"n ‘2 Eu r Pier „ L$- ‘ 2 ı$ »> “ 3 r ur ze H N 4 u 4 H y 1% Ei 13.6 I}, 7 BE LS 4 TRBEFSENER | *,*No book or pamphlet is to be removed from the Lab- oratory without the permission of the Trustees, -— [ je } ke = je — om nd Pen | —d ne = 5 > ud I om je = [ =z. P— Accession No. Place, Received Given by ar > 4 r ’ . ’ Dh 5 N Re . IR neX KL ö x h RS s . ET RER, ir Ve Ay m “ 2 ’ s Fr Er . ’ i ö “ % 2 L 3 a ö ‘ BR . DR a = 5 ex ah } x : r . RR ’ | BO AIR 8 | ee’ » ar Bars BE En EIER De er ‘ 2 an I: x N:3 Ya ö a : . 7 £ . 2 2 = es DE ; } % s N h Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Professor der Botanik Professor der Zoologie oO herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Professor der Physiologie in Erlangen. Dritter Band. 1883 — 1884. MeteoSrstEsorkzesteih netten: Erlangen, 1884. Verlag von-Eduard Besold. rk van Fuge Sa m Inhaltsübersicht des dritten Bandes. aınnnnnnannnnnr Die mit * bezeichneten Artikel sind Originalmitteilungen, die mit + bezeich- neten Essays, zusammenfassende Uebersichten u.s w., die nicht bezeichneten Artikel sind Referate, Besprechungen, Kritiken u. s. w. I. Botanik. * Fisch, Beiträge zur Kenntniss der Chytridiaceen " * Zopf, Ueber einen neuen Schleimpilz im a + Staub, Die fossile Flora Japans . + Müller, Biologische Bedeutung der Blonenirtieh + Wilhelm, Einfluss des Sonnenlichts auf Laubblätter : \ + Klebs, Die neuern Arbeiten über die Farbstoffträger der Banden h + Wortmann, Pflanzliche Verdauungsprozesse + Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik = Spaltnilve Volkens, Ueber Wasserausscheidung in liquider Form an den Blättern höherer Pflanzen . : “as Dingler, Ueber das SchötsBl wach rum AR: re tens Fischer, Untersuchungen über die Parasiten der Saprolegnieen . Höhnel, Ueber die Mechanik des Aufbaus d. vegetabilischen Zellmembranen Zopf, Zur Morphologie der Spaltpflanzen Se Trelease, Ueber Kreuzungseinrichtungen einiger Planen Just, Ueber die Möglichkeit, die durch Pflanzen verarbeitete Kohlensäure durch Kohlenoxydgas zu ersetzen BEE Wollny, Elektrizität bei der Pflanzenkultu . . 2... Zopf, Die Spaltpilze Grant Allen, Blumenfarben uk: Palacky, Westgrenze unserer en Sana IRA Russow, Zur Kenntniss des Holzes RE Krabbe, Beziehungen der adenspannine, > zur Endıme Ge Jahreseınge - Wollny, Künstliche Beeinflussung der innern Wachstumsursachen Sachs, Vorlesungen über Ppanzenphysiologie . Detmer, Lehrbuch der Pflanzenphysiologie . De Candolle und Asa Gray, Die Urheimat der einen lan Beier und der Kokospalme L Sorauer, Studien über Verdunstung e e Müller-Hettlingen, Galvanische en an elenden nen Behrens, Saftzirkulation der Pflanzen . x... ee ee. IV Inhaltsübersicht. II. Zoologie. Seite * Rabl-Rückhard, Weiteres zur Deutung des Gehirns der Knochenfische 21 * Mitrophanow, Zur Kenntniss der Hämatozoen . 5 De * Sarasin, Reifung und Furchung des Reptilieneies . . .» » 2... 108 * Griesbach, Bindesubstanz und Coelom der Cestoden . . » OB * Frenzel, Ueber die sogenannten Kalkzellen der se derteper en * Barfurth, Der phosphorsaure Kalk der Gastropodenleber . . . 435 * Gruber, Bemerkungen über die Kerne von Actinosphaerium und. Am proteus . -» APR en eh FE a * J. Dewitz, Ueher Er Bildung de Tunektentuhlers A 2 * Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regeneration . . - Bu ne * Vigelius, ae Untersuchungen über Flustra enbronacen truncata - - - ea her ee * Bertkau, Bora von Mutilla ante ER: 722 + Bülow, Ueber anscheinend freiwillige und Eiusthehe Teilung it Reh folgender Regeneration bei Coelenteraten, Echinodermen u. Würmern 14 + Solger, Ueber einige der anatomischen Untersuchung ee Lebens- erscheinungen der Spongien . . Fa + Brock, Die Akklimatisation von Okren anigulale Kan an den französi schen Küsten . . . Dr Ra + Wiedersheim, Die ae der Vögel a Me REIT Wielowiejski, Studien über Lampyriden . . . N EEE Marshall, Die Ontogenie von Reniera filigrana 0. S. BA RR IRB E Cattaneo, Zur Morphologie der Mollusken . . ». 2 2 2 220... 38 Mäller, Proterandrie -der; Bienen. Mo na UND TR Graff, Rhabdocölidenmonographie . . . 2... 2 2 nn nennen. 134 Eisig, Biologische Studien . . . 142 Pol&jaeff, Ueber d. Sperma und die ee va Sycandraraphanus H, 180 Ev. Martens; Weich: und} Schaltierer.',. 14 nl Ha ra Aa Lubbock, Farbensinn des Wasserflohs ı ı.. . 2m. med mw 223 Schneider, Begattung der Knorpelfische . . . . NEE Kowalewski, Beiträge zur Naturgeschichte der Denen ROSEN ENDE Pflüger, Ueberwintern der Kaulquappen der Knoblauchkröte . . . . . 287 Gaffron, Anatomie und Histologie von Peripatus . . . a ER 5: Vayssiere, Vorhandensein einer Schale bei Notarchus Bunte Paar RE en Joyeux-Laffuie, Anatomie und Entwicklung von Oncidium celtium . . 370 Noorden, Die Entwicklung des Labyrinths bei Knochenfischen . . . . 374 Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen . . 70382 Varigni, Einfluss des Seewassers auf die re des Thonahteh 8384 Gruber, Kernteilungsvorgänge bei einigen Protozoen . . . 389 Schiemenz, Herkommen des Futtersaftes und die Speicheldrisen ‚ Biene 395 Lindeman, Tomicus typographus und Agaricus melleus im Kampfe mit der Eichte, +... -- NS HERRIN EERTERU Behrens, Giftapparat den Sorpionen DANCE aha ni JRERD Behrens, Das Eierlegen von Diplax ee Fur 415 Schlechter, Vererbung der Größe aufd. weiblichen Nachkesumen Bei Picedan 416 Olivier und Richet, Mikroben in der Lymphe der Fische . . . ... . 439 Lendenfeld, Larvenentwicklung von Phoxichilidium Plumulariae n. sp. . 448 Timm, Beobachtungen an Phreoryctes Menkeanus Hoffmr. und Nais . . 49 Inhaltsübersicht Haswell, Phosphoreszenz und Atmung bei Ringelwürmern . Seudder, Eine riesige Stabheuschrecke aus der Kohle Müllenhoff, Entstehung der Bienenzellen.. 8 Bülow, Die Keimschichten des wachsenden Sehranzenderv von ee lus variegatus . Albrecht, Proatlas bei aaa ee Derselbe, Das Rasioceipital bei Anuren . e Sarasin, Ueber die Sinnesorgane und die Fußdrüse. einiler reed: Chatin, Geruchsstäbehen der Fühler von Vanessa Jo . Lendenfeld, Ueber Cölenteraten der Südsee Metschnikoff, Die Embryologie von Planaria pol nos 0a . Packard, Monographie der nordamerikanischen Phyllopoden . Boas, Studien über die Verwandtschaftsbeziehungen der eo Haen : Will, Zur Bildung d. Eies und des Blastoderms bei d. viviparen Aphiden Nassonow, Zur Biologie und Anatomie der Olione . e III. Anatomie, Anthropologie etc. * Obersteiner, Der feinere Bau d. Kleinhirnrinde bei Menschen u. Tieren * H. v. Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart * Metschnikoft, Re über die mesodermalen Phagocyten einiger Wirbeltiere . * Kollmann, Das Merchlae u. EL ick a er D. Wirbefieren + Bardeleben, Das allgemeine Verhalten der Venenklappen + Kollmann, Muskelvarietäten als Spuren alter Herkunft des Menschen + Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina + Gottschau, Ueber die Nebennieren der Säugetiere : + Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung und erste Teilung Er Derieelien Eizelle - ; Stilling, Ueber den Bau ae De en alnd > Holl, Zur Topographie des weiblichen Harnleiters . Kopernicki, Ueber die Knochen und Schädel der Aino Aeby, Schema des Faserverlaufs im menschlichen Hirn und ick Hartmann, Anatomie d. menschlichen Kopfes für Zahnärzte u. Zahnkünstler Ossowski, Berichte über anthropologisch-archäologische Untersuchungen in den Höhlen der Umgegend von Krakau “Gruber, Anatomische Notizen Miclucho-Maclay, Gehirnwindungen Are an ange go Ranke, Physische Anthropologie der Bayern . Ecker, Anatomie des Frosches Strasser, Funktionelle Anpassung der een Muskeln Martin, Bau der gestreiften Muskelfaser Gegenbaur, Lehrbuch der menschlichen ee : W. Müller, Massenverhältnisse des menschlichen Herzens Romiti, Ueber eine sehr seltene Varietät des Nasenbeins Roux, Ueber d. Zeit d. Bestimmung d. Hauptrichtungen d. eoscherdegs Albrecht, Ueber die vier Zwischenkieferknochen, die Hasenscharte und die morphologische Bedeutung der obern Schneidezähne des Menschen. Ein merkwürdiger Idiotenschädel . : . Roux, Ueber die Bedeutung der en 112 126 182 22 286 308 328 440) 506 541 608 701 735 VI Inhaltsübersicht. Seite Schwalbe, Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane . . . 750 Wiedersheim, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere auf Grundlage der Entwicklungsgeschichte . . ». 2 2 2.2.2.2... 7% IV. Physiologie. * Peyrani, Ueber die Degeneration durchschnittener Nervenfasen . . . 23 * Frenzel, Ueber die Mikrozymas in der Leber und im Pankreas . . . 49 * Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina . . .309 *= H. Dewitz, Ueber das verschiedene Aussehen der gereizten and er den Drüsen im Zehenballen des Laubfrosches . . . . EI *® Metschnikoff, Untersuchungen über die mesodermalen ren einiger Wirbeltiere, . ;.y. - . 560 *= Tizzoni, se rlöniklle Studie über die artolle Hessneranien ne Ne bildung von Lebergewebe . . . 583 * Manassein, Ueber die ern eaahrae ul Kate: im Muskelgewehe unter dem Einpuss verschiedener Bedingungen . . N * Peyrani, Einwirkung des Physostigmins auf den Bd ee et * Biedermann, Ueber die Einwirkung des konstanten Stroms und rasch aufeinander folgender Induktionsströme auf Nerven und Muskeln . 116 + Wolffberg, Die physiologischen Grundsätze für die normgemäße Be- köstigung des Erwachsenen . . . Re er ae Se + Nasse, Chemismus der akelshe nz re ee ir + Biedermann, Stadium der latenten Reizung . . . » 2 2.2.2.2... .282 + Biedermann, Ursache der Oeffnungszuckung ee a er + Gottschau, Ueber die Nebennieren der Sängetiere ee ee urn Sich + Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion . . . ee Ich + Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Karkenmarken ER a ee Rückert, Der Pharynx als Sprech- und Schluckapparat ... 2. 2. .2....3 Romanes und Ewart, Zur Nervenphysiologie der Echinodermen . . .. 44 Bubnoff und Heidenhain, Erregungs- und Hemmungsvorgänge . . . 2. 84 Exner, Wechselwirkung der Erregungen im Zentralnervensystem . . 84 Francois-Franck, Beziehungen der Halsvenenbewegungen zu der Tätigkeit der Atmung und des Herzens . . . re Sr hlehet Pöhl, Bildung des Peptons anßerhalb des Veraeahare Be Buceola, Pupillenreaktion bei progressiver Paralyse . . . 283 Urbantschitsch, Einfluss von Trigeminusreizen auf d. eeeehaimen 284 Urbantschitsch, Anästhesie der peripheren Chorda tympani-Faseın . . . 285 Preyer, Elemente der allgemeinen Physiologie . » 2 2 2 2 2.0... 288 Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz . 2... ........8397 Schiffer, Ueber eine toxische Substanz im Harn . . . 407 Fränkel und Geppert, Wirkungen der verdünnten Luft dur A. an 411 Lannois und L£epine, Resorptionsvermögen des Dünndarms . . ....... 447 Hooper, Versuche über die Dehnung der Stimmbänder . . . 2... .. 910 Pflüger, Ueber den Einfluss der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen 596 Roux, Ueber die Zeit d. Bestimmung d. Hauptrichtungen d. Froschembryo 608 Inhaltsübersicht. V. Verschiedenes. = Axel Blytt, Ueber Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung für die Zeitreehnung der Geologie und für die Lehre von der Verän- derung der Arten * Giacosa, Versuche über die in hokan Tafechiehren Enältsuen Keim: sporen niederer Organismen + Kräpelin, Die neueste Literatur auf de Bepiete, ia: Pe ohsehen Zeit- messungen . - Basar: + Kollmann, Zur Bopriffebentinnene org aitscher Aniduen + Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Tinder + Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger . Strieker, Studien über die Assoziation der Vorstellungen Koller, Eine Getreidemilbe als Krankheitserregerin Sattler, Die Jequirity-Ophthalmie Ribot, Die Krankheiten des Willens Ray-Lankester, Eröffnungsrede der Brleeschen Sektion aut len British Association for the Advancement of Seience Behrens, Biologische Station in Edinburg Götte, Ueber den Ursprung des Todes . va Seite , ge er 13 ArEBUIE FH TS RER 4 BZ EZ alt PEN sr Hakle #7 ke ne En en a RER IR > AR En 2772 6. 7005 AL. oA Bioloeisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. IIT. Band. 1. März 1883. Nr.l Inhalt: Staub, Die fossile Flora Japans. — Bülow, Ueber anscheinend freiwillige und künstliche Teilung mit nachfolgender Regeneration bei Coelenteraten, Echinodermen und Würmern. — Rabl-Rückhard, Weiteres zur Deutung des Gehirns der Knochenfische. — Peyrani, Ueber die Degeneration durchschnit- tener Nervenfasern. — Stilling, Untersuchungen über den Bau der optischen Zentralorgane, — Rückert, Der Pharynx als Sprech- und Schluckapparat. Die fossile Flora Japans. So wie die gebildete Welt mit lauten Freudenausbrüchen die heim- kehrende Vega und ihre Gelehrten empfing, ebenso sehen die Männer der Wissenschaft erwartungsvoll jenen Mitteilungen entgegen, die frei von dem Reize des Abenteuerlichen, die wissenschaftlichen Errungen- schaften der kühnen schwedischen Schifffahrer im Einzelnen bieten werden. Als eine solche haben wir die Arbeit aus der fachkundigen Feder A. G. Nathorst’s zu betrachten, die unter dem Titel „Bidrag till Japans fossila flora“ in dem 2. Bande der „Vega-Expeditionens vetenskapliga jakttagelser“ soeben erschien. Der geistvolle Verfasser beschreibt in dieser Abhandlung die fossilen Pflanzen, welche Prof. Nordenskiöld bei Mogi in der Nähe von Nangasaki sammelte und die berufen sind, ein interessantes pflanzen- geographisches Problem zu lösen. Japan liegt, wie bekannt, an der Ostseite Asiens im stillen Ozean und fasst die größten dort liegenden Inseln in sich. Ueber die geo- logische Beschaffenheit des Inselreichs gibt uns Godfrey (Notes on the Geology of Japan. Quarterly Journ. of the Geol. Soc. of Lon- don, Vol. 34 p. 542 ff.) Aufschluss. Wir erfahren da, dass vulkani- sche Gesteine in massenhafter Ausdehnung und Mächtigkeit vorkom- men. Ist jaauch nach J. Rein (Petermann’s geogr. Mitt., XXV. 1879. p. 294) der Vulkan Fuji-no yama zugleich der höchste Punkt Japans, indem er 3745 Meter erreicht. Die vielen heißen Quellen Japans, die erloschenen und zeitweise noch tätigen Vulkane, die öftern Erdbeben, unter denen besonders Nippon und die Umgegend von Fuji-no yama lei- 1 3 Staub, Fossile Flora Japans. den, geben noch heute Kunde von den gewaltigen Kräften, die an der Gestaltung des Inselreichs ihr Teil hatten. Nahe am Meeresgestade, besonders an der östlichen Seite der Hauptinsel, bedecken die jüngern und ältern Alluvialgebilde die mäch- tigen vulkanischen Massen. Dem untern oder mittlern Miocän mag die von Lyman Tos- hibetgruppe benannte Schichtenfolge zugerechnet werden, die aus wechselnden Sandstein-, Thon- und Konglomeratlagern besteht und reich an Petroleum und faserigem Lignit ist. Aus dieser Gruppe kann J. Rein den Blattabdruck von Carpinus grandis Ung. (H. Th. Geyler, Botan. Mitteilungen. Frankfurt a. M. 1881 S. 16—17) heim gebracht haben, welcher der erste und bislang einzige Repräsentant der ter- tiären Flora Japans war. Wir haben hier darauf hinzuweisen, dass diese Hainbuche in der Tertiärzeit weit verbreitet und auf Sacha- lin geradezu die häufigste Pflanze war. Die damals von Geyler ausgesprochene Vermutung, dass die miocänen Floren von beiden In- seln in inniger Berührung sein könnten, wird nun auch durch Nat- horst bestätigt. Er publizirt nämlich eine Mitteilung Lesquereux’s, die sich auf eine Reihe von Pflanzen bezieht, welche Lyman teils auf Yezo, teils auf Nippon sammelte. Dieselben sind: Egwisetum sp., Se- quoia Langsdorffii Brgn. sp. (häufig), Populus arctica Heer, Populus n. 5p., Juglans acuminata var. latifolia Hr. (?), Fugus sp., Quercus pla- tania Hr. (?), Alnus nostratum Ung. (?), Carpinus grandis Ung., Pla- tanus Guilelmae Goepp. (?), Lastraea ef. styriaca Hr. und Taxodium distichum miocenum Hr., also sämtlich solche Pflanzen, die auf die innigste Verwandtschaft mit der Flora von Sachalin hinweisen. Ein beträchtlicher Teil der japanischen Inseln besteht aber aus ältern vulkanischen Gesteinen, die vorzüglich durch trachytischen Por- phyr oder Rhyolith vertreten sind; unter ihnen liegt die Horimui- oder Kohlengruppe, die im Westen Japans und im Norden von Kiusiu am besten ausgebildet ist und der Kreide angehören soll. Sie ent- hält die beste Kohle Japans und scheint mit den jüngern Braunkohlen- lagern der Toshibetgruppe in Verbindung zu stehen, da jene oft in der Gesellschaft von schwarzer glänzender Kohle angetroffen werden. Ein Umstand hat aber für uns besondere Bedeutung, nämlich dass die Kohlenlager der Horimuigruppe heute zum größten Teil un- ter dem Meeresspiegel liegen und unter demselben sich weit erstrecken. Auch die Juraformation findet sich in Japan entwickelt. Prof. J. Rein traf sie auf Nippon (oder wie der gelehrte Reisende behaup- tet, richtiger Hondo oder Honshiu) im Tale des Tetorigawa an und entdeckte in dem hieher gehörigen dunklen, schieferigen Sandsteine folgende Pflanzen: (vgl.H. Th. Geyler, Paläontographica. N. F. IV.5. (XXIV) p. 221—232) Thyrsopteris elongata Geyl.?, Conopteris, Asple- nium argutulum Heer, Adiantites amurensis Heer, Pecopteris Sa- Staub, Fossile Flora Japans. 53 portana Heer, Pecopteris axwiliformis Geyl., Zamites parvifolius Geyl., Podozamites ensiformis Heer, P. tenuistriatus Geyl., P. lanceolatus Sch. in den var. genuina, intermedia und Eichwaldii Heer, P. Reinü Geyl. mit schmalen und breiten Blättern, Podozamites ?, Oycadeospermum ja- ponicum Geyl. und Gingko sibirica Heer. Wie wir in dem frühern den innigen Zusammenhang der miocänen Flora der japanischen Inseln mit der der Insel Sachalin konstatiren konnten, so sehen wir auch hier fünf der charakteristischen Jura- pflanzen, u. z. Asplenium argutulum Heer, Adiantites amurensis Heer, Podozamites ensiformis Heer, P. lanceolatus Sch. und Gingko sibirica Heer, in dem Jura von Ostsibirien, des Amurlandes und am Irkutsk vertreten, ebenso wie Pecopteris Saportana Heer und Podozamites lance- olatus Sch. in der Juraflora Spitzbergens gefunden wurden. Um unser schematisches Bild von dem geologischen Bau Ja- pans zu ergänzen, müssen wir hier noch erwähnen, dass die bisher geschilderten Schiehten auf den Gesteinen der Kamaikolan — der metamorphischen Gruppe lagern, die nach Riehthofen das Rückgrat der Gebirge Japans bilden sollen und von ihm dem Devon oder dem Silur zugerechnet werden. Sie bestehen aus mit Talkschiefer und Glimmerschiefer wechselnden Thonschiefern, ferner chloritischen Schiefern, Serpentin und krystallinischen Kalksteinen. Godfrey hält aber das Alter dieser Gesteine für unentschieden, denn er fand mit Ausnahme eines dem Genus Asaphus angehörigen Trilobiten, den er im nördlichen Teile Nippons in situ entdeckte, keine diese Formation charakterisirenden Fossilien. Schon Heer erwähnt (Flora fossilis Alaskana p. 10), dass von den in der fossilen Flora von Alaska vorkommenden Arten drei (Juglans acuminata, Alnus Kefersteini, Taxodium distichum miocenum) auchin Kamtschatka, und vier( Taxodium, Sequoia, Carpinus grandis, Fagus Antipofi) in der Kirgisensteppe östlich von Kasan gefunden wurden. Es sei hier zugleich erwähnt, dass miocäne Ablagerungen an vielen Punkten der asiatischen Küsten und der benachbarten Inseln vor- kommen. Es sind dies Tatsachen, die deutlich davon zeugen, dass in der miocänen Zeit zwischen Asien und Amerika in diesen Gegenden eine kontinentale Verbindung bestand. Diese Annahme gewinnt dadurch noch mehr an Gewicht, dass die fossilen Pflanzen in Süßwasser, wahrscheinlich in einem See abgesetzt wurden; die sie einschließenden Felsen aber sind heute zur Zeit der Flut vom Wasser bedeckt und Meerestiere und Meerespflanzen haben sich auf ihnen angesiedelt. Es ist dies ein deutliches Zeichen dafür, dass das miocäne Festland höher lag und erst später sank, wodurch der Zusammenhang zerrissen wurde und das zerstückelte Festland seine heutige Gestal- tung annahm. Heer beruft sich hier noch darauf, dass das Bering- meer sehr seicht sei. Nach Kapitän Seammon finden die Schiffe dort überall Ankergrund und die mittlere Tiefe überschreitet kaum 19!/,- 1:7 4 Staub, Fossile Flora Japans. Faden. Die zwischen Alaska und Kamtschatka zerstreut liegenden Inseln, die unter dem Namen der Aleuten bekannt sind, können die Ueberbleibsel dieses miocänen Festlands sein, dessen Senkung wahr- scheinlich in Zusammenhang steht mit jenen mächtigen Vulkanen, die in den dortigen Gegenden noch heute anzutreffen sind. Dieses mio- cäne Festland würde zugleich jene Erscheinung erklären, dass wir in seiner Flora die amerikanischen Elemente mit den asiatischen ver- mengt finden, sowie heute in Asien amerikanische Pflanzentypen und andrerseits in Amerika asiatische Pflanzentypen. Taxodium, Sequoia und Fagus Antipofi, welch letztere der rezenten Buche Nordamerikas sehr nahe steht, leben in ihren Nachkommen heute nur noch in Amerika; Glyptostrobus und Trapa fehlen heute im der amerikanischen Flora, leben aber in äußerst ähnlichen Formen in Japan. Beide Ar- ten waren aber nicht in Nordamerika heimisch; Glyptostrobus gedieh wahrscheinlich über Nordeanada hinaus in der ganzen arktischen Zone bis zum 70. Grad nördlicher Breite, da er auch am Mackenzie und in Nordgrönland gefunden wurde. Später starben diese Pflan- zen in Amerika aus, aber sie erhielten sich in Japan und China; da- gegen starben wieder in Asien Taxodium und Sequoia aus; die erstere verblieb in Mexiko und in den Vereinigten Staaten während die Se- quoien noch heute die Hauptzierde der kalifornischen Wälder bilden. Schon damals, als man die tertiäre Flora Europas studirte, fiel es auf, dass in derselben die amerikanischen Elemente in so beträcht- licher Zahl vertreten sind. So entsprechen mehr als 30 °/, der 700 Arten der Schweizer Tertiärflora amerikanischen Pflanzen. Zur Er- klärung dieser Erscheinung griff Unger auf Platons mythische Insel zurück (F. Unger, Die versunkene Insel Atlantis), die Europa mit Amerika verband. Europas Festland sei damals, sagt Unger, be- trächtlich kleiner gewesen; dagegen erstreckte Amerika seine östliche Küste weit in den atlantischen Ozean hinein, zwischen beiden aber erstreckte sich einerseits über Island, andrerseits über die Azoren, Madeira, die capverdischen und kanarischen Inseln jenes große Insel- land, welchem er den Namen „Atlantis“ gab. Beide Annahmen finden aber heute eine andere Erklärung. Je mehr man mit der lebenden Flora Japans bekannt wurde, um so mehr fiel es in die Augen, dass auch sie eine überraschende Uebereinstimmung mit dem Osten Nordamerikas, aber nicht mit dem Westen zeige; ebenso wie die tertiäre Flora Europas mit der Waldflora Amerikas. Diese Erscheinung erklärte nun Asa Gray, und wie es scheint, richtig. Dieser ausgezeichnete Forscher behauptet nämlich, dass die für Japan und Ostamerika gemeinsamen Pflanzen früher, als das Klima noch wärmer war, sich hoch oben im Norden über die Beringstraße, dort wo zwischen Asien und Amerika fest- ländischer Zusammenhang bestand, ausbreiteten, dass sie aber dann, als das Klima kälter, rauher wurde, gezwungen wurden, auszuwan- Staub, Fossile Flora Japans. 5 dern, einerseits an der Westküste des stillen Ozeans nach Japan zu, andrerseits in südöstlicher Richtung gegen Ostamerika zu. Die Rich- tigkeit dieser Annahme wird eben durch die fossile Flora in Alaska bewiesen. (Vgl. Ref. Nr. 67, S. 479 im Bot. Jahresber. VI. 1878). Die ostamerikanisehen Elemente wanderten ebenso wenig nach Europa, als von Europa nach Amerika, sondern auch sie gerieten von der eircumpolaren Vegetation dorthin. Alle bisherigen Forschun- gen machen es beinahe unzweifelhaft, dass um den Pol ein größeres oder mehrere große Festländer existirten, deren Holzgewächse eine große Uebereinstimmung mit der heutigen Flora des östlichen Teils von Nordamerika zeigen, obwol asiatische und europäische Elemente ebenfalls in ihr vorkommen. Von der alten Flora des eireumpolaren Festlandes verbreiteten sich die Pflanzen vom Pole in radialer Richtung südwärts und ge- langten so nach Amerika, Asien und Europa und von dort, nicht von Amerika, kamen der tertiären Flora Europas die sogenannten ameri- kanischen Elemente zu, die noch heute in ihren unmittelbaren Nach- folgern in Ostasien, besonders aber in Ostamerika leben. Die Floren der beiden zuletzt erwähnten Gebiete gleichen sich also deshalb so sehr, weil sie gemeinsamen Ursprung haben. Dabei wirft sich von selbst die Frage auf, weshalb diese Elemente nicht auch im westlichen Amerika zu finden seien? Die Erklärung findet man schon darin, dass dort in der Tertiärzeit die Verteilung von Wasser und Land eine andere war als heute, aber noch mehr in der Rauhheit des Kli- mas. Es taucht aber noch eine neue Frage auf. Wenn die Elemente der cireumpolaren Flora noch heute in Ostasien und Ostamerika sich erhielten, warum finden wir sie nicht mehr in Europa? Auch diese Frage beantwortet Asa Gray. Ein Blick auf die Landkarte belehrt uns darüber, dass in Nordamerika und Ostasien die Gebirgsketten eine mehr nord-südliche, die Europas aber eine ost-westliche Richtung verfolgen. Als nun auf der Erdoberfläche in der Temperatur eine allgemeine Senkung eintrat, wurden die Pflanzen der eircumpolaren Flora gezwungen ihren Standort aufzugeben und der Zug der Ge- birge musste ihnen dabei natürlicherweise die einzuschlagende Rich- tung weisen. Als aber nach der Eiszeit das Klima wieder milder wurde, konnten die Auswanderer wieder ihren Weg in das alte Hei- matland antreten. Dabei fanden sie in Amerika und Asien den Ge- birgen entlang kein Hinderniss, wol aber in Europa, wo ihnen die hohen mit Schnee und Eis bedeckten Berge den Weg abschnitten. So muss- ten sie in ihrem neuen Heimatlande ihren Untergang finden. Daher kommt es auch, dass in den Wäldern Nordamerikas und Ostasiens sich nicht nur viel mehr tertiäre Typen erhielten, sondern auch viel mehr Arten, wie denn dort noch heute eine solche Fülle von Arten vorherrscht, wie wir sie in den Wäldern Europas vergebens suchen. Diese auf geologischer Basis fußende Hypothese erklärt noch ein 6 Staub, Fossile Flora Japans. anderes pflanzengeographisches Problem, welches sich auf die soge- nannten endemischen Arten bezieht. So betrachten die Botaniker Ginkgo biloba für Japan und Sequoia sempervirens für Amerika als endemische Pflanzen, weil sie heute nirgend anderswo zu finden sind, als in den beiden erwähnten Gebieten. Aus der Verbreitung der fos- silen Pflanzen entnehmen wir aber, dass Ginkgo biloba ebensowenig als die spezifische Pflanze Japans zu betrachten sei, wie Sequoia sem- pervirens für Amerika. Beide wurden einst in gemeinsamer Heimat geboren; sie sind hinsichtlich ihres Ursprungs Bürger desselben Lan- des; dass sie heute einander fremd sind, ist die Folge der großen Wanderung, der eigentümlichen physikalischen Verhältnisse des neuen Vaterlandes oder auch reiner Zufall. Es weist alles dahin, dass wir die Polargegenden als den Bil- dungsheerd der Vegetation betrachten müssen, was ja in vollständi- ger Uebereinstimmung mit jener Hypothese steht, die die Wissenschaft bezüglich des Ursprungs der Erde angenommen hat. Ist es richtig, dass die Erde ursprünglich feurig flüssig war, so musste die erste Abkühlung die Pole treffen und dort zuerst jenen Zustand einleiten, der der Entstehung organischer Wesen günstig war, und wie von jener Zeit an die Abkühlung immer mehr fortschritt, so musste auch die Wanderung der Pflanzen nach südlichern Breiten darin ihren Anstoß finden. So lange nun die Pole dem organisirten Leben die Existenz- bedingungen boten, so lange mussten sie auch die Bildungsheerde der Pflanzen bleiben. Im Laufe der Zeiten konnten so immer neue und neue Arten entstehen, wie tatsächlich nicht eine einzige jetzt lebende Pflanze hinsichtlich ihres Ursprungs bis in die Kreide zu verfolgen ist. Auf ihrem langen und langsamen Wege konnten sich die Pflan- zen den neuen Umständen anpassen und je mehr sie sich in ihrer neuen Heimat einbürgerten, um so eher konnten sie ihre vorweltlichen Eigen- tümlichkeiten verändern. Wir können es nicht unterlassen, hier darauf hinzuweisen, welche Wichtigkeit nunmehr die Geologie für die Geographie, Botanik und Biologie überhaupt gewinnt und wie sonderbar es erscheint, wenn ge- wöhnliche Pflanzenaufzählung nach der Hinzufügung der geologischen und klimatologischen Beschaffenheit des betreffenden Gebiets die vielsagende Ueberschrift „Die pflanzengeographischen Verhältnisse von . ..“ tragen. Nach dem Vorgebrachten wollen wir nun die Flora Japans in ihren Hauptzügen betrachten. Mit Ausnahme seines nördlichsten Teils liegt das Inselreich in dem äquatorialen Teile der temperirten Zone oder genauer ausgedrückt, zwischen der Isotherme 0° für den kälte- sten Monat und der Jahresisotherme 20° C., und so lässt sich schon vermöge seiner Lage auf seine Vegetation ein Schluss ziehen. Durch die Lu-tschu-Inseln steht es mit den Philippinen in Verbindung, gegen Norden zu aber über Yezo mit der Insel Sachalin und dem Amur- Staub, Fossile Flora Japans. W lande, ferner durch die Kurilen mit Kamtschatka und endlich bringt es Korea mit der Mandschurei und China in Zusammenhang. Daraus folgt, dass in der Flora Japans mehr oder weniger ein Gemenge von ostindischen und ostasiatischen Formen vorkommen muss; außerdem aber finden sich in derselben amerikanische oder besser gesagt cir- ceumpolare Elemente vor. Die endemischen Pflanzen Japans. — Von besonderer Wichtigkeit für Japan ist das Uebergewicht der Holzpflanzen über die andern, welches nach Miquel sich in dem Verhältnisse 1:4 äußert, daher bedeutend größer ist, als im nordamerikani- schen Waldgebiet, wo dieses Verhältniss 1:6 beträgt. Diesbezüglich ist J. Rein’s Schilderung der Waldvegetation des Fuji-san (Peter- mann’s geogr. Mitteil. 1879. S. 365) von besonderm Interesse; ebenso ist es eine charakteristische Eigentümlichkeit der Flora Japans, dass die Zahl seiner endemischen Genera 35 beträgt, unter denen viele monotypisch sind; wie Grisebach überhaupt unter den von Miquel aufgeführten 900 Genera der Gefäßpflanzen Japans nur 16 fand, die ein Dutzend oder mehr Arten enthalten. Grisebach (Die Vegetation der Erde nach ihrer klimatischen Anordnung. 1.) sagt nun, dass die Flora Japans ihren Reichtum vorzüglich der Einwan- derung verdanke, leugnet aber die Behauptung Asa Gray’s, der, wie erwähnt, in der Flora Japans eine größere Uebereinstimmung mit dem Osten Nordamerikas als mit dem Westen nachwies. Er tat dies auf Grund der identischen und verwandten Arten und dies bewog ihn eben dazu, den beiden Floren einen gemeinsamen Ursprung zuzusprechen. Grisebach aber lässt bei seinen Forschungen den geologischen Tat- sachen und Faktoren keine Berechtigung zukommen. Von Miquels 81 identischen Arten finden sich nach Grisebach nicht weniger als 41 im Westen Amerikas, welche „noch täglich ihre Samen über das stille Meer ausstreuen können“; von 21 Arten behauptet er, dass sienoch im Westen aufzufinden wären; einen Teil der übrigen hält er eben nicht für iden- tisch und so bleiben ihm nur zwei für Ostamerika und Japan gemein- same Arten, zwei Sumpfgewächse von großer Verbreitung. Unter den Botanikern gebührt A. Engler (Versuch einer Ent- wicklungsgeschichte der Pflanzenwelt) das Verdienst, die pflanzengeo- graphischen Erscheinungen mit Hilfe der geologischen und paläontologi- schen Faktoren erklären zu wollen. Engler schließt sich vollkommen der Ansicht Asa Gray’s an und findet, dass die Wälder Japans und der Mandschurei reich an solchen Typen sind, welche die Laubwäl- der der Tertiärzeit bildeten. „Wie im Süden der atlantischen Staaten Nordamerikas, sind dieselben auch im südlichen Japan mit tropischen und subtropischen Typen gemischt.“ Wir sehen dort heute jenes Bild, welches Sachalin, Amerika und Grönland in ihren tertiären Floren boten. „Wenn wir nun ferner berücksichtigen“, fährt Engler fort (]. e. p. 37), „dass die Flora Japans so wenig arktische Pflanzen besitzt, wenn wir 8 Staub, Fossile Flora Japans. dann aber auch beachten, dass Japan so ausserordentlich reich ist an Gattungen (ich zähle deren über 900 auf nicht ganz 2800 Arten), dass die Zahl der monotypischen Gattungen mehr als 80 beträgt, so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Japan eine ursprüngliche Flora beherbergt, dass hier seit langer Zeit keine durchgreifen- den Veränderungen stattgefunden haben, und wol nur vor- zugsweise durch Aussterben eines guten Teils der ältern Formen Um- gestaltungen in der Flora herbeigeführt wurden. Auch der ganz all- mähliche Uebergang zwischen den Floren der gemäßigten und der sub- tropischen Zone, der allerdings in der Konfiguration des Landes be- gründet ist, die innigen Beziehungen der subtropischen Flora Japans zu der des tropischen Asiens zeigen, dass in diesem Gebiet solche Störungen, wie sie während der Glacialperiode inEuropa und Nordamerika herbeigeführt wurden, hier seit der Tertiärperiode nicht eingetreten sind. Der Himalaya und Tibet haben mit Japan und Nordamerika, mit Ausnahme der allgemein verbreiteten Pflanzen, wenige gemeinsame Arten, die auf ein gegenseitiges Verhältniss dieser Länder hinweisen würden; aber beträchtlich ist die Zahl der vikarlirenden Arten, die eben anderswo nicht gefunden werden. Auch daraus geht hervor, dass diese Erscheinungen aus andern Verhältnissen nicht zu erklären sind, als wenn wir die hinlänglich begründete Annahme machen, dass in der Tertiärzeit dieselben Gattungen der temperirten Regionen, die in den arktischen Gegenden ihre Grenze fanden und in Nordamerika, Japan und im Amurlande existirten, auch in südwestlicher Richtung verbreitet waren. „Die Wanderung der temperirten Pflanzen Amerikas und Japans war aber möglich entlang den Gebirgen, welche vom Amurland in südwestlicher Richtung sich rings um die Gobi bis nach Tibet hinziehen.“ Nathorst’s interessantem Werke entnehmen wir aber nunmehr, dass auch Engler’s Ansichten ihre Erweiterung finden. Das Material dazuliefern die fossilen Pflanzen von Mogi, die in vulkanischen Tuff ge- bettet, von Prof.Nordenskiöld nurzurZeitderEbbe gesammelt werden konnten. Die ganze Sammlung umfasst beiläufig 70 Arten und einige unbestimmbare Fragmente; in der hier folgenden Ueber- sicht, wie Nathorst sie gegeben hat, ist neben den einzelnen fossilen Arten die lebende Spezies genannt, mit welcher die fossile Art am meisten übereinstimmt. 1. Taxites SD... -.- 2:0 -,2.. » Taxzus baceata .L, Eur. Armen, Hm, Amurland. Taxus euspidata S. et Z. Auf den Bergen von Nippon und Kiusiu. 2. Phyllites bambusoides Nath. . . Bambusa- und Arundinariaarten. Japan, Sachalin, Kurilen. Se BBlixz(?) SB. 16 Korte Staub, Fossile Flora Japans. 9) 4 Bela (sp a 5. Juglans Sieboldiana Maxim, fossilis Nath. s Bi 6. Juglans Kjellmani Nath. 5 7. Carpinus subcordata Nath. . . . 8. Carpinus stenophylla Nath. . . . SER u chk ek) OO STE BPFRR TIER EVER LER TER 10. Ostrya virginica Willd. fossilis Nath. 11. Fagus ferruginea Ait. fossilis Nath. 12. Quereus Stuxbergii Nath., . . . 13. Zelkova Keaki Sieb. fossilis Nath. HA UmUR Spirale 15. Aphananthe viburnifolia Nath. . 16. Celtis Nordenskiöldi Nath. . 17. Lindera sericea Bl. fossilis Nath. 18 U) BD ae a 19. Exoecaria japonica J. Mueller. fos- Bilis- Nath. . : B 20. Styrax ee etZ. boreahs Nath. 21,Styraxjaponicum 8. etZ.fossilisNath. 22. Diospyros Nordquisti Nath. 23. Clethra Maximoviczii Nath. . 24. Tripetaleia Almquisti Nath., . . 25. Vaceinium (?) Saportanum Nath. 26, Viburnumsspir. due le a 27. Acanthopanax acerifolium Nath. 28. Liquidambar formosana Hance SOSBlleaNath. Nee lts. won ten Betula lenta L. Nordamerika u. a. JuglansSieboldiana Maxim. Auf denBer- gen von Kiusiu, Nippon, Yezo. Juglans regia L. v. sinensis DC. In den Wäldern von Nippon, China. Carpinus cordata Bl. Bergwälder des Fuji-noyama. Carpinus japonica Bl. Bergwälder von Nippon. Carpinus Tschenoskii Maxim. Nippon auf dem Fuji-noyama. Östrya virginica Willd. Nordamerika, Yezo, nördliches Nippon. Fagus ferruginea Ait. Nordamerika. Quereus glauca Thunbg. In den Wäl- dern von Kiusiu und Nippon. Zelkova Keaki Sieb. In den Wäldern Japans Ulmus campestris Sm. y. laevis Planch. Nippon, südl. Yezo, Amurland. Aphananthe aspera Thunbg. sp. Berg- wälder von Japan. Celtis Tournefortii Lam. Kleinasien, Armenien. Celtis eaucasiea Willd. Kaukasien, Per- sien, Afghanistan, Vorderindien. Lindera sericea Bl. Bergwälder Japan, Yezo. Lindera heterophylla Meissn. tempe- rirte Gegenden von Sikkhim. Cinnamomum camphora Nees. Japan. Exoecaria japonica J. Mueller. Auf den Bergen Japans. Styrax Obassia S. et Z. Nippon. Styrax japonicum S. et Z. Bergwälder von Nippon und Kiusiu. Diospyros Lotus L. und D. Kaki L. fil. Bergwälder von Nippon und Kiusu. Diospyros virginiana L. Nordamerika. Clethra barbinervis S. et Z. Bergwälder von Japan. Tripetaleia panieulata 8. et Z. und T.baccataMaxim. Auf d.BergenJapans. Vaceinium densum Mig. Indien auf den Nilgherries. Viburnum dilatatum Thbg. In den Wäl- dern von Japan. Acanthopanax vieinifolium $. et Z. sp. In den Bergwäldern Japans, Sachalin. Liquidambar formosanaHance. Formosa, China, Japan, Mittelmeer, von 10 Staub, Fossile Flora Japans. 29. Deutzia scabra Thbg. fossilis Nath. 30. Prunus Buergeriana Migq. fossilis Natle at. „aan Senn 4 31. Prunus sp. 32. Sorbus Lesquereuxi Nath. 33. Cydonia chloranthoides Nath. . 34. Sophora fallax Nath 35. Rhus Griffithsii Hook. fil. fossilis Nath. IRRANE 36. Rhus Engleri Nath. . 37. Meliosma myriantha S. et Z. fos- silis Nath. Ra RB 38. Acer Nordenskiöldi Nath. 39. Acer pietum Thbg. fossile Nath. 40. Rhamnus costataMaxm. fossilis Nath. 41. Vitis labrusca L. fossilis Nath. 42. lex Heeri Nath. . 43. Zanthoxylon ailanthoides S. et Z. fossile Nath. . nl dran 44. Dietamnus fraxinella Pers. fossilis Nath. En TE TEND 45. Elaeocarpus photiniaefolia Hook. et Arn. fossilis Nath. 46. Tilia sp. . 47. Tilia distans Nath. . 48, Stuartia monadelpha S. et Z. fossilis Nath. 49. Magnolia Dicksoniana Nath. 50. Magnolia sp. 51. Clematis Sibiriakoffi Nath. Deutzia scabra. Thbg. Japan. Prunus Buergeriana Miq. Kiusiu in Wäldern am Vulkan Wunsen. Prunus pseudo-cerasus Lindl. Japan, Sachalin. Sorbus alnifolia S. et Z. sp. Yezo, Nippon. Cydonia japonica Thbg. sp. auf den Bergen Japans. Sophora japonica L. Bergwälder von Kiusiu und Nippon. Rhus Griffithsii Hook. fil. In dertemp. Zone des Himalaya. Rhus sylvestris S. et Z. In den Wäl- dern Japans. Meliosma myriantha S. et Z. In den Wäldern von Kiusiu und Nippon. Acer palmatum Thbg. In den Wäldern Japans. Acer pictum Thbg. Bergwälder von Nippon, Sachalin, Mandschurei. Rhamnus costata Maxm. Bergwälder von Nippon. Vitis labrusca L. Von Kiusiu bis Yezo, südl. Sachalin, Nordamerika. Ilex rotunda Thbg. Japan, Mandschurei. Ilex peduneulosa Mig. Japan. Zanthoxylon ailanthoides S. et Z. Auf den Bergen von Nippon. Dictamnus fraxinella Pers. Mittel- und Südeuropa, Japan. Elaeocarpus photiniaefoliaHook. etArn. Japan. Tilia mandschuriea Rupr. et Maxim. Bergwälder von Nippon, Mandschurei, Amurland. Tiliacordata Mill.Bergwälder vonJapan. Tilia parvifolia Ehrh. Europa, Asien. Stuartia monadelpha S. etZ. Auf den hohen Bergen der Insel Sikok, Kiusiu und in den Bergwäldern von Nippon. Magnolia acuminataL. undM. cordata Michx. Nordamerika. M. parvifolia S. et Z. Bergwälder von Japan. Magnolia obovata Thbg. und M. conspicua Salisb. Japan, China. M. Kobus DC. Yezo, Nippon. Clematis paniculata Thbg. Japan. Clematis ochroleuca Ait. Nordamerika. und noch 19 mit Sicherheit nicht zu identifizirende Blattbruchstücke. Staub, Fossile Flora Japans. al Unter den aufgezählten Blättern sind die von Fagus ferruginea Ait. die häufigsten, ein Zeichen, dass die Ablagerung in der Nähe eines Buchenwaldes stattfand, denn überall, wo die Buche auftritt, pflegt sie auch der vorherrschende Baum zu sein; daraus lässt sich auch die relative Seltenheit der übrigen Blätter erklären; im Uebrigen aber stellt uns das ganze Verzeichniss jenes Bild lebhaft vor Augen, welches uns J. Rein von den Bergwäldern Japans geschildert. Wenn wir ferner in Betracht nehmen, dass Kiusiu die südlichste der japa- nischen Inseln ist und der Fundort der fossilen Pflanzen am Meeres- niveau liegt, so könnte man erwarten, dass auch die fossile Flora ein südlicheres Gepräge zeige; wir begegnen aber gerade dem Gegen- teile; sie weist eher auf ein kälteres Klima hin, als gegen- wärtig auf Kiusiu herrscht. Nathorst bemerkt hier recht scharfsinnig, dass der Unterschied zwischen diesen beiden Klimaten gerade so viel beträgt, als gegenwärtig notwendig wäre, damit die Waldflora von den Bergen des mittlern Japans gezwungen würde von dort südwärts nach Mogi zu bis zum Meeresniveau herabzusteigen. Es ist ferner auffallend, dass in dieser fossilen Flora jene süd- lichen Formen fehlen, welche in der lebenden Flora Japans zu finden sind und es ist sicher, dass sie auch damals, als jene Pflanzen wuchsen, in jener Gegend fehlten. Man könnte einwenden, die nun fossilen Blätter seien von weiter gelegenen Bergen Japans durch die Gebirgs- flüsse an ihren gegenwärtigen Ort geschwemmt worden; dagegen spricht aber ihr vortrefflicher Erhaltungszustand, denn nur der geo- logische Hammer brach sie in Stücke. Dagegen sprieht aber auch die Häufigkeit der Buchenblätter, die außerdem in den verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung vorkommen; endlich wollen wir nicht ver- gessen, dass auch die Rinde dieses Baumes mit den Blättern zugleich gefunden wurde. Alles dies aber erklärt uns noch nicht die Abwesen- heit der südlichen Formen, die gewiss dort gefunden worden wären, wenn sie dort existirt hätten. Dazu tritt noch der Umstand, dass die fossile Flora von Mogi solche Pflanzen enthält, die heute auf der Insel Kiusiu nicht sehr verbreitet sind, auch nicht auf ihren Bergen, dagegen aber wol im mittlern und nördlichen Japan. Berücksichtigen wir alle diese Erscheinungen, so können wir mit Sicherheit behaup- ten, dass zur Zeit der fossilen Flora von Mogi, d. h. damals als die Ablagerung stattfand, auf der Insel Kiusiu die Temperatur niedriger stand als heute. Nehmen wir dies an, so stehen wir zwei bemerkenswerten Tat- sachen gegenüber. Erstens sehen wir, dass die Glacialperiode ihren Einfluß bis Südjapan zur Geltung brachte und zweitens, dass die in der heutigen Flora Japans vorkommenden subtropischen Elemente in dieses Inselland nachträglich einwanderten. Es ist nämlich klar, dass das der Flora von Mogi vorhergehende oder nachfolgende Klima nicht kälter war als das heutige, weshalb wir das Sinken der Temperatur, 12 Staub, Fossile Flora Japans. von welchem eben diese Flora spricht, auf die eine oder die andere Weise mit der Eiszeit in Verbindung bringen müssen. Auf Grund dessen ist es auch möglich das Alter dieser Flora zu bestimmen welches nämlich in das jüngste Pliocän, die Eiszeit, fallen kann, aber auch postglacial sein könnte. Gegen das letzere sprechen die in ihr vorkommenden fremden Elemente, denn im entgegengesetzten Falle dürfte sie nur jetzt lebende Arten enthalten. Sie gehört aber auch der Eiszeit nicht an; wie im allgemeinen ihr Alter mit voller Sicherheit nicht bestimmt werden kann, solange in der Ablagerung nicht andere und mit denen ande- rer Lokalitäten vergleichbare Versteinerungen gefunden werden. So ist es nicht zu entscheiden, ob die Flora als Ausdruck der höchsten Senkung der Temperatur dient; bisjetzt lässt sich nur so viel sagen, dass die Temperatur so tief sank, dass die Waldflora Mitteljapans gezwungen war, sich bis zum Meeresspiegel herab zu ziehen. Bezüg- lich des Alters der Flora von Mogi können wir daher vorläufig nur so viel sagen, dass sie entweder am Ende der Tertiärzeit oder zu Be- ginn der Quaternärzeit lebte; da sich aber zwischen den Bildungen dieser beiden Zeitperioden keine scharfe Grenze ziehen lässt, so ist auch die nähere Bestimmung des Alters dieser Ablagerung von unter- geordneter Bedeutung. Diese Folgerung, welche vorzüglich auf den klimatologischen Umständen basirt, entspricht vollkommen dem Ver- hältnisse, in welchem diese fossile Flora zur lebenden steht; denn sie enthält, wie wir hier noch einmal hervorheben müssen, eine große Zahl solcher Formen, welche mit den jetzt lebenden entweder iden- tisch oder hinsichtlich ihres Genus einander verwandt sind. Aelter als das Pliocän kann daher die Flora von Mogi nicht sein. Die größte Wichtigkeit besitzt aber die hier aufgedeckte Tatsache, dass eine Senkung der Temperatur nachweisbar ist, was beweist, dass die Eiszeit in Europa und Nordamerika nicht die Folge lokaler Um- stände war, sondern sich über die ganze nördliche Hemisphäre er- streckte. Es ist auffallend, dass die rein alpine Flora auf den Bergen Japans so wenig vertreten ist; es ist dies eine Erscheinung, die gegen- wärtig nicht zu erklären ist, mit der Zeit aber gewiss ihre Erklärung finden wird. Milne (Transact. Asiat. Soe. of Japan. vol. IX. part. I) soll reiches Material zum Beweise dessen liefern, dass in Japan die Eiszeit vor- herrschte; Döderlein (Bot. Zentralbl. Bd. VIIL p. 171) meint aber, dass sich keine der vorgebrachten Tatsachen ohne Zwang auf die Eiszeit beziehen lasse, obwol er seinerseits das Gegenteil nicht behaupten wolle. Nathorst beruft sich auf Przewaljski (Finske Tidskrift. Bd. X Heft 3 S. 208), der in China auf der westlich von Kalgan ge- legenen Bergscheide Suma-Chada beiläufig unter dem 41. Breitengrade die untrüglichsten Merkmale der Glacialperiode entdeckte. Vergleichen wir nun die Flora von Mogi mit der um 18 Breiten- Staub, Fossile Flora Japans. 13 grade nördlicher liegenden miocänen Flora von Sachalin, so finden wir, dass letztere entschieden auf ein wärmeres Klima hinweist; ja selbst die um 9° noch höher liegende Miocänflora von Alaska ist nicht als kältere zu erkennen; mit vollem Rechte kann man nun dar- aus schließen, dass damals auch das Klima Japans wärmer war als heute; seine Flora an subtropischen Formen auch reicher war als heute und verschieden war von der Flora von Mogi. Es wird da- durch Engler’s Ansicht von der Flora Japans entschieden modifizirt, denn es ist unleugbar, dass die Eiszeit ihren Einfluss bis auf Japan erstreckte und gewiss auch darüber hinaus, wenn auch mit abnehmen- der Intensität. Und nun können wir die Frage aufwerfen, woher denn jene sub- tropischen Elemente kommen, die nachträglich in die Flora von Japan einwanderten? Wir wissen, dass einige von ihnen monotypisch sind, andere wieder südwärts in den tropischen Ländern nicht mehr gefun- den werden. Unsere Frage wird wol durch die Annahme beantwor- tet, dass Japan südwestlich gegen Formosa und die Philippinen zu in kontinentaler Verbindung stand und dadurch ließe sich auch der Zusammenhang erklären, der zwischen mehrern subtropischen For- men von Japan, China und den ostindischen Inseln herrscht. Diese Annahme entbehrt auch der geologischen Grundlage nicht. Die Ab- lagerung von Mogi bildete sich nämlich, da marine Versteinerungen in ihr fehlen, unstreitig in süßem Wasser; da sie aber jetzt am Meeresspiegel liegt, so muss notwendigerweise eine Senkung eingetreten sein. Dasselbe konstatirte, wie schon Eingangs erwähnt, Godfrey von den Kohlenlagern Südjapans. Obwol dieselben der Kreide ange- hören sollen, was aber ebenso wenig zu beweisen ist, wie etwa die Gleichaltrigkeit mit Mogi, so deuten sie doch an und für sich die Senkung des Festlandes an, und so können die Lu-tschu-Inseln die Ueberbleibsel jener Verbindungsbrücke sein, welche die Philippinen mit Japan vereinigte. In der miocänen Flora Japans waren ohne Zweifel die subtropischen Formen viel reicher vertreten als heute; gegen das Ende der Plioeän- zeit und während der Glacialzeit konnten sie aber nicht länger in Ja- pan verbleiben, sondern wanderten südwärts aus. Als aber nach der Eiszeit das Klima wieder milder wurde, schlugen sie wieder ihren Weg in die alte Heimat ein; später trat dann die Senkung ein, welche Japan zum Insellande umgestaltete und den Wanderern den weitern Weg abschnitt. Während derselben konnten manche Arten untergehen und so konnten auch die monotypischen Genera entstehen, an denen Japan so reich ist. Da aber bei Mogi die Waldflora von Japan die vorherrschende war, so musste notwendigerweise Japan noch andere nördliche For- men beherbergen, die einesteils über Sachalin vom Amurlande, ande- rerseits über die Kurilen von Kamtschatka eingewandert sein konn- ten. Bei der spätern Aenderung des Klimas konnten auch sie in 44 Bülow, Regeneration bei Coelenteraten, Echinodermen und Würmern, ihre ursprüngliche Heimat zurückgegangen sein; aber sie konnten auch auf den Bergen Japans verbleiben. Auch J. Rein (Petermanns geogr. Mitteill. 1879 Bd. 25, 8. 