Und zweitens gelang es, bei den anscheinend g gar nicht immunisierbaren Meerschweinchen, bei denen Versuche mit reinen Giftlösungen so- wohl als auch mit „Überserumgemischen® gar keinen Erfolg "hatten, ausschließlich mit den „Toxingemischen“ eine aktive Immunität einzuleiten, die dann durch weitere Toxineinverleibung beträchtlich gesteigert werden konnte.

Endlich ser auch ein hübscher Versuch der Verf. erwähnt, mit dem sie schlagend demonstrieren, wie verschieden artfremde und artgleiche Immunsera sich im Körper verhalten: Meerschweinchen erhalten gleich große Dosen von antitoxischem Rinder- und Meer- schweinchenserum einverleibt, von dem das erstere, in vitro ge- mischt und an Meerschweinchen erprobt, eine vierfach stärkere

656 Grassberger u. Schattenfroh, Über die Beziehungen von Toxin und Antitoxin.

Wirksamkeit hat als das letztere. Nach drei Wochen sind die mit dem Rinderserum injizierten Tiere gar nicht, die mit Meerschweinserum geimpften noch sehr beträchtlich immun gegen Rauschbrandgift.

In einem Schlusskapitel setzen die Verf. die Ergebnisse ihrer Versuche und die Schlüsse, die sie daraus ableiten, mit den Theo- rien über die Antikörperwirkung auseinander, von denen sie drei selbständige anerkennen, die Ehrlich’sche, die Bordet’sche und die Madsen-Arrhenius’sche. Haben sie vorher ihre Versuche streng objektiv, auch mit möglichster Vermeidung einer vorur- teilenden Bezeichnungsweise dargestellt, so verharren sie auch jetzt im einer sachlichen Diskussion. Freilich ist kaum zu ver- kennen, dass sie von vornherein der Bordet’schen Anschauung zuneigen, für deren Hauptpunkt, die multipeln Proportionen, sie ja gewichtige Beweisgründe beibringen. Dass nicht so einfache Ge- setze, wie Madsen-Arrhenius sie annehmen, nämlich das Guld- berg - Waage’sche Massenwirkungsgesetz bei Annahme einfacher schwacher Affinitäten ausreichen zur Erklärung der verwickelten Verhältnisse, dafür können sie triftige Gründe aus ihren Beobach- tungen anführen. Doch erkennen sie, wie jetzt wohl alle ernstlich mit diesen Problemen Beschäftigten, an, dass die physikalisch- chemischen Gesetze natürlich auch für die Toxin-Antitoxinwirkungen Geltung haben und Konzentration der Stoffe und Reaktionszeit wesentlich modifizierend auf die Endergebnisse einwirken.

In der Polemik gegen die Ehrlich’schen Anschauungen scheinen sie, wie das in solchen jahrelang durchgeführten Polemiken ja häufig zu geschehen pflegt, ihre Kritik auf manche Punkte zu richten, die, wie Ref. versichern kann, von Ehrlich selbst, zurzeit wenigstens, gar nicht in dieser Form behauptet werden. Mag man die außerordentliche Anpassungsfähigkeit der Ehrlich’schen Hypothesen an alle auch unerwarteten, neuen Tatsachen als Beweis dafür nehmen, dass sie zur Zeit noch nicht als abgeschlossene Theorie gelten können, so sollten doch auch die Gegner den Vorzug dieser Wandelbar- keit, die eine Fortentwickelung zu tiefer begründeten Anschauungen ermöglicht, anerkennen, so lange jedenfalls keine der anderen Theorien in gleichem Maße der ungeheur en Vielfältigkeit der Einzelerfahrungen auf dem Gebiet der Antikör perbildung gerecht wird. Übrigens machen sich auch die Verf. den Grundgedanken aller Ehrlich’ schen Hypo- thesen, der die Toxinwirkung und Antitoxinbildung nur als Einzel- fälle in dem Stoffwechsel der Organzellen betrachtet, voll zu eigen, wie die besonderen, von ihnen aufgestellten Hypothesen beweisen.

Auffallen möchte es noch, dass die Verf. bei diesen Schluss- betrachtungen von der neuesten Auffassung, nach der die Bin- dungen von Toxin und Antitoxin sich als Adsorptionen oder Aus- fällungen von Colloiden darstellen, gar keine Notiz nehmen, da doch die von ihnen so sehr betonten variabeln Proportionen "und das gleichzeitige wirksame Vorhandensein von Toxin und Antitoxin in anscheinend abgesättigten Mischungen sich dieser Anschauung gut fügen. Werner tosenthal. [72]

Verlag von Georg "Thieme in n Leipzig, , Rabensteinplatz 2, Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

jologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

XXV.DBa. 15, Oktober 1905. 2 20.

Inhalt: Kranichfeld, Die Wahrscheinlichkeit der Erhaltung und der Kontinuität günstiger Varianten in der kritischen Periode. Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. Vogler, Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde.

Die Wahrscheinlichkeit der Erhaltung und der Kontinuität günstiger Varianten in der kritischen Periode. Von Herm. Kranichfeld, Konsistorialpräsident a. D.

Der von Darwin auf deduktivem Wege abgeleitete Satz, dass Abänderungen, welche einen Organisationsvorteil bedeuten, durch- schnittlich erhalten bleiben und sich anhäufen (akkumilieren), scheint bei einer schärferen Analyse der Begriffe eine Einschränkung er- fahren zu müssen und für Varietäten nur unter bestimmten Be- dingungen Geltung zu haben, für einzeln auftretende Varianten aber eine solche überhaupt nicht zu besitzen. Da man bei der Theorie der natürlichen Zuchtwahl den Darwin’schen Satz auch auf die einzelnen Varianten bezw. die einzelnen Mutanten anwendet, würde die fragliche Einschränkung die Denkmöglichkeit der Dar win’schen Selektionstheorie in der bisherigen Form in Frage stellen. Ihre Erörterung kann daher ein allgemeines Interesse in Anspruch nehmen.

Es wird sich für dieselbe empfehlen, mit der Untersuchung der Geltung und Einschränkung des Darwin’schen Satzes für die Varietäten zu beginnen.

Über die allgemeinen formalen Bedingungen, unter welchen sich eine abgeschlossene Gruppe lebender Wesen behaupten kann,

XXV. 42

658 Kranichfeld, Erhaltung u. Kontinuität günstiger Varianten i. d. krit. Periode.

hat man allmählich Klarheit gewonnen. Man kann sie allgemein auf eine Gleichung bringen, wie es in der Bevölkerungsstatistik bei Untersuchung der Zunahme oder Abnahme der Bevölkerung eines Staates geschieht. Die Bevölkerung eines Staates ist stabil, wenn abgesehen von Zuwanderung und Auswanderung die jährliche Geburtsziffer und die jährliche Sterblichkeitsziffer gleich sınd. Bei den Tierarten finden wir meist eine höhere Vermehrungs- zıffer als bei dem Menschen. Der Hering setzt jährlich 30000, der Hecht 150000, der Stör 2000000 Eier ab. Dessenungeachtet kann das Verhältnis der Vermehrungsziffer zur Vernichtungsziffer in der Tierwelt, wenn auch für sie keine Geburts- und Sterberegister ge- führt werden, kein wesentlich anderes sein, als bei der mensch- lichen Bevölkerung. Eine kurze Überlegung zeigt, dass auch dort von allen Nachkommen eines Paares, mögen sie mehr oder weniger zahlreich sein, durchschnittlich immer nur zwei zur Fortpflanzung kommen können, wenn das Gleichgewicht erhalten bleiben soll. Kommen durchschnittlich mehr als zwei zur Fortpflanzung, so muss die Art sich vermehren und allmählich andere Arten verdrängen; sind es durchschnittlich weniger als zwei, so muss sie zurück- gehen und allmählich verschwinden. Da nun der Bestand der Tierarten annähernd der gleiche zu bleiben scheint, muß der größeren Vermehrungsziffer im allgemeinen auch eine größere Vernichtungsziffer entsprechen. Die Art ıst jedenfalls, wie die Bevölkerung eines Staates, dann stabil, wenn beide Ziffern gleich sind.

Was von der Art gilt, gilt auch von den Varietäten. Ver- mehrungsziffer und Vernichtungsziffer können bei ıhnen andere sein, als bei den Arten, von denen sie abstammen. Die Vermehrungs- ziffer kann größer oder kleiner geworden sein durch Steigerung oder Verminderung der Fertilität und durch Verlängerung oder Verkürzung der durchschnittlichen Dauer des fortpflanzungsfähigen Alters. Ebenso kann die Vernichtungsziffer größer oder kleiner geworden sein durch schlechtere oder bessere Anpassung an die äußeren Verhältnisse und an den Kampf mit den Konkurrenten. Wie sich aber auch Vermehrungs- und Vernichtungsziffern geändert haben mögen, für die Erhaltung der Varietät kommt nur in Be- tracht, ob die Änderung beider im gleichen Sinn erfolgt ist und die Gleichung zwischen beiden fortbesteht. Es ist darum klar, dass sich eine Varietät trotz schlechterer Anpassung behaupten kann, wenn nur gleichzeitig ihre Fertilität in entsprechender Weise ge- stiegen ıst, und dass umgekehrt eine Varietät trotz besserer An- passung zugrunde gehen kann, wenn die Fertilität gleichzeitig ın zu starkem Grade sinkt. Ein Organisationsvorteil verbürgt dagegen den Sieg über die alte Art, wenn die Varietät nur hinsichtlich der adaptiven Eigenschaft von dieser abweicht und alle anderen Eigen-

Kranichfeld, Erhaltung u. Kontinuität günstiger Varianten i. d. krit. Periode. 659

schaften und Verhältnisse die gleichen geblieben sind. Dann gilt das Wort Darwiın’s: „Das bescheidenste Körnchen in der Wag- schale muss im Laufe der Zeiten entscheiden, welche dem Tode zum Opfer fallen, und welche am Leben bleiben“ —; aber es gilt nur von den Varietäten, nicht, wie Darwin meinte, von den ein- zelnen Varianten.

Dass es nicht auf Varianten angewandt werden kann, wollen wir zuerst an einem Beispiel deutlich machen. Nehmen wir an, dass in einer Variante eines Störsatzes eine komplizierte Einrich- tung auftritt, durch welche das Ei gegen eine bestimmte klimatische Gefahr, welche bis dahin etwa 5°/, der Brut vernichtete, geschützt ist. Es erliegen dann von den 2000000 ungeschützten Eiern des betreffenden Satzes etwa 100000 Eier der in Rede stehenden klimatischen Gefahr. Erhalten bleibt die eine geschützte Variante neben 1900000 ungeschützten Eiern. Die erhaltenen befinden sich den übrigen Gefahren gegenüber in der gleichen Situation. Da nun von den sämtlichen 50 Sätzen eines Störweibchens im Durch- schnitt nur 2 Individuen geschlechtsreif werden, ist die Wahr- scheinlichkeit, dass die geschützte Variante zur Fortpflanzung kommt 1: 47500000.

Nicht bei allen Arten ist der Wahrscheinlichkeitsgrad für die Erhaltung einer Variante so gering, wie bei dem Stör. Er nimmt ab und wächst mit der Vermehrungs- bezw. der Vernichtungsziffer; er kann aber niemals == 1 werden.

In der Darwin’schen Schlussfolgerung ist daher unzweifelhaft ein Fehler vorhanden.

G. Wolff hat ihn darin gesucht, dass Darwin bei seinen Er- örterungen über die Wirkungen des Kampfes ums Dasein nur die Gefahren in Erwägung zog, denen gegenüber der Organisations- vorteil, welcher die Variante vor den Nichtvarianten auszeichnet, in Betracht kommt, dass er dagegen alle die Gefahren unberück- sichtigt ließ, in welchen überhaupt nicht Organisationsvorteile, sondern Situationsvorteile über Sein oder Nichtsein entscheiden. Dass es auch reine Situationsvorteile gibt, kann keinem Zweifel unterliegen. „Bei einem Eisenbahnunglück bleiben nicht diejenigen unverletzt, die zufällig die festesten Knochen haben, sondern die- jenigen, welche zufällig die günstigsten Plätze einnehmen* (G. Wolff).

Wir müssen noch hinzufügen, dass Darwin auch von den Gefahren abstrahiert, in welchen wohl Organısationsvorteile von wesentlicher Bedeutung für die Erhaltung des Individuums sind, in welchen aber nicht die Organisationsvorteile entscheiden, welche die Varianten vor den Nichtvarianten voraus haben, sondern die, welche beiden gemeinsam sind. Wenn Darwin die Entstehung der eigentümlichen Halsbildung der Giraffe auf dem Wege der

42*

660 Kranichfeld, Erhaltung u. Kontinuität günstiger Varianten i. d krit. Periode.

Selektion erklären will, sieht er von allen anderen Eigenschaften des Tieres und von allen den unzähligen Gefahren verschiedenster Art, welche das heranwachsende und das erwachsene Tier sonst bedrohen, ab und fasst nur die Wirkung einer zufälligen Ver- längerung des Halses in Zeiten der Hungersnot ins Auge. So kommt er zu dem Schluss, dass die natürliche Zuchtwahl alle Individuen mit einem etwas kürzeren Hals vernichten, dagegen die Individuen mit längerem Hals „erhalten und damit separieren wird“.

Diese isolierende Abstraktion ist nun an sich zulässig und bei der Analyse komplexer Erscheinungen nicht zu vermeiden. Sie wird daher auch auf allen Gebieten der Naturwissenschaft im weitesten Umfang angewendet. So reflektiert der Physiker bei der Untersuchung der Lichtbrechung nur auf den Gang der Lichtstrahlen und die Farbenzerstreuung, er abstrahiert aber von der gleich- zeitigen Erwärmung des Prismas, seiner thermischen Ausdehnung u. s. w. Die Fehler einer solchen einseitigen Betrachtungsweise werden leicht eliminiert, wenn es sich um die Analyse wirklich be- obachteter Vorgänge handelt, sie können aber zu großen Irrtümern führen, wenn die Vorgänge, wie bei der natürlichen Zuchtwahl, nur vorgestellte sind. Denn hier fällt dann das in der Beobachtung des wirklichen Vorganges oder Gegenstandes unmittelbar gegebene Korrektiv hinweg. Es muss auf dem Wege der Reflexion erst er- mittelt werden, ob die Wirkung des durch Abstraktion isolierten Vorganges nicht modifiziert bezw. aufgehoben wird durch andere Wirkungen der komplexen Erscheinung. Nicht auf der Anwendung der isolierenden Abstraktion, wie G. Wolff meint, sondern auf der Unterlassung dieser nachträglichen Prüfung beruht der Fehler Darwin’s. An sich schließt die Tatsache, dass es auch Gefahren gibt, in welchen nur der Situationsvorteil entscheidet, die Geltung des Darwin’schen Satzes nicht aus. Hätten die Nichtvarianten in denselben nichts vor der Variante voraus, sondern wären sie ihr nur gleichgestellt, so müsste die Variante doch durchschnittlich er- halten bleiben. Der Vorsprung, den sie durch ihren Organisations- vorteil vor den Nichtvarianten gewinnt, wird durch den früheren oder späteren Kampf unter gleichen Bedingungen nicht elı- miniert, nicht einmal absolut verringert, sondern höchstens in seiner relativen Bedeutung herabgesetzt. Insofern trefien die Einwen- dungen von G. W olff die Darwin’sche Theorie nicht. Wenn er sagt: „Ich kann mir nur wenig Fälle denken, in denen eine zufällige Organisationsvariierung einen Vorteil bietet, dem ich nicht auch einen Situationsvorteil gegenüberstellen könnte. So gut ich an- nehmen kann, dass unter soviel Individuen immer einige sich finden, die gegen eine Gefahr durch irgend einen Variierungsvorteil besser geschützt sind, als die anderen, ebenso kann ich sagen, dass auch

Kranichfeld, Erhaltung u. Kontinuität günstiger Varianten i. d. krit. Periode. 661

nicht alle Individuen sich der Gefahr gegenüber in der gleich günstigen Lage befunden haben. Diejenigen, welche in der gün- stigsten Situation sind, haben mehr Chancen, erhalten zu werden, als die, welche eine weniger günstige Situation einnehmen. Soviel ist jedenfalls sicher, dass das Resultat der Auslese keineswegs aus- schließlich von durch Variierung bedingten Vorteilen abhängt —; es ıst sogar denkbar, dass gegenüber den Situationsvorteilen die Örganisationsvorteile gar nicht in Betracht kommen“ —, so können wir diese Schlussfolgerungen des scharfsinnigen Forschers wenig- stens nicht für unser Problem gelten lassen. Es ist ja möglich, dass im Kampf ums Dasein durch zufällige Situationsvorteile im einzelnen Falle „auch solche Individuen zur Auswahl kommen, welche vermöge ihrer Organisationsvorteile die allerwenigsten Chancen hatten, erhalten zu bleiben“, doch handelt es sich bei dem Darwin’schen Satz nicht um den möglichen einzelnen Fall, sondern um das wahrscheinliche durchschnittliche Ergebnis. Dies kann durch die Situationsvorteile nicht beeinflusst werden. Denn die Vorteile, welche die günstigen Situationen bieten, ver- teilen sich in gleichem Verhältnis auf die Varianten und Nicht- varlanten.

Wie von den zufälligen Situationsvorteilen, können wir auch von den zufälligen günstigen oder ungünstigen Abänderungen ande- rer adaptiver Einrichtungen, als der, welche wir bei unserer iso- lierenden Abstraktion ins Auge gefasst haben, absehen. Auch bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie das Ergebnis nach der einen, oder dass sie es nach der anderen Seite verschieben, gleich groß. Auch sie können daher für den Durchschnitt nicht in Betracht kommen. Es ist nicht die Tatsache selbst, dass es Situationen gibt, in welchen der Organisationsvorteil der Variante bedeutungslos ist, die uns zwingt, den Darwın’schen Satz abzu- lehnen. Wir tun es, weıl eine nähere Untersuchung zeigt, dass in diesen Situationen ein Moment vorhanden ist, infolge dessen die Nichtvarianten vor der Variante regelmäßig im Vorteil sind und ihr den Vorsprung, welchen sie ihrer günstigen Organisation ver- dankte, notwendig wieder abgewinnen müssen. Dies Moment ist die Zahl der Nichtvarianten. Sie ist es, die diesen die unbedingte Überlegenheit über die einzelnen Varianten gibt.

Darwin vergleicht immer nur eine günstige Variante mit einer Nichtvariante und fragt dann, welche von beiden der Wahr- scheinlichkeit nach überleben wird. Die Antwort kann bei dieser Fragestellung nicht zweifelhaft sein. Tatsächlich steht aber der einen Variante richt eine Nichtvariante gegenüber. Die Nach- kommen eines Paares können 100, 1000, 10000 u. s. w. Individuen sein, unter denen 1 Variante, dagegen 100-1, 1000—1, 10000—1 Nichtvarianten sind. Wie wir sahen, entspricht die Größe der Ver-

662 Kranichfeld, Erhaltung u. Kontinuität günstiger Varianten i.d. krit. Periode.

mehrungsziffer stets der Größe der Gefahren, welche die Nach- kommen zu bestehen haben, bis sie zur Fortpflanzung kommen. In jeder der verschiedenen Gefahren wird durchschnittlich ein be- stimmter Prozentsatz der Brut vernichtet. Nehmen wir n ver- schiedene Gefahrenkomplexe von etwa gleicher Größe an, bezeichnen wir ferner die Anzahl der Nachkommen eines Paares mit m, so

a E m 2 ee gehen in jedem dieser n Gefahrenkomplexe ——— Individuen der n

Nachkommenschaft eines Paares zugrunde. Es soll nun die Vari- ante gegen den einen Gefahrenkomplex durch ihren Organisations- vorteil absolut geschützt sein. Die Variante bleibt dann in dem-

. _

selben erhalten, während 1 Nichtvarianten aus dem

Konkurrenzkampf ausscheiden. In den (n— 1) übrigen Gefahren- komplexen entscheidet nur der Zufall über Sein oder Nichtsein, aber gerade darum läßt sich das durchschnittliche Resultat nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung bestimmen. Es hängt ausschließ- lich von der bezüglichen Anzahl der Individuen ab, in welcher Varianten und Nichtvarianten in den Wettstreit eintreten. Be- zeichnen wir die Anzahl der Nichtvarianten, mit welchen die Vari- ante den Kampf ums Dasein auf gleichem Fuße zu führen hat,

ii 122), n

Die Formel hat die gleiche Geltung, mag der eine Gefahren- komplex, in welchem die Variante geschützt ist, am Anfang, in der Mitte oder am Ende der ontogenetischen Entwickelung liegen. Es ist ferner stets e > 2, da man auch m > 2 undn > 1 an- m n positiven Wert erhält. Wollte man m = 2 bezw. n = 1 setzen, so würde das heißen, dass die Nachkommenschaft eines Paares durchnittlich nur in 2 Individuen bestehe, bezw. dass es nur einen Gefahrenkomplex gebe, in welchem die Variante absolut geschützt sei. Diese beiden Fälle können aber nicht in Betracht kommen. Es ist eine unmögliche Annahme, dass in einer Art, welche sich erhalten soll, ein Paar durchschnittlich nur 2 Junge zur Welt bringe, und ebenso, dass ein ÖOrganisationsvorteil allen Gefahren gegenüber Schutz gewähre. Eine verbesserte Eihülle schützt nicht die ausgeschlüpfte Brut; ein verbesserter Zahn des ausgewachsenen Tieres nicht die abgesetzten Eier. Wenn daher auch die Variante aus dem einen Gefahrenkomplex unversehrt hervorgeht, während

mit e,soiste=(n —1)-

nehmen muss und der Ausdruck (n 1)- darum einen

l) m—]). Bu gibt die Zahl der noch zugrunde gehenden; 2 die Zahl

der voraussetzungsgemäß übrigbleibenden Nichtvarianten an.

Kranichfeld, Erhaltung u. Kontinuität günstiger Varianten i. d. krit. Periode. 663

\

ihm een 1 Nichtvarianten erliegen, so steht sie doch ın den anderen Gefahrenkomplexen stets einer Anzahl von Nicht- varlanten gegenüber, die > 2 ıst und in der Regel viele hunderte, tausende, hunderttausende beträgt. Die eine Variante muss daher durchschnittlich trotz ihres Organisationsvorteils zugrunde gehen. Wenn Weismann sagt: „Wir sehen, ein wie großer Prozentsatz jeder Generation bei allen Arten immer wieder zugrunde geht, ehe er die Reife erlangt hat. Wenn nun die Entscheidung darüber, wer zugrunde gehen und wer die Reife erlangen soll, nicht immer bloß vom Zufall gegeben wird, sondern zum Teil auch von der Beschaffenheit der heranwachsenden Individuen; wenn die „Besseren“ durchschnittlich überleben, die „Schlechteren“ durchschnitt- lich vor erlangter Reife absterben, dann liegt hier ein Züchtungs- prozess vor, durchaus vergleichbar dem der künstlichen Züchtung, und der Erfolg derselben muss die „Verbesserung“ der Art sein“ —, so sind die von ihm gemachten Voraussetzungen falsch. Nicht die „Beschaffenheit“, sondern die Anzahl gibt in letzter Instanz den Ausschlag.

Es mögen die Verhältnisse noch durch einen Vergleich ver- deutlicht werden. Es sollen A und B eine Reihe von Jahren in einer Lotterie spielen, die 50000 Lose hat. Von diesen Losen werden 2500 ın den 4 ersten Klassen gezogen. A nimmt nur eine Nummer, aber er wählt sie erst, nachdem die 4 ersten Zieh- ungen vorüber sind. B spielt alle anderen Nummern. Wird der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach der Hauptgewinn auf die Nummer des A oder eine der Nummern des B fallen? Die Nummer von A hat einer einzelnen Nummer von B gegenüber die Chance, dass bei ıhr die Möglichkeit, schon vor der 5. Klasse aus dem Kon- kurrenzkampf ausgeschieden zu werden, wegfällt. Trotzdem wird selbstverständlich durchschnittlich eine der Nummern des B das große Los gewinnen.

Es trıtt nun auch der für unsere Untersuchung in betracht kommende Unterschied zwischen Variante und Varietät scharf hervor. Die Variante ist ein Einzelindividuum, die Varietät ein Kollektivum von zahlreichen einzelnen Individuen. Bei der Variante ist die Vermehrungsziffer nur als Anlage gegeben, bei der Varietät haben stets einzelne Individuen das fortpflanzungsfähige Alter er- reicht und die Anlage realisiert. Während daher für dıe Varietät diemathematische Gleichung: Vermehrungsziffer Vernichtungs- ziffer besteht, kann man die Gleichung bei der Variante nur in einem gewissen biologischen Sinne festhalten. Es besteht für die Variante die ideale Möglichkeit, soviel Nachkommen zu er- zeugen, als der mittleren Vermehrungsziffer entspricht. Die Wahr- scheinlichkeit, dass dies geschieht, ist aber gleich dem reziproken

664 Kranichfeld, Erhaltung u. Kontinuität günstiger Varianten i. d. krit. Periode.

Wert der Vermehrungsziffer oder genauer wenn m wieder wie oben die Vermehrungsziffer, n die Anzahl der Gefahrenkomplexe 2 bezeichnet = ————— |), ini... 2 n Der Wahrscheinlichkeitsgrad wird = 1, wenn die Variante 2 i m ——— -mal aufgetreten ist. n 4

Erst wenn die Variante zufällig zur Fortpflanzung gelangt ist, kann sie für unsere Betrachtungsweise der Varietät gleichgestellt und auch bei ihr die eventuelle adaptive Anlage als entscheidend für ihre Erhaltung angesehen werden. In der vorhergehenden Periode, die man als die kritische bezeichnen kann, wird der Vor- teil der besseren Organisation überwogen durch den Nachteil der geringeren Anzahl, in welcher sie auftritt.

Indem man diesen wichtigen Unterschied zwischen Variante und Varietät bezw. Art übersah, kam man zu der irrigen Meinung, dass eine mit besonderen Organisationsvorteilen ausgestattete ein- zelne Variante eine Varietät oder Art verdrängen könne.

Man hat nun wohl auf der Darwinistischen Seite die Forderung aufgestellt, dass die Varianten, welche erhalten bleiben sollen, auch stets in einer größeren Anzahl von Individuen vorkommen müssten. Beruht aber die Variante auf der fluktuierenden Variation und nur diese kann, wenn die Selektionslehre eine mechanische Er- klärung der adaptiven Einrichtungen geben soll, im Frage stehen —, so ist die Anzahl der möglichen Varianten durch das Newton’sche Binomium bestimmt. Sie wird um so kleiner, je weiter die Variante vom Mittel abweicht. Eine für die Selektionstheorie brauchbare Variante der fluktuierenden Variation kann daher wenigstens in einer Generation niemals in der für die Erhaltung derselben er- forderlichen Anzahl vorhanden sein. Es müssen zahlreiche Gene- rationen vergehen, in denen sie immer und immer wieder auftritt, bis die Wahrscheinlichkeit ihrer Erhaltung = 1 wird.

So ıst schon die Wahrschemlichkeit der Erhaltung der Vari- anten eine minimale. Die Wahrscheinlichkeit der Akkumulation der Variationen wird aber annähernd 0.

Es kommt bei Berechnung dieser ein Moment mit in Betracht, das man meines Wissens trotz seiner Bedeutung für die ganze

I) Oder, wenn die Art mehrere (ec) Jahre fortpflanzungsfähig bleibt:

EV,

Kranichfeld, Erhaltung u. Kontinuität günstiger Varianten i. d. krit. Periode. 665

Frage bisher übersehen hat: Eine Akkumulation der Variationen ist nur möglich bei einer Kontinuität der Varianten. Es genügt nicht, dass hier und dort einzelne Variationen erhalten bleiben. Ein adaptives Organ kann sich nur dann entwickeln, wenn eine Variante sich in tausend und abertausend Generationen fortpflanzt und durch zahllose, in richtiger Folge nach einander auftretende neue Variationen auf eine immer höhere Stufe der Ausbildung ge- bracht wird. Es müssen an derselben Variante, welche durch die Variation a! entstanden ist, bezw. an deren Nachkommen, auch die Variationen a?, a?, a*..., a!P°, aus welchen die betreffende adaptive Einrichtung zusammengesetzt ist, auftreten. Würde z.B. die Variation a? bei einer anderen Variante erhalten werden, als bei der, welche bereits die Variationen a! und a? akkumuliert hat, so würde sie nichts nützen.

Wie kann nun aber eine solche Kontinuität vorhanden sein, wenn der Zufall ın jeder Generation mit ins Spiel kommt und wabllos aus unzähligen Formen bald die eine, bald die andere herausgreift, um sie zu erhalten, während er die ungeheure Mehr- zahl derselben vernichtet. Es werden die Karten nach jedem Zug wieder durcheinander geworfen. Jede neue Flut zerstört die Bildung der vorhergehenden. Wir können den Wahrschemlichkeitsgrad für die Bildung jener adaptıven Einrichtung beim Stör, die aus 100 Variationen bestehen soll, unter den obengenannten Voraussetzungen berechnen. Wir sahen, dass er für die Erhaltung der ersten Vari- ante 1:47500000 war. So außerordentlich niedrig er ist er wird erst dann = 1, wenn im Lauf der Jahrtausende die betreffende

a: 475000 Varıatıon 2 Zu

-mal aufgetreten ist so schließt er doch

bei der großen Anzahl der Störe und. ihrer außerordentlichen Fruchtbarkeit immerhin die Annahme der Erhaltung nicht aus. Für die zweite Variation beträgt dagegen der Wahrscheinlich- _ a © Oo keitsgrad für die Erhaltung unter der Voraussetzung der Kontinuität der Variante nur noch (1 :47500000)?; für die 100. Variation nur noch (1 : 47500000) !% d. h. er ist annähernd = 0. Wir haben dabei, um die Rechnung zu vereinfachen, den Organi- sationsvorteil gleich bei der ersten Variation mit 5°/, eingesetzt. Es springt in die Augen, dass es nicht in Betracht kommt, ob der Wahrscheinlichkeitsgrad für die Erhaltung der ersten Variante 1: 47500000 ist, wie bei dem Stör, oder nur 1:3, wie bei dem

100 Elephanten. Es nähert sich ) so gut der Null, wie

( j| ) 100 47500000 Daraus ergibt sich, dass sich die adaptiven Einrichtungen über-

666 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

haupt nicht „aus zahllosen kleinen, zufälligen Variationen“ oder auch aus einzelnen Mutationen, wie wir sie bisher kennen gelernt haben, gebildet haben können.

Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. Von K. C. Schneider, Wien.

Im folgenden beabsichtige ich auf Grund meiner im Artikel „Vitalısmus“ (Biolog. Centralblatt Bd. 25 Nr. 11) dargelegten er- kenntnistheoretischen Anschauungen!) zu den Grundproblemen der vergleichenden Tierpsychologie Stellung zu nehmen. Ich werde von den Ansichten einzelner Forscher ausgehen, in einer Reihen- folge, wie sie sich aus der Bedeutung der behandelten Fragen von selbst ergibt. Zunächst knüpfe ich an Forel’s Anschauungen an, der sich in den letzten Nummern des Biolog. Centralblattes (Nr. 14 und 15) mit großer Bestimmtheit über das Wesen der Bewausst- seinsvorgänge ausgesprochen hat.

Forel sagt auf S. 485: „Es sollte nachgerade nicht mehr über die erste Grundlage einer jeden Erkenntnistheorie diskutiert werden, nämlich über die folgenden Punkte: 1. Dass wir nur Verhältnisse zwischen den Erscheinungen, die wir von den Dingen haben, kennen und kennen können. 2. Dass dasjenige, was wir Erscheinungen nennen, nichts anderes als Symbole sind, durch welche die ver- mutete Realität der Außenwelt sich uns vermittelst unserer Sinne kundgibt.“ Forel zitiert noch verschiedene Punkte, in denen er weiter auseinandersetzt, dass unsere Empfindungen durch eine Außenwelt (über die er sich jedoch nicht näher ausspricht) im Hirn ausgelöst und hier unter Benützung der eigenen Erfahrung und der anderer Menschen zur objektiven Erkenntnis der Dinge ver- wertet werden. Er sagt $S. 487: „Selbst der enragierteste Spiri- tualist wird ‘das Vorhandensein reeller Äpfel in der Außenwelt nicht leugnen, deren Symbole auf meine Sinne wie auf die Sinne unzähliger anderer Menschen in uns, d. h. in unsere Gehirne, all- mählich den synthetischen Begriff Apfel gebildet haben.“ Diese Begriffe, z. B. Materie, Licht, Energie u. a. dürfen nicht etwa selbst für objektive Realitäten erklärt werden. Sie sind nur Ab- straktionen, aber als solche objektive Erkenntnisse, weil aus sehr vielen subjektiven Symbolen kritisch abgeleitet.

Forel verwirft auf Grund dieser Ansichten den psychophysischen Parallelismus, der die Empfindungen und die ihnen entsprechenden

1) Siehe auch die Artikel: Der psychophysische Parallelismus, in: Wiener klinische Rundschau 1905 Nr. 24, 26—29, ferner: Das Wesen der Zeit, ebenda 1905 Nr. 11 und 12 und: Raumwahrnehmung, in: Zukunft Nr. 45 Jahrgang 13 (5. August 1905).

Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. 667

Nervenvorgänge als zwei ganz verschiedene Dinge auffasst, und stellt eine Identitätslehre auf, nach der beide nur „zwei verschiedene Erscheinungsformen der gleichen Realität“ sind (S. 488). „Die eine ist direkt gefühlt (die psychische), die andere indirekt (die sogen. objektive oder physiologische Hirntätigkeit), d. h. allerdings nur wissenschaftlich aus sekundären subjektiven Reihen erschlossen, aber deshalb nicht weniger feststehend.*“

Wenn diese „Punkte“ feststünden, dann bliebe es allerdings verwunderlich, dass immer noch über die „erste Grundlage jeder Erkenntnistheorie“ diskutiert wird. Aber sie stehen so wenig fest, dass eine jede Erkenntnistheorie, die sich darauf stützt, notwendiger- weise fortwährend angegriffen werden muss, bis sie endlich gänz- lich in Verruf gelangt. Forel begeht den grundlegenden Fehler, dass er außerpsychische Realitäten annimmt, z. B. reelle Äpfel in der Außenwelt, von denen wir durch unsere Sinne subjektiv erfahren und die wir auf Grund solcher Erfahrung sekundär objektiv er- kennen sollen. Diese Realitäten existieren ganz einfach nicht; sie sind, um Forel’s eigenen drastischen Ausdruck anzuwenden, der „reinste Schwindel“. In ihrer Annahme wurzeln alle psycho- physiologischen Streitigkeiten und es wird endlich Zeit, dass man über diese erste elementare Wahrheit der Erkenntnistheorie zu diskutieren aufhört. Forel hat Empfindungen und daraus abge- leitete Vorstellungen von Dingen, aber nicht den geringsten Anhalt für die Annahme sogenannter Dinge an sich; wenn er also sagt, dass „unsere subjektiven Seelenerscheinungen keine Seelenrealität an und für sich sind, die von der Realität der Gehirntätigkeit ver- schieden wäre“, so hat er überhaupt nichts reales, denn real kann doch nur sein, was für uns existiert. Für uns existiert aber als unmittelbar Gegebenes nur der Empfindungsinhalt, nicht aber die Gehirntätigkeit; nur jene ist Realität und wird von der objektiven Erkenntnis allein zur dinglichen Ausgestaltung der psychischen Welt verwertet.

Forel scheint Avenarius, Mach, Schuppe, Ziehen und andere verwandte Psychologen nicht zu kennen, die sich gegen die Intro- jektion, d. h. gegen die Verlegung der Empfindungsinhalte (Ele- mente) ins Gehirn, ausgesprochen haben. Der Nervenvorgang hat, wie ich ausführlich in der Klin. Rundschau darlegte, gar nichts mit dem Element substanziell zu tun; er wäre, falls er in unser Bewusstsein überhaupt fiele, ein Element ganz für sich, nur untrennbar an jenes gebunden, weil er die Reaktion des Subjekts auf den Eintritt des Empfindungsinhalts in das Subjektbewusstsein vermittelt. Weil wir unter dem Einfluss der Empfindungsinhalte handeln, deshalb gehört zu jedem Inhalt ein Nervenvorgang; eine andere Beziehung beider zu einander gibts nicht, was schon ganz von selbst daraus folgt, dass ein Nervenvorgang erstens vollkommen unvermögend zur Pro-

668 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

duktion von Psychischem ist, und zweitens auch in keiner Weise als Äquivalent des zugeordneten Elements erscheint, da alle Nerven- vorgänge wesentlich gleichartig, die Elemente aber von der größten Mannigfaltigkeit sind. Und wenn Forel als nötig zum Beweis des psychöphysischen Parallelismus die Darstellung einer gehirnlosen Seele fordert, so sei ihm zur Antwort gegeben, dass allerdings unsere Seele zum Teil und zwar zum weitaus größten Teil gehirnlos ist; denn allen unseren Erinnerungen entsprechen keine Vorgänge ım Gehirn, wie ich es in dem Artikel über das Wesen der Zeit genauer dargelegt habe (siehe dort).

Dass Forel gleich so vielen anderen zur Identitätslehre kommt, erklärt sich leicht (siehe auch die Schlussbemerkungen), ist aber auch in anderer Hinsicht unhaltbar. Die Analyse unserer Nerven- vorgänge drängt zu der Ansicht, dass hier ein materielles Substrat vorliegt, an dem sich molekulare Bewegungsvorgänge abspielen. Wir sehen nun den Organismus wesensverwandt mit allen anderen Dingen, denen wir auch eine Materie zu grunde legen. Bekannt sind uns aber die Dinge nur als Empfindungsinhalte; wenn nun also diese Inhalte bei wissenschaftlicher Betrachtung als Be- wegungszustände der Materie erscheinen, so haben wir hier zweimal ein und dasselbe, nur beide Male in verschiedener Weise erfasst. Das gibt Anlass zu einer Identitätslehre, aber diese Lehre bezieht sich gar nicht auf die Identität von Empfindungselement und zu- gehörigem Nervenvorgang, sondern von Element und Vorgang an der außenweltlichen Materie. Der Nervenvorgang, der durch den letzteren ausgelöst wird, tritt immer als etwas Besonderes hinzu, das, wie schon gesagt, selbst zum Element werden könnte, falls die geeigneten Bedingungen erfüllt wären. Der Parallelismus ist also unbestreitbar.

Wenn ich sagte, jedem Element entspricht ein materieller

Vorgang, der tatsächlich mit ıhm identisch ist also z. B. die Schwingung der Luftteilchen dem Ton so fragt sich weiterhin:

sind beide real oder ist real nur die Empfindung, die uns direkt gegeben ist, deren Realität also nicht angezweifelt werden kann? Zunächst ist hervorzuheben, dass die Auflösung der Elemente in bewegte Materie oder in ein beliebig anders vorgestelltes Sub- strat (Energetik) gar nichts mit der geistigen Verarbeitung, also mit der objektiven Erfassung des Weltgeschehens zu tun hat. Unser Geist bildet aus den Elementen durch höhere Anschauung Objekte, also Körper, deren Gegebensein das Weltbild ungeheuer verein- facht. So formen wir aus zahlreichen Elementen den Körper Diamant, der nun für uns als reales Objekt in der Außenwelt existiert (über die begriffliche Erfassung siehe später). Ganz ver- schieden davon aber ist unser Bemühen, die Elemente als Atom- bewegung zu erfassen, denn dabei lösen wir sie in zahllose Unter-

Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. 669

elemente auf, zerstreuen also unsere sinnliche Welt aufs äußerste am stärksten, wenn schließlich alle Dinge als Zustände des Äthers erkannt werden. Dass wir das überhaupt tun, erklärt sich daraus, dass dabei doch ein Vorteil erzielt wird. Wir setzen näm- lich an Stelle der differenten Sinneselemente differente Bewegungen (oder Zustände) eines gleichartigen Substrats (der Diamantatome oder des Äthers) und gewinnen dabei ein für die begriffliche Ver- arbeitung höchst geeignetes Material. Es gibt also folgende Stufen- leiter: 1. Ätherzustände, 2. Komplexe bewegter Atome, 3. Sinnes- elemente und 4. Körper. Diese vier Dinge sind alle identisch; sie sind ein Ding in viererlei Betrachtungsweise. Die Welt besteht für uns entweder aus Ätherkomplexen oder aus Atomkomplexen oder aus Elementkomplexen oder aus Körpern, je nachdem wir sie eben anzuschauen vermögen. Unmittelbar gegeben ist uns die Welt nur in Form von Sinneselementen, die deshalb auch als das Realste erscheinen was es gibt. Da aber auch die mittelbar (geistig) erfassten Körper psychischer Natur sind, so ist gleichfalls ihre Re- alität nicht zu bezweifeln. Doch auch die Realität der Materie und des Äthers kann nicht abgeleugnet werden, wir brauchen nur unsere Instrumente, die uns auf Moleküle etc. schließen lassen, als Mittel zur Einstellung unserer Psyche auf das unendlich Kleine auf- zufassen. Für eine Psyche, die durch sich selbst durch ihre eigenartige Beschaffenheit auf Atome oder gar Ätherteile ein- gestellt wäre, existierten diese letzteren als unmittelbar gegebene Sinneselemente, also als unbestreitbare Realitäten !), während unsere Elemente gar nicht oder nur mittelbar erfasst würden.

Eine derartige Identitätslehre ist für das Verständnis der Lebe- wesen von der allergrößten Bedeutung. Ich möchte hier eine Be- merkung einschalten. Meiner Ansicht nach sind die Atome selbst derartig psychisch veranlagte Dinge, dass sie direkt auf Wahr- nehmung von Atombewegung eingestellt sind. Atome reagieren auf die Einflüsse der atomal wahrgenommenen Umgebung, ebenso wie wir als Komplexe sinnlicher Qualitäten auf sinnliche Qualitäten reagieren. Wir reagieren selbstverständlich auch, insofern wir Summen von Atomen sind, auf materielle Einflüsse; aber außerdem reagieren wir auch sinnlich und diese Art der Reaktion ist uns direkt allein bekannt. Sie ist die eigentlich vitale, die nur mit

einheitlich erfassten Komplexen bewegter Atome operiert und uns

deshalb himmelweit von den Anorganismen trennt, von denen uns nur materielle Reaktion vorläufig bekannt ist (siehe näheres über diese Fragen in meinem Artikel Vitalısmus).

Fasse ich den Inhalt des bis jetzt Vorgetragenen kurz zusammen, so ergibt sich, dass die Welt rein psychisch ist, nur je nach der

1) Die neuesten Fortschritte der mikroskopischen Technik dürften uns in der Tat Moleküle sichtbar machen.

670 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

psychischen Veranlagung ihrer Inhalte verschieden angeschaut wird. Damit haben wir nun zugleich eine Frage beantwortet, die gleich- falls zu fortwährenden Streitigkeiten Anlaß gibt, nämlich die, ob die an Tieren zu beobachtenden Vorgänge bewusste sind oder nicht. Der hier vertretenen Auffassung nach müssen sie alle bewusst sein; es gibt eben gar keine anderen. Damit stelle ich mich aber in fundamentalen Gegensatz zu zahlreichen Autoren, die von der Be- wusstheit im Tierleben am liebsten gar nichts wissen wollen und bestrebt sind, psychologische Tieruntersuchungen auf rein physio- logischer Basis durchzuführen. Indessen ist der Gegensatz praktisch gar kein wichtiger, wie ım folgenden näher enlescn sein wird.

Beer, A und Üxküll unterscheiden (Biolog. Centralblatt Bd. 19 S. 517 u. f.) zwischen dem objektiven Reiz, dem physio- logischen ee und der eventuellen Empfindung bei jeder Reizung eines Organismus. Nach meiner Anschauung ist nur die Unterscheidung zweier Komponenten berechtigt, nämlich des ob- jektiven Reizes und des physiologischen Vorgangs, denn die Em- pfindung fällt mit dem objektiven Reiz zusammen. Die Äther- schwingung, welche einen Nervenvorgang auslöst, ist identisch mit der Lichtempfindung und wird nur durch eine andere Anschauungs- weise gewonnen. Sie existiert für das Tier so wenig wie für uns, da Alles Organische die Außenwelt nur in Form von Empfindungs- inhalten ni Trotzdem besteht nun aber die Ansicht, dass gewisse uns tangierende Vorgänge von Empfindung begleitet seien, lee aber ch und zwar a sie durchaus zu recht, ohne dass deshalb jedoch der hier vertretene Standpunkt verworfen werden müsste.

Wir beobachten an uns Reizbeantwortungen, deren Auslösung uns bewusst oder unbewusst ist. Wenn ein Lichtstrahl unser Auge trifft, so verengt sich die Pupille, ohne .dass wir oft von dem Reize eine Ahnung haben. Indessen braucht der Reiz nur stark genug zu sein, damit er in unser Bewusstsein fällt; wer nun der Ansicht ist, dass zwischen beiderlei Reflexen ein prinzipieller Unter- schied besteht, insofern im einen Falle etwas dazu kommt (Em- pfindung), was im andern Falle ganz fehlt, der betrachtet das Psychische als Nebenprodukt des Nervenvorgangs, abhängig von dessen Intensität. Er verfällt somit ın den fundamentalen Fehler, dass er das Psychische ins Nervensystem introjiziert und aus materiellen Vorgängen ableitet, was doch vollkommen unmöglich ist. Wer diese Anschauung zurückweist, muss nun aber erklären, warum die Empfindung unter Umständen ausbleiben kann. Diese Erklärung fällt nicht schwer; es bedarf nur der Annahme, dass die Empfindung statt in unser Oberbewusstsein in ein Uhnter- bewusstsein fällt, dass sie also in Wirklichkeit auch bei dem un- bewussten Reflexvorgang vorhanden ist.

Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. Iyal

Zu solcher Annahme sind wir durchaus berechtigt. Wir können im Nervensystem differente Zentren unterscheiden, die zwar nichts mit der Bildung des Psychischen zu tun haben, doch aber Zeugnis ablegen für Zentren im Psychischen, die sich mehr oder weniger innig an andere anschließen oder ihnen über- bezw. untergeordnet sınd. Das ist eigentlich ganz selbstverständlich, wenn wir die andern Beweise selbständiger Vitalität der Körperteile, die sich solchen nervösen Zentren zuordnen, beachten. Beim Menschen tritt diese Selbständigkeit nicht so deutlich hervor wie bei Tieren, weil bei ihm eine vollkommene Zentralisierung des anatomischen Baues angestrebt ist, während dagegen z. B. Gliedertiere aus zahl- reichen gut gesonderten und recht selbständigen Teilen sich auf- bauen. Da wir nun Gliedertieren in jenen Fällen, ın denen sie Gedächtnis beweisen (Loeb), unbedingt Bewusstsein zuschreiben müssen, so kann es gar keinem Zweifel unterliegen, dass außer an das Gehirn, das für die Gedächtniserscheinungen in erster Linie in Frage kommt soweit eben überhaupt Psychisches und Nerven- vorgänge in Beziehung zu einander stehen auch an die andern Nervenzentren (Bauchganglien) Bewusstsein geknüpft ist. Isolierte Körperteile.bewegen sich, wachsen, regenerieren, vermehren sich, kurz sie verhalten sich wie selbständige Tiere und sind auch des- halb am ganzen Tier Unterindividualitäten, die bei Isolation, falls nur die Bedingungen günstig sind, zu besonderen Individualitäten werden. Wachstum, Teilung, Vermehrung, Bewegung, Tropismen u. s. w., also alle Charakteristika des Lebens zeichnen aber auch die einzelnen Zellen des Körpers, ja sogar deren letzte morpho- logische Einheiten (Chondren) aus, die demnach auch als Unter- individualitäten erscheinen und denen somit gleichfalls ein eigenes Bewusstseinszentrum zugeordnet sein muss. Wir haben in jedem Bewusstseinskomplex, der einem Organismus entspricht, zahlreiche Organbewusstseine, Zellenbewusstseine u. s. w. anzunehmen und dürfen uns daher gar nicht wundern, dass Reizbeantwortungen bald für den Gesamtorganismus bewusst, bald unbewusst verlaufen; in Wahrheit verlaufen sie immer bewusst, nur fällt die Empfindung oft in irgend ein Unterbewusstsein.

Die lebende Substanz ist im allen ihren Ausbildungsweisen prinzipiell von so grosser Gleichartigkeit, dass es direkt wider- sinnig erscheinen muss, Bewusstsein nur in Beziehung zu Vor- gängen in bestimmten Zellen zu setzen. Nun ist aber äußerst interessant, dass die vergleichende Psychologie immer mehr das Bewusstsein aus dem ganzen Körper herausweist und, während ich allen vitalen Teilen Bewusstsein zuspreche, es sogar dem Ge- hirn ın vielen Fällen abspricht, eben weil sie zu der Ansicht kommt, dass alle nervöse und plasmatische Substanz im wesent- lichen gleichartig ist. Loeb zeigt, dass für viele Reflexe über-

= -

) ec r I 2” 672 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

haupt ein Zentrum ganz entbehrlich ist, da dieses besten Falls die Reaktion beschleunigen, nicht aber sie bedingen kann. So wird bei ihm alle Reizbeantwortung zum Tropismus, der eine nervöse Substanz gar nicht voraussetzt und deshalb bis jetzt speziell als Leistung der Pflanzen und einzelligen Tiere angesehen wurde; die Entwicklung eines Nervensystems ermöglicht bei Loeb nur raschere und ausgiebigere Reaktion, nicht aber fügt sie der Reaktion ein neues wesentlich verschiedenes Moment, das Bewusstsein, hinzu. Dass Loeb überhaupt Bewusstsein bei Tieren annimmt, erscheint eigentlich als Inkonsequenz und nur dadurch bedingt, dass doch vielfach gar zu auffallende Übereinstimmung des Geschehens bei Tieren mit dem bei Menschen vorliegt, was unbedingt die An- wendung des Analogieschlusses nötig macht. Ja, wenn der Mensch nicht wäre, d. h. eigentlich nur wir selbst, dann würde man über- haupt alles Bewusstsein in Abrede stellen und hätte derart die vergleichende Psychologie zu einer schön einheitlichen Wissenschaft abgerundet, d. h. sie wäre dann ganz Physiologie geworden. Leider geht das nur gewaltsam und so steht denn die vergleichende Psychologie als ein Zwitterding da, das jeden tiefer Denkenden bedenklich an den bekannten Greis auf dem Dache erinnert.

Die von der modernen Psychologie so weitgehend vollzogene Extrojektion des Bewusstseins aus dem Körper ist nur Bestätigung der erkenntnistheoretischen Selbstverständlichkeit, dass das Psy- chische nicht in uns, sondern draußen in der Welt existiert, die es eben ganz allein aufbaut. Dem Plasma Bewusstsein zuschreiben, das erscheint den meisten heute noch als Ungeheuerlichkeit, und da sie nun die prinzipielle Gleichheit jedes beliebigen Plasmas mit der Nervensubstanz erkennen, so wird eben das Bewusstsein, so weit als es nur irgend angeht, abgeschafft. Man scheut sich das Wort Bewusstsein überhaupt in den Mund zu nehmen; außer Bethe und Uexküll sei in dieser Hinsicht auch Ziegler genannt, der aus der Definition der Instinkte das subjektive Bewusstseinsmoment

weggelassen haben will. Aber das Bewusstsein soweit die Em- pfindung in Frage kommt ist eben gar nicht subjektiv, sondern

objektiv, da es mit dem objektiven Reiz zusammenfällt. Das Be- wusstsein ist auch mit jedem Plasmavorgang verbunden und seine Abschaffung aus der Psychologie eine vollständige Unmöglichkeit. Trotzdem kann nun aber in sehr vielen Fällen die Bewusstseins- frage bei psychologischen Untersuchungen unberücksichtigt bleiben. Wenn es sich nämlich nur darum handelt, die Existenz eines Reizes als Ursache einer beliebigen Reaktion nachzuweisen, dann ist es ganz gleichgültig, ob der Reiz als psychischer oder als materieller erkannt wird. Das gilt nun aber für sehr viele Fälle der vergleichen- den Psychologie; nur in bestimmten Fällen ist nach der Bewusstheit zu fragen und auf diese haben wir im weiteren näher einzugehen.

x

Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. 675

Es handelt sich um eine rationelle Unterscheidung der diffe- renten Reizbeantwortungen. Es gibt Tropismen (auch Antitypien genannt), Reflexe, Instinkte, Automatismen, Handlungen, Assozi- ationen, Reflexionen, Schlüsse und Wollungen, die bis jetzt bei weitem nicht klar genug auseinandergehalten werden. Allerdings kommen bei den Tieren manche dieser psychischen Vorgänge nicht vor, immerhin muss sie eine vergleichende Psychiologie scharf unterscheiden lernen, um eben den so bedeutungsvollen Unterschied zwischen Tier und Mensch genau festzustellen. Es ist klar, dass wir bei der Frage, ob dem Tier Intelligenz und Willen zukommt, des Analogieschlusses nicht entbehren können; aber das muss ganz selbstverständlich erscheinen, wenn die prinzipielle Frage nach der Bewusstheit aller Reizbeantwortungen bejahend beantwortet wurde. Wer im Tropismus und Reflex keinen physikalisch-chemischen, sondern einen vitalen (psychischen) Vorgang erblickt, der wird sich nicht scheuen, aus ähnlichen Vorgängen an Tieren auf ähn- liche Ursachen wie beim Menschen zu schließen, soweit solches Schließen überhaupt zum Verständnis des Vorganges unbedingt notwendig erscheint. Es hat sich ja auch in der vergleichenden Psychologie eigentlich nie darum gehandelt, ob der Analogieschluss angewendet werden darf oder nicht, denn angewendet hat ihn doch jeder; nur ob er mit Kritik angewendet wurde, darum handelte es sich. In diesem Sinne sprachen sich Forel, Wasmann und andere ausgezeichnete Tierbeobachter aus und ich kann mich ihnen nur anschließen.

Auf Grund meiner im Artikel Vitalismus dargelegten erkenntnis- theoretischen Anschauungen die hier noch einige Ergänzung er- fahren werden glaube ich mit größter Schärfe verschiedene Stufen der psychischen Betätigung unterscheiden zu können, die so manche strittige Frage in überraschender Weise ihrer Lösung entgegenführen. Es gibt vier Stufen psychischer Entwicke- lung. Die erste niedrigste Stufe ist die der Sinnlichkeit. Eine Empfindung löst eine Reaktion aus, damit ist der ganze Vorgang erschöpfend dargestellt. Hierhin gehören die Tropismen und Reflexe, von denen. die ersteren auf Vorgänge ohne Nerven- vermittlung, die letzteren auf Vorgänge mit Nervenvermittlung bezogen werden. Ob die Empfindung ins Oberbewusstsein oder in ein Unterbewusstsein fällt, ist ganz gleichgültig; für diese Reız- beantwortungen ist überhaupt die Frage nach dem Bewusstsein recht bedeutungslos und es genügt der Nachweis des physiologi- schen Vorganges. Tropismen und Reflexe erkennen wir, wie be- kannt, an der steten Gleichheit der Reaktion; sie werden nicht modifiziert, sind deshalb elementar und unerlernt, sozusagen Grund- eigenschaften der Organismen.

Die zweite Stufe psychischer Entwickelung ist die Ver-

XXV. 2

074 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

geistigung. Eine Empfindung löst eine Reaktion unter Beihilfe von Vorstellungen aus. Die Vorstellungen entstammen entweder der Erfahrung oder sind ererbt; indem sie die Reaktion mit- bestimmen, wird diese zum Erfahrungsgeschehen oder zur Instinkthandlung. Zunächst sei das Erfahrungsgeschehen be- rücksichtigt. Dieses ist nicht etwa zu verwechseln mit intelligenten oder Willenshandlungen (über diese später), da sich weder Er- kenntnis noch Wollen mit ihm verbindet; es repräsentiert nichts weiter als ein Geschehen, das sich, außer unter Einfluss des Reizes, auch unter dem Einfluss von Erinnerungen oder von abgeleiteten Vorstellungen der verschiedensten Art, die intra vitam erworben wurden, abspielt. Demgemäß ist klar, dass es ein bewusstes Ge- schehen ist, insofern dem Reize ein früherer Bewusstseinsinhalt assoziiert wird; doch kann sekundär diese assoziative Verknüpfung eine derart innige werden, dass sie aus dem Oberbewusstsein ent- schwindet. In diesem Falle handeln wir automatisch. Wenn z. B. der Anblick eines Notenstückes Anlass wird, dass wir das ganze Stück aus dem Kopf herunterspielen und dabei an ganz etwas anderes denken, so nennt man diese Art des Geschehens einen Automatismus. Ein Automatismus war also früher stets eine bewusste Handlung und zwar ein Erfahrungsgeschehen.

(Ganz anders steht es mit den Instinkten. Die mit dem Reiz sich verknüpfenden Vorstellungen wurden nicht bewusst erworben, stellen also kein Element der Erfahrung dar, sondern sind ererbt. Die Spinne webt ihr Netz, ohne je eins gesehen zu haben; die Seidenraupe spinnt unter gleichen Voraussetzungen ihren Kokon, die Biene baut ıhre Waben, das Küchlein duckt sich vor dem Sperber, das Kätzchen hascht die Maus ebenfalls ohne durch die Erfahrung gegebene Anleitung. Möglich bleibt allerdings, dass die mitbestimmenden Vorstellungen von den Vorfahren bewusst er- worben wurden, dass also der Instinkt bei früheren Generationen erst Erfahrungsgeschehen, dann Automatismus war. Das tut der hier gegebenen Instinktdefinition keinen Abbruch; doch muss be- merkt werden, dass sehr viele Instinkte ganz sicher nicht phylo- genetisch erworben wurden, da die zugehörigen Vorstellungen gar nicht in der Erfahrung auftreten konnten, aber auch ihre Ableitung aus der Erfahrung mit Hilfe höherer geistiger Vermögen unmög- lich erscheint, weil wir z. B. einer Biene nicht Phantasie genug zur selbständigen Erfindung einer Wabe zuschreiben dürfen. Für unsere Betrachtung erscheint übrigens diese Frage sehr irrelevant, da nur ein gradueller, kein wesentlicher Unterschied zwischen den einfachen selbständig erworbenen und den komplizierten ererbten Instinktvorstellungen besteht; auch müssen wir den weitaus meisten, vermutlich allen Instinkttieren die Fähigkeit des Erfahrungsgeschehens zugestehen.

Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. 675

Äußerlich kennzeichnet sich vergeistigtes Geschehen, sei es nun bewusst oder unbewusst, durch weitgehende Inkongruenz von Reiz und Reaktion. Um solche Inkongruenz klar zu erkennen, bedarf es genauen Vergleichs mit Tropismen und Reflexen, was oft schwer ausführbar erscheint. Das Erfahrungsgeschehen ist natürlich am leichtesten zu erkennen, da ihm Modifizierbarkeit der Reaktion (Plastizität der Handlung) entspricht; gar nicht selten erscheint es mit den Instinkten eng vergesellschaftet.

Ich schließe mich also jenen Autoren an, die scharf zwischen Reflex und Instinkt unterscheiden, nur suche ich diesen Unter- schied ganz wo anders als wo diese Autoren ihn suchen. Wasmann z. B. legt Gewicht auf die psychische Seite des Instinkts, der sich vom Reflex durch die Mitwirkung schon des elementaren psychischen Faktors, also einer Empfindung, unterscheiden soll. Er leugnet zwar nicht die mögliche Teilnahme von Erfahrungselementen, im Gegenteil betont er fortwährend deren Bedeutung für die Modi- fizierbarkeit der Instinkte; aber letztere kommt doch erst in zweiter Linie und das wesentliche ist nach ihm die Koexistenz der Empfin- dung beim Reiz, die dagegen dem Reflex abgesprochen wird (Wasmann: Instinkt und Intelligenz im Tierreich pag. 7). Dem gegenüber vertrete ich eigentlich den Standpunkt jener Autoren, die unter Instinkten nur komplizierte Reflexe verstehen (Spencer, Romanes, Ziegler und viele andre), insofern ich gleich ihnen keinen psychischen Grundunterschied annehmen kann und auf die Frage der Bewusstheit, d. h. ob ins Ober- oder m ein Unter- bewusstsein fallend, überhaupt kein großes Gewicht lege. Mir scheint aber die Deutung der Instinkte als komplizierte Reflexe unzulänglich, denn der Begriff des Reflexes ist ganz bestimmt um- rissen und zwar dahin, dass man unter ihm eine Reaktion versteht, „welche durch einen äußeren Reiz auf das Tier veranlasst ist“ (Loeb, vergl. Gehirnphysiologie). Gerade diese Verknüpfung der Reaktion allein mit einem „äußeren“ Reize ermöglicht das Ma- schinenmäßige des Reflexes; im Instinkt wirken aber immer noch andere Elemente neben dem äußeren Reize mit und das gleiche gilt für die Automatismen. So erscheint die Heimkehr der Bienen nach Bethe als Reflex, da sie unabhängig von Vorstellungen nur unter dem Einfluss eines unbekannten Reizes erfolgen soll, wäh- rend dagegen der Wanderflug der Vögel ein Instinkt ist, da er nur aus der Mitwirkung artlich erworbener Vorstellungen erklärt werden kann (über viele Instinkte, die eigentlich Reflexe oder Tropismen sind, siehe bei Loeb näheres).

Am engsten schließt sich meine Definition des Instinkts an die Romanes’ an, welcher (in: Geistige Entwicklung im Tierreich pag. 169) schreibt: „Instinkt ist Reflextätigkeit, in die ein Bewusst- seinselement hineingetragen ist.“ Unter diesem Bewusstseins-

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676 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

element versteht er nämlich nicht eine Empfindung, die vielmehr auch Reflexen zukommen kann, sondern eine „Wahrnehmung“, die sich von der Empfindung durch den Gehalt an einem „geistigen Element“ unterscheidet. Nur fasst Romanes dies geistige Ele- ment in einem viel zu weiten Sinne. Er versteht nämlich darunter nicht allein durch Assoziation zur Empfindung zugefügte Erinne- rımgen oder Phantasievorstellungen, sondern auch erschlossene Faktoren (Wahrnehmung durch Schlussfolgerung) und verquickt auf diese Weise intelligente Elemente mit den geistigen in unberech- tigter Weise. Wo instinktiv gehandelt wird, da fehlt jedes Schließen, was gerade das wesentliche Merkmal des intelligenten Handelns ist; ließe sich also nachweisen, dass ein Tier „schließt“, so handelte es eben nicht instinktiv (siehe unten).

Ich werde bald noch über die zweite Stufe der psychischen Entwickelung weiteres auszusagen haben, wende mich aber zunächst der dritten zu. Diese kann als Erkenntnisstufe bezeichnet werden. Bei ihrer Erwähnung taucht vor uns die so heißunistrittene Frage auf, ob die Tiere Intelligenz besitzen oder nicht. Ich kann nur sagen, dass man von der Erledigung dieser Frage solange noch weit entfernt bleibt, solange man sich nicht darüber ganz klar geworden ist, was eigentlich unter Intelligenz verstanden werden muss, Wasmann, der doch gewiss in Philosophie ausgiebig be- wandert ist, versteht darunter „die Fähigkeit, die Beziehungen der Begriffe zueinander zu erkennen und daraus Schlüsse zu ziehen“. Aber darin schießt er meiner Ansicht nach weit über das Ziel hinaus. Er muss, da Intelligenz gleich Verständigkeit ist, die Ver- nunft, die allein mit Begriffen operiert, dem Verstand unerlaubt annähern, ja beider Grenzen verwischen, um nur ja den Verstand möglichst hoch schrauben zu können und ihn derart der Tierpsyche ohne weiteres zu entrücken. Andere wieder verstehen unter In- telligenz nur die Fähigkeit zu assoziieren. So schreibt Ziegler (in: Begriff des Instinkts pag. 126): „Diejenigen Assoziationen, welche im individuellen Leben auf Grund der Einprägung von Sinnesein- drücken gebildet werden, diese beruhen auf dem Verstand, diejenigen, welche unabhängig von der äußeren Erfahrung zur Entwickelung kommen, diese sind instinktiv.“ Das ist natürlich eine noch weit ärgere Verkennung des Wesens der Intelligenz, die doch ein „Ver- stehen“ des Erfahrungsinhalts vermittelt, während durch Assoziation nur eine äußere Verknüpfung von Vorstellungen (im Gedächtnis und in der Phantasie) zustande kommt.