376) sagt: „die Hochgebirgsflora Japans stammt aus Ostasien und Kamtschatka und gelangte mit den kalten und heftigen Monsunen und Meeresströmungen des Winters allmählich südwärts und durch Talwinde bergan.“ Die Flora von Mogi wirft auch indirekt Licht auf die des Hima- laya. Die Temparatursenkung, die in Japan die subtropischen For- men verdrängte, musste sich auch in Asien fühlbar machen. Auch hier mussten die Pflanzen in die Ebene steigen und ihre Wanderung während der Eiszeit oder kurz vor ihrem Eintritte beginnen oder genauer gesagt, während der Eiszeit oder bei ihrem Beginne be- gann die Flora des Amurlandes südwärts zu wandern, eben dann, als von der Nordseite des Himalayas seine temperirte Flora auf ein nie- deres Niveau herabstieg, wodurch die Entfernung zwischen beiden Floren bedeutend vermindert wurde. Sowie während der Eiszeit die alpine und arktische Flora sich mit der Flora der Niederungen Euro- pas vermengen konnte, ebenso konnten gegenseitige Wechselwirkungen zwischen der Flora des Amurlandes und des Himalayas stattfinden; uud so wie ein Teil der alpinen Arten Europas ursprünglich arktische gewesen sein konnten, obwol sie heute nur noch auf den Alpen ge- funden werden, ebenso konnten jene amerikanischen Formen, die gegenwärtig am Himalaya gefunden werden, früher im Amurlande ein- heimisch gewesen sein. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die Wanderung gerade während der Eiszeit vor sich gehen musste, aber man kann annehmen, dass sie damals am leichtesten vor sich gehen konnte. Dies ist ein Teil der wissenschaftlichen Resultate der Vega-Expe- dition, den die tüchtige Feder Nathorst’s zu Tage förderte. M Staub (Budapest). Ueber anscheinend freiwillige und künstliche Teilung mit nach- folgender Regeneration bei Coelenteraten, Echinodermen u. Würmern. Die Regenerationsfähigkeit, d. h. das Vermögen verloren gegangene Teile oder Gewebspartien des Körpers neu zu bilden, findet sich mehr oder weniger ausgebildet durch die ganze Tierreihe hindurch. Da es indess viel zu weit führen würde, wenn ich hier das ganze diesbe- zügliche Kapitel auch nur in groben Zügen skizziren wollte, so werde ich mich beschränken, das biologisch Interessanteste hervorzuheben: einmal die Tatsachen, welche erweisen, dass aus einzelnen Stücken eines Individuums durch Regeneration wieder ganze Tiere entstehen können und dann auch noch einige Fälle, in denen die wichtigsten. Bülow, Regeneration bei Coelenteraten, Echinodermen und Würmern. 15 Teile des Zentralnervensystems natürlich samt den übrigen dazu ge- hörenden Geweben durch Neubildung ersetzt werden können. Wennschon man bereits seit Plinius dem Jüngern wusste, dass verschiedene Tiere abgerissene Glieder oder zu Grunde gerichtete Or- gane zu regeneriren vermögen, so waren dennoch solche Vorgänge, wie sie Trembley um die Mitte des vorigen Jahrhunderts bei dem Polypen des süßen Wassers, der Hydra, entdeckte, im höchsten Grad überraschend. Bis dahin war es vollkommen unvereinbar mit der „Individualität“ des Tiers gewesen, aus seinen Teilstücken neue Ge- schöpfe entstehen zu sehen; nun aber lehrte dieser Forscher Wesen kennen, welche nicht nur nicht zu Grunde gingen, wenn sie zerschnit- ten wurden, sondern sogar ebenso viele neue Tiere bildeten, als Schnitt- stücke vorhanden waren. — Die Untersuchungen Trembley’s über diesen Gegenstand zeichnen sich durch große Genauigkeit aus. Er zeigte durch das Experiment, dass es für das Endresultat ziemlich gleichgiltig ist, wie Hydra zerschnitten wird: längs- oder quergeteilt, in Streifen oder Ringe zerlegt, ja letztere nochmals halbirt, immer entwickelt sich aus einem solchen Teilstück nach kürzerer oder län- gerer Zeit ein Tier, das dem aus dem Ei entstandenen sowol seiner Gestalt als auch seinen physiologischen Eigenschaften nach, vollkom- men ähnlich ist. Aus einem abgeschnittenen Fangarm, deren die Tiere mehrere (gewöhnlich 6—8) besitzen, regenerirt sich indess niemals eine ganze Hydra, er zeigt zwar noch einige Zeit hindurch Lebens- erscheinungen, geht dann aber zu Grunde. Kaum waren diese Versuche bekannt geworden, als viele Natur- forscher, unter diesen Bernard de Jussieu, Guettard, Gerard de Villars, Lyonnet und Mazolleni gleiches oder analoges bei andern Tieren zu finden suchten und auch wirklich fanden. Nament- lich glücklich war Bonnet, dem es zwei Jahre nach Trembley (1741) gelang bei ungleich höher entwickelten Gliederwürmern eine Re- generationsfähigkeit zu entdecken, welche relativ ebenso groß war, wie diejenige des Süßwasserpolypen. Es wird indess vorteilhaft sein, nicht chronologisch, sondern stufenweise zur höhern Organisation der Tiere hinaufsteigend, diese Fakta zu verfolgen. Dem Coelenteratentypus gehören wie die Hydra Actinien und Schwämme an. Dass Teilstücke der letztern leicht wieder zu größern Massen auswachsen und halbirte Individuen jener sich unschwer zu vollkommenen Tieren ergänzen, ist bekannt. Ebenfalls ziemlich groß ist das Reproduktionsvermögen bei Quallen. „Aus jedem Stück des Schirmes gewisser Arten (der Thaumantiaden), wenn es nur einen Teil des Randes enthält, kann in Zeit von 4-5 Tagen eine neue Meduse heranwachsen“ (1). Die bis jetzt erwähnten Geschöpfe sind verhältnissmäßig einfach gebaut und ihre Gewebsgruppen bei Weitem nicht so scharf gesondert, 46 Bülow, Regeneration bei Coelenteraten, Echinodermen und Würmern. wie bei dem nächst höhern Kreis der Echinodermen. Die einzelnen Organe haben hier schon eine bedeutende Entwicklung erreicht. Lo- komotions- und Nervensystem sind gut ausgebildet, der Verdauungs- tractus ist vom Blutgefäßsystem getrennt und meist ein komplizirtes -Kalkskelet vorhanden. Trotzdem finden wir bei Asteroiden oder See- sternen analoge Fälle wie die, welche wir bei den Coelenteraten er- wähnten. Namentlich durch die Beobachtungen von Dalyell (2), Lüt- ken (3), Greeff (4), Kowalewsky (5) und Simroth (6) wissen wir, dass nicht nur nach künstlicher Teilung eine Ersetzung des fehlen- den Körperstücks stattfindet, sondern dass sich die Tiere sogar ohne bemerkbare Veranlassung zerlegen und durch nachfolgende vollkom- mene Regeneration der einzelnen Teile die Individuenzahl vermehren. Man kann bei den Seesternen eine doppelte Art der Teilung (Häckel’s Divisio radialis oder Diradiatio) unterscheiden: es wird entweder die Scheibe in Mitleidenschaft gezogen oder aber sie bleibt unverletzt. Im ersten Fall findet die Trennung des Körpers in den Interradien statt, in letzterm lösen sich die Arme senkrecht (?) zu den Radien einzeln vom Zentralteil des Seesterns und jeder bildet eine vollkommene neue Scheibe aus. Bald nach deren Anlage sprosst aus ihr die fehlende Strahlenzahl hervor, wodurch der in der Regeneration zum vollkommenen Tier be- griffene Arm „Kometenform“ annimmt. Diese Art der Teilung findet sich nur bei den Asteriden und zwar am verbreitetsten bei den Gattungen Ophidiaster und Linckia, nicht aber bei den Ophiuriden. Bei jener andern ungeschlechtlichen Vermehrung zerfällt das Echinoderm meist in zwei Stücke (bei den Schlangensternen niemals in mehr), doch kommt auch Trichotomie, die Kowalewsky (5) bei Asteracanthion tenuispinus beobachtete, vielleicht sogar Polytomie vor. Besitzt ein See- stern eine gerade Anzahl von Strahlen, so tritt in der Regel die Teilung so ein, dass jedes der zwei Stücke gleich viele Arme erhält. Nach Greeff (4) nimmt mit dem Größenwachstum der sich vervollständi- genden Tiere die Zahl der Madreporenplatten zu und nach Simroth (6) erfolgt die Entwicklung der Organsysteme, z. B. der Geschlechtsor- gane so, dass die bei der Teilung am wenigsten in Mitleidenschaft gezogenen Antimeren die am meisten vorgeschrittenen Organe besitzen. Dieser Forscher traf unter 150—180 untersuchten Exemplaren von Ophiactis virens nur ein einziges mit zwei Armen, in den übrigen Fällen schien die Teilung immer so vor sich gegangen zu sein, dass die sechsarmigen Tiere in je zwei dreiarmige zerfielen. Indess fand er trotz dieser scheinbaren Regelmäßigkeit „auch nicht ein einziges Organsystem bei dem fertigen Tier, welches nur einigermaßen nach festem Gesetz sich schiede“. Ferner ist durch ihn konstatirt worden, dass auch diejenigen Seesterne, bei welchen man bis dahin keine Er- gänzung zu normalen Individuen aus Teilstücken heraus beobachtet hatte (Genus Asteracanthion), auf diese Weise ihr Geschlecht zu er- halten vermögen. Bülow, Regeneration bei Coelenteraten, Echinodermen und Würmern. 417 In den andern Klassen der Echinodermen ist ein derartig weit- gehendes Regenerationsvermögen nicht zu verzeichnen, obschon auch hier bei den Crinoiden durch Perrier, bei den Holothurien durch Dalyell u. A. erwiesen ist, dass wesentliche Körperteile, bei letztern vielleicht gar das Kopfende, ersetzt werden können. Wenn man bei der Frage ob ein Tier höher organisirt sei als ein andres, das 'Hauptgewicht auf die größere Zentralisation des Nervensystems legen will, so stehen manche Würmer, namentlich die Anneliden über den Stachelhäutern. Um so interessanter ist es, auch hier freiwillige Teilung mit nachfolgender Regeneration, also unge- schleehtliche Vermehrung durch Divisio transversalis anzutreffen. Bei niedern Würmern ist meines Wissens etwas derartiges noch nicht be- kannt geworden. Man spricht allerdings auch bei Planarien von einer Teilung, indess geht ihr immer die Anlage einer Knospungszone vor- aus, d.h. es schiebt sich zwischen das alte Gewebe des Körpers eine Zone neuen Gewebes ein; aus ihrer vordern Hälfte entsteht ein Schwanz- ende, aus der hintern ein Kopf. Mit der schärfern Ausbildung beider Teile tritt auch eine immer deutlichere Sonderung auf, bis endlich zwei fast vollständige Individuen lose durch wenig Gewebe an einan- der gekettet zu sein scheinen. Bald darauf erfolgt eine vollständige Trennung. Wie hieraus ersichtlich, ist dieser Vermehrungsmodus von dem durch einfache Querteilung mit nachfolgender Regeneration recht abweichend. Teilt man künstlich Planarien, so zeigt es sich, dass auch ihnen die Fähigkeit zukommt, aus einzelnen Stücken ganze Tiere zu er- zeugen. Duges (7) stellte derartige Experimente an. Nachunter- suchungen, die ich gelegentlich über denselben Gegenstand machte, lieferten das gleiche Resultat. Es entwickeln sich aus Stücken des Planarienkörpers Tiere mit vollkommenem Nervensystem und den eventuell vorhandenen Sinnesorganen. Wie zu Anfang bereits erwähnt wurde, entdeckte Bonnet 1741 bei einem Ringelwurm, dem heutigen Lumbriculus variegatus, ein emi- nent weitgehendesRegenerationsvermögen. Durch eine große Reihe sorg- fältigst angestellter Versuche, die ihn mehrere Jahre hindurch be- schäftigten, konstatirte er, dass diese Geschöpfe aus geringen Teil- stücken, — es brauchten nur wenige Segmente des Körpers zu sein, — sich zu vollkommenen Lumbrieulis auszubilden vermögen. Ist ein Stück des Wurms nicht Vorder- oder Hinterende, so enthält es nur einen Teil des Bauchstrangs, der Muskulatur, des Darms und der sonstigen Organe des Tiers, von dem es genommen wurde, aber keinen Kopf mit seinem Schlundring und den Sinnesorganen!) und keinen After. Trotzdem bildet es alle Organe wieder vollkommen aus. 4) Dass Sinnesorgane wirklich vorkommen, werde ich nächstens zu be- weisen versuchen. 2 18 Bülow, Regeneration bei Coelenteraten, Echinodermen und Würmern. Aber während das Schwanzende des neuen Anneliden unbestimmt in die Länge wachsen kann, ist das Wachstum des Kopfes, wie andern Orts von mir nachgewiesen wurde (8), ein beschränktes. In normalen Fällen entstehen zehn „Kopfsegmente“, nämlich zwei vordere nicht borstentragende und acht darauf folgende, welche Borsten besitzen. Das letzte dieser schließt sich an das alte Körpersegment an. Lum- brieuli, die sich durch Regeneration zu ganzen Tieren wieder ausge- bildet haben, können noch oftmals aufs Neue geteilt werden, ohne dass die Teilstücke zu Grunde gehen. Bei diesem enormen Regene- rationsvermögen warf sich fast selbstverständlich die Frage auf, ob die Lumbrieuli außer durch Fortpflanzung auf geschlechtiichem Wege, sich vielleicht auch noch ungeschlechtlich durch einfache Querteilung und nachfolgende Regeneration der fehlenden Teile zu vermehren im Stande seien. Beobachtungen und dazu Zählungen, die ich bezüglich stattgehabter Regeneration frisch eingefangener Tiere anstellte, er- gaben, dass unzweifelhaft in der Natur eine Vermehrungsweise durch Divisio transversalis — eine Knospungszone ist vorher nicht ange- legt — stattfindet. Von allen in Rücksicht kommenden Tieren ist viel- leicht mit Ausnahme der Hydra, der Lumbriculus variegatus dasjenige mit weitestgehender Regenerationskraft. Dieselbe ungeschlechtliche Fortpflanzungsform, wie sie soeben ge- schildert wurde, findet sich auch noch bei einem andern Ringelwurm, der zu den Naiden in naher Beziehung zu stehen scheint: es ist dies der kürzlich von Graf Zeppelin beschriebene und auf seine Vermehrungsweise untersuchte COtenodrilus monostylos (9). Aus der vorläufigen Mitteilung dieses Forschers geht mit Sicherheit hervor, dass geschlechtsreife Individuen äußerst selten sein müssen, da wäh- rend der ganzen Zeitdauer eines Jahres nicht ein einziges mit irgend welcher Spur von Generationsdrüsen gefunden wurde. Die unge- schlechtliche Vermehrung geht auf die Weise vor sich, dass in der Mitte eines ausgewachsenen Tiers „eine Einschnürung entsteht, welche mehr und mehr zunimmt. Der Zusammenhang wird immer lockerer, zugleich rundet sich beiderseits der Magendarm vollständig ab, bis endlich die Trennung des Muttertiers in die beiden Tochterindividuen erfolgt.... Diese zeigen unmittelbar nach der Trennung nicht die ge- ringste Anlage irgend eines Organs; der Magendarm ist in ihnen noch vollständig geschlossen. Erst einige Zeit nach der Trennung des Muttertiers in die beiden Tochtertiere beginnt infolge sehr lebhafter Zellwucherung die Neubildung“ von Kopf resp. Schwanz, die wahr- scheinlich in ihrem Wachstum ein ähnliches Verhalten zeigen werden, wie die gleichen Teile des Lumbrieulus. Andere Anneliden, z. B. die Naiden, besitzen das Vermögen der Regeneration von Vorder- und Hinterende in geringerm Grade. Wird eine künstliche Teilung eingeleitet, so bilden sich aus den Teiltieren für gewöhnlich ebenfalls neue Individuen, eine Selbstzerstümmelung Bülow, Regeneration bei Coelenteraten, Echinodermen und Würmern. 19 scheint indess nicht vorzukommen, ohne dass vorher wenigstens teil- weise eine Knospungszone angelegt gewesen sei. Auch einige Meeres- anneliden z. B. Diopatra uncinifera, Diopatra fragilis und Lycaretus neocephalieus (10) ebenso unser gewöhnlicher Regenwurm besitzen die Fähigkeit den Kopf mit dem Sehlundring und einem Teil der Bauch- ganglienkette neu zu bilden, letzterer vermag dies indess nur dann, wenn wenige der ersten Segmente des Tiers abgetrennt waren. Diesen teils alten teils neuen Tatsachen habe ich einen bis dahin noch nieht bekannten Fall hinzuzufügen; er betrifft die Neubildung des Schlundrings, überhaupt des vordern Teils, von Vertretern der Gattungen Phascolosoma und Aspidosiphon, die beide zu der Klasse der Gephyrei-Sipunculacea oder Sternwürmer gehören!). Zwecks Untersuchung befanden sich im Erlanger zoologischen Laboratorium eine Anzahl lebender Exemplare von Phascolosoma vul- gare und Aspidosiphon Mülleri. Fünfen von jenen und dreien von diesen wurden im Juni vergangenen Jahres ein Stück des vollkommen ausgestreckten Rüssels abgeschnitten, es schwankte in seiner Länge zwischen drei bis sieben Millimeter. Jedenfalls war somit der Schlund- ring vom übrigen Körper getrennt, zudem fehlten die Tentakeln, die Mundöffnung, ein Teil des Schlundes, des Gefäßsystems, der Haken und ein Stück des Hautmuskelschlauches und des Retraetors. Ver- gegenwärtigen wir uns nun einmal den Querschnitt durch den Rüssel der genannten Tiere; er ist ungefähr bei beiden gleich. Zu äußerst liegt die Haut, darunter die Muskulatur, an ihr befestigt der Ner- venstrang, dann folgt ein konzentrisch freier Raum, der mit der Leibeshöhle kommunizirt und endlich in der Mitte liegt der durch- schnittene Retraetor mit dem daran angehefteten Schlund und Blut- gefäßsystem. Ein Längsschnitt würde ergeben, dass der Hautmuskel- schlauch durch verschiedene Gewebsabstufungen in den Schlund und den ihn ganz vorne umschließenden M. retr. übergeht. Demnach wird durch Abtrennen des vordern Rüsselendes eine vollkommene 1) Wenn ich noch kurz an die gemeinsame Anatomie erinnern darf, so ist hervorzuheben, dass der vordere Teil des Tiers, der Rüssel, hervorgestreckt oder durch einen Rückziehmuskel vollkommen in den Körper eingestülpt wer- den kann. An seinem freien Ende findet sich die Mundöffnung, umstellt von Tentakeln; von da nach hinten zu sitzen der Haut meist Haken, reihenweise oder zerstreut, auf. Nicht weit von der Basis des Rüssels liegen dorsal der After und ventral die beiden Oeffnungen der zwei Segmentalorgane. Der Darm ist spiralig aufgerollt und die Spira von einem Spindelmuskel durchzogen, welcher sich hinten an dem äußersten Ende des Hautmuskelschlauchs be- festigt. Der Schlund ist eine Strecke weit mit dem Retractor verbunden; auf jenem verläuft ein Blutgefäß (kontraktiler Schlauch). Das Nervensystem be- steht aus einem einfachen Bauchstrang, der sich durch den ganzen Körper und den Rüssel zieht und dicht hinter den Tentakeln einen Schlundring bildet, dem häufig Augenflecke aufsitzen. 9% 20 Bülow, Regeneration bei Coelenteraten, Echinodermen und Würmern. Trennung der früher zusammenhängenden innern und äußern Gewebs- systeme herbeigeführt. Trotzdem aber hatten sich alle operirten Tiere nach Verlauf von 3—5 Wochen zu vollkommenen Individuen regene- rirt. Es unterschied sich das neue Vorderende des Rüssels nur durch seine hellere Farbe und die größere Durchsichtigkeit von dem übri- gen Teil. — Wie ging das Zusammenwachsen der getrennten Teile vor sich, wie legten sich, histologisch betrachtet, Muskulatur, Zentral- nervensystem, Gefäßsystem ete. an? Es mag noch angeführt werden, dass der Blutverlust nach der Durehschneidung des Rüssels ein ziem- lich beträchtlicher ist, wennschon die Ringmuskulatur sich möglichst schnell kontrahirt und so die Wunde schließt. Der Retractor zieht sich fast momentan ins Innere des Körpers zurück, nach mehrern Tagen hat unerklärlicherweise auch der Rüsselstumpf sich vollkommen eingestülpt. Bei Aspidosiphon konnte unzweifelhaft beobachtet wer- den, dass die Ausbildung der Haken von vorne nach hinten fortschritt (Anzeichen von Segmentation?). Nach welcher Regel die Tentakeln hervorsprossen, konnte leider nicht festgestellt werden; erst ziemlich spät hatte sich nach und nach die volle Anzahl ausgebildet. Von einem höhern Typus als dem der Würmer sind sicher verbürgte Fälle über die Regeneration des Hauptteils des Zentralnervensystems noch nicht beobachtet worden, da der Beobachtung, dass eine Neubil- dung des Schlundrings bei Schnecken statthaben kann, von verschie- denen Seiten widersprochen wurde. Literatur. 4) Thom, Lehrbuch der Zoologie 1875. p. 376. 2) Dalyell, The Powers of the Creator. London, 1851—58. 3) Lütken, Description de quelques Ophiurides nouveaux ou peu connus avec quelques remarques sur la division spontanse chez les rayonnes. Aftıyk af Oversigt over d.K.D.V. Selsk. Forhandl. O0. S. V. Nr. 2. Kjöbenhavn 1872. 4) Greeff, Ueber den Bau der Echinodermen. 3. Mitteil. Sitzungsber. d. Gesellsch. zur Beförderung d. gesamten Naturw. zu Marburg. November und Dezember 1872 Nr. 11. 5) Kowalewsky, Sitzungsber. d. zool. Abt. d. 3. Versamml. russischer Naturforscher in Kiew. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. XXI. 6) Simroth, Anatomie und Schizogonie der Ophiactis virens Sars. Zwei- ter Teil. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. XXVII. 1877. 7) Dug£s, Recherches sur la eireulation, la respiration et la reproduetion des Ann£lides abranches. Ann. d Sc. nat. 1828. 8) Bülow, Ueber Teilungs- und Regenerationsvorgänge bei Würmern. Arch. f. Naturgesch. Jahrg. 49 Heft 1. 9) Graf Zeppelin, Ueber den Bau und die Teilungsvorgänge des Üteno- drilus monostylos nov. sp. Zool. Anz. VI. Jahrg. Nr. 130. 10) Ehlers, Die Neubildung des Kopfes und des vordern Körperteils bei polychaeten Anneliden. Erlangen 1869. C. Bülow (Erlangen). Rabl-Rückhard, Deutung des Gehirns der Knochenfische. Er Weiteres zur Deutung des Gehirns der Knochenfische. Von H. Rabl-Rückhard (Berlin). In einer im Augustheft des Archiv für Anatomie und Physio- logie, Anat., Abteilung, Jahrgang 1882 S. 111—138 erschienenen Ar- beit „Zur Deutung und Entwicklung des Gehirns der Knochenfische“ hatte ich mir die Aufgabe gestellt, auf Grund embryologischer Unter- suchungen eine vergleichend anatomische Deutung der sog. Lobi optiei des Knochenfischgehirns zu geben, welche die frühere, namentlich von Stieda vertretene Auffassung dieses Hirnabschnitts als Homo- logon des Mittelhirns (Lobi bigemini, Mesencephalon) höherer Wirbel- tiere, gegenüber der von Fritsch vertretenen, durchaus irrigen Deu- tung wiederherzustellen bestimmt ist. Ich habe seitdem den Abschnitt des Gehirns, welcher vor den Lobi bigemini gelegen ist, einer genauern Untersuchung unterzogen und teile hier kurz die Ergebnisse derselben mit, denen ich die aus- führliche Arbeit in Kurzem nachfolgen zu lassen gedenke. Als Untersuchungsobjekt diente das Gehirn der Bachforelle; die namentlich entscheidenden sagittalen (dorso-ventralen Längs-) Schnitte wurden unter Erhaltung des Schädeldachs, nach Einbettung des gan- zen Hirns in Celloidin angefertigt, wodurch die dünnen Membranen, um die es sich handelt, in ihrer Lage erhalten blieben. 1) Die sogenannten Hemisphaeria der Knochenfische sind nicht den Großhirnhemisphären der übrigen Wirbeltiere homolog, wie man bisher annahm, sondern nur einera Teil derselben, dem sogenannten Stammlappen oder der Reil’schen Insel. 2) Der dazu gehörige Hirnmantel (Pallium) ist an Ort und Stelle vorhanden, aber bisher übersehen worden. Er wird vertreten durch eine zusammenhängende Epithellage, die kontinuirlich in das Epen- dym der nervösen Wandungen übergeht, und welche die den Stamm- lappen dorsalwärts bedeckende Pia mater an ihrer Binnenfläche aus- kleidet. 3) So entsteht ein Hohlraum, der überall von einer zusammen- hängenden Wand geschlossen ist, und genetisch dem noch nicht ge- trennten Hohlraum des ersten Hirnbläschens (primären Vorderhirns) und des Großhirnbläschens (sekundären Vorderhirns) entspricht. — Derselbe ist als Ventrieulus communis zu bezeichnen und steht sowol mit dem spaltförmigen Hohlraum des Infundibulum (dritten Ventrikel), als auch mit dem der Lobi bigemini (Aquaeduetus Sylvii) in offenem Zusammenhang. 4) Die ihn oben abschließende Epithellage ist genetisch mit der sich nicht zum Stammlappen verdickenden Wandung des sekundären Vorderhirns (Großhirnbläschens) und der Decke des ersten Hirnbläs- chens (primäres Vorderhirn) identisch. 22 Rabl-Rückhard, Deutung des Gehims der Knochenfische. 5) Die Bulbi olfaetorii sind dem mit den Lobi olfactori ver- schmolzenen Stirnhirn höherer Wirbeltiere homolog. 6) Hemisphaeria (Stammlappen), Bulbi olfactorii (Stirn-Riechlap- pen), Infundibulum und epitkelialer Mantel müssen im Zusammenhang betrachtet und als Ganzes dem Großhirn höherer Wirbeltiere homo- logisirt werden. 7) Die bei höhern Wirbeltieren vollständige Trennung des ur- sprünglich bekanntlich auch hier als einfache, unpaare Knospe des Vorderhirnbläschens auftretenden Großhirnbläschens in zwei bilateral symmetrische Hälften (Hemisphären) ist bei den Knochenfischen nur an den ventralen Gebilden (Stammlappen) sowie am Stirn-Riechlappen ausgesprochen; am dorsalen rudimentären Mantel fehlt eine mediane Längseinschneidung, indem es nicht zur Entwicklung der primären Sichel der Pia mater und zu einer damit zusammenhängenden Ein- buchtung des Mantels zur Fissura pallii und zur Bildung der diese begrenzenden medialen Mantelwände kommt. 8) Durch Faltungen der Pia mater in den Ventrieulus communis hinein, die von dem rudimentären Mantel einen kontinuirlichen Epi- thelüberzug erhalten, entstehen auch am Knochenfischgehirn, was Fritsch und ich selbst früher bestritt, wahre Plexus chorioidei, aber in nur beschränkter Anzahl und Entwieklung. — Diese Plexus ent- wickeln sich namentlich in Anschluss an eine mächtige Querfalte des dorsalen Mantels, die sich nebst Pia in den Ventrikelraum einsenkt und denselben unvollkommen in zwei hintereinander gelegene, dorsal- wärts kommunizirende Räume scheidet. 9) Die Zirbeldrüse zeigt sich, je nach den verschiedenen Familien der Fische, sehr mannigfach entwickelt. Sie ist bei den Salmoniden zu einem mächtigen, drüsenartigen Schlauch von langgestreckter Birn- bezw. Flaschenkürbisform geworden, dessen solider schmaler Stiel un- mittelbar vor der Commissura posterior entspringt, während der Kör- per weit nach vorn dem rudimentären Pallium aufliegt und sich in eine Grube des Frontalknorpels einsenkt. Eine offene Verbindung zwischen Zirbelhohlraum und Ventrikel, wie sie sich in frühen Ent- wieklungsstadien nachweisen lässt, besteht am entwickelten Hirn der Salmoniden nicht. 10) Der Hirnbau sämtlicher Cranioten hat einen gemeinsamen Grundplan, dessen einzelne Züge sich überall in der Entwicklungs- geschichte, wie am fertigen Organ, nachweisen lassen. Auch das Knochenfischgehirn, dem durch die Deutung von Fritsch eine be- sondere, schwer verständliche Stellung in der Entwieklungsreihe zu- gewiesen war, macht keine Ausnahme von dieser Regel. Am Großhirn ist es namentlich das gegenseitige Verhältniss in der Entwicklung von Stammlappen und Mantel, welches die Unter- schiede des Baues in den Wirbeltierklassen bedingt, wobei letzterer stellenweise ganz den epithelialen Charakter annehmen kann. — Es Peyrani, Degeneration durchschnittener Nervenfasern. 23 handelt sich hier um einen Vorgang, der auch schon bei höhern Wir- beltieren konstant an gewissen Stellen der dorsalen Hirnwandungen auftritt und längst bekannt ist, nämlich am Dach des dritten und vierten Ventrikels, der aber bei den Knochenfischen sieh auch über das ganze dorsale Gebiet des noch unvollkommen geschiedenen Groß- hirnbläschens ausbreitet. Sieht man von diesem durchsichtigen, epithelialen Mantel ab — in Wirkliehkeit sah man immer bisher durch ihn hindurch, ohne ihn zu kennen — so erscheint das Knochenfisch- gchirn wie das Gehirn eines höhern Wirbeltiers, von dem man den dorsalen Großhirnmantel abpräparirt hat, und in dessen nun offenem Ventrikel die Stammganglien frei zu Tage liegen. Ueber die Degeneration durchschnittener Nervenfasern, Experimentelle Untersuchungen Von Prof. Cajo Peyrani, Parma. Im Jahre 1839 bewiesen Joh. Müller und Sticker, später Reid, Stannius und Longet experimentell, dass das peripherische Ende eines durchsehnittenen Gehirn- oder Rückenmarknerven sechs Wochen nach der Durchschneidung vollständig unerregbar geworden war, während die Muskeln, in denen dieser Nerv endigte, ihre Reizbarkeit bewahrt hatten. Andere Beobachter, wie Günther und Schön fan- den die Erregbarkeit des peripherischen Nervenendes schon sechs Tage nach der Durehsehneidung erloschen; nach Andern wieder waren die Muskeln drei Monate, nach Magron und Brown-Sequard so- gar zwei Jahre, reizbar geblieben. Dass die Eıregbarkeit des peripherischen Endes eines von seinem trophischen Zentrum getrennten Gehirn- oder Rückenmarknerven schwin- det, beruht bekanntlich auf den Zerstörungen in den Stammelementen des Nerven, welche bei den zentrifugalen Fasern von Nasse 1839 entdeckt, von Valentin, Steinrück, Günther, Schön und Andern später verfolgt wurde. Dem Engländer Augustus Waller!) ge- bührt indess das Verdienst, die Veränderungen der anatomischen Ele- inente im durchschnittenen Nerven untersucht und beschrieben zu ha- ben. Diese Veränderungen treten nach ihm sehr bald ein bei homoio- thermen Tieren, bedeutend später dagegen beiKaltblütern und Tieren, welche sich im Winterschlaf befinden (Murmeltier). Die gründlichen Untersuchungen Waller’s wurden von Sehiff, Lent, Hjelt, Hirtz, Beneke u. A. bestätigt. Dagegen war keine vollkommene Uebereinstimmung darüber erzielt, wann und wie der Umwandlungsprozess beginnt, in welcher Reihenfolge die Stammele- 1) A. Waller, London Journ. Med. Sc., 1852. 94 Peyrani, Degeneration durchschnittener Nervenfasern. mente sich daran beteiligen und wie lange die Nervenfaser gebraucht um zur äußersten Grenze der Degeneration zu gelangen. Nach allen Beobachtern bestehen jedoch die ersten Anzeichen der Degeneration in dem Undurchsichtigwerden der Fasern, deren proto- plasmatischer Inhalt ein etwas trübes, fast wolkiges (Vulpian) Aus- sehen bekommt, während die Ränder der Fasern weniger scharf abgegrenzt erscheinen. Ferner beobachteten Waller und Andere noch Gerin- nung, fettige Degeneration und Resorption des Marks, wodurch der Nerv hohl wird, gefurchte Wände bekommt und auf die Schwann’sche Scheide, nach andern auf Schwann’sche Scheide und Axenzylinder re- duzirt wird. Hinsichtlich dieser Punkte stimmen alle Beobachter überein, nur über die Veränderungen des Axenzylinders bestanden im- mer Zweifel. Nach einigen halten sie Schritt mit den Veränderungen des Marks; nach andern bleibt der Axenzylinder während des ganzen Umwandlungsprozesses des Nervenmarks unverändert; nach Waller geht er erst nach der fettigen Degeneration des Marks zu Grunde. Schiff!) will ihn noch fünf Monate nach der Durchschneidung des Nerven unverändert gefunden haben. Ebenso sah Lent in keiner degenerirten Nervenfaser den Axenzylinder degenerirt. Hirtz?) fand ihn in den ersten Tagen nach der Durchschneidung im Durchmesser gewachsen, da er ihn aber später nicht wieder beobachtete, so schloß er, dass Axenzylinder und Mark am peripherischen Ende nach weni- gen Tagen verschwinden, während sie im zentralen Ende noch bestehen. Er behandelte die Nervenfasern mit Kollodium, Chloroform und Queck- silberbichlorür. Die Untersuchungen von Neumann?) und Eichhorst?) zeigten, dass wenn man einen Nerven durchschneidet und mit Osmiumsäure behandelt, der Axenzylinder nicht resorbirt wird, sondern sich in eine dem Axenzylinder chemisch gleiche Substanz verwandelt und dass nur diese sich im gefurehten Neurilemm erhält. Später hob Eich- horst hervor, dass der Axenzylinder sowol im zentralen, wie im peripherischen Ende sich erhält, nur dass er in letzterm viel schnel- lere und eingreifendere Umwandlungen erfährt und viel langsamer re- generirt wird. Beneke (Virchow’s Archiv 1872) fand in allen durch- schnittenen Nervenfasern, welche mit Karmin, Kollodium, Chloroform, konzentrirter Schwefelsäure, Quecksilberbichlorür, Anilin, behandelt wurden, den Axenzylinder nach wenigen Tagen durch Verfettung ver- schwunden. Engelmann?) behauptet, dass im durchschnittenen Nerven der 4) Zeitschr. für wiss. Zool. 1856. 2) Virchow’s Archiv 1869. 3) Archiv für Heilkunde 1868. 4) Virchow’s Archiv 1873. 5) Ueber Degeneration von Nervenfasern. Utrecht’sche Onderzoekingen, derde Reeks, IV. S. 181, 1876. Peyrani, Degeneration durchschnittener Nervenfasern. 35 Degenerationsprozess in zentripetaler Richtung nach dem zentralen, in zentrifugaler Richtung nach dem peripherischen Ende vor sich geht. Im zentralen Ende soll der Degenerationsprozess jedoch auf eine eng begrenzte Stelle beschränkt bleiben, indem die unmittelbar beschädig- ten Zellen absterben, während am peripherischen Ende der Absterbe- prozess sich in der Länge der Nerven ungleich ausdehnt. Diese De- generation schreibt er indess nicht der mechanischen Verletzung, son- dern der Trennung vom Zentrum zu. Ranvier fand wenige Tage nach der Durchschneidung des Ner- ven von einem Axenzylinder keine Spur mehr; die Kerne des Neu- rilemms waren bereits nach 24 Stunden angeschwollen und nach 72 Stunden füllte der Kern die Scheide vollständig aus, wirkte also me- chanisch als Zerteiler des Marks und des Axenzylinders!). Nach 96 Stunden sind die Kerne des Neurilemms am peripherischen Ende stark vermehrt; der Axenzylinder ist hier etwas geschwollen; in einigen Scheiden fehlt er bereits, nach wenigen Tagen in der Mehrzahl, nach 20 Tagen fast in allen geschrumpften Scheiden. Am dritten Tage nach der Durchschneidung des Nerven nimmt das Protoplasma in den Nerven- fasern zu, während die Muskeln, welche von den in diesem Nerven- stamme enthaltenen Fasern innervirt werden, vollständig un- erregbar geworden sind. Im zentralen Ende verwandelt sich nach Ranvier das Nervenmark in feine Körnehen, während die Axen- zylinder derjenigen Fasern, welehe mit ihren trophischen Zentren in Verbindung stehen, dem Einfluss, welcher die Kerne und das Proto- plasma zerstört, widerstehen. Vulpian hat, so ausgezeichnet er die Geschichte der Nervende- generation beschreibt, seine Ansichten und die Ergebnisse seiner und der in Gemeinschaft mit Philipeaux angestellten Versuche sehr häufig geändert. Er gibt an?), dass am vierten Tage nach der Durch- schneidung des Nerven jegliche Erregbarkeit im peripherischen Ende verschwunden sei, wenn man auch noch keine deutlichen Veränderun- sen in den Nervenfasern nachweisen kann, deren erste Spuren am fünften Tage sich zeigen. Wenige Jahre später behauptete er, der Axenzylinder sei vier bis sechs Wochen nach der Durchschneidung des Nervenstamms stets verschwunden, und außerdem konnte er beim Hunde in fast allen Fasern des zwölften Paars 17 Tage nach der Durchschneidung infolge von Erweichung oder körnigem Zerfall den Axenzylinder nicht mehr finden). Fünf Jahre später fand er sechs Monat nach der Durchschneidung des Nerven den Axenzylinder im 1) Ranvier, Comptes rendus de la Soc. de Biol. de Paris, 15. Febr. 1873. 2) Vulpian, Lecons sur la physiologie du systeme nerveux. Paris 1866, S. 236. 3) Vulpian, Archives de physiologie normale et pathologique IV, 1873. 96 Peyrani, Degeneration durchschnittener Nervenfasern. peripherischen Ende vollständig erhalten, eine Tatsache, welche er in allen mit Karmin behandelten Nervenfasern konstatiren konnte). Die Ursache der Teilung und der nachfolgenden Degeneration des Axenzylinders oder seiner histochemischen Veränderung beruht nach Waller darauf, dass er dem Einfluss der trophischen Zentren entzogen ist, welche deshalb die Ernährung nicht mehr anregen. Diese Zentren wirken nach Claude Bernard hemmend auf die Ernährung der Nervenfaser ein. Wird nun diese Faser durchschnit- ten, so werdennach Ranvier, welcher die Bernard’sche Ansicht er- gänzt, Kerne und Protoplasma verhindert sich auf Kosten der eignen trophischen Mittelpunkte zu ernähren. Einige Physiologen waren so glücklich, die Neubildung der durch- schnittenen Fasern in den beiden Enden des durchschnittenen Nerven zu beobachten, welche Waller durch den Einfluss der Nervenzentren auf die Nervenfaser erklärte, während Vulpian sie dem Einfluss der mit den Zentren in Verbindung stehenden anastomosirenden Fa- sern zuschreibt?). Diese kurze Zusammenfassung der bisher gewonnenen Resultate zeigt klar, dass über die Veränderungen des peripherischen Endes eines durchschnittenen Nerven und ihren zeitlichen Verlauf große Meinungsverschiedenheiten bestehen. Ich habe deshalb eine Reihe von Experimenten an Meerschweinchen und Kaninchen angestellt, wel- chen ich bald den Hypoglossus, bald den Facialis, bald den Ischiadi- eus durchschnitt. Die Resultate dieser Versuche, welche vom Februar 1880 bis Ende Dezember 1882 ausgeführt wurden, will ich hier kurz zusammenstellen. Bei 18 Versuchstieren befolgte ich bei der mikroskopischen Un- tersuchung der Nerven (Hartnack, II, 5, manchmal auch Immersion) genau die Ranvier’sche Methode. Zu verschiedenen Zeiten wurde ein kleines Stück des peripheri- schen Nervenendes ausgeschnitten und das Mark durch 24stündige Behandlung mit 1 °/, Ueberosmiumsäure gefärbt. Hiernach wurde der Nerv mehrfach in destillirtem Wasser ausgewaschen, dann 24 Stun- den in eine Lösung von Ammoniakpikrokarmin getan, wiederum in destillirtem Wasser gewaschen, auf einer Glasplatte, auf welche einige Tropfen Pikrinsäure geschüttet waren, zerfasert und endlich zur Un- tersuchung in Glyzerin gebracht. Diese Beobachtungen nach Ranvier’s Methode zeigten fast stets die gleichen Veränderungen an den breiten Nerven mit doppelten Rändern und denen mit kleinem Querschnitt. Nach den ersten 24 Stunden waren keine Veränderungen in der Struktur der Nervenfasern zu beobachten; am zweiten Tage zeigten sie dagegen deutlich eine 4) Vulpian, Comptes rendus de la Soc. de Biol. de Paris, 1876. 2) Vulpian, Archives de physiol. norm et pathol. Paris, 1874, 8. 704. Peyrani, Degeneration durchschnittener Nervenfasern. 27 Di allgemeine Trübung, welche durch den im Mark und vielleicht auch im Axenzylinder eintretenden Degenerationsprozess entstand. Am drit- ten Tage erscheint der Nerv etwas verdickt, das Neurilemm zeigt mehr- fache Varikositäten, die Kerne sind, wahrscheinlich infolge fettiger Ent- artung, bewirkt durch endosmotische Aufnahme kleiner Teile des de- generirten Nervenmarks, vergrößert. Dieses erscheint nicht mehr als ein homogenes und kontinuirliches Ganze, sondern zeigt eine ge- ringere Kohäsion seiner Moleküle welche schließlich zu einer Auflösung in Bruchstücke oder Tropfen führt. Der Axenzylinder ist stark zer- klüftet, hier und da treten einige Stückehen von ungleicher Länge deutlich hervor. Die Strukturveränderungen der Primitivfasern sind am vierten Tage nach der Durchschneidung des Nerven deutlicher geworden. Die Schwann’sche Scheide ist gerunzelt und an verschiedenen Stellen eingeschnürt. Das Nervenmark ist bereits zum großen Teil in große Fetttropfen, hier und da auch durch feine, dunkle Linien in Frag- mente von verschiedener Größe zerfallen. Der Axenzylinder ist fast in der ganzen Ausdehnung der Nervenfaser, besonders im Niveau der Kerne, welche ihn gedrückt haben, in kleinste Stücke zerfallen. Am fünften Tage sind die Kerne des Neurilemms vergrößert und dieses ist stärker gerunzelt, ohne seinen Glanz verloren zu haben. Das Myelin hat sich im sehr zarte Tropfen umgewandelt, welche in kleinen Scheiben über einander gelagert und durch ein sehr dünnes, dunkles, kontinuirliches oder unterbrochenes Band geteilt sind, wo- durch sie eine gewisse Aehnlichkeit mit Haaren bekommen. Diese Scheibehen, deren Zahl und Abstand wechselt, sind nach meiner Meinung als horizontale Einfaltungen der Schwann’schen Scheide zu betrachten. — Zwischen dem Nervenmark und dem Neurilemm zeigt sich viel gelblich gefärbtes Protoplasma. Der Axenzylinder, welcher im Niveau der verdiekten Kerne zusammengedrückt ist, er- scheint mehr oder weniger deutlich im Innern jedes Scheibehens des Nervenmarks. Die Kerne der Schwann’schen Scheide sind am 6., 7. und 8. Tage nach der Durchschneidung des Nerven vermehrt und ver- größert. Die Scheibehen, in welche das Nervenmark zerfallen ist, treten auf in Form vielseitiger oder rundlicher kleiner Trümmer, während die dunklen, linienartigen Bänder, welche sie abteilten, fast überall verschwunden sind. Der Axenzylinder ist sehr schwer zu erkennen, da er in kleine Bruchstücke in Form von einfachen Punkten oder kleinen Strichen nach Art eines S oder auch in kurze Spiralen zer- fallen ist; bisweilen hat er jedoch auch seine geradlinige Form be- wahrt. Am zwölften Tage nach der Durchschneidung treten in dem stark gerunzelten Neurilemm zahlreiche größere und kleinere Kerne auf. Statt des Myelins sind homogene Tropfen vorhanden und von den 98 Peyrani, Degeneration durchschnittener Nervenfasern. feinen dunklen Bändern erkennt man auf jeder Nervenfaser des Axen- zylinders nur sehr schwierig ein oder zwei. Der Axenzylinder ist am 16., 17. und 18. Tage nach der Durch- schneidung nicht mehr aufzufinden, weshalb ich, wenigstens nach meinen Beobachtungen behaupten möchte, dass er vollständig ver- schwunden ist. Das Myelin hat sehr abgenommen und ist überall in kleine Fetttröpfehen verwandelt. Die Wände des Neurilemms sind fast leer, gerunzelt, liegen fast aneinander und zeigen abwechselnd Einschnürungen und Anschwellungen. Letztere sind bewirkt durch die verlängerten spindelförmigen Kerne, welche Neumann, Eich- horst, Schiff und Krause verleitet haben, das Vorhandensein des Axenzylinders in den degenerirten Fasern anzunehmen. Dies sind die wichtigsten Veränderungen in der Struktur der Nervenfasern, welche sich aus meinen Beobachtungen am durchschnit- tenen Hypoglossus, Facialis oder Ischiadieus ergeben haben '). Nachdem die Veränderungen in den peripherischen Nervenfasern und die Zeit ihres Eintritts bestimmt waren, habe ich in einer zwei- ten Versuchsreihe die Frage zu beantworten gesucht, ob der galvani- sche und der faradische Strom die Reizbarkeit der Muskeln verändern oder nicht und welchen Einfluss diese Ströme auf die Dauer des De- generationsvorgangs der Nervenfasern haben. Zu diesem Zwecke habe ich den Strom eines kleinen Grove 125° bis 180 lang auf das peripherische Ende des eben durchschnittenen Nerven wirken lassen und diese Reizung während der ganzen Dauer der Untersuchungen täglich wiederholt. Die Sekunden zählte ich vermittels einer elektri- schen Uhr von Dr. Rohrbeck in Berlin. Zur Reizung mit Induktionsströmen benutzte ich den du Bois’schen Schlitten, dessen Rollen 2 em von einander abstanden. Der indu- zirte Strom floss durch das peripherische Ende genau ebenso lange wie der konstante; wie sich von selbst versteht, wurden die Wirkun- gen der verschiedenen Ströme auch an verschiedenen Tieren unter- sucht. Bei Anwendung konstanter Ströme nahm die Reizbarkeit der Muskeln ab oder verschwand auch vollständig, während sie durch den Induktionsstrom erhöht und noch 15—20 Tage nach der Durch- schneidung deutlich nachzuweisen war. Bei den Tieren, welche un- mittelbar nach der Durchschneidung mit dem konstanten Strom be- handelt wurden, war die Muskelreizbarkeit schon am folgenden Tage auffallend vermindert, nach weitern 24 Stunden noch geringer und 4) Die Behauptung Vulpian’s (Rögeneration dite autogenique des nerfs. Arch. de phys. norm. et pathol., Paris 1874, S. 704), dass die Chorda tym- pani den N. lingualis nur bis zur Höhe des Ganglion submaxillare begleitet, kann ich bestätigen, da ich nach der Durchschneidung des Facialis nie eine de- generirte Faser im Lingualis gesehen habe, Peyrani, Degeneration durchschnittener Nervenfasern. 39 nach dem 5. bis 18. Tage fast stets vollständig vernichtet. Die Mus- keln kontrahirten sich auf direkte Reizung mit induzirten und a fortiori mit konstanten Strömen nicht mehr. Zwischen dem 5. und 7. Tage muss- ten die Rollen des Induktoriums über einander geschoben werden, um bei direkter Reizung der Muskeln noch Kontraktionen zu erhalten. Es ist hervorzuheben, dass wenn bei einem Rollenabstande von 2 cm sich nur ganz geringe Spuren von Reizbarkeit zeigten oder diese ganz fehlte, durch Uebereinanderschieben der Rollen bis zur Hälfte sich sofort energische Kontraktionen erzielen ließen. Was die degenerativen Vorgänge in dem durchschnittenen Nerven anlangt, so ergibt sich, dass dieselben in dem vom Induktionsstrome durchflossenen Nerven in den ersten vier Tagen etwa 24 Stunden früher auftreten, als in demjenigen, auf welchen der konstante Strom gewirkt hatte. Mit andern Worten, am zweiten Tage nach der Durch- schneidung des Nerven zeigt die mit Induktionsströmen behandelte Nervenfaser genau dieselben Veränderungen, welche am dritten Tage die mit dem konstanten Strome behandelte erkennen lässt. Indess ist der Verlauf der angegebenen Modifikationen im Wesentlichen der- selbe. Der Axenzylinder ist am 12. bis 14. Tage in keiner Primitiv- faser mehr sichtbar; das Mark hat sich in demselben Zeitraum bereits in kleinste Fetttropfen aufgelöst; das Neurilemm zeigt zahlreiche An- schwellungen, welche von der Bildung und Vervielfältigung spindel- förmiger Kerne herrühren. Die Veränderungen im zentralen Ende des durchschnittenen Ner- ven habe ich nicht histologisch verfolgt, und ich kann deshalb auch nicht sagen, ob in diesem 19—20 Tage nach der Durchschneidung noch alle Teile des Nerven unverändert sind, oder ob, wie Neumann und Eichhorst behaupten, auch hier die Degeneration stattgefunden hat. Ziemlich regelmäßig habe ich in dem mit konstanten Strömen gereizten Nerven eine seröse Infiltration beobachtet. Diese hat nicht nur eine Vergrößerung des peripherischen Endes zur Folge, sondern macht auch den Nerven elastischer und somit fester. Der wieder- holt mit dem konstanten Strome gereizte Nerv ist von Fett durch- drungen und gleichzeitig sind auch die Körperchen des Bindegewebes, welches den Nerven umgibt, fettig degenerirt. Das peripherische Ende des mit Induktionsströmen gereizten Nerven zeigt sich deutlich atrophirt und infolge davon werden alle Primitivfasern des Nerven nach dem 8. Tage krümelig und sind nach dem 12. oder 15. fast vollstän- dig zerfallen und in einen Brei verwandelt, welcher von den schlaf- fen Wandungen des Perneuriums kaum noch zusammengehalten wird. Es bleibt nun noch zu untersuchen, ob der konstante und der induzirte Strom, welche eine Zeitlang täglich 120—180' auf das peripherische Ende eines durchschnittenen Nerven wirkten, auf die Muskelreizbarkeit einen merklichen Einfluss ausübten. Viele Forscher behaupten, sie sei am dritten Tage nach der Durchschneidung voll- 30 Peyrani, Degeneration durchschnittener Nervenfasern. ständig erloschen. Nach meinen Beobachtungen hat sie bereits 24 Stunden nach der Durehschneidung bei den mit konstanten Strömen behandelten Tieren sehr abgenommen, nach weitern 24 Stunden er- hält man nur sehr schwierig noch Beweise für ihr Vorhandensein ; 72 Stunden nach der Durchschneidung des Nerven und den ersten Anwendungen des konstanten Stroms während 180“ ist sie vollständig erloschen. Ließ man erst den Induktionsstrom und dann den konstanten täglich 2° bis 3“ auf die Muskeln wirken, so zeigten sich am 4. Tage noch deutliche Anzeichen von Reizbarkeit während des Fließens bei- der Ströme und dieser Erfolg war noch weitere 7 bis 8 Tage zu konstatiren. Die Muskeln zogen sich in den ersten 48 bis 72 Stunden wie auch am 6. und 8. Tage auf Reizung mit Induktionsströmen noch sehr gut zusammmen. Während die Reizbarkeit der Muskeln am achten Tage nach der Durchschneidung des Nerven kaum nachzuweisen ist, wenn sich die beiden Spiralen eben berühren, ist sie am 18., 20. und selbst am 30. Tage noch deutlich bemerkbar, wenn die sekundäre Rolle 1 bis 2 em über die primäre geschoben wird. Noch am 96. Tage war die Reizbarkeit deutlich nachzuweisen, wenn die Muskeln direkt mit In- duktionsströmen gereizt wurden, welche von der 3 em die primäre bedeckenden sekundären Spirale ausgingen. Ich suchte nunmehr nach der Ursache, weshalb die mit Strömen von verschiedener Stärke behandelten Muskeln bald reizbar, bald un- erregbar waren. Zu diesem Zwecke entnahm ich täglich von Mus- keln, welche dem Einfluss der trophischen Zentren entzogen waren, kleinste Teilchen, die ich drei bis vier Tage in Müller’sche Flüssig- keit legte und dann in Glyzerin mikroskopisch untersuchte. Die Unter- suchung ergab bei den Muskelfasern, welche sich unter dem In- duktionsstrome bis zum 7. Tag schwach oder nicht zusammerziehen, das Sarkolemm durch Infiltration geschwollen, die Kerne im Durch- schnitt gewachsen, in dasDegenerationsstadium eingetreten und in Kreisabschnitte geteilt; das Muskelgewebe begann sich zu verfetten und diese Umwandlung wurde täglich deutlicher. Am 14.—15. Tag treten in der Längsrichtung der Muskelfaser, namentlich im Niveau der Kerne des Sarkolemms zahlreiche Fettkörnchen auf. Die Kör- perchen des die Fasern zusammenhaltenden Bindegewebes sind eben- falls fettig degenerirt und viele Muskelfasern zeigen keine Spur mehr von fibrillärem Baue. Im größten Teile der Muskelfasern, welche in den ersten sechs Tagen mit konstanten Strömen gereizt wurden, ist die normale fibril- läre Struktur erhalten, und nur wenige Fasern zeigen Spuren von fettiger Degeneration. Vom sechsten bis achten Tage greift der De- generationsprozess weiter und am 16.—18. Tage zeigen sich diese Muskelfasern in demselben Zustande fettiger Degeneration, wie die mit Induktionsströmen gereizten. Stilling, Bau der optischen Zentralorgane. 31 Aus den mitgeteilten Versuchen ergibt sich demnach folgendes: 1) Die Muskelreizbarkeit ist eine Tatsache, welche von der Ner- venerregbarkeit durchaus unabhängig ist. 2) Die Erregbarkeit des Nerven schwindet fast immer 24 bis 36 Stunden nach seiner Durchschneidung. 