Ich weiß gar wohl, dass für die Begriffe Intelligenz, Erkennt- nisvermögen, Verstand, Vernunft u. a. eine allgemein anerkannte Umgrenzung nicht existiert und jeder sıe schließlich deuten kann wie er will, ohne dass ihm ernstlich vorgeworfen werden dürfte, er habe sie missverstanden. Denn auch die bedeutendsten Philo-

Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. 677

sophen, z. B. Kant und Schopenhauer, haben sie in ganz ver- schiedenem Sinne angewandt und letzterer, indem er die formale Aus- gestaltung der Sinnesperzeptionen als Werk des Verstandes auf- fasste, diesen sogar im Sinne der modernen Tierpsychologie zum Assoziationsvermögen herabgewürdigt. Indessen ergibt sich doch aus der sprachwissenschaftlichen Ableitung und aus der gebräuch- lichen Anwendung der Worte eine ganz bestimmte Definition, an die ich mich im folgenden halten möchte. Verstand und Vernunft sind Arten des Erkenntnisvermögens; man „versteht“ und „begreift“ mittelst ihrer; verstanden und begriffen, allgemein: erkannt, wird aber nur ein innerer Zusammenhang, d. h. eine kausale Beziehung. Nur Verknüpfung zweier Folgezustände als Ursache und Wirkung erfordert Erkenntnisvermögen; solche Verknüpfung heißt nun im Grunde nichts anderes, als dass wir in beiden Zuständen ein und dasselbe Element entdecken, so verschieden sıe auch ım äußeren sind. Dies eine Element ist ein potentieller, energetischer Gehalt. Ich habe auf diesen Punkt bereits in meinem Artikel Vitalismus hingewiesen, muss hier aber noch näher darauf eingehen, da es sich um Fragen von größter Bedeutung handelt.

Zunächst betone ich, dass es selbstverständlich ganz verkehrt ist, mit Romanes zu behaupten, Erkenntnisprozesse (er nennt sie sogar Vernunftprozesse) seien auf ihrer frühesten Stufe Vorgänge unbewusster Vergleichung. Vielmehr ist es geradezu ein Charakte- rıstikum der Erkenntnis kausalen Zusammenhangs, dass sie sich bewusst vollzieht. Unbewusst verständig handeln ist eben Instinkt; die Bezeichnung: kausale Erkenntnis besagt direkt, dass sich das Bewusstsein des Individuums auf einen ganz neuen Boden begeben hat, der ıhm früher vollkommen unbekannt geblieben war und auf dem es sich langsam und mühsam vorwärts arbeitet. Während alles Assoziieren nur äußere Vorstellungsverkettung ist, die sich in den einfacheren Fällen von selbst aufdrängt, so dass die assoziierten Vorstellungen nicht notwendigerweise ins Oberbewusstsein zu fallen brauchen, handelt es sich bei der Erkenntnis um Erfassung des Bindemittels zwischen bestimmten assozuerten Vorstellungen, was erstens Bewusstsein des Verbundenen, zweitens auch des inneren Bandes voraussetzt. Es kann natürlich auch Erkenntnis automatı- siert werden, so dass wir schließlich auf Grund unserer von der Intelligenz scharf durchleuchteten Erfahrung unbewusst voll Ver- stand handeln; wenn wir aber von solchem Prozesse nicht genau unterrichtet sind, erscheint es törıcht, von unbewusster Erkenntnis zu reden, da kein Merkmal zur Unterscheidung von instinktmäßigem Assoziieren gegeben ist.

Folgendes Beispiel dürfte für das Verständnis dieser inter- essanten Frage förderlich sein. Wenn ein Maler Wasserstudien malt, so hat er drei Faktoren zu beachten: die Eigenfarbe des

678 Schneider, Gründzüge der vergleichenden. Tierpsychologie.

Wassers, wie sie sich aus dem durchfallenden Licht ergibt, die Re- flexe an der Oberfläche und den Untergrund. Ein besonders genial veranlagter Künstler wird alle a ohne weitere Überlegung nk halten und gleich richtig malen; ein minder veranlagter dagegen muss tinaans Studien len gewissermaßen ana- ich und ee vorgehen, ehe er dr Motiv beherrscht; solche Beherrschung kann ıhm nun aber in Fleisch und Blut über- gehen, so dass er dem ersterwähnten Kollegen allmählich an rascher Treffsicherheit gleichkommt. Im letzteren Falle handelt es sich dann um Automatisierung und hier kann man mit Recht von un- bewusster Erkenntnis reden; im Fall des sofort richtig anschauen- den Malers fehlt aber Erkenntnis ganz und gar und nur von in- stinktmäßiger Assoziation der Eindrücke ist zu reden. Genialität ist eben mühelose klar-bildliche Anschauung. Das Beispiel lehrt, dass instinktmäßiges Tun nicht etwa an und für sich ein minder- wertiges gegenüber dem intelligenten ist, im Gegenteil stellt es vielmehr ein höherwertiges, weil abgekürztes, dar. Indessen ist zu bedenken, dass Instinkt und mit ihm Genialität immer nur einen beschränkten Umfang hat und haben kann, da alle geistige Begabung, als ein Vermögen direkter Anschauung, an eine be- stimmte Position und ein zugehöriges Gesichtsfeld gebunden ist, während der Erkenntnis schier unbegrenzte Regionen offen stehen, innerhalb deren sie sich langsam, aber unhemmbar, zu betätigen vermag.

Ich gehe nun auf das Wesen der Erkenntnisprozesse näher ein. Um die kausale Zusammengehörigkeit von Vorstellungen er- kennen zu können, müssen wır letztere zunächst umwerten, denn Vorstellungen als solche zeigen keine Kriteria kausaler Beziehung. Das Extensive muss innerlich erfasst werden, damit es in direkte Abhängigkeit zu anderem Extensiven gebracht werden kann. Jedes Geschehen ist überhaupt nur möglich, weil alle Dinge ihrem inneren Wesen nach zur Verschmelzung neigen. Hier begegnen wir dem eigentlichen Charakterıstikum der Intelligenz, die eigent- lich eine Art von höherer Anschauung ist; eine Anschauung des Wesens, nicht der Qualität und Form. Das soll im folgenden etwas näher beleuchtet werden.

Empfindung und Vorstellung wurden weiter oben als wesens- identisch bezeichnet. Sie sind es, insofern sie das gleiche Quali- tätenmaterial enthalten; doch liegt ein bedeutsamer Unterschied vor, insofern nämlich die Empfindung des geistigen Elements ganz entbehrt, die Vorstellung aber damit ausgestattet ıst. In Wirk- lichkeit ist jede unserer Empfindungen eigentlich eine Vorstellung, denn sie wird vom Geist geformt; ungeformte Empfindungen gibt es gar nicht für uns und die Form wird nur vom Geiste an- geschaut, nicht von der Sinnlichkeit. Wir haben also eigentlich

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 67

nicht von Empfindungen in der uns umgebenden Welt, sondern von „Wahrnehmungen“ zu reden, da unter Wahrnehmung eine in der Sinnenwelt realisierte Vorstellung verstanden wird. Wahr- nehmung ist, um mit Wundt zu reden, eine apperzipierte Em- pfindung; unter Vorstellung wollen wir hier alle übrigen Inhalte unseres Geistes (siehe darüber sogleich näheres) verstehen. Die Form, obgleich nur am empfundenen Material vorstellbar, ist doch etwas ganz Selbständiges und real Gegebenes; es ist ganz einfach das Sinnliche in eine höhere (geistige) Sphäre übertragen. Weil wir die sinnliche und geistige Bewusstseinssphäre nicht vonein- ander sondern können, deshalb haben wir statt reiner Empfindungen Wahrnehmungen und statt rein formaler Anschauungen qualitäten- haltıge Vorstellungen. (Schluss folgt.)

Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. Von Dr. Max Wolff (Jena).

Die Neuronfrage ist wieder einmal in ein Stadium der leb- haftesten Diskussion getreten, und zwar, wie früher beim Erscheinen der ersten Arbeiten Apäthy’s und Bethe’s, infolge wesentlicher Verbesserungen der histologischen Technik. Und wie damals, so knüpft sich auch heute wieder die Kontroverse an die Neurofibrillen, die sich jetzt nicht nur einigen wenigen vom Glück begünstigten nach umständlicher mikrotechnischer Beschwörung offenbaren, son- dern für jeden, der sehen will, sich ohne irgend nennenswerte Um- stände sichtbar machen lassen.

Und wie damals vor 20 Jahren, so breiten sich die Wogen des Kampfes auch heute nach allen Seiten weit aus, so klein auch das Zentrum ist, das sie erregte: Das Neuronproblem ist kein ein- faches neurologisches Problem mehr, es ist ein biologisches Pro- blem von denkbar größter Tragweite geworden. Wie wir das Neuron im einzelnen morphologisch und physiologisch bewerten, das ist zugleich entscheidend für unsere Vorstellung vom Ele- mentarorganismus, von dem, was wir bis heute als „Zelle“ be- zeichnen.

Darum möchte ich im folgenden eingehend die Ergebnisse von Untersuchungen mitteilen, die ich zum Teil gemeinschaftlich init meinem sehr verehrten Kollegen, Herrn Dr. Max Bielschowsky, kürzlich anderenorts veröffentlicht habe, wo sie bis jetzt im allge- meinen aber nur den Fachneurologen leicht zugänglich sein dürften (Journal f. Psychologie und Neurologie, Bd. IV, Heft 1/2 und 4, 1904 und 1905). Dabei liegt mir gleichzeitig noch besonders daran, zu einigen wichtigen inzwischen erschienenen Arbeiten Stellung zu nehmen.

680 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

T. Methodologisches.

Es wurde eingangs angedeutet, dass die histologische Technik neuerdings so wesentlich verbessert worden ist, dass die gerade beim Studium der Neuronfrage unerlässliche Darstellung der feinsten Strukturverhältnisse innerhalb der zentralen und peripheren ner- vösen Differenzierungen auf keine besonderen Schwierigkeiten mehr stößt. Gleichwohl liegt ein für die Lösung des Neuronproblems ausschlaggebendes Moment in der richtigen Würdigung der Dar- stellungsbreite der beiden Methoden, die augenblicklich das meiste Interesse für den Neurologen beanspruchen können: der Silber- imprägnationsmethoden von Ramön y Cajal und von Biel- schowsky.

Die beiden Methoden zeigen mit einer bisher nur von Apäthy und Bethe erreichten Präzision vor allem die Neurofibrillen. Aber als Fortschritt gegenüber den beiden anderen Methoden möchte ich doch nur die Bielschowsky’sche Methode bezeichnen. Ge- wiss gibt auch die Ramön y Cajal’sche Methode Bilder, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen. Aber die Ramön y Uajal’sche Methode ist erstens in ihrer Anwendung auf das Zentral- nervensystem viel unzuverlässiger als die Bielschowsky’sche Me- thode!), zweitens im Gegensatz zu dieser außerordentlich elektiv, ferner so gut wie unfähig, die nicht fibrillären neuroplasmatischen Strukturen zur Darstellung zu bringen, und endlich viel kompli- zierter. Allein beim Studium mancher Evertebraten dürfte die Ramön y Cajal’sche Methode noch vorzuziehen sein, so lange wir nicht über geeignete Modifikationen der Bielschowsky’schen Me- thode verfügen. Eine solche scheint in der von Bielschowsky selbst angegebenen Modifikation seiner Methode gefunden zu sein, die auf der Anwendung eines Eisessigbades vor der Reduktion des ammoniakalischen Silbers beruht (im Erscheinen: Journ. f. Psychol. und Neurol. 1905)?).

Den neuesten ganz im Sinne der strengen Kontakttheorie ge- machten Angaben Ramön y Öajal’s stehen die Arbeiten von Held, Bielschowsky nnd mir in ihrem Ergebnis kontradiktorisch entgegen, obwohl die Untersuchungen von uns dreien mit Hilfe der Bielschowsky’schen, der Methode Ramön y Oajal’s sehr verwandten Fibrillenimprägnation, ja zum Teil (Held) mit der 1) Zu meiner Verwunderung hat Held sich vorzugsweise der Ramön y Cajal’schen Methode bedient, obwohl er selbst die Unvollständigkeit der Färbung hervorhebt und sich darüber beklagt, dass die Methode „leider an derartigen Resul- taten so reich ist.“ Ich führe es auf die ungenügende Methode zurück, dass Held offenbar vielfach Wabenwände für bloße Fibrillen gehalten hat.

2) Nach brieflicher Mitteilung hat Bielschowsky jetzt durch weitere Modi- Iikationen bei Hirudo Bilder erhalten, deren Brillanz auch von Apäthy nicht übertroffen worden sein dürfte,

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 681

Methode Ramön y Cajal’s selbst unternommen worden sind. Auf der einen Seite die Bilder des alten Kontaktschemas: der schröpf- kopfartige Endfußansatz fremder Axone an der Peri- pherie der innervierten Zelle, völlige Diskontinuität des beiderseitigen Neuroplasmas und der eingelagerten fibrillären Differenzierungen. Auf der anderen Seite: Die Ansatzstellen der fremden Axone sind nur eigentümlich differenzierte Reizumleitungsstationen, die aber als solche nicht die geringste Diskontinuität von Neuroplasma oder Fibrille erkennen lassen. Der Ramön y Cajal’schen Me- thode haften aber ganz beträchtliche Mängel an. Eingehend werde ich die soeben berührte Endfußfrage ım dritten Teil meiner Ar- beit behandeln. Jedenfalls erkennt der Leser aus dem Gesagten, dass Bielschowsky, Held und ich in keiner Weise Ramön y Cajal und seinen Anhängern Unrecht tun, indem wir der Ra- mön y Cajal’schen Methode jeden Wert für pathologisch-anato- mische Untersuchungen absprechen und ihrer auch in der normalen Histologie glauben entraten zu können wegen der weit größeren Zuverlässigkeit und vor allem wegen der beträchtlich geringeren Elektivität der viel einfacheren Bielschowsky’schen Methode. Held hat mit Recht hervorgehoben, dass bezüglich der perizellu- lären Terminalnetze sogar die alte Golgi’sche Chromsilbermethode gelegentlich vollständigere Färbungen gibt als die Methode Ramön y Cajal’s und hat die Unvollständigkeit des mit dieser erzielten Imprägnationsbildes durch Erythrosin, Toluidinblau und Alsol- hämatoxylinnachfärbung direkt nachgewiesen. Das zweifellos, wie mir meine eigenen Untersuchungen letzthin bestätigt haben, exi- stierende Held’sche Terminalnetz hat Ramön y Cajal mit seiner Methode überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Die kontinuier- liche Verbindung der Held’schen nicht, wie sie Ramön y Cajal irrtümlich getauft hat, Auerbach’schen Endfüße mit dem Plasma der innervierten Zelle hat Ramön y Cajal sicher zum Teil in seinen eigenen Präparaten übersehen, wie Held’s Ar- beit beweist, die sich vorwiegend auf Cajal-Präparate stützt. Zum großen Teil werden die Held’schen Endfüße aber von der Ramön y Cajal’schen Methode so unvollständig und unsauber imprägniert, dass sie dem Madrider Forscher wohl häufig nicht ın besserer Dar- stellung vorgelegen haben mögen, als er sie in seinen letzten Mit- teilungen abgebildet hat. Ich glaube, dass es sich so zum Teil mit erklären mag, dass auch van Gehuchten wieder mit allem Nachdruck die Kontaktlehre mit der Neuronlehre verquickt und für unumstößlich bewiesen ansieht. Oder sollte, ich verweise wiederum auf das positive Ergebnis der Held’schen Arbeit, auch hier flüchtige Beobachtung mit Schuld tragen? Auch Retzius bekennt sich in dem kürzlich erschienenen neuen Bande seiner

682 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

Biologischen Untersuchungen mit allem Nachdruck zur Fahne der Kontaktleute, zu denen er ganz irrtümlicherweise auch mich rechnet, obwohl ich mich ın allen meinen Arbeiten von Anfang an stets wohl als unbedingter Anhänger der Neuronlehre, aber ebenso als absoluter Gegner der Kontakthypothese ausgesprochen habe, gerade besonders ausführlich in meiner von Retzius zitierten Arbeit über das Nervensystem der polypoiden Hydroxoen und Skyphoxoen. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass ein so unübertrefflicher Be- obachter wie Retzius keinen Augenblick mehr zögern wird, die Kontakthypothese aufzugeben, sobald er nur ein einziges gelungenes Bielschowsky-Präparat durchmustert. Und man kann ohne Über- treibung behaupten, dass es wirklich in der Histologie wenig Me- thoden gibt, die so mühelos zum Ziele führen wie die Biel- schowsky’sche. Die einzige Bedingung des Gelingens ist pein- liche Sauberkeit.

Das Gesagte wird genügen, um eine kurze Darstellung der Bielschowsky’schen Methode, in der Form, in der ich sie jetzt zu handhaben pflege, zu rechtfertigen. Sollte es mir gelingen, ihr damit auch zur Einbürgerung in den histologischen Kursen der zoologischen und anatomischen Institute zu verhelfen, so würde gleichzeitig ihre weitere Vervollkommnung auf eine breitere und noch mehr Erfolge verheißende Basis gestellt sem, als dies jetzt der Fall ist, wo ihre Anwendung fast nur in den Händen einiger weniger Nervenspezialisten ruht. Jeder, der sich länger mit dem vergleichenden Studium des feineren Baues der nervösen Centra beschäftigt hat, weiß, wie grundverschieden die Nerven- elemente der verschiedenen Klassen, Ordnungen, ja sogar Spezies, endlich aber auch der verschiedenen Lebensalter selbst auf gröbere histologische Methoden reagieren. Es wird also niemanden, der auf diesem Gebiete Erfahrungen hat, verwnndern, dass die Biel- schowsky’sche Methode in mannigfacher Weise wird modifiziert werden müssen, wenn man überall gleich präzise Erfolge haben will. Vorläufig machen noch die Ganglien der Wirbellosen ob- wohl ich auch hier sehr schöne Bilder gelegentlich erhalten habe —, und merkwürdigerweise alle Nager Schwierigkeiten, nicht so sehr fötale Gewebe, und zwar mehr bei höheren als bei niederen Vertebraten. Besonders möchte ich empfehlen: Neugeborener Mensch, Pitheci und Feliden. Für das Studium der Rinde des Großhirns wie des Kleinhirns ist älteres Material dem fötalen schon der Struktur wegen vorzuziehen. Hat man dieses Material in guter Formolfixierung zur Verfügung, so ist, auch für Kurs- zwecke ich wiederhole es —, das Bielschowsky’sche Verfahren die Methode zar’ 2£oyijv und führt absolut sicher zum Ziel.

Ich gebe nun kurz die Technik der Bielschowsky’schen Fibrillenimprägnation wieder.

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Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. - 683

Fixation. Das beste Material für die Bielscho wsky-Methode ist solches, das in etwa 6—10prozentiger neutraler Formollösung frisch fixiert ıst. Selbstverständlich wird dabei von mir, wie jetzt wohl allgemein üblich, das käufliche 40prozentige Formaldehyd als konzentriert angesehen. Ich persönlich habe bei Anwendung des gewöhnlichen, meist schwach sauer reagierenden Formaldehyds keine merklichen Nachteile beobachtet. Aber der Autor der Me- thode legt auf die neutrale Reaktion des Fixationsmittels Wert, was immerhin in Fällen, wo man auch sonst des Erfolges nicht allzusicher sein zu dürfen glaubt, Beachtung finden mag. Es ist dies aber zweifellos nicht unbedingt erforderlich für das Gelingen der Imprägnation. Vielmehr scheint mir die Bielschow sky’sche Methode gerade darum von ganz besonderem Werte zu sein, weil sie eigentlich fast immer auch noch an sehr altem und sehr schlecht fixiertem Materiale brillante Resultate gibt. Es können die Blöcke, wie ich beobachtet habe, sogar vorher der mannigfachsten Vor- behandlung unterzogen worden sein (z. B. Boraxkarmin-Stück- färbung), und man erhält trotzdem noch (sogar auch bei der von mir vorgeschlagenen direkten Anwendung der Methode auf Paraffin- schnitte, die schon aufgeklebt sind (vgl. Anat. Anz. XXVI. Bd., p. 136), befriedigende Imprägnationen der Neurofibrillen. Auch vorherige ln ing-‚Carnoy- oder Müller-Imprägnation schadet nach meinen engen nicht. Man sollte jedenfalls, wenn man kein formolfixiertes Material zur Hand hat, ruhig an anders vor- behandeltem Materiale, das aber wenigstens m destilliertem Wasser sehr sorgfältig, eventuell mehrere Tage auszuwaschen ist, einen Versuch mit der Bielschowsky’schen Methode machen. Denn man erhält immerhin, selbst wenn das Gelingen der Neurofibrillenimprägnation an der -ınadäquaten Vorbehandlung scheitern sollte, stets eine ausgezeichnet kräftige und klare Imprägnation der Kernstrukturen und gleichzeitig eine sehr distinkte Darstellung des plasmatischen Wabenwerkes. Die Biel- schowsky’sche Methode steht hierin ich weiß wohl, was ich damit sage der Heidenhain’schen durchaus eben- bürtig gegenüber. Das betreffende Material wird also selbst dann, wenn es keine Fibrillenimprägnation mehr zuließe, durch die Bielschowsky’sche Methode in keiner Weise verdorben werden.

Auswaschen. Das Formolmaterial muss, bevor es weiter behandelt wird, gut in destilliertem Wasser ausgewaschen werden. Ungenügend ausgewaschenes Material gibt häufig eine zu starke Imprägnation der wabigen Plasmastrukturen. Man sollte immer, wenn möglich, die Blöcke so zu- resp. herausschneiden, dass ihre Dicke 2 mm nicht übersteigt. Soll mit dem Gefriermikrotom ge- schnitten werden, was immer bei der Bielschowsky-Methode vor-

684 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons,

zuziehen ist!), so verlangen schon die Bedingungen der Gefriermethode, möglichst dünne Blöcke und gutes Auswaschen: formolhaltige Blöcke gefrieren nur sehr schwer oder gar nicht, zu dicke desgleichen, ganz abgesehen davon, dass die gebräuchlichen Vorrichtungen, ich empfehle besonders das neue Jung’sche Studentenmikrotom, nur auf die Verarbeitung dünner Blöcke eingerichtet sind. Ich pflege solche Blöcke etwa einen halben Tag auszuwaschen und dann zu mikrotomieren.

Sollen die Blöcke in toto versilbert werden, so ist ebenfalls vorher einen halben Tag, eventuell länger in destilliertem Wasser auszuwaschen. Das gleiche gilt für Blöcke, die unimprägniert in Paraffin eingebettet werden sollen, um dann erst auf dem Objekt- träger in der von mir vorgeschlagenen Weise versilbert zu werden. Sie sind nach dem Auswaschen in der üblichen Weise durch die Alkoholreihe von langsam ansteigender Konzentration und Xylol in Paraffin zur definitiven Einbettung überzuführen.

Sehr dünne, häutige Membranen, dünne Bauchmarke etec., die in toto versilbert werden sollen, beanspruchen natürlich zur Ent- wässerung entsprechend weniger Zeit.

Vorversilberung. Die Gefrierschnitte, die in toto zu ver- silbernden Blöcke, sowie entparaffinierte und durch Xylol und Al- kohol in Wasser übergeführte Objektträger kommen zunächst (und am besten im Dunkeln) auf zwei, in einigen Fällen das muss für die einzelnen Gewebs- und Tierarten entsprechend variiert werden auf mehr Tage (Objektträger auf sieben Tage) in eine 2prozentige Silbernitratlösung. Ich habe gefunden, dass man zur Erreichung einer möglichst tiefen und gleichmäßigen Silberdurchträn- kung mit großem Vorteil im Vakuum versilbert.

Auswaschen. Schnitte wie Blöcke müssen, bevor sie mit der ammoniakalischen Silberlösung in Berührung kommen, in destil- liertem Wasser ausgespült resp. abgespült werden, weil sonst bei ungenügendem Ammoniaküberschuss störende Niederschläge auf- treten können. Zu langes Auswaschen hat differenzierende Wir- kung. Dies darf also nicht außer acht gelassen werden. Meist werden einige Minuten genügen.

Die eigentliche Versilberung. Die Blöcke, Membranen, Gefrierschnitte oder mit (entparaffinierten und darauf vorversilberten)

1) Vielfach, z. B. für die höchst labilen Elemente der Substantia Rolandi, kommt man natürlich mit der rohen Gefriermethode, die ich im Gegensatz zu Bielschowsky durchaus nicht für technisch einwandsfrei halte, nicht aus, be- sonders bei fast allen Wirbellosen nicht. Hier bleibt nur die von Bielschowsky vorgeschlagene Versilberung im Stück mit nachfolgender Paraffineinbettung übrig und meine direkte Versilberung der aufgeklebten Paraffinschnitte. Nach Rosen- zweig’s (vgl. Journ. f. Psychologie und Neurologie, 1905) und meinen eigenen Er- fahrungen ist dieser letzten Methode wegen ihrer größeren Zuverlässigkeit in den meisten Fällen der Vorzug zu geben.

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 685

aufgeklebten Schnitten versehenen Objektträger kommen jetzt auf !/,—2 und mehr Stunden in eine ammoniakalische Silberlösung, die in folgender Weise hergestellt wird. Man gibt zu einer 10pro- zentigen Silberlösung (je nach Bedarf es wird ja die ammonia- kalısche Silberlösung zum Gebrauch auf das 4—Öfache verdünnt) tropfenweise 40prozentige Natronlauge. Dabei muss folgendes be- achtet werden. Jeder Tropfen erzeugt einen schmutziggrau-braunen Niederschlag. Sobald kein Niederschlag mehr entsteht, muss mit dem Zusatz von Natronlauge aufgehört werden. Da nun das Prä- zıpitat mit Ammoniak, und zwar, um Verklebungen und andere Artefakte zu vermeiden, mit möglichst wenig Ammoniak gelöst werden muss, scheint mir folgender Modus des Natronlaugezusatzes der zweckmäßigste zu sein. Ich benutze zur Herstellung der ammonia- kalıschen Silberlösung ein Wägeröhrchen, das sich mit einem Glas- stöpsel bequem verschließen lässt und schüttele jedesmal, nachdem ich einen Tropfen Natronlauge zugesetzt habe, das Röhrchen kräftig und erreiche dadurch eine außerordentlich feine Verteilung des Präzipitates.

Sobald keine Fällung mehr stattfindet, wird das bräunliche Präzipitat mit Ammoniak, das wieder unter fortwährendem Schütteln tropfenweise zugesetzt wird, gelöst. Man erhält so eine völlig klare und farblose Flüssigkeit, die von letzten, kleinen Präzi- pitatresten, die sich erst nach einiger Zeit lösen würden, durch Filtrieren (nur beste Filter!) befreit wird. Darauf wird sie auf das 4—5fache mit destilliertem Wasser verdünnt und ist dann ge- brauchsfertig.

Die ammoniakalısche Silberlösung muss jedesmal frisch bereitet werden. Sie hält sich nur wenige Stunden, muss wegen ihrer außerordentlichen Empfindlichkeit gegen Licht und Staub ent- sprechend geschützt werden und, wenn sie auch ruhig im hellen Zimmer hergestellt werden kann, im Dunkeln auf die zu versilbern- den Objekte einwirken. Peinliche Sauberkeit aller Hornnadeln, -Spatel und -Pinzetten, die bei der Überführung der Objekte aus der einen in die andere Flüssigkeit verwandt werden, ist die erste Bedingung des Gelingens, alles, was mit dem ammoniakalischem Silber, oder mit dem geringe Mengen davon enthaltenden Spülwasser (s. u.) in Berührung kommt, muss vorher jedesmal sorgfältig mit destilliertem Wasser abgespült werden.

In dieser ammoniakalischen Silberlösung ändern die vorver- silberten Objekte ihre Farbe. Ihr gelblicher Ton geht in ein mehr oder weniger tiefes Rotbraun über.

Auswaschen. Die versilberten Objekte werden jetzt in destilliertem Wasser kurz ausgewaschen, um das überschüssige ammonjakalische Silber, das sonst besonders an der Peripherie leicht Niederschläge geben könnte, zu entfernen.

656 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

Behandlung mit Eisessig. Wenn es sich um die Dar- stellung peripherer nervöser Elemente handelt, so ist die von Biel- schowsky angegebene Eisessigbehandlung vor der Reduktion zu empfehlen. Sie ist aber bisher mit Erfolg nur auf Gefrierschnitte (Bielschowsky) und dünne Membrane (Wolff) angewandt worden. Auf 10 ccm destilliertes Wasser kommen etwa 5 Tropfen Eisessig. Hierin verweilen die Objekte nur solange, bis der rotbraune Farbton in den gelben umspringt. Es ist aber ziemliche Übung nötig, um diesen Moment rechtzeitig zu erkennen. Am peripheren Nerven- system muss man sich daher zunächst immer auf einige Misserfolge gefasst machen. Bei der Übertragung der Schnitte aus dem Essig- gemisch in die Reduktionsflüssigkeit braucht keine Waschung in destilliertem Wasser eingeschaltet zu werden.

Reduzieren. Aus dem destillierten Wasser (resp. dem Essig- bade) kommen die versilberten Objekte in die Reduktionsflüssigkeit, eine etwa 4—Öprozentige Formollösung. Hier wird das besonders stark von den neurofibrillären Differenzierungen gebundene Silber reduziert. Da ein gewisser Antagonismus in der Reduktion zwischen Fibrille einer- und Plasma und Kern anderseits besteht, kann man, wenigstens bei Präparaten der nervösen Zentralorgane, schon jetzt bei schwacher Vergrößerung feststellen, ob die durch das Formol geschwärzten Schnitte die gewünschte Fibrillenimprägnation zeigen werden. Dies ıst der Fall, wenn sich aus dem braunen und schwarzen Grunde die Kernnegative klar abheben. Sind die Kerne mehr oder weniger geschwärzt, so ıst das Präparat als Fibrillen- präparat misslungen, zeigt dafür aber eine unvergleichlich schöne Tinktion des Tigroids und der Plasmastrukturen überhaupt. Die Held’schen perizellulären Apparate sind dann auch vielfach in sehr vollständiger Weise zur Darstellung gelangt. Dieses „Misslingen*“ der Imprägnation tritt bis jetzt leidiger und merkwürdigerweise noch besonders häufig am Zentralnervensystem der Nager auf.

Bei Behandlung von ganzen Blöcken ist es natürlich nicht möglich, direkt das Gelingen der Iıprägnation zu kontrollieren. Jedoch führt hier eventuell das Zerzupfen eines kleinen Stückes zum Ziel. Blöcke gelangen direkt nach der Reduktion, die je nach ihrer Dicke in 1-6 Stunden vollzogen ist, durch Wasser, Alkohol- reihe und Xylol zur

Einbettung in Paraffin. Es empfiehlt sich, durch Vor- nahme des Mikrotomierens im kalten Zimmer oder während der Morgenstunden die Anwendung von Paraffinen höheren Schmelz- punktes als 45—-50° möglichst zu umgehen. Eventuell würde na- türlich die Held’sche Kühlvorrichtung mit Vorteil zu gebrauchen sein. Aber auch ohne diese kann man in der angegebenen Weise mit 50iger Paraffin und einem guten Messer in der Schnittdicke bis auf 1 « heruntergehen. Zum Aufkleben der Schnitte benutze

Vogler, Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde. 687

ich Eiweißglyzerin, eventuell, um exaktes Strecken zu erzielen, die bekannte japanische Methode.

Fixieren des Silberbildes. Gefrierschnitte, auf dem Ob- jektträger versilberte Paraffinschnitte, Totalpräparate (dünne Mem- branen, Muskeln etc.) werden direkt nach der Formolreduktion, die in oben erörterter Weise nach Reduktion en bloc, Einbettung und Mikrotomierung auf dem Objektträger aufgeklebten" Schnitte nach Entparaffinierung und Übertragung in Alkohol in folgender Weise weiter behandelt, um das Sılberbild schärfer hervortretend und lichtbeständig zu machen.

Nach Durchziehen durch gewöhnliches Brunnenwasser kommen die Objekte auf 1—2 Stunden in eine schwachgelbe (etwa 1—05 00) am besten durch Lithion carbonicum zu ne eltern wässrige Goldcehloridlösung. Im Goldbilde ist der Grund mehr oder weniger stark entfärbt, je nach der Reaktion des Goldbades rosa (sauer) oder schwach bläulich (alkalısch bis neutral) im Ton. Die impräg- nierten Fibrillen heben sich tief rötlich-violett oder schwarzblau von diesem blassen Grunde ab.

Nach kurzem Abspülen in Brunnenwasser werden die Objekte jetzt in ein gewöhnliches Fixiernatronbad gebracht (5prozentig). Nachdem sie hierin etwa 5—15 Minuten verweilt haben, werden sie sehr sorgfältig in Brunnenwasser gewaschen, am besten, d.h. wenn man ganz sicher gehen will, 6—-12 Stunden. Mehrmaliges Wechseln des Wassers ist sehr zu empfehlen.

Entwässern und Einschluss in Balsam. Jetzt sind die Silberbilder absolut lichtbeständig, vertragen auch langen Aufent- halt in Wasser, Alkohol und Xylol, müssen nur vor allzugroßer Erwärmung geschützt werden. Die Präparate können also in der üblichen Weise entwässert und durch Xylol, Karbolxylol oder Nelkenöl in ein Einschlussharz übergeführt werden. Dieses ist aus dem erwähnten Grunde möglichst dünnflüssig aufzutragen, da es so auch ohne Erwärmung (die bei dickem Balsam nötig wäre) schnell fest wird. (Fortsetzung folgt.)

Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde.

(Neue Folge der Forschungsberichte aus der biologischen Station zu Plön), herausgegeben von Dr. Otto Zacharias. Band I, Heft 1. Stuttgatt, Erwin Nägele, 1905.

Vor einigen Monaten konnten wir an dieser Stelle den 12. Band der Plöner Forschungsberichte besprechen, durch den der uner- müdliche Vorkämpfer für Süßwasserbiologie, Dr. Otto Zacharias, die Bedeutung einer Zentralstation für diesen Zweig der Wissen- schaft aufs neue bewiesen hat. Der Umfang, den diese Forschungs-

688 Berichtigung.

berichte nach und nach angenommen, verlangte aber gebieterisch nach einer Aenderung in der Erscheinungsweise, so dass die Heraus- geber, vielfach geäusserten Wünschen nachkommend, sich zur Um- wandlung der „Berichte“ in ein vierteljährlich erscheinendes „Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde“ entschloss, dessen erstes Heft uns heute vorliegt.

Mit diesem Archiv soll „die reiche sich herbeidrängende Fülle von hydrobiologischen Forschungsergebnissen einen Sammelpunkt erhalten, welcher die bisher in den verschiedensten zoologischen, resp. botanischen Fachblättern zerstreuten Notizen, Aufsätze und Abhandlungen vereinigen und leichter zur Kenntnis aller Inter- essenten bringen kann, als dies bisher möglich war. Das Archiv wird namentlich auch über die Fortschritte in der Planktonkunde berichten, bezw. Originalabhandlungen zur Veröffentlichung bringen, welche unsere Kenntnisse von den Lebensbedingungen und den biologischen Eigentümlichkeiten der flottierenden Organismenwelt zu bereichern geeignet sind“. Diese Sätze charakterisieren die ganze Tendenz genügend. Wir hoffen, dass des Begründers Bitte um zahlreiche Beteiligung und Mitarbeiterschaft recht viel Entgegen- kommen finde in den Kreisen der Interessenten.

Was den Inhalt des vorliegenden ersten Heftes anbetrifft, so können wir uns darüber kurz fassen. Mehr als die Hälfte der 121 Seiten wird eingenommen vom Anfang einer Arbeit von Gottfried Huber, Zürich: „Monographische Studien im Gebiete der Montigglerseen (Südtirol) mit besonderer Berücksichtigung ihrer Biologie“ mit 8 Figuren und 3 Tabellen. Ein Urteil über diese Arbeit wird sich erst fällen lassen, wenn sie abgeschlossen ist; immerhin zeugt dieser erste Teil vonsehr gründlichen Untersuchungen, so dass wir uns vom Ganzen viel versprechen.

Die engen Beziehungen der von ihm vertretenen Wissenschaft zur Praxis zeigt Zacharias in einem Aufsatz über „Die moderne Hydrobiologie und ihr Verhältnis zur Fischzucht und Fischerei*. Zu erwähnen ist ferner noch die hübsche kleine Studie von Fritz Krause über „Das Phytoplankton des Drewenzsees in Ostpreussen“.

St. Gallen, im August 1905. [84]

Prof. Dr. P. Vogler.

Berichtigung.

Heft 4 S. 118 Zeile 20 lies acervorum statt avervorum.

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

ee

Biologisches Centralblatt,

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

Bere ner 1005. 21.

Inhalt: Mereschkowsky, Nachtrag zu meiner Abhandlung: Über Natur und Ursprung der Chro- matophoren im Pflanzenreiche. Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons (Fort- setzung). Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie (Schluss). Rosen- thal, Physiologie und Psychologie, Berichtigung.

Nachtrag zu meiner Abhandlung: Über Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche. (Biol. Centralbl. Bd. XXV, Nr. 18, 1905.)

Von €. Mereschkowsky.

Kurz nachdem ich die obengenannte Abhandlung der Redaktion des Biologischen Centralblattes übergeben hatte, erhielt ich die neue und höchst wichtige Arbeit von A. Fischer (1905) über den Bau der Cyanophyceen, was mich veranlasst, hier einige nachträg- liche Bemerkungen zu meiner Abhandlung beizufügen.

Zugleich ergreife ich die Gelegenheit, um einige Fehler oder Unrichtigkeiten, die sich in der Abhandlung befinden, zu verbessern, was ich eigentlich die Absicht hatte, ın der Korrektur zu tun, die ich aber leider nicht erhalten habe. So z. B. ist das Literatur- verzeichnis unvollständig und teilweise unrichtig angegeben!).

Was zunächst die neue Arbeit Fischer’s (1905) betrifft, so hat letzterer in recht klarer und wie es scheint in ganz unzweifel-

1) Den Titel des Werkes von Oltmanns, das mir zur Zeit als ich die Ab- handlung abzusenden hatte, nicht zur Hand lag, benannte ich ganz ungefähr in der Absicht, denselben in der Korrektur zu berichtigen. Auch sollte zugleich eine zweite Arbeit von Professor Famintzin, die in der hier behandelten Frage von größter Wichtigkeit ist, zitiert werden.

XXV. 44

690 Mereschkowsky, Natur und Ursprung der Chromatophoren im Pflanzenreiche.

hafter Weise die so lang bestrittene Frage über die Anwesenheit eines Nukleus und Chromatinkörnern bei den CUyanophyceen end- gültig in der Negative entschieden. Dieser Umstand nötigt mich, die Stelle, wo ich die einfachsten Cyanophyceen mit Chromato- phoren vergleiche, nämlich den 3. Punkt (S. 600) folgendermaßen umzuändern:

3, Keine echten Kerne enthaltend, son- 3.Keine echten Kerne enthaltend, son-

dern bloß eine gewisse farblose Zentral- dern bloß zuweilen eine gewisse farb- masse, wahrscheinlich unsichtbar kleine lose Zentralmasse (Pyrenoid), die als Chromatinkörner enthaltend. homolog der Zentralmasse der Cyano-

phyceen angesehen werden kann.

Zugleich möchte ich auch den 4. Punkt etwa in folgender Weise ändern:

4. Ernährung: Assimilation von CO, am 4.Ernährung: Assimilation von CO, am Lichte. Synthese von Eiweißstoffen. Lichte. Synthese von Eiweißstoffen.

Die Gründe, die mich veranlassen, den Chromatophoren (Pla- stiden) diese Eigenschaft als Eiweißbildner zuzuschreiben, sollen in meiner nächsten Mitteilung erörtert werden!).

Was die Frage über die Kontinuität der Plastiden betrifft, so möchte ich darauf aufmerksam machen, dass alle Samenpflanzen ihre Chromatophoren schon fertig im Samen eingeschlossen haben, obgleich dieselben noch farblos sind und erst später ergrünen. Diese wichtige Tatsache wurde noch lange nach Schimper be- stritten und eine ganze Anzahl von Beobachtern, wie Sachs, Haberlandt, Mikosch, Belzung waren alle der Meinung, dass reife Samen keine Chromatophoren enthalten, dass diese vielmehr bei der Keimung direkt aus dem farblosen Plasma sich von neuem herausbilden. Erst durch die gründliche Arbeit von A. Famintzin (1895) wurde es experimentell bewiesen, 1. dass die Chromato- phoren als kleine, zusammengeschrumpfte Gebilde in den reichen Samen erhalten bleiben und 2. dass ausschließlich aus ihnen sich die Chromatophoren der Keimlinge heranbilden. In dieser Tatsache haben wir eine neue und wertvolle Stütze für die Annahme eine ununterbrochenen Kontinuität der Plastiden.

Druckfehler. Seite 599 3. Zeile von unten: statt hat muss ist stehen. Sr Bil oben: statt Nukleinkörner muss Zentralkörper stehen.

1) Organismen mit Chromatophoren (grüne Pflanzen) bilden synthetisch Ei- weißstoffe; Organismen ohne Chromatophoren (Tiere) bedürfen Eiweißnahrung. Häufiges Vorkommen von Eiweißkristallen in Chromatophoren. Vermutliche Entstehung der Eiweißstoffe ım Assimilationsgewebe (in grünen Zellen).

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 691

Seite 601 14. Zeile von unten: nach lebt muss (Östenfeld und Schmidt 1901)

stehen. ». SER oben: anstatt den muss der stehen. ROÜSER IL, 15 anstatt Symbionte muss Symbiose stehen. EL GUAFND. 3; » A nach Kohlenhydrate muss ‚wohl auch Eiweiß-

stoffe) stehen. 604 in Literaturverzeichnis statt Oltmanns über Bauetc. muss Oltmann»’ Morphologie und Biologie der Algen stehen. Zum Literaturverzeichnis nachträglich beizufügen: Famintzin, A., Über Chlorophylikörner der Samen und Keimlinge. Melanges biologiques. T. XIII. St. Petersburg 1893. Fischer, A., Die Zelle der Cyanophyceen. Botanische Zeitung 1905.

Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. Von Dr. Max Wolff (Jena). (Fortsetzung..) II. Der histologische Aufbau der Kleinhirnrinde im Bielschowsky-Bilde.

Bielschowsky und ich können auf Grund unserer Unter- suchungen der Kleinhirnrinde folgende Angaben über deren feineren Bau machen.

Im Gegensatze zu den Autoren unterscheiden wir ın der Klein- hirnrinde drei Schichten:

1. zuäußerst und oberst die Lamina molecularıs oder Mole- kularschicht,

2. darunter die Lamina limitans oder Grenzschicht der Pur- kinje’schen Zellen (unsere Lamina molecularis und lımitans zu- sammengenommen entsprechen also der Molekularschicht der Autoren),

3. zuinnerst die Lamina granulosa oder Körnerschicht.

1. Lamina molecularis.

Wir entdeckten einen außerordentlichen Reichtum dieser Schicht an Dendriten und Axonen. Der größte Teil dieser ner- vösen Strukturen wird von den bisher geübten Methoden mehr oder weniger unterschlagen. Diese Strukturen lassen sich histo- logisch nach Herkunft und Bau folgendermaßen charakterisieren.

Der Lamina molecularıs gehören totalıter „zwei Zellformen an: die mehr oberflächlich gelagerten und etwas kleineren Sternzellen und die mehr ın der Tiefe der Schicht liegenden und größeren Korbzellen. Die zahlreichen, vielfach sich verästelnden Dendriten der rundlich polygonalen Zellkörper liegen ebenso, wie die Axone in der senkrecht zum Windungsverlauf gerichteten Querschnitts- ebene angeordnet und kreuzen in mannigfacher Weise die in die Lamina molecularis einstrahlenden Plasmafortsätze der Purkinje’ schen Zellen. Der Fibrillenverlauf in den Korbzellen bot uns einen eigentümlichen Befund. In den Dendriten sind unschwer

44*

692 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

isoliert verlaufende und ebenso in den Zelleib eintretende Fibrillen wahrzunehmen, die teils ziemlich dicht unter der Rand- zone des Körperplasmas hinziehend, in benachbarte oder ent- legenere Dendriten einbiegen, teils aber nach innen, unter Ver- meidung jenes peripheren Plasmabezirkes, in ein perinukleär ge- lagertes sehr dichtes Netzwerk feinster Fäserchen eintreten. Aus diesem Fibrillennetz gehen die Fibrillen des Axenzylinders hervor, der nur selten vom eigentlichen Zelleib selbst, sondern meist von einem Dendriten entspringt. Wir konnten sogar Fälle beobachten, wo der Austritt aus dem Dendriten nicht rechtwinklig, sondern unter einem sehr spitzen Winkel erfolgte. In solchen Fällen konn- ten wir beobachten, dass die Axonfibrillen als distinkter Faserzug ın der Dendritenaxe verlaufen, derart dass hier der Axenzylinder von der Dendritensubstanz gleichsam umscheidet wird, wie etwa später von der Markscheide. Es muss hervorgehoben werden, dass auf dieser Strecke sich keine einzige Dendritenfibrille dem Bündel der Axonfibrillen beimengt, dass diese vielmehr ausschließlich aus dem eben geschilderten perinukleären Netz ihren Ursprung nehmen. Dieser Befund scheint mir, wie so manches andere, weiter unten abzuhandelnde, sehr für die von mir behauptete sekundäre Diffe- renzierung fibrillärer Strukturen in präformierten, mehr oder weniger speziell in den Dienst der nervösen Reizleitung gestellten Bahnen zu sprechen.

Über die differenten histologischen Beziehungen der Körner- und Sternzellen haben wir folgende Angaben zu machen.

a) Sternzellen. Diese Zellen zeigen, ganz wie im Golgi- Bilde, einen rundlich polygonalen Körper. Sein Axon, das ähn- liche, lassoartige Auflockerungs- und Schlingenfiguren zeigt wie das der Korbzellen, endet, zahlreiche Bifurkationen bildend, im Terminalnetze der Purkinje’schen Dendriten.

b) Korbzellen. An diesen konnten wir besonders eingehend den Axonverlauf in seinen Eigentümlichkeiten studieren. Zur Bil- dung einer besonderen Tangentialfaserschicht kommt es in der Lamina moleeularis nicht. Nur liegen die Korbzellenaxone in der Tiefe der Schicht beträchtlich dichter als weiter oben. Hier finden sich aber subpial noch sehr zahlreiche Axone, die wohl zum größten Teil von den Sternzellen entspringen. Sehr häufig nimmt der Axenzylinderfortsatz, kurz nachdem er den Ursprungsdendriten ver- lassen hat, den bekannten, schlingenförmigen Verlauf (Fibrae an- satae, Ramön y Cajal). Man beobachtet daher in der Tiefe der Molekularschicht besonders zahlreiche, lassoartige Axonfiguren. Nach Bildung der Schlinge ziehen die Axone in quertangentialer Richtung weiter, unterwegs in die Purkinje’schen Körbe aber auch zwischen ihnen hindurch in die Grenzschicht und häufig auch tief in die Körnerschicht eintretende Kollateralen abgebend (einige

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 693

Kollateralen gehen auch in die äußere Form der Molekularschicht ab und treten in das die Purkinje’schen Dendriten umspinnende Endnetz ein). Sie verästeln sich im Purkinje’schen Korbe nach der Zelloberfläche und gehen dort in das Terminalnetz ein; soweit sie die Grenzschicht passieren und auch in der Korbverästelung zeigen sie Auflösungsfiguren. Das feinere Verhalten des Kollateralen- abganges von den schon von den älteren Autoren beschriebenen Anschwellungen der Korbzellenaxone berechtigt zu dem Schluss, dass die Anschwellungen zustande kommen durch den Eintritt von Fibrillen in das Axon, die nicht aus dem Zellkörper stammen, ıhn auch nie erreichen, sondern vorher schon wieder abbiegen und den Neuritenstamm durch eine Kollaterale verlassen. Ich persönlich möchte, da ich im Gegensatze zu Bielschowsky!) von der leitenden Funktion der Neurofibrillen nicht überzeugt bin und meine gegen eine solche Annahme gemachten Einwände bisher nicht widerlegt worden sind, daraus noch nicht auf eine den Zellkörper umgehende Reizleitung schließen. Gegen die Neuronlehre wäre auch dann nichts ausgerichtet, wenn die konstante Einschaltung und die den ganzen Leitungsvorgang dirigierende Rolle des Neuron-Zell- körpers sich als illusorisch herausstellte. Hierauf werde ich ım vierten Teile meiner Arbeit noch zurückkommen. Übrigens will auch Bielschowsky die Korbzelle selbst nicht ausschließlich zu einem „Appendix von rein trophischer Bedeutung“ degradiert sehen.

Die Purkinje’schen Zellen beteiligen sich mit ihren Den- driten am Aufbau der Lamina molecularis und lassen sich bis weit in das äußere Drittel derselben hinauf verfolgen. Sie präsentieren sich ähnlich, wie im Golgı-Präparat, nur erscheinen sie beträcht- lich zarter als dort. Die Fibrillen sind in den Hauptstämmen der Dendriten parallel geordnet, an den Gabelungsstellen überkreuzen sie sich bisweilen spitzwinklig. Dort, wo ım Nissl-Präparate an den Teilungsstellen primärer Hauptzweige sich Tigroidsubstanz findet, fehlen die Fibrillen?). Einzelne Fibrillen, aber auch ganze Bündel von solchen, ziehen vielfach, ohne jedoch jemals den Neu- rıten noch den eigentlichen Zelleib zu passieren, von einem Den- dritennebenaste durch den Hauptast in einen benachbarten oder entfernten Ast ein, teils derselben, teils der gegenüberliegenden Seite des Baumes. Besonders ist das in den feinen Endausläufern der Fall. Hier haben wir auch in der menschlichen Kleinhirnrinde nicht selten anastomotische Verbindungen zwischen benachbarten

1) In seiner neuesten Publikation lässt auch Bielschowsky die Hyoplasma- theorie gelten und hält die Kontroverse für unentschieden.

2). Nie haben wir gesehen, dass, wie Held behauptet, feinere (Fibrillen-) Zwischennetze die Substanz der Nissl-Körper zerklüften und zersetzen. Vielleicht haben Held auch hier imprägnierte Wabenwände getäuscht.

694 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

Zellen beobachtet, aber auch zwischen Ästen ein und derselben Zelle. Vielfach zieht an solchen Stellen nur eine einzige Fibrille hindurch. Ich kann versichern, dass diese hier ebensowenig, wie in den feinsten dendritischen Endausläufern jemals nackt verläuft. Sie ist stets von einem Plasmamantel umgeben. Solche Stellen sınd Illustrationen von schematischer Klarheit zu meiner seinerzeit geäußerten Theorie, nach der die Neurofibrillen als stützende Axen für die ihnen anhaftende und so vor einer mechanischen Trennung ihrer Kontinuität geschützten reizleitenden hyaloplasmatischen Flüssigkeit zu betrachten sind.

An der Oberfläche der Purkinje’schen Dendriten ergab sich uns folgender ziemlich komplizierter Befund. Wir fanden hier allenthalben ein die Dendriten völlig umscheidendes Held 'sches Terminalnetz, ın das

1. die pialwärts abgehenden Kollateralen der Korbzellenaxone,

2. die Axone der Sternzellen,

3. die Axone der kleinen Zellen der Lamina granulosa,

4. die Ramön y Cajal’schen Kletterfasern eintreten. Die Neurofibrillen dieser Axone sind in eine plasmatische Substanz eingebettet, welche in keiner Weise von dem Dendritenplasma unterschieden und abgegrenzt werden kann. Also plasmatische Kontinuität!

Ferner war auch, wenngleich schwieriger, so doch mit zweifel- loser Sicherheit der Eintritt von Axonfibrillen in die Dendriten festzustellen. Also auch fibrilläre Kontinuität! (Zur eigent- lichen Endfußfrage und wegen der Übereinstimmung von Held, Bielschowsky und mir in diesem Punkte siehe den dritten, die Endfußfrage behandelnden Teil meiner Abhandlung.)

Außerdem umspinnen gröbere Fasern die Dendriten der Pur- kinje’schen Zellen, meist in größerer Zahl und sich den Veräste- lungen des Dendriten Jianenartig anschmiegend. Da im Golgi- Präparat vielfach das Dendritenbild ausfällt, wird in einem solchen Präparat leicht der von Bechterew auch beschriebene Befund vorgetäuscht, dass sich hier mehrere Axone unmittelbar aneinander aufsplitterten. Wir haben ein solches Verhalten, wie es Bechterew gesehen haben will, niemals ın der Lamina molecularıs beobachtet und müssen seine irrtümlichen Angaben auf die Mängel der Golgi- Methode zurückführen.

Wir sind überhaupt, wie ich schon oben erwähnte, von dem ungeheuren Faserreichtum der Molekularschicht überrascht worden, der bei höheren Säugern besonders imposant ıst (Katze, Macacus, Mensch). Das gilt auch, wie Bielschowsky schon früher hervor- gehoben hat, von der im Golgi-Bilde fast leer erscheinenden subpialen Region, die im Bielschowsky-Präparate den Gesamt- eindruck eines engmaschigen Netzes macht, an dessen Aufbau Den-

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 695

dritenanastomosen, Dendriten und Axone anderer, mannigfachster Provenienz (Sternzellen, Bechterew’sche Axonaufsplitterungen, Axone der kleinen Zellen der Körnerschicht ete.) sich beteiligen.

Zu den exogenen nervösen Elementen der Lamina molecularis gehören außer den eben behandelten Purkinje’schen Dendriten noch zwei neuritische Elemente:

1. die bekannten (besser gesagt rätselhaften) Kletterfasern,

2. die Axone der kleinen Zellen der Körnerschicht.

Über die Terminalgebiete dieser Axone hatten wir schon be- richtet. Dem über das gröbere Verhalten der Kletterfasern Be- kannten haben wir nichts neues hinzuzufügen. Aufgefallen ist uns dagegen das Verhalten der radıal (oder, wenn man will, vertikal) in die Lamina molecularis eindringenden Axone der kleinen Zellen der Körnerschicht. Uns scheint es nämlich, dass die Zahl dieser vertikal eintretenden Axone, die ın der Molekularschicht sich in 2—4 alsdann in tangentialer Richtung weiterziehende Äste gabeln, in keinem rechten Verhältnis zu der enormen Zahl der tangential verlaufenden Fasern steht, wenn man auch die Beteiligung endo- gener Axone noch so hoch ansetzt. Dass bisweilen der vertikal aufsteigende Neurit in einen einzigen longitudinalen Zweig um- biegt, hebt die Bedeutung der nicht zu häufigen Fälle, wo drei bis vier Äste abgegeben werden, wieder so ziemlich auf. Es er- scheint uns danach fraglich, ob Ramön y Cajal’s Darstellung, die zuerst die Zugehörigkeit dieser Axone entschied, die Frage er- schöpft.

2. Lamina limitans.

Der Fibrillenverlauf ın den Dendriten der Purkinje’schen Zellen ist oben geschildert worden. In den Zellkörpern selbst stellten wir folgendes Verhalten fest. Die scharf hervortretenden Fibrillen zeigen vielfach das Bild dichotomischer Teilung und Anastomosen. Bielschowsky und ich haben in unserer gemein- schaftlichen Arbeit über die Histologie der Kleinhirnrinde ange- geben, „dass auf diese Weise ein intrazelluläres Netz entsteht, dessen Maschen besonders an der Kernperipherie dicht gefügt sind. Nach der Zelloberfläche hin scheinen sich die Netzmaschen all- mählich zu erweitern“. Ich selbst bin nun bei meinen späteren Untersuchungen über die Endfußfrage und über die Ganglienzellen von Amphioxus zu der Überzeugung gelangt, dass der Ausdruck „Netz“ sehr mit Vorsicht zu gebrauchen ist. Bielschowsky und Bethe sind ja im Gegensatz zu den meisten Forschern in sehr vielen Fällen auch dieser Meinung, glauben jedoch an einigen Stellen, z. B. in den Zellen der Spinalganglien und bei Evertebraten (mit Apäthy) echte Netze annehmen zu müssen. Wenn ich Apäthy’s Auffassung von den Elementarfibrillen nicht falsch verstehe, muss ich hierin noch weiter gehen als er. Ich glaube vorderhand

696 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

überhaupt nichtan echte Neurofibrillennetze!). Die Unter- scheidung von Elementarfibrillen und Primitivfibrillen scheint mir keinen großen Wert zu haben. Ich glaube mich von folgendem mit genügender Sicherheit überzeugt zu haben: „In der Vertebratenganglienzelle laufen im allge- meinen die Neurofibrillen gesondert als Elementar- fibrillen (d.h. eben nicht in Bündeln, sondern einzeln!), täuschen darum also auch weniger leicht Netze vor. In der Everte- bratenganglienzelle verlaufen die Neurofibrillen streckenweise ganz besonders eng zu Bündeln, den sogen. Primitivfibrillen, vereinigt. Wo sie auseinanderweichen, wie z.B. in den perinukleären Netzen, täuschen sie dann außerordentlich leicht ein in Wahrheit gar nicht exi- stierendes Netz vor.“ Als Netz kann doch nur ein Faserwerk bezeichnet werden, in dessen Überkreuzungspunkten etwas fest

1) Wohlgemerkt Fibrillennetze! Dagegen bin ich von der Existenz eines echten Terminalnetzes neuroplasmatischer Natur durchaus überzeugt. Die Substanz, in die die Wabenwände Bütschli’s mit den dazwischen eingeklemmten Neurosomen und Neurofibrillen stützend eingebaut sind, das Leydig-Nansen’'sche Hyaloplasma also, ist für mich auch heute noch das Substrat der Reizleitung. Corpora non agunt, nisi fluida: Mir ist es unbegreiflich, dass ein Physiologe, wie Bethe, sich nicht entschließen kann, den Reizleitungsvorgang ganz in das Flüssige zu verlegen. So hat er jetzt wenigstens schon Wechselbeziehungen zwischen einer den Neurofibrillen „anhaftenden‘“ Fibrillensäure und den Fibrillen selbst als Prinzip der Reizleitung nachzuweisen gesucht. Doch bleibt für mich, wie schon oben an- gedeutet, auch jetzt noch, trotz der höchst genial erdachten Versuchsanordnungen Bethe’s die fibrilläre Reizleitung eine unbewiesene und unphysiologische Hypothese. Nervöse Terminalnetze sind für mich sichtbar gemacht nicht in den, weiter unten genauer zu behandelnden fibrillären Geflechten an der Reiz- umleitungsstelle, sondern in den, besonders schön durch Held’s Neurosomen abge- grenzten Plasmastrukturen daselbst. Diese stimmen topographisch mit dem Fibrillen- apparat insofern überein, als auch sie, wie jener, mit den entsprechenden Struktur- elementen des Zellkörpers selbst in kontinuierlicher Verbindung stehen. Dagegen habe ich persönlich niemals mich davon überzeugen können, dass ähnlich, wie es der plasmatische Bestandteil des Held’schen Terminalnetzes tut, eine Fibrille mit der anderen anastomosiere. Fibrillen ziehen überall, so weit meine eigenen Be- obachtungen reichen, glatt durch, ohne Ende, ohne Aufgabe ihrer Individualität. Sie ordnen sich stets nur zu Geflechten und Bündeln. Ich halte es für nicht aus- geschlossen (besonders deute ich die neuesten an der Peripherie gewonnenen Bilder so, die Bielschowsky demnächst im Journal für Psychologie und Neurologie ver- öffentlichen wird), dass die Neurofibrillen, die an der Peripherie und im Zentrum schleifenförmig umbigen, in sich zurücklaufen. Jedenfalls hat noch niemand das Ende einer Fibrille gesehen.

Zu der schwierigen Frage nach der Existenz und Unterscheidung zweier phy- siologisch ungleichwertiger „Netze“ werde ich vorläufig mich nur ganz allgemein erklären. Held sieht nach wie vor in den Golgi-Netzen eine gliöse, nicht ner- vöse Differenzierung und hält unsere nervösen Terminalapparate nicht für identisch mit den Bethe-Netzen. Ich lege auf unsere Vermutung, dass Bethe vielleicht

doch etwas nervöses gesehen haben könnte, kein besonderes Gewicht und schließe“

mich vorderhand der Autorität Held's an.

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 697

verschmilzt (beim Vergleichsobjekt, dem Fischernetz, wird die Ver- schmelzung durch die Verknotung repräsentiert). Ich möchte nun, da es sich sicher bei den Fibrillennetzen nicht um „Teilungen“ eines vorher „einheitlichen“ Fadens, sondern nur um das Aus- einanderweichen zweier (oder mehrerer) Fäden handelt, die vorher sehr eng aneinander gelagert verliefen!) (höchstens mehr oder weniger „verklebt“ eventuell aber erst per methodum! waren), vorschlagen, an Stelle der „Netze“ den Ausdruck „Gitter“, oder wohl noch besser das Wort „Geflecht“ zu setzen. Der Aus- druck Geflecht scheint mir die Lagebeziehungen der Neurofibrillen, wie sie sich unserem Auge unter Zuhilfenahme der besten Systeme und kritischer Verwertung der besten Methoden darbieten, am besten zu kennzeichnen.

Auch die dichotomischen Teilungen und echten Anastomosen ın diesem Punkte differiere ich also jetzt mit Bielschowsky ın der Purkinje’schen Zelle sehe ich nicht als wirklich an, sondern halte sie für vorgetäuscht durch „straff“ gefügte Geflechte von Elementarfibrillen.

Jedenfalls unterscheiden Bielschowsky und ich im Körper der Purkinje’schen Zelle zweı Geflechte (intrazelluläre Ge- flechte):

1. ein äußeres, oberflächlich gelagertes weitmaschiges, das ich jetzt als peripheres intrazelluläres Geflecht bezeichnen will, und

2. ein in der Tiefe den Kern umflechtendes, engmaschiges Ge- flecht, das zentrale intrazelluläre Geflecht, oder das perı- nukleäre Geflecht.

Fibrillen stellen zwischen beiden Geflechten eine Verbindung her.

Die Axenzylinderfibrillen nehmen nun, soweit wir gesehen haben, gleichmäßig von diesen beiden Geflechten ihren Ursprung, als dessen Ort wir auf der Windungshöhe meist den basalen Zellpol erkannten. Innerhalb des Ursprungshügels überkreuzen sich die Fibrillen zunächst noch ın mannigfacher Weise, nehmen jedoch schon in ıhm bald einen parallelen Verlauf und verkleben dann zu einem dünnen homogen erscheinenden Bande. Wir konnten innerhalb der Körnerschicht die als ungefärbter, zarter blasser Saum

1) Amphioxus mit seinen dicken, in die schönsten perinukleären Elementar- fibrillennetze auseinander weichenden „Primitivfibrillen“, der sich also hierin ganz evertebratenmäßig benehmende Vertebrat, würde hochinteressanterweise ein schönes histologisches Bindeglied darstellen. Ich werde übrigens im dritten Teile dieser Abhandlung nochmals auf die Netzfrage zurückkommen. Ich will aber schon hier bemerken, dass auch die Abbildungen in Held’s neuester Arbeit mich nicht von einem retikulären Verlauf der Neurofibrillen überzeugen konnten, und das um so weniger, als sie mit der notorisch verklebenden, also für die Beantwortung dieser Frage von vornherein auszuschließenden Methode Ramön y Cajal’s ge- wonnen sind,

698 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

imponierende Markumscheidung, die der Neurit hier erhält, fest- stellen.

Wir haben die nackte Anfangsstrecke des Neuriten mit ganz besonderer Sorgfalt untersucht, ohne auch nur die geringste Spur der von der Golgi-Methode hier dargestellten rückläufigen Kol- lateralen entdecken zu können. Unsere Methode ist geradezu cha- rakterisiert durch ihre geringe Neigung zu Verklebungsbildern und bringt anderenorts die Kollateralen in schönster Weise zur Dar- stellung. Wir bezweifeln daher den Abgang von Kollateralen an dieser Stelle, um so mehr, als für Verklebungsartefakte hier die beste Gelegenheit gegeben ist, denn die Axone sind dicht umsponnen von einer erstaunlich großen Anzahl von aus den Körben und der Molekularschicht in die Tiefe und aus der Körnerschicht aufwärts ziehender und sich mannigfaltig überkreuzender Fasern.

Außer den zwei genannten intrazellulären Fibrillengeflechten finden wir in den Fasern der bekannten Körbe der Purkinje’schen Zellen ein drittes, perizellulär gelagertes Fibrillenwerk. Seine Ele- mente entstammen folgenden Quellen.

1. Kollateralen der quertangential verlaufenden Korbzellen- axone aus der tiefen und mittleren Zone der Molekularschicht. Diese lassen sich nicht selten in das Faserkissen verfolgen, das den Boden des Korbes bildet. Ihre Endverzweigungen begleiten von dort aus den Neuriten der Purkinje’schen Zellen bis tief in die Körnerschicht, so dass seine Trennung von den dort eng sich durch- flechtenden Fasern unmöglich wird.

2. In geringerer Zahl als jene strömen von der Körnerschicht Fasern von auffallend starkem Kaliber in das Korbgeflecht ein (Nidos cerebell. von Ramon y Cajal). Ein großer Teil ihrer End- verzweigungen begleiten (Kletterfasern) die Purkinje’schen Dendriten bis tief in die Molekularschicht. Wir fassen sie als dem Kleinhirn fremde, in ihm endigende Elemente auf, deren Herkunft aus der weißen Substanz wır häufig feststellten.

3. Tangential gerichtete, die Faserkörbe vielfach zu einem Korbkonglomerat verbindende, auf der Windungshöhe eine beträcht- liche Breite erlangende Fasern, die in ihrer Mehrzahl marklos zu sein scheinen. Für den markhaltigen Teil nehmen wir mit Kölliker einen Ursprung aus dem Plexus der Körnerschicht als sehr wahrscheinlich an, der in letzter Instanz jedoch aus dem Mark der Windungen stammen dürfte.

4. Außer den genannten Axonen treten auch Dendriten, und zwar die der großen Zellen der Körnerschicht, in die perizellulären Korbgeflechte ein. Über die Art ihrer Endigung dort können wir leider nichts aussagen.

Über die Art der Verbindung von Korbgeflecht und Purkinje’- scher Zelle haben wir uns folgende Vorstellung auf Grund unserer

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 699

Präparate gebildet. Wir halten die Held’schen Angaben, die einen doppelten Zusammenhang verschiedener Neurone an dieser Stelle be- haupten, für absolut zutreffend. Es ist falsch, dass es sich hier um Fasergeflechte handeln soll, deren plasmatische Teile mit der Oberfläche der Zelle und unter sich nur durch Kontakt in Verbindung stünden (Ramön y Oajal und die Neuronisten seiner Richtung). Es ist aber auch falsch, dass nur die Bestandteile des Korbes durch Anasto- mosenbildung kontinuierlich miteinander zusammenhängen und so ein echtes Terminalnetz bildeten, das dagegen selbst bloß per con- tiguitatem mit der Zelloberfläche verbunden sei (Auerbach und Semi Meyer). Vielmehr hängt das plasmatische terminale Netz, in dessen Maschen ein Neurofibrillengeflecht eingebettet liegt!), kontinuierlich, und, wie ich meine, primär mit dem Protoplasma des Zellkörpers zusammen. Diese Verhältnisse werde ich im dritten Teile meiner Arbeit genauer erörtern, wo auch über die mutmaßliche Veränderung der leitenden Substanz an dieser Stelle das nötige mitgeteilt werden wird. Hier sei nur gezeigt, dass die Stelle der Reizumleitung zwischen Korb und Purkinje’scher Zelle derart morphologisch differenziert ist, dass sie, soweit plasmatisch, ein echtes Terminalnetz darstellt. Ihr Fibrillengeflecht kommt als Nr. 4zu den drei schon erwähnten, so dass Bielschowsky und ich im ganzen folgende vier Neurofibrillengeflechte in und an der Purkinje’schen Zelle unterscheiden: I. zwei intrazellulär gelagerte, und zwar a) ein peripheres und b) ein zentrales Geflecht; II. zwei perizellulär gelagerte, und zwar a) ein äußeres perizelluläres (in den gröberen Fasern des Purkinje’schen Korbes eingelagertes) und b) ein inneres perizelluläres (der Zelloberfläche ım Ter- minalnetz sich ganz eng auflagerndes) Geflecht.

Die aus dem äußeren perizellulären Korb zum inneren perizellu- lären Geflecht (und Netz) herabsteigenden Fasern sind charakterisiert durch eine eigentümliche in flächenartiger Ausbreitung sich dar- stellende Auflockerung, die auch in unseren Mikrophotogrammen sehr schön sich festhalten ließ. Ihr in die Zelloberfläche eingehendes Neuroplasma ist von dieser mit unseren Methoden nicht zu unter- scheiden?). Feine, geschlängelte Fibrillen, die vielfach ın eigen-

1) Wodurch also, um das noch einmal hervorzuheben, ein Austausch der Neurofibrillen und ein „fließender“ Übergang des Neuroplasmas verschiedener Axenzylinder unter sich und mit dem innervierten Neuronzellkörper zustande kommt.

2) Indem ich vorderhand keinen Grund habe, Held’s Angaben über die Existenz eines besonderen perizellulären, gliösen Stützgitters, das mit dem von Bethe gesehenen identisch wäre, anzuzweifeln, komme ich zu folgendem Resultat über Zahl

700 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

tümlicher Weise auseinanderweichen und so mit dem sie einhüllenden Neuroplasma die Ramön y Cajal’schen Trajektkörperchen bilden, biegen aus dem Fibrillenwerke jener gröberen, auf die Zelloberfläche herabsteigenden Fasern ab und verlieren sich nach längerem oder kürzerem Verlauf!), indem sie wiederum sich mehr in die Tiefe senken, in dem Fibrillenwerke des äußeren intrazellulären Fibrillen- geflechtes.

3. Lamina granulosa.

Die Körnerschicht enthält an zellulären Elementen folgende, von uns sorgfältig untersuchte Typen:

1. die kleinen Körnerzellen,

2. die großen Körnerzellen, oder Golgi-Zellen,

3. spindelförmige, bipolare Zellen ?).

1. Die kleinen Körnerzellen. Gegen Bethe behaupten wir mit anderen Autoren die nervöse Natur dieser Zellen, deren senk- recht in die Molekularschicht aufsteigende und dort in die oben erwähnten Longitudinalfasern umbiegende Axone und kontinuierlich in die Netze der Glomeruli cerebellosi übergehende Dendriten (die also nicht, wie im Golgı-Bilde büschel- oder krallenförmig endigen) mit ihren längsgerichteten Neurofibrillen, die aus einem von Ramön

und Lage der verschiedenen Gitter und Geflechte, die in näherer morphologischer Beziehung zu einer Purkinje’schen Zelle stehen. Die Numerierung, geht von innen nach außen:

1. inneres intrazelluläres Fibrillengeflecht,

2. äußeres intrazelluläres Fibrillengeflecht,

3. inneres perizelluläres Fibrillengeflecht eingebettet in das 2

4. nervöse, perizelluläre (neuroplasmatische) Terminalnetz, mit dessen Maschen alterniert ein

5. gliöses, perizelluläres Gitter (dessen Maschen wohl gleichfalls aus gliösem Plasma und darin eingebetteten Fibrillengeflechten bestehen),

6. äußere perizelluläre Fibrillengeflechte (der Korbfasern) und die sieumhüllenden

7. Plasmageflechte der Korbfasern (Anastomosen haben wir hier nicht gesehen).

Dieser großartige Apparat von Gittern und Geflechten und Netzen ist die Leistung einer Zelle! Ich meine in der Tat, angesichts solcher hochkomplizierter und zweckmäßiger Differenzierungen, dass man immer ınehr das Nichtssagende der „mechanischen“ Erklärungsversuche des Lebens einsehen und sich der von Driesch und anderen inaugurierten Reform unserer biologischen Anschauungen anschließen muss. Ich betone, dass ich nichts von Mystik in einer dem Kausalgesetz unter- geordneten Entelechie sehe, wie das Ver worn neuerdings mir unbegreiflicherweise tut. Zwischen Driesch und Reincke ist doch ein himmelweiter Unterschied !

) In der Interpretation der in unserer gemeinschaftlichen Arbeit als „dicho- tomische Teilungen“ und „Anastomosen“ charakterisierten Eigentümlichkeiten des Fibrillenverlaufes in dieser Strecke verweise ich wegen meiner Auffassung dieses Bildes auf das oben über die Differenz zwischen Bielschowsky und mir in Punkto Fibrillenverlauf Gesagte.

2) Bisweilen liegen sie in unmittelbarer Nachbarschaft der P urkinje’schen Zellen, manchmal sogar, ähnlich, wie es gelegentlich auch von echten Korbzellen beobachtet wurde, in den Körben selbst. Sie sind wahrscheinlich mit den Bechterew’- schen Zellen identisch.

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 1701

y Cajal und uns nachgewiesenen intrazellulären t) Fibrillengeflechte entspringen, in unseren Präparaten deutlich zur Darstellung ge- bracht waren.

2. Die großen Körnerzellen (Golgi-Zellen). Das wichtigste Resultat, das wir bei der Untersuchung der Golgi-Zellen erhielten, ist die Unhaltbarkeit des sogen. II. Typus Golgi’s, als dessen vor- nehmste Repräsentanten diese Zellen immer gegolten haben. Zellen, deren Axenzylinder, kurz nachdem er den Zellkörper verlassen hat, eine Unmenge, dicht um seinen Ursprungsort herum sich ver- ästelnde und aufsplitternde Kollateralen abgiebt, gibt es in der Körnerschicht im Bielschowsky-Präparate nicht. Wohl aber sind dort eine Unmenge markhaltiger und markloser (besonders in den Glomerulis), mannigfach sich überkreuzender und durchflechtender Fasern vorhanden, welche im Golgi-Bilde infolge des von dieser Methode beliebten Verbackens und Verklebens leicht zum Typus II Golgi's artefiziell ausgelesen und vereinigt werden.

Wir fanden die Golgi-Zellen bei den von uns untersuchten Tierarten (Mensch, Macacus, Cercopitheceus, Katze) in beträchtlicher Menge. Der Zellkörper ist multipolar, eckig, manchmal mehr ab- gerundet oder auch spindelförmig in die Länge gezogen. Die Dendriten dringen vielfach (von den der Grenzschicht benachbarten Golgi-Zellen) tief in die Lamina molecularis und wie oben erwähnt auch in die Purkinje’schen Körbe ein. Sie teilen sich dicho- tomisch. Ihre parallel geordneten Fibrillensysteme verlaufen auch im Zellkörper, wie Bielschowsky hier in völliger Übereinstim- mung mit mir gesehen hat, durchaus distinkt und sind, ähnlich, wie in der motorischen Vorderhornzelle, an der Randpartie entlang in benachbarte oder entlegenere Plasmafortsätze zu verfolgen. Der Neurit entspringt stets aus dem Zellkörper selbst, niemals aus einem Dendriten. Er zieht entweder zur Molekularschicht, oder aber in entgegengesetzter Richtung durch die Körnerschicht, wo wir ıhn bisweilen bis in das Windungsmark verfolgen konnten. Wir konnten nie eine Spur von Kollateralen an ihm entdecken. Wir sahen Ter- minalnetze an den Golgı-Zellen von ganz ähnlicher Beschaffenheit, wie wir sie an den Purkinje’schen Zellen gefunden haben und beobachteten auch gröbere korbartige Geflechte ın der Umgebung der Golgi-Zellen.

Von den spindelförmigen, den bipolaren Spinalganglienzellen ähnelnden Elementen der Körnerschicht können wir nur angeben, dass sie ein sehr dichtes intrazelluläres Fibrillengeflecht besitzen, und dass ihre beiden Fortsätze völlig gleiches Aussehen haben (vgl. auch Anm. 1, S. 36).

1) Mit Deutlichkeit ein intra- und perizelluläres Geflecht zu unterscheiden, ist uns bis jetzt hier nicht gelungen.

02 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

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Der ungeheure Reichtum der Körnerschicht an Fasern, die in der Mehrzahl marklos sind, lässt sich in folgender Weise analy- sieren:

1. Axone der kleinen Körnerzellen,

2. Axone der großen Körnerzellen,

3. Axone der Purkinje’schen Zellen,

4. Fasern, die von unten die Purkinje’schen Zellen umfassen,

5. Kletterfasern,

6. Kölliker’sche Fasern, die später in der Grenzschicht tangential umbiegen,

7. Moosfasern.

Die Provenienz dieser Fasermassen ist im einzelnen schon oben genügend abgehandelt worden, soweit wir darüber Mitteilung machen konnten. Es erübrigt nur noch die Besprechung der Moos- fasern. (Schluss folgt.)

Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. Von K. C. Schneider, Wien. (Schluss.

Die Vorstellungen sondern sich in zwei Hauptgruppen,. von denen die eine das Erfahrungsmaterial so wie es ist, oder. um- gearbeitet durch die Einbildungskraft enthält, während die andere höhere Einheiten in sich birgt. Das Erfahrungsmaterial (Erinne: rungen und Phantasievorstellungen) verdient allein die Bezeichnung Vorstellungen, die höheren Einheiten sind Ideen zu nennen: Ideen sind vierdimensionale geistige Gestalten, die. an zeitlichen Umfang die ganze Lebensdauer einer Person umspannen; sie repräsentieren also das was man für gewöhnlich Individualbegriff bezeichnet. Wir sind zu vollkommener Anschauung einer Idee nicht befähigt, da wir nur gleichzeitig Gegebenes geistig scharf erfassen können; indessen ist uns vierdimensionale Anschauung doch durchaus nicht völlig fremd, wie ich bereits in meinem Zeit- artikel angedeutet habe und binnen kurzem in einem Artikel über das Formproblem näher ausführen werde. Im allgemeinen hantieren wir mit Ideen sogar sehr viel. Wenn wir von einer Person oder Sache reden, ist diese gewöhnlich nicht in irgend einer momentanen Darstellung gemeint, sondern in ihrer zeitlichen Totalität. In diesem Falle ist sie realiter für uns nichts als ein erweitertes Formgebilde (siehe den erwähnten Artikel), denn sinnliche Qualitäten können an vierdimensionalem Materiale nicht vorgestellt werden.

Mittelst der Ideen ist es möglich zu den höchsten Vorstellungen zu. gelangen, die wir als Ideekomplexe (z. B. Vaterland, Staat) oder als Symbole (Ehre, Schönheit, Gott u. s. w.) bezeichnen

Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. 703

können. Wie solche Vorstellungen gebildet werden, hat uns hier nicht zu beschäftigen; worauf es mir bei ihrer Erwähnung ankam, war nur, die Gruppierung unter dem Vorstellungsmaterial zu ver- vollständigen, da wir hierdurch eine Parallele zur Erkenntnissphäre gewinnen, die das Verständnis des gleich Vorzutragenden erleichtern wird.

Inhalt des Erkennens ist auch das Material der Sinnensphäre, und somit wesensidentisch mit den Empfindungen; aber wie die Empfindung durch Zufügung der Form vergeistigt und derart zur Vorstellung (Wahrnehmung) wird, so kommt ın der Erkenntnis- sphäre noch ein psychischer Faktor zu ihr (richtiger: zur Vor- stellung) hinzu, der als Potenz bezeichnet werden muss. Wir erfassen ein Ding seelisch als Potenz und durch seinen potentiellen Gehalt wird es für uns zur Abstraktion. Ich verstehe unter Abstraktion also eine Wahrnehmung übertragen ın eine noch höhere psychische Sphäre als es die geistige ist, nämlich in die seelische oder Erkenntnissphäre (über die Berechtigung zu solcher Benennung siehe im folgenden). Weil wir die seelische von der geistigen und sinnlichen Sphäre nicht scharf zu sondern vermögen, deshalb erfassen wir ihre Inhalte nicht als reine Potenzen, sondern als form- und qualitätenhaltige Abstraktionen.

Die Potenz eines Dinges, die wir seelisch erfassen, ist sein energetischer Gehalt. Der energetische Gehalt wird von uns aus der Beschaffenheit eines Dinges, vor allem aber aus den Verände- rungen, die sich an dem Dinge abspielen (Bewegung und Eigen- schaftswechsel) erschlossen. Das Erschließen ist ein ebenso elemen- tares psychisches Phänomen wie dı@ formale Anschauung oder das Empfinden, wenn wir seiner auch nicht im gleichen Grade teilhaftig sind. Doch wir wissen ja, dass auch die Formanschauung nicht sofort eine vollkommene ist, vielmehr ım Laufe der Zeit durch die Erfahrung eine Steigerung erfährt. Das gilt nun in viel weit- gehenderem Maße für die Potenzerschließung, die zunächst eine sehr unvollständige ist, allmählich aber, durch wissenschaftliche Erforschung, zur vollkommenen Erfassung eines Dinges gesteigert werden kann. Bereits der Naturmensch kennt seine eigene Stärke (Potenz), sowie die vieler anderer Dinge und Wesen; er ist dabei zugleich völlig überzeugt, dass er in der Stärke einen durchaus realen Faktor kennen lernt. Und ın der Tat ist der energetische Gehalt ebenso real wie die Form oder die Qualitäten eines Dinges; als psychische Elemente müssen sie eben real sein, ob wir sie nun sofort und in vollem Ausmaße erfassen wie die Qualitäten oder erst nach und nach und unvollständig.

Ich werde an anderer Stelle auf das Wesen der Potenzen (Stärken, energetische Gehalte) näher eingehen und kehre nun wieder zum engeren Bereich meines Themas zurück. Ein Erkennt-

04 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

nisakt einfacher Art, Betätigung der Intelligenz, ist weiter nichts als eine Operation mit erschlossenen Potenzen, die zueinander in kausale Beziehung gebracht werden. Wie Vorstellungen assozuert werden, so werden Abstraktionen kausal verbunden; während nun aber Assoziation nichts anderes als eine äußerliche Aneinander- fügung, eine Annäherung der Vorstellungen ist, ist kausale Ver- knüpfung ein Ineinanderbeziehen der Abstraktionen. Wir erkennen es z. B. als ursächlichen Zusammenhang, wenn ein laufender Billard- ball einen anderen durch Stoß ın Bewegung setzt; wenn unser Schlag den Feind zu Boden wirft; wenn wir zur Nacht Schutz in einer Höhle suchen u. s. w. Der Billardball enthält Energie, die beim Stoß auf den anderen übergeht; die Energie des Schlages hebt beim Geschlagenen Energie des Widerstandes auf; unsere energetische Entwertung durch die Dunkelheit wird von seiten der Höhle durch Darbietung von Energie (Festigkeit der Wände) gedeckt; kurz, immer sehen wir ein energetisches Element in Ursache und Wirkung gemeinsam, das ganz allein das kausale Verhältnis bedingt und die Ansicht der Energetiker bestätigt, dass Kausalıtät auf dem Gesetz der Energiekonstanz beruht.

Bis jetzt ist von Begriffen absolut nicht die Rede gewesen und doch war es möglich, das Wesen intelligenter Handlungen erschöpfend darzustellen. Weil wir bewusst des kausalen Zu- sammenhangs zwischen Abstraktionen, d. h. zwischen seelisch (potentiell) erfassten Vorstellungen, handeln, deshalb handeln wir intelligent, während das Tier, das solchen Zusammenhangs un- bewusst ist, nur instinktiv, automatisch oder erfahrungsgemäß handelt. Bevor ich nun näher auf die Begriffe eingehe, möchte ich die Frage erörtern, ob die Tiere überhaupt nicht intelligent zu handeln vermögen. Meiner Ansicht nach ist diese Frage im all- gemeinen zu verneinen. Was man den Tieren an Intelligenz zu- geschrieben hat, ist, wie schon früher bemerkt, nichts anderes als Abänderung ihrer Handlungen unter dem Einfluss der individuellen Erfahrung. Ich verstehe darunter dasselbe, was Wasmann als sinnliches Erkenntnis- und Strebevermögen bezeichnet; nur halte ich sowohl den Ausdruck: Erkenntnisvermögen, wie den: sinnlich für falsch angewendet. Ich bestreite aber gar nicht, dass in den Tieren die Vorbedingungen zu Erkenntnisakten gegeben sind, d.h, dass sie aus ihren Wahrnehmungen auf Stärken zu schließen, also potentielle Gehalte zu erfassen vermögen. Aber solch erfassen ist noch nicht Beweis von Intelligenz und zu dieser dürfte sich ein Tier wohl nur ganz ausnahmsweise aufschwingen, vielleicht einmal, gewissermaßen aus Versehen, ein spielender Hund oder Affe, ohne dass er aus solcher Erfassung dauernd Nutzen zu ziehen vermöchte. Damit er dazu imstande wäre, dazu bedürfte er vor allem eines stärkeren Gedächtnisses, also ausgebildeterer geistiger Fähigkeit,

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Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. 765

als sie irgend einem Tiere zukommt. Das Tier lebt im allgemeinen jeden Augenblick neu und das Gedächtnis kommt nur als unter- geordneter Hilfsfaktor in Betracht. Wir Menschen aber leben vor- wiegend im geistigen Besitz, an dem sich die höheren Seelenver- mögen, Erkennen und Wollen, betätigen. Das Tier hat nicht die Konzentrationsfähigkeit, die schon für schwierige Assoziationen, ganz besonders aber für Erkenntnisakte, notwendige Voraussetzung ist. Es wird durch seine Sinne aufs leichteste abgelenkt, ist zer- streut und eben deshalb nicht intelligent. _

Nun fragt es sich noch, bei welchen Tieren Intelligenz am ehesten vorausgesetzt werden könnte. Ich sprach schon von Hund und Affe und in der Tat kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, dass die höheren Wirbeltiere (Vögel und Säuger) befähigter er- scheinen als die Insekten, die vor allem mit ihnen in Konkurrenz treten. Wasmann widerspricht zwar dieser allgemein akzeptierten Anschauung, aber die Beispiele, die er für das Erfahrungsgeschehen bei Ameisen anführt, erscheinen mir doch dürftig gegenüber den zahllosen Beispielen bei Säugern, die ja eben zur Annahme von Intelligenz bei ihnen hindrängten. Allerdings kennen wir die In- sekten viel schlechter als die Säuger; aber das folgt eben, meiner Ansicht nach, aus der Unmöglichkeit, zu ihnen in ein engeres Ver- hältnis zu treten und das wiederum aus der engen Umgrenzung des Erfahrungsgeschehens bei ihnen. Die Insekten sind in aller- erster Linie Instinkttiere und in einen engen Lebenskreis ein- gebannt, in dem sie allerdings wunderbare Fähigkeiten entwickeln. Säuger dagegen stehen weit weniger im Bann von Instinkten und vermögen auf Grund der Erfahrung ihr Tun reich zu variieren. Sie passen sich den mannigfaltigsten Verhältnissen an, lassen sich leicht zähmen und zu bestimmten Zwecken verwenden; auch das Spiel der Jungen ist deutlicher Beweis einer beträchtlichen Frei- heit in ihrem Können, und schließlich wäre noch des Träumens zu gedenken, das bei höheren Wirbeltieren beobachtet wird. Eine gefütterte Ameise ist noch lange kein dressiertes Pferd, das den Pflug zieht und somit seiner natürlichen Sphäre vollkommen ent- fremdet scheint; Dressur setzt weit mehr voraus als bloße Zäh- mung. Nur aus der psychischen Veranlagung der Wirbeltiere her- aus konnte sich der Mensch entwickeln; die Arthropoden erscheinen auch psychisch in eine Sackgasse verrannt, echte Instinkttiere können sich nicht zu intelligenten Wesen steigern.

Bei Besprechung der Begriffe knüpfe ich an das an, was weiter oben über die Ideen gesagt wurde. Wie die Ideen höhere geistige Gestalten sind, so sind die Begriffe höhere seelische Ein- heiten. Die Idee ist ein vierdimensionales Formgebilde, das wir nur in äußerst unvollkommener Weise (rein formal) anzuschauen vermögen; ebenso ist vergleichsweise der Begriff die erweiterte

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706 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

Individualpotenz, in welche die Potenz der ganzen Art eingeschlossen wurde, so dass wir sie selbstverständlich noch viel unvollkommener erfassen, als es für dre Individualpotenz selbst gilt. Weil die Er- kenntnis unanschaulich ist und ihr elementares Material durch ein unbewusstes oder bewusstes Schließen aus dem Erfahrungsmaterial gewonnen wird, reden wir von abstrahieren und nennen den Be- griff eine Abstraktion, die sich aus den Vorstellungen durch Ver- nachlässigung des Individuellen ergeben soll. Das Individuelle liegt aber in Qualität und Form; abstrahieren wir von solchen Besonderheiten, so bleibt überhaupt weder eine empfindbare Qualı- tät noch eine vorstellbare Form übrig und der Begriff erscheint daher in der allgemeinen Auffassung als etwas an sich ganz Be- deutungsloses, gewissermaßen nur als ein Hinweis auf das Vor- gestellte. Indessen ist diese Definition durchaus unzulänglich, viel- mehr liegt jedem Begriff eine Realität besonderer Art, eben ein energetischer Gehalt, zu grunde. Somit erfährt die allgemeine Auffassung der „Abstraktionen“ eine wesentliche Korrektur, die aus den scheinbar gänzlich nichtigen, nur durch ein Wort gekenn- zeichneten psychischen Elementen äußerst gewichtige Realien macht. Begriffe werden nicht durch Vorstellungen realisiert, sondern in ihnen nur angeschaut; in ihrer Erschließung kommt das eigentlich bedeutungsvolle an ihnen, ıhr potentieller Gehalt, erst zum Vor- gestellten hinzu, trıtt bezw. an seine Stelle. Und was für die Be- griffe gilt, gilt auch für die elementaren seelischen Inhalte, so dass also diese weiter oben mit Recht Abstraktionen genannt werden konnten. Auf sie soll hier überhaupt die Bezeichnung Abstraktion allein beschränkt werden; die höheren seelischen In- halte seien ausschließlich als Begriffe bezeichnet.

Operation mit Begriffen ist Vernunftarbeit. Der Verstand operiert nur mit den elementaren Abstraktionen, die uns direkt in der Erfahrungswelt entgegentreten, während die Vernunft mit abgeleiteten Realitäten zu tun hat. Wir „verstehen“ die kausalen 3eziehungen der potentiell erfassten Weltinhalte, aber wir „be- greifen“ die logischen Beziehungen der Begriffe. Nur so ist, wie ich glaube, das Gebjet des Verstandes berechtigterweise vom Ge- biet der Vernunft abzutrennen; es folgt aber daraus, dass Vernunft eine höhere Art der Intelligenz ist, die selbstverständlich als Privileg des Menschen erscheint, auch wenn wir den Tieren Ver- standesfähigkeit zuschreiben müssen. Wasmann hat also Recht, wenn er den Tieren ein Begreifen, ein Operieren mit Begriffen, abspricht, aber er hat nicht Recht, wenn er daraus folgert, dass Tieren Intelligenz ganz fremd sein müsse; denn Intelligenz im all- gemeinen ist Einsicht in die innere notwendige Beziehung poten- tieller Gehalte zueinander und diese brauchen sich durchaus nicht mit den Begriffen zu decken.

Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. OT

Hier ist der Ort, der Sprache zu gedenken. Auch die Sprache macht man von der Fähigkeit, Begriffe zu bilden, abhängig, aber diese Einschränkung erscheint mir gänzlich unberechtigt. Sprache wird schon für das Erfahrungsgeschehen erfordert. Tiere, die nur im. Sinnlichen oder im Banne von Instinkten leben, brauchen keine Sprache, denn über das was allen Individuen einer Gesellschaft gemeinsam gegeben ist, ist Verständigung überflüssig. Erst individuelle Erfahrung verlangt Sprache, denn Einzelbesitz muss mitgeteilt werden, falls ein anderer daran partizipieren soll. Hierbei handelt es sich selbstverständlich nur um eine ganz primitive Sprache; indessen ist wesentlich, dass an Stelle eines vorgestellten Dinges ein Laut gesetzt wird, dessen Bedeutung allen bekannt ist. Sprache ist also bei ihrer Entstehung ein Surrogat für geistige Anschauung und behält in diesem Sinne auch ihre hervorragendste Bedeutung, da wir ja ununterbrochen mit Vorstellungen operieren.

Intelligenz wendet die Sprache auch auf Abstraktionen an, da diese in ihrer elementaren Beschaffenheit sich aufs engste an die Vorstellungen anschließen. Von solcher Erweiterung des Sprach- gebrauchs ist wieder nur ein Schritt bis zur Anwendung auf die Begriffe, für deren logische Verwertung ein Surrogat in Form von Worten ganz besonders nötig erscheint. Indessen ist unsere Wort- sprache doch nicht die eigentliche Begriffssprache, vielmehr muss als solche die Mathematik angesehen werden. Wir, in der an- schauenden und reflektierenden Unterhaltung, haben gewöhnlich Vorstellungen im Auge, auch wenn wir von. Begriffen reden; die Wissenschaft aber, soweit sie Erkenntnis und nicht bloß Deskrip- tion ist, hat durchaus nur mit Abstraktionen (seien es nun ele- mentare oder abgeleitete) zu tun, und um sich über diese präzis zu verständigen, bedarf sie einer besonderen Sprache, die sie sich in der Mathematik geschaffen hat. Gelehrte verständigen sich mit Formeln weit besser als mit Worten. Der Mathematik auf dem Erkenntnisgebiete entspricht auf dem geistigen Gebiete vergleichs- weise die Kunst. Auch diese ist, als Ausdrucksmittel aufgefasst, nichts anderes als eine sehr vollkommene Sprache; der Künstler teilt durch die Kunstwerke anderen mit, was er Besonderes sieht, und zwar so deutlich, dass jedes Kunstwerk eine Flut von Worten überflüssig macht. Es gibt übrigens noch eine Art von Sprache, auf die weiter unten kurz hingewiesen werden wird.

Die vierte Stufe psychischer Entwickelung ist die Willens- stufe. Es gibt wohl kein psychisches Problem, das so umstritten ist als der Wille. Von den einen als Urgrund allen Seins an- gesehen (Schopenhauer), wird er von den anderen (moderne Assoziationstheoretiker) mitsamt dem Gefühl als besonderer psychi- scher Faktor überhaupt in Abrede gestellt. Weiterhin handelt es sich um das Problem der Willensfreiheit, worüber gleichfalls un-

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08 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

endlich viele Meinungsäußerungen existieren. Ich denke hier gar nicht daran, in Diskussion der Anschauungen anderer einzutreten. Nur, um mein Thema zum inneren Abschluss zu bringen, gehe ich überhaupt auf die vierte psychische Stufe ein und werde meine Ansichten darüber kurz formulieren.

Was ist der Wille? Ich finde, über das Wesen des Willens kann gar keine Unklarheit bestehen, denn er ist uns ja unmittel- bar bekannt. Ich tue etwas wollend,' heißt: ich beziehe das Ge- schehen auf mein Ich und setze mich also bewusst selbst als wirkendes Element zwischen zwei Folgezustände Das bedeutet nun aber einen ungeheuren Fortschritt auf psychischem Gebiete. Im Geiste kennen wir nur rein äußere Verknüpfungen psychischer Elemente, in der Erkenntnis finden wir ein inneres Band, im Willen sehen wir uns aber selbst als Mittelpunkt. Damit das möglich sei, müssen aber auch die Folgezustände in unser direktes Eigentum, also in subjektive Elemente, umgewandelt werden, und in der Tat sehen wir denn auch unseren Willen gar nicht durch sinnlich-geistig-seelische Elemente bestimmt, sondern allein durch Gefühlselemente, die mit ihm auf das innigste verbunden sind. Unlust und Lust regieren den Willen und nur, weil jede Empfindung Vorstellung Abstraktion, kurz jedes „objektive“ psychische Element einen Gefühlston wachruft, deshalb scheinen uns direkt die Objekte Gegenstand unseres Willens. In ihrer Be- ziehung zum Willen gewinnt, wie Schopenhauer darlegte, die Kausalität die besondere Nuance der Motivation, welche Nuance eben aus dem wesentlichen Einfluss des Gefühls sich ableitet.

Wollend wandeln wir die Welt ın uns selbst um. Unser Selbst, das eigentliche Subjekt, ist nichts anderes als Gefühl plus Wille; in ıhm ist die Zentralisierung der Welt erreicht. Wir sehen auf den verschiedenen psychischen Stufen eine fortschreitende Verein- heitlichung, die sich kurz folgendermaßen darstellen lässt. Auf der geistigen Stufe breitet sich alles nebeneinander aus und wir haben keine Ahnung von innerer Zusammengehörigkeit. Diese er- wirbt erst die seelische (Erkenntnis-)Stufe, indem sie zwei Zu- stände, als Ursache und Wirkung, energetisch identisch erkennt und derart sieht, dass in dem einen wiederkehret, was in dem an- deren enthalten war. Damit ist aber gar nichts ausgesagt, wieso eine solche innere Verknüpfung überhaupt möglich ist; im Energie- austausch offenbart sich nur die Tatsache der Beziehung, nicht aber das eigentlich treibende Element, das bei Gegebensein eines Energiequantums und Intensitätsgefälles den Vorgang in Szene setzt. Solch Element ist der Wille und der. Wille ist überall und immer ein und derselbe. Der Wille ist identisch mit der Kraft, die den Energieaustausch im ganzen Weltall vermittelt, also ge- wissermaßen die Welt selbst in einer Einheit zusammengefasst.

Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. 709

Er ist jedoch Kraft im Rahmen unseres individuellen Bewusstseins, d. h. unser individuelles Bewusstsein hat sich, als es wollend wurde, der versteckten Welteinheit bemächtigt und gelangte somit zu einer Entwickelungsstufe, über die hinaus es ade re gibt und geben kann.

Es erscheint vielleicht als ein Widerspruch, dass durch den subjektiven Willen unsere Partizipierung an der Welteinheit ge- geben sein soll. Das Subjekt ist so minimal und die Welt so un- Sakeran dass die Enge jeder Willensregung geradezu als Hohn auf diese angenommene Weltmeisterung Setzung unseres Selbsts an Stelle der Welt sich darstellt. Indessen liegt solchem Einwand nichts als Konfusion der Begriffe zu grunde. Kraft ist Kraft, ob im Subjekt oder in der ganzen Welt, das ist durchaus gleichgültig, und ist in sich vollkommen selbständig, wenn wir sie auch vom Extensiv-Energetischen nicht abzutrennen vermögen. Wie uns Formen nicht ohne sinnliche Qualitäten und Potenzen nicht ohne beide letztere Faktoren bekannt sind, so auch die Kraft (Wille) nicht gesondert von allen drei genannten Faktoren. Wenn wir nun die unendliche Breite der Welt und ihren gewaltigen Energie- gehalt (die gesamte Intensitätsskala) mit unseren Willen vergleichen, so kommt natürlich ein lächerliches Missverhältnis heraus; aber wir dürfen eben das Unvergleichbare nicht vergleichen, sondern müssen bedenken, dass, wie in Ursache und Wirkung die gleiche Energiemenge, so in jedem Geschehen die gleiche Kraft wieder- kehrt. Die Kraft ist eben gar nicht innerhalb von Raum, Zeit und Energie, sondern diesen psychischen Sphären vollkommen fremd; sie untersteht deshalb gar nicht der Kategorie der Vielheit, sondern ist immer und überall nur eine, was selbstverständlich auch für den Willen gilt.

Überlegen wir uns nun die praktische Bedeutung der Willens- erwerbung durch unsere Psyche, so kommen wir zu einem hoch- wichtigen Fazit. Durch den Willen ist uns nämlich eine schranken- lose Betätigung möglich. Wer nur instinktiv handelt, ist in engste Kreise eingebannt, die er in keiner Weise zu überschreiten vermag; unter Bedingungen, die in der instinktiven Veranlagung nicht vor- gesehen sind, geht er unrettbar zu grunde. Erfahrung gestattet Variation des Tuns, doch wird Erfahrung nur durch Gelegenheit gewonnen und ist deshalb auch nur von geringer Breite ich meine natürlich die Erfahrung, die sich uns aufdrängt, nicht die wir selber sammeln. Um solche Sammlung handelt es sich nun bei Erwerbung von Intelligenz. Indem kausaler Zusammenhang _ er- kannt wird, ergibt sich eine Anleitung zum Erfahrungsgewinn, denn wir können die innere (energetische) Beziehung eines Zustands nach verschiedenen Richtungen hin verfolgen und tasten uns auf diese Weise weiter und weiter ın die Welt hinein, so die Grenzen

10 Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

unseres Tuns gewaltig ins Breite ziehend. Aber, wenn es schließ- lich auch möglich erscheint, durch selbstgewonnene Erfahrung alle Arten des Geschehens kennen zu lernen, so handelt es sich dabei doch um eine höchst zeitraubende Welteroberung. Da tritt nun der Wille in sein Recht. Der Wille braucht keine Erfahrung und keine Erkenntnis um zu handeln, er handelt blind, d.h. allein von Motiven bestimmt. Motiv kann aber alles sein, denn alle Objekte lösen in uns einen Gefühlston aus. Gerade darin haben wir das einzig sichere Charakteristikum von Willenshandlungen bei anderen Wesen zu erkennen, dass sie entgegen der Erfahrung, nicht instinktmäßig und unverständig (unvernünftig) handeln. Das mag vielen wohl als die beste Manier, sich zu grunde zu richten, aber nicht die Welt zu erobern, vorkommen; indessen ist es bei Menschen in letzter Instanz doch immer der Wille, der gerade die großen bewundernswerten Taten in Szene setzt und die Erkenntnis in seine Dienste zwingt. Es steht mit dem Willen, hinsichtlich seines Verhältnisses zur Vernunft, wie mit Alexanders Verhalten zum gordischen Knoten und Kolumbus Verhalten zum dargebotenen Ei. Ein Machtspruch entscheidet und, wenn dies Verfahren auch oft verderblich wird, so ist es doch zweifellos immer das kürzeste. Darum erscheint ein Wille, der Erfahrung und Erkenntnis weit- gehend beherrscht, als der höchste psychische Faktor, denn er hat unter allen Umständen sofort ein bestimmtes Ziel (Erwerbung der höchstmöglichen Lust) vor Augen, zu dessen Erreichung er Er- fahrung und Erkenntnis als Mittel verwertet.

Ich glaube, aus dem Gesagten ergibt sich ganz von selbst, dass der Wille frei ist, dass also die so vielfach angezweifelte Willensfreiheit tatsächlich existiert. Wenn das Motiv des Willens ein subjektives ist, so bedeutet das eben, dass unser Wille in uns selbst seinen Antrieb findet. Es ist ganz zwecklos, im Objekt nach einer Ursache unseres Wollens zu suchen, denn zum Objekt tritt der gänzlich subjektive Wille niemals in irgend welche Beziehung; solchem Suchen liegt auch nur eine Konfusion der Begriffe zu grunde. Daraus erklärt sich nun ohne weiteres, warum es ein Ge- wissen, d. h. ein Verantwortlichkeitsgefühl für unser Tun gibt, das sonst auf keine Weise verstanden werden könnte. Mag es auch Forscher geben, die das Gewissen bestreiten, so unterliegt es doch gar keinem Zweifel, dass solch Verantwortlichkeitsgefühl in der Tat existiert, weiteres darüber auszusagen, ist hier nicht der Ort.

Weiter oben wurde gesagt, dass es neben der Wortsprache, Kunst und Mathematik noch eine weitere Sprache gibt. Das’ ıst die Musik, welche, wie Schopenhauer klar erkannte, Sprache des Willens ist. Auch auf diese Frage kann hier nicht näher einge- gangen werden.

Zum Schlusse wäre noch zu erörtern, ob der Wille bloß den

Schneider, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. Talaı

Menschen oder auch den Tieren zukommt. Mir scheint es ohne weiteres klar, dass der Wille Besitz allein des Menschen ist, denn das Tun der Tiere lässt sich aus Instinkt und Erfahrung, eventuell aus Erkenntnis, hinreichend erklären. Tiere haben keinen Willen; das besagt aber, wie ich betonen möchte, ganz und gar nicht, dass sie kein Gefühl besitzen. Ich stimme gewiss Loeb zu, wenn er die meisten Angaben über Gefühl bei niederen Tieren als völlig unberechtigt zurückweist, glaube aber doch, dass Wirbeltieren wirk- lich Gefühl zukommt, wenn es auch an Stärke hinter dem unsrigen zurücksteht. Ein misshandelter Hund empfindet Schmerz, . seine Reaktion darauf hat aber mit Willen nichts zu tun, sondern ist rein instinktiv, was schon ihre Zweckmäßigkeit erweist. Vielleicht findet man auch in der Annahme einen Widerspruch, dass Gefühl vorhanden sein soll, wo doch Wille fehlt. Aber ich habe schon bei Besprechung der Erkenntnisstufe darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit zur Bildung abstrakter Elemente (Erschließung der Po- tenz) auch Tieren zugesprochen werden muss, wenngleich kausale Erfassung des Geschehens (Intelligenz) bei ihnen kaum voraus- gesetzt werden darf. Die Materialien zur Betätigung eines Ver- mögens treten eher auf als das Vermögen selbst und so auch das Gefühl eher als der Wille. Bei den Wirbeltieren erscheint der Mensch vorbereitet und solche Vorbereitung dokumentiert sich ın der angegebenen Weise; hätten die Tiere dagegen selbst schon Verstand und Wille, so wäre ganz unerfindlich, warum sie dauernd auf dem gleichen psychischen Niveau verharren und nicht vielmehr erfolgreiche Konkurrenten des Menschen würden.

Es gibt drei wesentliche Unterschiede des Menschen zum Tier: Genie, Verstand und Wille. Genie ıst die höhere assozıative Er- fassung der Welt, wie sie in Religion und Kunst zum Ausdrucke kommt und wie sie andeutungsweise allen Menschen eignet. Der Verstand ist gleichfalls Allgemeingut und erscheint am stärksten bei Erfindern und Entdeckern ausgebildet; der Wille ist ebenso allgemein verbreitet, kommt aber auch nur bei relativ wenig Men- schen zu freier Entfaltung. Wir sehen also in der Menschwerdung einen ungeheuren Fortschritt der psychischen Entwickelung, der es wohl begreiflich macht, dass sich noch jetzt weite Kreise gegen die Ableitung des Menschen vom Tiere sträuben. Ich bin selbst- verständlich der Ansicht, dass der Mensch vom Tiere stammt, denn auch psychisch sehen wir im Säugetier unstreitig eine Vorstufe des Menschen; aber die Kluft ist unter allen Umständen, mag man sich den ersten Menschen auch noch so arm an Verstand, Wille und Genie vorstellen, eine ungeheure, weil eben die Erwerbung dieser drei Vermögen eine Entfältung zulässt, die bei ihrem Mangel ganz ausgeschlossen ist. Wenn man allerdings einen Willen ganz leugnet und den Verstand als eine Art Assoziationsvermögen auffasst

a2 Schneider, Gründzüge der vergleichenden Tierpsychologie.

vom Genie ganz zu schweigen so wird die Kluft wesentlich vermindert; was hat man dadurch aber gewonnen? Nichts anderes als seine eigene Annäherung an das Tier, da man bewies, dass es mit der eigenen Erkenntnis recht schwach bestellt ist. Man hat sich eigenhändig degeneriert, was ja im Belieben jedes einzelnen steht, aber für die anderen durchaus nicht maßgebend ist, die sich denn auch um solche „Entmenschung“ gar nicht kümmern. Indem ich schließe, möchte ich noch folgendes bemerken. Ich bin mir voll bewusst, wie unsympathisch sehr vielen die hier vor- getragenen Gedanken sein müssen. Nicht nur,.dass ein Dualismus von Sinnlichkeit und Geist vertreten wird, nein es werden außer- dem sogar noch weitere vier psychische Sphären angenommen, also ein sechsfacher Pluralismus eingeführt. In diesen sechs Sphären erscheint die Welt der Reihe nach als Äther, Materie, Sinnenqualität, Form, Potenz und Wille. Nun hat man aber in weiten Kreisen das Bestreben, einem Monismus als aller Weisheit Schluss zu huldigen, gemäß welchem Materie und Psyche, diese

bis jetzt allein anerkannten Antagonisten —— die aber in dem Sinne, als man es vertritt, gar keine Antagonisten sind nur verschie-

dene „Erscheinungsformen der gleichen Realität“ sein sollen (Forel und viele andere). Also man raubt dem, was man „subjektiv“ und „objektiv“ (durch „Empfindung“ und „Schluss“) erfasst, überhaupt alle Realität und schreib: Realität allein einer an und für sich gänzlich unerfassbaren unbewussten Welt zu, woraus dann eben der Monis- mus von selbst folgt. Ursache dieses Bestrebens ist in letzter Instanz die Bequemlichkeit, welche die stärksten Einwände der Ver- nunft unberücksichtigt lässt, um nur unsere. Weltanschauung mög- lichst zu versimpeln und derart handgerecht zu machen. Schon das Wort Dualismus ıst verhasst, weil es eine unwillkommene Perspektive auf noch Unbekanntes eröffnet, da doch gerade der dogmatische Naturwissenschaftler im Grunde schon alles erkannt zu haben glaubt. Es ist höchst bemerkenswert, dass der Natur- wissenschaftler dem Theologen vorwirft, er verschanze sich hinter seinem Dualismus, d. h. „er“ mache es sich bequem, da er Gott vorschütze, wo er selber nichts zu begreifen vermag. Nun dürfte das ja auch für viele Fälle zutreffen, ım allgemeinen kann man aber sagen, der Theologe steht auf einem höheren Standpunkt, weil er nicht geflissentlich seine Augen vor offenen Fragen ver- schließt, die der Erklärungsmittel der heutigen Naturwissenschaft durchaus spotten. Wenn er auch nicht Geist genug hat, des Geistes Herr zu werden, so hat er doch mehr Geist als sein Feind, der davon überhaupt nichts bemerkt.

Ich könnte ja meinen Pluralismus auch einen. Monismus nennen, insofern für mich eben nur Psychisches in der Welt existiert. Aber da würde man mich vielleicht mit den Panpsychisten verwechseln,

Rosenthal, Physiologie und Psychologie. 719

die glauben, alle Schwierigkeiten überwunden zu haben, wenn sie dem Atom Bewusstsein zuschreiben. Nein, die Frage: ob Psyche überall existiert oder nicht, die kommt für meinen Standpunkt überhaupt gar nicht mehr in Betracht; das wesentliche ist die Unter- scheidung der sechs Sphären, innerhalb deren die Welt sechsmal ihr Aussehen ändert, wobei jedoch nicht etwa ein und dasselbe bloß in anderer Gestalt wiederkehrt, sondern zugleich die Welt ungeheuer an Umfang gewinnt. Wohl wahr, die Sinnenwelt ist auch in der Geistwelt in entsprechender Umwertung enthalten, aber sie ist zu- gleich ins Zeitliche, das als Dimension erscheint, erweitert und es bedürfte eines weit vollkommeneren Bewusstseins als des unseren, diese erweiterte Welt ebenso zu beherrschen als die Sinnenwelt. Das ist der Punkt, dem man gerade widerstrebt. Man will sich nicht ins Transzendente verlieren, weil damit unser Bewusstsein prinzipiell als verbesserungsbedürftig und die Existenz zur Zeit nur unvollkommen erfassbarer Realitäten zugestanden wird. Man em- pfindet ein Grauen vor dem Suchen nach neuen Methoden, mittelst deren hier vorgeschritten werden könnte. Indem man aber sein Bewusstsein einengt, hypostasiert man doch mit größter Leichtig- keit eine außerbewusste metaphysische Welt, von der wir gar nichts wissen können, die aber eben aus solchem Grunde auch ganz unberücksichtigt bleiben kann, so dass die erfreulichste Einfachheit in einem verblüffend klaren Monismus gewonnen ist. Somit glaube ich mit Recht sagen zu können, dass es Bequemlichkeit ist, die zum Monismus führt. Wem an Erkenntnis mehr liegt als an Vor- täuschung eines bereits erzielten möglichst hohen Standpunktes, der muss unter allen Umständen den Monismus als die seichteste Weltauffassung, die es gibt, verwerfen; wer aber den Dualismus akzeptiert, der ist auch notwendigerweise dem Pluralismus ver- fallen, wenn er nur auf klare Unterscheidung der psychischen Ele- mente dringt.

Physiologie und Psychologie‘). Von J. Rosenthal.

Die Neigung zu philosophischer Spekulation hat in den letzten Jahren entschieden zugenommen. Sie hat fast dieselbe Höhe er- reicht wie am Ende des 18. und im Anfang des 19. Jahrhunderts, da man es für möglich hielt, auf Grund einiger, mehr oder weniger

1) Der nachfolgende Aufsatz war schon fertig, als der vorstehend abgedruckte. Artikel des Herrn Schneider bei der Redaktion einlief. Da in meinem Aufsatz die vergleichende Psychologie nur ganz beiläufig erwähnt wird, habe ich es für richtig gehalten, ihn unverändert und ohne Rücksichtnahme auf die Arbeit des Herrn Schneider abdrucken zu lassen. ER:

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der Erfahrung entnommenen Vordersätze durch bloße Spekulation

das Wesen aller Naturvorgänge abzuleiten. Als dann aber diese Naturphilosophie sich immer mehr von dem Boden des wirklichen Geschehens entfernte, trat bei den Naturforschern um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine völlige Umkehr ein. Die auf ex- perimenteller Grundlage neuerstarkten Naturwissenschaften sagten sich von der überwuchernden Spekulation los; an die Stelle der früheren Überschätzung trat eine völlige Missachtung. Unsere Zeit zeigt nun wiederum ein Anwachsen der Neigung zu philo- sophischer Betrachtung; es tauchen wieder neue Versuche auf, die Lücken, welche der langsame Fortschritt der Wissenschaft lässt, durch Spekulation auszufüllen.

Nur in einem Gebiete waren die Schwankungen der Anschau- ungsweise weniger auffallend, in der Lehre von den Sinnes- organen und den durch sie vermittelten Empfindungen und Wahrnehmungen. Die sogen. psychischen Erscheinungen wurden allgemein als Gegenstand der Psychologie, letztere aber als ein Teil der Philosophie angesehen. Es erschien deshalb als selbst- verständlich, dass die Physiologen, sobald sie dieses Gebiet betraten, die Sprechweise der Philosophen annahmen; sie waren davon über- zeugt, dass die betreffenden Erscheinungen nur auf dem Wege philosophischer Erörterung behandelt werden könnten.

Aber in der Psychologie selbst vollzog sich gleichzeitig eine tiefe Wandlung. Man fing an zu unterscheiden zwischen empirischer und metaphysischer Psychologie. Die erstere baute sich auf Grund sorgfältiger Beobachtung auf, ganz auf gleiche Weise, wie es in den Naturwissenschaften zur unumstößlichen Regel geworden war. Nur das unterschied sie von anderen Zweigen der Naturwissen- schaft, dass ihre Tatsachen einzig und allein auf Grund der Selbst- beobachtung, der Introspektion, gewonnen wurden. Sie konnte deshalb selbstverständlich im strengsten Sinne nur für den Be- obachter selbst Gewissheit gewähren. Nur die Möglichkeit, sich mit anderen Menschen über die Ergebnisse der Beobachtungen aus- sprechen zu können, führte zu der Überzeugung, dass die gefun- denen Gesetzmäßigkeiten im allgemeinen für alle Menschen Gel- tung haben.

Hand ın Hand mit dieser Entwickelung der empirischen Psycho- logie ging die genauere Erkenntnis des Baues und der Eigenschaften der Sinnesorgane; sie führte zu eimem besseren Verständnis der physiologischen Bedingungen der Sinneserregungen. So konnte sich eine physiologische Psychologie ausbilden, zu welcher die epochemachenden Arbeiten von E. H. Weber, Joh. Müller, Helmholtz u. a. die Grundlage bildeten.

Auch die Fragen nach den Sinneserregungen bei .Tieren haben durch histiologische Untersuchung wie durch physiologische Beobach-

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tung manche Bereicherung erfahren. Auf Grund derselben haben manche Forscher geglaubt, Erfahrungen, welche beim Menschen festge- stellt sind, auf die Tiere übertragen zu dürfen. So entstand ein neuer Wissenschaftszweig, eine vergleichende Sinnesphysiologie, und in ihrem Gefolge eine vergleichende Psychologie. Vitus Graber, Lubbock, Wasmann u. a. bieten zahlreiche Beispiele dieser Auffassungsweise. Andere dagegen wollen solche Analogien ganz und gar nicht gelten lassen. Für sie existiert nur, was durch die gewöhnlichen, auch sonst in den Naturwissenschaften benutzten Beobachtungsmethoden festgestellt werden kann. Sie sprechen nur von Reaktionen auf äußere Reize irgend welcher Art, sofern diese sich durch Bewegungen oder sonstige, objektiv wahrnehmbare Er- scheinungen erkennen lassen. Bei Lebewesen, die ein mehr oder weniger ausgebildetes Nervensystem besitzen, lassen sich solche Reaktionen meist unter den Begriff „Reflex“ unterbringen, bei Protisten und bei Pflanzen spricht man dagegen von Tropismus und Taxis!). Jedenfalls aber soll nach Ansicht dieser Forscher die Annahme von „Empfindungen“ oder sonstigen „psychischen Er- scheinungen“ ausgeschlossen sein, die Frage über ıhr Vorhanden- sein oder ıhr Fehlen überhaupt nicht gestellt werden. Nur unter dieser Beschränkung können, so sagen sie, die einschlägigen Unter- suchungen auf dem Boden physiologischer Forschung ohne Vor- eingenommenheit durchgeführt werden. Am schärfsten vertreten diesen Standpunkt die Herren Beer, Bethe und von Üxküll, welche auch, um jede Vermischung physiologischer Tatsachen mit Vorstellungen, welche der Psychologie entlehnt sind, zu vermeiden, eine eigne Terminologie für die Darstellung von Ergebnissen der Beobachtung an Seen geschaffen Belle =)

Über en Standpunkt echen aber einige Vertreter desselben noch hinaus. Sie behaupten a nur mit gutem Recht, dass wir über das etwaige Vorhandensein „psychischer Vorgänge“ bei Tieren nichts aussagen dürfen, weil wir keine Mittel besitzen, über ıhr Vorhandensein etwas zu erfahren, sondern sie leugnen dieses Vor- handensein sogar ganz, da sich alle Erscheinungen „auch ohne diese Annahme vollständig erklären lassen.“

Nun bin ich vollkommen durchdrungen von der Richtigkeit

1) Andere verwenden jedoch den Ausdruck „Reflex“ in viel weiterem Sinne; so spricht z. B. Herr Massart (Biol. Centralbl. 1902, S. 9ff.) geradezu von „nicht nervösen Reflexen“, worunter er alle infolge von Reizen auftretenden Erscheinungen von Tropismus u. s. w. versteht. Es scheint mir zweckmäßiger, diese erweiterte Bezeichnung zu vermeiden und „Reflex“ nur zu nennen, was der ursprünglichen, von Mar al Hall eingeführten Definition entspricht, also Leitung in zentripetalen Nerven- bahnen, Übertragung in einem nervösen Zentrum und Rückleitung in einer nervösen zentrifugalen Bahn.

2) Biol. Centralbl. 1899, S. 517.

716 Rosenthal, Physiologie und Psychologie.

des Grundsatzes, dass man bei wissenschaftlichen Erörterungen keine Annahmen machen soll, ohne welche die Einsicht in dem Ablauf und dem Zusammenhang der Erscheinungen erreicht werden kann.

So einfach liegt aber in unserem Falle die Sache keineswegs. Es entspricht freilich nicht den Regeln der naturwissenschaft- lichen Logik, wenn man zur Deutung beobachteter Reaktionen eines Tiers auf irgend einen Reiz das Vorhandensein irgend welcher „Seelentätigkeiten“, Überlegung, Neigung oder Abneigung, Willens- tätigkeit u. s. w. heranzieht. Man soll, wenn irgend möglich, nur solche Hypothesen benutzen, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit durch neue Erfahrungen erprobt werden kann. Das ıst in diesem Falle unmöglich, weil man das Vorhandensein psychischer Vorgänge bei an- deren Wesen immer nur vermuten, niemals in irgend einer Weise fest- stellen kann. Es ist aber ebenso unrichtig, ihre Abwesenheit zu be- haupten, weil man das ebensowenig festzustellen vermag. Wenn ich ineinem Wirtshaus beobachte, dass ein mir unbekannter Gast Speisen und Getränke verzehrt, so werde ich auf die Frage, ob er dieselben auch werde bezahlen können, antworten, das weıß ich nicht, da ich nicht in der Lage bin, seine Taschen zu untersuchen und mich zu überzeugen, ob Geld darın ıst. Ich werde mich aber hüten zu be- haupten, er habe kein Geld, bloß weil ich nicht gesehen habe, dass er bezahlt. Mein Gleichnis ist trivial, das weiß ich sehr gut. Es dient aber vortrefflich meinem Zweck, zu zeigen, dass ich Behaup- tungen über die „Seelenkräfte“ von Ameisen oder dergleichen zwar für unbewiesene Annahmen halte, ebensowenig aber denen zustimmen kann, welche sagen, dass jene Tiere „nur Reflexmaschinen“ seien. Die einen sind in ihrem vollen Recht, wenn sie durch geschickt angeordnete Versuche zu zeigen sich bemühen, dass die Annahme reiner Reflexmechanismen nicht ausreiche, um alle Erscheinungen begreiflich zu machen; sie werden aber ım besten Falle nur er- reichen, die Annahme von eingreifenden „Seelenkräften“ als eine für die weitere „Erklärung“ nicht unbrauchbare Hypothese zulässig erscheinen zu lassen. Die anderen sind ebenso berechtigt, wenn sie sich bemühen, das Feld für diese Hypothese mehr und mehr einzuengen; sie werden aber nicht nachweisen können, dass jene Handlungen der Tiere ohne gleichzeitige Vorgänge des Bewausst- seins u. s. w. verlaufen, weil zwar die Existenz solcher Vorgänge bei jedem andern außer dem eignen Ich niemals bewiesen werden kann, ebensowenig aber ihre Abwesenheit !).

I) Diese Bemerkungen gelten auch von der alten, schon bei den griechischen Naturphilosophen verbreiteten Lehre des Hylozoismus, nach welcher alle Materie belebt und beseelt ist. Durch Schopenhauer wiederbelebt und von manchen Monisten als Grundlage einer neuen Naturphilosophie mit großem Nachdruck ver- treten, hat diese Hypothese scheinbar den großen Vorzug einer ganz allgemeinen

Rosenthal, Physiologie und Psychologie. a

Nur auf einem Gebiete haben die Begriffe Empfinden, Bewusst- sein, Wille u. s. w. eine wahre und unbestreitbare Realität, in der Lehre von diesen Empfindungen, soweit wir sie aus eigenster Erfahrung kennen. Soll nun diese Lehre aus der Physiologie ver- wiesen und ganz der Philosophie zugeschoben werden? Soweit es sich um die metaphysische Betrachtung jener Begriffe handelt, um Untersuchungen über das „Wesen der Seele“ u. dergl., werden wohl heutzutage alle Physiologen geneigt sein, die Frage mit „ja“ zu beantworten. Wenn man noch in Johannes Müller’s Handbuch und in Rudolf Wagner’s Handwörterbuch längere Ausführungen findet, welche unter diese Kategorie eingereiht werden können, so fehlen solche in den neueren physiologischen Werken entweder ganz oder sie sind wenigstens auf ganz kurze gelegentliche Be- merkungen eingeschränkt. Anders dagegen steht es mit dem, was man als „empirische Psychologie“ bezeichnet, der Lehre von den Grunderscheinungen des Bewusstseins, so weit sie auf Grund von Selbstbeobachtung erkannt werden können. Da es sich hier um tatsächliche Zustände und Vorgänge handelt, so sind sie nach der Ansicht vieler Physiologen Gegenstand naturwissenschaftlicher Unter- suchung und fallen ın das Gebiet der Physiologie. Naturgemäß werden diese Tatsachen im Zusammenhang mit den Untersuchungen über die Physiologie der Sinne abgehandelt. Von Physiologen sind denn auch die meisten Anregungen ausgegangen, welche in ihrer weiteren Entwickelung zu der heutigen „physiologischen Psychologie“ geführt haben. Von Ernst Heinrich Weber stammen die ersten Messungen über die Unterscheidungsempfindlichkeit her, welche später zu der Aufstellung des psychophysischen Gesetzes durch Fechner geführt haben. Von Physiologen sind die ersten Mes- sungen der Reaktionszeit ausgeführt worden, zuerst nur zur Auf- klärung der den Astronomen längst bekannten Erscheinung der „persönlichen Gleichung“ zwischen zwei Beobachtern, dann aber auch in selbständiger Absicht zur Gewinnung physiologischer Er- kenntnis. Von der Physiologie sind denn auch Lotze sowie der hervorragende Vertreter dieses Zweiges der Psychologie unter den jetzt lebenden Philosophen, Wilhelm Wundt, ausgegangen, der auch das erste und verbreiteteste Lehrbuch der physiologischen Psychologie verfasst hat.

Geltung für alle Naturerscheinungen. Da sie aber durchaus nicht bewiesen und eben- sowenig widerlegt werden kann, so nimmt sie bei einigen ihrer Anhänger oft ge- nug die Rolle eines Dogmas an. Leider ist es nicht jedem gegeben, sich eine Vor- stellung von der „Atomseele“ machen zu können. So wird „der Magnete Hassen und Lieben“ immer ein schönes Bild bleiben. Als Grundlage einer modernen Naturphilosophie wird jene Hypothese aber doch kaum gelten dürfen, da sie mehr die dichterische Phantasie als das wissenschaftliche Bedürfnis zu befriedigen ge- eignet ist.

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So galt denn die innige Verknüpfung von Physiologie und Psychologie innerhalb des Bereiches der Sinnesphysiologie als ganz selbstverständlich, insoweit als es sich um die Sinnesempfin- dungen des Menschen handelt. Denn über die etwaigen- Empfin- dungen der Tiere getraut sich der nüchterne Forscher, der auf dem Boden der Erfahrung steht und aus Prinzip ihn nicht verlassen will, aus den oben angeführten Gründen nichts auszusagen. Höchstens wagt er es, ganz nebenher hier und da eine auf Analogie gegründete Vermutung mit allem Vorbehalt auszusprechen. Die Lehre von den durch Einwirkung auf unsere Sinne veranlassten Sinnes- empfindungen spielt unter den Lebenserscheimungen des Menschen eine so wichtige Rolle (ist sie ja doch, um nur das Wichtigste zu nennen, die einzige Quelle unserer Erkenntnis aller Naturvorgänge, mithin die Grundlage der Erkenntnistheorie), dass der Physiologe an ihnen nicht vorübergehen kann. Es galt deshalb bisher als selbstverständlich, bei der Untersuchung der Erscheinungen der Sinnesphysiologie auch die durch die Erregung der Sinnesorgane hervorgerufenen Empfindungen und ihre psychischen Folgeerschei- nungen zu besprechen.