3) Bei direkter Reizung kontrahirt sich die Muskelfaser unter der Wirkung des Induktionsstroms noch nach 96 Tagen, während der kon- stante Strom bereits am 3. Tag unwirksam geworden ist. 4) Die Degeneration der Primitivfasern am peripherischen Ende, deren erste Anzeichen man 48 Stunden nach der Durchschneidung des Nerven beobachtet, breitet sich schnell in der ganzen Länge des Nerven aus, welcher dem Einfluss der trophischen Zentren entzogen ist. 5) Der Induktionsstrom, welcher täglich eine Zeitlang das peri- pherische Ende durchfließt, scheint die Wirkung der trophischen Zentren in den ersten 3 bis 4 Tagen zu ersetzen, während der konstante Strom auf den Ernährungsprozess keinen Einfluss hat. 6) Das Verschwinden der Muskelreizbarkeit nach längerer oder kürzerer Zeit scheint mit dem schnellern oder langsamern Auftreten der Degenerationsvorgänge in enger Verbindung zu stehen. J. Stilling, Untersuchungen über den Bau der optischen Zentral- organe, I. T. Chiasma u. Tractus opticus. Kassel 1882. Stilling bringt in dieser Arbeit eine ausführliche Darlegung der meist mittels der Zerfaserungsmethode gewonnenen Resultate seiner Untersuchungen über die optischen Zentralorgane. Insoweit er die gefundenen Tatsachen in vorläufigen Mitteilungen früher veröffentlicht hatte, fanden dieselben bereits teilweise in dieser Zeitschrift (I. Bd. S. 139 ff.) Erwähnung. Besondern Wert legt Verf. auf die bereits besprochene (l. e. S. 140) direkte spinale Wurzel, welche ein Analogon mit der spinalen Wurzel des Trigeminus, Acusticus (und wol auch des Glossopharyngeus und des Olfactorius) darstellen würde. Im Chiasma nerv. opt. des Menschen finden sich gekreuzte und ungekreuzte Fasern. Letztere, welche im Chiasma weitaus zahlreicher als die gekreuzten vertreten sind, bilden jederseits eine Art von Hohlrinne, in welcher die ge- kreuzten Bündel medianwärts eingelagert sind. Die Fasern der vordern Kommissur erstrecken sich weit auf die obere Fläche des Chiasma hinauf, während die hintere Kommissur vom hintern Winkel des Chiasma an fast die ganze untere Fläche desselben bedeckt. Stilling ist ferner der Ansicht, dass zu jeder Retinapartie gekreuzte und ungekreuzte Bündel, sowie auch Fasern von der vordern Kommissur ge- langen. Obersteiner (Wien). 39 Rückert, Der Pharynx als Sprech- und Schluckapparat Rückert, Der Pharynx als Sprech- und Schluckapparat. München, 1882. VIII und 90 S. gr. 8. Mit 6 Tafeln. Die Monographie ist Rüdinger gewidmet und wesentlich eine verglei- chend-anatomische Studie, als welche sie auch bezeichnet wird, Wie alle un- ter Rüdinger’s Aegide verfassten Arbeiten zeichnet sich auch diese durch saubere Präparation, unbefangene Würdigung früherer Leistungen auf dem be- treffenden Gebiete und schöne Abbildungen aus. Die anthropotomischen Ver- hältnisse sind begreiflicher Weise am ausführlichsten berücksichtigt; sie wer- den erhellt durch die vergleichend-anatomische Betrachtungsweise. Um ein Beispiel herauszugreifen, so ist der M. pharyngopalatinus als solcher zu bezeichnen und nicht als M. thyreopharyngopalatinus. Aber beim Menschen greift allerdings sein Ursprung, was schon Santorini (1714) wusste und was jetzt allgemein anerkannt ist, auf die Seitenplatte der Cartilago thyreoidea über. Dasselbe gilt nach dem Verf. für Cynocephalus, Cercopi- thecus, Equus und Delphinus. Beim Menschen betrifft dieser Ansatz den hin- tern Rand der genannten Seitenplatte, womit Ref. (Handbuch der menschl. Anat. Bd. III. 1880 S. 131), der den Ursprung vom obern Rande abweichend von Henle (1862) für Varietät hält, übereinstimmt. Der Verf. betrachtet als Hauptwirkung des Muskels die Verengerung des Isthmus faucium, als Neben- wirkung eine Verkürzung des Pharynx und Hebung des Kehlkopfs. Ref. be- merkt jedoch hierzu, dass die Kontraktionen anderer benachbarter stärkerer Muskeln schon wesentlich in Betracht kommen; namentlich für Hebung des ganzen Kehlkopfs mit dem was daran hängt, sind jene Fasern etwas schwach. Die erste Abteilung der Schrift (S. 1—47) behandelt auf Grund genauer Messungen an zahlreichen Säugern die Raumverhältnisse des Schlundkopfs. Die Stellung des Kehlkopfs und Zungenbeins zum Schädel, die Dimensionen der hintern Pharynxwand, Form und Größe des weichen Gaumens, die Arcus glossopalatini und pharyngopalatini, die Stellung des Kehlkopfs zum Gaumen- segel und die Einteilung des Schlundkopfs werden nach einander abgehandelt. Die zweite Abteilung umfasst die vergleichende Myologie der Schlundkopf- wandung, die Mm. constrietores pharyngis superior, medius, inferior, das Größenverhältniss der drei Konstriktoren, Eigentümlichkeiten im Bau der trans- versalen Pharynxmuskulatur des Menschen, die Mm. stylopharyngeus und pha- rygopalatinus, die Analogie des Isthmus faucium mit andern Abschnitten des Darmkanals, endlich folgen physiologische Schlussbetrachtungen. Das Verzeichniss der benutzten Säugetiere umfasst 43 Spezies aus allen Ordnungen, darunter Ornithorhynchus, Orang-Utang, Chimpanse und Gorilla, W. Krause (Göttingen). Verlag von August Hirschwald in Berlin. Soeben erschienen: Die Entstehung und Behandlung der Kurzsichtigkeit von Dr. O0. Paulsen. 1883. gr. 8. Preis 1 Mark, Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Üentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. I. Band. 15. März 1883. Nr. 2. Inhalt: Volkens, Ueber Wasserausscheidung in liquider Form an den Blättern höherer Pflanzen. — Mitrophanow, Beiträge zur Kenntniss der Hämatozoen. — Romanes und Ewart, Zur Nervenphysiologie der Echinodermen. — Frenzel, Ueber die Mikrozymas in der Leber und im Pankreas. — Kräpelin, Die neueste Literatur auf dem Gebiete der psychischen Zeitmessungen. — Dingler, Ueber das Scheitelwachstum des Gymnospermenstamms. — Holl, Zur Topographie des weiblichen Harnleiters. Georg Volkens, Ueber Wasserausscheidung in liquider Form an den Blättern höherer Pflanzen. Inauguraldissertation. Berlin 1882. Mit drei Tafeln. Dass an der Oberfläche, namentlich an den Spitzen und den Rand- zähnen der Blätter mancher Pflanzen Wasser in Tropfenform ausge- schieden wird, ist eine bekannte Tatsache, und desgleichen weiß man, dass die betreffenden Blattteile in vielen Fällen eine besondere, zu jener Funktion in nächster Beziehung stehende anatomische Struktur aufweisen. Die vorliegende Arbeit erregt nun vornehmlich dadurch Interesse, dass sie einmal die weite Verbreitung solcher Wasseraus- scheidungen nachweist — solche wurden bei mehr als 150 in 91 Gat- tungen und 36 Familien verteilten Spezies krautartiger Pflanzen fest- gestellt — und dann die Bahnen genauer verfolgt, welche das aus- tretende Wasser innerhalb der Pflanze genommen hat. Die sorgfälti- gen Untersuchungen des Verfassers zeigten, dass dieses Wasser sich ausnahmslos in den Hohlräumen der Gefäße bewegt. Die letztern führen bei krautartigen Pflanzen in den frühesten Morgenstunden so- lange die Transpiration fehlt oder geringfügig bleibt, nur Wasser in ihrem Innern. Später, im Laufe des Tags, wird dann ein Teil des Wassers durch Luft ersetzt. Dieses Ergebniss bestätigt die schon von Höhnel!) aufgestellte Theorie der Bewegung des Transpirations- 1) v. Höhnel, Ueber den negativen Druck der Gefäßluft. Inauguraldis- sertation 1876. Wien, Karl Gerold’s Sohn. — Beiträge zur Kenntniss der Luft- und Saftbewegung in der Pflanze. Jahrb. für wissensch. Botanik. 1879. 3 34 Volkens, Wasserausscheidung der Blätter. wassers in den Gefäßen, zunächst für krautartige Pflanzen. Zur Er- klärung des Saftsteigens in hochstämmigen Bäumen will Verf. seine Resultate vorläufig noch nicht verwerten!). — Besondere Sekretions- apparate für Wasser sind auf die Blätter der Dicotylen und Aroideen beschränkt. Sie finden sich meistens an den schon eingangs erwähn- ten Stellen und bestehen aus den fächer- oder pinselförmig ausge- breiteten Gefäßenden eines Nerven, welche entweder von gewöhnlichem grünen Blattparenchym umgeben werden, oder in ein besonderes (von letzterm durch kleinere, chlorophylllose, häufig auch abweichend ge- formte Zellen unterschiedenes) Gewebe (Epithem) eingebettet sind. In beiden Fällen sind zwischen den die Gefäßenden umgebenden Zellen Interzellularräume vorhanden, die zu sogenannten Wasserspalten führen. Letztere durchsetzen, in Ein- oder Mehrzahl, die Blattepidermis an entsprechender Stelle, sind immer größer als die Luftspalten, und von diesen auch noch anderweitig verschieden. Das aus den Hohlräumen der Gefäße ausgeschiedene Wasser tritt zunächst in die Interzellular- räume in der Umgebung der Gefäßenden und dann durch die Wasser- spalten nach außen. — Bei den Monokotylen (mit Ausnahme der oben genannten Aroideen) sind solche Sekretionsapparate nicht vorhanden. Niemals kommt es hier zur Ausbildung eines besondern „Epithems“ und an Stelle der Wasserspalten tritt ein Riss in der Epidermis, mit welchem die Gefäßenden direkt oder durch die Interzellularräume ihrer Umgebung kommuniziren. Was die Erscheinung der Wasser- ausscheidung selbst betrifft, so lässt sich dieselbe nicht nur in den Morgenstunden, sondern auch zu jeder andern Tageszeit beobachten, sobald nur die Luft warm und mit Feuchtigkeit gesättigt ist. Wegen ihres häufigen Zusammenfallens mit der Thaubildung ist sie aller- dings bei oberflächlicher Betrachtung leicht zu übersehen. Als be- wegende Kraft wirkt der „Wurzeldruck“ d. h. eine in den Wurzeln zu Stande kommende Druckkraft, welche das Wasser in den Gefäßen nach aufwärts presst. Bei Culla palustris war der Sitz dieser Kraft direkt nachweisbar, indem sich die frische Schnittfläche einer abge- schnittenen jungen, zur Hälfte in Wasser befindlichen Wurzel nach kurzer Zeit mit einer dünnen Wasserschicht bedeckte, welche sich stets erneuerte, wenn sie mit Fließpapier aufgesogen wurde. Die physiologische Bedeutung der Wasserausscheidung liegt in der Ver- minderung des hydrostatischen Drucks in den Gefäßen beim Sinken der Transpiration. Schließlich spricht der Verf. die Vermutung aus, dass auch bei denjenigen Pflanzen (Resedaceae, Linaceae, Malvaceae, Papilionaceae), 1) Nach den Arbeiten von Böhm, R. Hartig und F. Elfving kann übrigens kaum mehr ein Zweifel darüber bestehen, dass auch bei den höchsten Bäumen das Transpirationswasser nur in den Hohlräumen der Tracheen (Gefäße und Tracheiden) aufsteigt. Der Ref. Mitrophanow, Zur Kenntniss der Hämatozoen. 35 „welche jeder Andeutung eines Sekretionsapparats ermangeln“, den- noch Wasserausscheidung vorkommen dürfte, aber nicht nur an be- stimmten Teilen, sondern vielmehr gleichmäßig auf der ganzen Fläche der Blätter aus den gewöhnlichen Spaltöffnungen. Diese Vermutung wird durch den anatomischen Bau der Blätter jener Pflanzen unterstützt. K. Wilhelm (Wien). Beiträge zur Kenntniss der Hämatozoen. Neue monadenförmige Parasiten des Fischbluts, ihnen ähnliche Or- ganismen und ihre Beziehung zu den Blutelementen. Von P. Mitrophanow, Assistenten am histologischen Kabinet der Universität zu Moskau. Mit Rücksicht auf die sehr verbreitete Meinung, dass gesundes Blut höherer Tiere völlig frei von ihm fremden Organismen sein müsse, verdient vom allgemein physiologischen Standpunkt das Vorkommen von Parasiten im normalen Blute besondre Aufmerksamkeit. Wenn man die Bakterien, Mikrokokken, Spirillen u.s. w., die ein spezielles Interesse haben und deren Auftreten gewöhnlich mit einem anormalen Zustande des Organismus zusammenfälit, ausschließt, so ist bis jetzt nur in einer verhältnissmäßig sehr geringen Zahl von Fällen das Vor- kommen von Parasiten im Blute der Wirbeltiere bekannt. Einerseits haben wir Blutparasiten aus der Klasse der Würmer, resp. Vertreter aus der Gattung Filaria, andrerseits niedre Organismen, die sogenann- ten Hämatozoen, über deren systematische Stellung noch keine Ueber- einstimmung erzielt ist. Die Untersuchung dieser Hämatozoen ver- dient, abgesehen von dem allgemein physiologischen und zoologischen Interesse, das sie bietet, noch besondre Beachtung gegenüber den Ansichten Gaule’s!) über die Natur der Formelemente des Bluts. Die Literaturangaben über die Hämatozoen sind äußerst lückenhaft; sie wurden mehr als Kuriositäten, denn als Tatsachen, die einen bestimmten Zusammenhang mit festgestellten wissenschaftlichen An- sichten haben, aufgefasst. Dank diesem Umstande ist eine sorgfältige Prüfung dieser fragmentarischen Beobachtungen unerlässlich, um sie in ein bestimmtes System bringen und ihre biologische Bedeutung aufklären zu können. Da Hämatozoen bei einer verhältnissmäßig ge- ringen Zahl von Tieren beobachtet worden sind, so muss ihr Vor- kommen bei andern Tierarten zur weitern Ausbildung der Lehre über diese interessanten Organismen führen. 4) J. Gaule, Ueber Würmchen, welche aus den Froschblutkörperchen auswandern. Arch. f. Anat. und Phys., 1880, $S. 57.— Beobachtungen der farb- losen Elemente des Froschbluts. Ebenda, 1880, S. 375. — Die Beziehungen der Cytozoen (Würmchen) zu den Zellkernen. Ebenda, 1881. 8. 297—316. (Vgl. GbL E'Nr. 17, S. 529). BEE. 36 Mitrophanow, Zur Kenntniss der Hämatozoen. Im Nachfolgenden werde ich mit einer Beschreibung der von mir entdeckten neuen Parasiten des Fischbluts beginnen, ihre Verwandt- schaft und systematische Stellung berücksichtigen und schließlich die Ansichten Gaule’s auf Grund seiner Mitteilungen, sowie auf‘ eigene Beobachtungen gestützt, zu beurteilen suchen. I. Im August dieses Jahres gelang es mir im Blute des Schlamm- peizgers (Cobitis fossilis), dann auch im Blute der Karausche (Caras- sius vulgaris) einen Organismus rätselhafter Natur zu beobachten. Auf den ersten Blick (Fig.1, a, S. 41) erinnerte er seinem äußern Aussehen wie auch der Art seiner Bewegungen nach, in hohem Grade an eine kleine Nematode; aber der Mangel an innerer Differenzirung und die nach- folgenden Formveränderungen zeigten, dass dieser Organismus mit den Würmern nichts gemein hat. Anfangs fand ich diese Gebilde im Blute bei Zusatz einer 1 °/, Kochsalzlösung, was mir unter anderm zu der Vermutung Anlass gab, dass ich mit ähnlichen Gebilden zu tun hätte, wie sie Gaule unter dem Namen von „Würmchen“ resp. Cytozoen!) beschrieben hat. Indess bewies das Vorkommen dieser Or- ganismen in eben frisch aus den Gefäßen der Kiemen, des Darmkanals u. Ss. w. ausgelassenem Blute, ohne Zusatz irgend welcher Flüssig- keiten, dass ich es mit einer besondern parasitären Form zu tun hatte. Die Größe der betreffenden Organismen ist ziemlich bedeutend, sie schwankt zwischen 30—40 u, so dass man sie bequem bei Obj. 7 und Okul. III von Hartnack beobachten kann. Bei einer so bedeuten- den Länge, die den großen Durchmesser eines roten Blutkörperchens des Schlammpeizgers 2—3 mal übertrifft, messen die „Würmehen“ in der Breite nur 1—1!/, w. Die Schnelligkeit ihrer Bewegungen in einem eben angefertigten Präparate verhindert eine genaue Beobach- tung der Einzelheiten ihres Baues; diese wird erst möglich, wenn der betreffende Organismus sich langsam zu bewegen anfängt. Die leb- haften und äußerst charakteristischen Bewegungen des Würmchens, die wie bemerkt, an die Bewegungen kleiner Nematoden erinnern, bestehen aus rasch auf einander folgenden ringförmigen Zusammen- rollungen und Auseinanderrollungen des Körpers, so dass es aussieht, als ob das Würmchen im Gesichtsfelde tanze. Bei etwas verlangsam- ten Bewegungen bemerkt man an seinem vordern Ende eine Geißel von beträchtlicher Länge, deren Schwingungen unabhängig von denen des Körpers erfolgen. Die Bewegungen des Würmchens ge- schehen immer mit der Geißel voran, so dass man an ihm ein vor- deres und hinteres Ende unterscheiden kann. Das vordere Ende ist etwas spitzer als das hintere und geht allmählich in die Geißel über, welche !/;, der Körperlänge und darüber erreicht. Während der Be- wegungen beobachtet man Augenblicke, wo der Körper auszuruhen scheint, — das ist die geeignetste Zeit zur Beobachtung der Geißel, 1)12..8,. 0:4 undes; Mitrophanow, Zur Kenntniss der Hämatozoen. 37 die mit dem freien Ende nach allen Richtungen sich bewegend, einen bequemern Weg für die darauf folgenden Bewegungen des Organismus selbst zu suchen scheint. Wenn bedeutendere Ermüdung eintritt, etwa zwei bis drei Stunden nach Anfertigung des Präparats, so wird die scheinbar einfache, wurmartige Form komplizirter. Bei scharf abge- grenzter Geißel verkürzt sich der Körper und seine Bewegungen verlieren ihre Lebhaftigkeit; er nimmt das Aussehen eines Klümpchens an, in dessen verschiedenartigen Gestaltungen sich gleichwol noch eine cha- rakteristische schraubenförmige Form erkennen lässt. Bei dieser Form, in die allmählich der betreffende wurmförmige Organismus übergeht, unterscheidet man einen verkürzten, dem Körper entsprechenden, Stamm, an dem spiralig eine undulirende Membran befestigt ist (Fig. 1, d). Es fragt sich, woher diese letztere enstanden ist, da sie zu Anfang der Beobachtung nicht zu sehen war? Eine Antwort darauf bietet die eigentümliche Form des Organismus. Den Körper desselben kann man sich etwa als eine unregelmäßige, elliptische Figur denken, die an einer Seite stärker als an der andern gekrümmtist. Die schwä- chere Krümmung bildet den eigentlichen Körper des Würmchens, an den sich in seiner ganzen Ausdehnung die Membran befestigt, deren freier Rand die größere Krümmung vorstellt. Im tätigen lebendigen Zustande ist der Körper so stark ausgedehnt, dass die Membran, welche sich gleichfalls mit ihm dehnt, vom Körper nicht zu unter- scheiden ist; tritt dagegen Ermüdung ein, so wird der Körper kürzer, die Membran differenzirt sich und kommt in Form eines spiraligen Anhangs zur Beobachtung. Die Präparate, welche man durch Zusatz von Ueberosmiumsäure erhält, bestätigen diese Auffassung durchaus (Rie: 1,-e). Man kann also an dem hier besprochenen Organismus folgende Teile unterscheiden: einen Körper, eine spiralige Membran und eine Geißel. Eine andere Differenzirung ist auch bei stärkerer Vergröße- rung weder in der äußern Gliederung, noch in der innern Organi- sation, zu entdecken. Wie der Körper, so stellen auch die Geißel und die Membran eine homogene, stark lichtbrechende protoplasma- tische Substanz dar, die eine starke Kontraktilität besitzt und beim Absterben sich in ein formloses Protoplasmaklümpchen zusammenzieht, in welchem allerdings anfänglich noch Veränderungen der primären Form zu beobachten sind. Einen solchen Charakter besitzt der größte Teil der rätselhaften Organismen, die im Schlammpeizgerblute sich finden. Es kommen aber, wenn auch selten, in demselben Blute abweichend gebaute For- men vor. Erstens sind es Wesen, bei denen man nie eine Membran entdecken kann, und welche beimErmüden und sogar beim Absterben nicht die wunderliche schraubenförmige Gestalt annehmen, sondern selbst nach dem Tode die Gestalt wurmartiger Fäden bewahren. Diese Organismen sind etwas dicker und zeigen in ihrem Innern zwei 38 Mitrophanow, Zur Kenntniss der Hämatozoen. lichtbrechende kugelartige Körperchen; ihre Bewegungen, mit der Geißel voran, bestehen hauptsächlich aus wellenförmigen Windungen (Fig.1,e). Eine zweite Varietät, die aller Wahrscheinlichkeit nach mit der eben beschriebenen identisch ist, erscheint noch einfacher. Sie besitzt weder eine Membran, noch eine Geißel. Der ganze Organismus er- scheint als Protoplasmaklümpchen, welches nach allen Seiten Fort- sätze ausschickt (Fig. 1, e). Diese Fortsätze verschwinden ebenso rasch, wie sie entstehen, wobei jedoch die wurmartige Form vor- herrscht. Man kann indess bei dieser Varietät weder ein vorderes, noch ein hinteres Ende unterscheiden, da jeder seitliche Fortsatz sich in das vordere Ende umbilden kann, wobei die ganze Plasmamasse in jenen hinüber zu fließen scheint, indem sie gleichzeitig andere Fort- sätze bildet. Nicht selten bewegt sich die hier beschriebene Form nach augenblicklichem Stillstehen nach einer Richtung, welche der eben noch innegehaltenen entgegengesetzt ist, so dass das hintere Ende zum vordern wird. Diese Varietät unterscheidet sich ebenfalls durch die Körnigkeit ihres Protoplasmas, wie auch durch die An- wesenheit von zwei, drei, sogar vier stark lichtbrechenden Kügelchen, die bei der ungemeinen Beweglichkeit des Körpers in ihm aus einem Ende in das andere rollen, wie in einem Sacke. Ungeachtet des eigentümlichen speziellen Charakters dieser beiden Varietäten halte ich sie, wenn auch nicht für völlig identisch mit der von mir im Anfang beschriebenen Form, so doch in hohem Grade ihr nahestehend, denn der charakteristische allgemeine Habitus tritt in ihnen allen in so hohem Grade gleichartig auf, dass anfänglich in einem frischen Präparate es unmöglich ist, sie von einander zu unter- scheiden. Der Organismus, welcher im Blute der Karausche (Carassius vul- garis?) beobachtet wird, scheint auf den ersten Blick identisch mit dem im Schlammpeizgerblute entdeckten zu sein; bei genauerer Unter- suchung treten indess einige Eigentümlichkeiten hervor (Fig.2, a, S. 42). Erstens ist er offenbar etwas größer, und zweitens kann man an ihm sogleich eine undulirende Membran bemerken, die sich an dem einen Rande des langen Körpers hinzieht. Diese Membran liegt bedeutend enger an als bei den oben beschriebenen Formen und gestattet einen so launischen Wechsel der anfänglichen Form nicht!). Der Körper bleibt oft fast bewegungslos, indem er sich hin und wieder bald nach einer, bald nach der andern Seite biegt, und alle Bewegungen des Organismus bestehen hauptsächlich aus einer wellenförmigen Bewe- gung des freien Randes der Membran. Die Geißel erfährt ausschließ- 4) Es ist höchst wahrscheinlich, dass späterhin, nach einer größern An- zahl von Beobachtungen es gelingen wird, alle von mir beschriebenen Varie- täten als aufeinanderfolgende Veränderungen einer und derselben Form zu erklären, Mitrophanow, Zur Kenntniss der Hämatozoen. 39 lich an ihrer Basis Biegungen, selten werden an ihr ring- oder schlingen- förmige Windungen beobachtet. Das Körperparenchym ist homogen. Alle beschriebenen Formen haben ein äußerst zähes Leben. Obgleich diese Organismen direkt aus frischem Blut ohne Zusatz irgend welcher Reagentien erhalten werden können, sammelte ich dennoch gewöhnlich für meine Zwecke das Blut des Schlammpeizgers in einem 3—5 eem einer 1 °/, NaCl-Lösung enthaltenen Reagenzgläschen. Dies empfiehlt sich sowol, weil die Blutmenge, die man von diesen Fischen erhält, gering ist, als auch, weil die Kochsalzlösung zum Teil das Blut vor Gerinnung schützt, wenn man es durch Schütteln des Reagenzgläschens mischt!). Gewonnen wird aber das Blut am be- quemsten auf folgende Weise. Die Bauchwand wird zwischen den Brustflossen nach dem Kopfe zu mit einer Scheere aufgeschnitten; aus dieser Spalte drängt sich dann gewöhnlich die Herzspitze hervor, welche vorsichtig angeschnitten wird. Jetzt braucht man nur unter die Wunde ein Reagenzgläschen zu stellen, um das Blut ohne Verlust auffangen zu können. In der Mischung des Bluts mit Kochsalzlö- sung können die beschriebenen parasitären Organismen, in Vergleich mit andern niedern Organismen eine sehr geraume Zeit leben. Noch vier Tage, nachdem das Blut herausgelassen worden war, ließen sie in einer solehen Mischung alle ihre Eigentümlichkeiten erkennen und unterschieden sich sehr wenig von den Organismen, die man im frischen Blute beobachtet. In gut eingeschlossenen mikroskopischen Prä- paraten des frischen und reinen Bluts gelang es mir noch am dritten Tage die Würmehen zu sehen. Eine von den Bedingungen für ihre längere Erhaltung ist eine nicht zu hohe Temperatur. In der Wärme zersetzt sich das Blut rasch und die Würmehen gehen dann zu Grunde. Was die Häufigkeit ihres Vorkommens betrifft, so vermisste ich sie unter einer großen Zahl (an hundert) der von mir im Laufe des Au- gust und der folgenden Monate untersuchten Schlammpeizger nur in einem Falle, in allen übrigen Fällen zeigten sie sich in größerer oder geringerer Anzahl. Bisweilen findet man in einem Präparate kaum ein bis zwei, bisweilen sieht man sie beinahe überall im Ge- sichtsfelde des Präparats (bei Hartnack II.7). Es muss hier her- vorgehoben werden, dass in der letzten Zeit (November und Dezem- ber) sie in entschieden geringerer Anzahl vorkommen. In den Karauschen findet man dergleichen Organismen weit sel- tener, ja oft gelingt es überhaupt nicht, sie zu entdecken. Dies sind im Allgemeinen die Merkmale dieser Organismen, welche entschieden für ihre tierische und parasitäre Natur sprechen. II. In der nicht umfangreichen Literatur über Hämatozoen fin- 1) Das Blut des Schlammpeizgers bietet für den Physiologen noch in der Hinsicht Interesse, dass es mit 1°/, NaCl-Lösung vermischt, am andern Tage ge- wöhnlich prächtige Hämoglobinkrystalle ausscheidet. 40 Mitrophanow, Zur Kenntniss der Hämatozoen. den wir Hinweise auf Formen, die offenbar den von uns beschriebenen ähnlich sind. Das sind z. B. die beweglichen Gebilde, die Lewist), Osler, Wittich u. A. im Blute der Nager, und ebenfalls, wie es scheint, im Blute der Fische?) gefunden haben. Gleichartiger Natur mit den von mir beschriebenen Organismen müssen die infusorienar- tigen Formen sein, welche im Blute des Frosches gefunden worden sind; eine von ihnen beschrieb anfänglich Gruby unter den Namen Trypanosoma sanguinis, später haben Mayer, Wedl, Ray-Lan- kester und endlich Gaule?) ähnliche Organismen beschrieben. Der letztgenannte Forscher spricht den betreffenden, meist mit Trypanosoma Gruby identischen Formen die tierische Natur ab, be- trachtet sie vielmehr als eine Metamorphose der weißen Blutkörperchen und nennt sie Kymatocyten. Ich selbst habe im Blute des Frosches ein unzweifelhaftes Trypanosoma beobachtet und aus meinen Beobach- tungen geschlossen, dass es entschieden animalischer Natur ist. Später hoffe ich mich ausführlicher über diesen Gegenstand auszu- sprechen; hier möchte ich nur auf die bedeutende Differenzirung des Trypanosomakörpers (Ekto- und Endoplasma, Vakuolen, Teilung des Plasmas in Kugelsegmente, Vorhandensein einer undulirenden Mem- bran) und auf die außerordentliche Lebensfähigkeit hinweisen, ein Umstand, den wir niemals bei weißen Blutkörperchen beobachten. In Präparaten des mit 1°/, NaCl-Lösung gemischten Froschbluts be- obachtete ich lebende Trypanosomen 36 Stunden nach Anfertigung des Präparats. Die Blutkörperchen hatten dabei schon eine post- mortale Metamorphose erlitten, während am vordern Ende des Trypo- nosoma die Membran noch undulirte. Nachdem ich so die Verwandtschaft der von mir beim Schlamm- peizger und bei der Karausche entdeckten Formen erwiesen, müssen wir noch ihre mutmaßliche systematische Stellung bestimmen. Da ich nicht ganz überzeugt bin, dass die von mir beschriebene Form einen völlig entwickelten Organismus und nicht vielmehr ein Ent- wieklungsstadium vorstellt, so wird ihre systematische Stellung und Benennung von weitern Untersuchungen abhängen. Auf Grund der oben angeführten Merkmale scheint es mir indess am richtigsten unsere Form zu den Infusorien und zwar zwischen die Gattungen Cercomonas Du). 4) Lewis, Flagellated Organisms in the Blood of healtly Rats. The Quarterly Journal of mier. Se. 1879. S. 109. — Hinweisungen auf andere literari- sche Quellen findet man wie bei Lewis, so auch bei Gaule in seiner Schrift: „Die Beziehungen der Cytozoen zu den Zellkernen.“ Arch. f, Anat. u. Phys. 1881. Phys. Abt. III. u. IV. Heft. 2) Valentin, Miüller’s Arch. 1841 $. 435 eit. bei Fr. v. Stein, Der Or- ganismus der Infusionstiere III. Abt., S. 80, 1878. 3) J. Gaule, Beobachtungen der farblosen Elemente des Froschbluts, Arch. f. Anat. und Phys. 1880, 8.375. 8. in dieser Schrift auch die übrige Literatur tiber die betreffenden Organismen. Mitrophanow, Zur Kenntniss der Hämatozoen. 41 und Trichomonas Donne einzuschieben. Eine große Aehnlichkeit bietet sie mit Triehomonas, besonders nach Vergleichung mit der von Eberth in den Lieberkühn’schen Drüsen der Hühner und Enten beschriebenen Form, die Leuekart ebenfalls für Triehomonas hält!). Gleichwol erachte ich es wegen der charakteristischen Unterschiede des äußern Aus- sehens und ihres eigentümlichen Wohnorts für gerechtfertigt, eine neue Gattung zu bilden: Die Gattung Haematomonas mihi, n. g., Parasiten des normalen Fischbluts. — Wurmförmige, ungemein bewegliche Organismen mit un- deutlicher Differenzirung des Körperparenehyms. Körper an beiden Enden zugespitzt, hat eine Länge 30—40 u, eime Dicke 1—1!/, u, und kann im Vorderteile eine Geißel, an der Seite eine undulirende Membran haben. Haematomonas cobitis n. sp. Die erste Varietät. Man unter- scheidet (Fig. 1, a) einen Körper, eine an ihn spiralig befestigte Mem- Fig. 1. Organismen aus dem Blute des Schlammpeizgers; — Haematomonas cobitis, n,&, Rp. a Die erste Varietät Bine zweite, im lebenden Zustande. Con Arıtie 3 -:, d Die erste Varietät im Ermüdungszustande, e Dieselbe durch Ueberosmiumsäure getötet. In der Mitte ein rotes Blutkör- perchen, um das Größenverhältniss zu zeigen. bran und am vordern Körperende eine Geißel. Die Membran tritt anfangs nicht hervor, man bemerkt nur einen wurmförmigen Körper mit einer Geißel am Vorderteile, welcher sich rasch in ringförmigen Windungen 4) R. Leuckart, Die menschl. Parasiten. I. S. 313f. 124. Eberth, Zeit- schrift f. wiss. Zoologie, XI. Bd. S. 98, 99. 49 Mitrophanow, Zur Kenntniss der Hämatozoen. bewegt. Das Körperparenchym ist offenbar homogen. Diese Form kommt häufiger vor als dieandern. Die zweite Varietät (Fig.1,b) besitzt nur einen Körper und eine Geißel. Die Bewegungen sind wel- lenförmig; im Innern des Körpers unterscheidet man lichtbrechende Kügelchen. Die dritte Varietät (Fig. 1, ec). Plasmaartiger Körper ohne Membran und Geißel, verändert rasch seine Form durch Aus- senden seitlicher Fortsätze, im Innern 2—4 lichtbrechende Körperchen. Alle drei angeführten Varietäten finden sich im Blute des Schlamm- peizgers. Haematomonas carassü n. sp. (Fig.2, a,b, ec). Langer Körper mit schmaler sich über seine ganze Länge hinziehenden Membran. Wenig Fig.'2. Organismen aus dem Blute der Karausche, a b e Haematomonas carassii, n. sp. — d der andere Organismus desselben Bluts von der Seite. — e Derselbe von hinten (vom Körper aus gesehen). f Varietät desselben von der Seite. — g Varietät desselben von vorn. beweglich. Aufenthaltsort — Blut der Karausche. Im Blute dieses Fisches wurde mehrmals ein Organismus beobachtet, der bedeutend kleiner, als die oben beschriebenen ist, aber offenbar diesen nahe steht. (Fig. 2, d, e). Er hat die Form einer Scheibe, deren einseitig ver- diekter Rand einen sichelförmigen Körper darstellt, während ihr übri- ger, feiner und lamellenartiger Teil bis zum andern Rande der undu- lirenden Membran von Haematomonas entspricht. Dieser Organismus ist in fortwährender schaukelnder Bewegung begriffen, wobei er bei seinen Wendungen die Form verändert. Der lamellenartige Teil ist beweglicher. Seine verhältnissmäßige Größe und seine Formverände- rungen sind aus oben stehender Zeichnung zu ersehen. Teils werden diese Organismen frei schwimmend im Blutplasma, teils unsichtbar Mitrophanow, Zur Kenntniss der Hämatozoen. 43 an die roten Blutkörperehen gefesselt beobachtet. Oft befindet sich einer von den Organismen zwischen zwei roten Blutkörperchen und scheint mit ihnen verbunden zu sein, da er sie durch seine Schwan- kungen in Bewegung versetzt. Nicht selten bemerkt man ein rotes Blutkörperchen mit zwei solchen darauf sitzenden Organismen (Fig. 2, h), welche bald nach einer, bald nach der andern Seite sich bewegend, das Blutkörperchen mit sich fortreißen. Unter ihnen werden solche beobachtet, die an Größe den roten Blutkörperchen fast nicht nach- stehen und deren Körper vom Rücken aus etwas abgeplattet ist (Fig. 2, f, g). Bei der verhältnissmäßig geringen Zahl meiner Be- obachtungen über diese Form will ich jedoch nicht ausführlicher auf sie eingehen. II. Oben führte ich an, dass sowol die Bedingungen des an- fänglichen Auffindens (bei Zusatz von NaCl-Lösung), als auch der all- gemeine Charakter der von mir gefundenen Form, welche in hohem Grade an die von Gaule!) für seine „Würmehen“ des Froschbluts gegebene Beschreibung erinnerte, mich annehmen ließen, dass ich mit ähnlichen Gebilden zu tun hätte. Die Neuigkeit, die Originalität und das hohe physiologische In- teresse der Entdeckung Gaule’s riefen in mir den Wunsch wach, die Beobachtungen dieses Forschers zu bestätigen. Die Beobachtung der Form- und Strukturveränderungen der roten Blutkörperchen, Verän- derungen, die mit den von Gaule beschriebenen übereinstimmten, er- höhten meine Bestrebungen in dieser Richtung. Eine genaue Unter- suchung der von mir gefundenen Formen bewies indess, dass ich mit Organismen und nicht mit Derivaten anatomischer Elemente zu tun hatte. Obgleich dieses Ergebniss an und für sich keine Beziehung zu Gaule’s Arbeiten?) hatte, so gab es mir im Zusammenhang mit oben angeführten Erwiderungen auf die Schrift dieses Verfassers: „Ueber die farblosen Elemente des Froschblutes“?) Anlass, die Arbeiten Gaule’s kritisch zu besprechen. In allen Arbeiten dieses Forschers über die uns interessirende Frage bemerkt man eine Neigung, die animalische Natur der sogenannten Hämatozoen zu leugnen und sie für eine Metamorphose (Kymatocyten) und für Derivate (Cytozoa) der Blutformelemente zu halten. Eine Wiederholung der Beobachtungen Gaule’s ergab negative Resultate. Ich richtete mich genau nach seinen Angaben und stellte im Verlaufe einiger Wochen täglich Beobachtungen über das Frosch- blut vermittels des heizbaren Objekttisches an. Die Veränderungen der roten Blutkörperchen, wie auch Gebilde, welche mit den von Gaule 4) J. Gaule, Arch. f. Anat. und Physiol. 1880, 8. 57. 2) J. Gaule, Arch. f. Anat. und Physiol. 1881. S.297 und Centralbl. f. d, med. Wissensch. 18831, Nr. 31. 3) Arch. f. Anat. und Phys. 1880. S. 375. 44 Romanes und Ewart, Zur Nervenphysiologie der Echinodermen. für Cytozoen gehaltenen übereinstimmten, konnte ich beobachten, nie- mals aber in diesen Gebilden die für Cytozoen charakteristischen Be- wegungen bemerken und noch weniger ihren Zusammenhang mit den roten Blutkörperchen konstatiren. Sie stellten nichts anderes als zu- fällige Veränderungen der weißen Blutkörperchen vor. Wenn ceteris paribus bei andern Ortsverhältnissen Cytozoen nicht beobachtet werden, so kann man schon hieraus schließen, dass sie nicht Veränderungen der Blutkörperchen, sondern viel eher zu- fällige Gebilde, resp. Parasiten sind. Die Einwände einzeln anzu- führen, zu denen Gaule’s Ansichten mich veranlassen, ist durch die Arbeit von Ray-Lankester!) über dieselbe Frage, welche meine unabhängig von ihm gewonnenen Ergebnisse durchaus bestätigte, über- flüssig geworden. Ray-Lankester bestätigt das Vorkommen von Cytozoen und erkennt in ihnen eine parasitäre Form, die er bereits im Jahre 1871?) beschrieben hatte. Er nennt sie Drepanidium ranarum und hält sie für ein wahrscheinliches Entwicklungsstadium irgend einer Sporozoe (Sarcocystis, Coceidium). Die Hauptbeobachtung G aule’s verliert also von selbst ihr In- teresse und ihre Bedeutung und seine weitern Beobachtungen über das Verhältniss der Cytozoen zum Kern?) erhalten als wissenschaft- liches Material eine ganz andere Erklärung. Zur Nervenphysiologie der Echinodermen. G. J. Romanes & J. ©. Ewart, Observations on the Locomotor System of Eehinodermata. (Philos. Transaect. R. Soc. Part III, 1881.) London 1882. Unter Wiederaufnahme älterer Bestrebungen Vulpian’s sind neuerdings von verschiedenen Seiten nervenphysiologische Untersu- chungen an Echinodermen angestellt worden, so insbesondre von Frederieg, Krukenberg, Romanes und Ewart. Die Unter- suchungen der beiden letztgenannten Forscher, welche bereits im Jahre 1881 durch eine vorläufige Mitteilung bekannt geworden waren, liegen nunmehr in der ausführlichen, oben zitirten Abhandlung vor. Bei dem Interesse, welches dieselben nach vielen Richtungen hin haben, dürfte das folgende kurze Referat den Lesern des Biologischen Centralblatts nicht unwillkommen sein. Die Abhandlung zerfällt in einen anatomischen und einen phy- 4) Ray-Lankester, On Drepanidium ranarum.... The Quarterly Journ. Nr. LXXXV, January 1882. 2) The Quart. Joum. of m. Sc. 1871, S. 387. 3) J. Gaule, Kerne, Nebenkerne und Cytozoen. Centralblatt f. d. med. Wissensch. 1831. Nr. 31. Romanes und Ewart, Zur Nervenphysiologie der Echinodermen. 45 siologischen Teil, von welchen der erstere gewissermaßen nur die Einleitung zu letzterm, auf dem der Hauptnachdruck liegt, bildet. In dem anatomischen Abschnitt wird zuerst die Anordnung und der Bau des Wassergefäßsystems besprochen. Bei der von den Verfassern als Holothuria communis bezeichneten Art (die übrigens nach den Abbildungen und den anatomischen Angaben gar nicht in die Gattung Holothuria, sondern zu der Familie der Dendrochiroten gehört, Ref.) beschreiben sie das Wassergefäßsystem in seinen einzelnen Teilen, ohne den bekannten Verhältnissen etwas wesentlich Neues hinzuzu- fügen. Bezüglich der Kontraktionen der Kloake fanden sie, dass dieselben in der Regel sechsmal in der Minute stattfinden. Nach jeder siebenten oder achten Kontraktion wird ein stärkerer mit Exkrementen untermischter Wasserstrom, der etwa 15—20 Sekunden dauert, ent- leert. Aus der kurzen Schilderung des Wassergefäßsystems bei Echinus sphaera und E. lividus ist die Angabe hervorzuheben, dass die vier oder fünf auf das Paar der eigentlichen Mundfüßchen fol- genden Füßchenpaare nicht die Kalkstücke, sondern die Mundhaut durchbrechen (eine Angabe, die dem Ref. der Nachuntersuchung be- dürftig scheint). Bei Solaster gelang es auch den Steinkanal von einem Radiärkanal aus zu injiziren. In keinem Falle ließ sich ein Zusammenhang zwischen dem Wassergefäßsystem und der Leibeshöhle oder zwischen ersterm und den „Blutgefäßen“ nachweisen. Dafür aber glauben die Verf. sich überzeugt zu haben, dass die letztern mit der Außenwelt kommuniziren, indem nämlich Injektionsflüssigkeit aus dem „Blutgefäßsystem“ (d. h. dem Perihämalsystem, Ref.) durch die Madreporenplatte nach außen dringt. Das Nervensystem wird nur von Echinus beschrieben. Die Verf. fanden, dass die radiären Nerven in der Aequatorialregion des Tiers häufig durch eine Längs- spalte teilweise geteilt sind. An der Austrittsstelle der Füßchen aus dem Kalkskelet setzt sich ein Teil eines jeden vom radiären Nerven kommenden Füßchennerven in Zusammenhang mit einem subepithelialen Nervengeflecht, welches den ganzen Körper umspinnt, an die Basen der Pedicellarien und Stacheln herantritt und sich an den Stielen der erstern bis zu den Muskeln des Köpfchens heraufzieht. In dem physiologischen Abschnitt ihrer Abhandlung besprechen die Verf. zunächst die normalen Bewegungen, mit Hilfe deren sich die einzelnen von ihnen beobachteten Echinodermen fortbewegen. Asterias rubens bewegt sich nur mit Hilfe koordinirter Bewegungen seiner Füßchen in einer Geschwindigkeit von 5 cm in einer Minute. Auf den Rücken gelegt vermag sich dieser Seestern dadurch wieder aufzurichten, dass einer oder mehrere benachbarte Arme sich von der Spitze an umbiegen, sodass ihre Füßchen die Unterlage erfassen können. Indem diese Umbiegung oralwärts fortschreitet, wird schließ- lich der ganze Seestern umgedreht wie Jemand, der einen Purzel- baum schlägt. Der ganze Vorgang dauert !/;—1 Minute und beweist, 46 Romanes und Ewart, Nervenphysiologie der Echinodermen. dass die Koordination der Bewegungen in beträchtlichem Maße vor- handen ist. Astropecten aurantiacus kriecht insofern anders als Asterias rubens, als die Füßchen der Saugscheibehen entbehren und nur durch abwechselnde Erschlaffung und Anschwellung, mit welch letzterer ein Anstemmen gegen die Unterlage verbunden ist, die Lo- komotion vermitteln. In einer Minute legt Astropecten aurantiacus im Wasser einen Weg von 30—60 em zurück; auf den Rücken gelegt dreht er sich ohne Zuhilfenahme der Füßchen um, indem die Spitzen der Arme allein als Stützpunkte für den Purzelbaum benutzt werden. Die Schlangensterne vollziehen ihre Ortsveränderungen entweder durch schlangenförmige Bewegungen ihrer Arme, oder aber, wenn sie sich schneller fortbewegen wollen, durch eine ruekförmige Sprung- bewegung, bei welcher ein beliebiger Arm nach vorn gerichtet ist, die beiden folgenden Arme als eigentliche Sprungarme funktioniren und die beiden hintern Arme einfach nachgeschleppt werden. Auf solebe Weise kann eine Ophiure innerhalb einer Minute einen Weg von 1,8 Metern zurücklegen. Manchmal werden 2 Armpaare als Sprung- arme benutzt, dann wird der fünfte Arm nachgeschleppt. Auf den Rücken gelegt richten sich die Ophiuren in ähnlicher Weise auf wie Astropecten aurantiacus. Die Echiniden bewegen sich nur langsam vorwärts, etwa 15 em in der Minute auf einer horizontalen Unterlage, und bedienen sich dabei erstens der Füßchen, zweitens der Stacheln, drittens der Pe- dicellarien und viertens der Zähne. Die Füßchen dienen zugleich als Fühler. Auf den Rücken gelegt bringt sich der Seeigel mit Hilfe seiner Füßchen wieder in seine normale Lage. Außerhalb des Wassers bewegt er sich nur durch Vermittlung der Stacheln und der Zähne, indess sehr langsam, etwa 25 mm in der Minute. Die Be- teiligung der Zähne an der Lokomotion besteht darin, dass dieselben in einem bestimmten Rhythmus, 3—4mal in der Minute, vorgestoßen und zurückgezogen werden. Die vorgestoßenen Zähne stemmen sich gegen die Unterlage und liefern so Stützpunkte, auf welchen sich der Körper erhebt und vorwärts schiebt. Die Richtung der vorge- stoßenen Zähne und der in ähnlicher Weise die Lokomotion besor- genden Stacheln ist koordinirt, sodass eine Vorwärtsbewegung in einer bestimmten Richtung zu Stande kommt. Unter den Pedicellarien sind insbesondre die Pedicellariae tri- dentes wichtige Hilfsorgane der Lokomotion; namentlich beim Er- klettern steiler oder senkrechter Wände dienen sie dazu flottirende Pflanzenzweige zu ergreifen und solange festzuhalten, bis die Füßchen Zeit gefunden haben sich daran anzusaugen. Die Verff. bestreiten, wenigstens mit Bezug auf die Pedicellariae tridentes, die neuerdings auch von Sladen verteidigte Agassiz’sche Ansicht, dass dieselben in erster Linie die Aufgabe haben die Schale von den eignen Exkre- Romanes und Ewart, Nervenphysiologie der Echinodermen. 47 menten des Tiers, sowie von allerlei Fremdkörpern reinzuhalten. Gelegentlich komme das allerdings vor; die Hauptleistung aber ist die Unterstützung der Lokomotion. Für die Pedicellariae globiformes und triphyllae haben die Beobachtungen der Verff. zu keinem be- stimmten Resultat geführt; für wahrscheinlich halten sie, dass diese beiden Pedicellarienarten, sowie auch die Pedicellarien und Paxillen der Seesterne vorzugsweise die Reinhaltung der Körperoberfläche zu besorgen haben. Anders als die regulären Seeigel verhalten sich die Spatangen, wenn man sie auf den Rücken legt. Nicht mit Hilfe der Füßchen, sondern ausschließlich mit Hilfe der Stacheln bringen sie sich müh- sam in ihre normale Lage zurück; große Exemplare sind dazu über- haupt nicht mehr im Stande. Reizungen einzelner Stellen der Körperoberfläche bei Seesternen, Schlangensternen und Seeigeln haben zur Folge, dass das Tier sich in gerader Richtung von dem Reize zu entfernen bemüht. Werden zwei Stellen des Körpers zu gleicher Zeit gereizt, so schlägt das Tier eine Fluchtrichtung ein, welche die Diagonale zu jenen beiden Flucht- richtungen ist, welche es bei Einzelreizung jener beiden Körperstellen nimmt. Werden eine größere Anzahl Punkte rings an der Peripherie des Tiers gleichzeitig gereizt, so wird die Richtung der Flucht schwankend und das Tier zeigt Neigung sich um seine senkrechte Axe zu drehen. Sind zwei verschiedene Körperstellen kurz hinter- einander gereizt worden, so nimmt das Tier dieselbe Richtung an, als wenn die zuletzt ausgeführte Reizung allein stattgefunden hätte. Wird der Umkreis ringförmig von einem ungleichbreiten Bande von Reizstellen umgeben, so bewegt sich das Tier von der Gegend der größten Breite des Bandes, also von derjenigen Stelle, wo die ver- hältnissmäßig größte Zahl von Einzelreizen ausgeübt wird, hinweg. Bei Berührung irgend einer Stelle an der Oberfläche eines Echinus schlagen alle in der Umgebung der gereizten Stelle befindlichen Pe- dicellarien, Stacheln und Füßchen über dieser Stelle zusammen und suchen den berührenden Körper festzuhalten; dabei bewegen sich die Pedicellarien am schnellsten, weniger schnell die Stacheln und am langsamsten die Füßchen. Diese koordinirten Bewegungen der Pedi- cellarien, Stacheln und Füßchen auf äußere Reize sind vermittelt durch den an diese drei Arten von Organen herantretenden äußern sub- epithelialen Nervenplexus, der oben erwähnt worden ist. Die Experi- mente zeigten ferner, dass an den Pedicellarien das von Sladen (Ann. and Mag. Nat. Hist., Vol. VI, 1880, p. 101) und Föttinger (Archives de Biologie, Vol. II, 1881, p. 455) beschriebene „Tastkissen“ an der Innenseite der Zangenstücke, an den Stacheln aber die Ober- fläche der Stachelhöcker durch einen hohen Grad von Empfindlichkeit ausgezeichnet sind. Die Füßchen der Seesterne verhalten sich gegen Reize so, dass ein die Ambulacralfurche treffender Reiz nur die 48 Romanes und Ewart, Nervenphysiologie der Echinodermen. Füßchen dieser Furche zu Kontraktionen veranlasst, während eine Reizung der Mundumgebung durch Kontraktionen der Füßchen sämt- licher Arme beantwortet wird. Wird aber an der Rückenseite der subepitheliale Nervenplexus gereizt, so ziehen sich die Füßchen nicht zusammen, sondern zeigen lebhaftere Bewegungen. Bei gleichzeitiger Reizung der Rückenseite und der Ambulacralfurche zeigt sich letzterer Reiz als der wirkungsvollere, indem sich alsdann die Fiüßchen kon- trahiren. Seesterne und Seeigel kriechen dem Lichte entgegen, unter- lassen dies aber, wenn man ihre Augenflecke entfernt hat. Aus den angestellten Experimenten ging zweifellos hervor, dass Seesterne und Seeigel selbst sehr schwaches Licht wahrnehmen. Sehr bemerkenswerte Resultate ergaben Durchschneidungen, welche in verschiedenster Weise vorgenommen wurden. Abgeschnit- tene Seesternarme bewegten sich in derselben Weise wie die unver- sehrten Tiere, krochen dem Lichte entgegen und brachten sich, auf den Rücken gelegt, wieder in ihre normale Lage zurück. Durch- schneidung des Ambulacralnerven hatte eine vollständige Aufhebung des physiologischen Zusammenhangs der beiden durch den Schnitt getrennten Füßchengruppen zur Folge. Wurden alle Ambulacralnerven an ihrer Abgangsstelle vom Nervenringe, oder letzterer in allen Inter- radien durchschnitten, so hörte jede Koordination in den Bewegungen der Arme auf. Bei den letzterwähnten Experimenten wurde indess die physiologische Kontinuität in dem äußern subepithelialen Nerven- plexus nicht gestört, vielmehr wurde eine Reizung der Rückenseite stets durch eine lebhafte Bewegung der Füßchen aller Arme beant- wortet. Wurde auf der äußern Oberfläche eines Seeigels durch eine bis auf die Kalkschale eindringende in sich zurücklaufende Schnittlinie eine Anzahl Stacheln und Pedicellarien umkreist und dann bald inner- halb bald außerhalb dieser Schnittlinie ein Reiz ausgeübt, so erwies sich der innerhalb der Schnittlinie gelegene Bezirk als eine physio- logische Insel. Die Verff. schließen daraus, dass die Bewegungen der Stacheln und Pedicellarien, welche auf lokale Reize erfolgen, durch den äußern subepithelialen Nervenplexus vermittelt werden. Dagegen erlitt die koordinirte Bewegung der Stacheln zum Zweck der Loko- motion durch jene kreisförmige Schnittlinie keinerlei Störung. Ver- schiedene Experimente, die im Einzelnen anzuführen hier nicht der Raum ist, brachten die Verff. zu der Ansicht, dass für die Vermittlung jener koordinirten Lokomotionsbewegungen der Stacheln noch ein zweiter Nervenplexus an der Innenseite der Schale vorhanden sein müsse, dass ferner dieser innere Nervenplexus allenthalben durch die Kalkschale hindurch mit dem äußern in Verbindung stehe und dass vollständige Zerstörung des innern Nervenplexus zwar starke Störun- gen, aber keine vollständige Funktionsaufhebung in dem äußern zur Folge habe. (In einer Nachschrift bemerken die Verff., dass es ihnen Frenzel, Mikrozymas in der Leber und im Pankreas. 