Aber auch aus diesem Teil der Physiologie soll nun die Psycho- logie vertrieben werden; wenigstens versucht das Herr Nuel in seinem Buch: La vision!), welches einen Teil der auf 50 Bänd- chen berechneten Bibliotheque internationale de psycho- logie experimentale normale et pathologique ausmacht. In dieser Bibliothek, welche unter der Leitung des Herrn Toulouse, Chefarztes der Irenansilt von Villejuif Ed Direktors des Labo- ratorıums für experimentelle Psychologie an der Ecole des hautes etudes zu Paris erscheint, hätte man eine starke Betonung des psychologischen Elements bei der Behandlung der Sinnesphysiologie am ehesten erwarten können. Aber nein, gerade das Gegenteil ist der Fall. Herr Nuel kann sich nicht genug tun in der Verurteilung der psychologischen Richtung in der Sinnesphysiologie, als deren Hauptvertreter ihm Helmholtz erscheint. Immer und immer wieder sucht er das Widersinnige und Irreführende jener Auffassungsweise darzutun und immer wieder werden die Herren Parinaud!) und Reddingius?) wegen ihrer „rein physiologischen“ Auffassung jenem gegenüber gelobt. Nur höchstens Herr Hering findet noch in einzelnen Punkten, in denen er einen von Helmholtz abweichen- den Standpunkt vertritt, Anerkennung. Sonst glaubt Herr Nuel seiner geringen Meinung von der unter den Physiologen verbreiteten

1) J.-P. Nuel, professeur d’ophthalmologie et de physiologie des organes des sens & l’universit& de Lidge. 16, 376 8. Paris. Octave Doin, Editeur 1904. 2) La vision. Paris. Oct. Doin 1898.

]

3) Das sensumotorische Sehwerkzeug. Leipzig 1898.

Rosenthal, Physiologie und Psychologie. 719

Auffassung und Darstellung der Sinneserscheinungen nicht kräftiger Ausdruck geben zu können, als dass er sie als „physiologie psycho- logant“ förmlich an den Pranger stellt. An ihre Stelle will er, wenn ich so sagen darf, eine „physiologie purement physiologique* setzen. Für ihn, den Physiologen, gibt es in der Lehre vom Sehen nichts als Erregung der Aufnahmeorgane durch die äußeren Agentien (in unserem Falle Ätherschwingungen von gewissen Wellen- längen), Erregung und Leitung in den mit jenen zusammenhängen- den Nerven, Erregungsvorgänge ın den subkortikalen und kortikalen Zellen des Gehirns und daraus entstehende Reflexe, d. h. Erregung anderer, zentrifugal leitender Nerven und dadurch veranlasste Kon- traktionen von Muskeln oder Sekretionen in Drüsen. Indem er diese bespricht, glaubt er seine Aufgabe am besten gelöst zu haben, die er selbst dahin feststellt: „Decrire les phenomenes visuelles, en tant qu'ils donnent lieu & des considerations psychologiques“. D. h. also, wenn ich ihn recht verstehe, diese „considerations psychologiques“ sind nicht mehr Aufgabe der Physiologie, sondern müssen dem Psychologen von Fach überlassen werden; die „pheno- menes visuelles“ aber sind in der oben gegebenen Aufzählung voll- kommen erschöpft. Wie es eine wahre Physiologie der Bewegung, der Sekretion gebe, d. h. eine Physiologie, die sich nicht auf Tatsachen der „inneren Anschauung“ beruft, so will Herr Nuel versuchen, auch die Lehre vom Sehen oder (diese Einschränkung macht er doch im Eingang seines Buchs, aus dem wir auch die oben zitierte Feststellung semer Aufgabe entnommen haben) wenigstens gewisse Kapitel derselben auf die gleiche Weise behandeln; er will zeigen, bis wohin wir heutzutage in dieser Richtung vorzudringen ver- mögen. Um dies zu erreichen, behandelt er alle Teile der physio- logischen Optik (mit Ausnahme der Dioptrik des: Auges, welche ja nichts ist als ein Kapitel der angewandten Physik), indem er die Erscheinungen zuerst in der Sprache der bisherigen „psycho- logierenden“ Behandlungsweise vorträgt ünd dann zu zeigen ver- sucht, dass man auch ohne dieselbe auskommen könne. Für die Ausdehnung dieser „rein physiologischen“ Betrachtungsweise auf die Gesichtserscheinungen des Menschen nimmt Herr Nuel das Priori- tätsrecht in Anspruch, da alle früheren Autoren sich damit begnügt haben, dieselbe nur für die entsprechenden Erscheinungen bei Tieren in Anwendung zu bringen. |

Herr Nuel stellt zuerst auf 111 Seiten zusammen, was er über das Sehen der Tiere zu sagen hat. Er berichtet über die Ergeb- nisse von Untersuchungen über Photo- oder Heliotropismus an Protisten und niederen Tieren bis zu den Insekten und Mollusken, hauptsächlich im Anschluss an J. Loeb. Was er über das Sehen bei höheren Tieren beibringt, beschränkt sich auf wenige Bemer- kungen, welche meistens auf Analogien mit dem Sehen des Men-

720 Berichtigung.

schen hinauslaufen. Der Standpunkt, den Herr Nuel in diesem Abschnitt einnimmt, deckt sich im wesentlichen mit dem von uns als richtig erkannten. Was wır an Tieren konstatieren, sind Re- aktionen auf äußere Reize. Inwieweit die ihnen zugrunde liegenden Vorgänge auch noch von Empfindungen oder anderen Bewusstseins- zuständen begleitet sind, können wir nicht erfahren. Wir dürfen daher nicht sagen, ein Tier „liebe“ oder „fürchte“ das Licht, es ziehe eine Farbe einer anderen vor u. s. w. Ganz richtig. Wir dürfen nicht so sprechen, weil wir damit etwas behaupten, was aus unseren Beobachtungen nicht gefolgert werden kann. Aber ebensowenig dürfen wir das Gegenteil behaupten. Wir dürfen nicht sagen, das Tier habe keine Empfindungen; wir müssen einfach dabei stehen bleiben, dass über Empfindungen und Bewusstseins- zustände aller Art nur subjektiv, jeder Beobachter für sich, Gewiss- heit besitzt, und dass da, wo das, auch trügerische, Hilfsmittel der sprachlichen Mitteilung fehlt, über Empfindungen anderer Lebe- wesen überhaupt nichts ausgesagt werden kann. Darüber sollten heutzutage alle Physiologen einig sein. Und somit können wir, abgesehen von manchen Einzelnheiten, auf welche wir jedoch nicht weiter eingehen wollen, unsere Übereinstimmung mit Herrn Nuel in diesem Teil seiner Auseinandersetzungen aussprechen. (Schluss folgt.)

Berichtigung.

Auf die in Nr. 19 des Biologischen Centraiblattes vom 1. Okt. 1905 gemachte Bemerkung (in der Besprechung meines Jahrbuchs für Pflanzen- und Tierzüchtung) „Als erster Schritt ist ein Antrag bei der ‚Deutschen Landesgesellschaft‘ betreffend Bildung eines Sonderausschusses für Biolegie zu verzeichnen“ sehe ich mich veran- lasst, berichtigend zu erklären, dass der erste Schritt zur Errichtung biologischer Versuchsstätten für Tierzucht die Gründungeinerbiologischen Gesellschaft für Tierzucht (Deutsche Landw. Tierzucht, Nr. 18, 1905: Eine biologische Ge- sellschaft f. Tierzucht von Privatdozent Prof. Dr. Rob. Müller) ist, welche am 18. Mai d. J. unter dem Ehrenvorsitz von Exzellenz Kühn in Halle a. S. be- schlossen wurde. i

Prof. Dr. Robert Müller, Privatdozent a. d. Tierärztl. Hochschule zu Dresden und Geschäftsführer der biologischen Gesellschaft f. Tierzucht.

Die geehrten Herren Mitarbeiter werden dringend ersucht, im Interesse schnellerer Drucklegung ihrer Einsendungen die auf der ersten Seite der Nummer gegebene Anweisung zu beachten und den Manuskripten ihre genauen Adressen beizufügen.

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

jologisches Gentralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwiekelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

XXYV.Bd. 15. November 1905. ME 22.

Inhalt: Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons (Schluss). Rosenthal, Physiologie und Psychologie (Schluss)

Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. (Vorläufige Mitteilung.) Von Dr. F. Schwangart. (Aus dem zoologischen Institut der Universität München.)

I. Die Entstehungsweise und Bedeutung der Dotterzellen bei Endromis versicolora L. Ein Beitrag zur „Entodermfrage“.

Die Anschauungen, welche sich die Autoren von der Ent- stehungsweise und dem Schicksal der Dotterzellen bei den einzelnen Formen der pterygoten Insekten gebildet haben, ermöglichen es uns zur Zeit nicht, einen einheitlichen Grundzug in diesen Vor- gängen zu erkennen. Wenn trotzdem Forscher, deren Ansichten in diesen Punkten weit auseinander gehen, darin übereinstimmen, dass man die Dotterzellen als den gesamten ursprünglichen Entoblast oder als einen Teil davon betrachten müsse, so sind für diese Auf- fassung weit öfter Vergleiche mit den Verhältnissen bei anderen Arthropoden (speziell den Apterygoten und Myriapoden) maßgebend gewesen, als die Ergebnisse der Untersuchungen über die Ent- wickelung der Pterygoten selbst.

Was zunächst das Schicksal der Dotterzellen anlangt, so hat sich nur in wenigen Fällen feststellen lassen, dass sie (wie man das vom Entoblast erwarten sollte) am Aufbau des Mitteldarm- epithels beteiligt sind (Aphiden, Libelluliden) oder dass sie auf Grund ihres Verhaltens zu dem Material, welches das Mitteldarm-

XXV. 6

739 Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren.

epithel bildet, als verwandt mit diesem Material angesehen werden müssen (Lepidopteren); ihre direkte Beteiligung konnte in dem zu- letzt genannten Fall nur als sehr wahrscheinlich bezeichnet werden. Dagegen hat es sich in den allermeisten Fällen herausgestellt, dass die Anlage des Mitteldarmepithels von Bildungen ausgeht, die sich in einer viel späteren Entwickelungsperiode differenzieren als die Dotterzellen und die von einem Teil der Autoren als entodermal, von anderen als ektodermal betrachtet werden. Auf diese Bil- dungen werde ich unten noch zurückkommen.

Ebensowenig Gewissheit über die Natur der Dotterzellen haben die Untersuchungen über deren Entstehung gebracht. Man unterscheidet allgemein zwischen Bildung der Dotterzellen durch „Einwanderung von Zellen“ aus dem fertigen Blastoderm in den Dotter und durch „Zurückbleiben von Zellen im Dotter“ während der Blastodermbildung. Der zweite Modus wird von dem erst- genannten als dem ursprünglicheren abgeleitet. Die Ergebnisse der letzten Jahre zeigen indessen, dass die Verhältnisse kompli- zierter liegen, und dass diese einfache Einteilung nicht mehr aus- reicht. Während nämlich früher ın den allermeisten Fällen, für welche „Einwanderung der Dotterzellen“* angegeben wurde, diese Einwanderung von beliebigen Stellen des Blastoderms aus „multipolar“ oder besser „diffus“ stattfinden sollte, haben neuer- dings die Untersuchungen von Noack!) gezeigt, dass bei Calliphora die Dotterzellen von einem bestimmten Bezirk des Blasto- derms aus in den Dotter eindringen. An dieser Stelle ist eine deutliche Lücke im Verbande des Blastoderms zu beobachten. Die Erscheinung gewinnt an Bedeutung dadurch, dass schon Wıll?) eine Öffnung im Blastoderm und eine Einwanderung der Dotter- zellen von dort aus bei Aphiden festgestellt hatte; Wıill’s Befund wurde nur deshalb wenig Bedeutung beigelegt, weil bei den Aphi- den modifizierte Verhältnisse vorliegen, da hier die erwähnte Öff: nung zugleich den Eintritt von sekundärem Nährmaterial ins vermittelt. Die Dotterzellen werden also ın diesen Fällen auf em- bolisschem Wege gebildet, und es liegt nahe wie Will das tatsächlich getan hat die Öffnung im Blastoderm als „Blasto- porus“ und den ganzen Vorgang als „Gastrulation“ anzusprechen. Da die Embolie nach Ansicht vieler Forscher den ursprünglichen Typus der Entodermbildung darstellt, so erscheinen diese Fälle bedeutungsvoll für den Nachweis der entodermalen Natur der Dotterzellen. Dem gegenüber darf nicht vernachlässigt werden, dass ın anderen Fällen für die Dotterzellen, wie schon erwähnt wurde, eine Entstehungsweise behauptet worden ist, die mit einer

1) Z. Wiss. Zool. 2) Z00l. Jahrb. Abt. f. Anatomie u. Ontogenie, Bd. 3, 1888.

Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. 123

embolischen Gastrulation nicht in Einklang zu bringen ist: Die Ein- wanderung von beliebigen Stellen des Blastoderms aus. Maßgebend ist dabei, dass Übergänge zwischen diesen beiden Bildungsweisen nicht gefunden sind. Wir haben also bei den pterygoten Insekten einen schroffen, unvermittelten Gegensatz in der Bildungsweise der Dotterzellen, und es fällt dabei besonders ins Gewicht, dass auch für die Apterygoten ein Fall von diffuser Bildungsweise der Dotter- zellen verbunden mit Delamination angegeben worden ist!).

Aus diesem Gegensatze ergibt sich die weitere Frage: Auf welchen Modus der Einwanderung ist nun die dritte Art der Entstehung von Dotterzellen zurückzuführen, das Zurückbleiben von Zellen im Dotter vor der Ausbildung des Blastoderms? Es ist von vornherein nicht ausgeschlossen, dass die Untersuchung solcher Fälle zur richtigen Beurteilung des er- wähnten Gegensatzes beitragen kann. Die Ergebnisse, welche über diesen Punkt bis jetzt vorliegen, sind indessen nicht geeignet, Klar- heit zu schaffen. So gibt Heymons?) für Gryllus an, dass außer den Zellen, welche vor der Bildung des Blastoderms im Dotter zurückbleiben, eine Anzahl von Blastodermzellen diffus in den Dotter zurückwandert, übereinstimmend damit, dass bei der ver- wandten Gryllotalpa die Dotterzellenbildung rein diffus verläuft. Noack hat bei Calliphora Zurückbleiben neben embolischer Ent- stehungsweise beobachtet; seine Ausführungen lassen die Auslegung zu, dass er trotzdem das Verbleiben der Dotterzellen im Inneren zur diffusen Einwanderung in Beziehung bringt: Die Zellen „bleiben hier nicht a priori zurück, sondern kehren auf halbem Wege um“. Diekel?) hat im Blastoderm der Honigbiene eine Lücke gefunden, welche er der von Noack bei Calliphora festgestellten Öffnung vergleicht; zu dieser Lücke stehen die Dotterzellen eng in Beziehung. Einen genetischen Zusammenhang zwischen ihr und den Dotter- zellen hat er indes nicht feststellen können, es fehlten ihm die

1) Macrotoma vulgaris Tullb. Studien über die Entwickelung der aptery- goten Insekten von Dr. H. Uzel. R. Friedländer u. Sohn, Berlin 1898. Durch diese Angabe Uzel’s wird für die Bildungsweise der Dotterzellen bei den Insekten der gleiche Gegensatz geltend gemacht, den Hubrecht auf Grund seiner Unter- suchungen an Tarsius für die Gastrulation der Wirbeltiere vertritt, der Gegensatz von „Invagination“ (Embolie) und „Delamination“. Hubrecht hat diese An- schauungsweise dazu geführt, die Invagination aus seiner Definition der Gastrula auszuschließen, da bei Tarsius und anderen Formen, deren Gastrula Hubrecht mit der von Tarsius vergleicht, keine einem echten Blastoporus vergleichbare Bil- dung vorkommen soll, genau wie bei der diffusen Dotterzellenbildung der In- sekten nach den Angaben, welche bis jetzt darüber vorliegen. A. A.W.Hubrecht, Die Gastrulation der Wirbeltiere. Anat. Anz. Bd. XXVI, 1905.

2) Die Embryonalentwickelung von Dermapteren und Orthopteren von R. Hey- mons. G. Fischer, 1895.

3) Z. wiss. Zool., Bd. 77, Jena 1904.

46*

124 Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren.

Stadien, welche zur genauen Untersuchung dieser Verhältnisse nötig sind.

Die Entwickelung der Lepidopteren bietet, nach den Ergeb- nissen, welche bisher darüber vorliegen, einen typischen Fall des „Zurückbleibens von Zellen im Dotter“. Ich habe diese Verhält- nisse an Endromis versicolora L. näher. untersucht. So weit es meine Resultate erlauben, werde ich ım folgenden auf die Fragen eingehen, welche eben berührt worden sind.

Fig. 1. Fig.2. Dorsal Vorn bip ent

era ED ua bl Ventral \ ; ; Querschnitt. Junges Furchungsstadium. Nee I bl = Kerne der ‚äußeren Sphäre“, Blasto- en # dermkerne. blp Stelle, welche von der Hinten

äußeren Kernsphäre frei bleibt, Blasto- h porus. ent = Kerne der inneren, regellos Frontalschnitt. Junges Furchungsstadiuın.

a . ) == las f ir N = 5 gelagerten Gruppe, Entoderm. fA—innere dl = Blastoderm-, ent Entoderm-, kernfreie Zone, Furchungshöhle. Alle Dotterkerne. blp = Blastoporus. Figuren nach Präparaten von Endromis /h Furchungshöhle.

versteolora L.

Die ersten „Furchungskerne“!) im Ei von Endromis wersicolora liegen nahe dem Vorderende. Auf einem Stadium mit etwa 40 solchen Kernen habe ich zuerst eine gesetzmäßige Anordnung wahrgenommen, und zwar eine Differenzierung des gesamten Kernmaterials in zwei Gruppen: Eine geringe Anzahl von Kernen hat die ursprüngliche regellose Lagerung beibehalten; es sind das Kerne, welche dem

1) Der Ausdruck „Furchungszellen“ ist für dieses Stadium nicht brauchbar, da der plasmatische Inhalt des Eies noch nicht abgefurcht ist. Mit dem Ausdruck „Furchungskerne“ ist dagegen nur gesagt, dass es sich um Kerne handelt, die zur Furchung in Beziehung stehen. Der Ausdruck passt auch auf die Dotterkerne, da der Dotter nachträglich gefurcht wird.

Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. 125

vordersten Abschnitt der Dorsalfläche genähert sind (Fig. 1 u. 2 ent). Die Mehrzahl (bl) hat sich in einer der Oberfläche des Eies an- nähernd konzentrischen Sphäre eingestellt. Die zuletzt beschrie- benen Kerne teilen sich lebhaft und rücken eilig nach der Ober- fläche vor, unter steter Wahrung ihrer gesetzmäßigen Anordnung. Die Kerne der zuerst genannten Gruppe teilen sich langsamer; eine Anzahl von ihnen rückt hinter den zur Oberfläche eilenden Kernen der Sphäre her, ohne je eine bestimmte Anordnung anzu- nehmen. Sie halten mit den Kernen der Sphäre nicht Schritt, und so entsteht zwischen beiderlei Kerngruppen zeitweilig ein kernloser Raum (Fig. 2 u. 4 fh), besonders ausgedehnt nach dem Hinterende zu, da in dieser Richtung der weiteste Weg zur Oberfläche zurück- zulegen ist. Die Zellen der Sphäre erreichen die Oberfläche zuerst in der mittleren Partie, und zwar hier ventral und an den Seiten, im wesentlichen also an den Stellen, wo der Embryonalteil des Blastoderms angelegt wird; gleich darauf am größten Teil der Dorsalseite; zuletzt am Hinterende und an der Stelle am Vorder- ende, wo die Zellensphäre (bl) von Anfang an durch die unregel- mäßig gelagerten Zellen (ent) unterbrochen war, also am vordersten Abschnitt der Dorsalfläche. Das Bild, welches hier entsteht (vgl. besonders den Querschnitt Fig. 3), erinnert ohne weiteres an eine embolische Gastrula: Die kernfreie Stelle der Oberfläche, von der aus die unregelmäßig verteilten Kerne in das Innere der Sphäre vorgerückt sind (b/p), wäre einem Blastoporus gleichzusetzen, die ins Innere vorgedrungenen Zellen (ent) wären als Entoblast aufzu- fassen, die kernfreie Zone (fh) als Furchungshöhle. Für diese Auf- fassung spricht die Anordnung von beiderlei Zellmaterial vom Augenblick der Differenzierung an. Die Besonderheit, dass die Einwanderung des Entoblasts nicht nach, sondern vor der Aus- bildung des Blastoderms stattfände, wäre befriedigend aus den besonderen Verhältnissen im Ei zu erklären: Die Bildung des Blastoderms ist naturgemäß stark verzögert durch den weiten Ver den die Blaskodermkeme nach ihrer Sptärikchen Anordnüng och zur Oberfläche zurückzulegen haben und durch den starken Wide er- stand, den ihnen der sehr kompakte Dotter entgegensetzt; die Em- bolie setzt infolgedessen vor Vollendung des Blastoderms ein. Beim S Smile der vorgeschrittenen Stadien des Prozesses handelt es sich vor allem darum, zu ermitteln, in welcher Weise der Ver- schluss der als Blastoporus g gedeuteten Öffnung im Blasto- derm erfolgt, ob dies von den angrenzenden Zellen der äußeren Kernsphäre aus geschieht oder ob die im Innern befindlichen Zellen in die Lücke einwandern. Im ersten Falle würde die Auffassung des Vorganges als Embolie bestätigt, im zweiten könnte die Diffe- renzierung der beiden Zellgruppen als diffuse Gastrulation gedeutet werden, trotz aller Anzeichen, die vorher für die Embolie sprechen.

126 Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren.

Man müsste sich dann vorstellen, dass der Abspaltungsprozess im größten Teile der Oberfläche des Furchungskernhaufens sehr früh- zeitig erfolgte, in einem bestimmten, wenig umfangreichen Bezirk dagegen stark verzögert bliebe. So würde ein embolischer Vorgang vorgetäuscht. Eine zureichende Erklärung für diese Erscheinung wäre in den Verhältnissen des Eies nicht gegeben. Die Erscheinung würde ım Gegenteil noch rätselhafter, wenn man bedenkt, dass an der Stelle, an der sich jene Lücke entwickelt, der Haufen der im

Fig. 3. A Dorsal : vo 3" ent bip ER a aa rar 2 Pr 2 ARE, Por, Ta £ ent ERS N dr ; % a % # > % # E72 EN „E bl 3 # rt .-. ii ar ; & s ® y ! % 4 & 2 % % 4 % :) E z Le, ; 4 Ri} { & e . i % % 5 s # nern Ventral

Alteres Furchungsstadium. Querschnitt. N, F

. . . > “, Ss Bezeichnungen wie bei Fig. 1 u. 2. Sn we FF « TEEN = Pr= >” Innern verbliebenen Kerne dem Hinten Blastem mehr genähert ist als an Frontalschnitt. Älteres Furchungsstadium, den meisten anderen Stellen. bl, bp, fh, ent, wie oben. ent, Dotter- Die Untersuchung ergibt: kerne, die sich dem Blastoderm an- 1. An dem Verschlusse der schließen.

Öffnung sind zweifellos die an-

grenzenden Partien der äußeren Kernsphäre in hohem Maße be- teiligt. Dafür sprechen folgende Beobachtungen: Es treten in den Randpartien der Öffnung außerordentlich viele Mitosen auf, von denen der weitaus größte Teil tangential zur Eioberfläche orientiert ist. Die Plasmastränge, welche die in die Lücke einwandernden Kerne hinter sich herziehen, weisen in der Regel mit ihrem von der Lücke abgekehrten Ende nach den benachbarten Partien der äußeren Kernsphäre hin, selten nur nach dem Innern des Kies, was bei einer regen Beteiligung der inneren Furchungszellen die tegel sein müsste. Die Kerne, welche in das Blastem der Lücke einwandern, schließen sich in den weitaus meisten Fällen nahe an

Bee

Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. 127

diejenigen an, welche in der Umgebung schon im Blastem liegen, der Verschluss erfolgt unter beständigem Vorrücken vom Rande der Lücke her. Dagegen wird eine größere Ansammlung von Kernen der inneren Zone in nächster Nähe der Lücke, sowie eine Tendenz solcher Kerne, sich in größerer Zahl nach der Lücke hin in Bewegung zu setzen, während des Verschlusses vollkommen ver- misst. Man findet sogar häufig Kerne, die vom Rande der Lücke her ins Innere wandern. Solche Kerne werden vermutlich bei den vereinzelten radıär gestellten Mitosen gebildet, die neben den tangential gestellten am Rande beobachtet werden. Die Ein- wanderung dauert somit noch während des Verschlusses des mutmaßlichen Blastoporus fort. Damit hängt auch das Auftreten einer Ansammlung großer ruhender Kerne zusammen, die man später im Dotter dicht an der Stelle findet, an der sich die Öffnung im Blastoderm geschlossen hat.

2. Trotzdem halte ich es für wahrscheinlich, dass ein Anschluss von Kernen aus dem Innern des Dotters an das Zellmaterial, welches die Lücke verschließt, vereinzelt stattfindet. Denn es wandern hie und da Kerne aus den benachbarten Partien im Dotter gegen die Lücke hin. Ich bin geneigt, diesen Vorgang mit einer analogen Erscheinung in Zusammenhang zu bringen, die man an beliebigen anderen Stellen wahrnehmen kann. Es rücken nämlich auch von anderen Stellen aus vereinzelte Kerne aus dem Innern nachträglich zur Oberfläche empor (vgl. Fig. 4 ent,). Man findet dementsprechend nach vollendeter Blastodermbildung Zellen dicht unter dem Blastoderm gelagert, am häufigsten unter dem Embryonal- bezirk des Blastoderms. Sie halten bisweilen histologisch zwischen Blastoderm- und Dotterzellen die Mitte, und ich halte es für höchst wahrscheinlich, dass sie sich nachträglich dem Blastoderm vollends anschließen. Ihre Bedeutung soll unten erörtert werden.

Zuvor beschäftigt uns die Frage, ob wir in den Arbeiten über die Entwickelung von Insekten, deren Dotterzellen durch Zurück- bleiben von Kernen im Dotter gebildet werden, Fälle verzeichnet finden, die sich mit dem Ergebnis der vorstehenden Untersuchung in Einklang bringen lassen. Anknüpfungspunkte finden sich gleich bei einem Objekt aus derselben Ordnung (Pieris).

Bobretzky!) fand bei diesem Objekte auf dem Zweizellen- stadium die beiden Kerne weit auseinander gerückt, den einen dem vorderen, den anderen dem hinteren Pole des Eies genähert. Die gleiche Anordnung blieb auf dem Vierzellenstadium erhalten; es liegen hier zwei Kerne nahe dem Vorder-, zwei nahe dem Hinter- ende. Nach weiteren Teilungen wird die Trennung in zwei von- einander entfernte Gruppen aufgegeben; in dem Raume, der ur-

1) Z. wiss. Zool., Bd. 31, 1878.

128 Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren.

sprünglich beide trennte, treten Kerne auf; dafür entsteht ein Unterschied ın der Anordnung der Kerne, derselbe Unterschied, den ich bei Endromis beobachtet habe: Die nach hinten ’zu ge- legenen Kerne sind auf den Schnitten in einem Halbkreis ange- ordnet, die vorderen sind regellos verteilt. Es steht zu erwarten, dass auch hier, wie bei Endromis, die regellos gelagerten Kerne (Abkömmlinge des vorderen Kerns?) sich im Innern des Eies ver- teilen, die im Halbkreis eingestellten (Abkömmlinge des hinteren Kerns?) sie umwachsen und das Blastoderm liefern werden. Um- gekehrt lässt sich der Schluss ziehen, dass auch bei Endromis die Kerne der äußeren Sphäre (größtenteils später Blastodermkerne) von dem einen, die inneren Kerne (größtenteils später Dotterkerne) von dem anderen Kern auf dem Zweizellenstadium abstammen. Für beide Schlüsse sind die Untersuchungen Weismann’s!) an Rhodites rosae und Biorkixa aptera von entscheidender Be- deutung. Bei beiden Arten teilt sich der erste Furchungskern zu- nächst in zwei Kerne, von denen sich jeder einem der Eipole nähert. Der hintere Kern teilt sich weiter und von ihm stammen die sämtlichen Blastodermkerne ab. „Der vordere Polkern bleibt bei Rhodites während der ganzen Zeit der Keimkernbildung un- tätig, zieht sich aber während der Keimhautbildnng in den Binnenraum der Keimhaut mitten in den Dotter zurück und gibt dort... den sogen. Dotterzellen Ursprung. Bei Biorhixa verharıt der vordere Polkern auch einige Zeit in Untätigkeit, gibt dieselbe aber früher auf und geht Teilungen ein, ehe die Keimkerne an die Oberfläche treten und die Keimhaut konstituieren. Es bleibt des- halb zweifelhaft, ob auch hier der vordere Polkern nur diejenigen Keimkerne hervorbringt, aus denen die inneren Keimzellen ent- stehen.“ Es liegen hier augenscheinlich bei zwei Hymenopteren die gleichen Verhältnisse vor, wie bei den Lepidopteren, welche Bobretzky und ich untersuchten. Bei Rhodites ist infolge des lang dauernden Bestandes des Urdotterkerns die frühzeitige Differenzierung des Dotterzellenmaterials vom Blastoderm sowohl, wie die rein embolisch-epibolische Differenzierungsweise von An- fang bis zu Ende deutlich zu verfolgen. Es sind hier die Vorgänge, welche bei den Lepidopteren aus den Zuständen bei zwei Objekten kombiniert werden müssen, rein erhalten. Biorhixa nähert sich den Lepidopteren darin, dass hier diese Vorgänge infolge früh- zeitiger Teilung des vorderen Polkerns teilweise verschleiert sind.

Ich glaube auf solche Übereinstimmung hin, in zwei Insekten- ordnungen, denen man Bildung der Dotterzellen durch „Zurück- bleiben im Dotter“ zuschreibt, die Anschauung aussprechen zu

I) Weismann, A. Beiträge zur Kenntnis der ersten Entwickelungsvorgänge im Insektenei. Festschrift für J. Henle. Bonn 1882.

mr K

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 729

dürfen, dass man in der Differenzierung der Dotterzellen durch Embolie, bezw. Epibolie, einen unter den ptery- goten Insekten weit verbreiteten und ursprünglichen Vorgang erblicken muss. Freilich wird dieser Vorgang durch die mannigfaltige Einwirkung des Nahrungsdotters in vielen Fällen stark verändert, in manchen nicht mehr festzustellen sein. Solchen Resultaten gegenüber fällt ins Gewicht, dass die Trennung zwischen den beiden Zellelementen und die bipolare Anordnung des beider- seitigen Materials in anderen Fällen bis auf das Zweizellen- stadium zurückverfolgt werden kann.

Eine endgültige Entscheidung kann natürlich erst getroffen werden, wenn auch Fälle neu untersucht worden sind, für die diffuse Einwanderung der Dotterzellen angegeben wird.

Die Vorgänge, welche eben beschrieben wurden, wür- den bedeutend an allgemeinem Interesse gewinnen, wenn die Frage, ob die Dotterzellen als Entoblast aufgefasst werden dürfen, mit Bestimmtheit bejaht werden könnte. Wie schon einleitend angedeutet worden ist, besteht bei den Pterygoten mit Ausnahme des einzigen Falles der Aphiden die Besonderheit, dass erst längere Zeit nach dem Auftreten der Dotterzellen, nachdem sich im Blastoderm die Embryonalanlage gegenüber dem Serosabezirk differenziert hat, in der Embryonal- anlage eine Längsrinne (oder ein dieser Rinne äquivalenter histo- logisch differenzierter Längsstreifen) entsteht; von dieser Rinne aus wird in der mittleren Region des Embryo nur Mesoderm, an beiden Enden aber in den meisten Fällen auch Material zum Auf- bau des Mitteldarmepithels, „Entoderm“, gebildet!). Die Rinne wird demgemäß als „Blastoporus“ bezeichnet. Es tritt also hier lange nach der Bildung der Dotterzellen ein neuer „Blastoporus“ und ein neues „Entoderm“ auf. Für die Entscheidung der er- wähnten Frage kommt es darauf an, zu ermitteln, ob die Dotter- zellen und der Blastoporus, von dem aus die Dotterzellen in die Tiefe rücken, zu dem die beiden Entodermanlagen und das Mesoderm liefernden Zellmaterial und zu dem sekundären Blastoporus in Be- ziehung stehen. (Schluss folgt.)

Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. Von Dr. Max Wolff (Jena). (Schluss. Die bekannten, von Ramön y Cajal entdeckten Moosfasern, als deren Endgebiet Held eigentümliche Haufen einer granuliert

1) Wo Entoderm und Mesoderm auftreten, nimmt das Entoderm die Mitte, das Mesoderm die Seiten ein. Bei Calliphora differenziert sich das Mesoderm durch deutliche Divertikelbildung in der gemeinsamen „Entomesoderm“-masse. Escherich, „Über die Bildung der Keimblätter bei den Musciden.“ N. Acta Ac. Leop., Bd. 77, Halle 1900.

730 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

aussehenden Substanz erkannte (Glomeruli cerebellosi), sollten schon nach Lugaro’s Angaben an bestimmten Stellen der Körnerschicht mit Körneraxonen ın Verbindung treten. Diese bestimmten Stellen sind die von Held entdeckten, ein unregelmäßiges plumpes Balken- werk zwischen größeren Gruppen von Körnerzellen bildenden Glomeruli cerebellosi!). Es treffen sich an diesen Stellen

1. Dendriten der kleinen Körner,

2. Dendriten der großen Körner,

3. Axone der großen Körner (?),

4. die Moosfasern.

Wie das neue Verfahren Ramön y Cajal’s zeigt auch die Bielschowsky-Methode eigentümliche Auflockerungsstrecken an den Moosfasern, die den knotigen Anschwellungen im Golgi- Bilde entsprechen. Hier weichen die Fibrillen mehrmals hintereinander in mannigfachster Form auseinander, wahrscheinlich unter (und infolge davon!) Verlust einer verkittenden Substanz, dem Gymnaxo- stroma Bielschowsky’s, sicher aber ununterbrochen in eine peri- fibrilläre protoplasmatische Substanz eingebettet. Dieses Gymnaxo- stroma «geht der Moosfaser in ihren Endverzweigungen definitiv verloren und die klar hervortretenden Einzelfibrillen verlieren sich in einem, die netzmaschig aufgebaute Plasmamasse des Glome- rulus dreidimensional erfüllenden Geflecht feinster Fäserchen, ohne dass sich irgendwo auch nur eine Spur der von Ramön y Cajal dargestellten Endanschwellungen wahrnehmen ließe?).

Das Mark der Windungen. Anhangsweise sei bemerkt, dass wir im Öerebellum der Nager multipolare, manchmal auch spindelförmige Zellen mit rindenwärts bis in die Körnerschicht ziehendem Neuriten sahen. Bei den Säugern fanden wir ähnliche Elemente auf der Grenze von Mark und Körnerschicht. Ramön y Cajal und andere Autoren haben sie bereits in Golgi-Präpa- raten gesehen. An der Kuppe der Windungen und an den Bifur- kationsstellen der Markblätter fiel uns die überraschend große Zahl schräg verlaufender Fäserchen auf.

Was wir ın unserer Kleinhirnarbeit besonders zeigen wollten und unserer Überzeugung nach so beweisend dargetan haben, als das eben mit histologischen Arbeitsmethoden nur irgend möglich sein kann, ist, abgesehen von dem kontinuierlichen Zusammenhang der Neurone, die völlige Unbegründetheit des Nissl’schen nervösen Graus®) Wir konnten mit Hilfe der Bielschowsky-Methode in der Kleinhirnrinde einen Reichtum an nervösen Elementen nach- weisen, wie es bisher auch nicht annähernd einer anderen Methode

I) Bethe fand hier reichliche Golgi- Netzsubstanz.

2) Wegen des ohne Abbildungen schwer verständlichen Details verweise ich auf unsere Originalarbeit.

3) Vgl. auch meine Cnidarierarbeit in Zeitschr. f. allgem. Physiologie, III. Bd.

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 731

gelang. Damit glauben wir auch das Defizit, dasim Golgi, Methylen- blau und Weigert-Bild blieb das Niss| wesentlich veranlasste, ein besonderes, noch ganz unbekanntes Element nicht zellulärer Natur, das nervöse Grau, im Rindengrau anzunehmen und zum eigentlichen Substrat der nervösen Vorgänge zu erheben —, beglichen und die Haltlosigkeit der auch sonst meiner persönlichen Über- zeugung nach sehr unglücklichen Spekulationen Nissl’s dargetan zu haben. Im Rindengrau ist kein Platz für ein nervöses Grau, ebensowenig schon freilich, wie ich früher gelegentlich ausführte, in der Phylogenie der grauen Substanz.

III. Die Endfussfrage.

Über den Endigungsmodus der Axenzylinder an der Oberfläche fremder Nervenzellen (vgl. auch das oben über die von Biel- schowsky und mir gemeinschaftlich erhobenen Befunde im Klein- hirn Mitgeteilte) kann ich folgende Angaben machen. Ich habe besonders die obere und untere Olive, den Trapezkern und den Acusticuskern untersucht und zwar mit Hilfe der Bielschowsky- Methode. In allen wesentlichen Punkten kann ich eine erfreuliche Übereinstimmung meiner Befunde mit den Angaben Held’s kon- statieren. Wo wir differieren und es sich nicht um eine abweichende Deutung gewisser Befunde handelt, möchte ich die Differenz vor allem damit erklären, dass Held fast ausschließlich mit der Ra- mön y Cajal’schen Methode gearbeitet hat, ich mit der Biel- schowsky’s. Held’s Zeichnungen geben nur Stellen aus Ramön y Cajal-Präparaten wieder. Dabei muss ich jedoch bemerken, dass Held sich der Mängel der Methode Ramön y Cajal’s dureh. aus bewusst gewesen ist van sie soweit als möglich zu eliminieren und bei der Interpretation seiner Präparate entsprechend zu redu- zieren N hat. So erklären sich mancherlei Unterschiede des Bethe-Bildes vom Silberbilde Held’s. Ich werde hierauf zurück- kommen, nachdem ich zuvor meine eigenen Befunde kurz mitge- teilt habe.

Wie Held finde ich im Gegensatz zu Ramön y Cajal, van Gehuchten, Lenhössek und anderen, dass an der Basis der kugelförmigen, Eintrittsstelle des fremden Axenzylinders eine doppelte Verbindung besteht:

1. zwischen dem Axoplasma einer- und dem Plasma der inner- vierten Zelle andererseits,

2. zwischen den Axonfibrillen und den Neurofibrillen des Zell- körpers.

Das von Held zuerst richtig erkannte „Kriterium einer kon- tinuierlichen Befestigung des Nervenendfußes auf einer Ganglienzelle“ wird hier erfüllt: „Es erscheint ein und dieselbe feinste Plasma- masse als trennende Wand zweier Vakuolenreihen, von denen die

7132 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

eine dem Axenzylinder, die andere der Zellgrundsubstanz selbst anzugehören scheint.“ Wer einen Blick in ein gelungenes Biel- schowsky-Präparat oder auch nur in ein Ramön y Cajal- Präparat!) tut, staunt darüber, wie man diese Dinge, die mit Händen zu greifen sind, auch nur bei einiger Übung im mikro- skopischen Sehen übersehen konnte. Ramön y Oajal muss geradezu alle brauchbaren Stellen ın seinen Präparaten von vorn- herein als unbrauchbar von der Durchmusterung mit stärkeren Systemen ausgeschlossen haben (wie es van Gehuchten, wenn ich seine Abbildungen richtig verstehe, zweifellos getan hat). Dass ein Histologe, wie der spanische Forscher, so etwas nicht gesehen haben könnte, wenn er es zu einer Untersuchung mit ausreichenden optischen Mitteln hätte kommen lassen, halte ich für völlig ausge- schlossen. Und es hat etwas Tragikomisches, wie Ramön y Cajal uns Störenfriede aus dem Lager der Kontinuität mit den hoch- gemuten Worten abfertigt: „Diese Herren, welche zum Schaden der Wissenschaft mit ihren im Grunde genommen vielleicht recht löblichen, in ihren Resultaten aber kläglichen Neuerungsbestre- bungen an fest gefügten Wahrheiten rütteln, sollten unvorein- genommen an dem vorliegenden Objekt die freien Endigungen der Axonausläufer an der Zelloberfläche ansehen, en donde se sor- prende, sin caber la menor duda, el cabo mismo de las ultimas ramas nerviosas.“ Nun, wir denken das sogar mit noch mehr Un- voreingenommenheit als Ramön y Cajal selbst getan zu haben, allein, was wir sahen, war das freie Ende der Ramön y Ca- jal’schen Imprägnation, um die sich der Verlauf von Axoplasma und Fibrillen jedoch nicht im geringsten kümmert. Man darf ge- spannt sein, was Ramön y Cajal und seine Kontaktgefolgschaft sehen und beschreiben wird, wenn sie nun auch ihrerseits die an uns gerichtete Aufforderung erfüllen und ebenso unvoreingenommen, wie es von unserer Seite geschehen ist, das „Ende“ der Axone an der Zelloberfläche im Bielschowsky-Präparate studieren.

Mit Held differiere ich in einem, nicht ganz unwichtigen Punkte, der gleich hier hervorgehoben werden mag. Held gibt zwar zu, dass seine frühere Angabe, dass erst nach der Geburt eine Verwachsung von Axenzylinder- und Zellprotoplasma stattfinde, nicht mehr aufrecht erhalten werden könne. Seine auf die His’sche Neuroblastentheorie zurückgreifende Konkreszenzlehre gibt er je-

I) Obgleich Held selbst sagt: „Wie bei der Golgi’schen Chromsilbermethode schlägt also auch bei der Cajal’schen Silberfärbung jede vereinzelte Vollständigkeit des Bildes die überwiegend zahlreichen Stellen des Präparates mit ihren Unzuläng- lichkeiten. Aus ihnen eine neue und irgendwie sichere Stütze für die Neuronlehre gewinnen zu wollen, würde weit über die Grenzen der neuen Methode hinausführen“, so zeigen doch gerade seine Abbildungen, was sich alles trotzalledem im Ram6n y Cajal-Präparate sehen lässt.

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 133

Ü

doch auch jetzt noch nicht auf. Er meint: „Über eine zellulifugal vorschreitende Bildung der Fibrillennetze im Innern der Ganglien- zellen liegen bisher keine abschließenden Beobachtungen vor. Bis dahin’ wird also auch die weitere Frage unentschieden bleiben müssen, die sich infolge der vorliegenden Beobachtungen über die Bedeutung der Nervenendfüße für den Durchtritt von fädigen Zell- bildungen in neue Zellterritorien aufdrängt und die auf die His’sche Neuroblastentheorie zurückgreift, eine Frage, ob erst der Durchtritt vordringender Fibrillen den bis dahin im Wachstum vielleicht noch loser angefügten Endfuß eines Neuriten auf der betreffenden Gang- lienzelle fixiert, oder ob umgekehrt erst eine allgemeine Befesti- gung der gesamten Protoplasmamasse des Nervenendfußes eine Bedingung für das radıäre Austreten oder Eindringen von Fibrillen- anteilen von oder zu der Ganglienzelle abgibt.“ Ramön y Cajal meint darum, Held’s Theorie sei nur ein „nimia variante“ seiner eigenen Kontaktlehre. Das ist zweifellos unrichtig. Aber ich muss auch nach wie vor Held widersprechen, der nur noch nach der entwickelungsgeschichtlichen, physiologischen und pathologischen Seite hin die Neuronlehre gelten lässt, während sie nach seiner Ansicht mit ihrem Hauptsatz Unrecht habe, „wonach das Nerven- system aus morphologisch getrennten und nur funktionell im Nerven- kontakt vereinten Nervenzellen bestünde“. Ich behaupte auch jetzt noch, dass die Neurone allerdings morphologische Einheiten sind, hat doch Waldeyer selbst gelegentlich angedeutet, dass er keinen besonderen Wert auf den Kontakt legt. Und das ist nichts weniger als eine Inkonsequenz, Waldeyer hat damit einzig und allein den von den meisten Neuronisten verkannten Kern seiner Lehre herausgeschält. Damit fällt der Neuron- begriff nicht, nein er schreitet nun gerade weiter fort und hält Schritt mit den Wandlungen des Zellbegriffes selbst! Das ist der springende Punkt, wie man sich zu der Reform der Zellenlehre stellt! Der Grundgedanke der Neuronlehre ist nie ein anderer gewesen als der: Das Neuron ist eine zelluläre und eythogenetische Einheit. So sehe ich in den Braus’schen Resul- taten (s. u.) die Bestätigung meiner Auffassung (Held’s Konkreszenz- hypothese ist damit erledigt), denn, wie ich es vor kurzem formuliert habe: „Eine Kontaktlehre ist eine histologische Unmög- lichkeit innerhalb jedes Gewebes, das nicht etwa mesen- chymatischer Herkunft ist.“ Wer auf die energetischen Plasma- bezirke noch das Wort Zelle anwendet, hat kein Recht, die zelluläre Einheit des Neurons zu bezweifeln.

Wie Held sehe ich in meinen Präparaten, dass die Neuro- fibrillen der Axenzylinderendausbreitung kontinuierlich sich in die innervierte Zelle fortsetzen, wie er sehe ich die Plasmawabenreihen beider Seiten ohne Unterbrechung über die „funktionelle Grenze“

134 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

hinwegziehen, wie er nehme ich eine besondere (herabgesetzte) Tingierbarkeit eines oberflächlich gelegenen Wabensaumes (Grenz- schicht) wahr. Aber ich halte nicht alles, was Held als Fibrillen auffasst und abbildet für solche (vgl. oben), sondern meine, dass vielfach im Endfuß und auch anderswo eine stärkere Imprägnation der Wabenwände eintreten kann, die dann leicht nicht nur Netz- maschen von Fibrillen, sondern auch ganze Fibrillen vortäuscht. Ich bin daher überzeugt, dass die Fibrillen glatt durch den Endfuß hin- durchziehen und sich den intrazellulären Geflechten beimengen. Dass sie das Substrat der Reizleitung wären, glaube ich, wie schon oben hervorgehoben wurde, auch jetzt noch nicht, halte sie viel- mehr für spezifische, wahrscheinlich von der Nervenzelle selbst gebildete stützende Axen.

IV. Die Braus’schen Arbeiten und das Neuronproblem.

Von entscheidender Bedeutung für die morphologische Be- wertung der nervösen Elemente und die Kenntnis ihres Zusammen- hanges sind die experimentellen Untersuchungen von Braus. Sie entscheiden, was sich histologisch nur sehr wahrscheinlich machen ließ. So sind sie die glänzendste Bestätigung der Gegen- baur’schen Interzellularbrückentheorie und der innig damit ver- knüpften Kontinuitätslehre?).

Für uns kommen folgende, von Braus gemachte Befunde in Betracht.

1. Die junge Knospe einer vorderen Extremität (Bombinator- larve), die noch keinerlei irgendwie spezifisch differenzierte ner- vöse Strukturen erkennen lässt, wird exstirpiert und an Stelle einer hinteren Extremitätenknospe (die vorher entfernt wurde) einer anderen Larve (Autosit) implantiert, wo sie sich (Parasit) völlig normal entwickelt, ein normales Nervensystem erhält, das voll- kommen normal funktioniert und dem Tiere einen recht guten Ge- brauch der parasitären Gliedmasse ermöglicht.

2. Es ist durch eine von Harrison angegebene Operation möglich, aneurogene Larven zu erhalten, d. h. Larven, die die Fähigkeit verloren haben, Extremitätennerven zu bilden. Man er- hält solche Larven, indem man ihnen (in dem Stadium, wo eben der Schwanz auszuwachsen beginnt) die Rückenmarksanlage aus- schneidet (die normalen Larven und Extremitätenknospen bezeichnet Braus im Gegensatz dazu als euneurogen). Implantierte Braus nun eine aneurogene Knospe auf eine euneurogene Larve, so er-

1) Meine Arbeiten aus den Jahren 1902 und 1903 scheinen Braus unbekannt geblieben zu sein. Ich habe mich dort in demselben Sinne wie später Schaeppi und Kerr geäußert und auch später stets die Notwendigkeit der Annahme eines primären Zusammenhanges betont.

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 135

hielten nur die normalen autochthonen Extremitätenanlagen des Autositen im Laufe der Entwickelung ihre Nerven, der aneurogene Parasit dagegen nicht.

3. In der parasitären euneurogenen Extremität sind die Nerven in einem mittleren Stadium der Entwickelung viel kräftiger ent- wickelt als die innerhalb des autositären Gewebes liegenden, sie mit dem autositären Zentralorgan verbindenden Nervenfäden.

Durch die beiden ersten Befunde wird die Möglich- keit, dass die Nerven des Autositen in den Parasiten hineingewachsen sein könnten, ausgeschlossen und so per exclusionem bewiesen, dass sie im Parasiten selbst, dass sie nur autochthon entstanden sein können. Der dritte Versuch beweist positiv, dass sie autochthon ent- standen sein müssen'!). Damit ist die His’sche Neuro- blastentheorie definitiv gestürzt! Die peripheren Nerven wachsen nicht vom Zentrum aus zur Peripherie, sie entstehen vielmehr an Ort und Stelle.

Braus hat nun weiter die Frage untersucht: Wie kommt die Verbindung dieses autochthonen peripheren Nerven- systems des Parasiten mit dem zentralen des Autositen zustande? Findet sie an der Verwachsungsstelle selbst statt, oder wachsen die autochthonen Nervenfasern vom Parasiten in den Autositen und verbinden sich dort mit den zentralen Elementen? Braus fand folgendes:

1. Sehr häufig entwickelt sich infolge unbekannter regulatori- scher Vorgänge neben der an beliebiger Stelle implantierten Ex- tremität noch eine zweite überzählige, „akzessorische“ Extremität, die das Spiegelbild der ersteren und vom gleichen Typus (vordere, resp. hintere Extremität) ist. Es handelt sich also um eine durch den operativen Eingriff veranlaßte Doppelbildung. Sie unter- scheidet sich nun, wie Braus entdeckte, von den natürlichen und von den künstlichen auf dem Wege der Hyperregeneration entstandenen Doppelbildungen dadurch, dass alle Organ- systemetypisch entwickeltsind, bis auf das Nervensystem, das vollständig fehlt?). Also ein in loco verbleibendes Bla-

1) Dass sie nicht, wie die Anhänger der Zellketten- oder Metaneurontheorie wollen, von eingewanderten Schwann’schen Zellen gebildet sein können, ist neuer- dings von Harrison schlagend nachgewiesen worden. Die peripheren Nerven ent- wickeln sich auch dann, wenn man die Anlage der Sch wann’schen Zellen extirpiert. Harrison’s und auch Kerr’s Befunden nach möchte ich noch mehr, als Braus dies tut, den Schwann’schen Zellen jede eigentliche, vor allem jede spezifisch neuro-nutritorische Bedeutung absprechen.

2) Braus bemerkt mit Recht, dass dieser Befund gleichzeitig gegen die Richtigkeit der Neuroblastentheorie ebenso wie der Zellkettentheorie spricht. Warum „wachsen“ die Nerven bloß in die inokulierte Knospe „ein“, warum entwickeln sich nur hier die „neurogenen Zellketten“?

736 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

stem zwar vermag einer aus irgend welchen Gründen, gleichviel ob spontan, oder infolge operativen Eingriffs, sich entwickelnden Adnexbildung die Fähigkeit der Nervenproduktion mit- zuteilen; ist ein Blastem dagegen vorher verpflanzt wor- den, so vermag es danach entstehenden Adnexbildungen diese Fähigkeit nicht mehr zu erteilen. Braus schließt hieraus mit Recht, dass speziell in der Nähe des natürlichen Ent- stehungsortes ein Etwas existieren muss, welches bei unausgesetzter Einwirkung imstande ist, die Potenz der Nervenerzeugung auch den von normalen Blastemen sich abspaltenden Zusatzbildungen zu vermitteln. Die Interzellularbrückentheorie würde eine solche Ein- wirkung verständlich machen. Denn wenn sich die Nerven aus den primären Plasmaverbindungen zwischen Ganglien- und Muskel- zelle entwickelten, so könnte man sich sehr gut vorstellen, dass einer Verdoppelung an der Peripherie eine entsprechende Verdoppelung im Zentrum korrespondieren könnte. Die neuro- muskuläre Einheit (wohlverstanden nicht im Kleinenberg’schen, sondern in dem in meiner Önidarierneuronarbeit präzisierten Sinne!) würde gewahrt werden, indem Abspaltungen am effektori- schen Pol kompensiert würden durch Abspaltungen im nervösen Pol. Wird aber die neuromuskuläre Einheit in der anderen Richtung gespalten, so dass der effektorische Pol vom zugehörigen nervösen Pol abgetrennt wird (das findet durch die Inokulation in ein fremdes Gebiet statt), so fehlt diese Korrelationsmög- lichkeit. Es fehlt die Verbindung mit einem verwandten zen- tralen Resonator. Die primäre Brücke, die das abspaltende mus- kuläre Element des Inokulats mit dem abgespaltenen des Appendix verbindet, muss eine indifferente Plasmabrücke bleiben, weil die nervöse Kraftzentrale, die nicht mehr ab inıtio von den die Ver- doppelungsregulation vorbereitenden Prozessen an der Peripherie integriert worden —, die „aus einer ganz anderen Sphäre ist“, keinen Anlass hat, ihre Anlagen entsprechend zu erweitern.

2. Dass dem so ist, d. h. dass die Vorbedingung für die autochthone Nervenentwickelung an der Peripherie im Bestehen einer Verbindung des betreffenden peripheren Gewebes zu Anfang seiner Entwickelung mit primär zuge- hörigen Nervenzellen liegt, findet Braus durch folgenden Ver- such bestätigt. Aneurogene Larven bleiben auch dann völlig aneurogen,wennsieanStelledesreseziertenRückenmarkes ein neues regeneriert haben. Hier läge also das umgekehrte vor, wie bei den aneurogenen Appendixbildungen. Dort war der Appendix dem Zentralgewebe, hier ist das Zentralgewebe dem ganzen Tierkörper fremd. Wenn also in diesem Falle, wo keine periphere Partie irgendwie verletzt worden war, doch Jede Nervenbildung unterblieb, so musste das neurogene

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 7137

Agens mit dem resezierten Rückenmarke entfernt worden sein. Das von Braus hieraus abgeleitete Gesetz lautet: „Blasteme, welche niemals in normaler Verbindung mit den ihnen zuge- hörigen Teilen des Zentralnervensystems gestanden haben, sind bei Bombinatorlarven nicht imstande, Nerven antogen zu produzieren.“ Aus den gesamten Versuchen ergibt sich, dass schon, „ehe Nerven sichtbar differenziert sind, Verbindungen zwi- schen spezifischen Teilen des Zentralnervensystems und dem Blastem der zugehörigen Gliedmasse vorhanden sein müssen und dass von deren Vorhandensein die spätere Entfaltung eines typischen Nervensystems abhängig ist.“

Dagegen glaube ich nicht, wie es Braus im Anschluss an

‚die Gebrüder Hertwig tut, an die Möglichkeit, dass hier sehr

frühe sekundäre Plasmaverbindungen in Betracht kommen könnten. Meine Gründe dafür habe ich in meiner Cnidarierarbeit dargelegt. Und tatsächlich sind auch Plasmaverbindungen von Hamar und anderen „bis zu den postulierten inkompletten Teilungen des Neuronmuskelsystems“ verfolgt worden. Ferner lässt sich die Hertwig’sche Theorie vergleichend histologisch, also phylogenetisch, nicht stützen. Es fehlt aber auch ein Versuch, das primäre Fehlen von Protoplasmaverbindungen histologisch oder experimentell zu beweisen. Endlich würde eine solche Annahme mit der Sachs’schen Energidentheorie schwer vereinbar sein, an deren Richtigkeit zu zweifeln wir andererseits nicht den geringsten Anlass haben, wie schon oben hervorgehoben wurde.

Braus gibt übrigens selbst zu, dass sich der scheinbare Wider- spruch!) zwischen seinen euneurogenen Transplantationen und den Harrison’schen Defektversuchen (Erzielung aneurogener Larven) auch ohne Zuhilfenahme der Hertwig’schen Hypothese erklären lässt, indem man von der Hypothese (meiner Meinung nach ist es keine bloße Hypothese mehr) des primären Zusammenhanges ausgeht und eine spezifisch neurogene Komponente annimmt, die

1) Der scheinbare Widerspruch liegt, wie dem Leser nach dem Gesagten ohne weiteres klar sein wird, in folgendem: Die Larven, an denen der Harrison’sche aneurogene operative Eingriff mit Erfolg vorgenommen wird, lassen keine spezifischen peripheren nervösen Differenzierungen erkennen. Das ist aber genau so wenig bei den von Braus euneurogen verpflanzten Knospen der Fall, die ja wie die Peripherie jener Harrison’schen Larven nur vorübergehend mit dem zugehörigen Zentralorgan in Verbindung gestanden haben. Ein, wie ich freilich auch meine, sehr wesentlicher Unterschied besteht darin, dass die Harrison’schen Larven außerordentlich jung, ihre primären Plasmaverbindungen also noch auf der primitivsten Stufe neurogen „infiltrierter‘“‘ Differenzierung, die von Braus verwendeten und zu diesem Zwecke einzig verwendbaren (die Extremitätenknospen müssen eben schon deutlich sichtbar sein) dagegen ganz beträchtlich älter, ihre Plasmaverbindungen also schon auf einer sehr hohen Stufe neuroider Differenzierung (wenngleich mit unseren optischen Mitteln nicht von der niederen Stufe unterscheidbar) angelangt sind.

XXV. 47

738 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

genügend auf die indifferenten Plasmabrücken eingewirkt haben muss, wenn sie auch noch nach der Trennung von den an ihrer Bildung beteiligten zentralen Zellen imstande sein sollen, selbst- ständig periphere spezifisch nervöse Substrate zu differenzieren. Da- gegen muss ich, solange mir nicht die Notwendigkeit einer derartigen Annahme zwingend nachgewiesen wird, mich entschieden ablehnend gegen die Auffassung von Braus verhalten, der als Deus ex ma- china die Schwann’schen Zellen zitiert, die schon immer Ver- wirrung angerichtet haben. Dass sie im Harrison’schen Ex- periment durch den operativen Eingriff mit entfernt, bei den Braus’schen euneurogenen Transplantationen dagegen schon ins Knospenblastem eingewandert sind, ‘beweist nicht, dass sie „die primären Plasmabrücken schützen, ernähren oder sogar direkt die Entstehung von Fibrillen in denselben anregen“. Denn diese An- nahme hat Harrison selbst neuerdings widerlegt. Larven, die nach Entfernung der Schwann’schen Zellenanlage (nicht auch des Rückenmarkes!) aufgezogen wurden, entwickelten in der Peripherie nackte Axenzylinder! Darum gibt Braus auch zu, dass bei der Nerventwickelung „die Rolle der Schwann’schen Zellen keine absolut notwendige sein kann“. Warum also die hiernach wirklich überflüssige Annahme machen, dass gerade in ihnen das „sekun- däre“, die Nervenbildung mit bedingende Moment zu suchen sei? Braus muss, obwohl er es selbst hervorhebt, völlig bei seiner Deduktion vergessen haben, dass die beiden Harrison’schen Ex- perimente sich

1. untereinander dadurch unterscheiden, dass die aneurogene Larve zugleich mit der Anlage der Schwann’schen Zellen der gesamten Anlage des Rückenmarkes beraubt worden war, während in der euneurogenen Larve (mit nackten motorischen Axenzylindern) das gesamte motorische zentrale Gewebe sowie seine Verbindung mit der Peripherie intakt geblieben sind, und

2. sich beide von den Braus’schen euneurogenen Ex- perimenten hierin liegt der springende Punkt, den Braus übersehen zu haben scheint, durch das beträchtlich jüngere Alter der in Betracht kommenden Blasteme unterscheiden.

Dieser meiner Meinung nach ausschlaggebende Unterschied wird, es sei nochmals hervorgehoben, auch durch das neue Harri- son’sche Experiment nicht ausgeglichen! Um es noch einmal klar zu präzisieren:

1. Es entstehen aneurogene Blasteme, wenn in sehr jungen Stadien das Zentralnervensystem reseziert wird.

2. Es entstehen euneurogene Blasteme, wenn nur die Schwann- schen Zellen, oder aber erst in älteren Stadien der Entwickelung das zentrale nervöse Gewebe reseziert, resp. die Verbindung damit unterbrochen wird.

Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons. 7139

Resultat: Die periphere Nenurogenie ist von der Ein- wirkungsdauer im Zentrum (nervosum) lokalisierter Fak- toren abhängig.

Wie Braus zu einem anderen Resultate auf Grund des ihm vorliegenden Materiales hat kommen können, ist mir völlig unver- ständlich. Um so mehr, als ihm eine mit dem von mir daraus abgeleiteten Resultate sich deckende Erklärung bekannt gewesen sein muss. Ich meine folgende Worte Gegenbaur’s, deren Gültig- keit ich mich schon in meiner Unidarierneuronarbeit hervorzuheben und nachzuweisen bemüht habe. Ich bin überzeugt, dass Gegen- baur, lange bevor uns Braus und Harrison den exakten Beweis erbracht haben, in seiner unerreicht knappen Ausdrucksweise das Wesentliche mit aller Deutlichkeit gesagt hat: „Das Empfindungs- vermögen des indifferenten Protoplasmas bildet den Aus- gangspunkt jener Sonderungen, die bei den Protozoen noch indifferent ist, indem alles Protoplasma des Kör- pers ın jeder Hinsicht sich gleich verhält. Bei den Meta- zoen sind Formelemente der Sitz der Empfindung. Aus einem Teil derselben gehen unter einer anzunehmenden Potenzierung jener Funktion Nervenzellen hervor, deren der Interzellularstruktur entstammenden Fortsätze zu Nervenfibrillen oder, summiert, zu Nervenfasern sich ausbilden.“

Potenzierung der Funktion innerhalb präformierter Verbin- dungen als das Prinzip der Neurogenie! Den Schlüssel für unser eigentliches Problem gibt aber, wie ich in meiner erwähnten Ar- beit und in den späteren hervorgehoben habe, die Sachs’sche Energidentheorie, die den veralteten Schwann-Schleiden’schen Zellbegriff stürzt und jetzt ın der Tat gestürzt hat. Die Diffe- renzierung, hier also die Erteilung neurogener Eigenschaften geht vom energetischen Zentrum, also von nervösen chromidialen Zentrali- sationen, wie sie in den Nerven-„Zellen“ des Zentralorgans gegeben sind, aus. So wird erklärt, wie die ursprünglich mehr oder weniger noch auf der Stufe „des indifferenten Protoplasmas“ stehende neurogene „Interzellularstruktur“ schließlich mit einem gewissen Alter, d. h. wenn sie lange genug in jenem Sinne von dem ıhr zugehörigen energetischen Zentrum beeinflusst worden ist, einen so hohen Grad spezifisch nervöser, „neurogener“ Potenzierung er- reicht, dass von ihr auch dann, wenn der normale Konnex mit dem energetischen Zentrum experimentell unterbrochen wird, selb- ständig eine, was Funktionsfähigkeit anlangt, durchaus vollkommene nervöse Differenzierung ausgebildet werden kann. Wird der Konnex mit dem zugehörigen energetischen Zentrum natürlich zu früh ge- löst, zu einer Zeit, wo das Plasma der Verbindungsbrücken fast noch indifferent, sagen wir „noch neurogen-unreil“ ist, so bleibt

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740 Wolff, Neue Beiträge zur Kenntnis des Neurons.

der, gleichsam in jugendlichem Alter kastrierte Organismus auf einem infantilen Stadium der Entwickelung stehen, eben dem des nicht Spezifisch-Nervösen, dem „indifferenten“ Stadium, das in toto den Symptomenkomplex der „Aneurogenie* darstellt!).

Dass, wie ich oben zeigte, die Theorien von Gegenbaur und Sachs mit der Neuronlehre vereinbar sind, glaube ich hier nicht wiederholen zu müssen. Das Gleiche gilt natürlich auch von der Beurteilung der Braus’schen Befunde in ihren Beziehungen zur Neuronlehre.

Schlusszusammenfassung.

Nach allem komme ich zu dem Ergebnis, .

1. dass das Nervensystem der Tiere aus spezifischen gewebsbildenden Einheiten, Energiden, den Neuronen besteht, :

2. dass kein spezifisch nervöses Element (Niss!’s Grau) anderer Art nachweisbar ist,

3. dass die Neurone per continuitatem miteinander und den Elementen der peripheren Innervation zusammen- hängen,

4. dass der kontinuierliche Zusammenhang der Neu- rone untereinander und mit den Elementen der peri- pheren Innervation außer durch grobe Anastomosen, durch die Held’schen perizellulären Terminalnetze ver- mittelt wird, dass die Ramön y Oajal’sche Kontakttheorie also in doppelter Hinsicht falsch ist,

5. dass sowohl eine Kontinuität des Neuroplasmas wie der Neurofibrillen besteht,

6. dass es sehr wahrscheinlich nirgends echte Neuro- fibrillennetze, sondern nur Geflechte gibt, also keine Teilungen von Fibrillen, sondern nur ein mannigfaltige Bilder gebendes Auseinanderweichen von mehr oder weniger zahlreich und dicht zu Fibrillen geordneten Bündeln,

7. dass nichts für die Reizleitung der Fibrillen spricht,

8. dass die Zusammenhänge der Neurone unter- einander und mit den Elementen der peripheren Inner- vation primäre und auf dem Boden der Interzellular- strukturen Gegenbaur’s entstanden sind, die His’sche Theorie also falsch ist,

1) Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die „Potenzierung“ in zelluli- fugaler Richtung fortschreitet. Wenn die Golgi-Methode auf so feine funktionelle Differenzen reagieren sollte, würde dies das Zustandekommen der Bilder erklären, die His und anderen ein Auswachsen der Nerven nach der Peripherie zu vorge- täuscht haben,

PR.

Rosenthal, Physiologie und Psychologie. 741 9. dass sich experimentell zeigen lässt, dass die spe- zifisch-nervöse Einheit mit der Zeit und unter gewissen Umständen insofern aufhört eine Einheit zu sein, als es dann nicht mehr des dauernden Zusammenwirkens ihrer Komponenten bedarf, um die nervöse Differenzierung der einzelnen Teile verschiedener /(d. i. peripherer) topo- graphischer Zugehörigkeit zu vollenden, dass also Teile der Neuroneinheit schließlich eine Art von (experi- mentell-artefizieller) Selbständigkeit erlangen können.

Literatur.

Die einschlägige Literatur findet sich zitiert in: -

3ielschowsky, M., Die histologische Seite der Neuronlehre. Journ. f. Psychol. u. Neurologie, Bd V, 1905.

Bielschowsky, M. und Wolff, M., Zur Histologie der Kleinhirnrinde. Journ. f. Psychol. u. Neurologie, Bd. IV, 1905.

Braus, H., Experimentelle Beiträge zur Frage nach der Entwickelung peripherer Nerven. Anat. Anz. Bd. XXVI, 1905.

Held, H., Zur Kenntnis einer neurofibrillären Kontinuität im Zentralnervensystem der Wirbeltiere. Arch. f. Anat. u. Physiol., Anat. Abt. 1905.

Wolff, M., Zur Kenntnis der Held’schen Nervenendfüße. Journ. f. Psychol. u. Neurologie, Bd. IV, 1905.

Physiologie und Psychologie. Von J. Rosenthal. (Schluss.)

Wenden wir uns jetzt zu den Erscheinungen des Sehens beim Menschen. Wir haben nicht nur die Empfindung von Licht und Nichtlicht, wir können auch Unterschiede der Helligkeit, und quali- tative Unterschiede, die Farben, empfinden. Wir erkennen ferner die Richtung, in welcher das Licht in unser Auge eindringt und vermögen das vermeintlich oder wirklich gesehene Objekt zu lokalı- sieren; wir unterscheiden, wenigstens beim zentralen Sehen, feine Einzelnheiten in der Beschaffenheit der Objekte u. s. w. Alle diese Erscheinungen können nur sehr unvollkommen mit den Hilfs- mitteln der gewöhnlichen physiologischen Untersuchung erforscht werden. Im Hintergrunde steht doch immer etwas Besonderes, ohne welches es gar keine Physiologie der Sinne geben würde, die Tatsache, dass wir empfinden, dass wir uns dessen bewusst werden, dass wir uns auf Grund dieser Empfindungen Vorstellungen über die Außenwelt machen, dass wir, wie es heißt, die Außenwelt wahrnehmen. Herr Nuel weiß alles das natürlich ebensogut wıe ich. Aber für ıhn sind das keine physiologischen Phänomene, son-

749 Rosenthal, Physiologie und Psychologie.

dern „Epiphänomene“, welche die physiologischen Phänomene begleiten, neben ihnen hergehen. Aber Phänomen oder Epi- phänomen, diese Tatsachen existieren; sie gehören zu den Lebens- erscheinungen. Wenn es Aufgabe der Physiologie ist, die Erschei- nungen, welche an lebenden Wesen beobachtet werden, festzustellen und ihren Zusammenhang mit anderen Erscheinungen zu erforschen, so kann, meiner Meinung nach, die Physiologie an diesen Erscheinungen nicht vorübergehen, nur aus dem Grunde, weil zu ihrer Feststellung etwas andere Methoden angewendet wer- den als zur Beobachtung der Erscheinungen des Kreislaufs, der Verdauung oder sonstiger Lebenstätigkeiten.

Herr Nuel sieht den Unterschied zwischen den beiden Arten von Erscheinungen darin, dass wir von der einen Gruppe durch unsere „äußeren Sinne“ Kenntnis erhalten, von der anderen aber nur durch unseren inneren Sinn. Nun, ich glaube, dass wir überhaupt gar nichts ohne Mitwirkung unseres „inneren Sinnes“ erkennen. Wenn wir beim Aufgang der Sonne kein Bewusstsein von der Empfindung der plötzlich gesteigerten Helligkeit hätten, so würden die Erregung der Netzhaut und alle die im Sinne des Herrn Nuel physiologischen Folgen derselben, Erregung des Seh- nerven, Leitung der Erregung zum Gehirn u. s. w. uns niemals auf den Gedanken bringen, dass es einen außerhalb unseres Ich existieren- den Weltkörper gebe, von welchem jene physiologischen Wirkungen herrühren. ‘Dann gäbe es keine Astronomie. Das Gleiche gilt für alle Naturwissenschaften überhaupt. Aber, so sagt Herr Nuel weiter, jene Vorgänge, die Erregung, Leitung, die Vorgänge in den Hirnzellen sind materielle Vorgänge; sie folgen dem Gesetz von der Erhaltung der Energie. Bei den psychischen Vorgängen trifft dies nicht zu. Die Vor- gänge der ersten Art haben wir physiologisch schon erforscht oder können doch hoffen, ihrer Erforschung näher zu kommen. Bei den Vorgängen der zweiten Art versagen unsere physiologischen Me- thoden vollkommen, darum gehören sie nicht in das Gebiet der Physiologie.

In diesen Bemerkungen unseres Autors, welche für den von ihm eingenommenen Standpunkt grundlegend sind, werden so viele für die Erkenntnistheorie und die Lehre von den Forschungs- methoden wichtige Probleme berührt, dass ich nicht an ihnen vorübergehen kann, ohne einige Bemerkungen an sie anzuknüpfen. Dass die Vorgänge in den Nervenfasern und Nervenzellen ma- terieller Art sind, nehme ich natürlich auch an; ebenso dass sie dem Gesetz von der Erhaltung der Energie entsprechend verlaufen. D.h. ich nehme es an, weil ich keinen plausiblen Grund für die gegenteilige Annahme habe. Aber Beweise für diese Annahme kann ich nicht anführen. Meines Wissens hat noch niemand die Energien jener Vorgänge messend verfolgt. Die energetischen

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Rosenthal, Physiologie und Psychologie. 745

Vorgänge in den Nervenfasern und Nervenzellen sind so schwach, dass sie mit den uns zu Gebote stehenden Hilfsmitteln bisher noch nicht gemessen werden konnten. Der einzige uns einigermaßen bekannte materielle Vorgang, die elektrische Schwankung, welche die Erregung der Nervenfasern begleitet, kann zwar gemessen, d. h. in irgend einer Maßeinheit ausgedrückt werden. Eine syste- matische Untersuchung darüber, ob die dabei zutage tretende Energie zu der Energie des Reizes in einer messbaren Be- ziehung steht, haben die Physiologen jedoch, bisher wenigstens, aus leicht begreiflichen Gründen noch nicht unternommen. Und was aus der Energie der Erregung wird, wenn sie aus der Nervenfaser in eine Nervenzelle übertritt, das weiß bis jetzt noch niemand zu sagen. Das alles hindert uns natürlich nicht daran, dennoch die Gültigkeit des Energiegesetzes bei allen diesen Vor- gängen anzunehmen, weil wir keinen hinlänglichen Grund für die entgegengesetzte Annahme haben. Wo scheinbare Ausnahmen vom Energiegesetz auftreten, helfen wir uns mit der Annahme von „Auslösungen latenter Energie“, welche Annahme in manchen Fällen, z. B. bei der Muskelkontraktion, ziemlich offenkundig ist, in anderen Fällen wenigstens viel Wahrscheinlichkeit hat!). Dass aber das Energiegesetz für die Bewusstseinsvorgänge gar keine Gel- tung habe, ist offenbar eine Behauptung ohne alle Grundlage. Jene Vorgänge treten, soviel wir wissen, immer nur gleichzeitig mit materiellen Vorgängen in Nervenzellen auf. Letztere sollen, nach unserer Annahme, energetische Vorgänge sein, aber ihre Energie- tönung ist so gering, dass sie sich jeder Messung entzieht. Von der Energietönung der psychischen Erscheinungen dagegen können wir überhaupt keine Aussagen machen. Wenn jemand die Be- hauptung aufstellte, die Energie des Nervenfaservorgangs teile sich bei dem Übertritt in die Nervenzelle in zwei Teile: der eine gehe weiter auf neue Neuronen über und stelle die Energie der Leitung in diesen dar, welche schließlich zur Erzeugung des Reflexes diene, der andere Teil dagegen stelle die Energie des „psychischen Vorgangs“ dar, so wüsste ich darauf nichts zu erwidern, als dass er versuchen solle, diese seine Annahme durch messende Versuche zu begründen. Solange solche messende Versuche nicht vorliegen und auch nach dem jetzigen Stande unserer Technik nicht ausführbar sind, tut man besser, keine Aussage darüber zu machen. Mit anderen Worten, die Behauptung, dass die „psychischen“ Vorgänge nicht dem Energiegesetz folgen, ist ebensogut eine unbewiesene und vorerst unbeweisbare Hypothese, wie die gegenteilige Aussage für die Vorgänge in den Nervenfasern und Nervenzellen. Mit solchen

1) Vgl. hierzu meine Allgemeine Physiologie S. 490 ft.

744 Rosenthal, Physiologie und Psychologie.

unbewiesenen und unbeweisbaren Sätzen kann aber kein Fortschritt der Erkenntnis herbeigeführt werden.

Was die Forschungsmethoden anlangt, so soll sich, meiner Meinung nach, kein Forscher und am wenigsten der Physiologe auf eine bestimmte Art einschwören. Seine einzige Richtschnur soll sein, dass er seine Behauptungen nur auf gut beobachtete und genügend begründete Tatsachen stütze. Mit welchen Hilfsmitteln die Beobachtungen angestellt werden, kann nur von der Natur der Vorgänge abhängen, welche er zu beobachten hat. Wie er sich bei dem Studium der Verdauung chemischer, beim Studium der Blut- bewegung physikalischer Hilfsmittel bedient, so muss er beim Studium der Empfindungen sich der Selbstbeobachtung, der Intro- spektion oder, wenn man lieber so sagen will, des inneren Sinnes, bedienen. Bei richtiger Verwendung dieses Hilfsmittels wird er damit ebensogut Tatsachen feststellen wie mit anderen Hilfsmitteln in anderen Gebieten. Warum der Physiologe dieses Gebiet der Lebenserscheinungen durchaus von seinen Untersuchungen aus- schließen soll, kann ich um so weniger einsehen, als es sich bei der Untersuchung der Sinneserscheinungen mit zwingender Gewalt aufdrängt und niemals vollkommen ausgeschlossen werden kann.

Mit seinen Ansichten über die Nichtgültigkeit des Energie- gesetzes für die „psychischen“ Erscheinungen hängt auch zusammen, was Herr Nuel über das „Kausalitätsverhältnis“ zwischen den physio- logischen Vorgängen in den nervösen Gebilden und den psychischen Vorgängen vorbringt. Ich sehe davon ab, dass nach meiner Auf- fassung die Kausalitätsbeziehung überhaupt aus der naturwissen- schaftlichen Diskussion ausgeschlossen werden sollte, da ihr stets eine anthropomorphistische Vorstellung zugrunde liegt, die Übertragung eines Bewusstseinszustands, den wir vermöge unseres „inneren Sinnes“ kennen, auf Vorgänge, von denen wir keinen genügenden Grund haben anzunehmen, dass bei ihnen ähnliche Beziehungen bestehen!). Ich will vielmehr den Begriff der Kausalıtät einfach in dem Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs verwenden, d. h. im Sinne eines inneren, notwendigen Zusammenhangs, dem entsprechend der Vor- gang A stets von dem Vorgang B gefolgt ist (vorausgesetzt, dass nicht andere Umstände den Eintritt von B verhindern). In diesem Sinne besteht zwischen der Sinnesreizung durch ein äußeres Agens und der darauf folgenden Empfindung oder Vorstellung genau ebenso Kausalitätsbeziehung wie etwa zwischen dem Durch- schneiden eines Fadens und dem Fallen eines an diesem Faden aufgehängten Gewichts. Dass zwischen diesen beiden Arten von Vorgängen nicht ein durchgreifender Unterschied behauptet werden

1) Vgl. meine Allgemeine Physiologie S. 30ff. sowie meinen Aufsatz in der Deutschen Rundschau 64, 237 ff.

Rosenthal, Physiologie und Psychologie. 145

kann, dahingehend, dass in dem einen das Energiegesetz gilt, im anderen nicht, habe ich schon gezeigt).

Ganz das gleiche gilt auch vom „Willen“. Psychologen und Physiologen, welche sich etwas darauf zugute tun, auf dem Boden modernster naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu stehen, betonen mit Nachdruck, dass der „Wille“ als solcher überhaupt keiner - mechanischen oder sonstigen Leistung fähig sei. Wenn ich meinen Finger bewege, so hat eine durch die motorischen Nerven den Muskeln zugeleitete Erregung die Muskelkontraktion ausgelöst. Jene Erregung ist irgendwo in Nervenzellen der Großhirnrinde entstanden. Sie war jedoch von einem Bewusstseinsakt be- gleitet, welcher in mir die Vorstellung erweckt, dass kein äußerer Reiz, sondern eben jener innere Vorgang, den wir Willen nennen, den Anlass zur Erregung gegeben habe. Das kann eine Täuschung sein. Ich werde mich mit niemandem in eine Diskussion ein- lassen, der behauptet, es gebe gar keine willkürlichen Bewegungen im obigen Sinne; es handle sich immer um eine Art von Re- flexen, nur sei die Empfindung der äußeren Reize, welche die Reflexe veranlasst haben, nicht zum Bewusstsein gelangt. Ich halte es für überflüssig, über Fragen, welche unzweifelhaft zu entscheiden ich gar keine Methoden’ kenne, zu diskutieren. Wenn also der „Wille“ nichts ist als ein Akt des Bewusstseins, eine Art von Empfindung, dann gilt von ihm ebenso wie von den übrigen Empfindungen, dass wir über ihre Energetik nichts auszusagen imstande sind, dass wir deshalb auch nicht behaupten können, diese Vorgänge spielten sich nicht nach dem Energiegesetz ab. Trotzdem ist die Tatsache, dass es solche willkürliche Handlungen gibt, vorhanden. Der Physiologe kann diese Tatsache nicht igno- rieren. Er darf sich auch nicht darauf beschränken zu erörtern, von welchen Stellen der Hirnrinde aus die ersteren (soweit die bekannten Tatsachen das erschließen lassen) angeregt werden können, sondern er wird auch etwas über den Unterschied zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen sagen müssen, ob- gleich er von den ersteren nur auf psychologischem Wege etwas er- fahren kann?).

1) Ich muss noch hinzufügen, dass man kein Recht hat, sich auf E. du Bois- Reymond zu beziehen, um einen Unterschied zwischen beiden Arten von Vor- gängen zu behaupten, an den er jedenfalls nicht gedacht hat. Das Problem, welches du Bois aufwirft, ist ein erkenntnistheoretisches. Er hält es für unmöglich, auf dem Wege des mechanischen Kalkuls, der nur Bewegungen von Molekeln voraus- setzt, zum Verständnis psychischer Vorgänge zu gelangen. Die Frage, ob jene Vor- gänge, soweit sie von dem von ihm supponierten „Laplace’schen Geist“ mechanisch behandelt werden könnten, dem Energiegesetz folgen, berührt er nicht. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, dass er sie nicht ohne weiteres verneinend beantwortet hätte.

2) Unter den unwillkürlichen Bewegungen sind namentlich die sogenannten automatischen, und unter diesen besonders die Atembewegungen vielfach Gegen-

746 Rosenthal, Physiologie und Psychologie.

Die Bewusstsemsakte und die aus ihnen sich ergebenden Folge- zustände, die Vorstellungen u. s. w. spielen bei dem, was wir Wahr- nehmung der Außenwelt nennen, eine hervorragende Rolle. Daher kann sie der Physiologe, welcher von den durch die Sinnesorgane vermittelten Lebenserscheinungen handelt, nicht mit Stillschweigen übergehen. Er kann sie auch nicht damit abfertigen, dass er sie als Photoreaktionen oder als Photoreflexe bezeichnet, denn diese Bezeichnungen sagen uns über die Natur der Reaktionen gar nichts. Natürlich kann jeder auf ein Sinnesorgan einwirkende Reiz auch zu einem Reflexvorgang Anlass geben, und die Physiologie hat die Aufgabe, die vorkommenden Reflexe zu studieren, die Nervenbahnen zu erforschen, auf denen die Erregung zentripetal zum Zentrum und zentrifugal zu dem ausführenden Organ (Muskel oder Drüse) verläuft, sowie die Lage des Reflexzentrums festzustellen. Es kann aber keineswegs gutgeheißken werden, nur bei der Besprechung dieser Reflexe stehen zu bleiben und das unerwähnt zu lassen, was das Wesentlichste bei jeder Sinneserregung ist, nämlich die durch sie veranlassten Empfindungen und Vorstellungen. Noch weniger zu billigen aber ıst es, von angeblichen Reflexen zu reden, welche in Wirklichkeit gar nicht wahrgenommen worden sind und deren Ausbleiben dann erst wieder durch die Annahme von „Hem- mungen“ erklärt werden musst). Es fördert auch keineswegs unsere Erkenntnis, wenn man, nur um die Analogie mit gewissen Er- scheinungen bei niederen Tieren aufrecht zu erhalten, von Photo- tropismus beim Menschen spricht, währerd doch keine einzige Tat- sache angeführ! werden kann, welche das Vorhandensein eines solchen Phototropismus auch nur andeutet.

Alle durch Sinneserregung vermittelte Kenntnis der Außen- welt kann nur erworben werden durch das Zusammenwirken mehrerer Erregungen. Nur dieses Zusammenwirken ermöglicht es, die Um- stände ın Betracht zu ziehen, unter denen eine dieser Erregungen, welche in dem gegebenen Falle als die wirksamste angesehen wird, zustande kommt. So z. B. setzt jede Lokalisierung eines auf eine

stand physiologischer Untersuchung gewesen. Während manche Physiologen auch diese für reflektorische halten und versucht haben, die äußeren Reize, welche sie erregen, nachzuweisen, vertreten andere, und unter diesen namentlich ich selbst, die Ansicht, dass sie durch innere, auf den zentralen Ursprung der motorischen Nerven wirkende Reize hervorgerufen werden. Wer sich näher mit diesen Untersuchungen bekannt machen will, sei auf meinen Aufsatz im ersten Bande des Biolog. Central- blattes (S. 85 u. ff.) verwiesen.

1) Mit dem Begriff „Hemmung“ ist in der Physiologie oft Missbrauch ge- trieben worden, wie man besonders aus den Erörterungen über Herz- und Atem- bewegungen ersehen kann. M. E. sollte man in Übereinstimmung mit seinem Urheber Ed. Weber den Ausdruck nur da verwenden, wo eine schon vorhandene, beobachtbare Bewegung durch eine nachweisbare Nervenerregung aufgehoben oder in ihrem Verlauf geändert wird.

Rosenthal, Physiologie und Psychologie. 147

Netzhautstelle wirkenden Reizes eine Vorstellung von der Stellung des oder -der beiden Augen im Raume voraus. Wie diese Vor- stellung zustande kommt, das zu untersuchen ist die Aufgabe einer wissenschaftlich verfahrenden Sinnesphysiologie. Zweierlei Probleme kommen hierbei in Frage: Entweder handelt es sich um die Er- kenntnis der relativen Lage zweier gleichzeitig gesehener Punkte, deren Bilder beide auf die Fovea fallen, mit ruhendem Auge. Oder aber die Erregung findet in den peripherischen Teilen der Netzhaut statt. Im letzteren Falle erfolgt gewöhnlich eine Augen- bewegung, durch welche das Bild auf die Fovea eingestellt wird. Man kann auch diese Bewegung für eine reflektorische halten; jeden- falls aber haben wir ein Bewusstsein von der erfolgten Bewegung und dem Betrage derselben, und das unterstützt uns in der Beur- teilung der Lage des gesehenen Objekts im Raume. Im ersteren Falle erkennen wir die relative Lage der gesehenen Punkte zu- einander, weil wir imstande sind, die Erregungen der einzelnen Zapfen der Fovea vermöge der sogen. Lokalzeichen voneinander zu unterscheiden. Die Nativisten nehmen an, die Lokalisierung dieser verschieden empfundenen Erregungen vermöge der Projektion in der Richtung der Richtungsstrahlen sei uns angeboren. Die Empiristen dagegen glauben, dass diese Fähigkeit in früher Jugend erworben sei. Auf alle Fälle schiebt sich zwischen die „Empfindung“ und die „Wahrnehmung“ etwas Psychologisches, ein Urteil auf Grund eines, wie Helmholtz sagt, unbewussten Schlusses ein). Die Umstände werden verwickelter, wenn es sich um das Sehen mit zwei Augen, um die Wahrnehmung der Tiefen- diniension u. s. w. handelt, aber das Problem bleibt im Grunde genommen doch immer das gleiche: wie gelangen wir von der Sinnesempfindung zu der Sinneswahrnehmung, zu der bestimmten Vorstellung von dem Dasein, der Lage und Beschaffenheit eines Objekts? Die Wahl zwischen der nativistischen und der empi-

1) Dieser Ausdruck ist nicht unlogisch, wie manche Autoren behaupten. Wenn eine Schlussfolgerung durch öftere Wiederholung uns ganz geläufig geworden ist, so hat sich zwischen dem Vordersatz und dem Schlussatz eine solche Assoziation ausgebildet, dass wir uns der Zwischensätze, auf welche die Schlussfolgerung auf- gebaut ist, nicht mehr bewusst werden, sondern von dem Vordersatz unmittelbar zum Schlussatz übergehen. Dadurch entsteht die Täuschung, dass die Erscheinung, welche der Schlussatz ausspricht, unmittelbar wahrgenommen worden sei. Das ist freilich eine psychologische Betrachtung. Ich sehe aber nicht ein, warum sie der Physiologe vermeiden sollte, da die Erscheinungen, um welche es sich handelt, mit den ihm sonst geläufigen Ausdrücken, wie Erregung, Reflex u. s. w. eben nicht dargestellt werden können. Die große Mehrzahl der gewöhnlichsten Sinnestäuschungen kommt dadurch zustande, dass die erste Erregung unter abnormen, von den ge- wöhnlichen abweichenden Umständen eintritt, die erworbene Assoziation uns aber trotzdem zu einer Schlussfolgerung führt, welche den normalen Umständen angepasst ist, eben weil zwischen der Art der Erregung und der daraus gefolgerten Wahr- nehmung jene feste Assoziation herrschend geworden ist.

748 vosenthal, Physiologie und Psychologie.

ristischen Annahme wäre leichter, wenn wir von den ersten Sinnes- eindrücken, die wir in frühester Kindheit empfangen haben, mehr wüssten. Weiß doch keiner zu sagen, wie er zur Er- lernung seiner Muttersprache gelangt ıst. Die Erfahrungen bei dem Erlernen fremder Sprachen in späteren Lebensjahren lassen uns vermuten, dass die Assoziation zwischen dem Erinnerungsbild eines Wortklangs und der Vorstellung eines Begriffs durch die wiederholte gleichzeitige oder schnell aufeinander folgende Wieder- kehr der beiden betreffenden Erfahrungen erworben wurde. Jeden- falls haben wir davon kein klares Bewusstsein mehr. Auch Kinder, welche in früher Jugend neben ihrer Muttersprache noch eine zweite Sprache erlernt haben, wissen nicht zu berichten, wie sie diese Fähigkeiten erlangt haben. Trotzdem wird doch schwerlich jemand die Meinung vertreten, die Sprache, d.h. die Fähigkeit bestimmte Begriffe durch bestimmte Lautverbindungen zu bezeich- nen, sei uns angeboren. Darum glaube ich, dass auch die empi- rıstische Deutung der Wahrnehmungstätigkeiten nicht so leicht bei Seite geschoben werden kann, wie es manche Nativisten tun, ich gebe jedoch gern zu, dass in diesem oder jenem Punkte manche Empiristen zu weit gegangen sein mögen. Erfahrungen, welche man an Blindgeborenen oder in frühester Jugend Erblindeten, aber später durch Operation sehend Gewordenen gemacht hat, sind leider nicht zahlreich genug, einzelne auch nicht genau genug beschrieben, um auf Grund derselben die Lücke auszufüllen, welche das Nicht- erinnern an unsere eigenen Erfahrungen offen lässt. Immerhin darf soviel behauptet werden, dass sie vieles lehren, was zugunsten der empiristischen Lehre spricht und nichts, was ıhr geradezu wider- spricht.

Die Nativisten sagen, ihre Selbstbeobachtung zeige ihnen keine Spur von all den Zwischenstufen des Bewusstseins, welche nach der Auffassung der Empiristen zwischen dem ersten Sinneseindruck und der schließlichen Auffassung desselben als Wahrnehmung sich einschieben müssten. Dass dies keine durchschlagende Wider- legung der empiristischen Theorie ıst, glaube ich schon gezeigt zu haben. Außerdem muss doch bemerkt werden, dass die Behaup- tung, irgend etwas sei angeboren, keine Erklärung, sondern ein Verzicht auf jede Erklärung ıst!). Es ist deshalb gewiss nicht überflüssig, zu versuchen, ob man nicht durch vorsichtige Ver- wendung empirisch besser bekannter Tatsachen zu einer befriedi- genden Vorstellung von der Natur jenes Zusammenhanges gelangen kann. Einen solchen Versuch macht die empiristische Theorie.

Etwas ganz Analoges findet sich bei den Reflexen. Auch bei

l) Unter „Erklärung“ verstehe ich den Nachweis des Zusammenhanges einer Tatsache mit anderen, uns schon bekannten Tatsachen. Vgl. Allg. Physiol. S. 33.

TER

Rosenthal, Physiologie und Psychologie. 749

ihnen unterscheidet man angeborene und erworbene. Nun setzt jeder Reflex eine anatomische Verbindung zwischen einer zentri- petalen und einer zentrifugalen Nervenbahn voraus. Unsere anato- mische Kenntnis vom Zentralnervensystem führtuns zu der Vorstellung, dass zwischen zwei derartigen Nervenbahnen sehr viele Verbindungen bestehen. Ist eine derselben leicht passierbar, so kann sie zu einem Re- flex Anlass geben. Diese Eigenschaft der leichten Passierbarkeit kann angeboren sein, sie kann aber auch im Laufe des individuellen Lebens erworben werden, was man durch den Ausdruck „Ausgeschliffen- werden“ der Bahnen bezeichnet hat. Auf ähnlichen Vorgängen beruht nach Ansicht der Empiristen die Entstehung der erworbenen Assoziationen. Ob diese dann von einer Generation auf die folgen- den vererbt und bei diesen als angeborene Assoziationen auftreten können, das zu erörtern würde mich zu weit von dem Gegenstand meiner Auseinandersetzungen entfernen.

Nur noch ein Wort über die „Lokalzeichen“. Ich fasse diesen von Lotze herrührenden Ausdruck so auf, dass jedem einzeln reiz- baren Element des peripherischen Aufnahmeorgans ein zugehöriges Element im nervösen Zentralorgan entspricht, in welchem die Empfindung zustande kommt, oder, um mit Meynert zu sprechen, dass die „empfindenden Elemente“ in der Hirnrinde die Projektion der „empfindlichen“ Elemente an der Peripherie sind. Die „empfin- denden Elemente,“ mögen es nun Zellen der Hirnrinde sein oder sonst etwas, müssen aber qualitativ verschiedene Eindrücke machen, wenn es möglich sein soll, dass ihre Erregungen im Bewusstsein unterschieden werden können. Mit anderen Worten, ich stelle mir vor, dass, ganz abgesehen von sonstigen Verschiedenheiten wie Farbenempfindung u. dergl., die durch Erregung eines Zapfens (oder eines Stäbchens) der Netzhaut hervorgerufene Empfindung quali- tativ verschieden sei von der durch Erregung eines anderen Zapfens entstandenen. Dass mit einer solchen, von anderen quali- tativ verschiedenen Empfindung sich die Vorstellung einer be- stimmten Lokalisation oder Richtung assoziiert, lässt sich auf em- piristischem Wege schon begreifen, wenn ich auch nichts Genaueres über die Art, wie diese Assoziationen zustande kommen, auszu- sagen vermag. Natürlich stelle ich mir die Sache nicht so vor, dass die „Seele“ die Rindenfelder des Großhirns überschaut und aufpasst, ob hier oder dort eine Schelle ertönt oder eine Klappe fällt, wie in dem Tableau eines Haustelegraphen. Sobald wir an- nehmen, dass jede Empfindung ihre besondere Eigenschaft hat, je nach der Zelle, in welcher sie entsteht, so genügt gerade die Vorstellung von der empirisch erworbenen Assoziation eben dieser Empfindung mit dem «durch gleichzeitige Tast- oder sonstige Empfindungen gelieferten Erfahrungen, um zu verstehen, wie die Kenntnis der Lokalzeichen erworben werden kann. Für diese Auf-

750 Rosenthal, Physiologie und Psychologie.

fassung sprechen auch die Erfahrungen, welche man bei Haut- transplantationen gemacht hat, wo anfänglich die Lokalisation so erfolgt, als hätte der Hauptlappen noch seine frühere Lage, nach und nach aber die Fähigkeit zu neuer, der jetzigen Lage ent- sprechender Lokalisation sich entwickelt.

Für Herrn Nuel gelten natürlich derartige Betrachtungen nichts; für ıhn gibt es auch beim Menschen nur „icono-reactions“ und „moto-reactions“, erstere bei der Erregung von Stellen der Fovea, letztere bei Erregung der Netzhautperipherie. Ich habe mich aber vergebens bemüht, herauszubringen, worin denn eigent- lich diese „Reaktionen“ nach seiner Ansicht bestehen. Für unsere Auffassungsweise ist der Sachverhalt ganz klar. Wenn das optische Bild eines sichtbaren Gegenstandes auf meine Fovea fällt, so „reagiere“ ich auf die Reizung dadurch, dass ich mir das Objekt in seiner Gestalt, mit allen seinen erkennbaren Einzelnheiten, in einer bestimmten Entfernung und in bestimmter Größe vorstelle. Die „Reaktion“ ıst also ganz und gar ein psychologischer Akt. Andere Vorgänge können daneben auftreten. Meine Pupille kann sich verengern u. s. w. Aber diese Reflexe sind doch von unter- geordneter Bedeutung gegen die eigentliche Reaktion, dass ich den (Gegenstand sehe und dass ich mir dieses Vorganges bewusst werde. Der Physiologe, der diesen Teil des Vorganges nicht be- rücksichtigt, scheint mir seine Aufgabe recht ungenügend zu er- füllen.

Die geringere Sehschärfe der peripherischen Netzhautteile bringt es mit sich, dass wir von der Beschaffenheit der Objekte, deren Bilder auf solche Stellen fallen, nur ganz unbestimmte Vor- stellungen erhalten. Das genügt zuweilen, um Hindernissen auszu- weichen, doch erschöpft sich darin die physiologische Bedeutung des peripherischen Sehens nicht. In der Regel führen wir durch eine reflektorische, oder, wenn man es so nennen will, instinktive Bewegung des Auges das Bild auf die Fovea und ermöglichen so ein wirkliches Betrachten des Objektes, auf dessen Anwesenheit wir durch das undeutliche peripherische Sehen aufmerksam ge- worden sind. Da die Stäbchen, welche in den peripherischen Netzhautteilen allein oder doch überwiegend vorhanden sind, wenigstens bei geringen Helligkeitsgraden, sehr lichtempfindlich sınd, so funktionieren sie gerade dann, wenn die mit größerer Sehschärfe ausgestattete Fovea leicht versagt. Die Stäbchen ermüden aber auch schnell; daher reagieren sie besser auf schnell wechselnde Reize und besonders dann, wenn das Objekt sich bewegt, wodurch sein Bild immer auf neue Stäbchen fällt. Das ist es, was Herr Nuelals „moto-r&eaction“ bezeichnet. Die Erfahrung lehrt, dass diese Art des Sehens für uns von geringer Bedeutung ist. Desto wichtiger scheint sie für viele Tiere zu sein, deren Netzhäute nur oder doch

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fast ausschließlich Stäbchen, dagegen wenig oder gar keine Zapfen enthält, was bei Nacht- oder Dämmerungstieren die Regel zu sein scheint. Was für Empfindungen solche Tiere haben, können wir natürlich nur vermutungsweise angeben. Das berechtigt aber durch- aus nicht, nur von Reflexen oder sonstigen ohne begleitende Be- wusstseinszustände verlaufenden Reaktionen zu sprechen und jede psychische Tätigkeit in Abrede zu stellen. Herr Nuel selbst be- richtet über einen in dieser Hinsicht recht lehrreichen Fall. Einer seiner Freunde beobachtete, wie ein Sperber auf eine durch einen Bindfaden in Bewegung gesetzte Kartoffel herabstieß. Wenn nun jemand die Behauptung aufstellen wollte, der Sperber habe die Kartoffel, eben weil er sie sich bewegen sah, für ein lebendes Tier gehalten, so könnte ich dem durchaus nicht widersprechen. Ich könnte nur sagen: Ihre Hypothese hat viel für sich. Leider sind wir außerstande, die Empfindungen oder Gedanken der Sperber kennen zu lernen. Es kann sein, dass sich die Sache so verhält, wie Sie vermuten. Da ich aber kein Mittel kenne, darüber Sicheres zu erfahren, so muss ıch darauf verzichten, darüber weiter zu diskutieren.

Ich bin durch dieses Beispiel wiederum in das Gebiet der vergleichenden Psychologie geraten. Obgleich ich, wie schon oben gesagt, diese Wissenschaft nicht zu den Naturwissenschaften im eigentlichen Sinne zählen kann, weil sie mit Annahmen rechnen muss, welche eingestandenermaßen nicht einer näheren Prüfung unterzogen werden können, steht sie doch in unmittelbarer Be- ziehung zu streng naturwissenschaftlichen Disziplinen. Es kann daher nicht wundernehmen, dass sich vielfach Naturforscher mit ıhr befasst haben. Die Grenzbestimmungen, welche wissen- schaftstheoretische Betrachtungen zwischen verschiedenen Wissen- schaftszweigen aufrichten, beziehen sich nicht auf die Arbeits- gebiete der einzelnen Forscher. Da in den Wissenschaften kein Zunftzwang besteht, wird es niemandem verwehrt sein, je nach seiner individuellen Neigung, von einem Gebiet auf ein an- deres überzutreten. Nur eins müssen wir verlangen: der For- scher, der sein Arbeitsgebiet wechselt, muss sich dessen bewusst bleiben, wenn in dem neuen Gebiet andere Methoden verwertet und andere Voraussetzungen zugrunde gelegt werden. Das ist nicht immer leicht, besonders wenn es sich nur um gelegentliche Ab- schweifungen in ein anderes Wissenschaftsgebiet handelt. Ein solcher Fall liegt z. B. vor bei manchen Erörterungen über Mimiery. Wenn angenommen wird, dass ein Insekt durch seine Ähnlichkeit mit einem anderen, welches schlecht schmeckt oder einen gefährlichen Stachel besitzt, vor der Verfolgung durch Vögel geschützt sei, so liegt dem doch die Annahme zugrunde, dass die Vögel durch Er- fahrung erworbene Vorstellungen und Erinnerungen an den schlechten

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(seschmack oder die Gefahren des Stiches haben. Diese Annahmen werden stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt, viel- leicht ohne dass an die Schwierigkeit der Probleme gedacht wird, welche sich bei der Erörterung über die Berechtigung einer ver- gleichenden Psychologie ergeben.

Die Annahme des Bestehens psychischer Vorgänge bei anderen Lebewesen beruht nur auf einem Analogieschluss. Dieser wird um so mehr Berechtigung haben, je ähnlicher die Sinnesorgane und die nervösen Zentralorgane des betreffenden Lebewesens den menschlichen sind. Deswegen werden Betrachtungen über psychıi- sche Tätigkeiten bei höheren Wirbeltieren meist ohne Bedenken angestellt. Dass auch dabei große Vorsicht notwendig ist, lehren die zum Teil diametral einander gegenüberstehenden Ansichten verschiedener Autoren. Mit Recht ist in neuerer Zeit darauf hin- gewiesen worden, dass die Beteiligung der verschiedenen Sinnes- organe an dem Aufbau des Weltbildes bei Tieren nicht immer die gleiche zu sein braucht wıe bei uns. Das mahnt zur Vorsicht bei der Verwendung der Analogieschlüsse. Auf der anderen Seite möchte ich darauf hinweisen, dass wir keinen zwingenden Grund haben, den höheren wirbellosen Tieren ohne weiteres psychische Fähigkeiten, die den unsrigen ähnlich sein können, abzusprechen. Die Zellen der großen oralen Ganglien jener Tiere können sehr wohl ähnliche Eigenschaften haben wie unsere Hirnrindenzellen.

Über solche Vermutungen auf Grund von Analogien kommen wir in diesem Gebiete niemals hinaus und wir sehen keine Mög- lichkeit, unsere Vermutungen irgendwie durch tatsächliche Be- obachtungen zu stützen oder gar als richtig zu beweisen. Ganz anders aber steht es ım Bereich der Sinneserscheinungen des Menschen. Hier haben wir es mit unbezweifelbaren tatsäch- lichen Feststellungen zu tun, und wenn diese Tatsachen sich nur dem „inneren Sinn“ darbieten, so folgt daraus, dass die Be- obachtungen durch diesen inneren Sinn zu den Hilfsmitteln natur- wissenschaftlicher Forschung gehören. Statt also diese psycho- logischen Phänomene von der Physiologie auszuschließen, müssen wir vielmehr bestrebt sein, sie durch immer wiederholte Fest- stellung, von allem Zufälligen geläutert, zur Grundlage unserer weiteren Betrachtungen zu machen. Zwischen Physiologie und Psychologie darf keine Scheidewand errichtet werden. Die em- pirische Psychologie ist ein Teil der Physiologie, und in der Phy- siologie der Sinne bleibt sie die Grundlage, welche ohne die Er- scheinungen gar nicht richtig aufgefasst und keinesfalls verständlich dargestellt werden können.

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Dr!

rs Bu rre P eRi

ein

Biologisches Centralblatt.

Unter Mitwirkung von

Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig

Professor der Botanik Professor der Zoologie in München,

herausgegeben von

Dr. J. Rosenthal

Prof. der Physiologie in Erlangen.

Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.

Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,

vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen.

xxY Ba 45. Dezember 1905. #23 u.24,

Inhalt: Kassowitz, Vitalisv » und Teleologie. Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren (Schluss). Iwanoff, Untersuchungen über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden (Hybride. n Pferden und Zebra). Kramberger, Der diluviale Mensch von Krapina und sein Vei “is zum Menschen von Neandertal und Spy.

Vita.smus und ıeleologie. Von Prof. Dr. Max Kassowitz.

Der in der Wissenschaft vom Leben neuerdings wieder auf- blühende Vitalismus zeigt zwei voneinander scharf zu unterschei- dende Spielarten : die mechanistische und die teleologisch-animistische. Der Unterschied zwischen ihnen liegt darin, dass die erstgenannte in den Lebenserscheinungen ein nach streng mechanisch-kausalen Gesetzen ablaufendes Geschehen erblickt und nur behauptet, dass diesen Erscheinungen Bewegungen und Vorgänge zugrunde liegen, welche mit denen in der leblosen Natur nicht verglichen werden können; während der teleologisch-animistische Vitalısmus annimmt, dass ın allen lebenden Organısmen ein psychisches Prinzip nach dem Muster des seine Zwecke ersinnenden und realisierenden Menschengeistes wirksam sei, welche in ihnen nach Gutdünken über die Bewegungen und Energien verfügt und sie seinen Zwecken dienstbar macht. Diese zweite Spielart des Vitalismus zerfällt aber wieder in zwei Untervarietäten, von denen die eine konse- quent genug ist, das bildende und ordnende geistige Prinzip mit Bewusstsein auszustatten, während die zweite nebst allen anderen Vernunftopfern auch noch die Annahme einer unbewussten Intelli- genz lucus a non lucendo verlangt und damit gerade jenes

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Moment wieder ausschaltet, das der ganzen Annahme wenigstens eine Scheinberechtigung gewährt, nämlich die Analogisierung mit der ihre Ziele mit Bewusstsein verfolgenden menschlichen Intelligenz.

Es ıst uns von vornherein klar, dass alle diejenigen, welche der Ansicht sind, dass sich alle Lebenserscheinungen auf Zerfall und Aufbau des lebenden Protoplasmas zurückführen lassen, sich gegen alle diese Spielarten des Vitalismus nicht anders als ab- lehnend verhalten können. Denn wenn es richtig wäre, dass alle vitalen Prozesse, also diejenigen, welche nur im lebenden Organis- mus und niemals außerhalb desselben beobachtet werden, auf Bil- dung und Zerstörung der chemischen Einheiten der lebenden Sub- stanz beruhen, dann wäre vor allem der mechanistische Vitalismus unhaltbar, weil Aufbau und Zerfall oder Synthese und Spaltung von Atomverbindungen auch in der leblosen Natur vorkommen und weil diese chemischen Vorgänge im lebenden Protoplasma sich von den Synthesen und Spaltungen außerhalb der lebenden Substanz nicht ihrem Wesen nach, sondern nur graduell unter- schieden würden. Wenn also noch in jüngster Zeit behauptet wurde, dass es bis jetzt nicht gelungen sei, auch nur eine einzige Lebenserscheinung auf die Gesetzlichkeit des anorganischen Natur- geschehens zurückzuführen, wenn wir aus dem Munde eines Phy- siologen vernehmen müssen, dass die physiologische Wissenschaft in bezug auf die Erklärung eigentlicher Lebensvorgänge noch nichts geleistet habe, und wenn ein dritter Forscher ausruft: „Man nenne mir nur Beispiele irgend eines Vorganges im Organismus, der voll- ständig und ohne Hypothesenrest chemisch oder physikalisch auf- geklärt ist,“ so haben diejenigen, welche sich in dieser Weise ge- äußert haben, das eine außer acht gelassen, dass sie zu diesen Aussprüchen nur dann berechtigt wären, wenn sie alle bisherigen Versuche, die Lebenserscheinungen auf Zerfall und Aufbau hoch- komplizierter Atomverbindungen zurückzuführen, in eingehender Weise analysiert und ihre Unhaltbarkeit im streng wissenschaft- licher Form nach streng wissenschaftlicher Methode dargetan hätten. Da dies aber nicht einmal versuchsweise geschehen ist, muss man absprechende Äußerungen wie die oben zitierten als unbegründet und wissenschaftlich nicht gerechtfertigt bezeichnen.

Dagegen können sich die Anhänger der metabolischen Auf- fassung der Stoffwechselprozesse und der von ihnen abhängigen vitalen Vorgänge nur völlig damit einverstanden erklären, wenn man „die Lebenserscheinungen als den Erfolg einer besonderen Be- tätigung besonders geordneter chemischer und physikalischer Wir- kungsweisen“ betrachtet, und wenn man sagt, „dass auch ein voll- kommen physikalisch-chemisch begreifliches Leben immer noch etwas ganz Besonderes und Eigenartiges wäre“, Das ganz Beson- dere und Eigenartige und die besondere Betätigung liegt eben

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für uns in der außerordentlichen Steigerung der Labilität und der Assımilationsfähigkeit des Protoplasmas, also in einer chemischen und physikalischen Wirkungsweise, wie sie zwar auch in der leb- losen Natur zu beobachten ist denn es gibt auch eine anorganische Assimilation!) —, wie sie aber allerdings in dieser Höhe der Aus- bildung außerhalb der lebenden Organismen nie und nirgends zu beobachten ist. Auf dieser ungeheuren Steigerung wohl- bekannter und scharf defimierbarer chemischer und physikalischer Wirkungsweisen bauen sich dann die übrigen Lebenserscheinungen, selbst mit Einschluss der nur subjektiv wahrnehmbaren psychischen Zustände auf, weil die Erfahrung und Beobachtung lehrt, dass diese nur dann wahrnehmbar werden, wenn die auf Zerfall und Aufbau von Protoplasma beruhenden und daher chemisch-physikalisch definierbaren Reflexaktionen der Zahl nach eine besondere Höhe erreichen?).. Wenn also auch, wıe nicht energisch genug betont werden kann, die psychischen oder Bewusstseinszustände keines- wegs mit chemischen oder physikalischen Vorgängen identisch sind, so kann es doch keinem Zweifel unterliegen, dass sie immer nur dann auftreten, wenn kettenartig aneinander gegliederte neuro- muskuläre Prozesse zu gleicher Zeit in großer Zahl über den Körper verbreitet sind, dass wir uns also nur dann der ın uns ablaufenden physiologischen Vorgänge bewusst werden, wenn sie eine besondere Extensität erreichen. Diese physiologischen Prozesse sind aber, wie alles, was in der Natur vorgeht, chemisch-physikalische und müssen sich daher in letzter Instanz auf Ortsveränderungen pon- derabler oder imponderabler materieller Systeme zurückführen lassen.

In dieser hier nur flüchtig skizzierten Auffassung der psycho- physischen Relation liegt aber auch schon eine ausreichende Be- gründung für die Zurückweisung des teleologisch-animistischen Vitalismus. Denn dieser setzt eben gerade dasjenige voraus, was wir von unserem Standpunkt aus mit aller Entschiedenheit ab- lehnen müssen, nämlich die Möglichkeit, dass ein Bewusstseins- zustand irgendwelcher Art, eine Empfindung, ein Gefühl oder eine Willensvorstellung Veränderungen hervorrufe, welche nicht oder wenigstens nicht vollständig durch vorausgehende Bewegungen oder materielle Veränderungen ursächlich bestimmt sind. Mag ein solcher Influxus psychicus mit noch so großer Bestimmtheit be- hauptet werden, er enthält doch immer eine ganz undenkbare Vor-

1) Beispiele hierfür finden sich im ersten Bande meiner Allgemeinen Biologie S. 193 ff.

2) Die ausführliche und eingehende Begründung dieser Auffassung findet sich in dem in allernächster Zeit erscheinenden Schlussbande (‚Nerven und Seele“) meiner Allgemeinen Biologie, dem auch ein großer Teil dieser Ausführungen ent- nommen ist.

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stellung und muss daher als ernsthafter Faktor aus dem wissen- schaftlichen Denken ausgeschaltet werden. Denn wenn z. B. behauptet wird, dass ein bestimmter mechanischer Prozess stets nur unter „Mitwirkung“ eines bestimmten psychischen Vorganges zustande komme, „ohne dass doch das Quantum physischer Energie durch diesen beeinflusst wird“'), so würde dies nicht mehr und nicht weniger bedeuten, als dass ein Massensystem, welches unter dem Einfluss einer gewissen Kombination von Energien eine Be- wegung nach einer bestimmten Richtung eingeschlagen hätte, diese Richtung verlassen müsste, wenn noch ein psychischer Einfluss hinzukommt, und zwar, wie ausdrücklich gesagt wird, ohne Ände- rung des Quantums physischer Energie, d. h. also: dieses Massen- system würde sich nun plötzlich von dem axiomatischen Grund- gesetze der Bewegung emanzipieren, es würde sich nicht mehr wie sonst nach dem Orte der geringsten Widerstände begeben, sondern nach einem anderen Orte, wo es zwar einem größeren Widerstande begegnet, dafür aber die Genugtuung hat, gewissen Empfindungen Rechnung getragen und dem Wunsch oder Befehl eines eigenen oder fremden Willens nachgekommen zu sein. Und warum sollen wir uns einer solchen ganz und gar unmöglichen Vorstellung hingeben? Bloß aus dem Grunde, weil es noch immer, selbst von Physiologen als eine „triviale Erfahrungstatsache“ hin- gestellt wird, dass durch den Willen Muskelbewegungen hervor- gerufen werden?).. Wenn wir aber nicht unsere subjektiven Erleb- nisse, sondern die objektive Beobachtung zu Rate ziehen, dann können wir nicht daran zweifeln, dass eine Muskelbewegung immer nur durch einen Reiz hervorgerufen wird, der entweder die Muskel- substanz selbst betrifft oder ihr auf dem Nervenweg zugeführt wird; der Nervenprozess beruht aber seinerseits wieder auf der Einwir- kung von Reizen, welche das Protoplasma der Nervenbahnen be- treffen und diese Reize können nur mechanische im weitesten Sinne des Wortes niemals aber solche sein, welche das Quantum physischer Energie nicht zu beeinflussen vermögen. Fehlt also der Reiz oder ıst er nicht stark genug, um eine Muskelkontraktion hervorzurufen, dann wird diese nie und nimmer zustande kommen, selbst wenn es einem „psychischen Prinzipe“ noch so erwünscht wäre oder noch so zweckmäßig erschiene. Und genau dasselbe gılt natürlich auch von anderen physiologischen Prozessen, mögen sie nın als funktionelle Betätigungen schon vorhandener Organe oder als Wachstums-, Bildungs- oder Entwickelungsvorgänge er- scheinen. Sowie der Zerfall des Protoplasmas und alle von ihm

1) Stumpf, zit. bei Neumeister, Betrachtungen über das Wesen der Elementarerscheinungen 1903, S. 41. 2) Neumeister]. c,S. 41.

Kassowitz, Vitalismus und Teleologie. 7

abhängigen Lebensäußerungen einzig und allein durch materielle Einwirkungen, also durch Bewegungen ponderabler oder impon- derabler Materie herbeigeführt werden können, so wird ein Aufbau und ein Wachstum des Protoplasmas immer nur an jenen Orten und nach jenen Richtungen erfolgen, wo die materiellen Bedingungen dazu gegeben sind, wo also assimilierende Protoplasmen mit den zur Bildung neuer Protoplasmamoleküle notwendigen und taug- lichen Substanzen zusammentreffen; sowie andererseits die form- gebenden metaplasmatischen Zerfallsprodukte der assimilierenden lebenden Substanz, die Fasern, Plättchen, Membranen und Röhren nur dort und in der Weise zustande kommen, wo es die Raumverhält- nisse gestatten und wie es die Zug- und Druckrichtungen bestimmen. Die Annahme, dass sich Protoplasma irgendwo und irgendeinmal herausbilden könnte, ohne dass die dazu unerlässlichen materiellen Bedingungen zur Stelle wären, oder dass einmal Bindegewebs- oder Knorpel- oder Bastfasern in eimer Richtung zustande kämen, die nicht durch die gegebenen mechanischen Bedingungen, sondern durch Zweckmäßigkeitsgründe oder durch einen souveränen Willen bestimmt würden, muss als eine ganz unmögliche und völlig unaus- denkbare Vorstellung fallen gelassen werden.

Sobald ich aber einmal eine Vorstellung für unmöglich und zum mindesten für mein Denkvermögen für unvollziehbar erkannt habe, versteht es sich von selbst, dass keinerlei Gründe mich dahin bringen können, mich mit ihr dennoch zu befreunden. Welches sind aber die Gründe, die für die Intervention eines psychischen Prinzipes bei den Lebenstätigkeiten und bei der organischen Entwickelung ins Feld geführt werden? Man sagt uns auf der einen Seite, dass diese Vorgänge sich nicht oder nicht immer in mechanische Komponenten auflösen lassen, und dann will man uns überreden, dass man überhaupt die Zweckmäßigkeit der organischen „Einrichtungen“ nicht auf rein mechanischem Wege, sondern nur mit Hilfe eines nicht mechanisch wirkenden Prinzipes begreifen könne, also einer absichtlich wirkenden obersten Ursache, einer bewussten Urkraft, einer höchsten und unendlichen Intelligenz oder Finalıtät, einer vernünftigen oder intelligenten Schöpfungskraft, eines Demiurgos, einer schöpferischen Vernunft, einer immanenten Vernunft der Weltseele, eines geistigen Welt- grundes, einer teleologischen Weltvernunft, eines Lebensgeistes oder Lebensprinzipes, einer die Naturgesetze sondernden Absicht, eines Verstandes der Natur, einer Entelechie, eines primär Wis- senden, eines Unbewussten, eines zwecktätigen, belebenden und formgebenden Prinzipes, einer Zielstrebigkeit, einer Organisations- kraft, eines Bildungstriebes oder Nisus formativus, einer Vervoll- kommnungstendenz, einer Morphästhesie, einer Force hypermeca- nique, einer Empfindung des Protoplasmas, -einer Zellseele oder

758 Kassowitz, Vitalismus und Teleologie.

Zellpsyche oder von intelligenten Kräften und Dominanten, ‚und wie sie alle noch heißen mögen, die Götter und Halbgötter, mit denen die wissenschaftliche Mythenbildung in alter, neuerer und neuester Zeit den biologischen Olymp bevölkert hat. Immer kehren unter anderen Namen dieselben Anthropomorphismen wieder, welche zu allen Zeiten aus der Unkenntnis des ursächlichen Zu- sammenhangs der Naturerscheinungen im Vereine mit der Ma- terialisation der menschlichen Bewusstseinszustände entsprungen sind.

Während aber diese Unkenntnis bei den Alten eine tatsäch- liche und durch die Umstände wohlbegründete war, wird sie von den Neueren nicht selten nur tragiert oder wenigstens sich selbst und anderen suggeriert. Im Grunde genommen darf man sich darüber nicht sehr verwundern, weil viele von ihnen, von Kindesbeinen auf durch die Familie, die Kirche und die Schule mit Metaphysik bis zum Überlaufen durchtränkt, sich in den Dienst der „voraussetzungslosen Wissenschaft“ mit der festgewurzelten Voraussetzung begeben, dass man der streng kausalen Naturanschau- ung, die weder Wunder noch übernatürliche Kräfte gelten lassen kann, als „ödem Mechanismus“ nur je nach Temperament mit Verachtung oder. mit Mitleid begegnen kann. Nur so kann man verstehen, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts ein Physio- loge nicht allen zu dem allgemeinen Schlusse gelangt, dass „die physiologischen Vorgänge ausnahmslos direkt durch psychische Prozesse ursächlich bedingt und eingeleitet werden“!), sondern diese These überdies mit physiologischen Tatsachen exemphfiziert, bei denen der mechanische Kausalzusammenhang wenigstens in seinen wichtigsten Gliederungen bereits an den Tag gebracht werden konnte.

In dem ersten dieser Beispiele handelt es sich darum, dass die Epithelzellen der Darmschleimhaut wohl die Eiweißstoffe des Blutserums aufsaugen, wenn diese im genuinen Zustande genossen werden, nicht aber das Kasein der Milch und andere körperfremde Albuminstoffe, welche die normale Zusammensetzung der Körper- säfte stören würden und daher so lange von der Resorption aus- geschlossen werden, bis sie der spaltenden Einwirkung der Ver- dauungssäfte unterlegen sind. Dabei soll es sich „ganz zweifellos“ um ein aktives und zwar für den Organismus zweckmäßiges Ein- greifen der Darmepithelien handeln, indem sie die Fähigkeit zeigen, verschiedene Eiweißstoffe voneinander zu unterscheiden und über- haupt eine „Empfindung von Qualitäten“ zu äußern, durch welche dann allerdings mechanische Prozesse, nämlich eigentümliche, mit einer Saugwirkung verbundene Protoplasmaverschiebungen einge- leitet werden?).

l) Neumeister ]l. c., S. 42.

2) Daselbst S. 25,

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Aber die Schwierigkeiten einer Zurückführung dieser Vorgänge auf physikalisch-chemische Prozesse bestehen nur so lange, als man dabei verharrt, die Resorption der Nahrung nach den Gesetzen der Osmose und die Umwandlung der körperfremden Eiweißstoffe in das arteigene Bluteiweiß auf katabolischem Wege durch irgend eine unverständliche Einwirkung des stabil bleibenden Protoplasmas vor sich gehen zu lassen. Sowie man sich aber entschließt, das metabolische Prinzip des Stoffwechsels, welches die vitalen Prozesse auf Synthese und Spaltung der Protoplasmamoleküle zurückführen will, auch auf diesen Spezialfall anzuwenden, verschwinden sofort die Schwierigkeiten seiner mechanischen Ausdeutung, weil die Konsequenz dieser Anwendung, darin besteht, dass die Eiweißstoffe in den Darmepithelien nicht resorbiert, sondern assimiliert, also zum Aufbau ihrer Protoplasmen verwendet werden, und weil diese Assimilation offenbar nur dann möglich ist, wenn die vielatomigen Komplexe des Käsestoffes, des Hühnereiweißes und anderer kom- pliziert gebauter Zerfallsprodukte fremder Protoplasmen durch Fermentspaltung in einfache Bestandteile zerlegt (peptonisiert) werden!). Dasselbe Verhältnis besteht ja auch zwischen den kom- pliziert gebauten Zuckerarten und dem einfacheren Molekül des Traubenzuckers, weil offenbar nur dieses direkt zum Protoplasma- aufbau verwendet werden kann, nicht aber das unversehrte Molekül des Rohrzuckers, welches erst nach seiner Spaltung durch das invertierende Ferment zur assımilatorıschen Verwendung gelangt. Aus diesen Gründen und nicht deshalb, weil die Protoplasmen am Hühnereiweiß und am Rohrzucker keinen Geschmack finden, werden überschüssige Mengen dieser Stoffe, welche nicht rasch genug im Verdauungsschlauche gespalten werden, wieder aus dem Körper ausgeschieden; und auf demselben Prinzip beruht auch die elektive Aufnahme der Nährsalze seitens der Wurzelhaare der Land- und Wasserpflanzen, von der Neumeister ebenfalls behauptet, dass man bei ihr in keinem Falle ohne ein qualitatives Empfindungs- vermögen auskommen könne. Denn nach unserer Auffassung assimiliert das Zellprotoplasma in diesen Haaren von den ihm zur Verfügung stehenden Salzen nur diejenigen und gerade nur solche Mengen, die es gemäß der Zusammensetzung seiner chemischen Einheiten zum Aufbau derselben verwenden kann, und es ist also ganz und gar überflüssig, von einer „Empfindung eines chemischen Bedürfnisses“ von seiten dieses Protoplasmas und von einem Über- gang dieser Empfindung zur mechanischen Leistung zu sprechen, welche beide Vorgänge von Neumeister selbst als „gänzlich un- erklärbar“ bezeichnet werden.

1) Näheres hierüber im 10. Kapitel des ersten und im 2, Kapitel des dritten Bandes meiner Allgemeinen Biologie.

760 Kassowitz, Vitalismus und Teleologie.

Ein anderes Beispiel, welches die Unmöglichkeit einer chemisch- physikalischen Erklärung und die Unentbehrlichkeit einer psychi- schen Intervention beweisen soll, wird in folgender Weise dar- gestellt:

„Zucker und Harnstoff sind beide ın Wasser leicht löslich und leicht diffundierbar, sie zirkulieren beide beständig mit dem Blute durch die Kapillaren der Niere. Der Zucker, ein wertvoller Nah- rungsstoff, wird zurückgehalten, der Harnstoff, ein Endprodukt, wird ausgeschieden.“

Aber diese selben Tatsachen, von denen behauptet wird, dass sie nur bei der Annahme eines Empfindungsvermögens der Nieren- epithelien begreiflich werden, lassen sich wieder geraden Weges aus der Anwendung des metabolischen Prinzipes auf die Nieren- funktion ableiten. Denn das Kapseltranssudat muss notwendiger- weise alle diffusiblen Stoffe der Blutflüssigkeit, also auch Zucker und Harnstoff, enthalten, und die Zuckerfreiheit des normalen Harns lässt daher überhaupt keine andere Erklärung zu, als dass der von den Nierenknäueln ausgeschiedene Blutzucker als „wert- voller Nahrungsstoff“ auf dem langen Wege durch die gewundenen und geraden Harnkanälchen von den mächtigen Protoplasmakörpern der Epithelzellen assimiliert und zum Aufbau ihrer Protoplasma- moleküle verwendet wird, während der gleichfalls transsudierte Harnstoff als nicht assimilierbares Zerfallsprodukt unbehelligt vorbei- passiert. Außerdem müsste aber auch noch ein etwaiger Über- schuss von Blutharnstoff reizend wirken auf die von Blutgefäßen umsponnenen Epithelzellen; die Reizung würde, wie jede andere, einen Zerfall von Protoplasma und damit auch eine Rarefizierung der Protoplasmastruktur bewirken; diese würde dadurch durch- lässiger und müsste eine stärkere Durchströmung gestatten, welche den Harnstoff und jeden anderen reizenden oder giftigen Blut- bestandteil nach außen befördern würde. Es bedarf also auch hier keiner „unerklärbaren* Empfindung der Epithelzellen und keines ebenso unverständlichen Eingreifens eines immateriellen Prinzipes in das chemisch-physikalische Geschehen, sondern es geht auch hier alles mit richtigen Dingen zu.

Der teleologisch-animistische Vitaliısmus beruft sich aber auch auf die wunderbare Zweckmäßigkeit der meisten organischen Einrich- tungen und behauptet, es sei ebenso undenkbar, dass diese Ein- richtungen von selbst und ohne auf ihre Entstehung gerichtete Absicht entstanden seien, als dass sich eine kunstvolle Maschine durch Zufall oder von selbst aus den Rohmaterialien herausbilden könnte.

In dieser für viele Menschen ganz unwiderstehlichen Logik sind aber zwei große Denkfehler verborgen. Fürs erste wird niemand

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in Abrede stellen wollen, dass eine Absicht einen Bewusstseinsakt voraussetzt. Nun ‘ist uns aber durch die Erfahrung nur die Exi- stenz eines menschlichen Bewusstseins gesichert und schon das Bewusstsein der Tiere und Pflanzen ist in hohem Maße kontrovers. Von einem Bewusstsein an sich, ohne jemanden, der sich im Zu- stande des bewusst Seins befindet, kann aber weder auf Grund unserer Erfahrungen, noch auf Grund einer logischen Ableitung aus der Erfahrung gesprochen werden und ebensowenig von einer Absicht an sich ohne jemanden, der etwas beabsichtigt.

Nun gibt es zwar viele, welche des festen Glaubens sind, dass es ein unsichtbares und mit keinem anderen Sinne wahrnehmbares Wesen gibt, welches nicht nur Bewusstsein im gewöhnlichen Sinne des Wortes besitzt, sondern sogar befähigt ist, alle Arten von Be- wusstseinsakten in einem alles Menschliche weit überragenden Maße zu vollführen. Aber dieser Glaube, der manchem ein Trost im Unglücke sein mag und an dem auch viele geistig hochstehende Menschen festhalten, weil er ihnen das Nachdenken über Probleme, die ihnen unlösbar erscheinen, erspart, kann doch von der Natur- wissenschaft, die sich mit Erfahrungstatsachen und ihren kausalen Zusammenhängen befasst, unmöglich als ein Faktor ım Natur- geschehen anerkannt werden. Es fehlt also zu dem Vergleiche mit dem eine zweckmäßige Anordnung ersinnenden und kon- struierenden Menschen gerade das Wichtigste und Unentbehrlichste, nämlich das Vergleichsobjekt, und diese Analogie schwebt daher vollständig in der Luft.