49 seit dem Abschluss ihrer Abhandlung gelungen ist, den vermuteten innern Nervenplexus auch histologisch nachzuweisen und stellen eine genauere Mitteilung darüber in Aussicht). Bezüglich der Bedeutung des Nervenrings als eines Zentrums für die Koordination der Lokomotionsbewegungen ergaben die Ver- suche an Seeigeln ein ähnliches Resultat wie bei Seesternen. Auch bei den Seeigeln ist der Nervenring ein Zentralapparat für die Loko- motionsbewegungen der Füßchen und der Stacheln. Nur auf die Pe- dicellarien ließ sich kein derartiger Einfluss des Nervenrings nach- weisen. Bei den Füßchen ist die Koordination der Lokomotionsbe- wegungen jedoch nicht ganz allein abhängig vom Nervenring, sondern auch die durch den äußern Nervenplexus vermittelte lokale Reizbar- keit spielt dabei eine, wenn auch nur nebensächliche Rolle. Für die Stacheln kommen die Verff. zu dem Schlusse, dass die allgemeine Ko- ordination ihrer Lokomotionsbewegungen von dem Nervenringe ab- hängt, dass die lokale Reizbarkeit derselben unabhängig von dem Nervenringe und allein durch den äußern Nervenplexus bedingt ist, und dass endlich der innere Nervenplexus zwar in Zusammenhang mit dem Nervenzentrum stehen müsse, dass aber auch allgemeine Be- wegungen der Stacheln vorkommen, bei welchen die Leitung nur durch den innern Nervenplexus geschieht, ohne dass der Nervenring als Reflexzentrum funktionirt. H. Ludwig (Giessen). Ueber die Mikrozymas in der Leber und im Pankreas. Von Dr. Johannes Frenzel. Aus der mikroskopischen Abteilung des physiologischen Instituts Berlin. Es ist eine im Tierreiche weit verbreitete Tatsache, dass die Se- kretzellen ‘der Verdauungsorgane und gewisser Drüsen kleine, das Licht stark brechende Körperchen, Granula, enthalten, welche auf ir- gend eine Weise frei werdend, sich ebenfalls in dem Sekrete selbst vorfinden. Diese Granula, welche bei der Verdauung eine hervor- ragende Rolle zu spielen scheinen, sieht A. B&ehamp!) für mikro- kokkenartige Organismen an, welche ihrerseits erst die verdauende Substanz liefern und dabei zu stäbehen- oder vibrionenförmigen Bak- terien sich entwickeln sollen. Es gelang B&ehamp, diese von ihm als Mikrozymas bezeichneten Gebilde der Leber und des Pankreas durch mehrfaches Filtriren zu isoliren und mit denselben eine ver- dauende Wirkung zu erzielen. Die Verdauungsversuche stellte er in der Weise an, dass er die Granula reichlich mit Kreosotwasser ver- 1) Archives de Physiologie normale et pathologique, Okt. 1882 (Nr. 7). 4 50 Frenzel, Mikrozymas in der Leber und im Pankreas. setzte, welches auf 100 g aqua dest. einen Tropfen Kreosot enthielt. Bei dieser Gelegenheit entwickelten sich während der Verdauung in der Masse Bacillen, von welchen B. glaubt, dass sie aus den Mikro- zymas hervorgingen, indem er hiebei der Meinung ist, dass das von ihm angewandte Kreosotwasser alle etwa aus der Luft eindringenden Bakterienkeime zu töten im Stande ist. Dies ist, wie weiter unten zu zeigen sein wird, ein Irrtum; aber selbst für den Fall, dass das Kreosotwasser nur gegen gewisse Bakterien sich indifferent verhält, so hat doch B. keineswegs den Beweis geführt, dass die in der Ver- dauungsmasse lebenden Bacillen sich wirklich aus den Granulis ent- wickelt hätten. Es ist sehr wol möglich, dass sich, vielleicht durch einen Zufall, in der Leber oder dem Pankreas des lebenden Tiers Bakterien oder deren Keime aufhalten, welche mit den Granulis der Zellen selbst nichts gemeinsam haben, außer etwa, dass sie ihnen in der Form und Größe gleichen, und in den Versuchen B.s als Bacillen auftreten. Höchst unwahrscheinlich klingt hingegen die Be- hauptung, dass die Sekretgranula organisirte, lebende und entwick- lungsfähige Körper seien, welche sich normalerweise in den Zellen aufhalten und fortpflanzen sollen. Es wäre dann — der Schluss erschiene völlig berechtigt — die Verdauung und somit das Leben aller Tiere, auch der niedersten, von dem Vorhandensein die- ser Organismen abhängig, ein Schluss, welcher mehr als gewagt er- scheint.: ' «/ Der einzige Beweis, über welchen B. verfügt, um zu zeigen, dass die besagten Granula mikrokokkenartige Organismen seien, ist der, dass sich in der kreosotirten Verdauungsmasse Bakterien entwickelten. B. nimmt dabei stillschweigend an, ohne einen Beweis dafür zu liefern, dass nur die Bakterien der Leber und des Pankreas der Einwirkung des Kreosotwassers Widerstand leisten. Hierbei ist zunächst zu be- merken, dass das Verfahren B.’s bei seinen Experimenten ein wenig genaues war. Erstens ist das Kreosot, welches er vermutlich in der Form des gebräuchlichen Steinkohlentheerkreosots benützte, kein chemisch reiner Körper; man darf daher nicht ohne Weiteres annehmen, dass die Wirkung der verschiedenen etwa vorkommenden Sorten, namentlich in der von ihm angewendeten starken Verdünnung immer dieselbe ist, und da der Autor zweitens nur angibt, dass er auf 100 g Wasser einen Tropfen Kreosot zusetzte, so ist es wol möglich, dass bei derartigen Versuchen das Kreosotwasser nicht im- mer dieselbe Konzentration hat, da die Menge, resp. das Gewicht eines „Tropfens“ etwas variables ist. Bei den folgenden Kontrolver- suchen, welche vom Verf. angestellt wurden, zeigte sich dieser Um- stand von großer Bedeutung, so dass stets, um jedem Irrtum vorzu- beugen, ein möglichst starkes Kreosotwasser benutzt wurde. 1) Zu 100 cem fauligem Wasser, welches große Mengen von Vi- brionen, Bacillen u. s. w. enthielt, wurde ein mäßig großer Tropfen Frenzel, Mikrozymas in der Leber und im Pankreas. 51 Kreosot hinzugefügt. Wiewol hierbei ein Teil der Bakterien zu Grunde gehen mochte, so zeigten sich doch die Vibrionen und viele Bacillen in ihren Bewegungen nicht im mindesten gestört und beweg- ten sich so lebhaft wie vorher. Selbst bei Zusatz von zwei Tropfen Kreosot, also bei starker Konzentration, zeigten sie sich noch nach zwei Stunden lebend. 2) In ein Glas mit Kreosotwasser (1 Tropfen Kreosot zu 100 cem destillirtem und gekochtem Wasser) wurde etwas Blutfibrin gelegt und bei 35° C. mit einem Glasdeckel verdeckt stehen gelassen. Bei Beginn des Versuchs sowie noch nach 48 Stunden waren Bakterien nicht sicher nachweisbar, nach weitern 24 Stunden traten hingegen schon vereinzelte auf, und nach Verlauf des vierten Tages zeigten sich eine große Menge von Bacillen darin, von denen viele sich leb- haft bewegten, ohne Zweifel also lebten. Dieselben waren jedenfalls aus der Luft hineingelangt und hatten sich trotz des Kreosots ziem- lich stark entwickelt und vermehrt. Allerdings mochte wol während dieser vier Tage aus dem nicht völlig luftdieht verschlossenen Gefäß etwas Kreosot verdampft sein, ein Versuchsfehler, auf welchen B&- champ bei seinen Experimenten nicht geachtet zu haben scheint, und es mag der Kreosotgehalt des Wassers ein schwächerer gewor- den sein, so dass die Organismen sich besser entwickeln konnten. Doch gingen die einmal vorhandenen Bakterien auch bei Zusatz stär- kern Kreosotwassers nicht zu Grunde, sondern vegetirten weiter. — Dasselbe Resultat zeigte sich, wenn statt des Fibrins Gelatine zu dem Versuche benutzt wurde. — Es erhellt daraus also, dass Bak- terien im Allgemeinen gegen Kreosotwasser, wie es hier angewendet ist, genügend widerstandsfähig sind und es ist die gegenteilige Meinung B’s als eine irrige zu bezeichnen. Allerdings hat B. zu seinem Glauben, dass die Bakterien, welche sich im Darmtraktus finden, eine höhere Widerstandsfähigkeit besitzen, einigen Grund; doch ist diese Widerstandsfähigkeit nur eine schein- bare, wie folgender Versuch lehrt. 3) Zu dem Darminhalt eines Kaninchens, welcher große Mengen verschiedener Bakterien enthielt, wurde das oben angegebene Kreo- sotwasser hinzugesetzt: Die Bakterien blieben am Leben, wie ihre Bewegungen zeigten. — Es wurde hierauf gesättigtes Kreosotwasser hinzugefügt und auch in diesem zeigten sich die Bakterien noch nach 24 Stunden unverändert. Es war aber, trotzdem das Gefäß möglichst verschlossen gehalten wurde, der anfänglich starke Kreosotgeruch fast völlig verschwunden. 4) Ein ähnliches Resultat ergab sich, wenn zu diesem Versuche Pankreas vom Kaninchen oder vom Hunde, oder der Darm vom Frosch oder von Blatta orientalis benutzt wurden. In den beiden ersten Fällen waren ursprünglich keine Organismen sicher nachweisbar, nach 24 Stunden war der Kreosotgeruch fast verschwunden und es waren 4* 59 Frenzel, Mikrozymas in der Leber und im Pankreas. I Bakterien in reichlicher Zahl vorhanden. Das Kreosot war demnach höchst wahrscheinlich durch den Pankreassaft verändert und seine Wirkung dadurch aufgehoben. Dass dies der Fall ist, zeigt sich, wenn zu der Versuchsmasse etwas Kreosot direkt hinzugefügt wird, denn die kleinen Kreosottröpfehen trüben sich nach kurzer Zeit, eine Er- scheinung, welche in andern Fällen nicht eintritt. Entwickelten sich also bei B’s Versuchen Bakterien in der kreo- sotirten Verdauungsmasse, so kann sich dieser Umstand sehr wol in der Weise erklären, dass durch Einwirkung des Pankreasferments das Kreosot unwirksam gemacht wurde. Eine höhere Widerstands- fähigkeit kann man den Darmbakterien in diesem Falle also nicht zuschreiben. Wiewol es B. nicht bestimmt angiebt, so ist doch aus seinen An- gaben zu schließen, dass die Bakterien, welche sich aus den Granulis entwickeln sollen, eine bestimmte Form besitzen müssen. — Gesetzt also B.’s Behauptung, dass die Granula zu Bakterien sich entwickeln, und ferner, dass das Kreosot alle andern Bakterien tötete, wäre rich- tig, so müssen sich in dem Falle, wenn man die Pankreasdrüse oder dergl. mit gewöhnlichem Wasser an der Luft stehen lässt, andere Bakterien zeigen, als dann, wenn man Kreosot hinzugefügt hat; denn im ersten Falle müssen sich aus der Luft her noch andere Organismen in der Verdauungsmasse entwickeln können, eine Möglichkeit, welche B. auch nicht in Abrede stellt. Nimmt man nun 5) in der einen Versuchsreihe einmal das Pan- kreas vom Hunde, oder vom Kaninchen, ein anderesmal Leber vom Kaninchen, stets mit Zusatz von Kreosotwasser und nimmt man in der zweiten Versuchsreihe dieselben Massen ohne Kreosot, so zeigen sich 24 bis 48 Stunden in beiden Reihen genau dieselben Bak- terienformen in den entsprechenden Fällen und es ist ein Unter- schied zwischen den kreosotirten und den nichtkreosotirten Organen nicht wahrnehmbar. Sind demnach in dem einen Falle die Bak- terien von außen gekommen, so muss man auch in dem andern Falle dasselbe annehmen. Es geht daher aus diesen Versuchen hervor, erstens, dass das von B. angewandte Kreosotwasser nicht unbedingt im Stande ist, die Vege- tation von Bakterien zu verhindern, und zweitens, dass die Beweise unrichtig sind, welche B. gibt für die Entstehung von Bakterien aus den Granulis des Pankreas- und Lebersekrets. — Die Resultate die- ser Kontrolversuche stimmen also völlig überein mit denjenigen, wel- chevonChamberland und Roux!) in Betreff der Kreide gefunden wurden, von welcher B. ebenfalls, schon 1866, behauptete, dass sie mikroskopische Organismen enthalte. 1) De la non-existence du Mierozyma eretae. Comptes rendus de l’Acad. d. sciences. XCH Nr. 20 Note de MM. Ch. et -R, pr&sentee par M. Pasteur. Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen. 55 Die neueste Literatur auf dem Gebiete der psychischen Zeit- messungen *). 4) Wundt, Die Aufgaben der experimentellen Psychologie. Unsere Zeit 4882, II, 20 Seiten. — 2) Wundt, Ueber psychologische Methoden. Philosophische Studien I, 1, p. 1—38.— 3) Zeller, Ueber die Messung psy- chischer Vorgänge. Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1881, 16 S. — 4) Wundt, Ueber die Messung psychischer Vorgänge. Philosophische Studien I, 2, p. 251—260. — 5) Zeller, Einige weitere Bemer- kungen über die Messung psychischer Vorgänge. Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 16. März 1882, 13 $S. — 6) Wundt, Weitere Bemerkungen über psychische Messung. Philosophische Studien 1,3 p. 463—471. — 7) Friedrich, Ueber die Apperzeptionsdauer bei einfachen und zusammengesetzten Vorstellungen. Philosophische Studien I, 1, p. 39—77.— 8) Trautscholdt, Experimentelle Untersuchungen über die Assoziation der Vorstellungen. Philosophische Studien I, 2, p. 213—250. — 9) Tischer, Ueber die Unterscheidung von Schallstärken. Philosophische Studien I, 4, p. AT2— 520. — 40) Moldenhauer, Ueber die Reaktionszeit einer Geruchsempfindung. Philo- sophische Studien I, 4, p. 610. — 11) Buccola, Nuove ricerche sulla durata della localizzazione tattile. Rivista di filosofia seientifica I, 3, 1881, 12 8. — 12) Kräpelin, Ueber die Einwirkung einiger medikamentöser Stoffe auf die Dauer einfacher psychischer Vorgänge. Erste Abteilung: Ueber die Einwirkung von Amylnitrit, Aethyläther und Chloroform. Philosophische Studien Is p. 417-462. Zweite Abteilung: Ueber die Einwirkung des Aethylalkohols. Ibidem I, 4, p. 573-609. — 13) Buccola, La durata delle percezioni elemen- tari negli alienati. Rivista sperimentale di freniatria e di medieina legale, VII, 4, 1881, 28 8. Die Mehrzahl der in Vorstehendem aufgeführten experimentellen Arbeiten ist aus dem einzigen bisher in Deutschland bestehenden psychophysischen Laboratorium der Universität Leipzig hervorgegangen, welches von Wundt im Winter 1879/80 begründet wurde. Diese Arbeiten sind zusammen mit einigen andern teils ebenfalls experimen- tellen!), teils allgemein philosophischen Inhalts in den von Wundt herausgegebenen „Philosophischen Studien“ erschienen, von denen jetzt der erste Band, aus vier Heften bestehend, vorliegt. In der vor- stehenden Aufzählung sind die einzelnen Abhandlungen nach ihrer in- haltliehen Zusammengehörigkeit geordnet und sollen auch in dieser Reihenfolge, soweit sie allgemeineres Interesse bieten, Besprechung finden. Die erste gemeinverständlich geschriebene Abhandlung dient hauptsächlich der Verteidigung einer experimentellen Bearbeitung psy- chologischer Fragen gegenüber der spekulativen Behandlung dersel- ben, wie sie in philosophischen Kreisen bisher vielfach noch für aus- *) Dieses Referat schließt sich an die zusammenfassende Uebersicht „Ueber die Dauer einfacher psychischer Vorgänge“ (diese Zeitschr. Band I, S. 654, 721, 751) an. 4) Dieselben werden später gelegentlich ebenfalls hier besprochen werden. 54 Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen. schließlich berechtigt gehalten wurde. Wundt gibt hier eine treffende Kritik des unwissenschaftlichen Hilfsmittels der „Selbstbeobachtung“ und weist die Möglichkeit und Notwendigkeit exakten experimentellen Studiums psychischer Vorgänge nach, indem er zugleich die Grenzen desselben andeutet. Er betont die Fruchtbarkeit zukünftiger völker- psychologischer, vor Allem aber sprachwissenschaftlicher Forschungen für die Lösung psychologischer Fragen; sie scheinen ihm berufen, dort ergänzend einzutreten, wo die experimentellen Methoden weitere Aufschlüsse versagen. Eine eingehende Darstellung aller dieser bis- her in Anwendung gezogenen experimentellen Methoden enthält die zweite Arbeit, die gewissermaßen zur Einführung der „Philosophischen Studien“ dient. Da indess der Abschnitt über die chronometrische Untersuchung im engern Sinn keine wesentlich neuen Gesichtspunkte bringt, müssen wir uns die Besprechung dieses Aufsatzes für eine spätere zusammenhängende Darstellung der andern Gebiete psycho- physischer Forschung versparen. Nur das möge erwähnt werden, dass Wundt das Zustandekommen des Unterscheidungsakts durch besondre Versuchseinriehtungen zu sichern vorschlägt. Bei Lichtein- drücken lässt er die Erleuehtung durch die Reaktionsbewegung selber beendigen; bei Schalleindrücken lässt er durch diese letztere unmittel- bar einen gleichartigen starken Schallreiz auslösen, damit derselbe die vorangegangene Empfindung gleichsam auslösche und somit, ebenso wie im ersten Falle, dem Reagirenden eine etwa nach der vollzogenen Reaktion erst noch erfolgende Unterscheidung unmöglich mache. Die nächsten vier Abhandlungen enthalten eine Kontroverse zwischen Zeller und Wundt, die für die junge Wissenschaft der Experimen- talpsychologie von großer prinzipieller Bedeutung gewesen ist. Der uns hier am meisten interessirende Streitpunkt war die von Zeller in verneinendem Sinn beantwortete Frage, ob es überhaupt möglich sei, psychische Vorgänge zu „messen“. Zeller wies dabei einerseits auf die Unmöglichkeit hin, eine objektive und unveränderliche Maß- einheit für psychische Größen festzustellen, wie wir sie in unsern sonstigen Maßstäben, Gewiehtseinheiten u. s. w. besitzen. Andrerseits hob er hervor, dass auch die Geschwindigkeit psychischer Vorgänge insofern nicht gemessen werden könne, als Geschwindigkeit die Länge des in einer Zeiteinheit zurückgelegten Weges bedeute und von einer Be- stimmung dieser Weglänge bei jenen Vorgängen füglieh nicht die Rede sein könne. Diesen Ausführungen gegenüber machte Wundt die Tatsache geltend, dass z. B. das Weber’sche Gesetz tatsächlich durch Messung von Empfindungen an einander aufgefunden worden ist. Allerdings wurde dabei kein objektiv darstellbarer Maßstab be- nutzt, sondern es wurde die Gleichheit von Empfindungen und von Empfindungsunterschieden festgestellt und dann auf die zugehörigen Reizunterschiede zurückbezogen. Bezüglich der Geschwindigkeits-. messung dagegen wies er einfach auf die zahlreichen, bereits faktisch Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen. 55 vorliegenden und somit die Möglichkeit solcher Untersuchungen außer Zweifel stellenden Beobachtungen hin, wie sie von Donders, Hall und Kries ete. und vor allem von Wundt und seinen Schülern aus- geführt worden sind. Allerdings kann durch die hier bereits früher ausführlich dargelegten Methoden nicht sowol die Geschwindigkeit, als vielmehr nur die Dauer einfacher psychischer Akte festgestellt werden, ein Resultat, welches aber immerhin die Vergleichung der- selben unter einander nach diesem Gesichtspunkte gestattet und für die psychologische Forschung von unbestreitbarem Werte ist. Diesen Argumentationen begegnete Zeller dadurch, dass er den Begriff der Messung auf die direkte Messung einschränkte und unter dieser Ein- schränkung seine Behauptungen aufrecht erhielt, ohne dabei die Mög- lichkeit indirekter, d. h. durch Rechnung und Schluss unterstützter Messung ferner im Abrede zu stellen. Dabei wollte er auch die ge- genseitige Abschätzung der Empfindungsintensität bei der Untersuch- ung des Weber’schen Gesetzes nicht als eigentliche Messung gelten lassen und meinte, dass die Resultate chronometrischer Bestimmungen nur durch Annahme von Hilfshypothesen und durch ein komplizirtes Ver- fahren gewonnen würden, dessen Exaktheit überdies noch durch die Fehlerquelle der „vorzeitigen Reaktion“ sehr beeinträchtigt werde. In seiner Entgegnung machte Wundt vor Allem darauf aufmerksam, dass der indirekten Messung auf allen Wissensgebieten überhaupt ein weit größerer Spielraum zukommt, als der direkten und dass die Er- gebnisse der erstern, falls nur „die Schlussfolgerung bindend und die Rechnung fehlerfrei ist“, um nichts unsicherer sind, als diejenigen der letztern. Gleichwol findet er in der Vergleichung der Empfin- dungsintensitäten bei der Untersuchung des Weber’schen Gesetzes alle Kriterien einer direkten Messung wieder, da wir ja auch äußere Ob- jekte nicht anders messen können, als durch die Vergleiehung der Vorstellungen, welche sie in uns erzeugen. Die Komplizirtheit des Verfahrens und die Anwendung von Hilfshypothesen bei chronometri- schen Untersuchungen gibt er wol für die Analyse des einfachen Re- aktionsvorgangs zu, wie sie von Exner versucht worden ist, nicht aber für die Bestimmung der Unterscheidungs-, Wahl- und Assozia- tionszeiten, die ja bekanntlich durch eine einfache Subtraktion direkt gemessener Zeitwerte von einander ausgeführt wird. Alle jene hypo- thetischen Komponenten des einfachen Reaktionsvorgangs kommen durch diese Rechnung ausnahmslos in Wegfall, ohne das gewonnene Resultat im mindesten zu beeinflussen. Die Fehlerquelle der vorzeiti- gen Reaktion endlich ist durch geeignete Versuchsanordnung mit Leichtigkeit vollkommen auszuschließen. Soweit die Hauptpunkte dieser Kontroverse, welche hoffentlich auch in philosophischen Krei- sen der theoretischen und praktischen Berechtigung psychischer Mes- sungen zu etwas weiterer Anerkennung verholfen hat. Die beiden nächsten Arbeiten von Friedrich und Trautscholdt 56 Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen. enthalten das Detail von Untersuchungen, deren Ergebnisse bereits in die zweite Auflage von Wundt’s Physiologischer Psychologie aufge- nommen worden sind und somit auch schon in meinem frühern Re- ferate Berücksichtigung gefunden haben. Wir können uns daher mit der kurzen Erwähnung jener Untersuchungen begnügen. Die Arbeit von Trautscholdt enthält noch eine Anzahl interessanter Bemer- kungen über die Qualität der von ihm studirten Assoziationen, ein Punkt, auf den wir gelegentlich näher einzugehen haben werden. Sehr zahlreiche und sorgfältige Beobachtungen bringt die Abhandlung von Tischer über die Dauer des Unterscheidungs- und Wahlakts bei Anwendung mehrfach abgestufter Schallintensitäten. Auf die von ihm gewonnenen psychophysischen Ergebnisse können wir hier jetzt nicht näher eingehen, sondern werden uns auf die Wiedergabe seiner Zeit- messungversuche beschränken. Ueber die Ergebnisse der Unterschei- dungsversuche bei 6 Versuchspersonen, die allmählich auf 5 Schall- stärken ausgedehnt wurden, gibt folgende Uebersicht Aufschluss: BR Tt. H: MI. Wwf£. Rl. U (2) 6 8,9 10,75 10,7 33 53 U 8)... 10 14,4 1379 ZI 58,5 57,8 U (4) 167 20,8 29 29,1 75 84 Una) 230 at — 40,1 95,5 138 Es stellte sich somit bei allen Reagirenden eine rasch zunehmende Verlangsamung der Unterscheidung mit der größern Zahl der mög- lichen Eindrücke ein. Offenbar wurde es um so schwieriger, die Identifizirung einer wahrgenommenen Schallstärke mit den vorhande- nen Erinnerungsbildern zu vollziehen, je mehr Erinnerungsbilder gleich- zeitig im Bewusstsein bereit gehalten werden mussten. Sehr nahe liegt diesen Versuchsergebnissen der Gedanke, dass bei einer ge- wissen, vielleicht gar nicht sehr großen Zahl der möglichen Eindrücke jene Identifizirung überhaupt nicht mehr mit Sicherheit ausgeführt werden könne, dass also unter solchen Umständen die Unterscheidungs- zeit unendlich groß werden müsse. Dieses Verhalten steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu den Erfahrungen, welche man über die Unterscheidung verschiedener Qualitäten gemacht hat. Hier wächst die Unterscheidungszeit verhältnissmäßig sehr langsam mit der Zahl der erwarteten Eindrücke, weil hier die Identifizirung mög- lich ist, ohne dass der Reagirende vor jedem Versuche jeden einzelnen derselben in der Vorstellung bereit zu halten braucht. Die individuellen Unterschiede zwischen den Beobachtern erklären sich nach Tischer’s Mitteilung zum Teil aus dem verschiedenen Grade der von ihnen er- reichten Uebung, deren Einfluss an einer Reihe von Beispielen nach- gewiesen wird, zum Teil aber auch aus der eigentümlichen Art, in welcher die einzelnen Versuchspersonen sich die Schallstärken zu ver- gegenwärtigen pflegten. So merkte sich eine derselben (Rl.) bei der Unterscheidung zwischen drei Eindrücken vorzugsweise den mittlern Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen. 57 derselben, um dann mit ihm die entstandene Empfindung zu verglei- chen. Der betreffende psychologische Vorgang näherte sich somit sehr der Unterscheidung zwischen nur 2 Eindrücken und war daher auch nur unbedeutend länger, als dieser. Eine recht interessante Tat- sache, die ich selber später zu bestätigen Gelegenheit hatte, ergab sich bei den Wahlversuchen. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Wahlzeiten bei den einzelnen Beobachtern im entgegengesetzten Sinne individuelle Differenzen zeigten, als die Unterscheidungszeiten, und dass die Summe der Wahlzeit und Unterscheidungszeit bei allen Ver- suchspersonen eine fast konstante Größe besizt. Die folgende Ueber- sicht lässt dieses Verhalten erkennen: wit. Br WENIG RK DIWE-MI H:, Diane Unterscheidungszeit: 148 124 14% 84,9 392% 3071.30,0%5 : 13.,,4492 Wahlzeit: 42,5 74 80,17109,57 3857 5152 3166,5 5 471 178 Summa derselben: 190,5 : 198 4907719477487. 1,182 194, 1827200 Demnach hat es den Anschein, dass „Unterscheidungsakt und Wahlakt sich hinsichtlich der Dauer ihres Verlaufs wie die Kompo- nenten eines Gesammtakts verhalten, welcher bei verschiedenen Per- sonen in derselben Zeit ablaufen kann, während die Komplemente, einzeln genommen, große individuelle Schwankungen zeigen.“ Zur Deutung dieser Erscheinungen macht Tischer die plausible Annahme, dass bei der einen Gruppe von Beobachtern die Vorgänge der Unter- scheidung, der Auswahl der Bewegung und der Willenserregung in getrennten Zeiträumen nacheinander verlaufen. Bei den Uebrigen wird dagegen die Unterscheidung erst nach einem Stadium der Unsicherheit definitiv vollzogen, während dessen die Auswahl der Bewegung und das Anwachsen der Willensimpulse sich bereits bis zu einem gewissen Grade vorbereitet hat, so dass nur noch ein letzter entscheidender Anstoß für den Ablauf der Reaktion notwendig ist. Im erstern Falle werden wir kurze Unterscheidungszeiten und längere Wahlzeiten er- warten dürfen, im letztern wird das umgekehrte Verhältniss hervor- treten müssen; alle möglichen Uebergänge zwischen beiden Extremen werden beobachtet. Von Interesse ist endlich noch die von Tischer durch zahlreiche Beispiele erläuterte Erfahrung, dass die Dauer ein- facher psychischer Akte durch einen Wechsel der Versuchsbedingungen, z. B. durch Einschieben komplizirterer Versuche in eine Beobachtungs- reihe sehr entschieden beeinflusst, nämlich verlängert wird. Nicht die Ermüdung ist es, welche hier in Wirksamkeit tritt, sondern, wie es scheint, eine gewisse Trägheit des Aufmerksamkeitsmechanismus. Der- selbe ist nicht im Stande, sich mit der nötigen Schnelligkeit den verän- derten Versuchsbedingen zu adaptiren, sondern bedarf dazu einer ge- wissen Zeit, während deren sich ein deutlicher Einfluss der frühern Akkommodation auf die neugewonnenen Beobachtungswerte nach- weisen lässt. Ein ganz neues, bisher noch nie in Angriff genommenes Problem 58 Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen. hat Moldenhauer bearbeitet, indem er die Reaktionszeit einer Ge- ruchsempfindung feststellte, an deren Studium man so lange wegen der anscheinend unüberwindlichen technischen Schwierigkeiten ver- zweifelt hatte. Die für derartige Zeitmessungen überall wiederkehrende Aufgabe, den Beginn des zu messenden Akts durch die Unterbrechung eines elektrischen Stroms zu markiren, löste Moldenhauer dadurch, dass er einen durch ein gewöhnliches Gebläse erzeugten und mit dem Riechstoff imprägnirten Luftstrom mit Hilfe einer Gabelteilung zwei gleichlange Röhren zu passiren zwang. Am Ende der einen gelangte derselbe in die untersuchte Nase, am Ende der andern aber setzte er eine kleine Aluminiumplatte in Bewegung und löste dadurch in demselben Momente einen Kontakt, in welchem der erste Teilstrom in die Nase eintrat. Mit Hilfe dieses einfachen und sehr regelmäßig arbeitenden Apparats wurden an 3 Versuchspersonen in über 1300 Einzelbeob- achtungen für verschiedene Geruchsstoffe folgende Resultate erhalten: Kampher. Ol.Menthae. Ol. Pini. Ol. Bergamot. Ol. Rosar. Moschus. Kr. 236 237 257 258 281 309 Dr 216 193 _ 202 189 mir Fr, 482 352 r 364 320 —n Wie man sieht, sind individuelle Differenzen sowol in Bezug auf die absolute Länge der Zahlen, als auch auf die Reaktionsdauer für verschiedene Stoffe vorhanden, wenn auch die Größe der Beachtungs- werte bei Fr. zum Teil auf die geringere Uebung desselben zu be- ziehen sind, wie durch die Ausgibigkeit der mittlern Schwankungen bei ihm wahrscheinlich gemacht wird. Der individuell verschiedenen Reaktionsdauer bei den einzelnen Stoffen entsprach zum Teil auch die subjektive Wahrnehmung, nach welcher manche Gerüche bei den verschiedenen Beobachtern mit verschiedener Präzision aufgefasst wer- den konnten. Die absolute Länge der Zahlen ist größer, als bei den übrigen Sinnen, doch nicht mehr, als sich füglich aus der Art der Einwirkung des Reizes auf die peripheren Endorgane erklären dürfte. Wenn nur auf den durch den Luftstrom gegeben Tastreiz reagirt wurde, so fielen die Zahlen bei Kr. etwa 0,08“, bei Fr. sogar 0,15''—0,28' kürzer aus, als bei der Geruchsreaktion. Für die subjektive Wahrnehmung schien die Geruchsempfindung gegenüber den Eindrücken anderer Sinne weit langsamer bis zu einer gewissen Intensität anzuwachsen und ge- langte daher erst verhältnissmäßig spät zu einer charakteristischen Deutlichkeit. Die mittlern Schwankungen waren daher auch im Ganzen etwas größer, als bei andern Sinneseindrüken, aber unter sich schließlich recht konstant. Anfangs war allerdings ein Einfluss der Uebung nicht zu verkennen. !) 1) Nach Abschluss des vorliegenden Referats erhielt ich noch eine neue Arbeit von Buccola über denselben Gegenstand: Sulla durata delle perce- zione olfattive, Archivio italiano per le malatie nervose ete. VI, 1882, p. 446—425. Derselbe schloss den riechenden Stoff in eine Büchse ein, deren Oeffnen einen Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen, 59 Buccola hat in der nun folgenden kleinen Arbeit einen neuen Beitrag zu dem von ihm schon früher kultivirten psychometrischen Studium des Hautsinns geliefert. Er bestimmte zunächst die Unter- scheidungszeit für zwei symmetrisch gelegene Hautstellen (Handrücken) an zwei Individuen. Es ergaben sich für genau gleiche Werte: Rechte Hand. Linke Hand. E 0,076 0,072 II. 0,085 0,087 Alsdann aber untersuchte er die Veränderungen der Unterschei- dungsreaktion, welche für die Stellen zur Entwieklung gelangen, wenn man auf die eine derselben einen dauernden Reiz einwirken lässt. Nachdem auf dem rechten Handrücken 12 Minuten lang ein Senfpflaster gelegen hatte und die Haut leicht gerötet und empfindlich geworden war, wurden wieder eine Anzahl von Unscheidungsreaktionen zwischen beiden Seiten ausgeführt. Dabei stellte sich nachfolgendes Ergebniss heraus: 1 HM. Rechte Hand. Linke Hand. R. Hands De Hand: Vor der Applikation 0,213 0,209 0,234 0,236 Nach des Senfpflasters 0,188 0,216 0,200 0,244 Differenz — 0,025 + 0,007 — 0,034 + 0,008 Die Dauer der Unterscheidungsreaktion nahm demnach für die gereizte Stelle nicht unbeträchtlich ab und zeigte für die symmetrische Stelle der andern Seite eine geringe Zunahme. Eine befriedigende Erklärung dieses an manche anderweitige Erfahrungen, namentlich die Erscheinungen des sog. Transfert erinnernden Verhaltens ist wol einstweilen noch nicht möglich; jedenfalls würde es sich lohnen, diese Tatsachen weiter zu prüfen und zu verfolgen. Nicht sowol die peripheren, als vielmehr die zentralen psycho- physischen Bedingungen des Reaktionsvorgangs habe ich selbst in einer Reihe von Versuchen experimentell zu variiren gesucht, um die so bewirkten Veränderungen in der Dauer einfacher psychischer Pro- zesse näher zu studiren. Die erste Gruppe dieser Versuche umfasst den Einfluss der Bewußtseinsstörung, welche durch die Einatmung von Amylnitrit, Aether und Chloroform herbeigeführt wird. Als Reize dienten gerufene Vokale. Das allgemeine Ergebniss dieser Versuche ist der Ablauf der medikamentösen Wirkung in zwei differenten Pha- sen, von denen die erste das Ende der Inhalation nur kurze Zeit über- dauert, um dann in die zweite überzugehen. Während des ersten Sta- diums des Versuchs zeigt die Dauer der einfachen, wie der Unscheidungs- und Wahlreaktion ein rasches Anwachsen, bisweilen um mehr als 0,1”. elektrischen Strom unterbrach und somit die Zeitmessung ermöglichte. Erst durch eine gleichzeitige Inspirationsbewegung wurde dann der Stoff wirklich in Kontakt mit der Geruchsschleimhaut gebracht. Die von Buccola erhal- tenen Werte sind daher 0,1—0,3° länger, als diejenigen Moldenhauers, 60 Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen. Diese Verlängerung dauert meist nach dem Anfhören der Einatmung noch eine bis einige Minuten fort, macht aber dann einer ziemlich rasch vorübergehenden Verkürzung der Reaktionsdauer unter die Norm Platz. Nach einigenSchwankungen stellt sich denn allmählich das normale Verhalten wieder her. Der Gesamtspielraum dieser Veränderungen wächst mit der Intensität der erzielten Bewusstseins- störung. Im Einzelnen ließen sich noch einige interessante Details feststellen. Die differente Beeinflussung der einzelnen Reaktionsformen durch Amylnitrit gibt folgende Uebersicht für 2 Versuchspersonen wieder: Verlängerung: Verkürzung: T K. T; K. Einfache Reaktion 32 43 22 22 Unterscheidungsreaktion 11 20 29 32 Wahlreaktion 28 23 54 39 Der Wahlakt scheint somit der beschleunigenden Einwirkung des - Amylnitrits ganz besonders zugänglich zu sein. Man darf vielleicht daraus schließen, dass diese Beschleunigung hauptsächlich durch eine leichtere Uebertragung des zentralen Erregungszustandes auf das motorische Gebiet, also durch Abkürzung der Willenszeit zu Stande kommt. Für die andern beiden Stoffe konnte eine ähnliche Beziehung nieht mit Sicherheit nachgewiesen werden. In einer Anzahl von Ver- suchen wurde die Intensität der erreichten Bewusstseinsstörung ver- schiedengradig abgestuft, um den Einfluss dieses Faktors auf die Entwicklung der beiden Versuchsstadien festzustellen. Beim Amylnitrit schien zumeist die Ausgibigkeit der Verkürzung von dem Grade der Narkose unabhängig zu sein, während die Verlängerung mit demsel- ben anwuchs. Aether und Chloroform dagegen ließen mit einer einzigen nieht genügend erklärten Ausnahme eine Zunahme der Verlängerung und eine Abnahme der Verkürzung bei größerer Intensität der Be- wusstseinsstörung erkennen. Nach den höchsten erreichten Graden der Narkose wurde die Verkürzung sogar negativ, d.h. es zeigte sich wol eine vorübergehende Abnahme der Zahlen, aber dieselben erreich- ten die Norm nicht, sondern wuchsen rasch wieder an, um unter großen Schwankungen sich noch längere Zeit über derselben zu erhalten. So ergaben sich für die Wahlreaktion unter dem Einflusse des Chloro- forms bei 2 Beobachtern folgende Zahlen: Leichte Tiefe Narkose Verlänger L. 88 239 erlängerung | x 413 137 du L.,.33 — 46 Verkürzung | EB een Die mittlern Variationen gingen im Allgemeinen der absoluten Länge der Beobachtungswerte parallel, doch durchaus nicht ganz ge- nau. Das Verhalten der beiden Versuchsphasen konnte daher nicht etwa auf eine einfache Verschiedenheit in der Aufmerksamkeitsspan- Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen. 61 nung zurückgeführt werden, sondern es musste das Eingreifen einer weit konstanter wirkenden Ursache angenommen werden, die für das erste Stadium wol einmal in der Zirkulationsbeeinflussung durch das Amylnitrit, dann aber in den toxischen Wirkungen des Aethers und Chloroforms gegeben war. Die Frage nach dem physiologischen Zu- standekommen der sekundären Verkürzung muss vor der Hand noch eine offene genannt werden. Ein durchaus entgegengesetztes Verhal- ten, als die aufgeführten Stoffe, bietet der Alkohol dar. Auch bei ihm lässt sich allerdings ein Ablauf der Wirkung in zwei differenten Stadien erkennen, aber hier geht die Verkürzung der Reaktionen voran und die Verlängerung derselben tritt erst im weitern Verlaufe hervor. Durchschnittlich 5—10 Minuten nach der Einverleibung mittlerer Alko- holdosen (15—30 g) beginnen die Werte für einfache sowol, wie für Unterscheidungs- und Wahlreaktionen abzunehmen, um nach etwa 20-30 Minuten in mannichfachen Schwankungen dauernd über die Norm hinauszugehen. Die Ausgibigkeit der Verkürzung nimmt bei größern Dosen (45—60 g) ab, um sogar negativ zu werden, während die Verlängerung im Gegenteil anwächst. Dieses Abhängigkeitsver- hältniss ist indess nicht nur individuellen Schwankungen (Gewöhn- ung, größere oder geringere Widerstandsfähigkeit gegen Alkohol) un- terworfen, sondern es wechselt bis zu einem gewissen Grade auch mit der augenblicklichen Disposition. Interessant ist es, dass bei zwei Beobachtern sich im ersten Stadium der Alkoholwirkung eine sehr auffällige Neigung zu vorzeitigen Reaktionen geltend machte, die na- mentlich bei den Unterscheidungsversuchen die Resultate trübte. Diese Erfahrung erhält eine besondere Bedeutung durch den Nachweis, dass die Dauer der einzelnen Komponenten des Reaktionsvorgangs nicht gleichmäßig, sondern in verschiedener Weise durch den Alkohol be- einflusst wird. Aus einer Anzahl von Versuchen, in denen einfache Reaktionen mit Unterscheidungs- und Wahlreaktionen reihenweise kombinirt wurden, ergab sich nämlich für die Veränderungen der er- stern (R), sowie der Unterscheidungszeiten (U), der Wahlzeiten (W) und der Summe dieser a un + W) ee Uebersicht: U. + W. I. Verkürzung n h " 39 Verlängerung — 7 7 — 4 — 1 It. 4 II. Verklirzung 24 A 31 30 Verlängerung — 3 10 — 19 —ı28 I. Verkürzung 13 h) 68 73 Verlängerung 14 8 4 6 II. Verkürzung 2 42 35 62 K. Verlängerung 50 — 2 — 7 =40 III. Verkürzung 13 30 36 98 Verlängerung Al 4 — 9 — 24 IV. Verkürzung — 1 21 31 25 Verlängerung 31 35 — 4 10 62 Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen. R. U. W. Ü. + W. 1 | Verkürzung — 2 45 48 73 Verlängerung 45 53 — 15 — 46 Die Verkürzung ist somit für U + W stets ausgibiger, die Ver- längerung regelmäßig geringer, als fürR und zwar betrifft ferner die Verkürzung den Wahlakt W fast immer in höherm Grad als die Un- terscheidung U, während die Verlängerung ein umgekehrtes Verhalten erkennen lässt. Es ist somit der Wahlakt, der hauptsächlich im er- sten Stadium der Alkoholwirkung eine zumeist auch im zweiten Sta- dium fortdauernde Erleichterung erfährt, während die Unterscheidung sehr bald entschieden erschwert wird. Das Zustandekommen der vorzeitigen Reaktionen dureh die erleichterte Uebertragung der zen- tralen Spannung auf das motorische Gebiet wird auf diese Weise be- greiflich. Ja, diese Ergebnisse lassen schon an den eiementarsten Vorgängen die Veränderungen in der psychischen Reaktionsweise er- kennen, die der täglichen Erfahrung als Begleiterscheinungen des Rausches bekannt sind: Neigung zu impulsiven raschen und unüber- legten Handeln und Unfähigkeit zu klarer Auffassung und Verarbei- tung äußerer Eindrücke. Der subjektiven Wahrnehmung macht sich namentlich die Erleichterung der motorischen Entäußerung bemerkbar und führt zu dem Gefühle sehr rascher, selbst vorzeitiger Reaktion vielfach auch dort, wo die objektive Registrirung wegen der gleich- zeitigen Verlangsamung der Unterscheidung Werte von übernormaler Länge aufweist. Bei allen diesen Versuchen mit medikamentösen Einwirkungen treten vielfach eigentümliche individuelle Unterschiede in dem Ver- halten der einzelnen Beobachter hervor, die sich in der Schnelligkeit und Ausgibigkeit der Beeinflussung ausdrücken. Es würde zu weit führen, hier auf diese Einzelheiten näher einzugehen; nur die bei den Alkoholexperimenten gemachte Erfahrung sei erwähnt, dass Unterschei- dungs- und Wahlzeiten der verschiedenen Versuchspersonen dem ver- kürzenden oder verlängernden Einfluss des Mittels umso mehr zu- gänglich zu sein scheinen, je länger oder kürzer sie unter normalen Verhältnissen sich herausstellen. Wir kommen nun zum Schlusse noch zu den neuern von Buceola an Geisteskranken gewonnenen Ergebnissen. Mit Hilfe von Licht- reizen fand derselbe bei fünf Maniakalischen die folgenden Zahlen: Differenz zwischen Mittel Minimum Minim. u. Maxim. 41. M., 28 J., maniakal. Erregung mit Gesichtshalluz. ; Alkoholiker 0,263 0,167 0,356 2. M., 33 J., maniakal. Erregung; mäßig intelligent 0,219 0,153 0,223 3. M., 25 J., einf. maniakal. Erregung; Gesprächigkeit; heitere Verstimmung 0,230 0,115 0,235 Kräpelin, Ueber psychische Zeitmessungen, 63 Differenz zwischen Mittel Minimum Minim, u. Maxim, 4. M., 39 J., leichte Erregung mit ge- ringer Ideenflucht; intelligent 0,191 0,143 0,116 5. M., 32 J., leichte tobsüchtige Erre- gung nach vorausgegangener Manie 0,203 0,138 0,114 Bemerkenswert ist hier namentlich die Größe der Schwankungen zwischen Minimum und Maximum, als ein Zeichen der mangelnden Fähigkeit zu gleichmäßiger Aufmerksamkeitsspannung (Zerstreutheit). Die gleiche Erscheinung zeigten in noch höherm Maße vier Melan- cholische: Differenz zwischen Mittel Minimum Minim, u. Maxim. 1. M., 44 J., typischer Fall von ein- facher Melancholie 0,254 0,195 0,204 2. M., 20 J., einfache Melancholie in d. Rekonvaleszenz; leichte Gebundenheit 0,271 0,201 0,148 3. M., 53 J., hypochondrische Melan- cholie; abnorme Sensationen im Epi- gastrium 0,330 0,253 0,228 4. M., 28 J., typische Melancholie mit Selbstmordideen; lebhafte Angst 0,417 0,307 0,418 Außerdem tritt hier aber in sehr charakteristischer Weise die bekannte klinische Beobachtung der Verlangsamung aller psychischen Prozesse in der Erhöhung der Mittelzahlen und ganz besonders der Minima hervor. Mit dem Eintritt der Genesung gleichen sich alle diese abnormen Verhältnisse, wie Buccola in dem ersten Falle kon- statiren konnte, vollständig aus. Auch an Epileptikern wurden von ihm eine Anzahl von Untersuchungen vorgenommen. Es zeigte sich, dass die Höhe der Mittelwerte und der Minima, sowie die Größe der Schwankungen im Allgemeinen parallel dem Grade der psychischen Schwäche anwuchsen; auch für die Zeit kurz nach dem Anfalle ließ sich eine Zunahme jener Zahlenausdrücke nachweisen. Die physio- logische Deutung dieser Beobachtungen ist einstweilen noch unsicher, aber wir gewinnen durch dieselben einen exakten Ausdruck für ge- wisse elementare Zustandsveränderungen der psychophysischen Per- sönlichkeit. Damit sind die ersten Anfänge einer experimentellen Analyse von Störungen gegeben, die bisher nur einer klinisch-theo- retisirenden Betrachtung zugänglich zu sein schienen; eine Erweiterung der Forschungen wird hier sicherlich neue Bausteine zum Aufbau einer wissenschaftlichen Psychopathologie zu liefern im Stande sein. E. Kräpelin (Leipzig). 64 Dingler, Scheitelwachstum; Holl, weiblicher Harnleiter, Hermann Dingler, Ueber das Scheitelwachstum des Gymno- spermenstamms. München 1882. 85 8. 8. Mit 3 Tafeln. Nachdem vor einigen Jahren Sachs auf die im Scheitelgewebe auftretende Kurvenanordnung aufmerksam gemacht, und die Scheitelzelle, aus deren gesetz- mäßigen Teilungen das übrige Meristem bei den Kryptogamen hervorgeht, als eine Lücke im Konstruktionssystem bezeichnet hatte, könnte es auffallend er- scheinen, wenn von Neuem versucht wird, für Phanerogamen, und zwar hier speziell für die an die Kryptogamen sich am nächsten anschließenden Gymno- spermen, die bisher nicht oder nur in vereinzelten Ausnahmsfällen konstatirte Scheitelzelle aufzufinden. Tatsächlich gelang es Dingler, am Scheitel der Keimpflanzen einer Cycadee (Ceratozamia sp.), sowie von Keimpflanzen der Fichte, von (upressus pyramidalis, Pinus inops, an Laubsprossen von Ephedra macrostachya, Zellen von bestimmter Gestalt zu finden, welche der Erscheinung nach wol mit demselben Rechte als Scheitelzellen betrachtet werden dürfen, wie bei manchen Kryptogamen, wenn auch die Ableitung von mehr als zwei Segmenten nicht mehr mit Sicherheit möglich ist. In längern Ausführungen sucht der Verf. der Sachs’schen Theorie gegenüber die Berechtigung der morphologischen Auffassung, der genetischen Ableitung des Meristems von einer (oder wenigen) Scheitelzellen darzutun. K. Prantl (Aschaffenburg). Holl, Zur Topographie des weiblichen Harnleiters. Wiener medizinische Wochenschrift 1882. Nr. 45 und 46. Verf. gibt eine detaillirte Beschreibung des Verlaufs beider Ureteren, die wesentlich für chirurgische Zwecke dienen soll, da bei Uterusexstirpationen der Ureter schon ein paarmal angeschnitten worden ist. Im Wesentlichen werden die sonst bekannten Verhältnisse bestätigt, der Wand des Peritoneal- sacks auch eine Plica hypogastrica s. ureterica zugeschrieben: wenn man die Vasa hypogastrica durch Trennung des Peritoneums von vorn her frei legt, stößt man zunächst auf den Ureter. Die vom Ref. (Handbuch der Anatomie. Bd. III. 1880. 8. 174) diskutirte Frage, ob die Ureteren die Aa. iliacae ex- ternae oder die communes in der Norm überkreuzen, lässt Holl unberührt. Nach Tiedemann (1822) und C. Krause kreuzen sich die Ureteren mit den letztge- nannten, nach Nuhn (1856) und Henle (1868) mitden Aa. iliacae externae. Nach Haller’s (1756) und Braune’s (1872) Abbildungen verläuft der rechte Ureter vor der A. iliaca communis, der linke vor der externa, während nach Luschka (1863) und dem Ref. (1880) es sich in der Regel umgekehrt verhält; auch Holl’s Abbildung legt den rechten Ureter vor die A. iliaca externa. Dies wird der Verlauf sein, falls sich die A. iliaca communis nur ein klein wenig höher spaltet, woraus sich die angeführten differenten Meinungen erklären. Besondres Gewicht legt der Verf. auf die Kreuzung der A. uterina mit dem Ureter, vor welchem sie verläuft. Die Kreuzungsstelle liegt in der Höhe des äußern Muttermundes; daselbst ist der Ureter spindelförmig angeschwollen, indem die Anschwellung sich nach aufwärts und abwärts verliert. W. Krause (Göttingen). Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut“ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Üentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. III. Band. 1. April 1883. Nr. 2 Inhalt: Fischer, Untersuchungen über die Parasiten der Saprolegnieen. — Wielo- wiejski, Studien über Lampyriden. — Marshall, Die Ontogenie von Reniera filigrana. — Kopernicki, Ueber die Knochen und die Schädel der Ainos. — Bardeleben, Das allgemeine Verhalten der Venenklappen. — Bubnoff und Heidenhain, Erregungs- und Hemmungsvorgänge; Exner, Wechselwirkung der Erregungen im Zentralnervensystem. — Kollmann, Zur Begriffsbestim- mung organischer Individuen. — Cattaneo. Zur Morphologie der Mollusken. — Aeby, Schema des Faserverlaufs im menschlichen Gehirn und Rückenmark. — Hartmann, Die systematische und topographische Anatomie des menschlichen Kopfes für Zahnärzte und Zahnkünstler. TTT————————————————————————————————————————————— Alfred Fischer, Untersuchungen über die Parasiten der Saprolegnieen. Habilitationsschrift. Leipzig. Berlin 1882. 86 S. 3 Taf. Die kleine, äußerst interessante Gruppe von Pilzen, welche Verf. in seiner Arbeit behandelt, zuerst von Pringsheim entdeckt, be- wohnt die Schläuche verschiedener Saprolegnieenformen, in denselben mannigfache Umformungen und Gestaltveränderungen bewirkend. Von Pringsheim zuerst für Sexualorgane (Antheridien) dieser Nähr- pflanzen angesprochen, wiesen bald A.Braun und nach ihm Cornu auf ihre parasitische Natur hin, eine Ansicht, die sowol durch Pr ings- heim’s spätere Saprolegnieenuntersuchungen selbst, als auch nament- lich durch de Bary’s neuere Forschungen sich als richtig heraus- stellte. Die Namen der drei Gattungen unserer Pilzgruppe sind Olpi- diopsis, Rozella und Woronina, von denen die erste hauptsächlich in Saprolegnia ferox, die mittlere in S. dioica parasitirt, während die Gattung Woronina Achlya dioica als Nährpflanze erwählt. — Aufgabe des Verf. war es, die Entwicklungsgeschichte jener Organismen kon- tinuirlich von einer Spore aus zu beobachten, was für die Unter- suchungsmethode, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, maßgebend war, namentlich für die Ansetzung der nötigen Nährpflan- zenkulturen. — Im Folgenden sollen hauptsächlich die morphologisch und syste- matisch wichtigsten Verhältnisse wiedergegeben werden. Die Schwärm- 5 66 Fischer, Untersuchungen über die Parasiten der Saprolegnieen. sporen aller drei Genera, auch die aus den Dauerzuständen sich ent- wickelnden, zeigen eine durchaus übereinstimmende Struktur. Von länglich-elliptischer Gestalt haben sie auf der einen Seite eine kleine Ausbucklung, an der eine Cilie angeheftet ist, während sich eine zweite an dem vorderen, spitz ausgezogenen Ende vorfindet. Das Protoplasma ist vollkommen homogen, mattgefärbt und birgt in sei- nem Innern ein stark lichtbrechendes von einem hellen Hof umgebenes Körnchen, welches einem Zellkern sehr ähnlich sieht. Die Bewegung der 4—8 u großen Zoosporen ist eine gleichmäßig gerad- oder krumm- linige, wobei die an der Spitze befestigte Cilie vorangeht; zu dieser Vorwärtsbewegung tritt noch eine Rotation um die Längsachse. Nach verschieden langer, durch das Fehlen von geeigneten Sub- . straten oft bedeutend verlängerter Schwärmzeit setzen sich die Spo- ren mit dem vordern cilientragenden Pol an die (hauptsächlich jungen) Schläuche ihrer bezüglichen Nährpflanzen an, runden sich plötzlich unter Verschwinden der Cilien ab und ruhen so, von einer dünnen Membran umgeben, ungefähr eine Stunde lang. Ein jetzt plötzlich eintretendes Schwanken leitet die Bildung eines kleinen geraden Stiel- chens ein, durch das das Protoplasma der Spore unter eigentüm- lichen, hier nicht zu beschreibenden Umlagerungen in den Saproleg- nieenschlauch eindringt, und dies geschieht nach den verschiedenen For- men, auch nach dem Alter und der morphologischen Beschaffenheit der betreffenden Teile der Nährpflanze, worüber der Verfasser äußerst inte- ressante Details mitteilt, in verschieden langer Zeit. Das Protoplasma der Spore, in dem das oben genannte Körnchen deutlich sich wiederfin- det, hat Glanz- und Lichtbrechungsvermögen verloren und erfährt bald als nackte Masse schwache, kaum merkbare Umrissänderungen. — Von diesem Stadium an müssen die drei untersuchten Formen jede für sich betrachtet werden. Beginnen wir mit Olpidiopsis Sapro- legniae. In der Regel findet die Weiterentwicklung der eingedrunge- nen Spore an der Stelle des Eindringens statt, die Größe der aus ihnen hervorgehenden Sporangien ist umgekehrt proportional der Zahl der in einem Schlauch parasitirenden Sporen. Auf Kosten des Saprolegnia- protoplasmas vergrößern sich die letztern, zuerst sich der Beobach- tung entziehend, bald aber als dunklere träg amöboide Bewegungen zeigende Protoplasmamasse hervortretend. Diese nimmt schnell an Größe zu, rundet sich ab und scheidet sich gegen den sehr reduzir- ten Inhalt des Saprolegniaschlauches durch eine Cellulosemembran ab. In seinem Innern sammeln sich zahlreiche Fettkörperchen, die zu größern Oeltropfen zusammenfließen, und nachdem dann noch eine oder mehrere seitliche, den Nährschlauch durchbohrende Papillen getrieben wurden, hat das Sporangium seine Reife erreicht. Je nach Umständen kann es so eine kurze Ruhezeit durchmachen. Gewöhnlich erfolgt jedoch sehr bald ein plötzliches Zerfallen des Inhalts in zahl- reiche Portionen, die sich abrunden und durch den Hals (Papille) ins Fischer, Untersuchungen über die Parasiten der Saprolegnieen. 