Der zweite Denkfehler liegt aber darin, dass auch der greifbar vorhandene Maschineningenieur seine Maschine zwar mit Absicht, aber nicht durch seine Absicht konstruiert. Eine Maschine kann so wenig durch einen Bewusstseinszustand hervorgerufen werden, als ein Organismus durch einen solchen entstehen könnte, selbst wenn es jemanden gäbe, der die Absicht, den Organismus ent- stehen zu lassen, besäße. So wie ein Organismus nur aus den zu seinem Wachstum notwendigen und tauglichen Nahrungsstoffen hervorwachsen und so wie dieses Wachstum nur so vor sich gehen kann, wie es durch die vorhandenen materiellen Bedingungen vorgeschrieben ist, und so wie es vom wissenschaftlichen Stand- punkte undenkbar erscheint, dass irgendein psychischer Einfluss dieses Wachstum anders gestalte, als es ohne ihn vor sich ge- gangen wäre, so kann eine vom Menschen konstruierte Maschine nur so und niemals anders ausfallen, als es durch die mechanischen Vorgänge, die bei ihrer Konstruktion tätig waren, unabänderlich bestimmt wurde. Wurde das verwendete Metall gehärtet, so ge- schah dies durch die mechanischen, chemischen oder thermischen Einwirkungen, die die Härtung herbeiführen, nicht aber durch die Absicht des Metallurgen, einen harten Stahl zu erhalten oder

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Kassowitz, Vitalismus und Teleologie.

zu verwenden. Bekam dann das Metall eine bestimmte Form, so geschah dies durch die mechanische Energie, die von der durch irgend einen Motor in Bewegung gesetzten Drehbank auf das Me- tall ausgeübt wurde, nicht aber durch die Absicht des Metall- drehers, eine Schraube oder ein Rad oder ein Gestänge zu fabri- zieren. Das Resultat hängt also nur von dem ab, was geschieht, und nicht von dem, was beabsichtigt wird oder beabsichtigt wurde. Man versuche nur einmal, etwas zu beabsichtigen, ohne die zur Ausführung dieser Absicht nötigen Energien in Bewegung zu setzen, und sehe dann nach, ob dabei etwas herauskommt. Oder man ahme etwas mit Absicht nach, was in der leblosen Natur sich ohne Absicht herausgebildet hat; man grabe also ein Flussbett oder man schleife ein Quarzstück in die Form eines Bachkiesels und sehe nun zu, ob sich in dem Produkt das Vorhandensein einer Absicht irgendwie bemerkbar macht. Ist ein Unterschied in dem Kunst- produkt gegenüber dem Naturprodukt nachweisbar, dann ist er sicherlich nur in der Differenz der zur Aktion gekommenen Energien begründet und das Vorhandensein oder Fehlen des psychischen Vorgangs ist daran ganz sicher unschuldig.

Das Beispiel des natürlichen und künstlichen Flussbettes ist aber auch vortrefflich geeignet, den Denkfehler in der Lehre von den Dominanten oder Systemkräften aufzudecken. Diese sollen sowohl in der vom Menschen konstruierten Maschine als auch im lebenden Organismus tätig sein, und zwar in der Weise, dass sie, ohne selbst materielle Bewegung zu sein, dennoch die in der leben- den und in der toten Maschine ablaufenden Bewegungen lenken und die Richtung bestimmen, in der sie wirksam sein sollen. Wenn diese Lehre richtig wäre, dann würde dies wieder bedeuten, dass ein Massensystem sich doch nicht immer dorthin begeben muss, wo es die geringsten Widerstände findet, sondern dass es auch einmal, bei gleicher Anordnung der Energien oder Bewegungen, unter deren Wirkung es steht, die Richtung zu den größeren Widerständen einschlagen kann, wenn Dominanten oder System- kräfte auf sie einwirken, obwohl diese selber keine materiellen Bewegungen sind und daher auch keine Widerstände bilden und keine Widerstände beseitigen können. Dass eine solche Vorstellung unmöglich ist, liegt klar auf der Hand. Wo sitzt aber der Denk- fehler, der zu einem so unmöglichen Resultate geführt hat? Er liegt ganz einfach darin, dass die Widerstände, welche die Maschinen- teile oder die Formbestandteile der Organismen leisten, nicht zu den Energien gerechnet wurden, weil sie nicht fortwährend mess- bare Arbeit verrichten wie eine sichtbare Massenbewegung. Wenn aber die Ufer eines Flusses verhindern, dass sich das Wasser nach der Seite hin ergießt, und dieses zwingen, in seiner Bewegung dem Flusslaufe zu folgen, so leisten sie fortwährend genau so viel

Kassowitz, Vitalismus und Teleologie. 763

Arbeit, als notwendig ist, um dem Anprall des Wassers zu wider- stehen, und man kann dies sofort demonstrieren, wenn man an irgend einer Stelle die Uferwand beseitigt und nun das Wasser sich nach dieser Richtung ergießt. Diese Widerstände sind also Energien wie alle anderen; sie beruhen auf den Kohäsionskräften der die Ufer bildenden Materialien, und niemand wird daran zweifeln, dass diese Kohäsionskräfte sich in Molekülbewegungen oder Molekül- schwingungen auflösen lassen müssten. Diese Bewegungen sind aber sicherlich dieselben, ob es sich um einen natürlichen oder künstlichen Wasserlauf handelt; und von Systemkräften oder Domi- nanten, welche die Energien des strömenden Wassers beherrschen, ohne selbst Energien zu sein, ist weder in dem einen noch in dem anderen Falle die Rede, obwohl nach Reinke’s Theorien in dem künstlichen Wasserlauf intelligente Kräfte wirksam sein sollten, welche der Wasserbauingenieur in dieselben verpflanzt hat.

Das Resultat dieser Erörterungen lässt sich also dahin zu- sammenfassen, dass die Analogisierung der uns zweckmäßig er- scheinenden Einrichtungen des Organismus mit den zweckmäßig ersonnenen Maschinen an zwei fundamentalen Hindernissen scheitert, nämlich an dem Fehlen eines wissenschaftlichen Nachweises des mit dem Maschineningenieur in Parallele zu stellenden Vergleichs- objektes und dann an der Unfähigkeit einer bloßen Absicht, Be- wegungen materieller Systeme hervorzubringen oder sie von den Bahnen abzulenken, die ihnen durch die auf sie wirkenden Be- wegungen strenge vorgeschrieben sind.

Ist es nun klar, dass die „Zweckmäßigkeit“ der Strukturen und der an sie gebundenen Funktionen nicht auf dem Wege zu- stande gekommen sein kann, den wir eben kritisch beleuchtet haben, so stehen wir vor der Frage: wie sind sie tatsächlich ent- standen?

Bevor wir aber zu ihrer Beantwortung schreiten, wird es nicht überflüssig sein, ausdrücklich zu betonen, dass auch dann, wenn wir überhaupt nicht imstande wären, eine positive Antwort zu er- teilen, wir darin doch keinen Grund erblicken könnten, eine für unhaltbar erkannte Erklärung anzuerkennen. Die Naturwissenschaft besitzt gar nicht den Ehrgeiz, alles zu wissen und alles zu ver- stehen; das überlässt sie ruhig und neidlos dem Glauben. Ihre Aufgabe erblickt sie vielmehr darin, auf der einen Seite so viel als möglich nach streng wissenschaftlichen Methoden festzustellen und die sichergestellten Tatsachen so gut es geht und so weit es mit Hilfe der bisherigen Feststellungen möglich ist, ın einen ver- ständlichen ursächlichen Zusammenhang zu bringen; ihre zweite, nicht minder wichtige Aufgabe besteht aber darin, alle tatsächlichen Feststellungen und alle theoretischen Erklärungsversuche mit kriti-

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schem Auge zu mustern und alles, was der Kritik nicht standhalten kann, wieder zu beseitigen, ohne sich darin durch Opportunität oder Pietät beeinflussen zu lassen.

Solche Rücksichten werden aber nicht nur von den Anhängern der teleologischen Weltanschauung geltend gemacht, welche ja immer, eingestanden oder nicht eingestanden, in dem Glauben an eine personifizierte Schöpfungskraft wurzelt, sondern auch von man- chen Anhängern einer Erklärungsweise, welche, obwohl auf streng naturwissenschaftlicher Basıs entstanden, sich gleichwohl gerühmt hat, die Zweckmäßigkeit der organischen Einrichtungen vollständig erklärt zu haben. Jedermann weiß, dass damit die Lehre von der natürlichen Auslese gemeint ist, und jedermann, der die gegen diese Lehre in den letzten Jahren gemachten Einwendungen objektiv geprüft hat, muss auch wissen, dass sie von irrigen Voraussetzungen ausgegangen -ist und nicht mehr gehalten werden kann. Sie be- ruht nämlich, um das Wichtigste zu rekapitulieren, auf einer falschen Analogie mit der künstlichen Züchtung und hat über- sehen, dass die Natur nicht wie der Züchter imstande ist, minimale Variationen nach einer gewünschten Seite hin, auch wenn sie wegen ihrer Geringfügigkeit noch keinerlei Nutzen gewähren können, heraus- zusuchen; dass sie aber ebensowenig die Mittel besitzt, die Rein- züchtung stärkerer Mutationen, auch wenn sie nützlich sein könnten, durchzusetzen und ihre rasche Beseitigung durch Panmixie zu ver- hindern!). An dieser einmal konstatierten Unmöglichkeit, die Zweckmäßigkeit der organischen Einwirkungen durch die Selektion zu erklären, wird natürlich gar nichts durch die Tatsache geändert, dass diese Lehre noch zahlreiche Anhänger besitzt, von denen die meisten in ihrem festen Glauben an ihre Richtigkeit für eine kri- tische Erörterung überhaupt nicht zu haben sind, während ihre Verteidiger sich bisher die Sache leicht machen, indem sie die alten Argumente unverändert wiederholen und die Gegenargumente mit Stillschweigen übergehen. Doch das ist noch nichts Merk- würdiges; das hat sich noch jedesmal wiederholt, wenn eine po- pulär gewordene Lehre zu Falle gekommen ist. Überraschend da- gegen klingt es, wenn man den Kritikern der Selektionstheorie vorwirft, sie hätten durch ihre Kritik die streng kausale Natur- anschauung in Gefahr gebracht, denn sie hätten in diese eine Bresche gelegt, durch welche die metaphysische Teleologie wieder ihren Einzug gehalten habe.

Auf diesen Vorwurf gibt es nur eine Antwort, nämlich die, dass die Wissenschaft nicht darauf ausgeht, Proselyten zu machen, sondern nur eine einzige Aufgabe kennt: die Wahrheit zu erforschen

I) Ausführlicheres hierüber im zweiten Bande meiner Allgemeinen Biologie („Vererbung und Entwicklung“).

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und Irrtümer zu widerlegen. Wenn jemand der wissenschaftlich unhaltbaren metaphysischen Theorie nur durch eine andere, gleich- falls unhaltbare Lehre abwendig gemacht werden konnte, und wenn er dadurch, dass er nach Beseitigung dieser Ersatzlehre sofort wieder zu seiner ursprünglichen Auffassung zurückkehrt, den Be- weis liefert, dass er vermöge einer angeborenen oder durch Er- ziehung erworbenen Beschaffenheit seines Denkapparates überhaupt zu einer metaphysischen, also nicht streng kausalen Denkungsweise befähigt ist, dann tut er wohl am besten, seine Weltanschauung auf Grund dieser Denkungsweise zu gestalten, weil sie ihm sicher mehr Befriedigung gewähren wird, als die ihm von Haus aus nicht kongeniale „öde“ Mechanistik. Er kann ja trotzdem der beschrei- benden Naturwissenschaft in treuer Hingebung durch Auffindung neuer Tatsachen unschätzbare und unentbehrliche Dienste leisten, wenn er auch nicht den Drang in sich fühlt, ihre logischen Konse- quenzen bis an ıhr Ende durchzudenken. Dabei ist aber die Be- fürchtung, dass die Teleologie wieder zur Herrschaft gelangen müsse, wenn die Selektionslehre beseitigt wird, sicher übertrieben. Denn erstens ist es nicht wahr, dass mit ıhr die einzige Mösglich- keit, die organische Zweckmäßigkeit ohne Metaphysik zu erklären, verschwindet; und dann ist es auch nicht richtig, dass die Selektions- lehre es war, welche seit dem Auftreten Darwın’s dıe Reihen der Anhänger der metaphysischen Teleologie in so auffallender Weise gelichtet hat, sondern es muss dieses Verdienst oder, wenn man will, diese Schuld ausschließlich der Deszendenz- theorie zugeschrieben werden, welche zwar ihren endlichen, fast katastrophenartigen Durchbruch hauptsächlich der bequemen Den- kern so sehr zusagenden Lehre von der Naturauslese verdankte, welche aber jetzt, nachdem sie selbst zur Anerkennung gelangt ist, von der Beseitigung dieser unhaltbaren Hilfsannahme in keiner Weise betroffen wird. Ist aber jemand einmal für die evolutio- nistische Auffassung gewonnen und hat er damit den Gedanken gesonderter Schöpfungsakte aufgegeben, dann ist er auch schon so ziemlich für die metaphysische Lehre einer mit Bewusstsein und Absicht vorgehenden personifizierten Schöpfungskraft verloren, weil er nicht begreifen wird, warum die übermenschliche Intelligenz, welche nicht nur imstande war, die wunderbarsten Vorkehrungen zu ersinnen, sondern auch über die Mittel verfügte, sie ins Werk zu setzen, den langen und mühsamen Weg der Evolution zurück- legen musste, um ihre Ideen und Pläne in die Tat umzusetzen.

Nachdem also gezeigt wurde, dass sowohl die metaphysisch- teleologische Erklärung der zweckmäßigen Einrichtungen als auch die, wie man meinte, mit strenger Kausalität operierende Selektions- theorie unhaltbar geworden sind, stehen wir nunmehr vor der Auf-

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gabe, zu untersuchen, auf welche andere Weise jene Einrichtungen zustande gekommen sein mögen. Aber bevor wir uns endlich dieser Aufgabe widmen, muss zuvor noch etwas berichtigt werden, was zu vielen Missverständnissen und Verwirrungen Anlass gegeben hat, nämlich die Bezeichnung „zweckmäßig“, welche ja eigentlich, wenn man sich genau an den Wortlaut halten will, schon die subjektiv- teleologische Auffassung in sich birgt. „Zweck“ ist nämlich, wie Matzat richtig definiert, eine gedachte oder gewollte Anpassung und zweckmäßig ist alles, was dazu dient, eine gedachte oder ge- wollte Anpassung zu vermitteln‘). Das Wort „zweckmäßig“ prä- judiziert also jene subjektiv-teleologische Auffassung, die wir aus guten Gründen abzulehnen gezwungen sind, und wäre daher, ob- wchl es bereits einen Funktionswechsel vollzogen hat und jetzt gewöhnlich als gleiehbedeutend mit „objektiv nützlich“ verwendet wird, besser zu vermeiden. Es gibt aber dafür noch andere Gründe, welche ich so formulieren möchte, dass nicht alle Einrichtungen und Fähigkeiten der Organismen zweckmäßig und nützlich ‚sind, da sich ja sehr leicht nachweisen lässt, dass viele und manchmal recht verwickelte Anordnungen nutzlos sind, während andere sich als ausgesprochen schädlich erweisen.

So ist z. B. Molisch nach einer sehr eingehenden Unter- suchung über leuchtende Pflanzen zu dem Resultate gelangt, dass eine biologische Bedeutung des Leuchtens der Bakterien und höheren Pilze nicht erkennbar sei und dass man daher die Lichtentwicke- lung als eine zufällige Konsequenz des Stoffwechsels ansehen müsse?). Außerordentlich frappierend und für unsere Frage von großer Be- deutung ist ferner die Mitteilung von H. Fischer, dass er vier Wochen in einer Gegend zugebracht habe, wo er fast täglich Tau- sende von Drosera-Pflanzen, noch dazu in üppiger Entwickelung, zu sehen bekam, dass er aber nur nach langem Suchen ab und zu ein Blatt auffinden konnte, das seinen „Zweck“ erfüllt und ein winziges Tierchen gefangen hatte’). Der ganze so „sinnreiche“ Fangapparat und die für eine Pflanze doch recht ungewöhnliche Sekretion eines eiweißspaltenden Verdauungssaftes hätten also für die Ernährung eine so minimale Bedeutung, dass man sie füglich als zwecklos bezeichnen könnte. Aber auch der herrliche Gesang mancher Singvögel, welcher einen so außerordentlich komplizierten neuromuskulären Apparat erfordert, bleibt, vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit für die Vögel, ziemlich unverständlich, weil wir ja sehen, dass nahe verwandte Arten, die nur die Fähigkeit eines lächer- lichen Piepens besitzen, sich ebenso fortpflanzen wie ihre stimm-

1) Matzat, Philosophie der Anpassung etc. 1903, S. 97. 2) H. Molisch, Ref. in Naturw. Rundschau 1904, S. 512. 3) H. Fischer, Biol. Centralbl. 25. Bd., S. 332.

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begabten Vettern. Wenn man aber wieder annehmen wollte, dass das Ganze nur zu dem Zwecke ersonnen und konstruiert wurde, um das Herz des Menschen im Frühling zu erfreuen, dann müsste man dasselbe Erklärungsprinzip auch auf die Abendbeleuchtung, auf die Gletscherwelt, auf die Eisblumen an unseren Fenstern und auf andere unseren ästhetischen Sinn anregende Erscheinungen der leblosen Natur anwenden, und die Formen der Eiskristalle oder das starke Lichtbrechungsvermögen der Diamanten hätten nicht bloß physikalische, sondern auch Nützlichkeitsgründe, wobei freilich nicht an die Nützlichkeit für sie selber, sondern nur für den Men- schen gedacht werden könnte.

Aber selbst wenn man sich entschließen würde, ein so warmes Interesse der teleologischen Weltvernunft nicht bloß für die leib- lichen, sondern auch für die geistigen Bedürfnisse des Menschen vorauszusetzen, käme man doch wieder in große Verlegenheit, wenn man verstehen wollte, warum nicht nur die meisten Tiere und Pflanzen, sondern auch der so besonders in Gunst stehende Mensch die Eignung besitzt, als Wirtsorganismus für eine Unzahl von Parasiten zu dienen, welche sich an der Oberfläche und ım Innern des Körpers ansiedeln, speziell den Menschen in der raflı- niertesten Weise quälen (Krätzmilben und anderes Ungeziefer, Trichinen, Blasenwürmer, Starrkrampfbazillen ete.) und nicht selten seinen frühzeitigen Tod herbeiführen. Alle diese Schmarotzer be- sitzen aber die wunderbarsten, mitunter geradezu wie ausgeklügelt erscheinenden Einrichtungen und Anpassungen und auch der Mensch muss gewisse Eigenschaften und Modifikationen nachträglich erlangt haben, um als Wirtsorganismus für eine ganze Reihe verderb- licher Krankheitserreger dienen zu können, gegen welche alle niedriger stehenden Organismen völlig immun sind. Wenn man also fort und fort auf die wunderbare Zweckmäßigkeit der orga- nischen Einrichtungen hinweist und daraus die Notwendigkeit eines mit Absicht vorgehenden Schöpfungsprinzipes ableiten will, dann muss man uns doch auch die Frage gestatten, ob diese Zweck- mäßigkeit für den Wirtsorganismus oder den Parasiten, für das Raubtier oder seine Beute, für den Besitzer der Krallen und Zähne oder für den Zerfleischten, für den Giftproduzenten oder für den Vergifteten, für den Pflanzenfresser oder für die Pflanze berechnet ist. Gibt es aber vom Standpunkte der metaphysischen Teleologie keine vernünftige Antwort auf diese Fragen, dann verschone man uns, wenigstens solange wir uns auf naturwissenschaftlichem Boden bewegen, mit der Fibelweisheit der in der Schöpfung waltenden wunderbaren Harmonie und mit dem Lobe der Zweckmäßigkeit, welche so häufig auf dem Negativbilde eine recht wenig Lob ver- dienende Unzweckmäßigkeit erblicken lässt.

Viel besser als der so eminent subjektive Begriff der Zweck-

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mäßigkeit eignet sich für die objektive Untersuchung ein anderer, nämlich die Fähigkeit der Selbsterhaltung, welche sich in einzelne Erhaltungsfaktoren auflösen lässt, deren Zahl mit der ın der auf- steigenden Reihe zunehmenden Kompdliziertheit der Strukturen und der Lebensbedingungen zu einer fast unübersehbaren Größe heran- wächst. Dieser Begriff der Selbsterhaltung enthält für mein Em- pfinden nichts von vornherein Teleologisches, sondern nur eine Konstatierung der Tatsachen etwa in dem Sinne, wie man auch sagen kann, dass das Meer, die Flüsse, die Gletscher, der Wald- brand sich selber erhalten, ohne dass jemand hier ernsthaft daran denken könnte, in dieser Erhaltung eine teleologische Absicht zu erblicken. Dass aber in der Fähigkeit der Selbsterhaltung, die man den Organismen zuschreibt, nichts Teleologisches enthalten sem muss, das geht am klarsten daraus hervor, dass jeder Organismus ohne irgendeine denkbare Ausnahme neben der Fähigkeit der Selbsterhaltung zugleich auch die Unfähigkeit, sich über ein ge- wisses Zeitmaß hinaus zu erhalten, besitzt, und dass dieses Zeitmaß nur bei den wenigsten, nämlich bei denen, die an Altersschwäche sterben, mit der äußersten Altersgrenze zusammenfällt, weil auf ein Individuum, das diese Grenze erreicht, Tausende und Tausende kommen, die im Stadium der Keimzelle oder als Larven und Jugend- formen oder auf der Höhe ihrer Reife zugrunde gehen, bei denen also die ganze große Summe der Erhaltungsfaktoren auf einmal versagt. An diese Tatsache, die jedermann bekannt ist und die sogar eines der Fundamente der Darwin’schen Selektionstheorie bilden sollte, ‘scheinen diejenigen vergessen zu haben, welche die Fähigkeit der Selbsterhaltung als eine Gabe betrachten, die die schöpferische Weltseele entweder jedem Einzelorganismus als Ge- burtsgeschenk überreicht oder an irgendeiner Stelle seiner Ahnen- reihe als von nun an weiter zu vererbendes Besitztum verliehen hat. Sowie man aber diese notorische Tatsache nicht ignoriert, müsste man logischerweise auch die jedem Einzelorganismus und selbst den Arten und Gattungen immanente Unfähigkeit der. Selbsterhaltung als eine teleologische Absicht betrachten und dieses notgedrungene Zugeständnis würde dann in weiterer Konsequenz mit Hinsicht auf das enorme numerische Überwiegen des frühzeitigen Versagens der Erhaltungsfaktoren und auf das so häufig zur Unzeit und unter un- säglichen Qualen erfolgende Ende der Erhaltungsfähigkeit geraden Weges zu blasphemischen Urteilen über die stümperhafte Unge- schicklichkeit oder die kalte und raffinierte Grausamkeit eines mit Bewusstsein und Absicht vorgehenden teleologischen Prinzipes führen, wenn man nicht gar zu dem uralten Antagonismus zwischen Ormuzd und Ahriman, von guten und bösen Dämonen oder ähn- lichem zurückgreifen will. Ich wenigstens finde selbst den ödesten Mechanismus, der uns lehrt, die Leiden der Menschheit als kausal

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bedingt anzusehen, der uns also nahe legt, sie, soweit es in unserer Macht steht, durch Beseitigung ihrer Ursachen zu verringern, sonst aber uns ins Unvermeidliche zu fügen, unvergleichlich versöhnlicher und tröstlicher als den peinigenden Gedanken an die unerforsch- lichen Fügungen einer grausamen und unerbittlichen Teleologie.

Schreiten wir nun, auf streng kausalem Standpunkte fußend, zur Analyse der Erhaltungsfaktoren der lebenden Organismen, so stoßen wir zunächst auf solche, bei denen der Nexus nicht nur offen zutage liegt, sondern von der Art ist, dass er als notwendige und unmittelbare Folge der fundamentalen Bedingungen des Lebens erkannt werden muss. Ein solcher Erhaltungsfaktor ist z. B. darin gelegen, dass die durch die Reize zerstörten Teile der Protoplasma- struktur sofort durch Wiederaufbau auf Kosten geeigneter Nahrungs- stoffe ersetzt werden. Diese Eigenschaft der lebenden Substanz ist natürlich in hohem Grade nützlich und zweekmäßig, ja sie ist mehr als das, sie ist unbedingt notwendig, weil ohne sie über- haupt das Leben und die Lebensprozesse nicht denkbar wären. Aber deshalb, weil etwas nützlich und notwendig ist, muss es noch nicht geschehen, sondern damit es geschehe, müssen bestimmte mechanische Bedingungen vorhanden sein, die sich weder um Nütz- lichkeit noch um Notwendigkeit kümmern. In unserem Falle be- stehen nun die Bedingungen darin, dass dieselben Reize, welche die Zerstörung von Protoplasmateilchen herbeiführen, eben durch diese Zerstörung eine Lockerung der physikalischen Struktur des Protoplasmas bewirken, wodurch dieses für Flüssigkeiten durch- gängiger wird. Infolgedessen strömt aber das mit nährenden Sub- stanzen beladene Hygroplasma mit größerer Energie zu den noch erhalten gebliebenen Teilen des protoplasmatischen Netzwerkes und dann muss dasjenige geschehen, was jederzeit geschieht, wenn assimilationsfähiges Protoplasma mit assimilierbaren Nahrungsstoflen zusammentrifft, nämlich eine Neubildung von Protoplasma. Teleo- logisch gesprochen ist also hier wirklich, wie Pflüger gemeint hat, die Ursache des Bedürfnisses zugleich auch die Ursache der Befriedigung des Bedürfnisses!). Während aber in diesem Satze nichts anderes enthalten ist, als die Konstatierung einer Tatsache, die in dieser Formulierung eigentlich unverständlich bleibt, enthält unsere Analyse der Bedingungen des Geschehens zugleich auch eine das Kausalitätsbedürfnis befriedigende Erklärung des Zusammen- hangs zwischen den einzelnen Komponenten des beobachteten Vorgangs.

Hier haben wir also ein zweckmäßiges Geschehen vor uns, welches nicht nur, wie alles, was geschieht, kausal begründet ist,

1) Pflüger, Die teleologische Mechanik der lebendigen Natur. 2. Aufl., 1897, 8.37. XXV. 19

770 Kassowitz, Vitalismus und Teleologie.

sondern insofern geradezu zwangsmäßig erfolgt, als ein anderes (seschehen unter den gegebenen Bedingungen überhaupt nicht ge- dacht werden kann. Hier ist keine Alternative zwischen zwei und auch keine Auswahl zwischen mehreren Möglichkeiten gegeben und es ist daher in diesem Falle eine blinde Naturauslese ebenso- wenig denkbar, wie eine Auswahl der Mittel durch einen auf einen Zweck losgehenden bewussten Faktor. So wie die Dinge einmal stehen, kann die Zerstörung der Protoplasmateilchen keine andere Folge haben, als eine leichtere Durchströmbarkeit des Protoplasmas, und diese kann wieder nichts anderes bewirken als eine Erleichte- rung der Zufuhr der Baumaterialien und damit auch eine Erleichte- rung der Rekonstruktion der zerstörten Teile.

Solche zwangsmäßig entstehende Erhaltungsfaktoren, die man auch als prımär inhärente bezeichnen könnte, sind nun in der Organısmenwelt sehr stark verbreitet. Als es sich z. B. darum handelte, die elektive Aufnahme von Nahrungsstoffen im tierischen Darmkanal und von seiten der pflanzlichen Wurzelhaare auf kau- salem Wege und ohne Zuhilfenahme eines metaphysischen oder psychischen Elementes zu erklären, haben wir gezeigt, dass es sich in beiden Fällen nur um die Neubildung von Protoplasmen auf assımilatorischem Wege handeln könne, und bei einer solchen ist es natürlich von Wichtigkeit, dass nur Substanzen aufgenommen werden, welche zum Aufbau des Protoplasmas dienen könne, dass aber fremdartige und unbrauchbare Stoffe zurückgewiesen werden. Die Assımilation beruht aber nach unserer Auffassung auf der assimilatorischen Energie schon vorhandener Protoplasmamoleküle, welche in vorläufig noch seltenen Beispielen auch in der anorganischen Natur zu beobachten ist und sich darin äußert, dass die Synthese neuer Atomverbindungen aus den vorhandenen Bau- stoffen unter dem Einfluss und nach dem Ebenbilde der assimila- torisch wirksamen Moleküle vor sich geht. Diese Energie wirkt also naturgemäß nur auf jene Atome und Atomverbindungen, welche im assimilierenden Molekül vertreten sind, und lässt alle anderen unbehelligt; so dass also auch hier die Erreichung des Zweck- mäßigen und die Vermeidung des Unzweckmäßigen auf ganz natür- lichem Wege und ohne metaphysische Hilfe, aber auch ohne denk- bares Eingreifen des Selektionsprinzipes erfolgt, weil die Vorstellung einer assimilatorischen Energie, welche die fremdartigen Stoffe anzieht und die zur Assimilation geeigneten abstößt, etwas völlig Sinnwidriges enthalten würde.

Ein besonderes instruktives Beispiel eines primär inhärenten Erhaltungsfaktors bietet auch die größere Beweglichkeit der kleinen Tiere, welche nach teleologischer Auffassung den Zweck haben soll, dem größeren Wärmeverlust kleiner Körper entgegenzuwirken, welche aber tatsächlich einen ganz anderen Grund hat, als eine

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Befriedigung dieses Bedürfnisses, weil sie auf der Kürze der Reflex- bahnen beruht, infolge deren sämtliche Reflexketten, also die Herz- und Respirationsbewegungen, sowie auch die Schwimm-, Lauf- oder Flugbewegungen in einem viel rascherem Tempo ablaufen müssen, als bei den großen Tieren mit ihrem entsprechend längeren zentri- petalen und Sanbnlen Nervenbahnen!). Wir sehen also hier wieder einen eminent zweckmäßigen Erhaltungsfaktor, welcher aber auf das bestimmteste, ja ger adezu zwangsmäßig durch die gegebenen Bedingungen, nicht aber durch den von ihm zu erwartenden Nutzen determiniert ist. Ein kleines Tier kann unmöglich längere Nerven- bahnen besitzen als«ein größeres, sondern immer nur kürzere; Reflexketten mit kleinen Reflexbogen können bei gleicher Ge- schwindigkeit der Nervenleitung niemals langsamer, sondern immer nur schneller ablaufen als solche mit längeren Bahnen; folglich muss die durch die Muskelaktionen gegebene Wärmeproduktion bei kleinen Tieren, auf dasselbe Gewicht berechnet unbedingt größer sein, ganz unabhängig davon, ob ein Bedürfnis nach mehr Wärme vorhanden ist oder nicht. Das ist ın diesem Falle so in die Augen springend, dass es gar nicht des Hilfsargumentes bedürfte, welches darin gelegen ist, dass auch die kleinen Kaltblüter raschere Be- wegungen machen und mehr Wärme produzieren als die großen, obwohl bei beiden die Wärme den Körper unbenützt verlässt. Es hat also, da sich die Wärmeregulierung der Homöothermen offen- bar erst spät herausgebildet hat, die scheinbar zweckmäßige, das Wärmebedürfnis befriedigende Einrichtung schon zu einer Zeit be- standen, wo von einem solchen Bedürfnis noch gar nicht die Rede sein konnte. Dazu kommt aber noch, dass dieselben raschen Be- wegungen der kleineren Tiere, welche man für eine klug berechnete Schutzvorrichtung gegen die Abkühlung gehalten hat, etwas anderes zur Folge haben müssen, was die gegenteilige Wirkung hervorruft, nämlich eine geringere Fettablagerung und daher auch eme ge- ringere Ausbildung des der Wärmeausstrahlung entgegenwirkenden Fettpolsters der Haut, welcher Übelstand auch tatsächlich von Rubner konstatiert werden konnte. Es können also nicht nur positive Erhaltungsfaktoren, sondern auch ihr Gegenteil inhärent sein und die Existenzmöglichkeit wird eben davon abhängen, ob die positiven oder die negativen Faktoren überwiegen.

Ein negativer Faktor ıst z. B. darin gelegen, dass derselbe Flüssigkeitsstrom, welcher den Überschuss des von den Darmzellen nicht assimilierten Nahrungszuckers in dıe Leber befördert und da- durch die Schaffung einer Glykogenreserve ermöglicht, auch andere stark diffusible Stoffe, welche durch ihre Giftwirkung schwere Er- krankung oder auch den Tod herbeiführen können, in den Kreis-

1) Näheres hierüber im dritten Bande der Allgemeinen Biologie, S 217 u. 372.

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lauf gelangen lässt. Dieselbe Einrichtung also, welche in den meisten Fällen die Fähigkeit der Selbsterhaltung bedingt, kann unter gewissen Umständen die Unfähigkeit der Selbsterhaltung zur Folge haben.

Während aber ın allen bisher erwähnten Fällen die zweckmäßig oder auch gelegentlich unzweckmäßig erscheinende Wirkung unmittelbar und augenblicklich zustande kommt, bedarf es in an- deren Fällen einer Summierung wiederholter Einwirkungen, um einen sichtbaren Effekt nach der einen oder der anderen Richtung herbeizuführen. Das lässt sich z. B. am Muskel recht gut demon- strieren, welcher infolge wiederholter Arbeitsleistung eine Vermeh- rung und Verstärkung seiner wirksamen Bestandteile, mithin eine solche Veränderung erfährt, dass er nunmehr zu Leistungen be- fähigt ist, die er vor der Übung oder Trainierung nicht aufzubringen imstande gewesen wäre. Auch das hängt, wenigstens zum Teil, mit der Begünstigung des Zuflusses der Ernährungssäfte durch die Reizung des Protoplasmas zusammen. Wenn jeder Reiz die Durch- strömbarkeit des Protoplasmas erhöht, dann muss durch sehr häufig wiederholte Reizung ein verstärktes Zuströmen von Ernährungs- material zum ganzen Muskel resultieren und dieses wird nicht nur ein stärkeres Wachstum des Muskels, ‚sondern außerdem auch wieder rein automatisch und ohne zielbewusste Absicht eine Erweiterung und Vermehrung der den Muskel versorgenden Blut- bahnen zu Folge haben '!), womit dann ein reichlicheres Zuströmen von Säften auch unabhängig von den Einzelreizen gesichert ist. Wird aber der Muskel durch allzu zahlreiche Reize übermäßig in Anspruch genommen, dann kann die vermehrte Durchströmbarkeit seiner Gewebe in einen schmerzhaften Entzündungszustand über- gehen, welcher die Leistungsfähigkeit beeinträchtigt oder auch gänz- lich vernichtet. Auch diese Veränderungen erfolgen nicht etwa zu dem Zwecke, um den Besitzer der Muskeln vor Überanstrengung zu warnen, sondern sie sind die notwendige Folge einer unabänder- lichen Kausalität, die hier sowohl auf der positiven als auf der negativen Seite ziemlich gut durchblickt werden kann.

Dasselbe gilt auch von einer anderen wichtigen funktionellen Anpassung, nämlich von der Steigerung der Erregbarkeit der Nerven infolge ihrer wiederholten Reizung. Auch hier lässt sich, wie im vierten Bande meiner Biologie dargelegt wird, auf Grund der metabolischen Auffassung des Nervenprozesses der Mechanismus dieser Anpassung ziemlich genau aufzeigen und ebenso ist man imstande, die dys- teleologische Seite dieser Vorgänge, nämlich die durch allzu häufige Inanspruchnahme herbeigeführte Ermüdung und Lähmung auf das- selbe Prinzip zurückführen wie die scheinbar teleologische, nämlich

I) Vgl. den zweiten Band der Allgemeinen Biologie, S. 44 ff.

Kassowitz, Vitalismus und Teleologie. 173 auf das Verhältnis zwischen Zerfall und Wiederaufbau des in den Leitungsbahnen enthaltenen Nervenprotoplasmas.

Auch die adaptiven Veränderungen, welche zur Stärkung von schützenden Deckgebilden führen, verlangen eine durch längere Zeit fortgesetzte Summierung der sie hervorrufenden Einwirkungen. Die Verdiekung der Epidermis an den Fußsohlen, welche nach Living- stone’s Beobachtung bei seinen, schwere Lasten tragenden Negern auffallende Dimensionen annahm, die Bildung von Schwielen an den Händen der Ruderer und vieler Handwerker, die Knieschwielen der zahmen Kameele die übrigens wie die Verdiekung der Fuß- sohlen beim Menschen als unanfechtbare Beispiele von Vererbung erworbener Eigenschaften bereits erblich fixiert sind, während die wilden Kameele nichts derartiges zeigen alle diese Veränderungen werden sicherlich durch wiederholte Druckwirkung auf die unter der Oberhaut befindlichen Protoplasmen hervorgerufen und erweisen sich, ohne Selektion und ohne Metaphysik, als recht zweckmäßige Einrichtungen, während sie, wenn sie unter derselben, aber über- mäßig gesteigerten Einwirkung krankhafte Formen annehmen, als Leichdorne und als schmerzhafte Schwielen die Funktion in hohem Grade beeinträchtigen.

In allen bisher besprochenen Fällen wurden die vorteilhaften Abänderungen durch dieselben Einwirkungen hervorgerufen, gegen welche sie sich eben als vorteilhaft erweisen. Dieser direkt zweck- mäßigen Reaktion stehen aber andere gegenüber, welche zwar ebenfalls auf mechanisch-kausalem Wege durch bestimmte Ein- wirkungen hervorgerufen werden, welche aber, einmal entstanden, ihren Nutzen für den Organısmus in einer ganz anderen Richtung entfalten. Es wurde z. B. beobachtet, dass ein Lemming, der im Sommer einen dunkeln, im Winter aber einen weißen Pelz besitzt, auch im Winter dunkel bleibt, so lange man ıhn in der warmen Stube zurückhält, aber schon nach wenigen Wochen wieder weiß wird, wenn man ihn im Freien der Winterkälte aussetzt. Will man nun die weiße Haarfärbung der Polartiere als Schutzfärbung ansehen, dann hätten wir hier einen Fall, wo nicht dieselbe Ein- wirkung zugleich das Bedürfnis und die Abhilfe dagegen hervorruft, weil das Schutzbedürfnis durch die weiße Farbe des Schnees, die Schutzfarbe dagegen in vorläufig noch nicht aufgeklärter Weise durch die Kälte herbeigeführt wird. Freilich besteht eine etwas weitere Beziehung auch hier, indem die Kälte zugleich die weiße Schneedecke und die Winterfärbung des Pelzes hervorbringt. Für die Annahme einer metaphysischen Teleologie ist aber auch hier nicht das kleinste Pförtchen geöffnet.

Ähnliche Verhältnisse hat Goebel vielfach bei Pflanzen be- obachtet und hat wiederholt auf Fälle hingewiesen, wo Reaktionen auf Reize entstehen, die mit dem durch die Reaktion bedingten

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174 Kassowitz, Vitalismus und Teleologie.

Nutzen in keinem direkten Verhältnisse stehen. So bilden sich die Geschlechtsorgane der Farne immer auf der unteren beschat- teten Seite der Prothallien, und zwar nachgewissenermaßen unter dem Einflusse des Lichtmangels. Der Vorteil liegt aber darin, dass gerade hier das zur Befruchtung notwendige Wasser mehr zur Verfügung steht als auf der Oberseite. So haben ferner manche Ranunkulazeen an den Blättern, welche den Boden zu durchbrechen haben, ein Kniestück mit einem zu dieser Funktion sehr geeig- neten resistenteren Gewebe. Aber dieses entwickelt sich nicht etwa durch die direkte Anpassung an das Durchbrechen der Erde, sondern wieder infolge von Liehtmangel, unter dessen Einfluss es sich auch in dem Falle bildet, wenn kein Erdwiderstand zu über- winden ist }).

Solche indirekt auftretende Nützlichkeiten werfen aber auch ein helleres Licht auf die große Zahl von morphologischen und funktionellen Eigentümlichkeiten, bei denen selbst der eifrigste und leichtgläubigste Teleologe keinen Nutzen für ihre Besitzer heraus- zuklügeln vermag. So wie die hier aufgezählten indirekt ent- standenen Erhaltungsfaktoren nicht für das Bedürfnis und auch nicht durch das Bedürfnis zustande kommen, sondern einzig und allein durch den Komplex von Bedingungen, die im Organismus selbst und in der auf ihn wirkenden Außenwelt gegeben sind, so kommen sicherlich auch viele nutzlose und gewiss auch viele schäd- liche Eigenschaften auf dieselbe Weise zustande und der Unter- schied ist nur der, dass einige oder sehr viele der mechanisch- kausal entstehenden Eigenschaften dem Organismus nützlich, andere dagegen für seine Erhaltung gleichgültig sind, während noch andere (z. B. die das Genus homo auszeichnende Fähigkeit, an Cholera, Diphtherie, Blattern, Scharlach etc. erkranken und sterben zu können) die Selbsterhaltung in höherem oder geringerem Grade gefährden.

Zum Glück überwiegen aber doch bei vielen Individuen die Erhaltungsfaktoren über die Vernichtungsfaktoren und sie kommen dadurch in die Lage, ım Laufe des Lebens die Summe derjenigen Erhaltungsfaktoren noch zu vermehren, welche nicht schon von Haus aus zu den primär inhärenten gehören, sondern erst allmählich durch Summierung der äußeren Einwirkungen und der inneren Korrelationen erworben werden können. Diese individuell erwor- benen Anpassungen sind gewiss nicht nur beim Menschen und den höhern Tieren, welche bekanntlich durch Dressur, Erziehung, Be- lehrung und Erfahrung während ihres Lebens bedeutende Modi- fikationen erfahren können, sondern auch bei niederstehenden Tieren und selbst bei Pflanzen von Bedeutung, weil man nach-

1) Goebel, Biol. Centralbl. 24. Bd., S. 783ff.

Kassowitz, Vitalismus und Teleologie. 775 .) oO

gerade zu der Überzeugung gelangt, dass viele adaptive Eigen- tümlichkeiten, z. B. die erwähnte Winterfärbung der Polartiere oder gewisse Schutzeinrichtungen der Alpenpflanzen noch immer bei jedem Einzelindividuum durch äußere Einwirkungen hervor- gerufen werden und daher ausbleiben, wenn diese Einwirkungen durch Änderungen des Milieus ausgeschaltet werden. Aber eine ungeheuer große Zahl von Erhaltungsfaktoren, welche nicht zu den primär inhärenten gezählt werden können, sondern der Natur der Sache nach wie die dicke Fußsohlenhaut oder die Knie- schwiele der zahmen Kameele, aber auch die Nervenbahnen und die zentralen Verbindungen derselben nur durch äußere Ein- wirkungen und Reize hervorgerufen oder weiter ausgebildet worden sein konnten, werden sicherlich nicht erst ın jedem individuellen Leben erworben, sondern sind entweder schon ın vollster Aus- bildung bei der Geburt vorhanden oder kommen zwar, wie andere ontogenetische Charaktere, erst im Laufe der individuellen Ent- wicklung zum Vorschein, aber doch in der Weise, dass es keinem Zweifel unterliegen kann, dass die Bedingungen für ihre Ent- wicklung schon im Keime enthalten waren. Dazu gehören z. B. alle angeborenen Reflexe und Reflexketten, die der Ernährung, der Zirkulation, der Atmung, der Lokomotion, der Fortpflanzung u. s. w dienen, mit Einschluss der dazu gehörigen Nervenbahnen, die in so eminentem Maße auf individueller Anpassung durch Ubung oder „Bahnung“ basieren. In allen diesen Fällen kann es sich also nur um die Vererbung von Anpassungen handeln, die allmählich während der ungeheueren Zeit der Stammesentwickelung erworben worden sind; und wenn nun trotz des erdrückenden Beweismaterials für die große Häufigkeit dieser Vererbung dennoch von mancher Seite behauptet wird, dass in keinem einzigen Falle der Beweis für die Vererbung erworbener Eigenschaften erbracht worden sei, so kann man nur sagen, dass man sich mit einer solchen Behauptung direkt gegen die Wahrheit versündigt. Der Leser möge sich nicht die Mühe verdrießen lassen, im zweiten Bande meiner Biologie die Kapitel, welche von den erblichen Anpassungen, den angeborenen Nervenmechanismen und den direkten Beweisen für die Vererbung erworbener Eigenschaften handeln, nachzulesen und er wird mir sicher- lich recht geben, wenn ich die Bestrebungen, dieses ganze ungeheure Beweismaterial ohne den Versuch einer Kritik mit einem Feder- striche zu beseitigen, mit strengen Worten verurteile. Wenn etwas imstande wäre, dieser so ernsten Sache auch eine heitere Seite abzugewinnen, so wäre es der Hinweis auf die ganz unglaubliche -Inkonsequenz, welche darin liegt, dass man immer die große Autorität Darwın's ins Treffen führt, wenn es sich darum handelt, die unleugbare Wirkung jener Bedenken abzuschwächen, welche in immer drängenderer Weise gegen die Selektionshypothese vor-

776 Kassowitz, Vitalismus und Teleologie.

gebracht werden, dass man aber auf der anderen Seite die zweifel- lose Bedeutung Darwin’s als Beobachter und als Sammler von Tatsachen herabzusetzen oder zu ignorieren bereit ist, wenn auf die zahlreichen und gewichtigen Tatsachen hingewiesen wird, die gerade er als Beweise für die Vererbung erworbener Eigenschaften beigestellt hat.

Wenn ich mich aber frage, welche Motive einem so merk- würdigen Vorgehen zugrunde liegen mögen, so kann ich wieder nur vermuten, dass alles dies sicherlich unbewusst ad majorem metaphysicae gloriam geschieht. Alle nämlich, welche geneigt sind, die organische Zweckmäßigkeit mit Hilfe von meta- physischen Prinzipien zu erklären, müssen instinktiv fühlen, dass sie mit der Anerkennung der Vererbung individuell erworbener Anpassungen eines der wichtigsten Fundamente ihrer Lehre preis- geben müssten. Denn wenn wir auch gezeigt haben, dass wichtige und fundamentale Zweckmäßigkeiten einem jeden lebenden Wesen schon mit der Tatsache, dass es lebt und sich im Besitze lebender Protoplasmen befindet, eo ipso zugeteilt sind, und wenn es auch sicher ist, dass manche zweckmäßige Anpassungen nicht ererbt, sondern erst im Laufe des Lebens erworben werden, so ist es doch ebenso sicher, dass gerade die wichtigsten und wegen ihrer besonders auffallenden Zweckmäßigkeit „berühmtesten“ Erhaltungs- faktoren nur durch Erblichwerden individueller Anpassungen zu- stande gekommen sein können; es wäre denn, dass man sich die Sache bequem machen und sie durch ein anımistisch-teleologisches Wunder entstehen ließe. Deshalb und besonders seitdem die Selek- tionstheorie ins Wanken gekommen ist, ist die Vererbung erwor- bener Eigenschaften den metaphysisch Veranlagten förmlich ein Dorn ım Auge, weıl sie fühlen, dass ihnen aus der wissenschaft- lichen Begründung und Vertiefung des Lamarck’schen Prinzipes ein viel gefährlicherer Gegner erwächst als aus der von Haus aus auf morschen Grundlagen aufgebauten Selektionstheorie.

Ist aber die Vererbung erworbener Eigenschaften trotz aller dieser Gegenbemühungen als sicher erwiesen zu betrachten, dann ist es auch nicht richtig, dass, wie behauptet wurde, nach Be- seitigung der Selektionshypothese eine mechanisch-kausale Er- klärung für die fortschreitende Entwickelung der Organismenwelt unmöglich geworden sel. Wenn nicht alle Veränderungen, die der Organısmus ım Laufe seines Lebens erfährt, mit seinem Tode wieder verloren gehen, sondern ein Teil derselben sein Keimplasma ın der Weise ınfluenziert, dass diese Veränderungen in den sich aus ihm entwickelnden Individuen wieder zum Vorschein kommen, dann ist esgarnichtanders denkbar, als dass sich solche Veränderungen im Laufe dersich über Aonen erstreckenden Stammesentwickelungimmer mehr und mehr anhäufen und dass endlich daraus jene hochentwickelten

Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. TI

Organismen resultieren, deren unglaublich komplizierte Struk- tur und deren unübersehbare Zahl von adaptiven Einrichtungen wir staunenden Auges bewundern. Dieses Staunen und diese Bewun- derung wird aber keineswegs geringer, sondern steigert sich viel- mehr zu höchster ästhetischer Befriedigung, wenn es immer mehr und mehr gelingt, in diesen scheinbar unlöslichen Verwickelungen die wahren kausalen Zusammenhänge zu entwirren; und ich möchte das Glücksgefühl jener Momente, in denen es mir beschieden war, meinen bescheidenen Teil zu dieser Entwirrung beizutragen, um keinen Preis mit den Freuden vertauschen, welche den Meta- physikern aus den unsicheren Schöpfungen ıhrer Phantasie erblühen mögen. Diese Entwirrung wird, ich zweifle nicht daran, durch die unermüdliche Forschungsarbeit des Biologen und Physiologen immer größere und größere Fortschritte machen, weil die Naturforschung nicht, wie einer der eifrigsten Aposteln des Neovitalismus be- hauptet hat!), ihre Aufgabe darin erblicken kann, die Grenzen zwischen dem Erkennbaren und dem Nichterkennbaren festzustellen, sondern weil sie durch ihre Tätigkeit die Grenzen des Erkenn- baren immer weiter hinausrückt.

Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. (Vorläufige Mitteilung.) Von Dr. F. Schwangart. (Aus dem zoologischen Institut der Universität München.) (Schluss.

Der Bezirk, von dem aus die Dotterzellen einwandern, liegt bei Endromis, wie oben gezeigt worden ist, zum großen Teil auf der Dorsalfläche des Eies und dehnt sich von hier auf die Vorderfläche aus, ohne den vorderen Pol zu erreichen. Die Em- bryonalanlage, aus der sich später die „Entodermkeime* und das Mesoderm entwickeln, wird dagegen auf der Ventralfläche ge- bildet; sie erreicht weder den vorderen noch den hinteren Pol. Die Gestaltveränderungen, denen sie später unterworfen ist, kommen für die Frage nach ihrer Lagebeziehung zur Ursprungsstelle der Dotterzellen nicht in Betracht; denn sie versinkt bald in den Dotter und löst sich dabei vollkommen von dem Rest des Blastoderms (der „Serosa“). Die Ursprungsstelle der Dotterzellen und das Zellmaterial, welches in die Bildung jenes später auftretenden Blastoporus eingeht, sind also in dem Stadium, in dem die Dotter- zellen einwandern, eine beträchtliche Strecke voneinander entfernt.

Bei ihrer Differenzierung unterscheidet sich die Embryonal-

l) Reinke, Biol. Centralbl. 24. Bd., S. 600.

718 Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren.

anlage vom Rest des Blastoderms histologisch nur durch die größere Zahl und die geringere Größe ihrer Zellen. Der Unterschied in der Zellenzahl wird sicherlich zum Teil dadurch hervorgerufen, dass von vornherein dem Embryonalbezirk etwas mehr Zellen zu- geteilt werden und dass dort mehr Mitosen vorkommen als an an- deren Stellen. Es kommt aber noch ein anderer Faktor in Betracht: Die Zellen des Blastoderms haben die Tendenz nach dem Embryonalbezirk hin zusammenzurücken!). Man kann sich davon auf Schnittserien verschiedener Stadien nach Vollendung der Blastodermbildung überzeugen: Die Dorsalseite bleibt trotzdem

Fig. 5.

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Embyonalanlage Ventral

Sagittalschnitt. Lage des Blastoporus bei Beginn der Sonderung der Embryonalanlage.

von Zellen bedeckt, da die Zellen dort während dieses Prozesses größer werden.

Nimmt nun das Zellmaterial an der Ursprungsstelle der Dotter- zellen an dieser Bewegung nach der Ventralseite hin teil? Ge- winnt es vielleicht dadurch Anschluss an das Vorderende der Em- bryonalanlage? Damit hätte es zugleich Anschluss an diejenige Region der Embryonalanlage gewonnen, wo sich später die als Blastoporus gedeutete „Entomesoderm- inne“ öffnet; diese Rinne öffnet und schließt sich nämlich zu-

1) Die gleiche Tendenz hat Uzel bei Campodea und Lepisma, und was besonders wichtig ist Knower bei einem Pterygoten (Entermes sp.) festgestellt.

H. Knower. Journ. of Morphol., vol. 16, 1901.

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Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. 779

erst am Vorder-, zuletzt am Hinterende der Embryonalanlage. Es wäre damit ein Zusammenhang zwischen den beiden Einwucherungs- stellen und eine Zusammengehörigkeit zwischen dem Material, welches aus beiden hervorgeht, höchst wahrscheinlich gemacht. Die Eigentümlichkeit, dass die Gastrulation zeitlich in zwei Phasen verliefe, fände dann ın den Verhältnissen des Eies ihre Erklärung: Ein Ei, das derartig mit kompaktem, körnigem Dotter überladen ist, wäre nicht existenzfähig, wenn sich in ıhm nicht frühzeitig Vitellophagen differenzierten; und zu dieser Tätigkeit wären Zellen des primären Entoblasts von vornherein berufen®). Daher die früh- zeitige Einwucherung eines Teiles des Entoblasts. Die Einwuche- rung des anderen Teiles würde wieder durch besondere Umstände verzögert: Das hat eine Reihe sekundär erworbener, tief grei- fender Veränderungen durchzumachen (Differenzierung der Em- bryonalanlage, Bildung der Embryonalhüllen, Versinken m den Dotter), bei denen es zu einer beträchtlichen Abnahme an embryonalem. Zellenmaterial kommt und die eine gesteigerte Energie zum Ersatz des verloren gegangenen erfordern; erst wenn diese Prozesse er- ledigt sind und das Verlorene ersetzt ist, wendet der Embryo seine Energie dem Aufbau der Organanlagen zu. Von diesem Ge- sichtspunkte aus erscheint es, glaube ich, nicht so unerklärlich, dass auch die Prozesse, die zur Bildung der Organanlagen führen (vor allem also die Einwucherung des orgaubildenden Teiles des Entoderms und des Mesoderms, die „zweite Phase der Gastrulation“) verspätet auftreten. Damit würde übereinstimmen, dass bei Cam- podea, bei der die Embryonalhüllen fehlen, die Entodermbildung noch kontinuierlich verläuft.

Es ist von vornherein nicht anzunehmen, dass die Ursprungs- stelle der Dotterzellen von der allgemeinen Bewegung des Blasto- derms nach dem Embryonalbezirk hin ausgeschlossen bleibt. Die Untersuchung ergibt folgendes (vgl. Fig. 5): Die Stelle (b/p) ist noch während der Differenzierung der Embryonalanlage kennt- lich, und zwar daran, dass noch auf diesem Stadium wie auf allen früheren während der Einwanderung der Dotterzellen eine breite Straße von feinem, plasmatischem Dotter von ihr aus in das Innere des Eies hineinführt. Außerdem hat aber auch eine kleine Partie des Blastoderms an jener Stelle noch nicht den defi- nitiven Charakter angenommen, durch den sie später dem übrigen Blastoderm vollkommen gleicht: Das Blastoderm ist hier noch nicht einschichtig; mehrere Zellen sind unregelmäßig übereinander ge- lagert; Zellgrenzen fehlen noch. Ihrer Lage nach dicht über dem vorderen Eipol entspricht die modifizierte Blastodermpartie

1) Diese Anschauung ist schon in der „Cölomtheorie“ von O, und R, Hert- wig- vertreten. Jena 1881.

780 Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren.

nicht der Stelle, an welcher sich die ehemalige Lücke im Blasto- derm zuletzt geschlossen hat. Diese Stelle lag ein gutes Stück weiter dorsal. Ich schließe aus diesem Befund darauf, dass das Zellmaterial an der Einwanderungsstelle der Dotterzellen der Be- wegung nach der Ventralseite, die sich ım Blastoderm allgemein geltend macht, gefolgt ist. Ein Anschluss dieses Materials an die Embryonalanlage ist dagegen bei Endromis nicht festzustellen. Kurze Zeit nach dem eben erwähnten Stadium setzt die Bildung der Embryonalhüllen ein. Es ist mir nicht gelungen, günstige Serien von Stadien zu erhalten, die in diesen kurzen Zeitraum ein- zuschalten sind.

Meine Ergebnisse an Endromis werden in diesem Punkte durch Beobachtungen an anderen Objekten einigermaßen ergänzt:

1. Bei Apes ao hat ©. Dickel eine Lücke ım Blastoderm gefunden, die ihrer Lage nach der Öffnung entspricht, mit welcher .e ie die Dre der Des zusammenhängt. Dieser Lücke ist lange Zeit eine Ansammlung von Dotterzellen angelagert und diese Zellen verschwinden erst, wenn sich in ihrer Nähe der „vordere Entodermkeim“ angelegt und die „Entomeso- dermrinne“ geöffnet hat. Dickel ist der Ansicht, dass sich die Dotterzellen dem Entodermkeim anschließen, doch fehlten ihm die nötigen Entwickelungsstadien, um diese Ansicht durch Beobachtung zu prüfen. Wie schon erwähnt worden ist, findet man auch bei Endromis, nach Verschluss der Öffnung im Blastoderm an der ent- sprechenden Stelle eine solche etae von Dotterzellen. Diese Zellen sind höchst wahrscheinlich von en Rande der Öff- nung aus entstanden. Sie zerstreuen sich bei Endromis lange Zeit vor der Anlage der Entodermkeime im Dotter. Im Stadium von Fig. 5 ist I Ansammlung schon verschwunden.

2. Noack betont, dass bei Calliphora die Öffnung, von der aus die Dotterzellen einwandern, an der Stelle liegt, = der sich Be die hintere uodermanlase differenziert.

3. Bei Aphis setzt sich nach Will die Öffnung am Hinterende, von der aus die Dotterzellen entstehen, nach vorne zu ehe bar in die Mesodermrinne fort. Wenn bei den Aphiden nicht besondere Ernährungsverhältnisse vorlägen, so hätte man gerade diesem Falle entscheidende Bedeutung beigelegt. Ich glaube, dass er durch die vorstehenden ergänzenden Resultate an Bedeutung wesentlich gewinnt.

Jedenfalls ergibt sich aus den zitierten Fällen die bedeutsame Tatsache, dass bei dotterärmeren Eiern die Ursprungsstelle der Dotter- zellen sich mit einem der sekundär auftretenden Entodermkeime deckt oder bis zum Auftreten dieser Keime persistiert, während bei dem dotterreicheren Ei von Endromis eine weitere räumliche und zeitliche Trennung zwischen den beiden Phasen der „Gastrulation* eintritt.

Schwangart, Zur Entwiekelungsgeschichte der Lepidopteren. 781

Hier muss kurz auf eine weitere Schwierigkeit für die Lösung der Frage hingewiesen werden. Es ist schon bei der Aufzählung der zuletzt besprochenen Fälle aufgefallen, dass bei Oalliphora und Aphis die Ursprungsstelle der Dotterzellen am hinteren Ende ge- legen ist, nicht am vorderen, wie bei den vorher genannten Objekten. Es liegt nahe zu vermuten, dass hier die, für die pterygoten Insekten charakteristische, spätere Lokalisierung des Entoderms an entgegengesetzten Enden der Embryonalanlage schon auf dem Stadium der Dotterzellenbildung in die Erschei- nung tritt.

In der Entwickelung von Endromis finden sich noch mehr Momente, die für die genetische Zusammengehörigkeit der Dotter- zellen und des „sekundären“ Entoderms sprechen. Sie sind zum Teil in einer früheren Arbeit behandelt und sollen hier nur kurz Erwähnung finden:

1. Schon während der Bildung des Blastoderms schließen sich Zellen aus dem Innern an die Zone von künftigen Blastoderm- zellen an. Dem entspricht das häufig beobachtete Auftreten von Übergängen zwischen Zellen der einschichtigen Embryonalanlage und Dotterzellen.

2. Der vordere und in geringerem Grade auch der hintere sekundäre Entodermkeim sind durch Übergangsstadien aller Ab- stufungen mit dem Zellmaterial des Dotters verbunden.

3. Beim Aufbau des Mitteldarmepithels schließen sich Zellen vom Typus des sekundären Entoderms, Übergänge von diesen zu typischen Dotterzellen und typische Dotterzellen selbst in regel- loser Mischung an die Anlagen des Darmdrüsenblattes an.

Zum Beweise für die Richtigkeit der Ansicht, dass Dotter- zellen und sekundäre Entodermkeime zusammen den primären Entoblast der pterygoten Insekten bilden, halte ich es nicht für erforderlich, dass die Dotterzellen am Aufbau des Embryo teil- nehmen. Es wäre im Gegenteil sehr verständlich, wenn sie, nach- dem sie während eines großen Teils der Embryonalzeit als ver- dauende Zellen sich erschöpft haben, in den postembryonal funktionierenden Darm nicht aufgenommen würden und zu Grunde gingen. Bei Formen, welche sehr viele Dotterzellen besitzen (z. B. Endromis), ist ihre Teilnahme am Aufbau des Darmes allerdings wahrscheinlich —, auch ohne die Beobachtungen, welche direkt zugunsten einer solchen Teilnahme sprechen. Die Dotterzellen sind in diesem Fall den Zellen der sekundären Entodermkeime an Zahl so sehr überlegen, dass (eine Zusammengehörigkeit beider Zellarten vorausgesetzt) mit den Dotterzellen der weitaus größte Teil des Entoblasts zugrunde ginge. Es scheint überhaupt, den Abbildungen der Autoren nach, dass Dotterzellen und sekundäre Entodermzellen einander bei den verschiedenen Formen annähernd an Zahl er-

182 Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren.

gänzent). Schließlich bleiben aber noch jene merkwürdigen Formen

ne bei denen die Dotterzellen zugrunde gehen und das Darmepithel vom Ektoderm der Proctodeum- und Stomodaumeinstülpung ge- bildet werden soll. Auch diese Angaben sind nicht einfach als irrtümlich von der Hand zu weisen?). Es handelt sich hier um Formen mit besonders dotterreichen Eiern, und es wäre wohl denk- bar, dass hier der gesamte Entoblast für die Bildung von Dotter- zellen verwendet und verbraucht, und dass eine Regeneration vom Ektoderm aus bewerkstelligt würde. Dagegen glaube ich auf Grund der vorstehenden Erörterungen die Ansicht aussprechen zu dürfen, dass man diese Bildungsweise als eine sekundär erworbene be- trachten müsste, und dass keine Ursache vorläge, auf Grund dieser Fälle die Lehre von der Homologie der primären Keimblätter bei den Insekten zu verwerfen.

Endlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass die Darm- bildung bei den höheren Wirbeltieren in mehr als einer Hinsicht Ähnlichkeit mit der bei den pterygoten Insekten hat. Auf den für beide Gruppen gemeinsamen Gegensatz von „Embolie“ und „Dela- mination* habe ich schon hingewiesen. Außerdem ist in beiden Fällen ein seiner Entstehung nach zeitlich und räumlich getrenntes „primäres“* und „sekundäres Entoderm“ vorhanden. Da ın beiden

Fällen auch der gleiche umgestaltende Faktor der reichliche Nahrungsdotter auftritt, darf man wohl erwarten, dass’ die Ent-

scheidung bei beiden Gruppen im gleichen Sinne ausfallen wird.

1) Eine Anschauung, welche mit der hier vertretenen übereinstimmt, hat Brauer für die Arachniden geltend gemacht. Er sagt: „Wenn man die Darm- bildung der anderen Arachniden vergleicht mit derjenigen des Skorpions, so fällt als wichtigster Unterschied auf, dass die Wandung des Darmes durch Umwachsung des Entoderms gebildet wird, während bei den übrigen die Entodermzellen durch den Dotter sich zerstreuen und erst sehr spät zu einem Epithel sich anordnen. Diese verschiedene Bildungsweise dürfte sehr wahrscheinlich mit der verschiedenen Ernährungsweise der Embryonen ihren Grund haben, indem die einen Eier abgelegt werden und ihre Nahrungsmasse mit enthalten, der Skorpion dagegen im mütter- lichen Körper sich entwickelt und ihm hier während der ganzen Entwickelung Nahrung zugeführt wird.“ Beiträge zur Kenntnis der Entwicklungsgeschichte des Scorpions II. Z. wiss. Zool. Bd. 59, 1895.

2) Sehwartze’s Befunden an Lasiocampa (Z. wissensch. Zool. Bd. 66, 1899) und Toyama’s an Bombyx mori gegenüber (On the Embryologie of the Sitts- Worm, Bull. of the College of Agrieult. Tokyo 1902—1903. Vol. V) habe ich an Endromis nachweisen können, dass die Anlagen des Mitteldarmepithels am Grunde der ektodermalen Darmabschnitte nicht vom Ektoderm sondern vom „unteren Blatte“ herstammen. In gleicher Weise wurde schon früher für Calliphora die Sachlage durch Escherich (I. e.) richtig gestellt. Danach besteht allerdings große Wahrscheinlichkeit, dass auch bei den übrigen Formen mit „ektodermalem“ Mitteldarm die fraglichen Zellkomplexe falsch gedeutet worden sind.

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Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. 183

II. Der Ursprung der Geschlechtszellen.

Schon frühzeitig wurde von Metschnikoff!) für das Ei von Cecidomya behauptet, dass hier die Zellen der Genitalanlage auf eine einzige Zelle zurückzuführen seien, die vor der Ausbildung des Blastoderms deutlich von den übrigen Zellen unterschieden sei. Diese Zelle liege am Hinterende des Eies. Aus ihr entständen zu- nächst die (schon von Robin?) entdeckten), „Polzellen“, welche eine Zeit lang dem Blastoderm außen aufliegen. Später gelangten diese Polzellen unter das Blastoderm; sie würden schließlich vom Meso- derm umwachsen und in die Genitalanlage umgewandelt. Die An- gaben Metschnikoffs wurden in den meisten Punkten von Balbianı?) und Ritter*) für das Ei von Ohironomus, von Noack?) für Calliphora bestätigt. Ähnliche Verhältnisse ergaben sich für die Aphiden. Doch ist es keinem Autor nach Metschnikoff wieder geglückt, die Herkunft der Polzellen von einer einzigen, bestimmt differenzierten Zelle nachzuweisen. Den gegenwärtigen Anschauungen über das Verhalten der Geschlechtszellen zum somatischen Zellmaterial und den neueren Erfahrungen an andern Tiergruppen gegenüber hat die Ansicht, dass auch bei den Insekten die Genitalanlage frühzeitig zur Sonderung kommt, nichts befremden- des. Noch vor wenigen Jahren aber führte das Bestreben, die Geschlechtszellen, wie alle andern Gewebsarten, von einem bestimmten Keimblatt abzuleiten, zu Zweifeln an der Tragweite der genannten Befunde. Dazu kam

1. Dass bei den zuerst untersuchten Objekten parthenogene- tische und pädogenetische Fortpflanzungsweise vorlag, die eine be- schleunigte Entwickelung der Geschlechtszellen sekundär veranlassen konnte,

2. dass inzwischen eine Anzahl von Befunden an anderen In- sekten bekannt wurde, bei denen die Geschlechtszellen erst in den Wandungen der Ö@lomsäckchen sichtbar wurden.

Entscheidend waren die Untersuchungen von Heymons°) an Dermapteren und Orthopteren. Nachdem Heymons zuerst selbst bei Phyllodromia einen Ursprung der Geschlechtszellen aus dem Mesoderm des II. bis VII. Abdominalsegmentes angenommen hatte, fand er:

1. Dass bei Forficula diese Zellen auf eine Zellgruppe zurück- zuführen seien, welche schon vor der Bildung des Mesoderms am

1) Z. wiss. Zool., Bd. 16, 1866.

2) Compt. rend. Tome LIV und Journ. de la physiologie de Brown-Sequard. Tome V, 1862.

3) Compt. rend. Ac. Sc. Paris, Tome 95, 1882 und Revueil Zool. Suisse. Tome II, 1885.

4) Z. wiss. Zool., Bd. 50, 1890.

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(84 Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren.

Hinterende der Embryonalanlage unter dem Blastoderm zu unter- scheiden war,

2. dass bei den Orthopteren und zwar bei einander nahe verwandten Formen die Geschlechtszellen nach der Bildung des Mesoderms bald aus dem Ektoderm, bald aus dem Mesoderm zu stammen schienen;. in jedem Falle aber war ihr erstes Auftreten an die Erscheinung einer Einsenkung im Ektoderm, der „Genital- grube“, gebunden.

Heymons zog aus diesen Befunden den Schluss, dass die Ge- schlechtszellen höchst wahrscheimlich auch bei den Orthopteren aus keinem bestimmten Keimblatt herzuleiten seien. Es sei nur bei manchen Formen nicht möglich, sie vor der Bildung der Keim- blätter histologisch vom Blastoderm zu unterscheiden.

Die neuesten Arbeiten, welche die Geschlechtszellen bei In- sekten eingehend behandeln, sind die von Petrunkewitsch!). Der Verfasser gelangt zu dem Resultat, dass im Drohnenei die Ur- geschlechtszellen vom „Richtungskopulationskern“ (d. h. einem durch Kopulation der Richtungskörper entstandenen Kern) abstammen, „im befruchteten Bienenei dagegen aus Mesodermzellen entstehen, die in die Mesodermröhren von der Bauchseite her einwandern.“ Auch Petrunkewitsch nimmt an, dass die Trennung der Ge- schlechtszellen vom somatischen Material im befruchteten Ei früher eintritt als sie mikroskopisch zu beobachten ist. |

Eine Angabe, welche der gleichen Vermutung Raum gibt, ist auch schon über die Geschlechtszellen eines Lepidopteren gemacht worden. Woodworth?) sagt in einer kurzen Mitteilung über die Entwickelung von Euvanessa antiopa: „The generation organs thus appear to be produced by an infolding of the ectoderm, or pos- sibly of the blastoderm before the ectoderm is produced.“ Er fügt aber hinzu: „But from a portion, which is later to become ecto- derm.“ Er leitet also die Geschlechtszellen doch wohl von einem bestimmten Keimblatt ab, und zwar, ım Gegensatz zu den anderen Autoren, vom Ektoderm. Toyama?) dagegen gibt an, dass sich bei Bombyx die Geschlechtszellen erst im Mesoderm differenzieren und zwar im somatischen Mesoblast. Er will diese Zellen nicht nur ın allen Abdominalsegmenten, mit Ausnahme des Analsegments, sondern in einem Fall auch im Mesothorax gefunden haben.

Die erste Andeutung einer gesonderten Geschlechtszellenanlage ist bei Endromis in einer sehr frühen Entwickelungsperiode bemerk- bar. Das Alter des Eies seit der Ablage beträgt etwa 25 Stunden; die Blastodermbildung ist seit 2—4 Stunden beendigt; bis zur Bil-

1) Zool. Jahrb., Bd. 14, 1900 und Bd. 17, 1902.

2) In: The butterflies of the Eastern United States and Canada with special reference to New-England Cambridge, Mass., 1589. Zitiert nach R. Heymons]. ce. 1895.

D)nlaue:

Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. 185

dung des Mesoderms vergehen noch 30—40 Stunden. Auf diesem Stadium bemerkt man im hintersten Viertel aber nicht am Hinterende, wie bei Dermapteren und Orthopteren der Em- bryonalanlage einen Bezirk im Blastoderm, wo die Zellen zwei-, stellenweise auch dreischichtig gelagert sind. Die Zellenlage, welche der Oberfläche des Eies zugewendet ist, gleicht dem übrigen Blasto- derm, die tiefer gelegenen Zellen sind größer und dotterreicher; ihre Kerne sind ärmer an Chromatın und enthalten einen oder zwei stark färbbare Nucleolen. Es sind das Kennzeichen, wie sie Hey- mons für die Geschlechtszellen angegeben hat. Doch treten diese Kennzeichen auf dem beschriebenen Stadium noch nicht so deutlich hervor, wie wenige Stunden später. Im gleichen Maße wie nun Geschlechtszellen und Blasto- dermzellen histologisch immer mehr verschieden werden, tritt eine immer weitergehende Trennung zwischen beiden ein. ee . Die Geschlechtszellen lösen sich innerhalh weniger Stunden vollständig vom Blastoderm und bilden unter ıhm einen lockeren Zellhaufen. Die Bla- stodermzellen geraten während der Loslösung etwas in Un- ordnung, schließen sich aber u er über dem Haufen der Ge- % HESE schlechtszellen wieder streng

epithelial zusammen (Fig. 6). Bl

Eine „G enitalgrube“, die wäh- Sagittalschnitt durch das Hinterende eines Embryo bei Beginn der Dotterfurchung. am Ammnion. 92 = Geschlechtszellen.

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rend dieses Vorganges zu er- warten war, habe ich bei Endro- mis nicht gefunden. Dagegen erscheint eine solche bei Sphinx pinastri und, weniger deutlich, bei Zygaenen. Bei diesen Formen sind die Geschlechtszellen ebenfalls lange Zeit vor Entstehung des Mesoderms zu erkennen; dieses Ver- halten gilt also wohl für alle Lepidopteren. Das Auftreten einer Genitalgrube im einschichtigen Blastoderm des Lepidoptereneies bestätigt die Ansicht von Heymons, nach der bei den Orthopteren diese Grube ein Zeichen von der Unabhängigkeit der Geschlechts- zellen vom Mesoderm ist, obwohl sie dort erst nach der Anlage des Mesoderms erscheint.

Ich will hier eine Bildung nicht übergehen, die mit der Genital- grube auf Schnitten verwechselt werden könnte und die, meines Wissens, noch bei keinem Insekt bemerkt worden ist: Wenn die beiden Enden des Embryo in den Dotter versinken, bildet sich

XXV. 50

mes ekt

186 Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren.

7

von jedem Ende aus eine mediane Längsrinne. Diese Rinnen er- reichen besonders nach den Enden zu eine bedeutende Tiefe; sie übertreffen darin weit die viel später auftretende „Entomesoderm- rinne“. Sie verstreichen, wenn der Embryo in den Dotter ver- sunken ist; wenn die Bildung der Entomesodermrinne einsezt, ist nur am Vorderende noch eine Spur von der vorderen „Versenkungs- rinne“ übrig. Die Geschlechtszellen kommen eine Zeit lang an den Grund der hinteren Versenkungsrinne zu liegen. Die beiden Rinnen, die sich kielartig in den Dotter einkeilen, spielen wohl eine wichtige Rolle beim Versinken des Embryo in den Dotter.

Wenige Stunden vor Beginn der Mesodermbildung wird eine Verlagerung der Geschlechtszellen bemerkbar, die meiner Ansicht nach auf aktive Bewe- gungen der Zellen zu- rückzuführen ist: Sie ver- a u lieren nämlich auf diesem + PR: Stadium zeitweilig ihre

EEE ' rundliche Gestalt und

oe .»% spitzen sich nach ‘einer

° Richtung zu, in der Art amöboider Zellen. Die

Verlagerung hängt wohl

mit der künftigen Ver-

teilung der Geschlechts- zellen auf die Mesoderm- segmente zusammen. Sie führt dazu, dass der Hau- Sagittalschnitt durch zwei Segmente mit ‚Ge- fen der Geschlechtszellen schlechtszellen (g2). er r . ekt Ektoderm. mes = Mesoderm. sich auflöst und in meh- rere hinter einander gela- gerteZellgruppenzerfällt. Beim Vordringen des Mesoderms werden diese Zellgruppen zunächst in den Dotter vorgeschoben. Bald aber bildet sich an den Stellen, wo das Mesoderm auf die Geschlechtszellen getroffen ist, eine mediane Vertiefung im Mesoderm, welche sie aufnimmt. Auf dem nun folgenden Stadium ‚hält es bei Endromis oft schwer die Ge- schlechtszellen im Mesoderm zu unterscheiden, da die Mesoderm- zellen in der ersten Zeit nach ihrer Einwucherung sehr groß und ihnen ähnlich sind. Bei Zygaena dagegen, bei der die Geschlechts- zellen verhältnismäßig größer sind als bei Endromis, sind sie auch auf diesem Stadium deutlich im Mesoderm zu unterscheiden. Bald werden auch bei Endromis die Mesodermzellen infolge lebhafter Teilung kleiner und die Geschlechtszellen werden wieder deutlich. Da das Mesoderm bei Endromis von Anfang an segmental anschwillt, so läßt sich gleich nach der Einwanderung der Geschlechtszellen

Fig. 7.

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Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren. 187

beurteilen, welchen Segmenten sie zugeteilt sind. Es ist dies das IV.— VI. Abdominalsegment. Im Stadium von Fig. 7 liegen die Geschlechtszellen noch in der Mediane der Segmente. Cölome sind hier noch nicht gebildet.

Wenn das Mesoderm in der früher!) von mir beschriebenen Weise die Mediane verläßt und sich nach den Seiten vorschiebt, folgen ihm die Geschlechtszellen; sie rücken in der Mitte ausein- ander und der eine Teil von ihnen kommt in die linken, der andere in die rechten Mesodermanhäufungen der Segmente zu liegen, in die sie eingewandert waren. Wenn sich dann in diesen An- häufungen die Cölome gebildet haben, bleiben die Geschlechtszellen jederseits median von den Öölomen liegen; eine Einlagerung in die visceralen Wandungen der Cölome, wie sie für Orthopteren, Coleopteren und Hymenopteren beschrieben ist, kommt bei Endromis nicht zustande. Dem Grade der Entwickelung ihrer Cölomsäckchen nach nehmen also die Lepidopteren unter den Insekten, welche darauf untersucht worden sind, die dritte Stelle ein, zwischen den Hymenopteren und Coleopteren einerseits, bei denen die Cölome mäßig reduziert, und den Musciden andererseits, bei denen sie völlig unterdrückt sind.

Weiter habe ich das Schicksal der Geschlechtszellen noch nicht verfolgt. Ein Zweifel an der Natur der beschriebenen Zellen ist indessen durch ihre Lagebeziehungen auf den zuletzt geschilderten Stadien und durch ihre histologische Beschaffenheit ausgeschlossen.

III. Die Bildung der Embryonalhüllen.

Bei den meisten bisher untersuchten Insektenembryonen ent- stehen die Embryonalhüllen durch einen Faltungsprozess an der Grenze zwischen der Embryonalanlage und dem Reste des Blasto- derms (dem „Serosateil“). Die „Amnionfalten“ wachsen von allen Seiten her über die Ventralfläche der Embryonalanlage hinweg, treffen schließlich zusammen und verschmelzen. Es tritt dann eine Trennung zwischen äußerer und innerer Faltenlage ein; die äußere wird zur Serosa, die innere zum Amnion.

Es sind jedoch aus verschiedenen Insektenordnungen einige Fälle bekannt geworden, in denen das innere Blatt der Falten- bildung (das Amnionblatt) überall oder an einzelnen Stellen im Wachstum zurückbleiben soll (Hymenopteren, Aphiden, Oecauthus); dadurch käme eine verfrühte Trennung zwischen Amnion- und Serosablatt zustande.

Die Lepidopteren gelten als ein typischer Fall der zuerst er- wähnten regelmäßigen Bildungsweise der Embryonalhüllen, obgleich

1) Z. wiss. Zool. Bd. 76, 1904. 50*

188 Schwangart, Zur Entwickelungsgeschichte der Lepidopteren.

schon Bobretzky!) die Angabe gemacht hat, dass der Embryo von Pieris eine Zeit lang nur von einer zelligen Hülle bedeckt sei. Bobretzky’s Abbildung entspricht genau den Verhältnissen, die ich bei Endromis und Zygaena gefunden habe.

Bei diesen Formen tritt gleich beim Ansatz zur Faltenbildung, dicht am Rande der Embryonalanlage eine Trennung zwischen Amnion- und Serosablatt ein. Die Serosa überwächst schnell die Embryonalanlage, das Amnion folgt langsamer nach. Seine Zellen gleichen anfangs denen der Embryonalanlage und unterscheiden sich deutlich von den Serosazellen. Diese Beobachtung ist schon an mehreren Objekten gemacht worden und hat schon ältere Autoren veranlaßt, das Amnion von der Embryonalanlage herzuleiten und genetisch in Gegensatz zur Serosa zu bringen. Am meisten fallen hier die Ergebnisse ins Gewicht, welche Knower?) an Entermes erhalten hat. Bei diesem Objekt, bei dem der Zusammenhang zwischen Amnion und Serosa von normaler Dauer ist, verwandelt sich ein Teil des Blastoderms, der vorher nicht nur histologisch, sondern auch durch seine Lage zum Embryonalbezirk gehörte, durch nachträgliche Lageveränderung (Umschlag) in das Amnion. Es ist daher zu vermuten, dass die histologische Übereinstimmung zwischen Serosablatt und außerembryonalem Blastoderm einerseits, und Amnion und Embryonalanlage andererseits auch bei den Lepidopteren einem ursprünglichen genetischen Unterschied ent- spricht, nicht einem Unterschied, der erst durch die beschleunigte Trennung der beiden Blätter erworben wurde.

In der frühzeitigen Trennung selbst ist dagegen mit Wahr- scheinlichkeit eine Neuerwerbung zu erblicken, die mit dem Ur- sprung der Embryonalhüllen nicht zusammenhängt. Bei Lepisma, dem primitivsten Insekt mit immerser Embryonalanlage und mit Embryonalhüllen, ıst typische Faltenbildung und lange dauernder Zusammenhang zwischen Amnion und Serosafalte festgestellt worden. Am meisten Wahrscheinlichkeit hat daher wohl die Annahme, dass bei manchen immersen Embryonen der besonders kompakte Dotter während des Versinkens der Embryonalanlage einen so starken Gegendruck ausübt, dass die Randpartien des Embryo mit der Anlage des Amnion vom übrigen Blastoderm losgetrennt werden; so findet der eingeengte Dotter einen Ausweg nach der Ventral- seite des Embryo und der Embryo kann immers werden. Bei dieser Annahme erscheint es nur natürlich, daß der Dotter gerade an jener Stelle durchbricht, wo Epithelien von verschiedener Beschaffen- heit und Herkunft aneinander grenzen und wo die beginnende Falten- bildung die Zellen dehnt und sie weniger widerstandsfähig macht.

L) Z. wıss. Zool. le. 2) Knower,|. ce.

Iwanoff, Über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden. 789

Bei Zygaena bleibt die Ähnlichkeit zwischen den Zellen der Embryonalanlage und denen des Amnion länger erhalten als bei Endromis. DBeı letzterem Objekte werden die Amnionzellen bald groß und blasig (vgl. Fig. 6am); sie sind dann perlschnurartig lose aneinander gereiht. Später dehnen sie sich stark in die Länge und nehmen ihre definitive spindelförmige Gestalt an. Das Amnıion schließt sich vollkommen über der Ventralseite des Embryo.

Da nach diesen Befunden über die Amnionbildung aus drei Familien der Makrolepidopteren das gleiche Resultat vorliegt, darf man annehmen, dass die beschriebene Bildungsweise in dieser Gruppe allgemein verbreitet ist.

Untersuchungen über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden (Hybriden von Pferden und Zebra). Von E. Iwanoff.

Die Unfruchtbarkeit der männlichen Hybriden von Pferd und Esel ist und wird auch noch jetzt als eine zweifellose Tat- sache anerkannt (Ewart DLXXXIX). Er schreibt jedoch: I had some hope that this hybrid would be fertile, for in its breading it agreed with a hybrid (referred to by Darwin and others) which is said to have had offspring when mated with a pony. In the Gleanings from the knowsley Menagerie there ıs a figure (lux 2) of this triple hybrid and at p. 73 it is described as follows: „the offspring of a mule (the produce of a male ass and zebra) with a bay mare pony. Iron grey with a short narrow cross-band on withers; very faint indications of stripes on the sides, and more distinet dark stripes on outside of the hocks and knees; tail bushy from the base like a horse, head heary, mane brown and grey. This animal used to draw a small cart. It stands eight hands high. Darwin, writing ın the seventies, says of this cross „Many years ago I saw in the Zoological Gardens a curious triple hybrid from a bay mare by a bybrid from a male ass and a female zebra“. Was nun die Fruchtbarkeit dieses männlichen Maultiers anbetrifft, so erwähnt Ewart nichts zugunsten der Richtigkeit dieser Tat- sache und bezieht sich nur auf die Autorität und die Vorsicht von Darwin. Hinsichtlich der weiblichen Maulesel und Maultiere sind Hinweise vorhanden, dass dieselben durch Kreuzung mit einem Hengst oder Esel Nachkommenschaft geben können. Sowohl in dem ersten als auch in dem zweiten Fall lässt jedoch die Beobach- tungsweise sowie die Richtigkeit der mitgeteilten Tatsachen vieles zu wünschen übrig (I—-LXXXVI). Hinsichtlich der Fortpflanzungs- organe der Maultiere und Maulesel sind nur die Beobachtungen einiger Physiologen bekannt, laut welchen die Spermatozoiden bei

790 Iwanoff, Über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden.

den Maultieren und Mauleseln entweder vollkommen fehlten oder in unausgebildetem und deformiertem Zustande ausgeschieden wer- den, wobei dieselben bisweilen durch kleine, runde, glänzende Körper ersetzt werden. 7—LXII „Les examens d’Hebenstreit, de Ch. Bonnet, duBaron deGleiches, de Prevost et Dumas, de Gerber et Winkler et d’autres physiologistes entrepris sur les organes gen6rateurs des Mulets ont &t& souvent cite. Nous nous bornerons ä rappeler que ces experimentateurs ne trouverent point d’animalcules spermatiques (spermatozoides) dans la liqueur semi- nale des Mulets mäles, ou bien les spermatozoides qu'ils y decouv- rirent etaient ou reduits ou deformes, c’est-a-dire imparfaits, remplaces m&me par de petits corps arrondis et brillants.“

Ewart weist ın seiner oben angeführten Arbeit darauf hin, dass die Samenzellen von Romulus (ein Hybrid von Zebra 5 und Pferd ©) einen Kopf und nur ein Schwanzrudiment haben, dass die von ihm untersuchten Spermatozoiden eines Maultiers nicht voll entwickelt und dank dem Umstande, dass der Schwanz kaum um das zweifache länger als der Kopf war, unbeweglich waren (1—-LXXXVIH). Soviel mir bekannt ist, hat keiner von den Au- toren, welche Spermatozoiden der Hybriden untersucht haben, weder eine Abbildung noch eine ausführliche Beschreibung der- selben gegeben. Dieses ist übrigens verständlich. Diese Schwanz- rudimente sowie die Angaben über Vorhandensein von Köpfen der Spermatozoiden sind augenscheinlich Beobachtungsfehler.

Mit der Frage über die Unfruchtbarkeit der Vogelhybriden haben sich Leabeater, Suchetet, Wagner, C. Dareste und Stephan beschäftigt. Es hat sich hierbei erwiesen, dass die Ur- sache der Unfruchtbarkeit in diesem Fall entweder in unentwickelten Ausführungsgängen, oder in unentwickelten Geschlechtsdrüsen, im vollständigen Fehlen der Spermatozoiden oder in degenerativen Zuständen der Geschlechtselementen gelegen ist. In allen diesen Fällen erwiesen sich die Hybriden, wie es auch zu erwarten war, als unfruchtbar.

Hinsichtlich der Ursachen der Unfruchtbarkeit der Säugetier- hybriden weist Suchetet darauf hin, dass bei weiblichen Maul- tieren in den Eierstöcken corpora lutea konstatiert worden sind (Brugnone, Gerber, Oolin, Ooste) und dass einige Anatomen für die Ursache der Unfruchtbarkeit weiblicher Maultiere die be- sondere Lagerung der Harnröhrenöffnung anzunehmen geneigt sind.

Hebenstreit fand bei der Untersuchung des Eierstocks eines weiblichen Maultiers keine Eier in demselben. Trotz der Unfrucht- barkeit offenbaren die Maultiere einen stark entwickelten Geschlechts- instinkt. Bei Taubenhybriden ist der Geschlechtssinn stark aus- geprägt, während bei Raben- und Hühnerhybriden derselbe nicht wahrgenommen wird. In der Absicht, die Annahme, dass der

Iwanoff, Über die Ursache der Unfruchtbarkeit von Zebroiden. 791

Aufenthalt in engen Räumen einen Einfluss auf die Unfruchtbarkeit der Hybriden hat, zu kontrollieren, hielt Suchetet dieselben in Gärten und sogar ım Felde. Das Resultat blieb dasselbe: „La sterilitö chez !’hybride est done produite par des causes qui tiennent a l’organisation meme de son ötre.* (7. LIX—LXIN).

Die Arbeit von Stephan stellt den ersten Schritt dar, die Frage über die Ursache der Unfruchtbarkeit der Säugetierhybriden, speziell der Maultiere, auf den Boden einer mikroskopischen Unter- suchung des Baues der Geschlechtsdrüsen zu stellen. Leider ist in dieser Arbeit nicht das genaue Alter des Maultiers angegeben, dasselbe wird nur als „adulte“ bezeichnet; ferner teilt auch Autor nichts darüber mit, ob die Samendrüsen durch eine Kastration er- halten worden sind oder die Untersuchung derselben nach dem Tode des Tieres ausgeführt wurden. Diese Angaben sind wichtig, da das Tier vorher krank gewesen oder infolge einer Infektions- krankheit gefallen sein konnte, in welchem Falle das Fortpflanzungs- system nicht unbeeinflusst geblieben ist. Die von Stephan mit- geteilten Haupttatsachen sind folgende: „L’un des faits qui frappent au premier abord, quand on examine une coupe de testicule de moulet, c’est l’absence de tubes seminiferes: les el&ments epitheliaux ne sont pas groupes d’apres la disposition commune ä tous les testicule de Mammiferes; ils forment des masses d’ötendues varıables, parfois tres grandes, parfoıs tres reduites de plus tandıs que le tube söminifere est externe d’une membrane propre ferme et plange dans un tissu conjonctif läche, ıln’y a pas ıcı pareille differenciation: les masses epitheliales occupent les mailles d’un reseau fibreux compact, dont le developpement est naturelement inverse du leur; dans la plus grande partie de l’organe le stroma fibreux est beau- coup moins abondant que le parenchyme; en quelques regions, au contraire, ıl l’emporte de beaucoup sur lu.“ Ein derartiges Bild stellt nach den Angaben von Stephan ein Schnitt durch den Hoden eines Maultiers dar.

Weiter unten werde ich noch bei der ausführlichen Beschrei- bung des Baues des Hodens des von mir untersuchten Zebroids auf die Arbeit von Stephan zurückkommen. Im Frühjahre 1904 erhielt ich von Herrn Falz-Fein die Aufforderung auf seinem Gute Versuche einer künstlichen Befruchtung von Pferden auszuführen). Von dem zoologischen Akklimatisationsgarten des Herrn Falz-Fein?) habe ich schon früher gehört und begab mich gern dahin, ın der

1) Die Resultate dieser Arbeit sind zur Zeit soweit klargestellt und haben sich dermaßen günstig erwiesen, dass Herr Folz-Fein in diesem Jahre fast den gesamten Bestand seiner Pferde auf eine künstliche Befruchtung übergeführt hat.

2) Dieser in bezug auf den Reichtum von Formen wilder Tiere, welche bereits zum Teil fast zu Haustieren geworden sind, bemerkenswerte Garten liegt im taurischen Gouvernement Ascania Nova.

792 Iwanoff, Über die Ursache der Unfruchtbarkeit von Zebroiden.

Hoffnung daselbst: Material zur Frage der Hybridisation, welche in unmittelbarem Zusammenhang mit meinen Arbeiten steht, zu er- halten.

Gleichzeitig mit der Ausführung meiner Hauptaufgabe gelang es mir, nicht nur das Sperma zweier männlicher Zebroide (Eguus caballus $ und Egquus chapmanis 2) zu untersuchen, sondern auch das Material zu einer mikroskopischen Untersuchung der Geschlechts- drüse eines dieser Hybriden zu erhalten.

Ich erachte es für notwendig, einiges über die Zebroiden selber auszusagen sowie auch die Methode und die Resultate der Unter- suchung der Samenflüssigkeit mitzuteilen; letztere war durch das gewöhnliche Verfahren vermittelst eines Schwammes gesammelt worden, wie ich dasselbe bei meinen Arbeiten über die künstliche Befruchtung der Säugetiere angewandt habe.

Das Zebroid, dessen Hoden ich untersucht habe, ist 5 Jahre alt, wird bereits 2 Jahre im Gespann benutzt, vollkommen gesund. In dem prächtigen Körper ist der Geschlechtsinstinkt stark aus- geprägt. Der Penis ist im Vergleich zur Größe des Tieres recht entwickelt und sogar unverhältnismäßig groß. Das Ende des Penis bildet eine Krümmung, so dass die Glans etwas nach unten ge- richtet ist.

Da ich mir die Aufgabe gestellt hatte, die Frage, ob die Zebroiden Nachkommenschaft geben können, klarzustellen, beschloss ich, zunächst ihre Samenflüssigkeit auf das Vorhandensein von Spermatozoiden zu untersuchen. Zu dem Zweck bediente ich mich noch eines anderen Zebroids von 4 Jahren, welches geschlechtlich augenscheinlich bereits vor einem Jahr vollkommen entwickelt war, da er bereits im Alter von 3 Jahren energisch Muttertiere deckte. Es hat der Penis kleinere Dimension mit gleicher Krümmung am freien Ende. Das erste Zebroid war vor meinen Untersuchungen zur Paarung nicht zugelassen worden. Ich gebe nun die ausführliche Beschrei- bung des Verfahrens zur Aufsammlung des Spermas der Zebroide; die Untersuchung des Spermas wurde mehrere Male ausgeführt, da aus einer Reihe meiner Beobachtungen am Pferdesperma!) sich erwiesen hatte, dass auf Grund einer einmaligen mikroskopischen Untersuchung des Samens keinesfalls ein Schluss auf die Tauglich- keit des Spermas für eine Befruchtung gemacht werden kann, zu- mal wenn ein Coitus längere Zeit nicht stattgefunden hat, wie es im gegebenen Fall war.

Das Aufsammeln des Spermas erfolgte, wie bereits oben er- wähnt ist, vermittelst des Verfahrens mit einem Schwamm. Eine Stute von entsprechender Größe, welche deutliche Anzeichen der Brunst offenbarte, wurde vorher folgendermaßen zur Paarung vor-

l) Die Untersuchungen hoffe ich in kurzer Zeit zu veröffentlichen.

Iwanoff, Über die Ursache der Unfruchtbarkeit von Zebroiden. 793

bereitet. Die Kruppe und die Schwanzwurzel sowie die äußeren Geschlechtsteile wurden sorgfältig vermittelst Bürste und Schwamm mit warmem Wasser und Seife abgewaschen. Nach einer derartigen mechanischen Entfernung der Staub- und Sandteilchen, welche stets auf der Haut der Tiere vorhanden sind, wurde der Schwanz mit Binden umwickelt. In die Vagina der Stute wird alsdann vermittelst der sorgfältig gewaschenen Hand!) ein steriler mit 2°/,iger warmer Sodalösung getränkter Schwamm eingeführt. Mit demselben werden nach Möglichkeit sorgfältig die Wände der Vagina ausgewischt; worauf letztere noch durch eine 1—2°/,ige Sodalösung ausgespült werden kann; der Überschuss dieser muss jedoch alsdann in diesem Fall aus der Vagina durch einen sterilen Schwamm entfernt werden. Nach einer derartigen mechanischen Reinigung der Vagina wird ın dieselbe vermittelst eines sterilen Mutterspiegels und einer beson- deren von mir vorgeschlagenen, langen Kornzange ein steriler Schwamm eingeführt, welcher die Samenflüssigkeit aufnehmen und aufsaugen soll.

Nach Möglichkeit sofort nach dem Einlegen des Schwammes wird der zu untersuchende Hengst zur Stute zugelassen und deckt dieselbe. Empfehlenswert ist es vorher, besonders wenn der Penis eine große Menge von Smegma aufweist, denselben mit einer warmen 1°/,igen Sodalösung zu begießen. Nach Beendigung des Coitus und nachdem der Hengst von der Stute abgesprungen ist, wird der Schwamm ebenso (vermittelst Speculum und Kornzange) nach außen befördert und rasch in ein steriles Glasgefäß eingelegt; von hier gelangt er in eine sterile Presse (nach Dr. Klein). Die nach dem Auspressen erhaltene Flüssigkeit wird ın einem graduierten Zylinder gemessen und darauf untersucht.

Bei einem derartigen Verfahren des Aufsammelns des Spermas wird es ermöglicht, die größtmöglichste Menge derselben frei von Verunreinigungen zu erhalten. Irgendwelche Antiseptica dürfen hierbei nicht angewandt werden. Die Sterilisation geschieht ent- weder durch eine 2°/,ige heiße Sodalösung oder durch Flambierung. Die auf diese Weise erlangte Samenflüssigkeit enthält weniger Mikroorganismen und ist frei von denjenigen Verunreinigungen, welche beim Coitus unter den erwähnten Verhältnissen unvermeid- lich sind. Auszüge aus den Versuchsprotokollen (die oben ange- führten Einzelheiten sind ausgelassen).

27. V. 1904. I. a) Untersucht wird das Zebroid „Tuan“; 4 Jahre alt (Vater Pferd, Mutter Zebra). Penis gut entwickelt, sein Ende etwas nach unten gebogen. Die Erektion und die Deckung energisch. In der Paarung das 2. Jahr. Im ganzen werden 17 ccm Sperma erhalten.

1) Es ist empfehlenswert, hierzu Bürste, Seife und eine sterile warme 2°/,ige Sodalösung anzuwenden.

794 Iwanoff, Über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden.

Untersuchung unter dem Mikroskop: vollständiges Fehlen irgend- welcher Samenzellen; große Anzahl kleiner runder, stark glänzender Körperchen, außerdem werden Plattenepithelzellen und Leukozyten angetroffen. Das Sperma erinnert seinem Aussehen nach an das- jenige des Pferdes und des Zebra.

b) Untersucht wird „Menelik*, 5 Jahre alt, Zebroid (Vater Pferd, Mutter Zebra). Sehr großer Penis. Die Erektion und Deckung sehr energisch. Vorher niemals ın Paarung gewesen. Sperma dickflüssiger als bei „Tuan“. Vollkommenes Fehlen von Samenzellen. Dieselben runden, glänzenden Körperchen (aus der Samenblase), Epithelzellen, Leukozyten. Gesamtmenge des aufgesammelten Sperma 30 ccm.

28. IV. 1904. II. a) Tuan, dasselbe wie vorher. Vollkommenes Fehlen von Spermatozoiden. Spermamenge 25 ccm.

b) Menelik dasselbe wıe bei Tuan. Spermamenge 40 ccm.

29. IV. 1904. II. a) Tuan dasselbe wie vorher. Sperma- menge 15 ccm.

b) Menelik, dasselbe wie bei Tuan, Spermamenge 50 cem.

Nach derartigen mehrfachen Untersuchungen des Sperma von Zebroiden kann ich behaupten, dass im gegebenen Fall keine Rede von degenerierten oder unentwickelten Spermatoiden sein kann. Ich glaube, dass Ewart sich durch die Bewegung der kleinen glänzenden Körper, welche die sogen. Braun’sche Molekular- bewegung aufweisen, zu einem Irrtum hat verleiten lassen. Wie die Beobachtungen Ewart’s von einem Schwanzrudiment, welches um das zweifache größer als der Kopf des Spermatozoids des von Ewart untersuchten Maultiers sein soll, zu erklären ist, kann ich nicht sagen. Meine weiteren Beobachtungen sowie die Resultate der Arbeit von Stephan veranlassen mich zur Annahme, dass die Beobachtungen von Ewart in dieser Hinsicht nicht richtig sind.

Wie zu erwarten war, so hatte keine der Stuten, welche vor einem Jahre mit „Tuan“ gepaart worden waren, konzipiert.

Noch war es jedoch unaufgeklärt geblieben, warum die Samen- flüssigkeit der Zebroiden keine Spermatozoiden enthält; sind die- selben überhaupt nicht vorhanden oder aber finden sich in den Ausführungsgängen Verwachsungen, oder irgendwelche andere De- fekte der letzteren u. s. w. Derartige Tatsachen sind aus der medizinischen Kasuistik bekannt. Diese Fragen können nur durch eine sorgfältige Untersuchung des mikroskopischen Baues des Hodens des Zebroids beantwortet werden. Die Lösung der Frage, ob bei den Zebroiden Spermatozoiden vorhanden sind, hatte auch ein praktisches Interesse, da es die unfruchtbaren Versuche, eine Nachkommenschaft von den Zebroiden zu erhalten, sistierte. Würden in der Samendrüse normal entwickelte Spermatozoiden vorhanden sein, so wäre die Möglichkeit zu einem Versuch gegeben,

lwanoff, Über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden. 795

eine künstliche Befruchtung mit diesen Spermatozoiden in einem künst- lichen Medium vorzunehmen (2 u. 3). Da ich das Temperament des Zebroids unverändert erhalten wollte, so nahm ich eine Kastration nur eines (des linken) Hodens von „Menelik“ vor. Da ich keine andere fixierende Flüssigkeit bei der Hand hatte, so nahm ich meine Zuflucht zu einer 10°/,igen Formalinlösung; vor dem Einlegen des Hodens in die Flüssigkeit wurden an einigen Stellen (an der Cauda epidi- dymis, am Corpus epididymis, in der Gegend der Tubuli contorti)

N Fig. 1. Fig. 2. \

Fig. 1. Ein Längschnitt durch das testiculum. Ch Corpus highmori; S= septa. Beinahe natürliche Größe. Fig. 2. Ein Querschnitt eines tubul. contor. N die Kerne der Sertoli’schen Zellen; a, b = deformierte Sertoli’sche Zellen. Eine deformierte Sertoli’sche Zelle. Übergangsform zu einem Sperma- togonium.

= a” co

Einschnitte gemacht; die aus den Einschnitten ausfließende weiß- liche Flüssigkeit untersuchte ich unter dem Mikroskop. Es erwies sich, daß in derselben keine Spur einer Anwesenheit von Sperma- tozoiden vorhanden war.

Die weiteren Untersuchungen des Hodens habe ich in diesem Jahre 1905 in dem zoologischen Laboratorium des Herrn Aka- demikers Salensky der Akademie der Wissenschaften in St. Peters- burg ausgeführt. Ich werde nicht die angewandte Technik aus- führlich beschreiben, will nur darauf hinweisen, dass die besten

796 Iwanoff, Über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden.

Resultate, wie auch zu erwarten war, die Färbung mit Hämatoxylin nach Heidenhain gibt. Untersucht habe ich a) die Tubuli con- torti, b) die Oauda epididymis und c) das Corpus epididymis. Der Hoden des Zebroids ist von eiförmiger Gestalt; der größte Durch- messer in der Längsachse beträgt 9 cm, der Querdurchmesser 4,5 cm; das Corpus epididymis weist eine mehr abgerundete Form auf, sein Durchmesser ist ungefähr 3 cm lang. Bei dem Durch- schneiden des Testiculum nach dessen Fixation in 10°/, Formalin kann man sich selbst mit unbewaffnetem Auge vom Vorhandensein des Corpus Highmori überzeugen, sowohl in Anwesenheit der Septa, welche den gesamten Körper des Testiculum ın Lobuli mit die- selben ausfüllenden Tubuli contorti zerteilt (s. Fig. 1). Die mikro- skopische Untersuchung bestätigt die Existenz eines solchen Baues.

Die Tunica albuginea ist ziemlich gleichmäßig auf der ganzen Ober- fläche des Hodens entwickelt und von Blutgefäßen durchzogen. Wird ein Hodenstück zusammen mit der Tunica albuginea zur Anfertigung von Präparaten benutzt, so stößt man beim Schneiden mit dem Mikro- tom auf Schwierigkeiten. Wird nämlich das Präparat in Paraffin eingebettet, so springt das Mikrotommesser gleichsam auf die Tunica albuginea hinweg; ın letzterem sind mit bloßem Auge Abschnitte mit schwarzem Pigment zu erkennen, welche wie Inkrustationen erscheinen. Derartige Präparate müssen in Celloidin mit Paraffin eingebettet werden. Auf dem Schnitt wird es sichtbar, dass die Außenfläche der Albuginea von einer Schicht gelben Pigmentes bedeckt ist, welches in einer oder mehreren Lagen abgesondert ist. Die Abschnitte mit dunklem Pigment sind degenerierte Blutgefäße, welche mit dem erwähnten Pigment dicht angefüllt sind und in denen noch dunkel gefärbte Massen eingestreut sind. Die Tunica albuginea weist jedoch nıcht überall derartige Veränderungen auf; in diesem Falle lässt sie sich auch im Paraffin eingebettet gut schneiden. Sofort unter der Albuginea, die als eine ziemlich derbe bindegewebige Hülle erscheint, sind Samenkanälchen angeordnet, welche sich von ähnlichen ım übrigen Teil des Hodens durch ihre geringere Zahl und durch die stärkere Entwickelung des inter- stitiellen Gewebes unterscheiden.

Bereits bei einer Betrachtung des Hodens des Zebroids mit schwachen Vergrößerungen offenbart sich die zweifellose Anwesen- heit von Tubuli contorti, welche in einem stark entwickelten interstitiellen Gewebe, das seinerseits von Blutgefäßen in ver- schiedenen Richtungen durchzogen wird, eingelagert sind. Jedes Kanälchen hat seine eigene Hülle und ist in das parenchym- reiche Bindegewebe hineingesenkt. Die recht derben Binde- gewebsbündel zerfallen ın eine Reihe feiner Fortsätze, deren letzte Verzweigungen die Hülle der Samenkanälchen liefern. Auf Durchschnitten sind die Kanälchen von dem umgebenden inter-

{ Be"

Iwanoff, Uber die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden. 797

stitiellen Bindegewebe durch einen spaltförmigen Raum getrennt, welcher zweifellos durch die Fixierung bedingt ist. Die Samen- kanälchen sind von einer oder zwei unvollständigen Reihen von Zellen mit deutlich abgegrenztem, gewöhnlich unregelmäßig ge- staltetem Kern ausgekleidet. Das Protoplasma dieser Zellen bildet gleichsam ein Syncytium, welches fast das ganze Lumen des Kanäl- chens ausfüllt; die vorhandenen Hohlräume gewähren den Eindruck von Fenstern. Derartige Zellen stellen den fast ausschließlichen Typus der geformten Elemente in den Kanälchen dar. Die breite Form der Fortsätze dieser Zellen, die unscharfen Grenzen derselben, die schwache Färbung der Kerne, das Vorhandensein charakteristi- scher Kernkörperchen, die Lage ei Anordnung der Zellen selber lässt diese Zellen als Senne sche Zellen nnkenmen. In den Kernen der Sertoli’schen Zellen sind gewöhnlich zwei scharf ge- färbte Kernkörperchen vorhanden, zwischen denen häufig ein schwach gefärbter Pseudonukleolus angetroffen wird. Die Chromatinstruktur des Kernes ist schwach ausgeprägt, da gleichsam nur Bruchteile von Fäden dieselbe darstellen. Der übrige Teil des Kernes färbt sich außer der Hülle sehr schwach. Bei starker Vergrößerung (homog. Innens. Oc. 12) kann im Kern die Anwesenheit feiner intensiv gefärbter Chromatinkörnchen erkannt werden. Im Kern und im Plasma sind außerdem größere Chromatinkörner vorhanden; dieselben sind entweder Ausscheidungsprodukte der Zellen oder Zerfallprodukte derselben. Ihre zuweilen beträchtliche Anzahl ge- stattet es nicht, sie als Centrosomata anzusprechen. Neben diesen Chromatinkörnern werden im Zellprotoplasma und in den von dem- selben freien Stellen runde oder unregelmäßige kleine Tropfen an- getroffen, welche offenbar Zerfallprodukte der Zelle darstellen. Die Hohlräume im Plasma entstehen augenscheinlich als Resultat der Zellsekretion, wobei die Zelle selber degeneriert, indem sie das Chromatin ın Gestalt von Körnchen ın die allgemeine Zellmasse abscheidet.

Die Kerne der Sertoli’schen Zellen ordnen sich gewöhnlich an der Wand der Kanälchen an. Die senkrechte Richtung ihrer Längsachse zur Wand der Kanälchen ist lange nicht so charakteri- stisch und konstant. Die Form der Kerne ıst häufig unregelmäßig, gewöhnlich hat der Kern eine Delle wie die Kaffeebohne (s. Fig. 1).

Auf dünnen Schnitten ist die lappige Form der plasmatischen Fortsätze der Sertoli’schen Zellen deutlich zu erkennen, ebenso wie die Grenzen der Zellen selber. Ist der Schnitt nicht genügend dünn, so geben die Zellen das Bild eines protoplasmatischen Syn- cytiums, in welchem Kerne eingestreut sind.

Sogar bei mittleren Vergrößerungen lässt es sich erkennen, dass die Sertoli’schen Zellen ihre gewöhnliche Form in beträcht- licher Weise abändern können. Ich habe intensiv gefärbte Zellen

798 Iwanoff, Über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden.

gesehen, deren Protoplasma sich zungenförmig gestreckt hat, wobei an. der Spitze dieses Fortsatzes der intensiv gefärbte Kern gelegen war. Am häufigsten werden folgende Bilder wahrgenommen: Die Zelle nımmt eine rundliche Form an, wobei um einen scharf ge- färbten Protoplasmaschnitt gewöhnlich eine helle Zone auftritt. In dem Protoplasma können 1 oder 2 Kerne vorhanden sein, die des- gleichen die Neigung offenbaren, eine regelmäßige, runde Form an- zunehmen und ihre frühere Struktur verlieren. Im Kern sind ge- wöhnlich keine Kernkörperchen mehr zu erkennen. Das Chromatin erscheint in Form zerstreuter Körnchen oder in Form unregel- mäßiger Chromatinanhäufungen (vgl. Fig. 2).

Fig. 3 stellt Übergangsformen Sertoli’scher Zellen in Zellen dar, welche an degenerierende Spermatogonien erinnern.

Herr Prof. Maximow, dem ich das Vergnügen hatte, meine Präparate vorzuzeigen, ist der Ansicht, dass hier neben den Ser- tolischen Zellen wir auch die degenerierten Primordialzellen vor uns haben. Während Herr Tretzakow der Meinung ist, dass sämtliche Zellen Sertoli’sche Zellen sind, indem einige von diesen degeneriert erscheinen. :

Die Bilder der Formveränderung der Sertoli’schen Zellen und der Chromatinstruktur des Kernes entscheiden natürlich noch lange nicht die Frage über die Möglichkeit der Bildung von Spermatogonien aus Sertoli’schen Zellen (Notes diverses sur les cellules testi- culaires par P. Stephan. L’Annee Biologique. Septieme annde p. 63. En ce qui concerne les cellules der Sertoli, ces el&ments chez les Vertöbres superieurs, servent aussi bien a @laborer des substances nutritives qu’a donner par amitose de futures sperma- togonies). Wenn bei der Untersuchung des Hodens eines sehr jungen Zebroids keine Spermatogonien gefunden worden wären, es sich jedoch im Verlauf der Zeit erwiesen hätte, dass z. B. unser Zebroid (dem nur ein Hoden entfernt worden war) die Fähigkeit erlangt hätte, Geschlechtszellen auszuarbeiten, dann würden die Ansichten von Loisel und Stephan über die Natur und die gegenseitigen Beziehungen der Sertolrsschen Zellen und der Spermatogonien eine sichere Bestätigung erhalten haben. Ich teile jedoch durchaus nicht die Hoffnung, irgendwann eine Nachkommen- schaft des von mir untersuchten Zebroids zu sehen und denke mir, dass auch das Maultier nie Nachkommen haben wird (Stephan 6, S. 1474).

Mein Pessimismus ist auf folgende Tatsachen begründet: bereits bei der Betrachtung der Präparate mit mittelstarken Vergröße- rungen lenken kleine, zwischen den Sertoli'schen Zellen zerstreute Zellen mit geringem Protoplasma und intensiv gefärbtem Kern die Aufmerksamkeit auf sich. Bei Betrachtung mit starker Ver- größerung erweisen sie sich als Lymphozyten, die in das Kanälchen

Iwanoff, Über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden. 199

gelangt sind. Stellenweise richten sie geradezu eine Verheerung in den Samenkanälchen an, indem sie nicht nur an den Wänden, sondern auch im Zentrum derselben gelagert sind (vgl. Fig. 4). Die Anwesenheit von Leukozyten ın den Samenkanälchen weist auf einen degenerativen Zustand des Hodens hin. Nur Barde- leben lässt die Anwesenheit interstitieller Zellen in normalen Samenkanälchen zu. Sav. Spangaro (4, p. 752) hält die Ansicht

Fig. 4.

Fig. 4. Ein schiefer Querschnitt durch ein Tubulum contortum. Im Zentrum sind

die gruppenweise angeordneten Lymphozyten, die auch an der Peripherie der Tubuli

zwischen den Sertoli’schen Zellen beobachtet werden. Lmph = Lymphozyten; Zz Zwischenzellen.

von Bardeleben für wenig wahrscheinlich. Nach den Unter- suchungen von Spangaro dringen die Zwischenzellen nur im 3. Grade der Altersatrophie in die Tubuli contorti ein. In unserem Fall wird die Degeneration des Samenkanälchens nicht durchs Alter, sondern durch die Abwesenheit von Samenzellen verursacht, da eine Störung der normalen funktionellen Tätigkeit des Samenkanäl- chens nicht ohne Einfluss auf den Bau von dessen Hüllen bleiben kann und darf, welche auch, wie ersichtlich, für fremde Zellen

.

Sso0. Iwanoff, Über die Ursachen der- Unfruchtbarkeit von Zebroiden.

durchgängig geworden sind. Auf Grund dieses Verhaltens ist zu erwarten, dass ım Hoden des Zebroids mit der Zeit die Erschei- nungen der Atrophie und der Degeneration der Samenkanälchen sich immer weiter ausbilden werden.

Es muss jedoch bemerkt werden, dass diese Fragen nur dann endgültig gelöst werden können, wenn eine vergleichende histo- logische Untersuchung der Hoden von Hybriden (Maultier, Zebroid), vom jüngsten Alter angefangen, ausgeführt sein wird.

Wenden wir uns nun dem Gewebe zu, in welchem die Samen- kanälchen gelegen sind. Dasselbe besteht aus einem Parenchym und Stroma, wobeı ersteres ebenso wie im Hoden des Maultiers?) das Stroma an Menge übertrifft. Die Bündel des fibrillären Binde- gewebes von Corpus Highmori ausgehend zerfallen in eine Anzahl sich allmählich verfeinender Fortsätze und bilden gleichsam Netz- maschen, in welchen die Samenkanälchen und das interstitielle (Gewebe eingelagert sind. In seinen dicken Bündeln ist das fibrilläre Bindegewebe reich an elastischen Fasern.

Das vorwiegende Zellelement des Hodenparenchyms vom Zebroid bilden die interstitiellen Zellen mit großem, rundem, scharf abgegrenzten Kern; letzterer ist gewöhnlich exzentrisch im Proto- plasma gelagert, ıst selber schwach gefärbt; dagegen sind das Kernkörperchen und die Chromatinkörner intensiv tingiert. Der dem Kern anliegende Protoplasmabezirk ist stärker gefärbt und weist eine feinkörnige Struktur auf. Die Zellgrenzen sind hier (auf dünnen Schnitten) deutlich, so dass von einem Syneytium nicht die Rede sein kann. Die Herkunft dieser Zellen war der Gegenstand der Untersuchungen und des Streites der Arbeiten von Loisel, Regond, Stephan, Ancel et Bonin, Felizet, Branca, Bichon et P. Leandelige, Fages, Gantini u. a. Der Drüsen- charakter dieser Zellen wird jedoch von keinem Forscher bestritten. Die Entwickelung der sekundären Geschlechtsmerkmale, der bei den Zebroiden deutlich ausgeprägte Geschlechtsinstinkt, bei voll- ständigem Fehlen von Spermien im Hoden, welcher jedoch reich an interstitiellen Zellen ıst, bestätigt abermals die Bedeutung der sekretorischen Fähigkeit dieser Zellen für die Entwickelung der sekundären Geschlechtsmerkmale und des Geschlechtsinstinktes.

Das folgende Zellelement des interstitiellen Gewebes ım Hoden des Zebroids stellen die gewöhnlichen Bindegewebezellen mit lang- gestrecktem Kern dar. Außerdem sind in dem Bindegewebe noch zahlreiche Leukozyten vorhanden, welche teils zerstreut, teils in Gruppen gelegen sind.

Der Durchschnitt der Samenkanälchen des Zebroids weist häufig einen verschiedenen Durchmesser auf. Desgleichen wechselt auch

1) Vgl. Stephan p. 38.

Iwanoff, Über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden. s01

die Dicke der Tunica propria der Kanälchen. Das Hodengewebe ist von einem Netz von Blutgefäßen und Nerven durchzogen.

Der geringere Durchmesser der Samenkanälchen des Zebroids im Vergleich mit dem Durchmesser der Kanälchen des Pferdes und anderer Nichthybriden steht meiner Meinung nach in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Fehlen des Prozesses der Spermagenese in den Samenkanälchen des Zebroids. In dem Hoden eines jungen, noch nicht geschlechtsreifen Tieres ist der Querschnitt der Samen- kanälchen beträchtlich kleiner als bei dem Tiere, welches die Ge- schlechtsreife erlangt hat. Wenngleich die Zunahme des Quer- durchmessers der Samenkanälchen nach der Ansicht von Saverio Spangaro der Mengenzunahme der Geschlechtszellen in den Kanälchen auch nicht proportionell verläuft, so gehen doch diese beiden Prozesse miteinander Hand in Hand.

Der histologische Bau des Hodens des Zebroids unterscheidet sich somit beträchtlich von demjenigen des Maultierhodens, wie ihn Stephan schildert. Beim letzteren sind nur Anlagen von Samen- kanälchen vorhanden: „On trouve aussi, mais rarement, des cavites dont l’aspeet presente un grand interet; elles ne sont bordees sur tout leur pourtour. que d’une couche d’elöments; les noyaux appartenant ä cette couche sont de diverses categories (Fig. 5): les uns sont de veritables noyaux de Sertoli et presentent des differentes varietes d’aspect de ces derniers; les autres sont des noyaux assez semblables a ceux des cellules gönitales primordiales que l’on ren- contre partout: ıls sont peut-etre plus petits un peu plus chroma- tiques, rappellent d’avantage des noyaux de spermatogonies. Autour de ces derniers noyaux sont individualisdes des masses protoplasmatiques, quı forment de veritables cellules.“ Der von mir beschriebene Bau der Samendrüse des Zebroids ähnelt dem Bau des Hodens eines Hybrids des Kanarienvogels und des Stieglitz. In seiner Arbeit berichtet Stephan (6, S. 1470): „Chez le moulet il n’y a pas des tubes söminiferes loın delimites, mais des amas irröguliers de cellules genitales primordiales; chez I'hybride canarı-chardonneret les tubes s&miniferes sont bien developpes, remplis d’un syneytium de Sertoli fibrillaire tres developpe sans cellules genitales differen- ciees; ıl est difficılle de considerer un de ces deux etats comme plus evolue: ıls semblent irreductibles Fun a Yautre.“

Die Cauda epidyd. des Zebroids gleicht nach ihrem histologi- schen Bau vollständig der des Pferdes. Jedoch ıst auch hier das Lumen des Kanälchens bedeutend enger, wie es auch zu erwarten war, vollkommen frei von Zellelementen; in ihnen lassen sich nur runde, protoplasmatische Körner, das Sekret der Epithelzellen er- kennen (Fig. 5).

Der histologische Bau des Corpus Epididymidis weist eine bereits mit unbewaffnetem Auge erkennbare Eigenheit auf: es werden

XXV. 5]

er,

Jg 802 Iwanoff, Über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden.

07

nämlich hier Kanälchen mit sehr weitem Lumen angetroffen (Fig. 6); der histologische Bau der letzteren unterscheidet sich durchaus von dem Bau der Kanälchen, wenn auch beim Pferde. (Fig. 7.)

Hiermit schließe ich meine vorliegende Abhandlung und gehe zur Frage über, wodurch die Abwesenheit von Geschlechtszellen bei den Hybriden, welche im übrigen nicht nur normal entwickelt sind, sondern sogar ihre Eltern an Kraft, Ausdauer und Langlebig- keit übertreffen, erklärt werden kann.

Fig. 5. Fig. 7.

Fig. 5. Cauda epidyd. Ein Querschnitt durch eines der Kanälchen. E Fig. 6. Corpus epidyd. Ein Längsschnitt. Beinahe natürliche Größe. Fig. 7. Corpus epidyd. Ein Querschnitt durch einen Teil der Kanälchen.

Sämtliche Präparate stammen von Zebroid „Menelik“ (Eguus cabal. S' und Chap- mani &). Die Zeichnungen (mit Ausnahme von Fig. 1 und 6) sind mittelst Zeichenapparat Abbe, Oc. III, Ob. 2 mm ausgeführt.

Ein Versuch, die Unfruchtbarkeit der Hybriden zu erklären, ist schon bei Felix le Dantee in dessen Traite de Biologie 1903 p. 333 vorhanden: „Nous pouvons nous faire une idee de la raison de cette particularıte (sterilite des Hybrides) nous reflechissons que les produits sexuels mürs ne se forment jamais que dans la gen6ration A » chromosomes. Or nous avons &te conduits A penser que cette generation A m chromosomes correspond A l’etat associe de la matiere vivante c’est-A-dire A un 6tat tel que la demi-molecule mäle et la demi-molceule femelle, qui agissent synergiquement dans les r&actions de l’assimilation, soient accolees en une mol6cule

Iwanoff, Über die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Zebroiden. 3053

unique, au lieu de former deux pöles distants comme les deux pöles d’une pile.

Or remarquons que dans un hybride les deux d&emi-mol6eules compl&mentaires n’etant pas de m&me espece, 2! leur sera peut-etre impossible de s’accoler en ume molecule unique, quoique leur action synergique en tant que pöles distants, permette l’assıimilation, la multiplication des substances ä chacun de ces pöles. Mais alors, la generation & n chromosomes n’existera pas puisqu’elle r&sulte precisöment de l’etat associe, dans lequel chaque demi-molecule mäle est accol&ee a une demi-molecule femelle.

Sans pretendre qu’il y ait la une explication definitive cette remarque nous empeche de nous &tonner trop de cette sterilite inattendue.*“

Stephan sucht die Ursache der Unfruchtbarkeit der Hybriden- männchen in dem späten Auftreten der Synopsis ım Hoden.

Derartige Betrachtungen genügen jedoch nicht und erklären wenig. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Behauptungen kann nicht bewiesen werden, da sie nicht experimentell nach- kontrollliert werden können und tatsächlich nichts aufklären.

Ich meinerseits erlaube mir auf einen Umstand hinzuweisen, welcher, soweit mir bekannt ist, wenig beachtet worden ist. Ich habe hier die Tatsache des Verschlingens der Spermien durch Leukozyten in den Geschlechtsorganen weiblicher Säugetiere im Auge. Davon hatte ich Gelegenheit, mich bei meinen Versuchen an Pferden zu überzeugen. In der Literatur finden sich darüber Angaben in den Arbeiten von Rossi, Plato und Sobotta. Bei der Einspritzung der Spermien unter die Haut oder in die Bauch- höhle wird dieselbe Erscheinung beobachtet; das Resultat derartiger Injektionen ist das Auftreten einer spezifischen Substanz im Blute des Tieres, des sogen. Spermatoxins, welches eine spezifische Wir- kung auf die Spermien der Art ausübt, die das Material zur In- jektion abgab. Es drängt sich auf diese Weise von selber die Annahme auf, ob nicht die Erscheinung der Ausbildung des Sperma- toxins im Blute der Mutter einen Einfluss ausübt. Die Anwesen- heit des Spermatoxins müsste auch ungünstig auf die Ausbildung der Geschlechtszellen der Frucht einwirken und zwar zunächst des männlichen Geschlechtssystems, wobei jedoch in der Entwickelung desselben keine besonderen Abweichungen stattzufinden brauchen, außer der Abwesenheit normaler Spermien und der daraus folgen- den degenerativen Veränderungen im Bau der Kanälchen (geringerer Durchmesser, stärker entwickelte Tunica propria, ausschließliches Vorwiegen Sertoli’scher Zellen, Eindringen von Lymphozyten in die Kanälchen).

Von diesem Gesichtspunkt aus sind die Tatsachen der Frucht- barkeit der weiblichen Säugetierhybriden, sowie die Fruchtbar-

51*

804 Iwanoff, Über die Ursache der Unfruchtbarkeit von Zebroiden.

keit beider Geschlechter der Fischhybriden (z. B. der Forellen) er- klärlich.

Im ersteren Falle können die Spermatoxine, welche spezifisch auf die männlichen Spermazellen einwirken, die weiblichen Ge- schlechtszellen sich entwickeln lassen. Was die Fruchtbarkeit der Fischhybriden anbetrifft, so kann dieselbe dadurch erklärt werden, dass die Befruchtung bei diesen Tieren außerhalb der Mutterkörper sich vollzieht und damit die Möglichkeit der Entstehung der Sperma- toxine beseitigt wird.

Meine Betrachtung, welche ich jedoch durchaus nicht als ein- zıge Erklärung der Unfruchtbarkeit der männlichen Hybriden an- nehmen möchte, kann experimentell nachgeprüft werden. Bestätigt sich meine Annahme, dann müsste der Versuch gemacht werden, die schädliche Wirkung der im Blute der Mutter vorhandenen Spermatoxine durch Injektion eines entsprechenden Antispermatoxin- serums zu paralysieren.

Auf diese Weise könnte es vielleicht gelingen, die hartnäckige Abwesenheit von Spermien bei den Hybriden zu bekämpfen und Fruchtbarkeit bei den männlichen Hybriden zu erzielen, welche im übrigen mit Ausnahme der Abwesenheit von Spermien nicht nur normal sind, sondern sogar ihre Eltern an Stärke und kräftigerer Organisation übertreffen.

Meine nächste Aufgabe wırd darin bestehen, hierauf gerichtete Versuche anzustellen.

Literatur.

1. J. C. Ewart. The Penycenik experiments. London 1899. General introduction p- 87, 88. 2. E. Iwanoff. a) La fonction des vesicules s@minales et de la glande prostatique dans l’acte de la fecondation. Journ. Phys. et Phat. Gen. Paris. T. 2, p. 95—100. b) Über die künstliche Befruchtung von Säugetieren und ihre Bedeutung für die Erzeugung von Bastarden. Vorläuf. Mitt. Biol. Centralbl. Bd. 23, p: 640 —646. 4. Saverio Spangaro. Über die histologischen Veränderungen des Hodens, Nebenhodens und Samenleiters von Geburt an bis zum Greisenalter. Anat. Hefte. Erste Abteilung, 60. Heft (VIII. Bd. Heft 3), 1902. . Stephan. a) Sur la structure histologique du testicule des Mulets. ©. R. de l’Assaciat des Anatom. IV. Session. Montpellier 1902. 6. b) Sur J’interpretation de quelques details histologiques des organes genitaux des hybrides. Bulletin Mensual de la Reunion biologique de Marseille 19031. IL, _Nt. 75 pP... 14070. 7. Andr@ Suchetet. Des hybrides & l’&tat sauvage. V. I, 1896, p. 62.

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Gorjanovic-Kramberger, Der diluviale Mensch von Krapina. Ss05

Der diluviale Mensch von Krapina und sein Verhältnis zum Menschen von Neandertal und Spy. Von Prof. Dr. Gorjanovic-Kramberger.

Dem Ansuchen des Herrn Prof. Dr. R. Hertwig ın München, ein kurzgefasstes Resume über das Verhältnis des Menschen von Krapina zu jenem von Spy und Neandertal zu geben, kann ich um so bereitwilliger entsprechen, als ich gerade meine umfassende Arbeit über den Homo primigenius aus Krapına schreibe und weil ich andererseits wenigstens vorläufig über das größte bisher aufgesammelte fossile Menschenmaterial verfüge. Freilich sind meine Studien noch lange nicht abgeschlossen, aber trotzdem können in Kürze nachfolgende Ergebnisse als feststehend betrachtet werden.