67 Freie gelangen (Details müssen im Original nachgesehen werden). Sie gleichen vollkommen denjenigen, die dem Sporangium den Ur- sprung geben und dienen auch ebenso, wie die letztern, wieder zur Erzeugung solcher. Zu Beginn des Herbstes jedoch, sowie auch bei ungünstigen Ernährungsbedingungen (Sauerstoffmangel, Bakterien- wucherungen, Wasserverunreinigung etc.) ändert sich das Aussehen der Sporangien bedeutend, sie werden zu den lange bekannten und Stachelkugeln genannten Gebilden. Die jüngern Stadien dieser Stachelkugeln gleichen völlig denen der glatten Sporangien, sie ent- wickeln sich aus einer ebenso entstandenen amöboiden Plasmamasse. Anstatt dass aber der die junge Sporangienmembran umlagernde Be- leg von Saprolegniaplasma osmotisch wie bei den glatten Kugeln auf- genommen wird, wird er jetzt benutzt zur Bildung des Stachelbesatzes, wobei die Stärke der einzelnen Stacheln bedingt ist durch die Menge des vorhandenen Materials. Prädisposition der Schwärmer für eine bestimmte Sporangienform, sowie Andeutung irgend eines Geschlechtsaktes liegt daher nicht vor und ist damit eine Frage beantwortet, die Verf. in einer frühern Ar- beit hatte offen lassen müssen. Nach längerer oder kürzerer Ruhe- periode, deren Dauer nicht genauer bestimmt werden konnte, bil- det sich das Protoplasma der Stachelkugeln in Schwärmsporen um, die sich durch einen Hals entleeren, und wieder zu je eins einem glatten Sporangium den Ursprung geben. — Die Diskussion über Zu- gehörigkeit andrer Formen zu unserer Gattung übergehen wir hier. Die zweite Gattung, Rozella, von der Verf. zwei Arten untersuchte R. septigena und R. simulans ist ausgezeichnet durch reihenweise den Schlauch ausfüllende Sporangien, deren Membran mit der des Sapro- legniafadens eng verbunden ist. Nicht wie bei Olpidiopsis lässt sich hier das einzelne Sporangium auf eine Schwärmspore zurückführen, sondern es kann eine solche, ihre Individualität aufgebend und das Protoplasma des Schlauches ganz in parasitisches verwandelnd, eine größere Zahl solcher hervorbringen, wie umgekehrt mehrere gemein- sam eingedrungene Sporen gleichmäßig an der Bildung der Reihen- sporangien beteiligt sind. Das Protoplasma des befallenen Schlauches wandert, langsam umgewandelt, dem Scheitel zu, so dass sich die Schlauchspitze mit dunkel gefärbtem Inhalt füllt und dabei oft 00g0- niumartig anschwillt. Die Bildung der Querwände in dieser Masse erfolgt entweder simultan oder basipetal, der ganze Prozess ist in 24—48 Stunden beendigt. Zuerst dunkelfarbig, beginnt der Inhalt der so gebildeten Fächer blass und hell zu werden, die körnigen Gemeng- teile sammeln sich in der Mittelpartie der Sporangien an, wobei gleichzeitig die Abscheidung einer Cellulosemembran, welche sich den Saprolegniawänden eng anlegt, erfolgt. Reif ist das Sporangium, wenn sein Inhalt ein vacuolig-schaumiges Aussehen angenommen hat. Derselbe zerfällt dann bald unter komplizirten vorhergehenden Ver- 68 Fischer, Untersuchungen über die Parasiten der Saprolegnieen. schiebungen und Umformungen in Zoosporen, die an einer schon vor- her durch eine kleine Verdickung der Membran bezeichneten Stelle durch Aufquellen und Platzen des betreffenden Wandstücks ins Freie gelangen. Aus ihnen können unter Umständen, deren Bedingungen nicht genauer festgestellt wurden, sich bestachelte Dauersporen entwickeln; zu dem Behufe bilden ein oder mehrere eingedrungene Schwärmer das Protoplasma eines Schlauchstückes in derselben Weise um, wie das oben angedeutet wurde. Gewöhnlich schwillt das letztere kugelförmig an, und, nachdem die erst dunkelbraune Färbung einer hellern Platz ge- macht hat, beginnt eine zentrale Zusammenballung dunklerer, körniger Elemente, die von einer hyalinen durchsichtigen Sphäre umgeben sind. Der zentrale Klumpen umgibt sich mit einer Membran, die nach länge- ren, mehr nebensächlichen Umformungen in- und außerhalb der Spore einen Stachelbesatz erhält, ganz wie bei Olpidiopsis. Die Dauersporen sind stark mit Oeltropfen erfüllt, ihre Keimung ist noch nicht beob- achtet worden. Wir kommen zur dritten untersuchten Gattung Woronina. Sie ist charakterisirt durch die Sporangiensorusbildung in den einzelnen in- folge des Eindringens in die Nährpflanze abgetrennten Fächern. Da- bei ist es im Allgemeinen Regel, dass aus einer Schwärmspore ein Sorus hervorgeht. Die eingedrungene Zoospore wandert mit dem Protoplasma in die Spitze des Schlauches, wo sie öfters noch ziem- lich lange deutlich erkennbar bleibt. Durch den einströmenden In- halt schwillt die Spitze bedeutend an und schließt sich dann durch eine Querwand gegen den übrigen Schlauch ab. Wie bei Rozella be- steht auch hier die Tätigkeit der Schwärmspore in vollkommener Umwandlung des dunkelbraunen Saprolegniaplasmas in parasitisches, deren Beendigung durch den Beginn einer hellern Färbung äußer- lich gekennzeichnet wird. Bald zerfällt simultan der gesamte In- halt in eine große Zahl kleiner Portionen, die sich mit einer Membran umgeben, vakuolige Innenbeschaffenheit zeigen und so die reifen Spo- rangien darstellen. Jedes Sporangium eines solchen Cystosorus treibt bei der Entleerung eine kleine Papille durch die Saprolegniamembran, der Inhalt zerfällt auf gewöhnliche Weise in Zoosporen, die durch Auflösung der Papillenspitze ins Freie gelangen. — Wie Olpidiopsis und Rozella besitzt auch Woronina Dauerzustände, gleichfalls Cysto- sori, die äußerlich als schwarze konisch-warzige Körper erscheinen, durch Anwendung starken Drucks in die einzelnen eckigen Cysten zerfallen. Aus der Bildungsmasse eines gewöhnlichen Sporangium- haufens entstehen sie durch zentrale Zusammenballung dunklen kör- nigen Protoplasmas und Ausscheidung feinkörniger hyaliner Substanz. Die zentrale Masse nimmt bald die schwarzbraune Färbung an, zer- fällt langsam in einzelne Sporangien, die ihren Inhalt stark verdich- tend, sich mit einer dunklen Membran umgeben. Der ganze so ge- Wielowiejski, Studien über Lampyriden. 69 bildete Komplex ist äußerst widerstandsfähig und kann lange ruhen. Bei der Keimung schwellen die einzelnen Sporangien stark an und bilden Zoosporen in nicht genau bestimmter Weise, Zoosporen, die ihrerseits wieder gewöhnliche Woroninasori erzeugen. — Dies sind im Wesentlichen die morphologisch-systematisch wich- tigen Momente der Entwicklungsgeschichte der genannten drei Gat- tungen. Dass zwischen ihnen sehr enge verwandtschaftliche Beziehungen bestehen, dürfte ohne Weiteres aus dem Mitgeteilten hervorgehen. Namentlich durch Vergleichung des Verhaltens der eingedrungenen Schwärmspore, sowie der verschiedenen Dauerzustände kommt Verf. zu der Ansicht, dass hier eine phylogenetische Entwicklungsreihe vorliege, deren Anfangsglied sich als Olpidiopsis darstelle, deren Gipfel Rozella bilde. Das so übrig bleibende Mittelglied Woronina bietet in seinen Cystosoris einen guten Anknüpfungspunkt an Synchytrium; alle vier Gattungen werden darauf als besondre Gruppe von den Chytridiaceen abgeschieden, wozu namentlich die mangelnde‘ Mycelbildung die Handhabe bietet. Im Großen und Ganzen stimmt Referent dieser Auffassung bei. Jedoch wird derselbe in nächster Zeit Gelegenheit haben, auf eine Anzahl von Formen hinzuweisen, welche die Reihen- folge bedeutend kompliziren dürften, namentlich durch die Beschaffen- heit der Dauerorgane einen Anschluss an die mycelbildenden Chytri- diaceen nicht unmöglich erscheinen lassen werden. — Dass in der besprochenen, vortreftlichen Arbeit ein bedeutender Fortschritt unsrer Kenntnisse der verwandtschaftlichen Verhältnisse der niedren Pilze gegeben ist, braucht nicht besonders erwähnt zu werden. Fisch (Erlangen). H. Wielowiejski, Studien über Lampyriden. Zeitschr. f. wiss. Zoolog. XXXVIL, 3. Heft. In einer Reihe wertvoller chemischer Arbeiten hat Radziszewski nachgewiesen, dass die Fähigkeit mit Lichtproduktion langsam zu verbrennen nicht eine Eigenschaft besonderer Verbindungen ist, son- dern dass sehr verschiedenartige chemische Stoffe, wie Aldehyde und aus solchen durch Einwirkung von Ammoniak zu erhaltende Amide, Fette, Cholesterin, Cetylalkohol, Leeithin ete. unter gewissen Beding- ungen sich leuchtend zu oxydiren vermögen. Diese Entdeckungen Radziszewski’s bewogen Verf. dazu eine eingehende Untersuchung des Leuchtens der Lampyriden vorzunehmen, um wo möglich die Na- tur dieses interessanten physiologischen Prozesses zu enträtseln. Lei- der hinderte ihn die nur kurze Dauer der Flugzeit der untersuchten Tiere daran, die Arbeit in einem Jahre abzuschließen. Vorliegende Schrift gibt uns hauptsächlich die Resultate anatomischer Forschungen, von denen ich die wesentlichsten hier zusammenstellen will. 0 Wielowiejski, Studien über Lampyriden. Das Leuchten der Lampyriden hat seinen Sitz an bestimmten Stellen der untern Fläche des Abdomens. Daselbst ist die Cuticula sehr durchsichtig und lässt die darunter liegenden weißlichen Leuehtorgane durchschimmern. Bei den in Deutschland einheimischen Lampyris- und Lamprorhiza-Arten sind hauptsächlich die flügellosen, wurmförmi- gen Weibchen leuchtend: die Männchen besitzen nur kleinere, wenig entwickelte Leuchtorgane; bei L. splendidula viel bedeutender als bei L. noctiluca. Das Weibchen von L. splendidula lieferte hauptsächlich das Material zu diesen Untersuchungen. Bei obigem Tier kann man zwei Arten der Leuchtorgane unter- scheiden: die großen Leuchtplatten in den zwei vorletzten Segmen- ten des Abdomens sind kleinere paarige Leuchtknollen in den Seitenteilen mehrerer Hinterleibssegmente. Aehnliche knollenförmige Leuchtorgane kommen auch den Larven von L. splendidula zu. Eine etwas verschiedene Verteilung der Leuchtorgane zeigen die Weibchen und Larven der L. noctiluca. Die Leuchtplatten sind aus zwei verschiedenartigen Schichten zu- sammengesetzt. Eine kreideweiße tiefere (dorsale) Schicht wird aus Zellen zusammengesetzt, deren Plasma durch zahlreiche krystallinische Urateinlagerungen ganz undurchsichtig geworden ist; die oberfläch- liche (ventrale) Schicht besteht aus gleichgestalteten Zellen, welche aber nur amorphe Körnchen enthalten, die sich in Alkohol lösen (die Urateinlagerungen sind in Alkohol wnlöslich, werden dagegen von Glyzerin und Wasser gelöst). Beide Schichten verhalten sich auch verschiedenartig gegen gewisse Farbstoffe (Indigokarmin). Die Dieken- verhältnisse der Schichten sind nicht bei allen Exemplaren die glei- chen. Ob dieser Umstand von einer Umwandlung der oberflächlichen Zellen in Uratzellen abhängt scheint Verf. nicht unwahrscheinlich, bis jetzt aber unbewiesen. Die ventrale Schicht ist eigentlich der Sitz des Leuchtens; es ist aber nicht ausgeschlossen, dass die Uratzellen auch in schwachem Maß mitleuchten könnten. Die an den abdominalen Tracheenstämmen hängenden knollen- förmigen Organe bestehen aus Zellen, welche den Zellen der ventralen Schicht der Leuchtplatten entsprechen. Uratzellen enthalten die Leucht- knollen nicht. Sowol Leuchtplatten als Leuchtknollen sind von einer dünnen Membran umgrenzt, durch welche Tracheen und Nerven pas- siren müssen. Die Tracheen bieten innerhalb der Leuchtplatten besonders her- vorzuhebende Besonderheiten. Es wurde bereits von Kölliker nach- gewiesen, dass die feinsten noch mit Spiralleiste versehenen Tracheen im Leuchtorgan auf einmal ihre Chitinspirale verlieren und sich dann pinsel- oder sternförmig in mehrere die Spirale entbehrende Tracheen- kapillaren teilen, welche mit andern dergleichen Gebilden anastomo- sirend ein Netz bilden. M. Sehultze entdeckte an den Teilungs- stellen die gewöhnlich sternförmigen sog. Tracheenendzellen, sah aber Wielowiejski, Studien über Lampyriden. Pi wiederum die Anastomosen der Tracheenkapillaren nicht. W. bestä- tigt Kölliker’s und M. Schultze’s Funde. Er erkennt in den Tra- cheenendzellen besonders modifizirte Elemente der sog. Peritoneal- schieht (Matrixzellen) der Tracheen; die pinsel- oder sternförmige Teilung der Tracheen erfolgt innerhalb der Tracheenzellen und jede Tracheenkapillare entspricht einem besondern Fortsatz der Endzelle wovon sie einen dünnen Plasmaüberzug erhält. Uebrigens stehen die Tracheenendzellen keineswegs unvermittelt da. Uebergangsformen zu den gewöhnlichen Peritonealzellen der Tracheen erblickt Verf. in ge- wissen Zellen, welehe an den Verzweigungsstellen von Tracheen ge- funden werden und sich zwischen zwei Zweigen schwimmhautartig ausbreiten. — Tracheenendzellen und büschelförmige Verzweigung der Tracheen finden sich aber bei Lampyriden auch in andern Organen, welche mit der Leuchtfunktion gar nichts gemein haben z. B. in den Hoden. Dabei fehlen die Endzellen an den bis zu ihren Kapillaren baumförmig verzweigten Tracheen der Leuchtknollen bei Weibehen und Larven von L. splendidula; in diesen Organen bilden die Tracheen niemals bestimmte Büschel oder Sterne. Die Tracheenkapillaren um- spinnen in feinem Netze die Parenchymzellen der Leuchtorgane; auf- fallend ist dabei der Umstand, dass diese feinen Röhren in Präpara- ten gewöhnlich statt mit Luft, mit einer Flüssigkeit gefüllt sind, was aber während des Lebens gewiss nicht der Fall ist. Die Leuchtorgane sind an Nerven sehr reich und wahrscheinlich erhält jede Zelle ihres Parenchyms die Endigung einer Nervenfaser, welche aber nicht in den Kern eindringt, wie Owsjannikow gesehen haben will. Ueber die morphologische Bedeutung der Leuchtorgane sind sehr verschiedene Ansichten geäußert worden. Hauptsächlich kann an Be- ziehungen zum Fettkörper und zur Hypodermis gedacht werden. Er- stere Anschauung scheint W. die wahrscheinlichste. Wenn auch die Parenchymzellen der Leuchtorgane von den Fettkörperzellen sehr ver- schieden aussehen, so ist doch eine gewisse Achnlichkeit zwischen dem knollenförmigen Leuchtorgane und dem Fettkörperklumpen nicht zu verkennen. Beiderlei Gebilde sind von einer feinen kernhaltigen Membran überzogen und stehen in sehr engen Beziehungen zu den Tracheen. Damit soll nieht behauptet werden, dass die Leuchtorgane aus dem Fettkörper entstehen, sondern wol nur aus denselben Bil- dungszellen wie letzterer. Darüber ist allein aus der Ontogenie ein entscheidendes Urteil zu erwarten. Ueber die Physiologie der Leuchtorgane lassen sich fast nur Ver- mutungen äußern. M. Scehultze glaubte in den Tracheenendzellen den Sitz der Lichtproduktion zu erkennen, welche Annahme besonders auf die starke Bräunung soleher Gebilde durch Osmiumsäure gestützt war. Das Vorkommen ähnlicher Zellen an andern Körperteilen und das Fehlen derselben an den Leuchtknollen genügen zur Zurück wei- 722 Marshall, Ontogenie von Reniera filigrana. sung dieser Hypothese. Auch spricht dagegen die Tatsache, dass Nervenendigungen nicht an den Tracheenendzellen, sondern an den Parenchymzellen der Leuchtorgane vorkommen und da die Lichtpro- duktion am lebenden Tiere ganz entschieden dem Willenseinfluss un- terliegt, so soll doch diese besondere Tätigkeit in Elementen versetzt werden, welche mit dem Nervensystem wirklich in Verbindung stehen. Der Einfluss der nervösen Zentralorgane steht also fest: welcher ist aber der Mechanismus der Nerveneinwirkung? Das Leuchten selbst beruht auf Oxydation und dauert noch lange fort an herausgeschnit- tenen und gequetschten Leuchtorganen, wenn dieselben in einer sauer- stoffhaltigen Atmosphäre gehalten werden; an solchen Präparaten wird das Leuchten durch starke Nervengifte nicht gestört und allein durch Sauerstoffmangel gehemmt. Die Leuchtzellen enthalten also einen bedeutenden Vorrat einer unter Lichtausstrahlung sich oxydiren- den Substanz; sie scheiden diesen Stoff in sich ab und können also in physiologischer Hinsicht als Drüsenzellen bezeichnet werden. Dass der nervöse Einfluss auf die Bildung des Leuchtstoffs wirke, ist nicht undenkbar; um aber die fast augenblicklichen Veränderungen und die rasche Hemmung des Leuchtens durch Willensimpulse zu erklären scheint es notwendig, anzunehmen, dass die Nerven vielmehr auf die Sauerstoffaufnahme der Leuchtzellen als auf deren sekretorische Tä- tigkeit einwirken. C. Emery (Bologna). W. Marshall, Die Ontogenie von Reniera filigrana O. S. Zeitschr. f. wiss. Zoologie, Bd. XXXVI Hft. 2, S. 221—240. Taf. XII u. XIV. Ein in der Nähe der Stadt Corfu gefundener Schwamm, den Verf. für Reniera filigrana O. S. hält, lehrte ihn ontogenetische Tatsachen kennen, die von den bisher bekannten ziemlich abweichen. Ich will an diesem Ort nicht darüber streiten, ob die Bestimmung des Schwamms richtig sei, will aber meinen Zweifel darüber äußern. Der von Marshall beschriebene Schwamm ist hermaphrodi- tisch; reife Genitalprodukte findet man im August und September. Die Eizelle teilt sich in zuerst zwei gleiche Hälften; die weitern Furchungs- stadien sollen dann verlaufen „wie sie von F. E. Schulze für Halisarca, Euspongia, Plakina ete. beschrieben und dargestellt“ sind. Bis wie- weit diese Uebereinstimmung geht, muss Jedermann für sich heraus- finden. Ich will jedoch bemerken, dass z. B. zwischen Halisarca und Euspongia bedeutende Unterschiede bestehen (vergl. Schulze’s beide Arbeiten). Ungefähr nach der 11. Teilung ist die Blastosphäre fertig; sie setzt sich aus etwa 2000 Zellen zusammen. Die ersten Veränderungen be- stehen nun darin, dass die Wandungszellen (Furchungszellen) ihre Gestalt verändern, indem sie sich strecken und heller werden, während sich der Marshall, Ontogenie von Reniera filigrana. 13 Inhalt der Furchungshöhle mehr und mehr trübt. Diese, der Metschni- koff’schen neutralen parenehymatischen Innenschicht entsprechende Centralmasse nennt M. „Coenoblastem“. In diesem anfangs hyalinen Coenoblastem treten nun Körnchen und Kerne auf. Die Herkunft beider blieb ihm dunkel; er hält aber freie Kernbildung für nicht un- möglich. Mir scheinen für eine derartige Behauptung genauere und zahlreichere Beobachtungen unbedingt notwendig. Dass er etwa eine Auswanderung von außen her, oder einen Ueberrest der ersten Fur- chungszellen nicht direkt gesehen hat, beweist doch wol nichts. Es gehören außerordentlich sorgfältige Beobachtungen dazu, um schließen zu dürfen, dass die innere Masse tatsächlich hyalin ist. Von diesen feinern Beobachtungen bemerken wir auf Verf.’s Tafel nichts: sie fängt mit der fertigen Larve an. Eine weitere Differenzirung tritt nun an einem Pole auf; es ent- steht ein pigmentirter Fleck. Die so ausgestatteten Embryonen liegen im Muttertier sehr nahe dem Kanalsystem; das Ausschwärmen selbst konnte Verf. leider nieht beobachten. Die frei schwimmenden, aber sich noch im Muttertier befindenden Larven haben auf jeder Ektoderm- zelle eine Cilie, die am pigmentirten Teil sehr groß ist. Ektoderm und Coenoblastem wachsen ungleich schnell, was zur Folge hat, dass das viel rascher zunehmende Coenoblastem vorn und hinten durch- bricht. Erst nach diesem Durchbruch verlässt die Larve die Kanäle des Muttertiers, schwimmt dann einige Zeit umher und setzt sich schließlich fest. „Je näher der Augenblick des Festsetzens rückt“, sagt Vf., „desto zahlreicher werden gewisse Bewegungserscheinnungen.“ Diese bestehen hauptsächlich in dem Auftreten von Höckern und Buckeln, die aber auch wieder verschwinden können. Verf. glaubt diese Gestaltsveränderungen auf die Beweglichkeit des Coenoblastems zurück- führen zu können; denn dies soll „eine gewisse Unruhe“ zeigen und bald mehr, bald weniger an den Polen hervordringen. Während dieser Zeit vergehen allmählich die Cilien des Ekto- derms. An denjenigen Stellen, wo die Buckel auftraten, werden, wie Verf. sich ausdrückt, die Cilien eingezogen, um aber bald wieder zu erscheinen, noch einmal eingezogen zu werden ete., bis sie schließ- lich ganz verschwinden und die Larve sich mit dem nieht pigmentirten Pole festsetzt. Der junge Schwamm zeigt nun eine breite Ansatzbasis, ist innen stark körnig und zum Teil mit Ektoderm bekleidet. Obwol dieses noch eine zusammenhängende Schicht bildet, in welcher Kerne und Körnchen vorkommen, so sind die Zellgrenzen doch ganz verschwunden. Dass sie aber noch bestehen, beweisen die bekannten Versilberungs- präparate. Wichtige Veränderungen treten nun aber im Coenoblastem ein. Unterhalb seiner obern Durchbruchsstelle entsteht eine kleine runde Lücke, welche von besondern anders gebauten Zellen begrenzt wird. Es hat sich durch diesen Vorgang das Coenoblastem in Ento- 74 Kopermicki, Knochen und Schädel der Ainos. und Mesoderm zerlegt. Der so von Entodermzellen ausgekleidete Hohlraum vergrößert sich und durchbricht die Oberfläche: es stoßen dann Ento- und Ektoderm hier zusammen. Wir haben also jetzt eine junge Spongie, die unten hauptsächlich mittels des Mesoderms festsitzt, welches an den freien Stellen vom Ektoderm bekleidet wird. Oben befindet sieh die Mundöffnung, die in den Magen führt; die ganze innere Wand ist von Entodermzellen bekleidet. An dem so ausgestatteten Schwamm beobachtete Marshall, dass an der Magen- wand 4-6, radiär angeordnete Divertikel entstehen, welche ebenfalls von entodermalen Zellen ausgekleidet sind. Der großen Aehnlichkeit mit Actinien wegen nennt Verf. dieses Stadium Protaetinie. Dergleichen Ausstülpungen des Magens treten nun mehrere auf; die Ausstülpungen selbst können wieder Divertikel bekommen u. $. W., bis sie „schließlich mit der Magenhöhle nur durch einen engen Gang zusammenhängen.“ Die Divertikel sollen nın am Ende ebenfalls enge Gänge bilden, welche Gänge in das Mesoderm fortdringen; das Mesoderm durchbrieht dann wieder das Ektoderm, und erst dann sollen die mit Entodermzellen ausgekleideten Gänge das Mesoderm durchbrechen und so ganz wie bei der Mundbildung mit dem Ekto- derm in Verbindung treten. Das ganze Gastrovaseularsystem ist also von Entoderm ausgekleidet; an dessen Bildung beteiligt sich das Ektoderm nicht. Diese Angabe stimmt bekanntlich nicht mit den bisherigen An- nahmen überein. Umsomehr war deshalb eine genauere Beschreibung der Art und Weise geboten wie die Kanäle, besonders die sogenannten zuführenden Kanäle enstehen. Marshall’s Behauptung: das Gas- trovaseularsystem sei nur vom Entoderm ausgekleidet, scheint uns zu apodiktisch. Ist doch die Sache unter dem Mikroskop nicht so leicht zu sehen, als auf seinen Tafeln. Marshall hat in seiner Arbeit viele neue Sachen ans Tageslicht gebracht, hat aber seine von den bisherigen doch sehr abweichenden Befunde nicht genügend bewiesen. Genauere Nachsuchungen, den verschiedenen Stadien Schritt für Schritt folgend, scheinen also wünschenswert. 6. €. J. Vosmaer (Neapel). J. Kopernicki, Ueber die Knochen und die Schädel der Ainos. Denkschriften d Akademie d. Wissenschaften zu Krakau. 4%. Krakau 1882. Bd. VII. S. 27-68. Taf. I—V. polnisch. Das Volk der Ainos bewohnt den nördlichen Teil der Insel Yezo, die Südspitze der Insel Sachalin und einige Kurileninseln. Es unter- scheidet sich von den von allen Seiten umgebenden mongolischen Völkern durch seine dunklere Hautfarbe, seinen höchst üppigen Haar- wuchs, seinen dieken langen Bart, kolossalen Scehnurrbart und seine Kopernicki, Knochen und Schädel der Ainos. 76) mehr europäischen als asiatischen Gesichtszüge, die nach Anutschin den Gesichtszügen der Großrussen an der obern Wolga sehr nahe stehen. Die Ainos sind erst von Prichard nach den Berichten von Krusenstern und Siebold genauer charakterisirt worden. Seit die- ser Zeit wurden von Busk, Davis, Virchow, Dönitz und Anut- schin zwei Skelete und 13 Schädel (1 Skelet und 7 Schädel aus Yezo, sowie 1 Skelet und 6 Schädel aus Sachalin) untersucht und beschrie- ben. Verf. erhielt von seinem Freunde Dr. Benedikt Dybowski ein beinahe vollständiges Skelet und außerdem 7 Schädel, sowie ver- schiedene einzelne Knochen. Auf seiner Reise nach Kamtschatka besuchte Dybowski die Insel Sachalin und benutzte die Gelegenheit, um dort für den Ver- fasser einige Knochen der Ainos zu sammeln. In der Nähe des Forts „Korsakow“, am Meerbusen Anima, suchte er einen Friedhof der Aino aus und deckte dort eigenhändig einige Gräber auf. Ueber den Friedhof der Ainos teilte Dybowski dem Verf. brieflich Folgendes mit: „Unglücklicher Weise sind bereits fast alle Gräber durch die dort stationirten russischen Soldaten untersucht worden, welche in den Gräbern der Ainos Silber- und Goldgegenstände zu finden hofften, die man mit den Leichen beerdigt. Aus diesem Grunde habe ich auch die Schädel außerhalb der Gräber ohne Unterkiefer gefunden; viele waren überdies in kleine Stücke zerschlagen. Es sind nur sehr wenige Gräber ganz unverletzt geblieben, namentlich solche, die mit Rasen bedeckt sind und deshalb schwieriger ausfindig gemacht und ohne Instrumente kaum aufgedeckt werden können, mit welchen man aber den Friedhof nicht besuchen darf, weil das Eröffnen der Gräber ver- boten ist. Dieses verspäteten Verbots wegen war das Untersuchen der Gräber für mich sehr schwierig, indem ich blos mit meinen Hän- den oder mit einem Stöckchen graben komnte. „Glücklicher Weise sind die Gräber der Ainos nicht tief. Sie er- scheinen vom Norden nach Süden orientirt; die Leiche wird mit dem Kopfe gegen Norden gebettet; an der rechten Seite des mit Rasen bedeckten Grabes werden drei niedrige Pfeiler eingepflanzt, die bis drei Zoll diek und 1—1!/, Fuß lang sind. An der linken Seite, zu Füßen der Verstorbenen befindet sich ein dünner, zugespitzter und tief in die Erde hineingesteckter Stock. Das obere Ende desselben ist in Form eines menschlichen Kopfes zugeschnitten mit zwei schrä- gen Einschnitten, die von innen nach unten und außen verlaufen, als ob man mit denselben zwei Thränenströme, oder vielleicht nur die Augen andeuten wollte. „Unter dem 1!/, Ellen dieken Rasen befinden sich gespaltene, nicht aber gesägte Planken, die auf andern Planken ruhen, welche die Wände des Grabes ausmachen, so dass die Leiche in einem leeren Raume liegt. Der Verstorbene liegt in denselben Kleidern, welche er 76 Kopemicki, Knochen und Schädel der Ainos. während des Lebens getragen, und ist mit denselben Schmuckobjekten versehen, welehe er während des Lebens benutzt hatte. An den Planken über dem Kopfe der Verstorbenen, habe ich je drei kleine, rot lackirte Holzschalen angetroffen und neben den Füßen desselben befand sich eine größere, ebenfalls rot lackirte Holzschale. An den Leichen habe ich je ein Messer, ein Feuerzeug, einen Feuerschwamm und eine Pfeife gefunden. „Die kleinen Knochen der Hände und der Füße sind fast alle morsch geworden, während sich noch das Gehirn in den Schädeln er- halten hat. In der Eile konnte weder der Anzug der Leiche, noch die Lage ihrer Hände bestimmt werden. „Die Skeletknochen sind bei den Ainomännern dick und kräftig gebaut, bei den Weibern erscheinen sie hingegen sehr zart. Die Länge der Extremitätenknochen weist darauf hin, dass die Ainos von Sacha- lin von kleiner Statur sind, indem die Männer von 162—167 cm, die Weiber eirca 158 em hoch sein dürfen. Die Beine sind im Vergleich zur Körperhöhe niedrig, und somit scheinen die obern Extremitäten länger zu sein, obwol sie eigentlich zur Körperhöhe in demselben Verhältniss stehen (nach Anutschin ‘32,8, nach Davis ‘'34,2) wie bei den europäischen Völkern (33,6). Die Schienbeine erscheinen bei den Ainos stark plattgedrückt und im Vergleich zu den Schenkelbeinen bei den Männern kürzer als bei den Weibern. Das Schulterblatt ist brei- ter als bei den Europäern und das weibliche Becken steht dem der europäischen Weiber nahe, während es von dem der Ainoweiber von Yezo bedeutend abweicht. Die männlichen Schädel erscheinen im allgemeinen groß und schwer. Sie sind ohne Ausnahme deutlich dolichocephal und besitzen eine relativ enge schmale Stirn. Der Schädel ist in seinem mittlern und hintern Teile nicht sehr breit; seine Parietalhöcker treten wenig hervor und sein Hinterhauptsbein erscheint verschmälert und verlängert. Von der Stirne zur Ohrengegend nimmt die Schädelbreite allmählich zu und dann wieder ab, was für die dolichocephalen Schädel die Regel ist. Die Dolichocephalie ist hier frontal (dolichoee£phalie fron- tale Gratiolet), da im horizontalen Umfange der Stirnteil überwiegt. Die Höhe des Schädels wechselt in ziemlich weiten Grenzen, steht aber der Breite desselben wenig nach. Das Gesicht zeigt keine so bedeutende Breite im Vergleich zu der Länge desselben wie bei den mongolischen Völkern. Die Breit- gesichtigkeit (Eurygnathismus) hängt bei den Ainos hauptsächlich von der verhältnissmäßigen Breite der Jochbeine und Jochbogen ver- glichen mit dem schmalen Vorderteile des Schädels ab; der Kopf der Ainos ist entschiedener pyramidal wie bei den mongolischen Racen und den Eskinos. Die Nasenöffnung ist von mittlerer Breite, die Orbitae von mitt- Bardeleben, Das allgemeine Verhalten der Venenklappen. ur lerer Höhe. Der Unterkiefer besitzt einen langen Körper, sehr stumpfe Winkel und seine Aeste weichen nach oben auseinander. Die weiblichen Schädel der Ainos, die kleiner, leichter und zarter sind, zeigen neben den gewöhnlichen weiblichen Merkmalen ganz den- selben Bau wie die männlichen mit geringen Abweichungen. Die Schädel der Ainos sind mit einem Worte dolichocephal und daneben zeichnen sie sieh durch einen größern oder geringern Progna- thismus, sowie durch einen deutlichen Eurygnathismus aus. Nach Berichten der Augenzeugen erscheinen die religiösen Vor- stellungen der Ainos als ein entarteter, roher Fetischismus. Diese Vorstellungen beruhen auf Verehrung einer Menge guter und böser Geister oder Götter, wie des Gottes der Sonne, der Sterne, des Meeres, auf Verehrung des Hausbeschützers, der See- und Landtiere und Pflan- zen, sowie der Waldtiere. Die Aino haben auch keinen Begriff von dem Fortleben der Seele nach dem Tode und dementsprechend auch keinen Totenkultus. A. Wrzesniowski (Warschau). Das allgemeine Verhalten der Venenklappen. (Distanzgesetz. Eingehen der Klappen). Fabricius ab Aquapendente!), welcher die Venenklappen nicht entdeckt, sondern nur zuerst ausführlicher beschrieben und ab- gebildet hat, ohne indess ihre physiologische Bedeutung zu erkennen, da er das Blut in den Venen noch vom Herzen zur Peripherie strömen lässt, — Fabricius nennt als Klappendistanz: 2, 3, 4 Fingerbreite, das wären ea. 35, 55, 75 mm. Nach Haller?) befinden sich die Klappen bald an der Einmündung von Aesten, bald fern davon; „tiefe“ Venen sollen nach ihm fast gar keine Klappen haben! J.F. Meckel?) erwähnt, dass man manchmal „einen kleinen Vorsprung als Rudiment“ der Klappen findet. Salter*) unterscheidet zwei Arten von Klappen, solche an der Einmündung von Aesten und solche innerhalb des Ve- nenkanals. Ueber die Anzahl der Klappen, die sich in einigen Venen der untern Extremität des Menschen (Saphena magna, parva; Poplitea; Femoralis) finden sollen, macht zuerst positive, aber vollständig wert- lose Angaben B. Geo. M’ Dowel°’), Ein schwedischer Forscher Wahlgren, dessen in schwedischer Sprache erschienene Monographie®) über die allgemeine Anatomie des Venensystems wenig Beachtung ge- 1) De venarum ostiolis. Patavii, MDCII. fol. 8 Taf. 2) Elementa physiologiae. Vol, I. p. 123—149. 3) Handbuch der menschlichen Anatomie. 1. Bd. 1815. S. 257. 4) In Tood’s Cyclopaedia of Anatomy and Physiology. Vol. IV. London 1847—1852. Art. Vein. S. 1367—1403. 5) Ebenda. Art. Venous system. S. 1403—1415. 6) Kort framställning af vensystemets allmäna anatomi. Lund. 1851. 718 Bardeleben, Das allgemeine Verhalten der Venenklappen. funden zu haben scheint, hat die Klappen in einigen Venen gezählt, dabei auch konstatirt, dass ihre Abstände in verschiedenen Venen, wie an verschiedenen Stellen derselben Vene (Saphena magna) sehr wechselnde sind. Die Venae plantares profundae wie die Venen der Wadenmuskulatur erhalten durch die zahlreichen Klappen ein „perl- schnurartiges Aussehen“. Die tiefen Unterschenkelnerven haben Klap- pen „in fast jedem halben Zoll ihrer Länge“. Die Klappen liegen „in größern Gefäßen gewöhnlich dieht unter der Einmündung eines Astes.“ Die Zahl der Klappentaschen gibt W. zu 1-3 an. Ganz speziell mit den Venenklappen beschäftigt sich die Dissertation von Houz& de YAulnoit!). Er spricht von „unentwickelten“* Klappen, denen er die „Proteetion contre la distension“ zumisst. Die Klappen stehen „presque constamment“ an den Astmündungen und zwar 4—5 mm davon entfernt. Im Allgemeinen sei die Zahl der Klappen dem Durchmesser der Venen umgekehrt proportional (Chassaignaec). Messungen einzelner Klappendistanzen hat Houz& de PAulnoit nicht angestellt, sondern er hat bei einigen (erwachsenen) Individuen die Länge mehrerer Venen und die Zahl der dort vorhandenen Klappen bestimmt, dann erstere durch letztere dividirt und so eine durch- schnittliche Klappendistanz berechnet. Diese schwankt für die einzelnen Kategorien (Haut-, tiefe, Muskel-Venen, große Stämme) zwischen 20 und 84 mm an der untern, zwischen 27 und 52,6 mm an der obern Extremität. Auch Friedreich’s?) Untersuchungen beziehen sich zwar auf die Häufigkeit der Venenklappen in bestimmten und zwar sehr weiten Venen, auf ihr Vorhandensein an einer bestimmten Stelle, Verände- rungen der Klappen, die zur Insuffizienz führen u. dgl., nicht aber auf etwaige Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit in den Abständen. Es ist eine auf großes Material (185 Leichen) gestützte Statistik, welche trotz großer Zahlen zu keinem allgemeinen Resultate geführt hat, das wol aber auch nicht beabsichtigt war. So findet F. an 185 Leichen im obersten Abschnitt der V. ceruralis, vom Lig. Poupartii an 5 cm abwärts, 137 mal beiderseits, 26mal einseitig Klappen, welche „meist“ symmetrisch lagen und 128mal defekt waren. Er schließt daraus, dass man das Vorkommen von Klappen an der betreffenden Stelle „als ein der Regel sich näherndes Verhalten bezeichnen“ könne. An der Einmündung der V. profunda femoris fanden sich mit Aus- nahme von zwei Fällen stets suffiziente Klappen vor, an der Einmün- dung der Hypogastrica dagegen nur: „nicht selten“. 5mal auf 370 hatte auch die V. iliaca communis eine Klappe, niemals (auf 185) die V. eava inferior. Wie hieraus zu entnehmen ist, hat F. weder die 1) Recherches anatomiques et physiologiques sur les valvules des veines. These. Paris 1854. 4. 2) N. Friedreich, Ueber das Verhalten der Klappen in den Cruralvenen sowie über das Vorkommen von Klappen in den großen Venenstämmen des Unterleibes. Morphol. Jahrbuch, Bd. VII, S. 323—325. 1881. Bardeleben, Das allgemeine Verhalten der Venenklappen. 79 Klappendistanzen direkt gemessen, noch auch, wie Houz& de ’Aulnoit eine durehschnittliche Entfernung der Klappen durch Messung eines längern Venenstockes und Zählung der in demselben befindlichen Klappen zu bestimmen gesucht. Auch ist er der Frage, warum an einer bestimmten Stelle bei dem einen Individiuum eine Klappe sich befindet, bei dem andern nieht, — der eigentümlichen Erscheinung, dass an der Einmündung der Profunda in die Cruralis das Vorkom- men einer Klappe fast konstant, an der Einmündung der Hypogastrica „nicht selten“, innerhalb der Iliaca communis sehr selten (5:370, also 1,3 °/,) beobachtet wird, nicht näher getreten. Und doch war die Er- klärung für diese und andere Erscheinungen, die Jahrhunderte lang den Forschern ein Rätsel gewesen waren, schließlich ein Ei des Co- lumbus: An allen jenen Stellen sind ursprünglich Klappen vorhanden gewesen und noch an viel mehr Orten. Sie sind nur im Laufe des Wachstums allmählich emgegangen und zwar wol vorwiegend direkt mechanisch, daher je nach Alter, Individuen, Beschäftigung sehr ver- schiedene Befunde vorkommen und vorkommen müssen. Leider hat F. sein großes Material nieht mehr in extenso mitteilen können. Ref., der sich schon seit Jahren mit der allgemeinen Anatomie des Gefäßsystems, besonders der Venen beschäftigt hatte, veröffent- lichte im Jahre 1880 eine Abhandlung, in der das allgemeine Verhal- ten der Venenklappen, speziell ihre Distanzen an den Extremitäten- venen des Menschen auf einige sehr einfache Gesetze zurückgeführt werden *). Ref. hat eine große Reihe von Messungen (über 700) der Klappenabstände an menschlichen Individuen verschiedenen Alters und verschiedener Körperlänge angestellt. Ein großer Teil der so erhal- tenen Zahlenreihen wird mitgeteilt. Ein flüchtiger Blick auf diese zeigt zunächst, dass die Abstände der Venenklappen im Allgemeinen sehr verschiedene sind, wobei man sich bisher eben allgemein be- ruhigt hatte. Von der Idee ausgehend, dass aber doch hier wie an- derswo in der Natur statt der scheinbaren regellosen Willkür ein festes Gesetz herrschen müsse, ruhte Ref. nicht eher, als bis er ein solches gefunden und durch immer neue Beobachtungen sicher ge- stellt hatte. Alle Abstände der Klappen betragen das nfache (1-, 2-, 3- vielfache) einer bestimmten Grunddistanz. Diese Grunddistanz stehtingeradem Verhältnisse zu der Größe des Individuums oder vielmehr zu der Länge der Ex- tremität. Die Grunddistanzen an der obern Extremität verhalten sich demnach zu denen der untern Extremität desselben Individuums, wie die Längen der Gliedmaßen zu einander. Die Grunddistanzen gleichnamiger Venen verschieden großer Individuen verhalten sich ebenfalls 1) Karl Bardeleben, Das Klappendistanzgesetz. Jenaische Zeitschr. f, Naturwiss. Bd. XIV. 1880. S. 467—529. 80 Bardeleben, Das allgemeine Verhalten der Venenklappen. zu einander, wie die Längen der Extremitäten oder an- nähernd wie die Körperlängen. Bezeichnen wir kurz „Klappe“ mit Kl, „Distanz“ mit D, „Grund- distanz“ mit GD, „obere Extremität“ mit o, „untere Extremität“ mit u, „Länge“ mit L, verschiedene Individuen mit A, B, — so ist dem- nach = 2) KIDL,—=1n.,6D 2) GDo:GDu = Lo: Lu 3) GDA:6DB = LAo:LBo oder LAu:LBu oder annähernd —= LA :LB. Kennt man nun die Größe GD für eine bestimmte Körperlänge, so lassen sich alle andern Größen leicht berechnen. Für die mittlere Körper- resp. Extremitätenlänge des Erwachsenen hat sieh die Grund- distanz 5,5 mm für die obere, 7 mm für die untere Extremität er- geben. Je nach der Länge der Beine schwankte sie bei den unter- suchten Individuen zwischen 6,6 und 7,4 mm, für die Arme zwischen 5,2 und 5,5. Bei Kindern sind die Grunddistanzen natürlich geringer und ergab sich z. B. für ein 80 em langes Kind für die Armvenen eine Grunddistanz von 2,38 mm, für die Beinvenen von 2,95 mm, für Kinder von ca. 60 em dort 1,6 mm, hier 2 mm Grunddistanz. Hieraus ergibt sich nun ein neues Gesetz. — Wenn nämlich die Grunddistanz der Klappen in gerader Proportion zur Länge des Glie- des steht, so muss die Zahl der Klappen oder Klappenan- lagen (s.u.)an Arm und Bein desselben Individuums nicht nur, sondern auch verschiedener Menschen ein und die- selbe sein. Diese Zahl ist ursprünglich eine sehr große, nämlich über 100. Ehe wir weiter gehen, möge für die untere und obere Extremität je ein Beispiel für eine „tiefe“ oder „Begleitvene“, sowie für eine Hautvene folgen: V. tibialis antica (lateralis). Distanz Nr. der Kl. m em rn — n beobachtet | berechnet 2 13 44 2 3 7 7 1 4 22 21 3 5 28 28 4 6 14 44 2 m 7—8 7 Al 8 14 14 2 9 24 21 3 10 35—36 35 5 11 26—27 28 4 12 42 42 6 Summe 232 231 33 Bardeleben, Das allgemeine Verhalten der Venenkläppen. s1 V. ulnaris (ulnaris). Distanz Nr. der Kl. — n beobachtet | berechnet 2 41 der: 2 3 6 5,8 A 4 5 555 1 % 5,5—6 5,5 Al 8 ca. 10 alal 2 9 5,5—6 9,0 1 10 30 33 6 41 6—7 5,5 1 12 1555 16,5 3 13 25 22 4 14 3469 33 6 15 16 16,5 3 3 Summe | 169 | 170,5 | 31 Be Bei den oberflächlichen oder Hautvenen stellt sich das n bei der- selben Grunddistanz von 5,5 resp. 7 mm, meist sehr viel höher, wie folgende Beispiele zeigen sollen: V. saphena magna. Distanz Nr. der Kl. N n beobachtet | berechnet 8 90 | 91 13 9 22 21 3 10 55 56 8 41 20 21 3 12 70 70 10 13 120 119 | 17 14 51 we 49 7 Summe | 428 | 427 61 V. capitalis brachii (K. Bardeleben). CE Zus ne Üb anst E E ER PENETRE EEESENETEIRNERRER ST RERNRRF ER ER Distanz Nr. der Kl. — n beobachtet | berechnet 2 35 33 6 3 66 66 12 4 39 38,5 7 5 40 38,5 7 6 17—18 16,5 3 7 ca. 29 27,5 5 8 77 77 14 9 A 77 14 10 47—48 49,5 9 41 | 4AT—48 | 49,5 | 9 Summe | AT2—475 | 473 | 86 e2) 82 Bardeleben, Das allgemeine Verhalten der Venenklappen. Diese Beispiele mögen genügen, um zu beweisen, dass die oben aufgestellten Gesetze sich aus den Tatsachen ergeben. Indess, selbst wenn auch die beobachteten Distanzzahlen sämtlich in einfachem arithmetischen Verhältnisse zu einander stehen, alle durch dieselbe Zahl (GD) teilbar sind, so haben wir damit noch keine Erklärung für diese merkwürdige Erscheinung gewonnen. Dieselbe ergibt sich aber leicht, wenn wir zwei fernere Tatsachen berücksichtigen: erstens ist die absolute Zahl der in einer Vene vorhandenen Klappen bei Kindern und Embryonen eine sehr viel größere, als bei Erwachsenen; zweitens sind bei einiger Aufmerksamkeit in jeder Vene Klappen zu erkennen, die im Eingehen, im Verschwinden begriffen sind. Hieraus lässt sich folgern, dass ursprünglich die Klappendistanzen alle gleich, d. h. also Klappendistanz und Grunddistanz identisch sind, wie das ja a priori auch als das natürlichste anzunehmen ist; — ferner lässt sich mit Bestimmtheit nachweisen, dass ein großer Teil, ja die Majorität der Klappen im Laufe der Entwicklung, teilweise schon vor der Geburt, eingeht, verschwindet. Die Möglichkeit, dass alle der Grunddistanz entsprechenden Klappen de facto ausgebildet werden, ist nicht zu leugnen. Aber es ist auch sehr möglich, dass ein großer Teil schon beim Entstehen, noch ehe man von einer „Klappe“ sprechen kann, eingeht. Ref. vermutet, dass hier Vererbungsvorgänge eine Rolle spielen. Man könnte, indem man die ontogenetisch auf- tretenden mechanischen Schwankungen summirt, den Enderfolg der- selben, das Verschwinden der Klappen, als sich vererbend annimmt, mit einem Worte im Sinne der Deszendenztheorie, das phylogenetische Eingehen von Klappen sehr leicht erklären. Mag dem nun sein, wie es wolle, jedenfalls steht fest, dass eine enorme Anzahl von Klappen intra vitam eingeht. Die Vernichtung von Organteilen wie von Or- ganismen oder Keimen zu solchen ist ja nun in der Natur nichts un- gewöhnliches, wie an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt zu werden braucht. Interessant dürfte aber doch der Hinweis auf ganz ähnliche Vorgänge bei den Herzklappen von Fischen, Dipnoern und Am- phibien sein. Boas!) hat das ontogenetische und phylogenetische Eingehen der Klappen im Conus arteriosus bei Ceratodus, Protopterus, Lepido- steus, Polypterus, Anica, Butirinus, sowie bei Urodelen und Anuren nachgewiesen. Bedenkt man, dass es im Conus sich um eine Reduk- tion von einigen sechzig Klappen auf einige wenige handelt, so wird das Eingehen von Venenklappen im Verhältniss von 5 oder 3:1 nicht besonders auffallend erscheinen. Wenn wir aber erfahren, dass die 4) Boas, Ueber Herz und Arterienbogen bei Ceratodus und Protopterus,. Morpholog. Jahrb. VI. S. 321—354. mit Taf. — Derselbe, Ueber den Conus arteriosus bei Butirinus und bei andern Knochenfischen. Ebenda S. 527—534. 1 Taf. — Derselbe, Ueber den Conus arteriosus und die Arterienbogen der Amphibien. Ebenda Bd. VI, 8. 483—572. 2 Taf. Bardeleben, Das allgemeine Verhalten der Venenklappen. 85 Saphena bei einem Kinde von 80 cm Länge 16, bei einem Erwachsenen 4 Klappen hatte, wenn wir bei einem Individuum Strecken von 366, ja von 442 mm ohne Klappen finden, wo bei einem andern, ja sogar wo an der andern Körperseite 5 oder 10 Klappen persistirten, so ist das alles nur eine Bestätigung für die unter gewissen Umständen (Alter, Beschäftigung, Individuen) variabel große, aber im Allgemeinen kon- stante und zwar sehr große Abnahme der Klappenzahl im Laufe des Daseins des Individuums, vielleicht der Art. Nach dem dritten embryonalen Monat scheint eine Neubildung von Klappen nicht mehr stattzufinden, sicher dagegen tritt vom fünf- ten Monat an eine Rückbildung ein. An den Stellen der frühern Klappen findet man dann später nur noch einen narbenähnlichen Saum an der Venenwand, der dem angehefteten Rande der Klappe entspricht, oder es ist nur noch vermittels des Mikroskops möglich, in der Ge- fäßwandung die betreffenden Stellen zu erkennen. — Auf die mannig- fachen mechanischen Einwirkungen, denen die Venenklappen ausge- setzt sind und die zu ihrem Eingehen führen oder beitragen, sei hier nicht weiter eingegangen. Klappenfreie Stellen oder nur mit Klappen- rudimenten besetzte findet man vornehmlich an den Gelenken, also dort, wo die stärksten Längs- oder Querdehnungen auftreten, sowie an der Einmündung größerer Aeste. Für das Walten rein meehani- scher Kräfte spricht (ohne, wie oben ausgeführt, die Vererbung aus- zuschließen) die vielfach beobachtete Verschiedenheit zwischen rechter und linker Körperseite. Ferner kehrt das Eingehen der Klappen an der Mündung größerer Aeste, manchmal nur als distale Verschiebung der Klappe angedeutet oder vorbereitet, so oft wieder, dass man auch hier kaum umhin kann, an einen Zusammenhang zwischen dem Zu- fluss des Blutes aus dem großen Aste und den Veränderungen an der Klappe zu denken. Das Eingehen der Klappen betrifft vorwiegend die großen, solitär verlaufenden Hautvenen. Jedoch gibt es auch tiefe oder Begleitvenen, in denen wenig Klappen persistiren, so die Femoralis profunda, Brachialis, Peronea. Die zuerst angelegten (pri- mären, Ref.) Hautvenen sind lange Zeit, so an der obern Extremität noch um die Zeit der Geburt, den tiefen Venen an Kaliber überlegen, dort werden die Klappen sowol längs wie quer weit mehr gedehnt als hier. Die Begleitvenen sind durch ihre Kleinheit anderweitig ge- schützt; werden sie unverhältnissmäßig ausgedehnt (permanent), so werden auch die Klappen gedehnt und verschwinden. Ursprünglich mündet über (proximal von) jeder Klappe ein Ast und unter (distal von) jeder Asteinmündung liegt anfänglich eine Klappe oder doch eine Klappenanlage. Das eben besprochene Eingehen oder die distale Verschiebung der Klappen einerseits, das relative Kleiner- werden, Kleinbleiben, vielleicht auch vollständige Verschwinden eines Astes andrerseits erklären zur Genüge, warum beim Erwachsenen so viele scheinbare Ausnahmen von dieser Regel sich finden. 6 * 84 Bubnoff und Heidenhain, Exner, Erregung und Hemmung. Ast und Klappe entsprechen sich demnach ursprünglich genau an Ort und Zahl. Die Venen bestehen aus einer Summe von Abteilungen, Segmenten, deren jedes aus einem Stück zylindrischer Wandung, einer kegelförmigen Erweiterung (Sinus), einer Asteinmündung und einer Klappe mit zwei Taschen gebildet werden. Uebrigens haben die Ar- terien die ursprüngliche Regelmäßigkeit in den Distanzen der Aeste mit den Venen gemein. Die Klappen bestehen mit sehr geringen, nur scheinbaren Aus- nahmen, immer aus zwei Taschen. Die bisherigen Angaben über eine oder mehr Taschen lassen sich darauf zurückführen, dass ent- weder die eine kleinere Tasche übersehen wurde, oder dass sie ein- gegangen war. Schließlich sei noch erwähnt, dass auch die Lymphgefäßstämme der Extremitäten, sowie des Duetus thoracicus regelmäßige Klap- pendistanzen zeigen. Bei letzterm konnte nur teilweises Eingehen der Klappen nachgewiesen werden. Karl Bardeleben (Jena). N. Bubnoff und R. Heidenhain, Ueber Erregungs- und Hem- mungsvorgänge innerhalb der motorischen Hirnzentren. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiologie XXVI. S. Exner, Zur Kenntniss der Wechselwirkung der Erregungen im Zentralnervensystem. Ebenda Band XXVI. Nachdem durch vielfache Untersuchungen des letzten Dezenniums eine funktionelle Differenzirung der Großhirnrinde festgestellt worden war und sich gezeigt hatte, dass diese Differenzirung unter Anderm auch durch elektrische Reizung insofern zum Ausdruck kommt, als von verschiedenen Rindenanteilen verschiedene Muskelgruppen in Aktion versetzt werden können, lag es nahe, erstens die Art dieser Erregun- gen, zweitens ihre Wechselbeziehung zu andern Erregungen etwas ge- nauer zu studiren. Hiemit beschäftigen sich die beiden genannten, unabhängig von einander unternommenen Experimentaluntersuchungen. Bubnoff und Heidenhain suchen zunächst eine Antwort auf die Frage: „gibt es motorische Rindenzentren“. Es wurde nämlich nach Bekanntwerden der Reizerfolge, welche Fritsch und Hitzig erzielten, wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass dieselben mög- licherweise nicht auf Reizung eines „nervösen Zentralorgans“ beruhen, ja dass man durch Reizung der weißen Stabkranzfasern, welche un- ter einem sogenannten „Zentrum“ der Hirnrinde liegen, denselben Reizerfolg erzielen könne, wie durch Reizung dieses „Zentrums“ selbst. Bubnoff und Heidenhain, Exner, Erregung und Hemmung. 5 Wenn auch nach der bekannten anatomischen Anordnung kaum mehr zweifelhaft sein konnte, dass der über jenen weißen Fasern liegende Rindenanteil dessen Reizung z. B. Bewegung der Vorderpfote eines Hundes auslöst, auch zu dieser Vorderpfote in direkter Beziehung steht, so war doch die Frage noch zu entscheiden, ob in den ursprüng- lichen Reizversuchen des Gehirns, bei welchen die Elektroden der Oberfläche desselben angelegt worden, Fasern erregt werden, welche ohne weitere zentrale Verbindungen in den Stabkranz eintreten, oder ob der gesetzte Reiz noch irgendwelche Zentralorgane zu passiren hat, ehe er die Rinde verlässt. Die Antwort auf diese Frage lautet: der Angriffspunkt des Reizes ist entweder selbst nervöses Zentral- organ, oder (falls er aus den Fasern der Gehirnrinde besteht) es liegt ein solches zwischen ihm und dem Stabkranz. Der Beweis hiefür liegt in einer schon von Francois-Franck und Pitres aufgedeekten Tatsache, die darin besteht, dass die Reizung, wenn sie die Rinde trifft, erstens nennenswert länger braucht, um bis zu dem Muskel zu gelangen, zweitens eine anders gestaltete Zuckung auslöst, als wenn sie die Stabkranzfasern trifft. B. und H. bestätigen diese Ergebnisse von Frangois-Franck und Pitres, widersprechen aber einem andern von diesen Autoren ausgesprochenen Satz, näm- lich dass die Zeit, welche vom Momente der Reizung bis zum Beginn der Muskelzuekung vergeht, unabhängig sei von der Intensität der Erregung. Vielmehr sinkt diese Zeitdauer (sie zählt nach Hunderteln von Sekunden) bei Steigerung der Reizintensität. B. und H. finden weiter, dass die Rinde in hohem Grade die Eigenschaft hat, Reize zu summiren. Elektrische Schläge, welche so schwach sind, dass jeder für sich keine Muskelzuckung auszulösen vermag, sind im Stande kräftige Reaktionen zu erzeugen, wenn sie rasch aufeinander folgen. Die Summation tritt um so leichter ein, je kürzer das Reizintervall ist. Nicht blos elektrische und von der Hirnrinde ausgehende Reize hinterlassen eine Nachwirkung, welche der nächstfolgenden Erregung zu gute kommt, sondern jede Art der Reizung, welche eine Zuckung auslöst, z. B. eine Reflexreizung oder auch eine spontane. Die Versuche, welche zu den angeführten Resultaten führten, wurden wie üblich an Hunden angestellt, die mit Morphium narkoti- sirt waren. Es ist bekannt, dass manche Hunde (und wie ich bei- fügen will, auch Kaninchen) durch Morphium in einen Zustand ge- raten, welcher in gewissem Sinne dem gewöhnlichen Verhalten ge- radezu entgegengesetzt ist; sie erfahren eine Steigerung ihrer Reflex- erregbarkeit. Bei solchen beobachtete B. und H. die geringsten Werte für jene vom Momente der Reizung bis zur Auslösung der Zuckung verfließende Zeit; sie sinkt bis auf 0,02 Sekunden herab. Andrerseits bewirkt das Morphium bisweilen eine auffallende Langsamkeit der durch Reizung ausgelösten Bewegungen und an solchen Tieren ist die Zeit, welehe zwischen Rindenreizung und Muskelzuckung verfließt eine S6 Bubnoff und Heidenhain, Exner, Erregung und Hemmung, besonders lange; in einem speziellen Falle beträgt sie 0,17 Sekunden. Die Reizung der unter der Rindenstelle gelegenen weißen Fasern zeigt, dass die Verzögerung des Beginns und des Verlaufs der Muskelaktion zum großen Teil der Hirnrinde zuzuschreiben ist, und da schon bei den gewöhnlichen Narkosen die Rinde den Eintritt der Zuekung ver- zögert, wie der Vergleich mit den Reizeffekten der Stabkranzfasern zeigte, so nehmen B. und H. an, dass die Erregungen im Gehirn ge- wöhnlich unter hemmenden Einflüssen stehen. Sensible Reizungen, wie Zerrung des Nerv. ischiadieus oder Druck auf die Bauchwandungen bewirken oft (nicht immer) Verzögerung des Eintritts der Kontraktion, Verlängerung und Verflachung der Zuckungs- kurve. Besondere Beachtung verdienen die Versuche, welche sich auf die Erregbarkeitsänderungen infolge sehr schwacher Reize beziehen. Ein elektrischer Strom wird soweit abgeschwächt, dass er auf die Hirn- rinde applizirt, keine oder eine sehr geringe Zuckung in dem zur Be- obachtung gewählten Pfotenmuskel hervorruft. Dieser Strom: bewirkt eine kräftige Aktion des Muskels, wenn kurz vor seiner Einwirkung sanft mit der Hand über die Pfote gestrichen wurde. Aehnliches, wenn auch nicht in so hohem Grade, bewirkt das Streichen der Haut auf der gleichseitigen Bauch- oder Brustseite. In andern Fällen kann man den gegenteiligen Effekt sehen. Bei manchen Tieren bringt nämlich ein Reiz, der sonst nur eine Zuckung im Pfotenmuskel hervorruft, eine dauernde Kontraktur dieses Muskels zu stande und streicht man in einem solchen Falle über die Pfote, so gewahrt man ein plötzliches Nachlassen der Kontraktur, also eine Aufhebung der Erregung. Denselben Effekt kann man gelegentlich durch akustische Eindrücke erreichen oder indem man dem Hund kräftig ins Gesicht bläst, oder den N. ischiadieus sehr schwach durch elektrische Ströme reizt. Doch nicht blos von der Peripherie her kann die Erregung ge- hemmt werden. Ist der Muskel dureh intensive Reizung der betreffen- den Rindenstelle in Kontraktur versetzt worden, so gelingt es durch schwache Reizung derselben Rindenstelle die Kontraktur auf einmal oder absatzweise zu lösen. Doch ist es nieht nötig das „Zentrum“ selbst zu reizen um die Lösung zu bewirken, auch von entferntern Anteilen der Rinde aus gelingt dies. Die Verfasser knüpfen an die hier ihrem wesentlichsten Inhalte nach mitgeteilten Versuchsergebnisse Betrachtungen über die Erre- gungsvorgänge in den nervösen Zentralorganen, die sich im Auszuge nicht wol mitteilen lassen. Nur das mag erwähnt werden, dass sie jede Erregung in der Hirnrinde als von Hemmungsvorgängen beglei- tet betrachten und dass sie in dem richtigen Gleichgewicht zwischen diesen beiden antagonistischen Aktionen das Charakteristikum der nor- mal funktionirenden Hirnzentren sehen, während sie in der Störung Bubnoff und Heidenhain, Exner, Erregung und Hemmung. 87 dieses Gleichgewichts die Erklärung von hypnotischen sowie von hy- sterischen Zuständen finden. Die zweite der obengenannten Abhandlungen, welche von mir her- rührt, beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Studium einer Erschei- nung, die ich im Gegensatze zur Hemmung „Bahnung“ nenne. Sie besteht darin, dass der Ablauf eines Reizes im Zentralnervensysteme Bahnen derselben, auf die er sich erstreckt, für kurze Zeit in einen Zustand versetzt, in welchem sie für einen zweiten Reiz erregbarer sind. Sucht man z.B. bei einem Kaninchen diejenige Stelle der Groß- hirnrinde auf, bei deren Reizung die schwächsten Ströme nötig sind, um einen bestimmten Muskel der gegenseitigen Pfote!) in Aktion zu versetzen und reizt dieselbe mit einzelnen Induktionsschlägen, so er- hält man jedem Reiz entsprechend eine Zuckung des Muskels. Der- selbe Muskel kann auch reflektorisch zu Zuckungen angeregt werden, indem man durch einzelne Induktionsschläge eines andern Stromkreises die sensiblen Fasern der Pfote in der Pfote selbst reizt. Bestimmt man in einem gegebenen Fall die Höhe der Reflexzuckung und lässt dann kurz ehe wieder eine Reflexzuekung ausgelöst wird, einen Reiz auf die genannte Stelle der Rinde wirken, so dass zwei Zuckungen auf einander folgen, so zeigt sich die Reflexzuckung erhöht, d. h. der von der Rinde zum Muskel fließende Reiz hat den Ablauf des Reflex- reizes von den sensiblen Nerven der Pfote zu dem Pfotenmuskel be- günstigt, er hat „bahnend“ gewirkt. Umgekehrt kann man den Effekt der Rindenreizung erhöhen, wenn kurz vorher eine Reflexzuckung ausgelöst worden war. Man kann die Tatsache der „Bahnung“ auch in der Weise demonstriren, dass man z. B. den Reflexreiz so schwach macht, dass er allein gar keine Zuckung auslöst, geht ihm aber eine von der Rinde aus hervorge- rufene Zuckung voraus, so tritt jetzt die Reflexzuckung ein. Ja man kann beide Reize so schwach machen, dass keiner für sich allein wirksam ist. In ihrer Aufeinanderfolge ist der zweite wirksam. Diese Erscheinung der „Bahnung“ tritt um so deutlicher hervor, je kürzer das Intervall zwischen den beiden Reizungen ist, wird das- selbe aber größer als eine Sekunde, so ist sie, wenigstens unter der angewendeten Versuchsanordnung, nicht mehr sicher nachweisbar. 4) Ich will bei dieser Gelegenheit ein literarisches Uebersehen berichtigen. Ich habe nämlich im Jahre 1881 (vergl. Biol. Centralbl. Bd. I. S. 635) durch Versuche am Kaninchen, die schon früher von mir für den Menschen festge- stellte Tatsache erhärtet, dass die Rinde einer Hemisphäre mit Muskeln beider Körperhälften in Verbindung steht. Ich konnte nämlich beim Kaninchen durch Reizung z. B. des rechten Rindenfeldes der Vorderpfote nicht nur die linke, sondern auch die. rechte Pfote in Aktion versetzen. Bei der betreffenden Publikation hatte ich übersehen, dass schon vor mir Frangois-Franck und Pitres in der oben zitirten Abhandlung analoge Versuche mit demselben Er- folg an Hunden angestellt hatten. 88 Zur Begriffsbestimmung organischer Individuen. Im angeführten Falle ist den gangbaren Vorstellungen entsprech- end der von der ersten Erregung zurückgelegte Weg innerhalb des Zentralnervensystems teilweise identisch mit dem von der zweiten Erregung durchflossenen. Weniger auffallend, aber wahrscheinlich we- sentlich von derselben Art sind die Verhältnisse in den folgenden Beispielen. Reflexzuckungen eines Pfotenmuskels, ausgelöst durch elektrische Reizung der sensiblen Pfotennerven, werden erhöht, wenn kurz vor Eintritt des Pfotenreizes ein intensiver Schall das Ohr des Kaninchens trifft. Ich sage, dass diese Art der Bahnung wesentlich von derselben Art sein dürfte, wie die obige, weil es möglich ist, auch durch den Schallreiz allein, wenn seine Intensität nur groß genug ist, Reflexe in den Pfotenmuskeln (sowie auch in andern Körpermuskeln) hervor- zurufen. Jener akustische Reiz dürfte sich also mit Rücksicht auf die darauffolgende Pfotenreizung ähnlich verhalten wie der oben an- geführte Hirnrindenreiz, der für sich allein zwar unzureichend war, eine Zuckung auszulösen, aber doch bahnend gewirkt hat. Eine Reflexzuckung, die durch eine vorhergehende Rindenreizung verstärkt ist, wird noch weiter verstärkt, wenn außer dem Rindenreiz auch noch ein akustischer Reiz vorausgeschickt wird. Die Reflexzuckungen des rechten Pfotenmuskels werden ferner verstärkt durch vorausgehende elektrische Schläge, welche die linke Vorderpfote oder eine der beiden Hinterpfoten treffen. Zwei Reize, welche denselben Angriffspunkt haben, z. B. zwei elektrische Schläge, welche die Hirnrinde oder die sensibeln Fasern der Pfote in nicht zu großem Zeitintervall treffen, zeigen ebenfalls die genannte Erscheivung; in dieser Form ist dieselbe schon lange bekannt und als „Summation der Reize“ eingehend studirt. Den Schluss der Abhandlung bildet eine Diskussion über die Begriffsbe- stimmung von „Summation der Reize“ einerseits und „Bahnung“ andrerseits. Auf die Versuchseinrichtungen, welche in den beiden referirten Arbeiten verwendet wurden, glaubte ich hier nicht eingehen zu sollen. Sigm. Exner (Wien). Zur Begriffsbestimmung organischer Individuen. 4) $S. Philipp, Ueber Ursprung und Lebenserscheinungen der tierischen Organismen; Lösung des Problems über das ursprüngliche Entstehen organi- schen Lebens in unorganisirter Materie. Leipzig, Ermst Günther’s Verlag 1883. 12. 179 Seiten. 3 Mark. (Nr. 14 in der Reihe der von der Verlagsbuchhandlung herausgegebenen Darwinistischen Schriften). — 2) Ed. Montgomery, 1. The Substance of Life („Mind, a Jourmal of Psychology and Philosophy“. July. 4881). — 2. The Unity ofthe organic Individual. — 3. Causation and its organic Zur Begriffsbestimmung organischer Individuen. 89 Conditions. — Are we „Cell-aggregates“? (Ebenda, die letztern Abhandlungen Separatabzüge ohne genauere Angabe des Jahrgangs. Endlich derselbe: 'The elementary Functions and the primitive Organisation of Protoplasm, St. Thomas’ Hospital Report for 1879). Aus dem anregenden und dankenswerten Buch des Herrn Philipp wollen wir hier nur ein Kapitel, das uns für die Biologie von beson- derm Interesse erscheint, ausführlicher besprechen. Die Methode des Verf.’s ist fruchtbar, man könnte sie mit der entwieklungsgeschicht- lichen in den morphologischen Wissenschaften vergleichen. Indem er das Werden untersucht, gewinnt er Aufschlüsse, welche die philo- sophische Betrachtung bisher vergebens suchte. So lange ein Orga- nismus selbständig ist, besitzt er ein Ich, mag dasselbe je nach den verschiedenen Abstufungen der Selbständigkeit sich schärfer oder schwächer ausgebildet erweisen. Ein Organismus bringt um so ener- gischer ein Ich zum Ausdruck, je weniger selbstständig seine Teile sind, je höher also der ganze Organismus differenzirt ist. So wird das Ich einer Alge nicht auf derselben Stufe stehen mit dem einer Blattpflanze, und dasjenige einer Qualle wiederum nicht auf derselben Stufe mit dem eines Fisches. Gewaltig sind endlich die Verschieden- heiten des Ich in den einzelnen Lebensperioden eines und desselben Organismus. Sicherlich ist der Unterschied sehr groß zwischen dem Ich eines spielenden jungen Tigerkätzchens und dem in seiner düstern Starrheit fürchterlichen Ich des erwachsenen Tiers, und man würde beide Darstellungen des Ich schwerlich in einen Zusammenhang bringen, wenn man diesen nicht kennte. Wie dem aber auch sein mag, welehe Unterschiede auch immer bestehen mögen, sobald wir in der bisherigen Weise nichts anderes aussagen, als dass ein Ding mehr oder weniger selbstständig sei, dass es überhaupt sei, dann wer- den wir keinen prinzipiellen Unterschied im Ich erkennen, sondern stets nur Abstufungen. Wo beginnen die Dinge, welche kein Ich mehr besitzen? Ohne Zweifel besitzt noch die Amöbe, das Moner ein Ich. Aber auch die Krystalle? In gewissem Maße auch noch diese. Sie besitzen ganz bestimmte Eigenschaften und außerdem eine ganz be- stimmte Form, welche nicht vernichtet werden kann, ohne dass man das Wesen des Krystalls aufhebt. Aber ist hier endlich die Grenze der Dinge, welchen ein Ich zuzuschreiben ist? sollen die amorphen Körper keines mehr besitzen? Wenn ihnen auch die Form abgeht, - so besitzen sie doch noch immer gewisse Eigenschaften der Außen- welt gegenüber, sie haben eine bestimmte Beschaffenheit; auch das Moner, ein strukturloses Eiweißklümpchen, besitzt keine bestimmte Form und doch spricht man ihm ein Ich nicht ab. Wenn wir also ganz davon absehen, ob ein Wesen eine Bewegung aus innern Grün- den habe, wie z. B. noch das Moner, oder ob es nur aus physikali- schen Ursachen bewegt werde, dann werden wir nie an eine Grenze kommen, wo die Dinge kein Ich mehr besitzen, wir werden nie finden, 90 Zur Begriffsbestimmung organischer Individuen. dass ein Naturding gegen die Außenwelt völlig gleichgiltig sei, nicht einmal die Flüssigkeiten, auch nicht die Gase. Worin ist nun eine Verschiedenheit im Ich organischer und an- organischer Körper begründet? Der organische Körper übt den Stoff- wechsel aus während der ganzen Zeit, welche wir sein Leben nen- nen. Hört der Stoffwechsel auf, dann sagen wir, der Organismus habe aufgehört zu sein. Beim anorganischen Körper dagegen sind wir ganz anderer Ansicht. Während der Körper aus einer chemischen Verbindung sich abscheidet, so lange er also noch ein Werden besitzt, wie die Organismen, so lange ist er für uns noch gar nicht da, noch gar nicht fertig. Erst wenn für ihn der Wechsel einen Abschluss erreicht hat, also das für ihn eingetreten ist, was wir bei den Or- ganismen Tod nennen, beginnt für uns seine Existenz, erst dann schreiben wir ihm eine Art von Ich zu. Es ist daher ganz natürlich, dass wir einen so himmelweiten Unterschied zwischen anorganischen und organischen Dingen finden. Wir stellen sie einander gegenüber nicht in Stadien, in welchen sie vergleichbar sind, sondern in so ver- schiedenen Stadien, dass sie gar nicht mit einander verglichen werden können; würden wir sie aber beide in der Zeit ihrer Entwicklung mit einander vergleichen, so möchten wir wol einige Uebereinstimmung zwischen ihnen finden. So aber gelangt man zu einer falschen Gegen- überstellung beider Naturreiche. Dieser Fehler unsrer Naturauffassung muss selbstverständlich viele andere schiefe Anschauungen zur Folge haben. Vor allem aber muss er da störend auftreten, wo sich das organische Leben vom anorganischen allererst abzweigt. Wenn wir hingegen den Organismus aus anorganischem Stoff herleiten, welcher im Zustande der Entwicklung befindlich ist, dann steht uns dieser Widerspruch nicht im Wege, und wir werden sowol für die Ur- zeugung, als auch für die Lebenserscheinungen der Organismen keine außergewöhnlichen Kräfte zu Hilfe zu rufen brauchen. — Der Ab- schnitt über das „Ich“, welchen wir hier dem Leser vorgeführt haben, ist dem Anhang der Schrift entnommen Was den Ref. veranlasst hat, gerade darnach zu greifen, ist der Wunsch, diese Darlegung des Ich sofort in eine naturwissenschaftliche Streitfrage von weittragen- dem Interesse hereinzuziehen, in diejenige von dem Unterschied zwi- schen Pflanze und Tier. Mit dem Fortschritt unserer Kenntnisse von den Lebenserschein- gen will bekanntlich die frühere scharfe Abgrenzung zwischen den beiden Reihen nieht mehr recht übereinstimmen. Der herkömmliche Begriff soll erweitert werden, nicht für das gewöhnliche Leben, wol aber für die Wissenschaft. Wenn wir auch ebensowenig wie der Laie in Verlegenheit geraten, eine Gartenschnecke von einem Lohpilz zu unterscheiden, so reichen wir doch nicht mehr recht aus mit dem alten Satz „plantae vivunt, animalia vivunt et sentiunt“, besonders dann, so- bald wir hinabsteigen in die Tiefen der sogenannten niedern Lebens- Zur Begriffsbestimmung organischer Individuen. 9 formen. Denn die Pflanzen empfinden eben auch, sie reagiren auf Reize; das Protoplasma so mancher Algen zeigt so überraschende Be- wegung, dass oft jahrelang der Streit währt, ob eine bestimmte Spe- zies den Ehrentitel „planta“ oder „animal“ erhalten soll. Uebergangs- formen, das sei besonders bemerkt, hat man aber doch bis heute noch nicht gefunden. Noch kein Zwitterwesen ist entdeckt, das halb Tier halb Pflanze gewesen wäre. Stets ist es nur Eines von Beiden. So oft auch die Schranke gefallen schien zwischen den beiden Reichen, es hat nicht allzulange gewährt, da wurde sie wieder aufgerichtet. Dieses seltsame Schauspiel erleben wir eben jetzt wieder. Ich erinnere an den Streit über die Natur der grünen Farbe vieler niederer Tiere'). Früher betrachtete man die grüngefärbten Körner und Bläschen als Chlorophyll, das die Tiere selbst produziren. Tiere sollten die Fähig- keit besitzen, Pflanzengrün zu produziren! Wäre dies richtig, so fiele für immer jede Schranke zwischen den beiden Reihen dahin. — So lange man dieser Ansicht huldigte, hatte die Aufstellung eines „Pro- tistenreiches“ eine gewaltige Stütze. Jetzt aber sehen wir durch eine Reihe vortrefllicher Arbeiten, welche durch eine seltene Ausdauer der Beobachtung und durch einen großen Scharfsinn in der Erfindung zuverlässiger Methoden getragen sind, den Beweis erbracht, dass die- ses Chlorophyll nicht von den Tieren erzeugt ist, in denen es vor- kommt, sondern dass diese grünen Körner parasitische Algen sind, die in den Körper der Tiere einwandern und sich dort vermehren und mit dem fremden Organismus leben. Diese wichtige Erkenntniss zeigt, dass hier nicht Uebergangswesen uns entgegen treten, nicht uralte Zeugen einstiger Verwandtschaft von Pflanze und Tier auf Grund allmählicher Entwicklung (also nicht ein Descendenzphänomen), sondern vollgiltige Vertreter beider Reiche, die miteinander leben können, aber nicht notwendig miteinander leben müssen. Also doch wieder die Schranke, die man schon beseitigt glaubte. Das Ich der Pflanze, selbst der niedersten Alge, und das Ich des Tieres, selbst der letzten Amöbe, ist eben ein grundverschiedenes. Vielleicht wäre es nicht ohne Nutzen, dieser philosophischen Betrachtungsweise des Ich auch in der Naturwissenschaft einen Platz zu gönnen; denn heute fehlt uns jedes Wort, um neben der großen physiologischen Uebereinstimmung’?) so mancher Lebenserscheinungen des Protoplasmas dennoch den fak- tischen Gegensatz beider Reiche auszudrücken. Damit wäre trotzdem die Vorstellung nicht ausgeschlossen, welche eine Entstehung dieser Unterschiede voraussetzt — ein Gewordensein. Sie fasst den 1) Das biologische Centralblatt hat mehrere Mitteilungen über diesen Gegenstand gebracht. 2) Ueber den Stand dieser Angelegenheit vergleiche die neueste Arbeit 0. Hamann, Zur Entstehung und Entwicklung der grünen Zellen bei Hydra. (Zeitschr. f. w. Zool. 37. Bd. Heft 3 S. 457. Mit einer Tafel.) 92 Zur Begriffsbestimmung organischer Individuen. Vorgang in das bekannte Bild, welches die Entstehung der verschie- denen Arten in dem Tier- und Pflanzenreich in Gestalt zweier von einem Punkt aus divergirenden Linien dem fragenden Geiste vorzeich- net. An dem postulirten Punkt schlummern die Kräfte beider organi- scher Reiche in dem Frieden einer und derselben lebendigen Proto- plasmascholle; darüber hinaus, den beiden divergirenden Linien ent- lang treten uns schon die verschiedenen Seiten eines verschiedenen „Willens“ entgegen — Pflanze und Tier. — In der philosophischen Betrachtung des Ich und seiner zahllosen Abstufungen läge vielleicht auch das Mittel zur Beilegung eines Streits, den Montgomery be- gonnen hat. Von der einsamen Farm Hempstead, Waller County, Texas, ruft er herüber, „wir sind keine Zellenaggregate, wie die Zel- lentheorie annimmt.“ Er kämpft gegen diese biologische Doktrin, die neuestens Huxley auf dem internationalen Kongress für Medizin wieder verkündigt hat, seit langen Jahren fruchtlos, obwol man die Berechtigung vieler seiner Einwürfe anerkennen muss. Ist denn die Einheit eines Organismus erklärt, wenn wir auch mit ganzer Selbst- verleugnung demütig bekennen, wir sind nichts andres als Zell- aggregate, die in ein harmonisches Zusammenwirken gebracht sind „by & coordinative machinery“? Von dem Standpunkt der Zellen- theorie ist überdies strenggenommen eine solche Auffassung gar nicht gestattet. Die Zelle ist als elementarer Organismus eine selbstständige physiologische Einheit. Alle Lebensvorgänge, deren sie fähig ist, spielen sich in ihrer eigenen engbegrenzten Individualität ab. Von außen kann sie nur durch Reize und Ernährung beeinflusst werden. Also kann eine Zelle das Leben der Nachbarin nur erregen durch einen Stimulus oder durch chemische Agentien. Die funktionelle Tätig- keit all der Billionen, welche den Leib eines höher entwickelten Or- ganismus ausmachen, müsste strenggenommen auf den kleinen Raum jeder einzelnen Zelle isolirt bleiben und keine sollte im Stande sein, von dem innern Leben der umgebenden Zellen irgend einen Gewinn zu ziehen. Jede schwelgt für sich und die „eoordinative machinery“ hätte einen verzweifelt schweren Stand gegenüber diesen Autono- misten, wenn die Zellentheorie in ihren letzten Konsequenzen im Recht wäre. Montgomery erinnert daran, wie allerdings selbst die Mus- keln ein schlagendes Exempel sind. Da ist eine ununterbrochene Zellenkette, in welcher die kontraktilen Elemente mit einander ver- bunden sind: Leiter einer Bewegung, welche durch einen Hautreiz hervorgerufen werden kann, und die überdies durch die Nervenzen- tren sich fortsetzt. Das ganze Nervensystem ist in Wirklichkeit von diesem Standpunkt aus betrachtet nur ein Netz von Zellenkomplexen, die lebendige Vibration hat nur den Effekt, von Zelle zu Zelle die- selbe Schwingung der Moleküle auszulösen. Allein das ist eben noch nicht koordinative Tätigkeit, sondern Leitung eines Reizes von Zelle zu Zelle. Wie aber, wenn eine Nervenzelle eine bestimmte innere Cattaneo, Zur Morphologie der Mollusken. 95 Bewegung durchmacht, die in ihrem Protoplasma sich abspielt „some inward experience to the cell itself“, so kann strenggenommen diese Zelle ihren Nachbarinnen nichts davon mitteilen, weder als Stimulus, noch als Nutritio, denn sie besitzt eine privilegirte Autonomie. Hier stehen wir offenbar vor einer innern Schwierigkeit der Zellentheorie denn wir haben kein Recht, die Nervenzellen als empfindende Mona- den anzusehen, von denen jede nur das Leben der andern maschinen- mäßig überträgt, sofern sich dies durch Vibrationen irgend welcher Art bemerkbar macht. Niemand wird läugnen, dass diese Einwürfe berechtigt sind; aber sie werden die Erkenntniss, dass jeder Zelle ein gewisses „Ich“ inne- wohne, niemals verdrängen können — nach unserer Ueberzeugung. Das ist und bleibt eine Eroberung der Zelltheorie. Um dieses Ich, um seine Grade und seine Art schärfer abzugrenzen und zu bestimmen, werden wir stets mit Freude den Ruf des gelehrten Farmers aus Texas vernehmen und mit Interesse seinen Studien folgen. Schließen wir diese Betrachtungen, die sich bei dem Lesen der Darwinistischen Schrift von $. Philipp aufdrängten und mit dem Geständniss, dass jedes ihrer Kapitel nach mehr als einer Seite hin uns Gewinn gebracht hat und — Genuss. Wer z. B. Vergnügen verspürt, wenn der Pessimismus unserer Tage und sein affektirter Trübsinn eine ordentliche Lektion erhält, der nehme den Schluss vor. Er wird neue Hoffnung schöpfen, dass auch diese traurige Weltan- schauung wieder überwunden werde und die armen gequälten Men- schenhäupter sich wieder erheben und freudig nach den Ufern hinaus- blicken, an denen die Freude wohnt, und die „Schönheit und die Tu- gend und das rein Menschliche“. Kollmann (Basel). G. Cattaneo, Le colonie lineari e la morfologia dei Molluschi. Biblioteca scientifica internazionale XXXII. Milano 1883. 8%. 4% 8. Vorliegendes Werk besteht eigentlich aus zwei Abteilungen, welche aber von einander nicht scharf getrennt sind. Zuerst wird die Theorie der mecha- nischen Gliederung des Tierkörpers, d. i. die Entstehungsweise und morpho- logische Bedeutung der Metamerie behandelt; dann wird die Organisation des Molluskentypus auseinandergesetzt, um festzustellen, ob in deren Körper Spu- ren einer früher vorhandenen Metamerie sich nachweisen lassen oder nicht. Hauptsächlich teilt C. die Ansichten Perrier’s über das Wesen der Me- tamerie und die Entstehung höherer Tierformen aus der Verschmelzung mehrerer niederer Tierorganismen. Die metamerisch gebauten Tiere stammen also von einfachen Organismen, welche sich nach Art von Catenula und Microstomum durch Querteilung vermehrten. Später blieben die durch Teilung entstandenen Individuen zu einer Kette zusammenhängend und differenziren sich durch Teilung der physiologischen Arbeit unter den Gliedern der Kette; es trat also 94 Aeby, Faserverlauf im menschlichen Gehirn und Rückenmark. Polymorphismus ein; das vordere Individuum wurde zum Kopf und behielt den einzigen Mund der ganzen Kolonie; die folgenden Glieder bildeten die Metameren der homonom gegliederten Kette. C. hat aber (bereits in frühern Schriften, welche unabhängig von Perrier’s Buch entstanden sind) die Indivi- duen verschiedener Ordnungen mit Namen belegt, welche mit denen Perrier’s nicht übereinstimmen, obgleich die Begriffe die gleichen sind; er unterscheidet 4) Plastidulen, 2) Plastiden, 3) Gastreiden (Meriden, Perrier), 4) Hypergastreiden (Zoiden, Perrier), Cormi (Demen, Perrier); jede höhere Stufe wird durch Verschmelzung von mehrern Individuen der un- mittelbar untergeordneten gebildet. Während nun Perrier glaubt, dass die Bildung einer vollkommenen Tier- form nur auf dem Wege der Reduktion einer Kolonie von niedern Formen stattfinden kann und sich deshalb bemüht, bei den Mollusken die Zeichen einer früher dagewesenen jetzt aber verschwundenen Metamerie nachzuweisen, nimmt Cattaneo dagegen an, dass einfache Tierformen (Meriden resp. Gastreiden), durch innere Differenzirung auf dem Wege der Autobiose, sich zu komplizir- ten Organismen entwickeln und denselben Ausbildungsgrad erreichen können, zu dem andere Tiere nur auf dem Wege der Symbiose, d. i. durch Verschmel- zung einer Kolonie einfacher Individuen (ebenfalls Meriden) gelangt sind. Die morphologische Stufe eines Tierindividuums stimmt also nicht notwendig über- ein mit dessen physiologischer Vollkommenheit. Die Mollusken sind, da in ihrer Ontogenie kein gegliederter Keimstreif erscheint, keine gegliederten Tiere; morphologisch kommen sie nicht über die Stufe der Gastreiden; es sind aber autobiotisch hoch differenzirte Gastreiden. Dagegen sind alle Tiere, deren Embryo einen gegliederten Keimstreif besitzt nach C. Hypergastreiden d. i. sie sind aus der Verschmelzung einer linearen Kolonie von Gastreiden entstanden (höhere Würmer, Arthropoden, Vertebraten). Sonst bringt uns das ziemlich umfangreiche Buch keine neuen Tatsachen und wenig neue Anschauungen. Ferner scheinen dem Verf. die in Bezug auf die Metamerentheorie wichtigen Schriften von Semper, Hatscheck und Lang unbekannt geblieben zu sein. ö C. Emery (Bologna). Chr. Aeby, Schema des Faserverlaufs im menschlichen Gehirn und Rückenmark. Bern, J. Dalp, 1883. 8%. 1 M. 60 Pf. Die normale und pathologische Physiologie des menschlichen Zentral- nervensystems bleibt ohne Kenntniss des Faserverlaufs ein Labyrinth, aus dessen vielverschlungenen Gängen vergebens man nach einem Auswege sucht. Aber nicht nur der angehende Arzt muss sich diesem Studium widmen, auch der vergleichende Physiologe wird in Zukunft mehr noch, als es bisher ge- schah, den Leitungsbahnen des Gehirns und Rückenmarks seine Aufmerksam- keit zuwenden und seiner Forschung zu Grunde legen. Wenn irgendwo, so ist auf diesem Gebiete eine übersichtliche Darstellung der fundamentalen Tatsachen, über deren Sicherheit kein Zweifel besteht, dem Anfänger von nöten. Hat er den leitenden Faden erst erfasst, dann mag er getrost und mit der Aussicht auf ein nutzbringendes Studium an eingehen- dere Darstellungen sich machen, um aus ihnen die Details und die strittigen Hartmann, Anatomie des menschlichen Kopfes. 65 oder lückenhaften Stellen unsers Wissens kennen zu lernen. Nun hat es Professor Aeby (Bern) übernommen, in farbigen Linien ein übersichtliches „Schema des Faserverlaufs“ zu liefern, dessen Zeichen, nur von einigen we- nigen Worten der Tafelerklärung unterstützt, in klarer Sprache die Grund- züge des verwickelten Baues uns enthüllen. Mit Hilfe der beiden Hauptfiguren, von denen die eine die Fasern auf die Frontalebene, die andere auf die Sa- gittalebene projieirt zur Darstellung bringt, vermögen wir nicht nur über Ur- sprung, Verbindung und Ende der Faserzüge uns rasch zu orientiren, sondern auch über die gegenseitigen topographischen Beziehungen der Bahnen an den besonders wichtigen Lokalitäten, z. B. innerhalb der Großhirnstiele, der Brücke u. s. w. durch einen Blick ins Klare zu kommen. Es würde eine schwierige Aufgabe sein, weitläufig hier auseinander setzen zu wollen, welche Quer- schnittsbilder, welche graphische Mittel und dergleichen der bekannte Ge- lehrte ausgewählt hat, um sein Ziel zu erreichen. Es mag die Versicherung genügen, dass der Autor so vieler im Unterricht bewährter Uebersichtsbilder, wie er sie in seinem Lehrbuche der menschlichen Anatomie niederlegte, — ich erinnere nur an Fig. 290 dieses Werks — in der durchdachten Anord- nung und deutlichen Ausführung der Schemata auch hier sich nicht verleugnet. Als eine Probe dessen, was für denjenigen, der die farbigen Zeichen zu deuten weiß, in diesen Linien zu lesen steht, möchte ich die Pyramidenbahnen hier vorzuführen mir erlauben. Wir sehen die Beziehungen der seitlichen gekreuzten nnd der vordemn ungekreuzten Pyramidenstränge zu den „segmentirten“ Ven- tralganglien des Rückenmarks vor uns, sehen ferner, wie die erstgenannten Fasern sich kreuzen und verfolgen dann beide Bündel in den ventralen Ab- schnitt der Brücke. Hier sehen wir die Pyramidenbahnen dorsal und ventral von den queren Brückenfasern, den Brückenschenkeln des Großhirns überlagert und konstatiren, dass letztere sich kreuzen. In Begleitung dieser Faserkom- plexe zieht die Pyramidenbahn, wie wir ferner uns überzeugen, im Pedunculus cerebri weiter, ventral von der Substantia nigra, und tritt ein in die innere Kapsel, wo die von Wernicke beschriebenen Fasern des Nucleus caudatus zum Globus pallidus und die Stabkranzfaseın des Thalamus sie durchsetzen. Schließlich erblieken wir das Ende, oder besser gesagt, den Ursprung der Pyramidenbahn in der vordern und hintern Zentralwindung und in der grauen Rinde des Stirn- und Scheitellappens überhaupt. — In Fig. 1 sind aus einem Versehen, das der Verf. in einer nachträglichen Notiz selbst verbessert, die Striekkörper (blau, b,) auf ihrem Weg von den Oliven zu den Nuclei dentati ohne Kreuzung eingezeichnet. Der Fehler ist mit teilweiser Benutzung der vorhandenen Linien leicht zu beseitigen. — Zur Ergänzung der Figuren 1 und 2 dient eine dritte, welche die Topographie der Nerverkerne des Hirnstamms teil- weise nach Erb’s Angaben versinnlicht. Aeby’s Schema wird gewiss binnen kurzem, so hoffen wir, bei Lehrer und Schüler sich eingebürgert haben und ebenso den ersten Unterricht, wie die spätere Orientirung in erfreulicher Weise fördern. DB. Solger (Halle a/S.). R. Hartmann, Die systematische und topographische Anatomie des menschlichen Kopfes für Zahnärzte und Zahnkünstler. Mit 51 Holzschn. Straßburg 1882. V u. 144 8. 8. Entsprechend den Bedürfnissen desjenigen Publikums, für welches das Buch bestimmt ist, bedient sich der Verf, ausschließlich deutscher Benennungen 965 Hartmann, Anatomie des menschlichen Kopfes. und verweist die lateinischen Namen der Muskeln, Gefäße u. s. w. in Anmer- kungen. Die Abbildungen sind nicht in Farben gedruckt; umso mehr tritt die Zeichnung und die hübsche Ausführung der Holzschnitte in den Vordergrund. Manche derselben beziehen sich auf histologische Erläuterungen, die wo es nötig schien, eingeflochten sind. — Der Stil ist klar und leicht fasslich und da das Werkchen eine brauchbare topographische Anatomie des menschlichen Kopfes enthält, die von jedem Laien studirt werden kann, so verdient es trotz seiner praktischen Tendenz an diesem Orte hervorgehoben zu werden. Seine Entstehung verdankt es Vorträgen über denselben Gegenstand, welche der Verf. im vergangenen Jahre in Berlin gehalten hat. Der Inhalt zerfällt in neun Abschnitte, in denen nach einander abgehandelt werden: 1) das Aeußere des Kopfes; die Gegenden die Haut- und die Haarbedeckung dieses Körperteils. 2) der Schädel und die ihn zusammensetzenden Knochen; Schädeltopographie. 3) Das Kiefergelenk. 4) Die Kopfmuskeln. 5) Die Blutgefäße des Kopfes. 6) Das Gehirn und die Nerven des Kopfes. 7) Die Topographie verschiedener Weichgebilde des Kopfes. 8) Die Mundhöhle und ihre Topographie (dieser Abschnitt enthält eine Beschreibung der Zähne, die wie Ref. meint, wol noch detaillirter hätte sein können — vergl. z. B. des Ref. Handb. der speziellen Anatomie. 1879. 8. 391). 9) Auge, Ohr, Nase und Tastwerkzeug. Die elegante Ausstattung wird die Brauchbarkeit des empfehlenswerten Werks gewiss förderlich sein. W. Krause (Göttingen). Berichtigungen. S, 3 Zeile 1 v. o. lies: „exiliformis* statt axiliformis. SE AN. ‚Orc „nicht NUrf ; Sony; BUL. S.6 „ Av.u „ „nicht nur eine“ statt nicht eine einzige. SM 6 v. o. ist zu lesen: „oder besser gesagt eircumpolare Elemente vor, d. i. die endemischen Pflanzen Japans.“ ” Im Verlage von R. Oldenbourg in München und Leipzig ist soeben erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen: Eine neue Theorie über Erzielung von Immunität gegen Infektionskrankheiten. Vortrag, gehalten in der morphologisch-physiologischen Gesellschaft zu München, 30. Januar 1883. von Dr. Hans Buchner. 8%, 40 Seiten. Preis 80 Pfennige. 2, saliviiniidei: nr wa WLan TER. 11. AN BREFREER Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut“ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. III. Band. 15. April 1883. Nr. 4. Inhalt: Müller, Die biologische Bedeutung der Blumenfarben. — Höhnel, Ueber die Mechanik des Aufbaus der vegetabilischen Zellmembranen. — Sarasin, Reifung und Furchung des Reptilieneis. — Müller, Proterandrie der Bienen. — 0s- sowski, Berichte über anthropologisch -archäologische Untersuchungen in den Höhlen der Umgebung von Krakau. — Frangois-Franck, Beziehungen der Halsvenenbewegungen zu der Tätigkeit der Atmung und des Herzens. — Biedermann, Ueber die Einwirkung des konstanten Stroms und rasch auf einander folgender Induktionsströme auf Nerven und Muskeln. — Stricker, Studien über die Assoziation der Vorstellungen. — Gruber, Anatomische No- tizen. — Koller, Eine Getreidemilbe als Krankheitserregerin. — Bekannt- machung des Vereins „Aquarium“ zn Gotha. — Berichtigung. — Anzeige. Die biologische Bedeutung der Blumenfarben. Im Zusammenhange mit den sie besuchenden Insekten wurden die Blumen bekanntlich von Christian Konrad Sprengel!) vor nun fast 100 Jahren zum erstenmale ins Auge gefasst. Er war der erste, der in umfassender Weise die Insekten als Befruchter der Blumen erkannte, wenn ihm auch der wesentlichste Punkt, dass sie nur als Vermittler der Kreuzung den Pflanzen von entscheidendem Vorteile sind, noch entging; und die Vermutung der biologischen Be- deutung der Blumenfarben war fast das erste, was sich bei der Be- trachtung der Blumen und Insekten ihm aufdrängte. Im Sommer 1787 hatte er erkannt, dass der Honig der Blumen den Insekten als Nah- rung dient und oft durch besondre Vorkehrungen gegen das Ver- derben durch Regen geschützt ist. Als er dann im Sommer 1788 das Vergissmeinnicht untersuchte, führte ihn „der gelbe Ring, der die Oeffnung der Kronenröhre umgibt und gegen die himmelblaue Farbe des Kronensaumes so schön absticht“, auf die Vermutung: „Sollte die Natur wol diesen Ring zu dem Ende besonders gefärbt haben, damit derselbe den Insekten den Weg zum Safthalter zeige?“ 2). 4) Christ. Konr. Sprengel, Das entdeckte Geheimniss der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen. Berlin 1793. Aelac.ıS. 2. 98 Müller, Die biologische Bedeutung der Blumenfarben. Er fand, dass in der Tat eine „aus Flecken, Linien, Tüpfeln oder Figuren einer andern Farbe“ bestehende Zeichnung der Blumenkrone sich „jederzeit da befindet, wo die Insekten hineinkriechen müssen, wenn sie zum Saft gelangen wollen!) und dass, wo der Honig un- mittelbar sichtbar ist, auch eine besondre Zeichnung (ein „Saftmaal“) fehlt 2). Nun schloss er vom Teil aufs Ganze: „Wenn die Krone der Insekten wegen an einer bestimmten Stelle besonders gefärbt ist, so ist sie überhaupt der Insekten wegen gefärbt und ... . (ihre Farbe) dient dazu, dass die mit einer solchen Krone versehenen Blumen den ihrer Nahrung wegen in der Luft umherschwärmenden Insekten, als Saftbehältnisse, schon von weitem in die Augen fallen.“ °) Im weitern Verlaufe seiner Beobachtungen ergab sich ihm dann auch die weitere Ausführung und Begründung dieser Grundgedanken einer Theorie der Blumenfarben. Nicht nur die Blumenkrone, auch andere Teile wie z. B. der Kelch oder die Brakteen, können durch eine vom Grün der Blätter abstechende Farbe der Anlockung der In- sekten dienen®). Nicht nur die honighaltigen Blumen, auch solche, die den Besuchern nur Blütenstaub darbieten, haben „Kronen“ (oder in die Augen fallende Teile). „Die Krone dieser Blumen dient dazu, dass die Blumen den Bienen, welche den Staub derselben sammeln, von weitem in die Augen fallen“®). „Alle Blumen, welche keine eigentliche Krone, noch an der Stelle derselben einen gefärbten Kelch (oder andere gefärbte Teile) haben, noch riechen, und welche man Blüten zu nennen pflegt®), werden nicht von den Insekten, sondern durch den Wind befruchtet“”). (Auch die sonstigen Unterschiede zwischen Insektenblüten (Blumen) und Windblüten wurden von Spren- gel klar erkannt und an Gräsern, Pappel, Hasel, Else, Espe und Kiefer eingehend und treffend erörtert ®). Auf die besondre Bedeutung bestimmter Blumenfarben wurde Sprengel nur insoweit aufmerksam, als es der von ihm erkannte Unterschied zwischen Tag- und Nachtblumen mit sich brachte: „Die Nachtblumen haben eine große und hellgefärbte Krone, damit sie in der Dunkelheit der Nacht den Insekten in die Augen fallen. Ist ihre Krone unansehnlich, so wird dieser Mangel durch einen starken Ge- SE 2).1. c. S. 15. 3) LEHe.43 49; A) 1. 6.088.745: 5) 1. ec. 8.28. 6) Wir bezeichnen heute mit dem Worte „Blüten“ den umfassendern, mit dem Worte „Blumen“ (d. h. durch Farbe oder Duft sich bemerkbar machende Blüten) den untergeordneten Begrift. Do a BES a N 8) 1. c. 5. 29—33. Müller, Die biologische Bedeutung der Blumenfarben. 99 ruch ersetzt. Ein Saftmaal dagegen findet bei ihnen nicht statt“ !), da es nutzlos sein würde. 4 So hatte Sprengel in bezug auf die biologische Bedeutung der Blumenfarben im Großen und Ganzen ebenso wie in Bezug auf zahl- reiche andre biologische Fragen sogleich auf den ersten Blick das Richtige erkannt und klar und treffend dargestellt. Aber seine Stimme verhallte wirkungslos und seine herrlichen Entdeckungen fielen fast siebzigjähriger Vergessenheit anheim. Erst Darwin zog sie wieder an das Licht und brachte sie zur verdienten Geltung, als er 1862 in sei- nem für die Blumenforschung bahnbrechenden Orchideenwerke?) den umfassenden Nachweis lieferte, dass Kreuzung getrennter Stöcke der entscheidende Vorteil ist, der den Blumen durch besuchende Insekten zu teil wird, und dass nur in dem Uebersehen dieses Punkts die Schwäche des übrigens unschätzbar wertvollen Sprengel’schen Wer- kes liegt. Nun erst nahm eine stetig steigende Zahl von Beobachtern das von Sprengel eröffnete Forschungsgebiet in Angriff und auch in die biologische Bedeutung der Blumenfarben, nach der seit Spren- gel wol kaum jemand gefragt hatte, ward nun allmählich ein tieferer Einblick gewonnen. Dem Verständniss der besondern Bedeutung bestimmter Blumen- farben trat zunächst Delpino?°) näher. Die klarsten und am besten begründeten seiner in dieser Richtung erlangten Ergebnisse lassen sich in folgende Sätze zusammenfassen: Leuchtende Blumenfarben (Colori fulgent:) sind besonders den der Kreuzungsvermittlung durch Kolibris angepassten Blumen eigen*). Fahle oder schmutzigbraune Farben (colori lividi o luridi) werden an Blumen getroffen, die auf Befruchtung durch Fleisch- und Aasfliegen und sonstige faule Stoffe liebende Dipteren angewiesen sind’), wie z. B. Stapelia- Arum- und Aristolochia-Arten. Blumen, an denen andere Dipteren einen hervor- ragenden Anteil nehmen, sind besonders häufig von grünlichgelber Farbe‘), wie z. B. bei Hedera, Rhus, Evonymus und Acer. Die stahlblauen Eryngium-Arten (amethystinum, coeruleum) werden mit besonderer Vorliebe von einigen Grabwespenarten der Gattung Seolia besucht”). Manche Blumen nehmen eine lebhaftere Farbe an, nachdem ihre 9. €.:8.10. 2) Charles Darwin, On the various contrivances by which british and foreign Orchids are fertilized by insects and on the good effects of inter- crossing. London, John Murray, 1862. 3) Federico Delpino, Ulteriori osservazoni sulla dieogamia nel regno vegetale. Parte II fasc. II. 1874. A) 21..c..8..22 211. 5) 1. c. 8. 23—25, 213—215. bilecz 8. 214. 712028, 322. m» 400 Müller, Die biologische Bedeutung der Blumenfarben. Befruchtungsorgane bereits verblüht sind. So färbt sich bei der Rosskastanie das anfangs gelbe Saftmal, wie schon Sprengel!) be- obachtete, später rot. Bei Ribes aureum erleiden die anfangs gelben Blumenblätter, welche innerhalb der viel größern ausgebreiteten Kelch- blätter eine kleine aufrechte Krone bilden, dieselbe Veränderung, und Delpino beobachtete hier, dass die als Kreuzungsvermittlerin dienende Biene Antophora pilipes die rot gezeichneten Blumen vermied und nur die noch ganz gelben ausbeutete?). Fritz Müller beobachtete sodann in Südbrasilien an einer Lantana, deren Blüten drei Tage dauern und am ersten gelb, am zweiten orange, am dritten purpurn gefärbt sind, dass einige Tagfalter (Danais Erippus, Pieris Aripa) ihren Rüssel in die gelben und orangefarbenen, andere (Heliconius Apseudes, Colaenis Julia, Eurema Leuce) ausschließlich in die gelben Blüten (des ersten Tages) steckte, kein einziger in die purpurfarbenen®). Weitere Bei- spiele entsprechenden Farbenwechsels sind von mir selbst gebracht wor- den*). Die biologische Bedeutung desselben hatte Delpino, über- einstimmend mit einer schon von Sprengel?) ausgesprochenen Ver- mutung, darin gefunden, dass derselbe den Insekten als Zeichen diene, damit sie — zu beiderseitigem Vorteil der Pflanzen und Insekten — vorzugsweise die nicht gezeichneten Blüten besuchen®). Aber Spren- gel hatte bereits das Ungenügende dieser Erklärung erkannt und sie selbst mit dem Einwande zurückgewiesen, dass ja dieser Vorteil ein- facher und sicherer dadurch erreicht würde, wenn nach dem Ver- blühen der Befruchtungsorgane, wie es sonst in der Regel der Fall ist, die Blumenkrone abfiele”). Eine befriedigende Erklärung dieses Farbenwechsels gab erst Fritz Müller, indem er in bezug auf die von ihm beobachtete Lantana sagte: „Wenn die Blüten am Ende des ersten Tags alle abfielen, würden die Blütenstände viel weniger in die Augen fallen; wenn sie die Farbe nicht wechselten, würden die Schmetterlinge viel Zeit verlieren, indem sie ihre Rüssel in schon be- fruchtete Blumen steckten.“ Außerdem bietet die nachträgliche Stei- gerung der Augenfälligkeit diesen farbenwechselnden Blumen offen- bar noch den Vorteil, dass dadurch die zur Kreuzung nicht geeigneten kurzrüsseligen dümmern Besucher auf die augenfälligern Blumen ab- gelenkt werden, denen sie, da deren Befruchtungsorgane bereits auf- gehört haben zu funktioniren, nicht mehr schaden können. 4).1. c. S. 211—213. 2) 1. e. 8. 27—29. 3) Nature vol. XIII Nr. 422. Nov. 29, 1877 S. 78. 79. 4) Weitere Beobachtungen I S 54; Wechselbez. S. 40, Alpenblumen $. 167, 359, 238. 5) Sprengel, l. c. 8. 211—213. 6) Delpino, 1. c. S. 27—29. 7) Sprengel, 8. 211—213. Müller, Die biologische Bedeutung der Blumenfarben. 101 Derselbe Vorteil wird von den von Hildebrand!) beschriebenen Blüten von Eremurus spectabilis, nach meiner Ansicht?), dadurch er- reicht, dass sie ihre Blumenblätter ausbreiten und ihre größte Augen- fälligkeit entwickeln, bevor ihre Befruchtungsorgane funktionsfähig werden, und bevor die Honigabsonderung beginnt, wogegen sie wäh- rend der eigentlichen Blütezeit durch Einrollen der Blumenblätter un- ansehnlich sind. Die stufenweise Entwicklung der Blumenfarben zu ermitteln wurde von zwei sehr verschiedenen Standpunkten aus gleichzeitig von Prof. F. Hildebrand und von mir versucht. Hildebrand?) ge- langte durch einen umfassenden Vergleich der Farbenabänderungen, welche in unsern Gärten kultivirte und bei uns wild wachsende Blu- men darbieten, zu dem Ergebniss, dass die Farbenabänderungen der Blumen sich größtenteils innerhalb derselben Farben halten, die sich bei den Blumen ihrer nähern Verwandten ausgeprägt finden, dass blaublütige Arten meist nur nach Violett und Rot, nicht nach Gelb, rotblütige Arten vorwiegend nach Gelb, fast nie in reines Blau, gelb- blütige, wenn sie überhaupt variiren, fast nur nach Rot hin abändern — abgesehen von Weiß, in welches jede Blumenfarbe gelegentlich übergeht. Auf Grund einer Zusammenstellung der bisher vorliegenden anatomischen und chemischen Untersuchungen der Blumenfarben ge- langt dann Hildebrand zu der Ansicht, dass Blau bei den Blumen stets das letzte Glied einer Reihe vorhergegangener Farbenumwand- lungen (meist aus Weiß durch Rot und Violett) sei, neben welcher gewöhnlichsten Reihe aber noch wesentlich andere Umwandlungen der Blumenfarben nicht selten vorkommen. Dieses Ergebniss verdient, obgleich es zu der biologischen Bedeutung der Blumenfarben nicht in unmittelbarer Beziehung steht, deshalb hier er- wähnt zu werden, weil es mit wesentlichen Punkten meiner auf ganz andern Wegen erlangten biologischen Deutungen übereinstimmt. Der eine Weg, auf welehem ich zu einem eingehendern Verständniss der Aus- bildung der Blumenfarben zu gelangen suchte, besteht in einem Ver- gleich der unbewussten Blumenzüchtung der Insekten mit derjenigen des Menschen‘), der andere in einem Vergleich der Farben ursprüng- licher einfacher mit denen stufenweise mehr und mehr spezialisirter Blumenformen ?) 