Was den Schädel der oben genannten drei Repräsentanten der Art Homo primigenius betrifft, so kann hervorgehoben werden, dass sowohl der Mensch von Krapina als auch jener von Spy und Neandertal einen und denselben Schädeltypus repräsentieren, der sich, was das Schädeldach anlangt, durch seine niedere fliehende Stirne, die sehr starken Überaugenränder (im Sinne Schwalbe’s) und das geknickte Hinterhauptbein (Occipitale) (beim Inıon) aus- zeichnet. Diese beiden Merkmale sind indessen bei Schädeln jugend- licher Individuen noch nicht scharf ausgeprägt. Es wurden im ver- flossenen Sommer in Krapina zwei unvollständige Schädelkalotten gefunden, die uns eben in sehr erwünschter Weise über das Ver- halten dieser beiden so wichtigen Merkmale bei jugendlichen Indi- viduen aufklären. Was zunächst die Überaugenränder betrifft, so belehrt uns die eine der Kalotten, dass das Kind des Homo primigenius, gerade wie dies auch bei den Anthropomorphen der Fall ist, noch keine starken und vorstehenden Tori supraorbitales besessen hat und dass sich dieselben erst mit der stärkeren Ent- wickelung der Schläfenmuskeln einstellten. Doch gewahrt man schon in der ersten Anlage der Überaugenwülste, dass sie ein zusammen- hängendes Ganzes bilden. Die zweite ebenfalls einem Kinde an- gehörige Kalotte zeigt uns wiederum die hintere Schädelpartie und zwar vom Hinterhauptsloch (Foramen magnum) bis zum Bregma. Der Schädel ist noch sehr rund und die Hinterhaupts-(Inion-)Knickung noch nicht so deutlich ausgeprägt wie an Schädeln erwachsener Individuen. An diesem Schädelstücke konnte bezüglich des Ver- hältnisses des äußeren zum Innenrelief des Hinterhauptbeines (Ocecipitale) festgestellt werden, dass die Protuberantia interna tiefer liegt als die externa und zwar beträgt die Entfernung beider 23 mm. Es fällt demnach der Torus lateralis ganz in das Gebiet des Oceipital-Hirns. Mit allem dem ist nun abermals die von Klaatsch hervorgehobene Übereinstimmung im Baue der Hinter-

306 Gorjanovic-Kramberger, Der diluviale Mensch von Krapina.

hauptpartie der Schädel von Neandertal, Spy und Krapina er- wiesen.

In Krapina wurde ferner ein ganzes Gesicht mit dem rechten Seitenwandbein und dem Schläfenbeine bis zum Occipitale zurück gefunden. Von der Stirne ist nur der basale Teil erhalten und an diesem sehen wir jene typischen Überaugenwäülste (Tori supra- orbitales) in ihrer ganzen Erstreckung ausgebildet. An diesem Schädelfragmente ist es sehr wichtig, dass wir imstande sind, die „Norma verticalis“ mit ziemlich großer Sicherheit festzustellen. Daraus ergibt sich die Schädellänge mit 178 mm und die Breite mit 149 mm, woraus sich wiederum der Längenbreitenindex mit 83,7 berechnen ließ. Die Variationsbreite des longo-lateralen Index bewegt sich also beim Homo primigenius zwischen den Werten 74,4 und 83. Es war also der Homo primigenius ein langer, mittelbreiter Dolichocephalus (Neander, Spy I) mit Übergängen zu mittellangen, mittelbreiten (Krapina) und zu mittellangen, breiten Dolichocephalen (Spy U) im Sinne Török’s. Doch bewegen sich diese vier Kalotten bezüglich dieser Werte knapp an der Grenze der einzelnen Abstufungen d. h. es fließt eine Schädelform in die andere über. An diesem Gesichtsschädelstücke können wir nun abermals das Stirnnasenprofil in seiner ganzen Deutlichkeit ersehen; es bildet dasselbe eine bloß durch die glabellare Schwellung unter- brochene Linie, die uns an das Profil von Schimpansen erinnert. Da dieses Profil keine Knickung bei der Nasıon, wie dies beim rezenten Menschen der Fall ist, erfährt, so erscheint auch die ganze vordere Stirnbasis des Homo von Krapına herab- oder vor- gezogen. Dies belehren uns eigentlich die entsprechenden auf die Nasıon bezogenen und ineinander gezeichneten Profile, an welchen wir eben die Ansatzstelle der Siebplatte (Lamina cribrosa) beim Homo von Krapina tiefer finden als beim rezenten Menschen. Auch sei bemerkt, dass die Lamina samt dem Hahnenkamm (Crista Galli) bei letzterem Menschen eine schräg nach hinten geneigte Stellung zeigt.

Die großen hohen hypsoconchen Augenhöhlen haben eine etwas schief viereckige Gestalt und abgerundete Ecken. Die Nase ist sehr breit und die Nasenbeine sind hie und da bloß teilweise verwachsen. An unserem Gesichtsskelette zweigt beispielweise die obere Internasalsutur plötzlich nach links ab.

Auf das Schläfenbein (Temporale) übergehend können bereits konstatierte Tatsachen nur bekräftigt werden. Wir sehen da eine kräftige Gelenkgrube (Fossa glenoidalis), einen dicken röhrigen Paukenring (Os tympanicum) und einen noch kleinen Warzen- fortsatz (Proc. mastoideus). Sowohl das Os tympanicum als der Proc. mastoideus sind Teile, die zwar mit dem individuellen Alter noch verstärkt werden, doch findet man ersteres bei Kindern

Gorjanovic-Kramberger, Der diluviale Mensch von Krapina. 807

verdickt und den letzteren überall sehr klein. Der Sulcus sigmoideus fehlt oder kommt in allen Abstufungen bis zu sehr starker Ausprägung vor. Längs des Felsenbeines (Os petrosum) ist zuweilen kein Sulcus petros. super. oder nur teilweise sicht- bar; an einem Stücke aber bildet er eine auffallend starke 4 mm breite kontinuierliche Rinne am Längsrücken des Felsenbeines. Außer dem Hirn- und Gesichtsschädel besitzen wir im Unter- kiefer ein außerordentlich wichtiges und charakteristisches gemein- sames Merkmal der in Rede stehenden fossilen Menschenart. Dieses Merkmal dürfte wohl das allerwichtigste sein, da es, wo immer diese Menschenart gefunden wurde, auch immer denselben Typus aufweist. Von den bekannten Unterkiefern sind dies derjenige von La Naulette, Spy I, Schipka, Ochos und vor allem die von Krapina. Die letzteren Kiefer stehen aber schon deshalb allen anderen voran, weil von dort eben nicht weniger als neun Unterkiefer verschieden alter Individuen, die sämtlich einen und denselben Typus zeigen, vorliegen. Dieser gemeinsame Typus aller Unterkiefer des Homo primigenius liegt in dem Umstande, als alle mehr oder weniger prognath sind, dass alle bloß ein im Entstehen begriffenes Kinn zeigen!) und eine dicke, geebnete, vordere Unter- kieferbasis und keine Kinnstachel (Spina mentalis interna) be- sitzen. Ferner weist der Unterkiefer dieser diluvialen Menschenart eine mehr oder weniger starke sublinguale Exkavation (vor allem der Unterkiefer von Ochos und La Naulette), worin eben die von modernen Menschen noch abweichenden Ansatzstellen der Muse.

1) Bezüglich der Kinnbildung möchte ich bloß in aller Kürze bemerken, dass mich die Beobachtungen, die ich an den mir vorliegenden Unterkiefern des Homo primigenius und Homo sapiens fossilis gemacht habe, zur Ansicht bringen, dass die erste Veranlassung zur Kinnbildung dennoch eine Reduktion der Kieferlänge und dadurch der Zähne (Anzahl und Größe) war. Denn, durch das la Aal Zurückgehen der Kieferprognathie wurde gleichzeitig auch eine Reduktion des zahn- tragenden Teiles des Unterkiefers eingeleitet und dadurch eben eine Verminderung der Zahnzahl und Größe bedingt. Mit der Rückwärtskrümmung der vorderen Kieferplatte nämlich, wurde der betreffende Kieferteil und damit auch die Wurzeln der vorderen Zähne (C und J) verkürzt. Gleichzeitig nahmen auch die betreffenden Zähne eme zur Kieferbasis geänderte Lage an. Als eine nun notwendig gewordene Verstärkung der vorderen Kieferplatte bildete sich dann das Kinn heran, welches eben mit dem Zurückgehen der Kieferprognathie im ursächlichen Zusammenhange steht. Die diluvialen Kiefer zeigen schon eine solche Reduktion des Kiefers und der Zähne und mit dem bereits deutlich sichtbaren Zurückgehen der Kieferprognathie, sehen wir auch die erste Anlage eines Kinnes gegeben, welches bei den oberdiluvialen Kiefern bereits das heutige Aussehen erlangt hat. Das Kinn ist kein spezifisch menschliches Merkmal, sondern ein, einer gewissen mechanischen Beanspruchung Rechnung tragendes Gebilde und deshalb auch bei anderen Tieren in verschiedener Weise und Stärke ausgebildet anzutreffen. Ob und inwiefern die Musc. genio- glossi und Muse. sgeniohyoidei bei der Kinnbildung beteiligt waren, ist mir unmöglich zu entscheiden, da ich mir diesbezüglich keinerlei Überzeugung ver- schaffen konnte.

S08 Gorjanovi6-Kramberger, Der diluviale Mensch von Krapina.

genioglossi und M. geniochyoidei liegen. Die Anheftungs- stellen des Muse. genioglossus nämlich sind hier längliche, mehr oder weniger vertiefte Rauhigkeiten, die wie gesagt keine Spina bilden. Die mediane, hie und da erhobene Leiste unter dem Fora- men, hat mit der eigentlichen Spina nichts zu tun. Es erübrigt noch etwas über den Ast des Unterkiefers zu sagen. Es können da leider keine Vergleiche mit anderen Kiefern des Homo primi- genius gemacht werden, doch darf man wohl annehmen, dass bei der allgemeinen Übereinstimmung der in Rede stehenden Reste auch die übrigen Vertreter dieser Art gerade solche Unterkieferäste wie der Homo von Krapina besessen haben. Die Incisura mandıbulae ıst flach in den Ramus eingeschnitten und die tiefste Stelle des Einschnittes ıst nahe beim Capitulum, woraus sich ein breiter Proc. coronoideus ergibt. Letzterer ist an seiner Außen- fläche eingesenkt. Analog der Fovea für den Musc. pterygoid. ext., welche an der vorderen Innenseite des Halses liegt, befindet sich auch daneben an der vorderen Außenseite noch eine etwas schwächere Fovea, weil auch auf dieser Astseite der Gelenkkopf etwas wegsteht und weil hier der Gelenkkopf noch eine knapp unter demselben liegende Schwellung besitzt, wie man eine solche z. B. beim Gorilla und hie und da auch beim rezenten Menschen (hier nur andeutungsweise) beobachtet.

Der Zahnbogen des Unterkiefers zeigt kein einheitliches Bild; wir beobachten da alle Gestaltungen: eckige, hufeisenförmige, breite U-förmige u. s. w. Stets ıst der Zahnbogen groß und weit und die Zähne kräftig. Die Molaren und Backenzähne zeigen zahlreiche Schmelzfalten, die Schneidezähne weisen wiederum an ihren Lingual- seiten häufig konische Falten auf, an ihrer Schneide aber (bei noch nicht im Gebrauche gestandenen Zähnen) gewahrt man Krenierungen. Die Eck- und Schneidezähne sind langwurzelig und die Wurzeln nach rückwärts gekrümmt.

Zu den Gliedmaßen übergehend, können ebenfalls nur wenige übereinstimmende Momente hervorgehoben werden, weil davon aus Neandertal und Spy zu wenig vorliegt. Doch kann ich bemerken, dass die obere Extremität jedenfalls (insbesondere beim Krapiner) zarter gebaut war als beim modernen Menschen. Es sind die Schulterblätter, die Schlüsselbeine, Ober- und Unterarmknochen, die einen derartigen Schluss zu ziehen uns erlauben. Das Schulter- blatt des Homo von Krapina zeigt beispielweise große Differenzen gegen den rezenten auf, die sich hauptsächlich in einer bedeutend großen Incisura scapulae und der Lage der Gräte (Spina), welche stark aufwärts geneigt ist, offenbaren. Die Grätenecke (Acromion) ist schmäler als beim rezenten Menschen, die Gelenk- grube (Fossa glenoidalis) zeigt bei allen (Spy, Neandertal, Krapina) eine länglich-ovale Gestalt mit abgestumpftem Rande; und

Gorjanovic-Kramberger, Der diluviale Mensch von Krapina. 809

bei allen ist die Cavitas nach hinten geneigt. Kein einziges Schlüssel- bein aus Krapina ist so stark wie das des Neandertalers; alle, selbst das kräftigste nicht ausgenommen, sind zierlicher. Einige. davon zeigen eine starke Torsion.

Die Oberarmbeine (Humerus) des Homo von Krapina haben gewöhnlich eine durchlöcherte Fossa olecrani. Der Epicondylus lateralis ist stark vorstehend, was auch von den Oberarmknochen des Neandertalers bekannt ist. Über dem Epicondylus internus sieht man an dreien Humeri noch deutliche Reste des gewesenen Foramen supracondyloideum, welches noch an zweien Stücken in Gestalt einer tiefen, fast durchbrochenen schmalen Rinne er- halten blieb. Letztere Eigentümlichkeit ist auch an den Spy- Neandertal-Humeri zum Teil wahrnehmbar.

Bezüglich der Speiche (Radıus) und der Elle (Ulna) muss vor allem ihre Grazilität und der Umstand, dass sie gebogen sind, her- vorgehoben werden. Von den Handwurzelknochen besitze ich ein sehr gut erhaltenes Kopfbein (Capitatum. Dasselbe zeigt ins Auge springende Differenzen gegenüber dem des Europäers. Der Gelenkkopf ist nämlich sehr groß und seitlich abgeflacht, wodurch er beispielweise an jenen des Gorilla erinnert.

Es möge noch bemerkt sein, dass der Jockbogen des Homo primigenius, wie dies Fraipont und Klaatsch vermuteten, wirk- lich nach vorne zu abbog und diesbezüglich an Verhältnisse ge- mahnt, die man bei den Anthropomorphen beobachtet. Ebenso kann die Annahme Klaatsch’s, dass die Kieferregion des Homo primigenius eine etwas weiter vorspringende war, als sie Fraipont skizzierte (siehe: Klaatsch: „Occipitalis und Temporalis der Schädel von Spy...“ auf S. 404) als zutreffend bezeichnet werden.

Vom Becken liegen zwei Bruchstücke vor, wovon eines in der Größe, dem Baue und dem Erhaltungszustande, fast ganz dem des Neandertalers gleicht. Das andere, etwas kleinere Beckenstück ist sehr interessant, weil es durch eine breite Rinne (17mm) für den Obturatus internus Übereinstimmungen mit dem Becken einiger Naturvölker (z. B. Jaunde, Formosa) zeigt und durch diese wiederum an Verhältnisse erinnert, wie sie diesbezüglich bei den Anthro- pomorphen in einem viel stärkeren Maße beobachtet werden.

Das Oberschenkelbein (Femur), wie viel dies nach den beiden aus Krapina vorliegenden Stücken : beurteilt werden kann, stimmt ganz mit dem von Neandertal und Spy überein. Mehrere Waden- beine aus Krapina rühren von verschieden alten Individuen her; sie sind zumeist glatt und zeigen eine gerade Crista lateralis; sie gemahnen an die Wadenbeine der Australier und teilweise an die der Anthropoiden. Die vorliegenden Kniescheiben (15) sind von der üblichen Gestalt, nur weisen einige am oberen Außen- rande eine Inzisur auf, die zuweilen einen aufwärts gekehrten

810 Gorjanovic-Kramberger, Der diluviale Mensch von Krapina.

hakigen Vorsprung zeigen. Eine leichte Einbiegung des oberen Außenrandes ist an der Spy-Patella sichtbar.

In Krapına wurden ferner 7 Sprungbeine gefunden, die sämtlich ein und denselben Typus aufweisen. Sie sind kurz, dabei ist der ebenso kurze Hals medialwärts gekrümmt. Die Trochlea ist eben- falls stark verkürzt und die Krümmung des Caput sehr bedeutend. Der aus der Breite und Länge des Knochens berechnete Index beträgt 83,3 (im Sinne Klaatsch’s gemessen), oder 85,3 (im Sinne Leboucgs). Die Variationsreihe der neolithischen und modernen Talus bewegt sich nach Leboucgq zwischen 80 und 77,3. Für den Talus von Spy II berechnete er 91,07. Nachdem der Talus des Krapinamenschen sonst sehr gut mit dem des Spy Il übereinstimmt, so kann die Variationsbreite des obigen Index im Sinne Leboucg’s als zwischen S5,5—-91,07 für den Homo primigenius angenommen werden.

Auch das Würfelbein (Orbordewm), von welchem ein rechtes und ein linkes vorliegt, zeichnet sich gegenüber dem des Europäers durch mehrere Eigentümlichkeiten aus. Vor allem ist der Knochen des Krapiner dicker als beim rezenten (sein Längenhöhenindex —= 69,8, beim rezenten 58,5), ferner ıst die Gelenkfläche für das Sprungbein (Calcaneum) kürzer und etwas steiler. Ihr hinterer unterer Rand ıst breit und abgerundet und nicht so ausgezogen wie beim rezenten Menschen. Auch die Gelenkfläche für den Mt. V. ist beim Krapina- Würfelbein nicht nach auswärts gebogen.

Bezüglich der Mittelfußknochen möchte ich vorläufig nur be- merken, dass sie schlank sind, der V. aber gebogen ist, insbeson- dere in seinem vorderen Drittel. Die Tuberositas desselben Mt. V. ist sehr stark.

Über die Beschaffenheit der Wirbelsäule kann vorderhand noch nichts berichtet werden.

Dieses kurze Resume und meine bereits über diesen Gegen- stand ausgesprochenen Erörterungen lassen deutlich erkennen, dass die bisher bekannten diluvialen Menschenreste von Neandertal, Spy, La Naulette, Schipka, Ochos und Krapina einer und derselben Art, nämlich dem Homo primigenius angehören. Aber unsere Erörterungen lassen weiter noch erkennen, dass sich der Homo primigenius fast ın allen seinen Charakteren an den rezenten Menschen anschließt, d. h. dass vom Homo primigenius eine un- unterbrochene Entwickelungsreihe über den oberdiluvialen Homo sapiens fossiis zum rezenten Homo sapiens besteht. Dies beweisen die zahlreichen Krapinareste, an denen man bereits viele Merkmale des modernen Menschen beobachtet, aber es beweisen dies auch mehrere typische Kennzeichen des Homo primigenius, die man am

Ce EI nu DEE

Gorjanovic-Kramberger, Der diluviale Mensch von Krapina. 811

rezenten Menschen noch hie und da antrifft. Abgesehen davon, dass es sogar noch höhere rezente Unterkiefer gibt, als es der höchste Kiefer von Krapina ist, beobachtet man noch breite und eckige Zahnbögen, schwach entwickelte Kinne, ja noch mehr, wir finden an Australiern noch hie und da echte Überaugenwälste (Tori supraorbitales) (Klaatsch); ferner besitze ich einen rezenten oder neolithischen Unterkiefer mit einer ebenen dicken Basis, wie wir eine solche an den Unterkiefern von Spy I und Krapina sehen. Ferner beobachten wir an rezenten Kiefern hie und da zahlreichere Schmelzfalten an den Molaren, keine Kinnstachel u. s. w. Kurz wir sehen heute noch eine ganze Reihe von Merkmalen, die wäh- rend des älteren Diluviums .das allgemeine Kennzeichen des da- maligen Menschen bildeten, jetzt nur mehr hie und da atavistisch auftreten, als auch anderseits moderne Charaktere an den alt- diluvialen Menschenresten. Es kann demnach nach allem dem keinem Zweifel unterliegen, dass vom Homo primigenius bis auf den heutigen Menschen gehend, eine Kontinuität in der Entwickelung besteht.

Prof. Dr. Schwalbe meint in seiner „Vorgeschichte des Menschen“ (p. 30), es wäre „die Annahme, dass der rezente Mensch direkt vom Neandertalmenschen hervorgegangen wäre, durchaus nicht nötig.“ Doch gibt er gleichzeitig die Möglichkeit einer direkten Abstammung der jetzt lebenden Menschen vom Homo primigenius mit den Worten zu: „Zwar sprechen manche Tatsachen zugunsten dieser direkt transformistischen Ansicht,“ und auch seine „am Schädel ausgeführten Untersuchungen sind mit jener Ansicht wohl zu vereinigen“. Freilich waren bis vor kurzem die diluvialen Menschenreste noch zu spärlich vorhanden, um einen umfangreicheren Vergleich mit den rezenten Menschen zuzulassen, nach welchen sich eben unsere vorher gemachten Schlussfolgerungen von selbst ergeben. Denn, die große Variabilität der einzelnen osteologischen Charaktere des Homo primigenius einerseits und das stete Eingreifen derselben in die Variationsbreite des rezenten Menschen, sind eben Data, welche jenen diluvialen Menschen all- mählich in den Homo sapiens übergehen lassen.

Ganz fremdartig erscheint aber bezüglich unserer genetischen Reihe das Erscheinen des Menschen von Galley-Hill aus Eng- land. Denselben studierte Klaatsch und nachher besprach ihn auch Rutot. Da das Alter der Lagerstätte des Menschen von Galley-Hill allgemein als intakt und altdıluvial bezeichnet wird, die in Frage stehenden Reste aber nach den vergleichenden Stu- dien Klaatsch’s dem oberdiluvialen Menschen von Brünn ım hohen Maße entsprechen: so muss man jenen, zufolge seiner Kinnbildung, den teilweise vorhandenen Supraorbitalwülsten u. s. w. der Form Homo sapiens fossilis, also einem jüngeren Gliede der Entwicke-

812 Gorjanovic-Kramberger, Der diluviale Mensch von Krapina.

lungsreihe des Homo primigenius zuteilen. Ziehen wir die relativ große chronologische Differenz zwischem dem Brünner-Menschen und dem des Galley-Hill, welch letzteren Rutot ins Mafflien stellt und als mit der Fauna des Klephas antiguus für kontemporän hält, in Betracht: so erscheint uns der Galley-Hill-Mensch als der älteste bis jetzt bekannte diluviale Mensch. Dabei ist außerordent- lich auffallend sein dem rezenten Menschen ähnliches Aussehen bei einer gleichzeitig großen Divergenz gegen die sogen. Neandertaloide Rasse. Da die Entwickelungsreihe des Homo primigenius eine wie wir gesehen haben bis heute ununterbrochene war, der Mensch von Galley-Hill aber älter ist als der Homo primigenius und dabei ein jüngeres Stadium aus der Entwickelungsreihe des Homo primigenius darstellt, so müssten wir notwendigerweise (falls natür- lich die Altersbestimmung der Reste von Galley-Hill über alle Zweifel erhaben ist) annehmen: dass seit dem ältesten Diluvium bereits zwei Menschenarten nebeneinander lebten, wovon die eine der Mensch von Galley-Hill sich früher und rascher von dem vom Homo primigenius eingeschlagenen Sinne weiter entwickelte und bis auf heute sich erhielt, so zwar, dass er bereits im ältesten Diluvium die Stufe des Homo sapiens fossilis des Lößmenschen erreichte, während die andere, die wahrscheinlich unter schwierigeren Lebensbedingungen zu kämpfen hatte, zurückblieb und erst später im oberen Diluvium -—- das Stadıum des Menschen von Galley- Hill erreichte.

Was endlich das Verhältnis des Pithecanthropus aus den ober- pliocänen oder unterdiluvialen Bildungen Javas betrifft, so kann man ihn durchaus nicht direkt in diese genetischen Betrachtungen einflechten, weil er in seinem zeitlichen Auftreten bestimmt zu jung ist. Denn, wenn der Mensch von Galley-Hill wirklich altdiluvial ist und wenn meine obigen Schlussfolgerungen richtig sind, so musste der Homo primigenius bereits ein Zeitgenosse des Pithe- canthropus gewesen sein, von welchem jener bereits im Pliocän generisch getrennt war. Von einer Parallelisierung des Homo primigenius mit den Anthropoiden kann um so mehr Ab- stand genommen werden, als sie ja in unsere genetische Reihe nicht hinein gehören und man bezüglich der osteologischen Cha- raktere bloß von Analogien zwischen beiden sprechen kann.

Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.

Alphabetisches Namenregister,

A.

Abel 349.

Agassiz 32.

Aitken 170.

Albert, E. 182. 183.186. 158. Ancel S00.

Andreae 270.

Anthony, R. 636.

Apathy 679. 680. 695. Apstein, ©. 8. 328.

Arber zB Ar N2A]IS: Aristoteles 450.

Arrhenius S. 443. 444. 656. Ascoli 418.

Auerbach 699.

Avenarius 370. 589.

B.

Babes 154.

Babinet 566.

Bach 598.

Baglioni, S. 556.

Bähr 182.

Balbiani 83. 783.

Baranetzky, J. 249.

Bardeleben, K. v. 799.

Bashford 153.

Bechterew 694 695.

Beer, Th. 447. 474. 475. 479. 670. 715.

Beijerinck 159.

Belt 606.

Belzung 690.

Benecke, B 326.

Beneden, E. van

Benson, M. 413.

Bergh, R. S. 20.

Bernard, Cl. 597.

480.

Bernstein, J. 44 Berthold 43. 100. 301. Besana, G. Cav. 357.

Bethe, A. 447. 474. 475. 479. 670. 672. 675. 679. 680. 695. 696. 699. 700. 715.

Bichon 800.

Biedl, A. 91.

Bielschowsky, M. 679. 680. 681. 682. 683. 684. 686. 690. 693. 694. 695. 696. 697. 699. 700. 701. 730.

73a1r 732. Binney 402. Blachmann 116. Blackmann 101. Blasius 218.

Blochmann, F. 93. 169. 639.

640. 646. Bobretzky 727. 728. 788. Boecker, E. 605. Bois-Reymond, E.

Al SON TA: Bokorny 362. Bonin S00. Bonnet, K. 790. Bonnier, G. 229. 572. Bordet 399 656. Bormann 364.

Borrmann 154. Boussingault 566. Bouvier 341.

3overi, Th. 100.

Branca S00.

Brandt, K. 44.

Brauer 7S2.

Braun, Al, 69. 466. 794.

Braus, H. 733. 734. 735.736.

Tal 188. 13923 7A0: Bravais 574.

Brehm, A. E. 224. 226. 470.

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Brockhaus 10.

Brown 411.

Bruno, G. 523.

Büchner, L. 35.

Buffon 42.

Bühler. A. 465. 469. 472.

Bütschli, ©. 43.44. 93. 301. 379. 389. 446. 447. 448. 449. 450. 451. 471. 696.

Buttel-Reepen, H.v.47. 133. 169. 194. 220. 227.

©.

Cagniard-Latour 128.

Cajal, R. y. 680. 681. 694. 695. 697. 698. 699. ZOOS 29T TS0TTSE SD A!

Calltius, N. 468.

Candolle, A, de 566.

Carlgren, O. 253. 308.

Carnoy 683.

Chamberlain

Chmielevsky

Chodat 598.

Cholodkowsky 471.

Christy, ©. 431.

Chun 500. 505. 507.

Claparede, E. 457. 459. 479.

Cohn, Ferd. 21.

Colin 790.

Cook, Me. 119. 169. 279.

Cooper 236.

Cope 508. 509. 511.512. 513. ST. ler

Coste 790.

Coulter 74. 75. 76.

Creplin 350,

692.

74.02 115:

S14

Cronheim, W. 360. Culmann 182. Cuvier 34.

Czapek, Fr. 157. 158. 449.

D.

Dahl 507. Dalla Torre v. Dangeard 597. Danzinger, G. 528. Dareste, ©. 7%.

322, 496,

Darwin, Ch. 45. 62. 68. 69. 232. 333:

120. 332.

79. 118-119. 233. 306. 307.

363. 391. 427. 445. 449. 657. 659. 660. 661. 769. 768. 775. 776. 789.

Darwin, Fr. 251. Davenport, ©. B. 560. Davis 601.

Delage, Y. 63. 236. 309. Delbrück, M. 128. Detto, C. 226. Dettweiler, F. 637. Dickel, ©. 723. 780. Doflein, F. 497.

Dreyer 44. 301.

Driesch, H. 34. 44. 45. 306. 379. 381. 384.

309838. 386. 467. 700. Dröscher, W. 325.

Dubois, E. 192. Dubois, R. 477. Duerden 309. Duerst, U. 636. Dumas 790. Dutrochet 241. Dutton, J. Ev. 431. Dybowski 510.

E.

Ecker 271. Efron 10.

Ehlers, E. 253. 254. 255 537. 547.

Ehrenberg 18. 24.

Ehrlich, P. 399. 400. 654. 655. 656.

Ehrmann 218.

Eichler 68.

Eimer, Th. 32.

Ellis 309.

Emery, C. 118. 160. 169. Ur A TE 624. 638. 639. 640. 652. 653.

Engelmann, Th. W. 360.379.

Ernst, Chr. 47. 169.

Escherich, K. 132. 485. 490. 782. 794.

524. 527. 624. 729. Ewart, J. ©. 789. 790.

F. Fabrieius 181.

Fages 800. Falz-Fein 791.

Famintzin, A. 599. 689. 690.

Faraday 387. 388. Barmer 219) 152% Fearnley 566.

Fechner 717.

Felizet 800.

Ferrant, V. 197.

Fick, A. 527.

Fielde, A. 132. 290. Finsch, 469. Fischer, Alfr. 159. 689. Fischer, E.

588. Fischer, M. H. 527. Fish 398. Flahault, Ch. 564. 572. Fleischmann, A. 508. Flemming, W. 683. Flower 423.

Fol 387.

Horels ASt 169, 170. 175. 200. 214 AI Pe re 2) 280. 282. 300. 454. 456. 457. 459. 475. 478. 479. 485. 497. 519. 520. 521 522, 523. 608. 621. 622. 623. 624. 627. 642. 644. 646. 653. 666. 667. 668. bram a2:

Forrel 51. 124.

Frank 580.

Frank, K. 197.

Friedenthal, H. 420. 425.

Fruhwirth, ©. 619.

Frye 73.

Fuchs, H. 192.

Fürth, ©. v. 60.

&.

Galiani 39. Gallardo 389. Ganglbauer, L. 271. Gantini S00. Gaupp, E. 271.

Gegenbaur 734. 739. 740.

Sl 22 (0 (Alle Fischer, H. 128. 159. 336.

Alphabetisches Namenregister.

Gehuchten, van 681. 731.

Gerassimoff 600.

Gerber 790.

Gill 236.

Giltay 270.

Glaser, L. 52.

Gleiches, Baron de 790.

Godlewski, E. 250. 251.

Goebel, K. 42. 65. 302. 773. TIL,

Goethe, J. W. 33. 35. &. 67. .78..82.292.1324. 325. 330:

Goette 466.

Göldi, A. 170. 171. 172.

Göldi, E. A. 169. 170. 172. 178. 181. 497. 607. 608. 609. 610. 616. 617. 631. 633.

Goldschmidt, R. 481.

Golgi 681. 692. 97500 ZI; 740.

Goltz, F. 527.

Göppert 564.

Gorjanovi6-Kramberger SO3.

Gosse 18.

Gossler, v.

Göze 471.

Graber, V. 1.2.3. 478.715.

Grand’Eury 414. 416.

147. 235.

693. a.

694.

Raıl®

354.

. Grassberger, R. 654.

Graus 730. Green 500. 507. Griffith 411.

. Gruber 597.

Grünberg, K. 431. 432.

Guerne, J. de 27. 28.

Guldberg 399. 656.

Günther, R. F. 235. 605. 606.

236.

H.

Haake 253. Haberlandt, G. 463. 556. 580. 585. 586. 587. Häcker, V. 101. IS2l53: Haeckel, E. 35. 343. 344.392. 422. 523. 524. Hagen, v. 646. 653. Hamar 737. Hamburger 426. Hansemann, D. v. 151. 167.

446. 4 582. ,D 690. 106.

66. 2% SBRu BR)

466.

Harmer, S. 537. 5 545. 546. Harrison 734. 735. 739. Hartmann, E. v. 379. 381. 382. Hartog, M. 301. 387. Hatschek, B. 537. 538. 542. 546. Hebenstreit 790. Heck 464. Hegi, G. 528. Heidenhain, M. S4. 145. 796. Heider, K. 546. Heim, P. J. B. 169. Heinricher 5S4. Heinz, R. 63. 64.

43.

Held, H. 680. 681. 686. 693. 694. 696. 697. 699. Be 732.033% 134: 740.

Helmholtz, H. 2. 41. 292. AS 1A:

Henking 90. Henle, J. 44. Henriksen, M. E. 560. Hensel, P. 592. Hensen, V. 28. Herder 554. Hering, E. 366. 368. Hering, H. E.. 447. Hermann, b. 557. Herouard 236. 309. Herrmann, E. 58. Herschel, B. J. 38. Hertwig, O. 480. 737. Hertwig, R. 86. 144. 255. 465. 466. 530. 737.009:

Hertz, H. 36. 37. 38. 46. 296. 300. 304. 305. 306.

308. 435 Heymons, R. 723. 783. 785. Hildebrandt, Fr. 471. Eis 2W27733.. 740. Höber, R. 64. Hodgson, T. V. Hofer, B. 362. Hoffmann, E. 52. 54. 55. Hofmeister, F. 381.

574.

Hofmeister, W. 65. 69. 82.

83. 241. Holland 500. 507. Hollrung, M. 655. Holmboe, J. 567. Horaz 295. Horn 271. Huber, J. 606. 616. 625. Huber, G. 688.

‚Hal.

LIU T3O:

310.

540.

683.

‘18.

779. 145. 605.

784.

576.

Alphabetisches Namenregister.

Hubrecht, A. A. W. 723. Humboldt, A. v. 323. Hume 375.

Hunt, R. 566.

Huxley, Th. 395. 422. 511.

1.

Ibsen, H. 588. Ihering, H. v. 176. 178. Ingenkamp 128. Issakowitsch, A. 529. Iwanoff, E. 789.

22]

J.

Jacobi 217.

James, S. P. 428. Janet. Ch 120413302134: 161. 169. 180. 610. 616.

627. 647. 651. Jennmes, 412'8:.192.92.

607. 608. 610. Jickeli 472. Jordan, H. 451. Jordan, K. 351. Jost 449. Julin 480. Junckel 217. Jung, R. 684.

K.

Kaigorodow, D. 12. Kant, 288. 303: 308% 439. 442. 456. 59. Kasanzeff 146. Kassowitz, M. 753. Kelvin, Lord 443. Kerr 734. Kidston, R. 413. Kienitz-Gerloff, F. 33. 292. 400. Kirchhoff, G. 60. Kirkhaldy 236. Klaatsch 192. 805. 809. Klebs, E. 153. 154.

Klebs, G. 77. 100. 104. 598. 635.

Klein 793.

Kleinenberg 346. 736.

Klemm 554.

Knauthe, C. 329. 360. Knight, Th. 82. Knower, H. 778. 788. Kohl 600.

Kolbe 271.

Kölliker, A. v. 698. 702.

370.

677.

s10.

815

Korotneff 253. 254. 256. Korschelt, E. 546. Kranichfeld, H. 657. Kraus, R. 398. Krause, F. 688. Kies, Je v2 558. Kuckuck, P. 528. Kükenthal, W. 343. ls Bil Kulagin, N. 468. Kusnezow, N. J. 60. Küster, E. 635. Kützing 128.

510.

L.

Lachmann 93.

Lamarck 32. 79. 235. 776.

Landois, L. 420.

Lang 114.

Lange, Fr. Alb.38.40. 41.43.

Lankester, R. 605.

Laplace 304. 442.

Lasswitz, K. 375.

Lauertz, F. B. 62.

Lauterborn 601.

Leabeater 790.

Leandelige, P.

Lebedinsky, J. 5

Leboucq 809.

Lecaillon 477.

Leconte 271.

Lee, B. A. 2.

Legahn, A. 560.

Lehmann, Alfr. 300.

Leidig 539.

Lemmermann, E. 495.

Lendenfeld, R. v. 574.

Lenhössek 731.

Leuckart, R. 480.

Leydig, F. 696.

Liebig, J. v. 128. 326.

Lillie, F. R. 559.

Linden, M. Gräfin v. 31, 32.8

Lindner, P. 159.

Liston, W. Gl. 428.

Livingstone 773.

Loeb, J. 309. 474. 527.559. (rs lale

Loisel, G. 468. 798. 800.

Lotsy, J. P. 97. 106.

Lottin 574.

Lotze 586. 717. 749.

Lubbock 127. 132. 506. 715.

Lueiani, L. 556.

Lucka, E. 588. 589.

Lugaro 730.

Lukas, Fr. 458. 460. 461. 464. 475. 477.

816

Luther, M. 38. Lydekker 423.

M.

Mach, E. 36. 46. 293. 589.

Madsen 656.

Magitot 510.

Marcus, H. 479.

Marshall Hall 715.

Martin, R. 548.

Marx 548.

Massart, J. 715.

Matte, H. 411.

Matschie 464.

Matzat, H. 46. 300. 304.

Maupas 144. 145.

Maupertuis 46.

Mayer, J. R. 367.

Maximow 798.

Maxwell 444.

Meissner, G. 478.

Mendel 109. 112. 113.

Mereschkowsky, ©. 593.

689.

Metsehnikoff 41. 468. 783.

Meyer 157. 158.

Meyer 57.

Meyer, A. 600.

Meyer, Herm. v. 182.

Meyer, Semi 699.

Meynert 749.

Mez, C. 353.

Michaelis, L.

362. SER)

Michaelis, S. A. 20. 24.

2526: Mikosch 690. Mill, J. St. 464. Mohn, H. 567. Moleschott, J. 35. Molisch, H. 28. Moll, J. W. 621. Möller, Alfr. 176. 177.

607. Montgomery 378. Monti, R. 494. Moore 151. 152.

Muckermann, H. 277. 278.

279. 651. 652. Müllenhoff, K. 42. Müller, Fritz 175. 391. Müller, Heinrich 683.

Müller, Johannes 456. 714.

716. Müller, ©. F. 350. 531. Müller, R. 635. ) 20. Munk, H. 479. Murrich, Me. 255.

146. 148.

602.

470.

515.

606.

N.

Nagel 309. 317. Nagel, W. 557. 558. Nägeli, C. v. 227. Nansen, F. 696. Nassonow 271. Naumann 57. Nawroth 511. Nemee 449. 450. 5 Nencki, M. 368. Neumeister 378. 759.

Newton, J. 439. 664. Nicolaysen, ©. 572. 573. Nielssen, L. P. 569.

Noack 722. 723. 780. Noll, F. 384. 449. Nuell, J.,P. 477. 718. RE Rage Te Nutall 399. 418. 419. AD ADD TAT LDE

®.

Obermayer 418. Olive 600.

Oliver, F. W. 401. ÖOltmann 689.

a

Osborn 508. 509. 513. 517.

518. Ostwald, W. 294. 295. Östwald, Wolfg. 494. Oudemans, J. Th. 60. 61. Owen 19. 511. 512.

P.

Pallas 224. Parinaud 718.

Parker, G. H. 236. 309. 312.

Pasteur, L. 128. Pearson 560.

Perez 505.

Perrier 253.

Bertz, D7251: Peschel, ©. 42. Petersen, W. 350. 351. Petrunkewitsch 784. Pettenkofer, M. v. 362.

Petzold, J. 295. 296. 300.

Peyrimhoff, de 271.

Peyritsch 76.

Pfeffer, W. 243. 244. 449. 450.

Pflüger, E. A. 379. 769.

Philipps 600.

Pick 418.

756. 758.

Nissl, F. 693. 730. 731. 740. 783.

719. 750. 420. 425.

157. 241,242:

Alphabetisches Namenregister.

Plate, L. 63. 337. 338..339. 340. 341. 342. 343. 344. 345. 346. 347. 348. 349. 350.

Plato 803.

Plateau, F. 270.

Poincare 435. 446.

Porsild, M. P. 558. Prandtl, H. 144. Prevost 79. Prowazek 144.

_Purkinje 691. 692. 693. 694.

695. 697. 698. 699. 700. 701. 702. Pythagoras 42.

®. Quetelet 566.

R.

Raädl, E. 1. 96.

Rapp 308.

Rappaport 588.

Reaumur 42.

Rebel, H. 61.

Reddingius 718.

Regnard, P. 360.

Regond S00.

Reh 637.

Reichenow 464.

Reinke, J. 20. 25. 26. 27% 28..29.230533. 34835. 38.39.40.41.42.43.44.45. 46. 47. 292.293. 294. 295. 296. 297. 299. 300. 301. 302. 303. 304. 305. 306. 302. 32923307 3310333: 33423192 381223922392: 394. 400. 433. 524, 525. TONEZOS TEE

Renault 401.

Retzius, G. 482. 682.

Reuleaux 297. 298.

Rhumbler, L. 43. 44. 501.

Ribbert 154. 466. 467.

Richter, H. E. 443.

Ridley 170. 497. 498. 500. 507.

Ritter 783.

Robin 783.

Rohweder, J. 57.

Romanes, G. J. 3! 676. 677.

Röntgen, K. 330.

Rosa, D. 337. 338.345.

Röse 510.

483. 681.

Alphabetisches Namenregister.

Rosenberg 104. 113. Rosenthal, J. 368. 713. 741. Rosenthal, W. 656. Rosenzweig 684.

Ross, J. 580.

Rossi 803.

Rössle, R. 394. 418. Rössler, Ad. 52. 54. 61. Rubner, M. 771. Rupertsberger 142. Russo 91.

Rutot S10. S11. Ruttner, F. 494.

S.

Sachs, J. 97. 241. 336. 582. 690. 740.

Sahlberg 202.

Salesky, J. 368.

Salensky 795.

Sampoio de Azevedo, A.G. 607.

Sars, M. 308.

Saville-Kent 507.

Schaeppi 734.

Schäfer, K. L. 558. Schaposchnikow, Ch 51293: 9 550796531. 08.,89. Schattenfroh, A. 654. Schaudinn, Fr. 147.

Schenck, F. 558. Schillings, ©. G. 464. Schimkewitsch, W. 546. Schimper 594. 596. 690.

603.

Schleiden, M. 65. 406. 739. Schlosser, M. 508. 509. 513. Schmidt, H. 391. Schmidtmann 362. Schmitt, J. P. 277.279. 280. Schneider, A. 480. Schneider, G. 349. Schneider, K. C. 34, 369. 481. 666. 702. 713.

Scholz, E. 225.

Schopenhauer 370. 677.707. 708. 710. 716.

Schröder, Chr. 30. 51. 58.

Schrohe 128.

Schübeler, F. C. 562. 563. 564. 565. 566. 567. 569. 5720. 521. 572. 573.

Schultz, E. 465. 546.

Schur 418.

Schütt, F. 96.

Schütze 399.

Schwalbe, G. 190. 191. _ 805.

Schwangart, F. 721.

Schwann 128. 525. 735. 738. 739.

XXV.

Schwartze 782.

Scott, D. H. 67. 68. 69.79.

80. 343. 402. 403. 416. Scourfield, D. J. 496. Semon, R. 241. 307.

368. 486. 521. Sernow, S. 9. Sertoli 797. 798. Sieber, N. 368. Simroth, H. 216. Skorikow, A. S. 5 Smith, Gr. 424. Sobotha 803. Spallanzani 25. Spangaro, S. 799. 801. Spaulding, E. G. 475. Speiser, P. 32. Spencer, H. 675. Spengel, J. W. 228. Spinoza, B. 523. Sprengel, Chr. K. 41. Stahl 583.

Stallo, J. B. 46.

Staudinger, O. 58. 61.

Standfuß, M. 56. 58. 217.

Steen, A. 574.

Stein, v. 20. 22. 24.

Stephan, P. 790. 791. 794

798. 800. 801. 803.

Stern 399.

Stiasny, G. 546.

Stopes, M. 411. Strasburger 66. 69. 113. Strassen, O. zur 130. Stumpf, K. 622. 756. Stur 412. 413. Suchetet, A. En Susta, J. 327.

503.

560.

7931. 356. 359.

T.

Taeker 511. Talleyrand 39. Tattersall 236. Tesmer 218. Thaer, A. 326. Thiem 217. 219. Thon, K. 83. Thunberg, T. 558. Todd I HAIR Török 806. Toulouse 718. Towler, H. 606. Toyama 782. 784. Treat, .M. ‚119. Treub, M. 471. Tretzakow 798. Trommer 128. Trow 116.

365.

60.

S17

Tschermak, E. 637. Tschistowitsch 398.

U.

Uexküll, J. v. 447. 452. 453. 454. 455. 474. 475. 476. 479. 490. 670. 672. 715.

Uhlenhut 399. 419. 422.

Ule 175.

Urich An

Uzel, H. 778. Yv.

Vaucher, J. 33.

Verson 481. Verworn, M 700. Vignon 309. Virchow, R. Vöchting 301. Vogler, P. 495. Vogt, K. 34. 33. Voigt, M. 495. Voltaire 39.

364. 379. 556.

319.

190. 394.

302.

496. 326.

688.

Vries, H. de 80. 81. 97. 113. 289. 334. 619. 620. W.

Waage 399. 696.

Wagner 790.

Wagner, R. 717.

Waldeyer 733.

Walker 151. 152. 156.

Walkhoff, ©. 182. 183. 186. 189. 190.

Wallich 93.

Walter, E. 329.

Walther, E. 225.

Ward 189.

Warming 22.

Wasmann, E.647. 117. 121. 129. 159. 160. 161. 193. 256. 271. 273. 289. 455. 456. 457. 459. 460. 463. 474, 478. 485. 490. 491. 492. 193. 519. 520. 521. 522. 523. 524. 525. 526. 527. 621. 637. 638. 639: 640. 641. 642. 643. 644. 652. 673. 675. 676. 704. 205. 706. 715.

Wassermann 399.

Weber, Ed. 746.

Weber, E. H. 714. 717.

Weigelt, K. 326.

52

818

Weigert, K. 731.

Weinberg, R. 485. 548.

Weininger, O. 588. 589. 590. 591592

Weinland, E. 2.

Weismann, A. 62. 63. 103. 113. 114. 220. 445. 466. 469. 471. 473. 529. 530.

534. 536. 663. 728. Weiß, O. 558. Weissenborn 469. Werenskjold, F. 571. 572. Weıry, J. 270. Wettstein, R. v.

562.

Wheeler, W. M. 267. 268. 269. DD OLO TE 280. 282. 284. 290. 291. 637. 645. 646. 647. 650. 652. 653.

226. 252.

1.198263: 273. 274. 278. 279. 288. 289. 641. 644.

648. 649.

White, D. 414.

Wiedersheim, R. 271. 302.

Wiesner, J. 444. 580. 581.

Wigand 40.

Will 722. 780.

Wille, N. 562. 567.

Williamson 402. 416.

Wilson, E. A. 574. 575. 578. 579. 580. 593.

Winkler 790.

Winterstein, H. 556.

Wöhler, Fr. 128. 301.

Wolff, G. 659. 660.

Wolff, J. 182. 186. 188.

Wolff, K. Fr. 65.

Wolff, M. 496. 679. 686. 690. 729.

Wolf, P..H. 277. 278.:279.

Woltereck, R. 62.

Woltmann, L. 548. 500.4n542.592..393:953: 556.

Alphabetisches Namenregister.

Woodward 412.

Woodworth 781.

Wortmann 158.

Wundt, W. 300. 679. 717.

Zacharias, O.. 20. .95. 96. 322. 352. 357. 400. 493. 494. 495. 496. 687. 688.

Di.

Zarnik, B. 91.

Ziegler, H.E. 475. 476. 479. 672. 675. 676.

Ziehen 370.

Zierler, F. E. 508.

Zimmer, ©. 9.

Zittel, v. 514.

Zoth. ©. 558.

Zuntz, N. 353 360. 3061.

Zykoff, W. 9.

/

Alphabetisches Sachregister.

Ne

Abraxas grossulariata 30.

Acacia lophanta 242.

Acranier 235.

Actinie 253. 308.

Actinostola 317.

Adoptionskolonie 124. 131. 199. 256. 277.

Aequatorial-Ostafrika 464.

Allianzkolonie 124. 256.

Alpenflora 528.

Alter 469

Ameisen 47..117. 129. 161. 170. 193. 256. 273. 497. 606. 625. 637. 644.

Ameisengärten 172. 606. 625.

Ameisennester 170. 196. 256. 273. 497. 606. 625. 637. 644.

Ameisennester, künstliche 47.

Amöbe 9.

Amsel 218.

Amphioxides 235.

Anlockung der Bienen und Hummeln durch Blumen 270.

Anopheles 428.

Anpassung 28. 340. 561. 766.

Antarktis 574.

Anthropologie 182. 548. 558 805.

Anthropomorphe 182.

Antiklise 475.

Antikörper 395. 399 418.

Antitoxin 399. 654.

Apatura: ilca var. celytie 225.

Apis 270.

Aptanodytes forsteri 577.

Artentstehung 337. 349. 657.

Ascariden 479.

Atemeles 132. 161.

Atmung der Fische 360.

Atrium 540.

Atta sexdens 176. 606. 625.

34. 51. 182. 226. 285.

Atta octospinosa 181.

Auchmeromyia luteola 432.

Aussterben der Arten 348.

Autosit 735.

Avertebraten, Psychologie der 451. 473. Aves 218. .

B.

Azteca Forel 172.

Bastarde 109. 620. 789.

Befruchtung 148. 411.

Bewegung der Amöben 92, willkürliche der Tiere 460. 473.

Bewusstsein 370. 451. 477. 520. 666. 745.

Bielschowsky-Methode 682.

Bienen 270.

Biochemie der Pflanzen 157.

Biogenetisches Grundgesetz 284. 391.

Biologie, allgemeine 30. 33. 65. 97. 159. 226. 284. 292. 329. 337. 365. 369. 391. 433. 446. 451. 465. 473. 485. 519. 548. 560. 621. 666. 702. 713. 741. 753.

Blastoporus 722. 777.

Blastula 538.

Blitzlicht 464.

Blumen, anlockende Wirkung der 270.

Bolocera 317.

Bombus terrestris 218. 220. 270.

Botanik, Philosophie der 329.

Branchiostoma 235.

Brandmaus 218.

Büchse 464.

c.

Calliphorina 431.

Calymmatotheca Stangeri 412. Camponotus senex, Nest von 170. 507, Caryophyllia 315.

Carum Carvi 572.

52*

820 Alphabetisches Sachregister.

Catocala Schr. 51.

Ceratium tripos (Müll.) 20. Cestoden 349.

Charakter 588.

Chemie, physiologische 157. 560. Chordontalorgan 2.

Chromatin 101.

Chromatophoren 593. 689. Chromosomen 101. 146. 152. 387. Cilien 308.

Cirrusscheide 350.

Coenonympha pamphilus 217. Cölothel 543.

Cricetus frumentarius 219. Cyanophyceen 599. 689. Oycadofilices 402.

D.

Daphniden 529. Deduktion 488.

Deszendenztheorie 30. 67. 159. 226. 284. 334. 391. 394. 418. 442. 485. 624. S03.

Didinien 144.

Differenzierung des Gebisses 508. Diluvium 805.

Dinarda dentata 142. 161. Dipteren 431.

Dominante 42. 297. 330. 762. Doppelkraft 387.

Doppelwesen 99.

Dorsalorgan 539.

Dotterzellen 721. 777.

E.

Einzelnwesen 98.

Ektoderm 539. Embryonalhüllen 787. Embryonalwerden 465.

Endfuß 731.

Eindromis versicolora 721. 77%. Energide 97.

Engramm 366. Entdifferenzierung 465. Entelechie 45. 379.

Entoderm 542. 721. 777. Entoprokten 536. Entwickelungsgeschichte 482. 536. 721.

ddl

Entwickelungsmechanik 43. 182. 216. 226. 529. 561. 734.

Ephippium 533

Epidermis des Blattes als Lichtperzeptions- organ 582.

Epiphytengärten 175.

Erkenntnisprozesse 676.

Erklärung 367.

Extremitäten 182. 807.

F.

Faktoren, biologische, in Staat und Ge schichte 548.

Färbung der Tiere 216. 578.

Färbung nach Bielschowsky 682.

Farne 401.

Fäulnis 128

Faunistik 271.428. 431. 464. 528.574. 605.

Femur 182. 809.

Finalität 33. 226. 292. 437. Fischerei 322. 352. 494. Fischzucht 322. 352. Flagelaten 20. 95. Flimmerbewegung 308. Floristik 528.

Floscularia discophora 17.

Flügelfärbung bei Schmetterlingen 30. 51.

Formica fusca 129. 167. 193. 651. Formica rufa 194.

Formica rufibarbis 193.

Formica sanguinea 200. 651.

Formica truncicola 125.129. 161. 637.644.

Fortpflanzung 99. 144. 529. 789. Frosch, Anatomie des 271. Fruktifikation, männliche 411.

G.

Gärung 128.

Gallus L. 218.

Gebiss 508.

Gehör 1.

Gehörorgan 2.

Generation 97. Generationswechsel 103. 429. Gerste 565.

Geschichte 548.

Geschlecht 588. Geschlechtsbestimmung 529. Geschlechtsorgan 349. 429. 795. Geschlechtsperiode 529. Geschlechtszellen 783. 790. Geschwülste 151.

Gesetz, Schübelersches 561. Getreidearten 565. Gonaetinia 310.

Gonade 83.

Gonotokont 105.

Gott 489. 623.

Grönland 558.

Grundgesetz, biogenetisches 284. 391.

H.

Halbfarne 402. Halcampa 311. Hamster 219. Hefe 128. Hilfsameise 117. Hoden 795.

Alphabetisches Sachregister. 821

Homo primigenius 805: Hordeum 565.

Hühner 218.

Hummel 218. 220. 270. Hybride 109. 620. 789. Hydrachniden 83.

Hydrobiologie 5. 20. 322. 352. 400. 493.

657.

Hymenopteren 47. 117. 129. 161. 170. 193. 218. 256. 270. 273. 428. 497. 606.

625. 637. 644. Hypothesen 433.

I.

Ichthyotänien 349.

Idee 702.

Identitätslehre 456. 519. 621. 667. Immunität 394. 399. 418. 654. Immunitätsreaktion 394. 418. Indien 428.

Induktion 488.

Infusorien 144.

Insekten 1 90227515 7291 17.021932 21722257 256° 220% 273 128! 431. 497. 606. 625. 637. 644. 721. 777.

161. 193. 256. 273.

Instinkt 42. 117. 129. 474. 637. 644. 674. 704.

Intelligenz 705.

Isolation, physiologische 350.

K.

Käfer 271. Kaiserpinguin 577. Kartoffel 565. Karyogamie 144. Karyokinese 101. 146. 151. 387. 481. Kausalität 226. 292. 330. 744. Kernteilung 101. 146. 151. 387. 481. Kittdrüse 539.

Kleinhirnrinde 691. 729.

Kleronomie 475.

Köhlerglaube 485. 519. 621. Koleopteren 271.

Kongostaat 431.

Konjugation 144.

Kontinuität günstiger Varianten 657.

Kontinuitätslehre des Nervensystems 679.

691. 729. Korbzellen der Kleinhirnrinde 691. Körperform des Menschen 482, Kraft 294. 330. Kraftketten 387. Kraftlinien 388.

Krantheorieder Oberschenkelstruktnr 182.

Krapina 805. Kulturpflanzen 561. 619. 635. Kümmelöl 572.

L.

Lagenostoma 406.

Längenwachstum, Periodizität des 249. Lasius flavus 47. Laubblätter 580. Lebensdauer 469. Lepidopteren 30. 51. 217. 225. 721. 777. Leuchtvermögen von Ceratium tripos 20. Leukoplasten 594.

Lichtsinnesorgan 580.

Limax mazximus 222.

Limnobiologie 322. 352. 493. 687. Limnocodium 605.

Linsenfunktion der Epidermiszellen 583. Lokalzeichen 749.

Lomechusa 163.

Lubbocknester 132.

Lyginodendron Oldhamium 402.

I

M.

Madrepore 308.

Mamalia 218. 508.

Mastigocerca minima 19.

Materie 492.

Maultier 790.

Mechanismus 33. 437.

Medusen 605.

Melanismus 221.

Mensch 182. 482. 805.

Mesoderm 537.

Metamorphose der Pflanzen 74.

Metridium 312.

Mimosa predica 242.

Mitteleuropa 271.

Mneme 365.

Monoenergide 97.

Morphologie der Pflanzen 65.

Mosquitos 428.

München 605.

Mus agrarius 218.

Musciden 431.

Mutation 562. 657.

Myrmekophilen 117. 129. 161. 256. 273. 637. 644.

01938

N.

Nahrungstransport 308.

Naturphilosophie 33. 159. 241. 292. 329. 365. 369. 433. 451. 473. 485. 519. 588. 621. 666. 702. 713. 741. 753.

Naturwissenschaft .485. 519. 589. 621.

Neandertal 805.

Nencki, Marcelli, opera omnia 368.

Neolamarckismus 226.

Neovitalismus 33. 292. 369. 433. 524. 753.

Nervenendigung 731.

Nervenentwickelung 734.

Nervensystem 679. 691. 729.

822

Neurofibrillen 679. 691. 729. Neuron 679. 691. 729. Newa 5.

Nordamerika 266. 273. Norwegen 561.

Notholca biremis 18. Notholca triarthroides 18.

®.

Objektalpsychoid 45. z Ocellus 585.

Oecophylla smaragdina 497. Okogenese 228.

Okologie 28. 34. 51. 182. 227. Okologismus 228.

Oocysten 84. Orientierungsbewegung 242. 581.

P.

Paläontologie 67. 182. 401. 508. 805.

Parallelismus, psychophysischer 299. 457. 666.

Parasitismus 431. 637. 644.

Parthenogenese 531.

Passer domesticus 218.

Pathologie 63. 151.

Pedicellina echinata 530.

Periderm 231.

Peridineen 20.

Periode, kritische 657.

Pferd 789.

Pflanzen, Biochemie der 157.

Pflanzenkrankheiten 635.

Pflanzenmorphologie 65. 556. 593. 689.

Pflanzenphysiologie 33. 65. 97. 157. 241. 329. 446. 556. 561. 580. 593. 689.

Pharmakologie 63.

Philosophie der Botanik 329.

Phototropismus 95.

Phylogenese 58. 65 97. 508. 602. 637. 803.

Physioiogie 446. 527. 713. 741.

Phytopaläontologie 401.

Phytopathologie 635.

Pilzgarten 181. 606. 625.

Pinguin 577.

Pinnipedier 579.

Plankton 5. 355. 400. 494. 687.

Plastiden 494. 689.

Plön, Forschungsberichte aus der bio- logischen Station zu 493.

Polyergus 263. 652. :

Polyparium ambulans Korotn. 253.

Potenz 377. 703.

Präzipitine 395. 418.

Primatenskelett, Entwickelungsmechanik des 182.

Probleme 433,

182.7342. 39

536:.,592.0.56

Alphabetisches Sachregister.

Proportionen des. menschlichen Körpers 482.

Protanthea 310.

Pseudopodium 93.

Psychologie, vergleichende 451. 473. 485. 519. 6212 .666.2.202, 2413. TA 753: Psychologie wirbelloser Tiere 451. 473.

Pteridospermeae 414. Purkinjesche Zellen 693.

R.

Rana 271.

Rassenunterschiede 551.

Raubkolonie 122. 200. 260. 273.

Reaktionen der Amöben 92.

Reduktion, progressive, der Variabilität 33%.

Reflex ‚475. 673. 745.

Regeneration 81. 465.

Reizgeschehen 380.

Rhachis 479.

Rhachiskern 479.

Rotatorien 6. 17.

Robben 579.

Rückbildung 71. 339.

S.

Sagartia 313.

Samen 401. 563.

Sauerstoffproduktion durch Algen 360.

Säuger 218. 508.

Schädel 805.

Schmetterlinge 30. 51. 217. 225. 721. 777.

Schnecke 222.

Schwingungskreis 220.

Seele 298. 454. 490. 716.

Sehen 719. 741.

Sekretion in der weiblichen Gonade bei Hydrachniden 83.

Selbsterhaltung 768.

Selbstreinigung der Gewässer 361.

Selektion 51. 233. 289. 306. 333. 350. 445. 657. 764.

Sertolische Zellen 797.

Simocephalus vetulus 531.

Sinnesorgan 446. 556. 580. 714. 741.

Skandinavien 561.

Skelett 182.

Sklaverei, Ursprung und Entwickelung der, bei den Ameisen 117. 129. 161. 193. 256. 273. 637. 644.

Solanum tuberosum B69.

Sorex vulgaris 226.

Sozialismus 548.

Sperling 218.

Sperma 792.

Spermatoxin 803.

Spitzmaus 226.

Sprache 707. 747.

Alphabetisches Sachregister.

Spy 805.

Staat 548.

Station, biologische 493. 558. Statistik 560.

Steinkohlenfarne 401.

Stenamma teneseense Mayr. 277. Sternzellen der Kleinhirnrinde 691. Stoichactidae 255. Strandwanderer 528.

Struktur, funktionelle 182. Suiden 508.

Symbionten 596.

Symbyose 601.

Systemkräfte 42. 296. 330.

m.

Tagesperiode 242,

Tagmen 380.

Tealia 317.

Teleologie 33. 226. 294. 330. 437. 461. 753.

Temperatureinfluss auf die Geschlechts- differenzierung 531.

Tentakel 253. 308.

Tierfärbung 216.

Tierzucht 635.

Toxin 399. 654. 803.

Trajektorium 182.

Trockenheit, Einfluss auf die Tierfärbung 216.

Turdus merula 218.

U. Unfruchtbarkeit 789. Urzeugung 44. 334. 442. 525. VW.

Vanessa urtica var. ichnusa 217. Variabilität 30.58. 219. 337. 560. 561. 657.

823 Variationsbewegung 242. 581. Vegetationsperiode 565. Vererbung 30. 100. 242. 285. 333. 366

595. 776. Verü Ar erjüngung 465. Vitalismus 34. 226. 292. 369. 433. 753. Vögel 218. Volvox globator 95. Volvox minor 95. Voraussetzungen 433.

W.

Wahrscheinlichkeit der Erhaltung und der Kontinuität günstiger Varianten 657.

Waldspitzmaus 226.

Wärme, Einfluss auf die Tierfärbung 216.

Wasserblüte von Volvox minor und Vol- vox globator 95.

Weberameisen 497.

Weininger, Otto 558.

Wille 707. 745.

Winterschlaf 470.

Zahn 508.

Zebra 789.

Zebroiden 789.

Zeichnung der Schmetterlinge 30. 51.

Zellteilung 101. 146. 151. 387. 481.

Zellteilung, heterotype 151.

Zoochlorellen 598.

Züchtung 619. 635.

Zweckmäßigkeit 33. 226. 294 461. 753.

Zweigkoloniebildung 201.

Zwitter 109.

330. 437.

Nun

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Ude 12. 10.

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oben: oben:

oben:

unten: unten:

oben: oben:

Druckfehler.

. 600 fällt die Anmerkung 2 aus. 18. Zeile von unten: 14. 15)

statt Gerassimoff muss Gaidukow stehen.

statt Ernähruag muss Ernährung stehen.

muss es beim 2. Absatz Wahrscheinlich auch Synthese von Eiweißstoffen heißen.

muss nach Eiweißbildner vermutlich stehen.

statt reichen muss reifen stehen.

statt Annahme eine Annahme einer stehen.

statt Oltmanns’ muss Oltmanns stehen.

statt Petersburg muss P&tersbourg stehen.

Zum Literaturverzeichnis S. 604 ist noch nachzutragen: Gaidukow, Abhandl. Berlin. Akad. d. Wiss. Anhang 1902.

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