4) F. Hildebrand, Einige Beiträge zur Kenntniss der Einrichtungen für Bestäubung und Samenverbreitung. Flora 1881. Nr. 32. 2) H. Müller, Die biologische Bedeutung des eigentümlichen Blühens von Eremurus spectabilis. Bot. Zeitung 1882 Nr. 17. S. 278 ff. 3) F. Hildebrand, Die Farben der Blüten in ihrer jetzigen Variation und frühern Entwicklung. Leipzig, 1879. 4) Die Insekten als unbewusste Blumenzüchter. Kosmos Bd. III. S. 314— 337, S. 403—426, S. 476—499. 5) Die Entwicklung der Blumenfarben. Kosmos Bd. VII. 8. 219—236. Al- 102 Miller, Die biologische Bedeutung der Blumenfarben. Nach Darwin’s Versuchen müssen wir annehmen, dass die In- sekten den von ihnen aufgesuchten und mit Pollen getrennter Stöcke befruchteten Blumen zu kräftigern Nachkommen verhelfen, welche die aus Selbstbefruchtung hervorgegangenen Nachkommen derselben Art im Wettkampf um dieselben Lebensbedingungen besiegen. Die blumen- besuchenden Insekten müssen daher, indem sie diejenigen Blumen auswählen, die ihnen am besten gefallen oder am nützlichsten sind, in ganz derselben Weise als unbewusste Blumenzüchter wirken, wie der Mensch, wenn er, ohne die Absicht der Rassenveredlung, die ihm am besten gefallenden oder nützlichsten Stöcke zur Nachzucht aus- wählt. In beiden Fällen werden im Laufe der Generationen durch Summirung der in bestimmter Richtung ausgewählten Abänderungen Produkte erhalten, die der Liebhaberei oder dem Nutzen der Aus- wählenden immer besser entsprechen. Alle diejenigen Eigentümlich- keiten der Blumen, welche unmittelbar nur den Insekten und erst mittelbar, durch die von diesen vermittelte Kreuzung, auch den Pflan- zen selbst zugute kommen, wie z.B. Farbe, Duft, Honigabsonderung, Saftmale, Saftdecken, bequeme Anflugflächen u. s. w., sind also durch die Blumenauswahl der Insekten zur Ausprägung gelangt, sind Züchtungs- produkte dieser, und als solche unserm Verständniss ebenso nahe ge- rückt als unsre eignen Züchtungsprodukte. Von diesem Gesichtspunkte aus ist es selbstverständlich, dass die faule Stoffe liebenden Dipteren an den auf ihre Kreuzungsvermitt- lung angewiesenen Blumen nur diejenigen Farben (und Düfte) zur Ausprägung bringen können, durch welche sie zu ihren ursprünglichen Nahrungsquellen gelockt werden, und wir begreifen so in ihrer ur- sächlichen Bedingtheit die Schmutzfarben und Ekeldüfte ihrer Züch- tungserzeugnisse. Bei Tagfaltern und Kolibris weist uns das wahrscheinlich durch geschlechtliche Auslese gezüchtete Putzkleid auf einen ausgeprägten Farbensinn und bei erstern auf eine Bevorzugung lieblicher, bei letz- tern auf eine entschiedne Vorliebe für feurige Farbentöne hin und macht es uns verständlich, dass unsre Tagfalterblumen teils (wie die Nelken) anmutig rot mit zierlicher Zeichnung, teils (wie die Globu- larien) licht blau gefärbt sind, während die Kolibriblumen in feurigen Farben prangen (wie z. B. die brennendroten Canna-Arten und die als fulgens, splendens, coccinea benannten Fuchsia-, Salvia- und Lobelia- Arten unsrer Gärten). Einige zierliche Schwebfliegen (Ascia podagrica, Sphegino clunipes, Pelecocera scaevoides) sehen wir sowol selbst mit hübschen Farben penblumen: Liliaceen $. 56, Crassulaceen 8.88, Saxifraga $. 109, Ranuneulaceen S. 140—142, Viola S. 158—160, Caryophyllaceen $. 205, 206, Papilionaceen S. 256, 257, Boragineen 8. 265, 266, Scrophulariaceen S. 305—307, Labiaten S. 326, Gentiana $. 349, Primulaceen $. 373, 374, Caprifoliaceen $. 399, All- gemeine Ergebnisse S. 530—533. Müller, Die biologische Bedeutung der Blnmenfarben. 103 geschmückt, als an der Farbenpracht niedlich gezeichneter Blümchen, die ihnen an Größe gerade entsprechen und von ihnen hauptsächlich Kreuzung erfahren (Saxifraga umbrosa, rotundifolia, Veronica Cha- maedrys), mit augenscheinlichem Wolbehagen sich weiden und be- trachten daher um so zuversichtlicher die Farben dieser Blumen als Züchtungsprodukte dieser Fliegen. Bei denjenigen Blumenbesuchern, über deren Farbensinn weder ihre ursprüngliche Nahrung, noch ein Putzkleid uns Auskunft gibt, können wir nur von der Farbe ihrer Züchtungsprodukte auf ihre Farbenliebhaberei zurückschließen. In den verschiedensten Pflanzenfamilien!) sind die ursprünglich- sten, einfachsten und offensten Blumenformen, denen eine gemischte Gesellschaft kurzrüsseliger Insekten als Kreuzungsvermittler dient, immer nur von gelber oder weißer Farbe, woraus folgt, dass von diesen Farben die unausgeprägtesten Blumengäste am stärksten an- gelockt werden. Alle langrüsseligen Blumenzüchter — abgesehen na- türlich von den bei Nacht fliegenden, denen nur helle Farben als Er- kennungszeichen dienen können — haben sich rote, violette und blaue Blumenfarben gezüchtet, und zwar die Schwebfliegen und Tagfalter fast ausschließlich, die Bienen wenigstens vorwiegend solche. Die staatenbildenden Bienen (Honigbienen, Hummeln) sind durch ihr ge- steigertes Nahrungsbedürfniss zur Arbeitsteilung gedrängt worden und haben die Gewohnheit angenommen, möglichst andauernd eine und dieselbe Blumenart auszubeuten. Das können sie um so bequemer, je leichter sich ähnlich gestaltete Blumen desselben Standorts schon durch die Farbe unterscheiden lassen. Wenn daher die Bienenblumen, wie es tatsächlich der Fall ist, die größte Mannichfaltigkeit verschie- dener Farben darbieten und in ihrer Gestalt übereinstimmende Bienen- blumen desselben Standorts meist auf den ersten Blick an der Farbe zu unterscheiden sind ?), so lässt sich auch dies als eine dem Vorteil ihrer Züchter entsprechende Eigentümlichkeit sehr wol begreifen. Zu den Farben einfacher offner Blumen, denen kurzrüsselige Insekten als Kreuzungsvermittler dienen und als Züchter gedient haben, steht diese Farbeneigentümlichkeit der Bienenblumen in einem auffallenden Gegensatz. Denn jene?) sind fast immer einfarbig gelb oder weiß, auch wenn mehrere von ihnen gleichzeitig an denselben Orten blühen, und nur selten (durch klimatische Einwirkung) rötlich, wie z. B. von Pimpinella magna die alpine var. ß rosea Koch. 4) z. B. Liliaceen, Ranunculaceen, Caryophylleen, Gentianeen, Primulaceen. 2) z B. Lamium album, maculatum und Galeobdolon luteum, Trifolium pra- tense und repens, Aconitum Lycoctonum und Napellus, Teucrium montanum und Chamaedrys. 3) z. B. verschiedenartige Umbelliferen, Alsineen, Ranunculus- und Poten- tillaarten. 104 Müller, Die biologische Bedeutung der Blumenfarben. Die soeben in gedrängtester Kürze dargelegte Züchtungstheorie würde eine noch festere Begründung erfahren, wenn es gelänge, die Farbenliebhaberei der hauptsächlichsten Blumenzüchter experimentell festzustellen. Keiner derselben steht uns bequemer und in größerer Menge zu Gebote als die Honigbiene. Sir John Lubbock hat zuerst Versuche angestellt, um ihre Farbenliebhaberei zu ermitteln‘). Er wandte aber ein summarisches Verfahren an, welches nur zu unklaren sich selbst widersprechenden Resultaten führte ?). Ich selbst lernte durch Wiederholung der Lubbock’schen Ver- suche die Unzulänglichkeit seiner Methode kennen und begann so- dann auf einem zwar viel zeitraubendern, aber zu klaren Ergebnissen führenden Wege dasselbe Ziel ins Auge zu fassen?). Zwei Glasplatten wurden jedesmal gleichmäßig mit Blumenblät- tern von bestimmter Farbe beklebt, mit zwei gleich großen Glasplat- ten bedeckt und dann, auf der Oberseite mit etwas Honig versehen, neben einander an einem Orte ausgelegt, an dessen regelmäßigen Be- such einige gezeichnete Bienen vorher gewöhnt worden waren. Diese kamen dann und besuchten je nach ihrer Vorliebe für die eine oder andere Farbe die eine oder andere Platte. Die wichtigsten Er- gebnisse, die sich aus vierzig derartigen Versuchsreihen mit gegen 4000 einzelnen Besuchen gezeichneter Bienen schon jetzt mit Sicherheit ab- leiten lassen, sind folgende: Die brennenden Blumenfarben (brennend Gelb und Orange, Feuer- rot und Scharlach) sind der Honigbiene weniger angenehm, als die sanftern, mit denen auch Bienenblumen geschmückt sind. Von allen Bienenblumenfarben liebt sie am wenigsten grelles Gelb. Welcher Farbe sie den Vorzug gibt, wenn ihr. von Weißlich, Rot, Violett oder Blau zwei zur Auswahl vorgelegt werden, hängt wesent- lich von den bestimmten Farbenschattirungen ab, die man benutzt. Ihre bevorzugtesten Farben sind gewisse Farbentöne des Rot und des Blau, die unter sich genau gleich stark anziehend auf die Honigbiene wirken, nämlich Rosa (der Zentifolie) = Himmelblau (von Borago officinalis) und prächtig Purpur (einer dunkeln Rose) = Korn- blumenblau (von Centaurea Oyanus). Diese Versuche bestätigen in bemerkenswerter Weise das Ergeb- niss, zu welchem früher ein umfassender Vergleich der Bienenblumen der Alpen unter sich und ebenso der Bienenblumen der ganzen deutschen 4) Ants, Bees and Wasps. A record of observations of the Social Hy- menoptera by Sir John Lubbock. London 1882 8. 303—307. 3) Siehe H. Müller. Sir John Lubbock’s Untersuchungen über Ameisen, Bienen und Wespen. Kosmos Bd. XI, S. 423—425. 3) H. Müller. Versuche über die Farbenliebhaberei der Honigbiene. Kosmos Bd. XII S. 273—293. Höhnel, Mechanik des Aufbaus der vegetabilischen Zellmembranen. 105 Flora unter sich!) geführt hatte, dass es nämlich trotz der außeror- dentlichen Farbenmannichfaltigkeit der Bienenblumen etwa doppelt so viel ganz oder vorwiegend rot, violett oder blau gefärbte als gelbe und weiße gibt. Hermann Müller (Lippstadt). F. von Höhnel, Ueber die Mechanik des Aufbaus der vege- tabilischen Zellmembranen. Botanische Zeitung 1882. Nr. 36 und 37. Diese zunächst als „vorläufige Mitteilung“ veröffentlichte Abhand- lung nimmt zum Ausgangspunkt die merkwürdige Tatsache, dass Bastfasern in starken Quellungsmitteln, z. B. Schwefelsäure oder Kupferoxydammoniak, sich verkürzen. Diese auffallende Erscheinung wurde zuerst von Nägeli beobachtet), welcher auch eine (allerdings wenig einleuchtende) Erklärung für dieselbe gab, indem er wahr- scheinlieh zumachen suchte, dass eine unendlich dünne Membran trotz allseitiger Quellung dennoch in der einen oder andern Richtung sich verkürzen könne, und dass jenes Verhalten der Bastfasern auf der durch die Quellung veranlassten starken Verdickung ihrer innern Wandschichten beruhe. Hierbei würden nämlich die äußern Schichten stark auseinandergetrieben und also verkürzt und diese Verkürzung der äußern Wandschichten soll nun wiederum hemmend auf die mit ihnen fest verwachsenen innern Wandschiehten zurückwirken, so dass eine Verlängerung der letzteren verhindert würde. v. Höhnel be- leuchtet nun zunächst die Schwächen dieser ziemlich gezwungenen Erklärungsweise und teilt hierauf seine eigene weit einfachere Auf- fassung des Tatbestandes mit. Er beobachtete nämlich, dass ein feiner Glaswollfaden, vorsichtig erwärmt, sich verkürzt, desgleichen lang und dünn ausgezogene Fäden aus Siegellack, arabischem Gummi oder Leim. Dasselbe geschah an Seidenfäden unter Einwirkung von konzentrirter Schwefelsäure. In allen Fällen war die Verkürzung von einer gleichzeitigen Verdiekung begleitet. In solchen durch Ausziehen entstandenen Fäden sind nun aber zweifellos bedeutende moleku- lare Spannungen vorhanden; die Moleküle sind nicht gleichmäßig verteilt, sondern in der Längsrichtung des Fadens weit auseinander- gerückt, auf dem Querschnitte dagegen eng zusammengedrängt. In den erstarrten Fäden können diese Spannungen nicht ausgeglichen werden. Dies wird aber möglich, sobald durch Erwärmen oder An- quellen die Moleküle beweglich werden, und dann im stande sind, sich in die Gleichgewichtslage zu begeben. Die unter solchen Um- 4) H. Müller. Alpenblumen S. 501. 502. 2) Sitzungsber. der bair, Akad. d. Wiss. 1864, II, 156. 406 Höhnel, Mechanik des Aufbaus der vegetabilischen Zellmembranen. ständen eintretende Verkürzung und Verdickung ist damit in leicht- fasslicher und befriedigender Weise erklärt. v. Höhnel sucht nun auch die Verkürzung von Bastfasern in Quellungsmitteln auf die obigen Ursachen zurückzuführen. Nach ihm sind wahrscheinlich in jeder beliebigen Zellmembran bisher unbekannt gebliebene molekulare Spannungen vorhanden und zwar teils Druck-, teils Zugspannungen. Beim Quellungsvorgang werden die Moleküle be- weglich und begeben sich nun in die Gleichgewichtslage, wodurch die Spannungen ausgeglichen werden. Für die Richtigkeit dieser Auf- fassung und die Identität der Verkürzungsursachen bei Fäden aus Glas, Gummi, Schellack, Seide u. s. w. und bei Bastfasern spricht die vom Verf. ermittelte Tatsache, dass nicht nur die letztern, sondern überhaupt alle und namentlich alle stark gestreckten Pflanzenzellen (Holzfasern, Tracheiden) in starken Quellungsmitieln sich verkürzen, und zwar um 10-—60°/,. Dass unter dem Einflusse des osmotischen Druckes, welehen der Zellsaft ausübt, sowie der gesammten Gewebe- spannung die Zellwände ausgedehnt und gezerrt werden, kann keinem Zweifel unterliegen. Dieser Vorgang ist in seiner Bedeutung für die Theorie des Wachstums dureh Intussuszeption, also durch Einlagerung neuer Substanzteilehen zwischen die schon vorhandenen, längst gewürdigt worden. Die Annahme des Verfassers, dass in jeder gestreckten Zellwand eine starke longitudinale Zugspannung und in radialer Richtung eine erhebliche Druckspannung zu stande kommen, ist also wolberechtigt. Bleiben diese Spannungen, zu welchen sich noch eine in tangentialer Richtung auftretende Zugspannung ge- sellt, in der Membran fixirt, so erklären sie die beschriebenen Wir- kung von Quellungsmitteln hinlänglich. \ Im Folgenden zeigt nun Verf., dass sich aus der Voraussetzung molekularer Spannungen in vegetabilischen Zellenmenbranen der Bau und das Wachstum der letztern sowie manche ihrer Eigenschaften anders und einfacher erklären lassen, als es bisher geschah. Zunächst soll der innere Bau der Zellwand nach Nägeli be- kanntlich aus krystallinischen „Mizellen“ aufgebaut sein — eine Anschau- ung, welche bisin die neueste Zeit die herrschende war. Die krystal- linische Natur der „Mizelle“ folgerte Nägeli aus den optischen Eigen- schaften der Zellwand, welche auch in den kleinsten Fragmenten noch doppelbrechend wirkt und deren Verhalten zum Licht durch künst- liches zerren und dehnen angeblich nicht verändert wird. Letzteres ist aber, wie der Verf. darlegt, nicht richtig; schon theoretische Er- wägungen sprechen gegen diese Angabe, und die zu ihrer Prüfung angestellten Versuche lehrten das gerade Gegenteil, nämlich eine höchst auffallende Wirkung von Dehnung oder Kompression auf die optischen Eigenschaften der Zellwand. Auch in dieser Beziehung verhält sich die letztere identisch mit dünnen Fäden aus Seide, Glas, Gummi, Kautschuk u. s. w., welche gleichfalls doppelbrechend wirken. Dass Höhnel, Mechanik des Aufbaus der vegetabilischen Zellmembranen. 107 hier aber molekulare Spannungen die Doppelbrechung hervorrufen, ist unzweifelhaft; denn in einem Glas- oder Seidenfaden kann von krystal- linischen „Mizellen“ doch kaum die Rede sein, und Kautschuk ist im natürlichen d. h. ungedehnten Zustande optisch inaktiv. Man muss daher mit dem Verf. übereinstimmen, wenn er auch „die eigentliche und die Hauptursache der optischen Eigenschaften der Membranen“ in molekularen Spannungen sucht. Mit dieser Annahme steht die Tat- sache im besten Einklang, dass stark gequollene Bastfasern nicht mehr doppelbrechend wirken, wenn auch die Struktur der Wand (Schichtung und Streifung) noch erhalten ist, denn die Quellung führt eben den Ausgleich jener Spannungen herbei. Die Mizellartheorie erscheint also überflüssig. Das nach dem Vorstehenden kaum wegzuläugnende Vorhandensein molekularer Spannungen in Zellmembranen bedingt aber auch eine Modifikation der fast allgemein angenommenen Theorie Nägeli’s vom Wachstum der Zellwände. Bekanntlich sollte dieses in der Haupt- sache nur durch „Intussuszeption“, durch Einlagerung neuer Substanz- teilchen zwischen die schon vorhandenen, erfolgen. Soweit das Flächen- wachstum der Membran in’s Auge gefasst wird, ist die Vorstellung mit der Existenz einer molekularen Zugspannung in der Membran sehr wol vereinbar, ja sie hat die letztere, welche Raum schafft für die einzulagernden neuen Membranteilchen, geradezu zur Voraussetzung. Dass aber diese Spannung auch in der ausgewachsenen Membran noch vorhanden ist, lehrt: „dass immer zu wenig Moleküle eingelagert werden, d. h. dass das Flächenwachstum der Membranen immer zum Teil in einer einfachen Dehnung derselben über die Elastizitätsgrenze hin- aus beruht.“ Bei langen Bastfasern, Tracheiden, Gefäßgliedern, Col- lenchymfasern, langen Haaren ete. dürfte nach dem Verf. das Flächen- wachstum der Membranen sogar ganz oder doch der Hauptsache nach nur in einer einfachen mechanischen Streckung bestehen. Was das Diekenwachstum der Membran betrifft, so willv.Höhnel der Intussuszeption nicht jeden Anteil an demselben absprechen, ob- wol die Hindernisse für die Einlagerung neuer Substanzteilchen in radialer Richtung wegen der hier herrrehenden großen Druckspannung sehr bedeutend sein müssen. Die Quellungserscheinungen an dieken Bastfasern sprechen aber ganz entschieden für ein Diekenwachstum durch Apposition, d. h. durch suecessive Aneinanderlagerung einzelner Wandschichten. Schon Nägeli hat gezeigt, dass bei kurzen Stücken von Bastfasern die innern Schichten unter starker radialer und tan- gentialer Aufquellung nur wenig kürzer werden, während sich die äußern viel stärker verkürzen. Die Erklärung dieser eigentümlichen Erscheinung ist nun sehr einfach, sobald man mit v. Höhnel die Ver- diekung der Bastfaserwandung durch Apposition geschehen sein lässt. Dann sind nämlich die innern Schichten erst zu einer Zeit entstanden, zu welcher die Faser schon gestreckt war, und demgemäß sind sie 108 Sarasin, Reifung und Furchung des Reptilieneis. weniger negativ gespannt als jene, weshalb sie sich auch weniger verkürzen. Im Anschlnss hieran macht der Verf. eine Reihe von Fällen namhaft, in welchen Appositionswachstum nachgewiesen oder doch höchst wahrscheinlich ist und er führt die Schiehtung der Mem- branen auf letzteres zurück. Im letzten Abschnitt sucht der Verf. darzulegen, dass auch die Streifung und Aerolirung der Zellwände durch die molekularen Spannungen bedingt sind, und dass viele hierhergehörige Erscheinun- gen nur aus diesem Gesichtspunkt erklärt werden können., „Die Frage, warum gerade derbwandige oder langgestreckte Elemente (Fasern, Tracheiden ete.) nnd nicht dünnwandige Elemente so schön gestreift sind, warum die Steigung der Streifen sich verändert, viele einfache Algen senkrecht und parallel zur Längsachse der Zellen gestreift sind u. a. konnten bisher nicht beantwortet worden.“ Schließlich wird eine Angabe Nägeli’s über die Streifung der Leinfaser berichtigt. Die besprochene Abhandlung war noch vor dem Erscheinen des wichtigen Buches von Stasburger „Ueber Bau und Wachstum der pflanzlichen Zellenmembran“ !) abgeschlossen und der Redaktion der „Botanischen Zeitung“ eingeschickt worden, kam aber erst später zur Veröffentlichung. Sie liefert sehr beachtenswerte Beiträge zu den in jenem inhaltsreichen Werke gegen die Intussuszeptionstheorie und die „Mizelle* Nägeli’s in’s Feld geführten Tatsachen und Ausein- andersetzungen. Der in Aussicht gestellten ausführlichern Behand- lung des Gegenstandes muss mit lebhaftem Interesse entgegengesehen werden. K. Wilhelm (Wien). Reifung und Furchung des Reptilieneis. Von C. F. Sarasin (Würzburg). Als Untersuchungsobjekt dienten die Eier von Lacerta agılis, zur Vergleichung auch einige vom Wellensittich. Die jüngsten untersuchten Eidechseneier von etwa 1 mm im Quer- schnitt zeigen einen sehr feinkörnigen Inhalt, eingelagert in ein Netz von Plasmafäden. An einer oder an mehrern Stellen dieses Netzes finden sich knotenförmige stark gefärbte Ansammlungen feiner Körner, die wol den von Schäfer im jungen Hühnerei entdeckten und von ihm „pseudonuclei“ benannten Bildungen entsprechen. Eier von etwa 3 mm Durchmesser sind in ihren peripherischen Teilen bereits von großen Dotterkörnern erfüllt, welehe, gegen den Mittelpunkt des Eis hin immer kleiner werdend‘, ganz unmerklich in die feinsten Granula 4) Siehe Biolog. Zentralblatt 1883, Nr. 1. Sarasin, Reifung und Furchung des Reptilieneis, 109 übergehen, die in dem immer noch deutlichen Plasmanetz der zen- tralern Eiregion eingelagert liegen. Auch diese feinen Körnchen des Innern wandeln sich mehr und mehr in Dotterelemente um, sodass schließlich in Eiern von etwa 5 mm Durchmesser nur noch eine schmale, einseitig und exzentrisch liegende Zone feiner Substanz übrig bleibt, welehe an ihren Grenzen alle Uebergänge von den kleinsten Körnern bis zu den größern Formen der Dotterelemente aufweist. An diese Zone knüpft sich nun während der ganzen Weiterentwicklung des Eis die Neubildung des Dotters. Daher will ich sie ihrer phy- siologischen Bedeutung nach als „Herd der Dotterbildung“ bezeich- nen. Derselbe fehlt in keinem der von mir untersuchten Eier, weder bei den reifsten Ovarialeiern, noch selbst in jungen solchen aus dem Eileiter, deren Embryonalentwicklung schon begonnen hat. Diese letztere Beobachtung stimmt mit der Tatsache überein, dass die Ei- dechseneier im Eileiter, obschon ihnen Eiweiß fehlt, während der er- sten Entwicklungsstufen noch sehr bedeutend an Größe und Gewicht zunehmen, natürlich abgesehen von der Gewichtsvermehrung der Schalen- haut durch Einlagerung von Kalk. Ein Teil der Größenzunahme des Eis dürfte vielleicht auch auf Wachstum der Dotterkörner selbst beruhen. Der Dotterherd zeigt in allen Fällen mit den gleichen charakte- ristischen Eigentümlichkeiten in der Ansammlung feiner Substanz alle Uebergänge zu Dotterelementen. Die kleinen Körnchen desselben sind oft deutlich netzförmig angeordnet und außerdem begleitet den Dotterherd als ständige Bildung ein bald mehr bald weniger breiter Streif von reinem Protoplasma, welches ein überaus zierliches Netz- werk bildet und auf feinen Durchschnitten meist schon vom bloßen Auge als helle Stelle inmitten des dunkeln Dotters sich erkennen lässt. In reifen Ovarialeiern bilden in diesem Plasmanetz feine Körner eine rundliche oder ovale diehte Ansammlung, die völlig an das Aussehen eines Kerns erinnert, der allseitig von Plasmasträngen umgeben ist. Ich habe dieses Gebilde auch in jungen Eiern des Eileiters mehrmals angetroffen; seine Bedeutung ist mir unklar geblieben. Die Form und Größe des Herds der Dotterbildung ist in ver- schiedenen Eiern überaus verschieden, und dies ist nicht befremdend, wenn man bedenkt, dass derselbe doch wol nur physiologische, nicht aber morphologische Bedeutung hat. Auch seine Lage wechselt sehr. Bald liegt er mehr exzentrisch, bald mehr zentral, bald näher an dem Keimpol, bald mehr von ihm entfernt, immer aber so, dass alle Schich- ten des Dotters ihn umkreisen und dies ist nichts anderes als die natürliche Folge davon, dass er den Ausgangspunkt der Dotterbildung darstellt. Die Zahl der Dotterschichten varürt nach den Individuen, ihre Form dagegen nach der verschiedenen Lage des Dotterherds. Das Schema, welches für die Schichtung des Vogeldotters zu- trifft, hat für das Eidechsenei keine Geltung; denn hier gehen die Dotterschichten nicht wie bei jenen unterhalb der Keimschicht durch, 410 Sarasin, Reifung und Furchung des Reptilieneis. sondern verschmälern sich mehr und mehr und werden feinkörnig. Sämmtlich lassen sie sich durch die ganze Keimschicht hindurch ver- folgen, sodass dieselbe in innigster Verbindung mit dem übrigen Dot- ter steht. ’ Das Keimbläschen ist schon in Eiern von 3 mm Durchmesser und weniger auf der Wanderung nach der Peripherie des Eis begriffen; später liegt es der Eihaut dieht an, plattet sich mehr und mehr ab, verliert seine Membran und breitet sich endlich als feine Lage über die Oberfläche der Keimschicht aus. So fand ich es in den Jüngsten Eiern des Eileiters. Diese ausgebreitete Lage wird mit der Weiter- entwieklung des Eis immer dünner; Teile davon werden unzweifel- haft wieder in den Dotter aufgenommen, indem oft Streifen von Keim- bläschensubstanz in den nächstliegenden Bildungsdotter hinein sich verfolgen lassen. Andere Teile bleiben vielleicht ohne weitere Ver- wendung. In die Mündungen der ersten Furchen senkt sich die nun bereits membranartig dünn gewordene Lage hinein. Im weitern Ver- lauf der Furchung endlich schwindet auch diese und mit ihr die letzte Spur des Keimbläschens. Beim Wellensittich bereitet sich das Keim- bläschen in der oben beschriebnen Weise bereits innerhalb des Eier- stocks aus. Ein Uebergang eines morphologischen Teils des Keimbläschens in eine Kernbildung konnte nicht beobachtet werden; dagegen mischt sich die Keimbläschensubstanz der ganzen Keimschicht bei. Die Furchung des Reptilieneis zeigt Eigentümlichkeiten, die sie von allen beschriebnen Furehungsprozessen der Vertebrateneier unter- scheiden und mehr an die Vorgänge erinnern, die uns von Eiern der Wirbellosen schon mehrfach mitgeteilt worden sind. Die ersten Fur- chen schneiden bald senkrecht, bald mehr schräg in die Keimschicht ein und stoßen oft an ihrer Basis auf einen kleinen Hohlraum im Dotter. Eine Grenze, die etwa diese Segmente vom Dotter abtrennte, lässt sich nicht bezeichnen; sie hängen vielmehr innig mit diesen zu- sammen. Sehon in einem Stadium, in dem erst wenige Furchen aufgetreten sind, beginnt eine Zellbildung, die bisher übersehen worden ist. In der Tiefe der Furchen, und zwar meist in den oben genannten kleinen Hohlräumen, schnüren sich vom unterliegenden feinkörnigen Dotter Zellen mit Kernen ab, dergestalt, dass zuerst nur eine kleine Hervor- ragung sichtbar wird. Dieselbe aber wächst mehr und mehr und steht endlich nur noch durch einen schmalen Stiel mit dem Mutter- boden in Verbindung. Ist auch dieser durchgerissen, so liegt eine freie Zelle zwischen den Wänden der Furche und schickt sich manch- mal schon hier zur Weiterteilung an. Aus der Tiefe können diese Zellen schließlich an die Oberfläche der Keimschicht gelangen. Statt einer können auch mehrere solcher Zellen im Grunde einer Furche sich abschnüren, so dass letztere dann auf ein ganzes Nest Müller, Proterandrie der Bienen. 411 kleiner Zellen stößt. Derselbe Knospungsprozess geht auch an der Oberfläche der Furchungssegmente vor sich; auch hier bilden sich Vorwölbungen, die immer größer werden und endlich sich abschnüren. Meist ist ein Kern in ihnen sichtbar, während ein zweiter unterhalb der Abschnürungsstelle im Dotter liegen bleibt, sodass es kaum zwei- felhaft ist, dass eine Kernteilung stattgefunden hat. Die abgeschnür- ten Zellen teilen sich oft rasch weiter. Mit dieser Art der Zellbildung durch Vorwölbung und Abschnürung geht in den durch die Furchen begrenzten Segmenten der Keimschicht eine zweite Hand in Hand, welche gewöhnlich einfach als Zellteilung aufgefasst wird. Aber auch hier sind die neuen Stücke kleiner, als die zurückbleibenden Teile der Furchungskugel, aus der sie heraus- geschnitten werden. Wenn endlich der ganze feinkörnige Keimpol in Zellen aufgelöst ist, greift die Furchung auch in den groben Dot- ter. über'*). W. H. Müller, Proterandrie der Bienen. Inaugural- Dissertation zur Erlangung der philosophischen Doktorwürde der hohen philos. Fakultät der Universität Jena Liegnitz 1882. Verfasser behandelt die eigentümliche, als Proterandrie bezeichnete Erscheinung, dass die Männchen vieler Bienen ihren Weibchen in der Entwicklung um mehrere (8—14) Tage vorauseilen und dement- sprechend auch früher wieder zu Grunde gehen. Diese Erscheinung wird als Regel zunächst für viele Arten einer großen Anzahl von Gattungen festgestellt, der Maskenbiene (Prosopis Fabr.) Schmalbiene (Halietus Latr.), Erdbiene (Andrena F.), Seidenbiene (Colletes Ltr.), Hosenbiene (Dasypoda Litr.), Zottelbiene (Panurgus Panz.), Langhorn- biene (Eucera Scop.)\, Pelzbiene (Anthophora Ltr.), Mörtelbiene (Chalei- doma Lep.), Blattschneiderbiene (Megachile Ltr.), Mauerbiene (Osmiu Ltr.), Wollbiene (Anthidium F.), Scheerenbiene (Chelostoma Ltr.), Kegel- biene (Coelioxys Latr.). Sie findet sich also nicht nur bei den selbst- ständig ihre Brut versorgenden Bienen, sondern kommt auch (Coeli- oxys) bei Schmarotzern vor. Die Proterandrie wurde wol zuerst von Reaumur (Me&moires pour servir & Y’histoire des insectes, T. 6, Pt. I. 1748, Mem. III, pp. 97”—98) beobachtet, indem dieser konstatirte, dass die roten oder männlichen Mörtelbienen einige Tage vor den schwar- zen weiblichen erscheinen und dass letztere, sobald sie ausfliegen, Männchen zu ihrer Befruchtung bereit finden. *) In einer später erscheinenden und mit Tafeln versehenen Arbeit werden die hier gegebenen Resultate weiter ausgeführt und ebenso die Literaturan- gaben besprochen werden, 442 Ossowski, Berichte über anthropologisch-archäologische Untersuchungen. Obwol die bisherigen diesbezüglichen Beobachtungen noch viel- fache Lücken aufweisen, so zeigen sie doch, dass Proterandrie in allen Hauptzweigen der Bienenfamilie sich findet. Es machen auch die ge- sellig lebenden Bienen von dieser Regel keine Ausnahme. Hier sind zwar die Verhältnisse insofern verwickelter, als die Arten der Gattung Apis L., oder Honigbiene, in zwei, die der Gattung Bombus Ltr. oder Hummel, sogar in mindestens drei verschiedenen weiblichen Formen vorkommen; indess gibt Verf. an, dass auch bei ihnen, wenigstens bei Bombus, Proterandrie bestehe; er glaubt dieselbe auch bei andern Hymenopteren, bei den Vespiden, Sphagiden, Ichneumoniden annehmen zu dürfen und er vermutet, dass die Apiden schon von ihren Stammes- vorfahren her die gemeinschaftliche Gewohnheit ererbt haben, ihre Brutzellen derartig anzulegen, dass von der Nachkommenschaft früher Männchen als Weibchen ausschlüpfen. Im Zusammenhang mit der Proterandrie stehen die instinktiven Bewegungen der Männchen zum Zweck der leichtern Auffindung der Weibchen und es zeigen dieselben der Lebensweise der Weibchen entsprechende Abänderungen. Den Prosopis-, Halictus-, Andrena- und Colletes-Weibcehen wird, da sie keine bestimmten Blumen besuchen, von den Männchen in der Nähe der Nistplätze aufgelauert; die Chalei- doma-, Megachile- und Osmia-Männchen sehen an den ihren Weibehen beliebten Blumen dem Stelldichein in unruhiger Erwartung entgegen; die Eucera-, Anthrophora- und Anthidium-Männchen machen in perio- disch sich wiederholendem Fluge an möglichst vielen Lieblingsblumen der Weibchen die Runde, so dass hier die der Vereinigung der Ge- schlechter sich entgegenstellenden Schwierigkeiten infolge des Zer- streuens der Individuen über weiten Flächenraum einigermaßen geho- ben werden. Verf. fasst dieselben als auf vererbter Gewohnheit be- ruhende Triebe (Instinkte) auf, welche durch natürliche Auslese erhal- ten und ausgeprägt werden. F. Karsch (Berlin). Ossowski, Gottfried, Berichte über anthropologisch-archäologische Untersuchungen in den Höhlen der Umgebung von Krakau. Sammlung von Materialien zur Kenntniss der vaterländischen Anthropologie, herausgegeben von der Akademie der Wissensch. zu Krakau. Krakau 1880, 4881, 1882. Bd. IV, S. 35—56. Karte des Bezirks von Krakau und 2 Tafeln. — Bd V. S. 18-45, eine Karte und 3 Tafeln. — Bd. VI, S. 23—51, eine Karte, 2 Tafeln und 5 Holzschn. (polnisch). Berichte der physiographischen Kommis- sion der Akad. d. Wissensch. zu Krakau. Krakau Bd. XVII (polnisch). Im Auszuge in den Materiaux pour l’histoire primitive et naturelle de ’homme, 2. serie, tome XII, p. 1—20, 2 tables (französisch). Die Höhlen befinden sich ausschließlich in Kalksteinhügeln, die dem obern weißen Jura angehören und besonders im östlichen Teile Ossowski, Berichte über anthropologisch-archäologische Untersuchungen. 115 des Bezirks von Krakau entwickelt sind, wo sie drei beinahe parallele Züge bilden: den nördlichen, den mittlern und den südlichen. Der mittlere Zug erscheint besonders interessant, da er zahlreichere Höh- len beherbergt, die in archäologischer und paläontologischer Beziehung von weit größerer Bedeutung sind, als die Höhlen der beiden übrigen Züge. Es sind vom Verf. 48 Höhlen untersucht worden; viele andere sind indess noch undurchforscht geblieben. Der Boden ist in allen von einer verschieden mächtigen An- schwemmung bedeckt. Diese Anschwemmungen gehören dem Allu- vium an, was durch ihren petrographischen und paläontologischen Charakter bewiesen wird. In den Anschwemmungen kann man drei Schichten oder Ablagerungen unterscheiden. a) Die oberste Schicht lieferte einige Thonscherben, wenig zahl- reiche Gegenstände aus Bronze (15) und aus Eisen (1), einige Menschen- knochen und frische Knochen von jetzt lebenden Säugetieren und Vögeln. b) Die mittlere Schicht enthält Ueberreste jetzt lebender oder vor kurzer Zeit an demselben Ort gelebt habender Tiere, sowie ziem- lich zahlreiche Knochen des Menschen und stellt eine erstaunlich reiche Fundgrube verschiedenster neolithischer Objekte aus Feuer- stein, verschiedenen Steinen, Kalkstalaktiten, Knochen, Hirschgeweihe, von Unio pietorum, zahlreiche Thonscherbken und Thonperlen dar. In derselben Schicht sind auch vielfach Ueberreste von Herden beob- achtet worden, die den Schluss rechtfertigen, dass sich dort der Mensch lange Zeit aufhielt. ce) Die unterste Schicht, die in vielen der untersuchten Höhlen fehlt, enthält Ueberreste der diluvialen Fauna, sowie verhältnissmäßig spärliche Erzeugnisse der menschlichen Industrie (Geräte und Objekte ‘aus Feuerstein und Knochen). Diese Schicht besteht aus einer An- schwemmung des Mammutlehms, der die Gipfel deı Hügel bedeckt. Die Tiere sind somit nicht in den Höhlen untergegangen, in welchen heut ihre Knochen gefunden werden. Sie lebten auch nicht gleichzei- tig mit dem Menschen, welcher die mit den Knochen zusammen vor- kommenden Gegenstände bearbeitete. Diese Produkte der Industrie sind unzweifelhaft von andern Orten eingeschwemmt worden. Von al- len vom Verf. in dieser Schieht aufgefundenen Ueberresten der dilu- vialen Fauna erscheint am interessantesten das Stirnbein mit den Hörnerzapfen und den Scheitelbeinen von Ovibos moschatus. In allen vom Verf. untersuchten Höhlen zusammengenommen sind folgende entschieden neolithische Gegenstände gefunden worden: Ge- räte und Objekte aus Feuerstein geschlagen (mehrere Zehntausende) ; Schleifsteine aus Sandstein und fertige Steingeräte, sowie verschiedne bearbeitete Steine (Granit, Porphyr, Sandstein); Geräte und Objekte aus Knochen von Säugetieren und Vögeln, bisweilen aus Knochen 8 114 Francois Franck, Halsvenenbewegungen. des Menschen (eirca 6000); Geräte aus Geweihen des Hirsches (8); Knochen mit Spuren von Einschnitten; verschiedne Thonscherben von einigen Hunderten unvollständiger Gefäße; Perlen und Schmuck- sachen aus Thon (6); Schmuckgegenstände aus Schalen von Unio pietorum (15); Objekte aus Bronze (15) und aus Eisen (1). Die so zahlreich gefundenen Knochenobjekte verdienen besondre Aufmerksamkeit. Es sind zum größten Teile Geräte, die zur täglichen Arbeit dienten, verschiedne Pfriemen, große Nadeln und ver- schiedne keramische Instrumente. Neben diesen Dingen des prak- tischen Lebens sind aber auch einige Produkte einer urwüchsigen Kunst entdeckt worden, wie namentlich aus Knochen ausgeschnittne Nach- bildungen von zahmen und wilden Säugetieren und Vögeln. Diese Aeußerungen des erwachenden Kunsttriebes sind freilich sehr grob ausgeführt, dennoch aber drücken sie sehr deutlich den Habitus der bezüglichen Tiere aus. Einige dieser primitiven Abbildungen sind mit vielen Löchern versehen und dienten möglicherweise als Schmuck- gegenstände. Von allen Erzeugnissen dieser prähistorischen Industrie er- scheinen die Abbildungen des menschlichen Gesichts und ganzer mensch- licher Gestalten am interessantesten. Diese letztern sind en face aus Knochen oder Kalkstalaktiten ausgeschnitten, das Gesicht im Profil aus Knochen. Alle diese Abbildungen sind sehr grob ausge- führt und Gesichtszüge kaum angegeben. Eine dieser Statuetten er- scheint nur mit der linken Hand versehen und ist den einhändigen Statuetten aus Bronze sehr ähnlich, die m Ungarisch Hradisch auf- gefunden worden sind. Sehr bemerkenswert erscheint die Tatsache, dass in Ost- und Westpreußen aus Bernstein geschnittene Darstellungen von Menschen und Tieren aufgefunden worden sind, welche den vom Verf. entdeck- ten Skulpturen aus Knochen und Kalkstalaktiten höchst ähnlich er- scheinen. (Vergl. Klebs. Der Bernsteinschmuck der Steinzeit. Bei- träge zur Naturkunde Preußens. Königsberg 1882, Nr. 5, Taf. VIII, Fig. 21; Taf. IX, Fig. 2.) A. Wrzesniowski (Warschau). A. Frangois-Franck, Mouvements des veines du cou en rapport avec l’action de la respiration et du coeur. Gazette hebdomadaire de Medecine et de Chirurgie. Mars-Avril 1882. Von der Ansicht ausgehend, dass die Bewegungen der Halsvenen nur der Ausdruck der Modifikationen des Blutstroms in den unter- suchten Gefäßen sei, weleher Blutstrom selbst wieder durch die me- chanischen Vorgänge der Atmung, die Schwankungen des Lungen- kreislaufs und diejenigen der Tätigkeit des rechten Herzens beein- Frangois-Franck, Halsvenenbewegungen. alt) flusst wird, versucht Fr.-Fr. nachzuweisen, welch hohe Bedeutung der- artige Untersuchungen an sich und besonders auch für die Klinik haben. Die Arbeit zerfällt in zwei Teile: im ersten untersucht er die Bedingungen für das Zustandekommen der großen langsamen Bewe- gungen des Ab- und Anschwellens der Venen, welche mit dem Me- chanismus der Atmung zusammenhängen. Nach einem geschichtlichen Ueberblick und einer klaren Darstellung des jetzigen Standes der Frage zeigt er kritisch und experimentell, dass einem Zustande mitt- lerer Tätigkeit des Lungenkreislaufs ein mittlerer Zufluss venösen Bluts entspricht, so dass vermehrte Geschwindigkeit des Lungenkreis- laufs und stärkerer Zufluss des venösen Bluts beständig zusammen- fallen. Hierbei sind die Schwankungen im negativen Druck des Thorax in doppelter Richtung wirksam, indem sie bald vermehrend, bald vermindernd auf den Zu- und Abfluss des venösen Bluts wirken. Indem Fr.-Fr. gleichzeitig den Venendruck innerhalb des Thorax und den Druck in der Pleurahöhle bei einem normal atmenden Hunde aufzeichnen ließ, konnte er zeigen, dass die intra- wie die extrathora- kalen venösen Vorgänge während der Respirationsbewegungen ihre größte Intensität zeigen; die eine zu Beginn, die andere zu Ende der entsprechenden Phase. So ist der venöse Strom besonders schnell, das Abschwellen der Halsvenen besonders deutlich zu Beginn der Inspiration, während die exspiratorische Verlangsamung des venösen Blutstroms und die ihr entsprechende Schwellung der Venen ihr Maximum am Ende der Ex- spiration haben. Im zweiten Teil der Arbeit werden die schnellern Schwankungen des Lumens der Venen untersucht, welche sich zu den großen respi- ratorischen Bewegungen addiren und namentlich zur Tätigkeit des rechten Herzens in Beziehung stehen (Venenpuls). Der Verf. unter- sucht sehr eingehend die Physiologie des Venenpulses der Menschen und Tiere, welcher schon Gegenstand genauer Untersuchungen von Bamberger, Geigel, Friedrich u. A. war. Er zeigt durch eine Reihe von Kurven, die er mittels eines Venensphygmographen er- hielt und die die Herz- und Arterienpulsationen neben denen der Venen zeigen, dass der normale Venenpuls der Jugularis zu Beginn der Ge- sammtkurve eine plötzliche Erhebung und Senkung erfährt und dass diese mit der Systole und Diastole des rechten Herzens zusammen- hängt; eine zweite Erhebung und Senkung entsteht zu Ende der Ven- trikelsystole. Naeh dieser tritt die allmähliche Wiederfüllung der Halsvenen ein, die schließlich in die kurze Erhebung ausläuft, welche den Beginn einer neuen Reihe einleitet. Indem er in einem Schild- krötenherz künstlich den Kreislauf herstellte, konnte er den Vorgang der Aspiration nachahmen, welche die systolische Leerung der Ven- trikel auf die benachbarten Organe ausübt. Aus diesen Experimenten geht hervor, dass der Vorhof, welcher soeben fast geleert ist, in S# 416 Biedermann, Ueber Einwirkung d. konst. Stroms auf Nerven u. Muskeln. dem Moment seiner Erschlaffung für seinen Inhalt gleichsam zu groß wird, und dass das Blut, indem es in ihn hineinstürzt, eine häufig sehr deutliche Depression (negativer Puls der Halvenen) hinter sich zurücklässt. Die Wände des Vorhofs haben an sich keine aspiratori- sche Wirkung auf das Blut; infolge ihrer Schlaffheit gestatten sie aber der intrathorakalen Aspiration (der Lungenelastizität), welche in diesem Augenblick durch die Entleerung des Ventrikelbluts aus dem Thorax verstärkt wird, sich dem in der Brust und ihrer Nachbar- schaft enthaltenen venösen Blut mitzuteilen. Durch das Zusammen- wirken dieser verschiednen Einflüsse, welche im gleichen Augenblick sich geltend machen und in demselben Sinne wirken, entsteht die plötzliche Depression der Halsvenen, welche häufig das auffälligste Zeichen des Pulses der Vena jugularis ist. M. Mendelssohn (St. Petersburg). Ueber die Einwirkung des konstanten Stroms und rasch auf ein- ander folgender Induktionsströme auf Nerven und Muskeln. M. v. Frey, Ueber die tetanische Erregung von Froschnerven durch den kon- stanten Strom (Du Bois-Reymond’s Arch. f. Anat. und Phys. 1883. 8.43). — W. Biedermann, Ueber rhythmische Kontraktionen quergestreifter Muskeln unter dem Einfluss des konstanten Stroms (Beiträge zur allgemeinen Muskel- und Nervenphysiologie XI. Wiener Sitzungsber. Bd. LXXXVI. 3. Abt. 1883. Märzheft). — K. Schönlein, Ueber rhythmische Kontraktionen quergestreifter Muskeln auf tetanische Reizung (Du Bois Reymond’s Arch. f. Anat. und Phys. 1882. S. 369 ff.). Das von Du Bois-Reymond!) seinerzeit aufgestellte allgemeine Gesetz der elektrischen Erregung, welches, ursprünglich nur auf mo- torische Nerven sich beziehend, in der Folge auch für den entnervten Muskel (wenigstens der Hauptsache nach) als geltend angesehen wurde, lautet folgendermaßen: „Nicht der absolute Wert der Strom- dichtigkeit in jedem Augenklicke ist es, auf den der Bewegungsnerv mit Zuekung des zugehörigen Muskels antwortet, sondern die Verän- derung dieses Wertes von einem Augenblick zum andern und zwar ist die Anregung zur Bewegung, die diesen Veränderungen folgt, um so bedeutender, je schneller sie bei gleicher Größe vor sich gingen, oder je größer sie in der Zeiteinheit waren“. Nach und nach wurden jedoch eine Anzahl von Tatsachen bekannt, welche mit dem Gesetze in seiner ursprünglichen Form nicht wol vereinbar schienen. Wenn man zunächst absieht von den zahlreichen ältern Angaben betreffs der erregenden Wirkung konstanter Durchströmung sensibler Nerven, welche von Du Bois-Reymond mit Sorgfalt gesammelt wurden ?), 4) Untersuchungen über Tier-Elektr. I, S. 258. 2) Untersuchungen I. S. 283 ff. Biedermann, Ueber Einwirkung d. konst. Stroms auf Nerven u. Muskeln. 117 jedoch wegen gleichzeitiger Reizung der Endapparate nicht eindeutig genug sind, so war es zuerst Pflüger!), welcher eine gesetzmäßige „tetanisirende“ Wirkung konstanter Ströme von einer gewissen ge- ringen Intensität auch an motorischen Froschnerven beobachtete. Er hielt diesen „Schließungstetanus“ für bedingt durch „elektrolytische Molekularschwankungen“ und erklärt das Ausbleiben desselben bei An- wendung stärkerer Ströme durch die elektrotonischen Erregbarkeits- veränderungen des durchströmten Nerven. Pflüger modifizirte dem- gemäß die Formulirung des allgemeinen Gesetzes der Nervenerregung, welches in dieser neuen Fassung folgendermaßen lautete: „Obwol die Erregung vor allem abhängt von den Schwankungen der Dichte des die Nerven durchfließenden Stromes, so reagiren diese doch auch gleichwol auf den Strom in beständiger Größe.“ Auch v. Bezold?) kommt durch seine Untersuchungen über die elektrische Erregung von Nerven und Muskeln zu dem Resultate, „dass der Molekularvorgang der Erregung fort und fort am negativen Pole entstehe, solange der Strom geschlossen ist, dass aber das Resultat dieser Erregung in seiner Größe sehr durch die übrigen Stromeswir- kungen (d. i. Aenderungen der Erregbarkeit und des Leitungsver- mögens) beeinträchtigt werde“3). Neue Tatsachen, welche zur Stütze dieser seiner Anschauung hätten dienen können, wurden von v. Be- zold eigentlich nicht beigebracht. Bezüglich der erregenden Wirkung des einen Kuraremuskels stetig durchfließenden Kettenstroms erinnert er an jene von Wundt zuerst beobachtete dauernde Verkürzung, de- ren Lokalisirung an der Kathode erst später von Engelmann nach- gewiesen wurde*), während für die motorischen Nerven lediglich die große Analogie geltend gemacht wird, „welche in allen Beziehungen zwischen dem Gesetz der Muskelerregung und jenem der Nervenerre- sung durch den elektrischen Strom herrscht“). Engelmann schließt sich besonders auf Grund der bei elek- trischer Erregung des Kaninchenureter beobachteten Tatsache, „dass die (stets von der Kathode ausgehende) Schließungskontraktion ganz allgemein nur dann zu stande kommt, wenn die Stromesdauer eine ge- wisse Grenze überschreitet“ ®) und auf Grund der bereits erwähnten Lo- kalisation der Schließungsdauerkontraktion an der Kathode, im wesent- lichen den Anschauungen v. Bezold’s an. Gleichwol erkennt er die Berechtigung nicht an, den Pflüger’schen Schließungstetanus bei Reizung motorischer Merven mit schwachen Kettenströmen als Beweis für das Vorhandensein eines dauernden, durch den Strom an und 1) Elektrotonus S. 445. 2) Untersuchungen über die elektr. Erreg. von Nerven und Muskeln, Dale. 8. 309: .4) Pflüger’s Arch. III, S. 316 ff. Minl=2C#B.309: GRd.ne, 8.1205; 418 Biedermann, Ueber Einwirkung d. konst Stroms auf Nerven u. Muskeln. für sich bedingten, tetanischen Erregungszustandes des Nerven zu halten, indem er es als Regel betrachtet, dass, ungeachtet beständiger Erregung an der Kathode, während der ganzen Durchströmungsdauer doch nur „bei plötzlichem Anwachsen der örtlichen Erregung nach einer vorausgegangenen Dichtigkeitsschwankung des Stromes“ eine einzige die Schließungszuckung bedingende Reizwelle abläuft. Nach Engelmann!) wäre der erwähnte Schließungstetanus darauf zu be- ziehen, dass spontan sich entwickelnde innere vorher latente Reize des Nerven während der Schließungsdauer im Gebiete des bestehenden Katelektrotonus infolge der daselbst bestehenden Erregbarkeitsneigung wirksam werden. Dem gegenüber ist jedoch hervorzuheben, dass, wie Hering?) zeigte, das Eintreten des Schließungstetanus keines- wegs an die von Engelmann geforderten Bedingungen (Uebergang der Frösche aus der Kälte in die Wärme) geknüpft erscheint, sondern ganz unabhängig von einem Temperaturwechsel an Kaltfröschen beobachtet wird, ein Umstand, der in jüngster Zeit auch von M.v.Frey°) wieder geltend gemacht wurde, indem er zeigte „dass die Nerven jedes Frosches, der in einer Temperatur unter 10° ©. lebt, in kürzerer oder längerer Zeit die Fähigkeit gewinnen, durch den konstanten Strom tetanisch erregt zu werden.“ Diese ungewöhnliche Reizbarkeit darf als ein „Zeichen der ver- änderten chemischen Zusammensetzung“ der Nerven angesehen wer- den, „bedingt durch den andersartigen Stoffwechsel, den die Tiere in der Kälte beginnen“. Alle Umstände, welche auch sonst die Erreg- barkeit der Nerven beeinträchtigen (Erwärmung, längeres Liegen in 0,6 °/, Kochsalzlösung, anhaltendere Durchströmung) vernichten jene außerordentliche, in der Kälte übrigens sehr dauerhafte Empfindlich- keit früher oder später, wobei zu bemerken ist, dass die Erschöpfung durch einen geschlossenen elektrischen Strom auf die (ganze? Ref.) durchflossene Streeke beschränkt erscheint und nach Oefinung des Stroms wieder schwindet. Bei hinreichender Empfindlichkeit der Prä- parate wirken Ströme von beliebiger Stärke tetanisirend, und zwar ist die Höhe des Tetanus von der Stärke des Stroms abhängig, während die Richtung insofern in Betracht kommt, als starke aufsteigende Ströme den Schließungstetanus unterdrücken und Oeffnungstetanus auslösen. Beide verlaufen bei höchster Erregbarkeit des Präparats ganz regel- mäßig und ohne merkliche Schwankungen. Die Kurven stimmen dann durchaus mit jenen überein, welche der Muskel bei intermittirender Reizung des Nerven verzeichnet. Gleiehwol unterliegt die Beantwor- tung der Frage, ob es sich hier in Wahrheit um einen regelmäßigen einer synehronisch diskontinuirlichen Erregung sämtlicher Fasern seine 4) Pflüger’s Arch. III. S. 403 ff. 2) Wiener Sitzungsber. LXXXV. Bd. III. Abt. 1882. Märzheft. 3) Du Bois-Reymond’s Arch. f. Physiol. 1883. S. 43 ff. Biedermann, Ueber Einwirkung d. konst. Stroms auf Nerven u. Muskeln. 119 Entstehung verdankenden periodischen Tetanus handelt, besondern Schwierigkeiten. Hering und Friedrich!) versuchten dieselbe seinerzeit vermittels des physiologischen Rheoskops zu entscheiden. Indess stellte sich heraus, dass der Schließungstetanus zwar sekun- däre Zuekung, nicht aber sekundären Tetanus auszulösen vermag, so dass die diskontinuirliche Natur desselben immer noch fraglich blieb. v. Frey nimmt nun, gestützt auf Versuche, welche er mittels des Kapillarelektrometers und des Telephons anstellte, neuerdings an, dass der Schließungstetanus bei indirekter Muskelreizung in der Tat stets rhythmisch und diskontinuirlicher Natur ist, selbst wenn die Muskel- kurve vollkommen glatt verläuft. Er schätzt die Häufigkeit der Os- eillationen auf 10—15 in der Sekunde und hält es demnach für wahr- scheinlich, dass dem Nerven die Fähigkeit zukommt, „den stetigen Verlauf des konstanten Stroms in getrennte Erregungsstöße umzu- setzen“, wobei es den Anschein hat, „als ob diese Erregungen wenig- stens zu Beginn des Tetanus sich in gleichen Intervallen folgten.“ Die sekundäre Unwirksamkeit des Schließungstetanus würde nach Frey nicht sowol auf Ungleichzeitigkeit der Schwankungen in ver- schiedenen Fasern, als vielmehr auf eine zu geringe Amplitude der- selben zurückzuführen sein. Ref. versuchte die Frage nach der Natur der Dauererregung bei konstanter Durehströmung am quergestreiften Muskel zu entscheiden und kam hierbei zu folgenden Resultaten. Die schon erwähnte „Schließungsdauerkontraktion“ des Muskels erscheint bei Anwendung mittelstarker Ströme als eine mehr oder weniger deutliche und auf die nächste Umgebung der Austrittsstelle des Stroms beschränkte Wulstbildung, die im Augenblick der Oefinung ver- schwindet, während der Schließungsdauer jedoch in annähernd gleicher Stärke lange Zeit hindurch verharrt. Mit wachsender Intensität des Reizstroms gewinnt die Dauerkontraktion an Ausbreitung und Mäch- tigkeit und erstreckt sich schließlich nahezu über den ganzen Muskel. Entspreehende Erscheinungen (Oeffnungsdauerkontraktion) beobachtet man auch bei Oeffnung starker Ströme nach längerer Schließungs- dauer. Durch lokale Behandlung mit Na,CO, (1—3 °/, Lösung) lässt sich nun, wie Ref. schon früher zeigte, die Erregbarkeit der Muskel- substanz an der Kathode (beziehungsweise Anode) derart steigern, dass selbst schwache und mittelstarke Ströme eine mächtige, über den ganzen Muskel (Sartorius) sich erstreckende Dauerkontraktion bedingen, indem jener im Augenbliek der Schließung sich stark ver- kürzt und nur ganz allmählich wieder verlängert. In solchen Fällen zeigt sich nun sehr häufig die auffallende Erscheinung, dass die Wie- derverlängerung des Muskels nicht stetig erfolgt, sondern eine Auf- lösung der Dauerkontraktion in streng rhythmische Einzelzuckungen 1) Wiener Sitzungsber. 1875. Bd. LXXIL III. Abt. 420 Biedermann, Ueber Einwirkung d. konst. Stroms auf Nerven u. Muskeln eintritt, die wenigstens anfangs so kräftig sind, dass sie sich selbst bei ziemlich starker Belastung des Muskels an der verzeichneten Kurve noch überaus deutlich ausprägen. Während des Ablaufs einer solehen oft ziemlich langen Zuckungsreihe nimmt die Dauerkontraktion mehr und mehr ab, sodass, wenn die Gipfelpunkte der einzelnen Kurven in annähernd gleicher Höhe liegen, die Exkursionen des Schreibhebels in der Regel um so beträchtlicher werden, je mehr die Dauerverkür- zung des Muskels sich vermindert hat. Gleichzeitig bemerkt man ge- wöhnlich eine wenn auch nur sehr allmähliche Verlangsamung in der Aufeinanderfolge der Rhythmen. Wenn dieselben gegen Ende einer Reihe nicht mehr als deutlich von einander gesonderte kräftige Zuckungen des ganzen Muskels hervortreten und sich an der Kurve nur noch durch das Vordandensein flacher Wellen markiren, lässt sich gleichwol noch längere Zeit die Fortdauer der rhythmischen Erre- gungsimpulse bei direkter Betrachtung des Kathodenendes erkennen. Hat die Erregbarkeit der Muskelsubstanz am Orte der direkten Rei- zung unter dem Einfluss mehrmals wiederholter Durchströmung ab- genommen, so erscheint dementsprechend auch die Fähigkeit des Muskels vermindert, sich während der Schließungsdauer in seiner To- talität rhythmisch zu verkürzen. Häufig beobachtet man dann nur noch mehr oder weniger gedehnte Schließungszuckungen, deren teta- nischer Charakter übrigens durch sekundäres Zucken im auf- und ab- steigenden Schenkel der Kurve hinreichend gekennzeichnet ist. Bisweilen kommt es unter gleichen Versuchsbedingungen nach an- haltender Durchströmung auch zur Auflösung eines Oeffnungstetanus in einzelne rhythmische Zuckungen. Für die Deutung dieser Erschei- nungen ist es bemerkenswert, dass rhythmische. Kontraktionen quer- gestreifter Muskeln während konstanter Durchströmung auch ganz unabhängig von einer künstlich herbeigeführten, lokalen Erregbarkeits- steigerung, sowol bei Anwendung ganz schwacher, wie auch sehr starker Ströme beobachtet werden. In erster Beziehung ist zu erinnern, dass Hering!) bereits vor längerer Zeit zeigte, dass kurarisirte Froschmuskeln (Sartorius) bei Nebenschließung ihres Eigenstromes durch Eintauchen in 0,6 °/, NaCl- Lösung nach Anlegung eines Querschnittes oder im unverletzten Zu- stande bei künstlicher Durchströmung pulsiren, wobei allerdings die Kraft der einzelnen rhythmischen Kontraktionen so schwach ist, dass sie sich nur bei völliger Entspannung des Muskels deutlich erkennen lassen. Andrerseits lässt sich leicht zeigen, dass bei Anwendung starker Kettenströme die über den größten Teil des Muskels verbrei- tete Schließungsdauerkontraktion keineswegs einem stetigen Kontrak- 1) Wiener Sitzungsberichte. Bd, LXXIX. III. Abt. 1879. Januarheft. Vgl. auch Kühne, Untersuchungen aus dem Heidelberger physiologischen Institut III. Bd. S. 16. Biedermann, Ueber Einwirkung d. konst. Stroms auf Nerven u. Muskeln. 121 tionszustande entspricht, sondern einen wahren Schließungstetanus darstellt, der auch hier bisweilen in deutlich von einander gesonderte rhythmische Zuckungen aufgelöst erscheint, meist aber nur durch kleinere Zacken und Wellen von größerer oder geringerer Regelmäßig- keit an der Muskelkurve charakterisirt ist. Es kann demnach nicht davon die Rede sein, die rhythmischen Kontraktionen nach lokaler Erregbarkeitssteigerung etwa darauf zurückzuführen, dass die durch das Na,CO, bedingte an und für sich unzureichende chemische Er- regung erst durch den neu hinzukommenden elektrischen Reiz zur Auslösung kräftiger Kontraktionen führt, deren Rhythmus mit Rück- sicht auf die Tatsache erklärlich sein würde, dass auch chemische Reizung allein unter Umständen rhythmische Erregung des Muskels bewirkt!), sondern es handelt sich hier in der Tat, wie beim Nerven, um eine spezifische Wirkung des konstanten elektrischen Stroms an und für sich. Es schließen sich hier naturgemäß Beobachtungen Engelmann’s?) an, welche wol ohne Bedenken als ein Analogon der bisher erwähnten Tatsachen gelten dürfen. Ich meine jene periodisch von der Kathode des konstanten Stroms ausgehenden Kontraktions- wellen, welche der genannte Forscher nicht selten am Ureter des Kaninchens beobachtete. „Die Zahl der während einer Schließungs- dauer von 1-2 Minuten beobachteten Kontraktionen betrug bei Rei- zung mit schwachen Strömen gewöhnlich weniger (2—3), bei Reizung mit starken mehr (5—7). Die Zeiträume, in denen sich die Wellen folgten, schwankten zwischen 4 und 20 Sekunden. Häufig waren die Perioden ziemlich gleich und kurz, in andern Fällen von verschiedener Dauer. In der Zeit zwischen 2 Wellen pflegte, wenigstens bei stärkern Strömen, der Ureter an der negativen Elektrode nicht ganz zu er- schlaffen. Auch nach Oeffnung des konstanten Stroms sah Engel- mann am Ureter der Ratte mehrmals periodische Kontraktionswellen von der Stelle des positiven Pols ausgehen. Wenn demungeachtet Engelmann das oben erwähnte „Gesetz der Reizwelle“ als durchweg geltend ansah, so erscheint dies auf Grund der gegenwärtig vorliegenden Tatsachen unzulässig. Denn es stellt sich wol heraus, dass in sehr vielen Fällen und insbesondere bei indirekter Muskelreizung eine einmalige Schließungszuckung den regelmäßigen Reizerfolg bildet; aber unter gewissen Bedingungen, zu welchen in erster Reihe ein hoher Grad von Erregbarkeit gehört, er- zeugt der mit konstanter Dichte fließende Strom einen rhythmischen Er- regungszustand des Nerven sowol als auch des entnervten willkürlichen Muskels und gewisser glattmuskeliger Organe (Ureter). Und’dies ver- 1) Vergl. Biedermann, Wiener Sitzungsber. Bd. LXXXII III. Abt. 1880. Novemberheft. 2) Pflüger’s Arch, III, S, 262 und 414. 492 Biedermann, Ueber Einwirkung d. konst. Stroms auf Nerven u. Muskeln. rät sich entweder durch Ablauf mehrerer deutlich von einander zu son- dernder Kontraktionswellen, oder durch einen (scheinbar) stetigen tetanischen Kontraktionszustand des Muskels, sodass in gradweiser Ab- stufung dieselben Erscheinungen sich wiederholen bei elektrischer Reizung der genannten irritablen Gebilde, zu denen sich noch der Herz- muskel gesellt, an welchem bereits seit langer Zeit rhythmische Pul- sationen unter dem Einfluss konstanter Durchströmung bekannt sind. Ob jedes dieser Gebilde, um mit v. Frey zu sprechen, „für einen bestimmten ihm eigentümlichen Rhythmus der Erregungen eingeriehtet ist,“ muss vorläufig zweifelhaft bleiben. Doch lässt sich soviel sagen, dass die Aufeinanderfolge der rhythmischen Erregungs- impulse im allgemeinen eine um so raschere ist, je größer die Erreg- barkeit am Orte der direkten Reizung ist. Sinkt dieselbe unter einen gewissen Wert hinab, so gelingt es nicht mehr, rhythmische Einzel- kontraktionen oder einen (scheinbar) stetigen Schließungstetanus durch den konstanten Strom auszulösen, sondern es erfolgt lediglich eine einmalige Schließungszuekung, wie es dem allgemeinen Gesetz der elektrischen Erregung zufolge immer der Fall sein sollte. Es scheint jedoch, dass in der Mehrzahl der Fälle auch diese Zucekungen nicht wirklich einfache sind, sondern vielmehr abgekürzte Tetani darstellen. Für diese Anschauung spricht wenigstens sehr entschieden der besonders bei direkter Muskelreizung sehr bedeutende Größenunter- schied zwischen maximalen Schließungszuckungen und zweifellos ein- fachen durch einzelne Induktionsschläge ausgelösten Zuckungen. Es bleibt schließlieh noch eine Arbeit von K. Schönlein „über yhythmische Kontraktionen quergestreifter Muskeln auf tetanische Reizung“ zu erwähnen, deren Resultate sich naturgemäß den vor- stehend beschriebenen Tatsachen anschließen. Bernstein und andere Forscher haben übereinstimmend gefunden, dass unter Umständen sehr rasch einander folgende Induktionsströme wie ein konstanter Strom wirken, indem sie vom Nerven aus nur eine einmalige Zuck- ung des Muskels (die sog. „Anfangszuckung“) auslösen, über deren Deutung die Ansichten freilich auseinandergehen. Schönlein stellt nun auf Grund seiner Untersuchungen den Satz auf, dass es sich hier um „echte Zuckungen“ handelt, „indem sich eine Anzahl von Reizen, welche einzeln nicht im stande sind Zuekung auszulösen, zu einem einzigen wirksamen Reize summiren“. Demnach erschien es nicht unmöglich, „dass bei gleichmäßig fortdauernder Reizung mit Induktionsströmen in der für die Anfangszuckung nötigen Frequenz und Stärke rhythmische Kontraktionen eines Muskels zu stande kom- men könnten, falls nach Ablauf der Anfangszuckung und ungeachtet der Fortdauer der schwachen Erregung die ursprüngliche Erregbar- keit sich wieder herzustellen vermag.“ Indess zeigte sich, dass Nervmuskelpräparate vom Frosch den theoretischen Voraussetzungen nur höchst unvollkommen entsprachen. Strieker, Studien über die Assoziation der Vorstellungen. 1253 Dagegen hatte bereits Riehet') rhythmische Veränderungen in der Kurve von tetanisch gereizten Krebsscheerenmuskeln beschrieben, so dass es einladend schien, auch die Muskeln anderer Arthropoden in das Bereich der Untersuchung zu ziehen. Schönlein wählte hierzu die Beine des großen Wasserkäfers (Dytiscus marginalis). In den Femur wurden zwei als Elektroden dienende Nadeln eingestochen, während die Tibia mittels eines Coconfadens mit einem Schreibhebel in Verbindung stand. In den primären Kreis eines Induetionsappa- rats war ein akustischer Stromunterbrecher eingeschaltet und es wurden nur minimale, eben grade wirksame Stromstärken benützt. Statt nun eine Anfangszuckung oder einen kontinuirlichen Tetanus zu verzeichnen, „geht vielmehr die Tibia in der allergleichmäßigsten Bewegung auf und nieder, den Hebel nach sich ziehend, welcher Kur- ven beschreibt, die an Regelmäßigkeit zum Teil denen nieht nach- stehen, die eine schwingende Feder auf dem berußten Papier ver- zeichnet.“ Die Frequenz dieser Bewegungen ist eine sehr wechselnde; sie schwankt in Grenzen von 6—2 Zuckungen in der Sekunde. Schön- lein unterscheidet 2 Hauptgruppen: 1. „chythmische Kontrak- tionen, Kurven, bei denen der Hebel bis zur Abscisse hinabgeht, und 2. rhythmische unterbrochne Tetani, Kurven, bei denen die untern Wendepunkte merklich über der Abseisse bleiben. „Diese letztern beobachtete Schönlein jedoch lediglich an Hydrophilus piceus und den Scheerenmuskeln des Krebses. Endlich kommen auch rhythmische Zuckungen oder kurze Tetani vor, welche durch gleich lange Pausen der Ruhe von einander, getrennt sind. Bei verstärkter Reizung vermögen sich alle die erwähnten rhythmischen Bewegungen in einen kontinuirlichen Tetanus zu verwandeln, der jedoch am Ende bisweilen wieder in Rhythmen sich auflöst. Die Reizfrequenzen, bei welehen diese letztern beobachtet werden, variiren innerhalb ziemlich weiter Grenzen, treten aber am Käferbein nicht unter 80—100 Reizen in der Sekunde auf. Die Krebsscheere arbeitet noch bei etwa 30 Reizen in der Sekunde rhythmisch. Etwaige Versuchsfehler (mangel- hafte Kontakte, Wirkung antagonistischer Muskeln ete.) erscheinen durch Kontrolversuche ausgeschlossen. Biedermann (Prag). S. Stricker, Studien über die Assoziation der Vorstellungen. 95 S, mit einer Tafel. Wien 1883, Wilhelm Braumüller. Den wesentlichen Inhalt der vorliegenden Broschüre bilden „Stu- dien“ über die Elemente und das Zustandekommen des Raumbegrifts, denen eine Reihe allgemeiner Bemerkungen über die Assoziation von 4) Vgl. dessen „Physiologie des Muscles et des Nerfs“. 1882. p. 126 ff. 194 Stricker, Studien über die Assoziation der Vorstellungen. Vorstellungen überhaupt vorangehen und an die sich einige Betrach- tungen über den Zeitbegriff, Zahlenvorstellungen, „das Wesen der mathematischen Beweise“ und „die Kontrole beim strengen Denken“ anschließen. Die tatsächlichen Ausführungen des Verf. über die Vor- stellungsassoziation und namentlich die Begriffsbildung leiden an einer gewissen Einseitigkeit, insofern die Rolle, welche den Innervations- gefühlen der Kehlkopfmuskeln für die Begriffsbildung zu Ungunsten der Klangbilder, der Gesichtsbilder geschriebner Worte, der Gemein- gefühle u. dergl. zuzuschreiben ist, sicherlich überschätzt wird. Ueber- dies enthalten dieselben durchaus nur längst bekannte und zum größten Teile bereits weit besser analysirte Tatsachen. So ist z. B. der Vor- gang der Abstraktion, der apperzeptiven Verschmelzung von Vorstel- lungen vom Verf. weder in seinem Zustandekommen, noch in seiner fundamentalen Bedeutung für die Ausbildung der höhern intellektuel- len Operationen irgendwie berücksichtigt worden. Die dann folgende Entwicklung des Kausalbegriffs aus der innern Erfahrung der Willens- handlung hat Wundt hereits in der ersten Auflage seiner physiologi- schen Psychologie (1874) in eingehender Weise dargestellt. Bei der Ableitung der Raumanschauung aus den Elementen der Erfahrung nimmt Verf. einzig auf die Eindrücke des Gesichtssinns Rücksicht. Schon das alltägliche Beispiel der Blinden mit ihrem überaus fein entwickelten Raumsinn, die Unsicherheit solcher Kranker mit ge- störter Haut- und Muskelsensibilität hätte hier doch mit Notwendig- keit auf die schon von Condillae gewürdigte ungemeine Bedeutung hin- weisen müssen, welche dem Haut- und Muskelsinn nach dieser Rich- tung hin zukommt. Dass wir bei unserm Vorstellen niemals gänzlich von der Raumanschauung absehen können, leitet Verf. von dem steten Beherrschtwerden unsres Bewusstseinsinhalts durch das Gesichtsfeld ab, ja er gelangt sogar zu dem Satze: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass keine Farbe sei“, d. h. die Vorstellung der Außenwelt soll stets durch das Gesichtsfeld beherrscht werden und somit auch stets „eine Farbe oder wenigstens irgend einen Helligkeitsgrad“ besitzen. Man ziehe nur hier einmal die Konsequenzen für die Anschauungen der Blindgebornen. Die Idee der Unendlichkeit des Raums stammt nach der Ansicht des Verf. ebenfalls aus dem permanenten Dominiren des Gesichtsfelds über unser „lebendiges Wissen“, wie er den jeweiligen Bewusstseinsinhalt bezeichnet. Da wir uns nicht vorstellen können, dass irgendwo kein Raum sei, halten wir denselben für unendlich. Dem Ref. scheint für diese Gedankenfolge die aus keinem Bewusst- sein jemals zu eliminirende räumliche Wahrnehmung des eignen Körpers jedenfalls ein bedeutend sichererer Ausgangspunkt zu sein. Die Anschauung der drei Dimensionen des Raums lässt der Verf. aus Ge- sichtswahrnehmungen und der Assoziation derselben mit Augenmus- kelgefühlen entstehen. Auch hier ist die Rolle der Hautoberfläche und der Bewegungssensationen des gesammten übrigen Körpers gänz- Stricker, Studien über die Assoziation der Vorstellungen. 125 lich unberücksichtigt geblieben. Die hier gelegentlich aufgestellte Behauptung, dass wir zur Kemntniss von dem Sitze unsres Bewusst- seins „kraft einer ursprünglichen Fähigkeit“ gelangt seien, dürfte an- gesichts der mannichfaltigen Meinungen der ältern Aerzte über die Be- deutung des Gehirns kaum als stichhaltig sich erweisen. Nachdem Verf. die Unendlichkeit unserer Zeitanschauung aus dem Umstand erklärt hat, dass dieselbe einen integrirenden Bestandteil aller unserer Vorstellun- gen bildet, bespricht er die Zahlvorstellungen, von denen jede einen „motorischen Akt“ in sich schließen soll, da uns die Zahl (von auf- geschriebenen Punkten) „nicht durch einen optischen Eindruck allein vermittelt werden kann, sondern hier eine Assoziation mit motorischen Vorstellungen notwendig ist.“ Wenn hier nicht mit dem „motorischen Akte“ einfach die Anspannung der Aufmerksamkeit oder mit den „motorischen Assoziationen“ Zahlworte gemeint sind, möchte sich Ref. der Meinung des Verf.’s nicht anschließen. Allerdings scheint es, als ob derselbe die Ansicht vertrete, dass wir den Wert einer Zahl ur- sprünglich nur mit Hilfe einer gleichen Summe von motorischen Im- pulsen aufzufassen vermögen, als jene Einheiten enthält. Dass wir übrigens zum Zählen von 18 in drei Reihen angeordneten Punkten über eine Sekunde Zeit gebrauchen sollten, wie Verf. meint, ist nach Ana- logie ähnlicher Versuche von Friedrich!) sehr unwahrscheinlich. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit dem Wesen der Mathematik. Indem Verf. zu dem Resultat gelangt, dass der Kern derselben in den Zahlenvorstellungen liegt, bezeichnet er sie als eine „experimentelle Wissenschaft“, da wir ja beim Rechnen eigentlich nichts tun, als mit Willensimpulsen (vulgo Zahlen) operiren! Das ist doch wahrlich eine ungerechtfertigte Vermengung der untergeordneten rein physiologischen Beziehungen des Zahlworts zu dem Sprechmechanismus mit der logi- schen inhaltlichen Bedeutung desselben. Den Schlussgedanken des Verf. bildet die ansprechende, wenn auch nicht neue Idee, dass die „Kontrole beim ernsten Denken“ durch das Streben nach Wahrheit und zwar nicht nach objektiver, sondern nach subjektiver Wahrheit, nach widerspruchsloser Einordnung aller neuen Eindrücke in den Schatz unsrer früher gesammelten Erfahrung der „eingelagerten Komplexe“ ausgeübt wird. Aus dem Umstand, dass die Einlagerung der Kom- plexe sich bei allen Menschen in ähnlicher Weise vollzieht, soll sich dann die Uebereinstimmung aller normalen Individuen „in Sachen des gemeinen Menschenverstands“ und damit die Allgemeingiltigkeit der logischen Sätze erklären. Ref. will nicht unterlassen darauf hinzuweisen, dass er, um die angreifbaren Punkte der vorliegenden Arbeit möglichst hervorzuheben, was ihm wegen der autoritativen Stellung des Verf.s geboten erschien, manche treffende Bemerkung und namentlich auch das aufgeführte 4) Philosophische Studien v. Wundt, I, 4. 5. 39. 126 Gruber, Anatomische Notizen. Experiment über die Wahrnehmung der Tiefendimension hier nicht näher hat berühren können. Als die gemeinsame Ursache aller Män- gel und Einseitigkeiten dieser „Studien“ glaubt er dem Umstand an- sehen zu müssen, dass Verf. sich in seinem Ideengange gänzlich außer Fühlung mit den Bestrebungen und Errungenschaften andrer moder- ner Forscher auf dem Gebiet der Physiologie und Erkenntnisstheorie befunden hat. E. Kraepelin (Leipzig). W. Gruber, Anatomische Notizen. Archiv f. pathol. Anat. 1882. Bd. 90. S. 88—118. Taf. I—V. Derselbe, Beobachtungen aus der menschlichen und vergleichen- den Anatomie. III. Heft. Berlin. 1882. Mit 4 Kupfertafeln. Verf. beschreibt einige Varietäten der Vorderarmmuskeln, welche als kon- stante Muskeln bei verschiednen Tieren wiederkehren. Auf die letztern Ver- hältnisse kann hier nicht näher eingegangen werden 1. Der M. extensor digitorum communis gab nach Untersuchungen an 400 Leichen in 1 °/, Sehnen zu allen fünf Fingern. Normal bei Myogale und Fiber, 2. Dem genannten Muskel fehlt die Sehne zum kleinen Finger in 3,5 %o; Sehnen nur zum ersten bis vierten Finger kamen dreimal zur Beobachtung = 0,4 %%. Normal ist das erstere Verhalten bei Aspalax und Dasypus, das letz- tere bei Echidna hystrix. 3. Der M. extensor pollicis longus gibt: eine Sehne zum Zeigefinger in 4,25 °/, nach Untersuchungen an 200 Leichen. Normal bei Ursus arctos. 4. Der M. extensor indieis proprius schiekt eine Sehne zum Daumen nach Untersuchungen an 200 Leichen in 4 °,. Normal bei Dasypus. In einem Falle verlief die Sehne in einer besondern Scheide, bedeckt von derjenigen für die Sehnen des M. extensor digitorum communis, wie es bei Herpestes und Phascolomys die Regel ist 5. Ein überzähliger M extensor digiti minimi quarti et tertii kam einmal unter 400 Leichen vor; normal bei Aspalax. Derselbe hat sich vom M. ex- tensor digiti minimi abgelöst, da letzterer bei einigen Säugetieren auch zum dritten und vierten Finger Sehnen abgibt. Den M. extensor digiti minimi proprius des Menschen lassen seit Sömmer- ring (4791) und Portal einige in der Norm sich mit zwei Sehnen an den fünf- ten Finger inseriren. Andrerseits fand Wood (1868) die Sehne in etwa 39 %, der untersuchten 194 Arme doppelt, während der Muskel einfach war. Unter diesen Umständen wagte Ref. nicht, eine Häufigkeitsangabe in sein Handbuch der Anatomie (1880. Bd. III. 8. 104) aufzunehmen. Gruber (Beobachtungen u. 8. w.) hat an 400 Armen russischer Arbeiter den Muskel in 80 %, mit einer geteilten und wiedervereinigten Doppelsehne versehen gefunden. Man würde daher dies Verhalten definitiv als das nor- male betrachten können, wenn Gruber jedesmal selbst präparirt hätte. Un- glücklicher Weise ist dies nach Gruber’s eigener Angabe nicht der Fall, viel- mehr waren die Extremitäten anfangs zum Teil in den Händen von gut ein- geübten Präparatoren. Scheinbar macht dies keinen Unterschied — in Wahr- Koller, Eine Getreidemilbe als Krankheitserregerin. 12% heit einen sehr großen. Wie Ref. schon einmal ausgeführt hat, kam es früher leider auch in Deutschland vor, dass zum Zweck der Demonstration variirende anatomische Verhältnisse z. B. der Rückenmuskeln so präparirt wurden, wie sie dem als bekannt vorausgesetzten normalen Verhalten oder sogar nur der individuellen Ansicht des Vortragenden zufolge sein mussten. Der betreffende Präparator konnte dabei vollständig bona fide sein; auch finden bekamntlich manche merkwürdig leicht gerade dasjenige, was sie erwarten Ein Unbe- fangener mit gesunden Augen Begabter würde allerdings durch solehe Kunst- griffe nicht zu täuschen sein. Dass Gruber aber eine gewisse Abneigung ge- gen die vom Ref beschriebne Einfachheit der erwähnten Sehne in die Unter- suchung mitbrachte, geht aus einer an vielen Stellen eingestreuten Polemik hervor, auf welche Ref. nicht weiter eingehen mag (vergl Arch. f pathol. Anat. 1881. Bd. 86. S. 370). Man kann mithin nur die Hoffnung ausdrücken, bei einer unbefangnen Nachuntersuchung werde sich die von Gruber gefundene Ziffer besser als die halb so große von Wood bewähren. W. Krause (Göttingen). J. Koller, Eine Getreide-Milbe als Krankheitserregerin. Orvosi Hetilap. Nr. 32 und Termeszettudomanyi Közlöny. XIV. Bd. S. 378 mit 1 Abbildung. Budapest 1882. (ungarisch). Am 18. Julid. J. 1832 waren 36 Taglöhner in Budapest mit dem Ausladen von 216 Säcken Gerste von einem von Kalafat in Rumänien angekommenen Schiffe beschäftigt. Kaum eine halbe Stunde nach vollendeter Arbeit verspürten die Arbeiter am obern Teil ihres Körpers ein heftiges Jucken, welches am fol- genden Tage noch heftiger auftrat. Damals konnte man am Hals, an der Brust, an den Unterarmen, am Bauch, selbst an den Schenkeln der Männer dicht stehende, mohn- bis hirsekorngroße Bläschen bemerken, die von ent- zündeten Hautpartikeln umgeben waren. Die Leute fanden die vorhergehende Nacht keinen Schlaf und einige, die in kaltem Wasser badeten, fühlten ein desto heftigeres Jucken. Eine ähnliche Krankheit wurde von Dr. Koller schon vor sechs Jahren an Taglöhnern bemerkt, die mit Weizen gefüllte Säcke aus einem Schiffe luden, und diese Krankheit wurde 1877 von Prof. E. Geber beschrieben. Gesiebten Staub dieser Gerste unterzog nun Dr. J. Horväth einer ge- nauen Untersuchung, als deren Resultat sich ergab, dass nicht nur dieser Staub, sondern selbst die Gerstenkörner in außergewöhnlicher Menge von einer Milbe erfüllt waren, die vollständig jener gleicht, welche Robin in seinem „Traite de microscopie* auf S. 765 abgebildet und als die kaum 0,5 mm große Larve einer zum Genus Oribates gehörenden Milbe erklärt hat. Sie war von ihm 1876 in Getreidestaub gefunden worden, der bei den Arbeitern mehrere Tage dauern- des Jucken verursachte. Horväth versucht gegenwärtig aus den Larven das geschlechtsreife Tier zu erziehen. Vor einigen Jahren ereignete sich ein ähnlicher Vorfall an den Ufern der Theiß und man konnte sich damals gegen den Angriff der Tiere nur durch das Versenken des Schiffes mit seiner Last in die Wellen des Flusses retten. Zu gleicher Zeit, als Koller seine Beobachtung machte, wurde ein ähn- licher Fall aus Köln berichtet, wo ein aus Russland mit Getreide befrachtetes 198 Koller, Eine Getreidemilbe als Krankheitserregerin. Schiff die mit dem Ausladen beschäftigten Arbeiter ebenfalls mit einer Milbe infizirte. Aus den bisher konstatirten Fällen scheint hervorzugehen, dass diese Milben sich gegenwärtig zu verbreiten suchen und iihren Weg von Russland aus angetreten haben. M. Staub (Budapest). Der Vorstand des neugebildeten Vereins „Aquarium“ zu Gotha macht über seine Bestrebungen folgendes bekannt: $.1. Zweck: Pflege und Förderung der Liebhaberei des Haltens von Aquarien nach allen ihren Richtungen: der naturwissenschaftlichen, technisch- praktischen und ästhetischen. N 8 2. Mittel: 1. Anlegung und Einrichtung von Aquarien jeder Art. 2. Anknüpfung von Verbindungen mit Freunden der Aquarien am Platze und anderorts. 3. Ermittlung billiger resp. geeigneter Bezugsquellen für Aquarienobjekte, Beschaffung und Abgabe derselben zur Beobachtung. Lösung gestellter Auf- gaben unter Führung eines Beobachtungstagebuchs oder Ausfüllung von Frage- bogen. 4. Gegenseitige Förderung der Mitglieder durch Austausch eigener und Mitteilung fremder, das Aquarium betreffender Beobachtungen und Erfahrungen. 5. Sachgemäße Vorträge. b. Gelegentliche Besichtigungen von Aquarien und Exkursionen nach den Gewässern der Umgegend. 7. Eingewöhungsversuche mit Wassertieren und Wasserpflanzen der mittel- europäischen Süßwasserfauna und Süßwasserflora, insbesondere im Teichaquarium des Vereins. 8. Auflage von Fachzeitschriften oder von solchen verwandter naturwissen- schaftlicher Bestrebungen. 9, Benutzung eines Fragekastens. 10. Sammlungen und Anfertigung einschlägiger Präparate. Berichtigungen. In Nummer 1 dieses Bandes heißt es Seite 22 Zeile 29 „dessen schmaler“ statt „dessen solider schmaler“ und zwei Zeilen weiter am Schluss des Ab- BABZBR. u de wie sie sich in frühern Entwicklungsstadien mit Sicherheit nachweisen lässt, scheint auch am entwickelten Hirn der Salmoniden zu be- stehen. Verlag von August Hirschwald in Berlin. Soeben erschien : Handbhech der physiologisch- und pathologisch- chemischen Änalyse für Aerzte und Studirende von Prof. Dr. F. Hoppe-Seyler. Fünfte Auflage. Mit 18 Fig. in Holzschnitt. 1883. gr. 8. 14 Mark. - Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Bioloeisches Uentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. IIL. Band. 1. Mai 1883. NT. Inhalt: Wilhelm, Einfluss des Sonnenlichts auf Laubblätter. — Grafl, Rhabdocoe- lidenmonographie. — Eisig, Biologische Studien. — Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen und Tieren. — Wolffberg, Die phy- siologischen Grundsätze für die normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. — Berichtigung. — Anzeige. Wilhelm, Einfluss des Sonnenlichts auf Laubblätter. E. Stahl, Ueber den Einfluss des sonnigen oder schattigen Standorts auf die Ausbildung der Laubblätter. Separatabdruck a. d. Zeitschr. f. Naturwissen- schaft XVI. N. F. IX, 1. 2. Jena 1883. Verlag von Gustav Fischer. Mit 1 Taf. — H. Pick, Ueber den Einfluss des Lichts auf die Gestalt und Orien- tirung der Zellen des Assimilationsgewebes. Botanisches Centralblatt von Uhlworm und Behrens, Band XI, Nr. 37 u. 38. Mit 1 Tafel. Die Beziehungen des anatomischen Baus und der Stellung der Laubblätter zum Licht sind in neuerer Zeit wiederholt genauer unter- sucht worden. Unter den einschlägigen kürzlich erschienenen Arbei- ten verdient zunächst diejenige Stahl’s, welche mehrfach an frühere Schriften!) dieses Forschers anknüpft, eingehender Würdigung. Sie geht von der Tatsache aus, dass das Assimilationsparenchym unserer Laubbäume aus zwei verschiedenen Zelltypen zusammengesetzt ist. Es besteht nämlich teils aus Zellen, welche mit ihrem größten Längs- durchmesser senkrecht zur Blattfläche orientirt sind (Palissadenparen- chym), teils aus andern, deren größte Ausdehnung in die Richtung der Blattfläche fällt (Schwammparenchym). In den letztern vermögen 4) Ueber den Einfluss der Richtung und Stärke der Beleuchtung auf einige Bewegungserscheinungen im Pflanzenreiche. — Ueber den Einfluss der Licht- intensität auf Struktur und Anordnung des Assimilationsparenchyms. — Beide Aufsätze in Bot. Zeit. 1880. 9 130 Wilhelm, Einfluss des Sonnenlichts auf Laubblätter. sich die Chlorophylikörner verschieden zu orientiren. Bei schwächerer Beleuchtung sammeln sie sich an den mit der Blattfläche parallelen Wänden an (Flächenstellung), während sie bei intensiver Besonnung auf die zur Blattfläche senkrechten Wände sich begeben (Profilstellung). Die Chlorophylikörner der Palissadenzellen dagegen beharren stets in der Profilstellung und vermögen sich verschiedenen Lichtstärken nur durch Gestaltveränderungen anzupassen, bei welchen sie mehr oder minder weit in das Zelllumen hineinragen. In vertikal stehenden Blättern und blattartigen Zweigen (Phyllodien) kommt Palissaden- parenchym auf beiden Seiten vor, bei horizontal ausgebreiteten Blät- tern ist es dagegen auf die Oberseite beschränkt und auf der Unter- seite durch Schwammparenchym ersetzt. In allen Fällen finden wir also die Palissadenzellen an der vom Lichte unmittelbar getroffenen Blattseite und die Schwammzellen in ihrem Schatten. Diese Art der Verteilung und die ungleiche Empfindlichkeit für verschieden starkes Licht legen die Vermutung nahe, es seien die Palissadenzellen die für starke, die Schwammzellen dagegen die für geringe Lichtintensitäten angemessenere Zellform. Eine Reihe vergleichender Beobachtungen ergab die Richtigkeit dieser Anschauung. So kommt in den Blättern ausgesprochener Schat- tenpflanzen (Oxalis acetosella, Epimedium alpinum) typisches Palissa- denparenchym überhaupt nicht vor. Die Mehrzahl der Dikotylenblät- ter besitzt jedoch ein weitgehendes Anpassungsvermögen an sonnige oder schattige Standorte. Diese Fähigkeit ist bei der Rotbuche be- sonders entwickelt, deren Blätter an dem nämlichen Baum je nach ihrer Stellung an besonnten oder beschatteten Trieben ganz verschie- den gebaut sind. Im derben „Sonnenblatt“ besteht der größere Teil des gesamten Assimilationsparenchyms aus Palissadenzellen, das weit dünnere zarte „Schattenblatt“ dagegen enthält vorwiegend Schwamm- zellen, welche nur in der obern Blatthälfte, unter der Epidermis, pa- lissadenähnlich als sogen. Trichterzellen ausgebildet sind. Zwischen diesen Extremen fand Stahl alle denkbaren Zwischenstufen je nach der Helligkeit der Standorte. Dass Blätter, welche bei horizontaler Lage Palissadenparenchym nur an der Oberseite führen, solches auch an der Unterseite ausbilden, wenn sie sich vertikal stellen, ist eine sehr verbreitete Erscheinung, für welche Lactuca Scariola, an sonnigen Standorten eine sogenannte Kompasspflanze, ein lehrreiches Beispiel bietet. In den senkrecht orien- tirten Blättern dieser Pflanze ist fast nur Palissadenparenehym vor- handen, in den wagerecht ausgebreiteten dagegen beschränkt sich letz- teres auf die Oberseite. Aus allen diesen Erscheinungen ergibt sich zweifellos, dass das Palissadenparenchym mehr für starke, das Schwammparenchym mehr für geringe Liehtintensitäten sich eignet. Das Anpassungsvermögen an letztere ist jedoch bei Blättern verschiedener Pflanzen sehr ungleich. Bei wintergrünen Gewächsen (Vaceinium Wilhelm, Einfluss des Sonnenlichts auf Laubblätter. 131 Vitis idaea, Dlex Aquifolium, Vinca minor, Pirola-Arten) fand Stahl selbst an sehr schattigen Orten ein verhältnissmäßig kräftig ent- wickeltes Palissadenparenchym. „Offenbar werden an die langlebigen Blätter der immergrünen Gewächse noch andere Ansprüche — größere Festigkeit, Widerstand gegen Frost — gemacht, welche eine so weit gehende Anpassung an die Beleuchtungsverhältnisse, wie bei den im Herbst abfallenden Blättern, nicht gestatten.“ Ausgesprochene Schat- ten- oder Sonnenpflanzen besitzen nur wenig plastische Blätter und können sich daher an geradezu sonnigen bezw. schattigen Standorten nicht erhalten. Die Helligkeit des Standorts beeinflusst aber nicht nur die Aus- bildung dikotyler Blätter, sondern wirkt in solehem Sinne auch bei manchen Monokotylen (Iris Pseudacorus), bedingt sogar Abänderungen in der Mächtigkeit und Anordnung des Chlorophyllapparats von Leber- moosen (Marchantia polymorpha) und Flechten (Imdricaria physodes), worauf hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Bisher war nur von den Beziehungen die Rede, welche sich zwi- schen dem Assimilationsparenchym der Blätter und der Hellig- keit des Standorts geltend machen. Solche Beziehungen bestehen nun auch zwischen der letztern und den übrigen anatomischen Elementen des Blattgewebes. Zunächst sind die Wände derselben bei Schatten- blättern dünner, als bei Sonnenblättern. Mehrschichtige Epidermen sind, wo sie überhaupt vorkommen (Ficus-Arten, Tradescantia), an son- nigen Standorten weit mächtiger entwickelt, als an schattigen, an er- stern oft allein vorhanden. Ebenso ist die manchen Pflanzen (Ilex aquifolium, Koniferen) eigentümliche Verstärkung der Oberhaut durch dickwandige Zellen, die Bildung eines sogen. Hypoderms im Lichte auffallend begünstigt. Ferner sind die Schattenblätter meistens reicher an Interzellularräumen, als die Samenblätter. Die Größe dieses Un- terschieds kann zehn Prozent des gesamten Blattvolumens betragen, ein Umstand, welcher die durch v. Höhnel!) nachgewiesene stärkere Verdunstung aus Schattenblättern mit erklärt. Die Helligkeit des Standorts übt auch einen deutlichen Einfluss auf die Größe und Dicke der Blätter aus. Jene wird im Schatten, diese im Licht gefördert, beide verhalten sich also innerhalb gewisser Grenzen umgekehrt proportional. Diese Verschiedenheit kann sehr beträchtlich sein, besonders hinsichtlich der Flächenausdehnung. So besitzen die Blätter von Majanthemum bifolium auf sonnigen Moor- wiesen kaum ein Drittel der Größe, welche sie im Waldesschatten erreichen. Mit der Breite und Dicke der Blätter ändert sich unter ungleichen Beleuchtungsbedingungen häufig auch die Gestalt des Quer- schnitts. Rundliche Formen werden im Schatten durch flache, schup- 4) Forschungen auf dem Gebiet der Agrikulturphysik, herausgegeben von E. Wollny. II. Band 4. Heft. g% 132 Wilhelm, Einfluss des Sonnenlichts auf Laubblätter. penartig anliegende, kurze durch abstehende nadelförmige ersetzt. Alle diese Erscheinungen von Heterophyllie machen sich in vielen Fällen auch bei Vergleichung von Keimlingen mit ältern Pflanzen der nämlichen Art geltend, zeigen also die naturgemäße Anpassung ersterer an schattigere Standorte. Die Helligkeit des Standorts ist endlich auch für die Orien- tirung der Blätter maßgebend. Bei vielen einheimischen Pflanzen stellen sich die gewöhnlich wagerecht ausgebreiteten Blätter an son- nigen trocknen Plätzen annähernd senkrecht. Stahl nennt eine Reihe von Gewächsen, bei welchen dies in mehr oder minder vollkommener Weise geschieht. So scheiteln sich die gewöhnlich ringsum abstehen- den Nadeln der Fichte an beschatteten Zweigen ähnlich wie bei der Weißtanne, während letzterer Baum an stark besonnten Zweigen auf- gerichtete Nadeln trägt. Bei den fiederspaltigen Blättern vieler Kom- positen und Doldenpflanzen sind diese Stellungsverschiedenheiten be- sonders auffallend und lehrreich. Sie kommen teils durch Aufwärts- oder Abwärtskrümmungen, teils durch Torsionen zu stande. „Die äußern und innern Kräfte, welehe durch ihr Zusammenwirken die jedesmalige Lage eines Organs bedingen, kommen in der mannig- faltigsten Kombination zur Geltung, sodass es zu den schwierigern Aufgaben gehört, in jedem einzelnen Fall die Kräfte ausfindig zu machen, durch welche die endgiltige Lage zu stande gebracht wor- den ist.“ — In einem besondern Abschnitt weist Stahl auf die praktische Bedeutung seiner Befunde hin, namentlich für die naturgemäße Kultur ausländischer Gewächse und für die Beurteilung der klimatischen Verhältnisse, unter denen fossile Pflanzen sich entwickelt haben. Unter dem Titel „Entwicklungsgeschichtliches“ sucht Stahl auf grund sorgfältiger Betrachtung des tatsächlichen Verhaltens eine Vor- stellung zu gewinnen von der Art und Weise, in welcher das Licht das Wachstum der Blätter beeinflusst. Er vermutet, dass das beim Aufspannen der Blätter mit hervortretender Nervatur besonders tätige Gewebe höchst wahrscheinlich in den Nerven zu suchen sei. Beim Schattenblatt wird das Längenwachstum der letztern durch die ge- mäßigte Lichtwirkung weniger verlangsamt und hält wahrscheinlich auch länger an, als im Sonnenblatt. Das junge Assimilationsgewebe wird daher in Richtung der Blattfläche stark ausgedehnt und vorwie- gend als Schwammparenchym ausgebildet. Im Sonnenblatt dagegen wird das Wachstum der Nerven verlangsamt und früher gehemmt. „Die Ausdehnung der jungen Assimilationszellen in der Richtung der Blattfläche wird früher aufhören, und da sie sich noch auszudehnen streben, werden sie dies in der einzig möglichen Richtung tun, d. h. senkrecht zur Blattfläche: sie nehmen die Gestalt von Palissadenzellen an“. Als Stütze dieser Hypothese führt Verf. die Tatsache an, dass die Nervatur von Schattenblättern namentlich auf der Unterseite be- Wilhelm, Einfluss des Sonnenlichts auf Laubblätter. 155 trächtlich über die sonstige Blattsubstanz hervorragt, im Sonnenblatt dagegen, hauptsächlich auf der Oberseite, in anastomosirende Furchen versenkt erscheint. In den „Schlussbemerkungen“ macht Stahl nochmals auf die verschiedenen Grade aufmerksam, welche das Akkommodationsvermögen der Laubblätter an verschiedene Beleuchtungsbedingungen aufweist. In dieser Hinsicht am vollkommensten organisirt sind die Blätter der Leguminosen, indem sich hier nicht nur Größe, Dicke und anatomischer Bau den während der Entfaltung herrschenden Beleuchtungsbeding- ungen anpassen, sondern auch durch das Vorhandensein besonderer „Gelenke“ eine dauernde Beweglichkeit zur Annahme der geeignet- sten Stellung zum Liehte ermöglicht ist. Minder reaktionsfähig sind diejenigen Blätter, deren Bewegungsvermögen auf die Entwicklungs- zeit beschränkt ist, doch zeigen dieselben in vielen Fällen immerhin noch eine große Plastizität bezüglich ihrer Dimensionen sowie der Verteilung und Ausbildung ihres Assimilationsparenchyms. Auf tieferer Stufe stehen die Blätter mit geringer Plastizität und in letzte Reihe sind diejenigen Pflanzen zu stellen, bei denen der Bau und die An- ordnung des Assimilationsparenchyms keine Beziehung zur Liehtinten- sität erkennen lassen, und in welchen bei jedem Wechsel der letztern eine vollständige Umlagerung der Chlorophylikörner (aus der Flächen- stellung in die Profilstellung oder umgekehrt) erfolgen muss. Dies ist bei zahlreichen Monokotylen: Irideen, Liliaceen, Orchideen, der Fall. Die Arbeit von Pick beschränkt sich auf die Darstellung des Einflusses, welchen das Licht auf die Gestalt und Orientirung des Assimilationsgewebes ausübt. Der Verf. gelangt zu dem nämlichen Hauptresultat wie Stahl. Er fand auch im Rindengewebe armlaubi- ger Stengel, die ringsum oder einseitig der Besonnung ausgesetzt sind, die Palissadenzellform entsprechend ausgebildet, während sie in Schattenzweigen derselben Pflanze fehlt. Pick weist übrigens darauf hin, dass diese Zeliform nieht in allen Schattenblättern voll- ständig verschwinde, sondern häufig nur eine mehr oder minder er- hebliche Verkürzung erfahre. Er folgert aus seinen Untersuchungen ferner, dass die Palissadenform der assimilatorischen Zellen den mei- sten Pflanzen erblich überkommen sei und durch stärkere Beleuchtung in ihrer Entwicklung nur gefördert werde. Für einige Fälle wird jedoch eine direkte Hervorrufung dieser Zellform durch das Licht zugegeben. Interessant ist der Nachweis, dass die assimilirenden Zellen sich keineswegs immer senkrecht zur Oberfläche des betreffen- den Organs stellen. Bei mehr oder minder vertikal aufgerichteten Blättern sind die Palissadenzellen aufwärts gegen das einfallende Tageslicht orientirt, zur Blattfläche also schiefwinklig gestellt. Das Gleiche ist bei aufrechten armlaubigen Stengeln der Fall, wenigstens an denjenigen Seiten, welehe unmittelbarer Besonnung zugänglich sind. Wenn Pick schließlich sagt, dass Schattenblätter gegenüber den 154 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. besonnten Blättern nach allen Dimensionen in ihrem Wachstum zu- rückbleiben, so übersieht er die von Stahl nachgewiesene größere Flächenausdehnung der erstern. Nach allen mitgeteilten Tatsachen kann also über den Einfluss des Lichts auf die gesamte Ausbildung der Laubblätter kein Zwei- fel bestehen. Dies muss ausdrücklich hervorgehoben werden, da vor kurzer Zeit die Meinung laut wurde, es seien die Beleuchtungsver- hältnisse ohne erhebliche Bedeutung für die Blattstruktur und nur maßgebend für die Anordnung des Assimilationsparenchyms?). K. Wilhelm (Wien). Die Graff’sche Rhabdocoelidenmonographie. Die große und inhaltsreiche Graff’sche Monographie?) zerfällt in einen allgemeinen Teil, in welchem die Anatomie und Physiologie, sowie die Oekologie und Chorologie der Rhabdocoeliden zusammen- fassend abgehandelt und deren systematische Stellung und natürliche Einteilung eingehend erörtert — und in einen speziellen Teil, in welchem die Arten, Gattungen, Familien und Tribus dieser Tiergruppe unter äußerst gewissenhafter Würdigung der Arbeiten früherer Au- toren systematisch durchgearbeitet werden. Die Embryologie wird nur gelegentlich berücksichtigt. Hauptzweck des Verfassers war, wie derselbe im Vorwort bemerkt, eine auf genaue Berücksichtigung der anatomischen Verhältnisse gegründete systematische Monographie aller bisher bekannten und der neu entdeckten Formen zu geben. Jeder, der das Graff’sche Werk mit Aufmerksamkeit durchliest, wird mit dem Refe- renten zu der Ueberzeugung gelangen, dass der Verf. diesen Zweck im vollsten Maße erreicht hat. In der Einleitung zum allgemeinen Teile bemerkt zunächst der Verfasser, dass zwei Gattungen von Tieren, die bisher zu den Rhabdocoeliden gestellt wurden, aus dieser Gruppe entfernt werden müssen. Die eine derselben ist Sidonia (elegans) M. Schultze, von welcher Graff in einer andern Arbeit?) die spezifische Identität mit der von Kölliker als Nacktschnecke beschriebenen Rhodope Veranii feststellt und nachzuweisen versucht, dass die Köl- liker’sche Auffassung des Tiers richtig sei, dass Rhodope eine Mol- 1) Haberlandt, Vergleichende Anatomie des assimilatorischen Gewebe- systems der Pflanzen. Pringsheim’s Jahrbücher für wissensch. Botanik. Bd. II Heft 1. 2) Ludwig von Graff, Monographie der Turbellarien. I. Rhabdocoelida. Mit 12 Holzschnitten und einem Atlas von 20 z. T. kolorirten Tafeln. Groß Folio. 442 Seiten Text. Leipzig 1882. 3) Derselbe. Ueber Rhodope Veraniü Köll. (Morphol. Jahrbuch VIII, 1882). Graff, Rhabdocoelidenmonographie. 135 luskenform darstelle, die in vieler Hinsicht sich allerdings eng an die Turbellarien anschließe. Gegen diese Auffassung haben indess neuer- dings zwei ausgezeichnete Molluskenkenner, Bergh und Brock, auf das entschiedenste protestirt. So viel ist indess sicher, dass Rhodope sich von den Turbellarien in mancher Beziehung weit entfernt und füglich aus der Abteilung der Rhabdocoeliden ausgeschlossen werden kann. Im übrigen müssen erst neue Untersuchungen abgewartet werden, bevor der interessanten Tierform ihr Platz im System wird angewiesen werden können. — Das zweite Genus, welches von Graff aus der Abteilung der Rhabdocoeliden hinausgewiesen wird, ist Dino- philus. Gvaff ist geneigt, diese Form zu den Rotatorien oder zu den Anneliden zu stellen. Auch der neueste Bearbeiter von Dinophilus, Korschelt, findet viel Uebereinstimmendes mit Rotatorien und Larven von Anneliden, aber er erkennt zugleich in ihrer Organisation viele Be- ziehungen zu der der Turbellarien, unter denen er zweifellos die nie- drigste Form darstelle, die sich zu ihnen verhalte, wie etwa die Archi- anneliden zu den Anneliden. Referent wird in seiner demnächst er- scheinenden Monographie der Polyeladen den Nachweis zu bringen versuchen, dass Metschnikoff, O.Schmidt und Graff vollständig im Recht sind, wenn sie Dinophilus aus der Abteilung der Turbellarien entfernen, dass in der Tat Dinophilus ganz und gar nichts mit den Turbellarien zu tun hat, sondern seiner ganzen Organisation nach als eine auf dem Larvenstadium verharrende Annelidenlarve zu betrach- ten ist, die auf die Phylogenie der Rotatorien und Archianneliden wesentliche Schlüsse ziehen lässt. Dem allgemeinen Teil seiner Mono- graphie schickt sodann Graff ein vollständiges 396 Nummern um- fassendes Verzeichniss der Turbellarienliteratur voraus und fügt überall, wo es tunlich war, dem Titel der Schrift eine kurze Inhaltsangabe bei. Bevor wir über den allgemeinen Teil zu berichten beginnen, müs- sen wir erwähnen, dass Graff die Rhabdocoeliden in die 3 Tribus der Acoela, Rhabdocoela und Alloiocoela einteilt. Die Tribus der Acoela umfasst die Gattungen Proporus, Aphanostoma, Nadina, Cyrtomorpha und Convoluta; zu den Rhabdocoelen werden gerechnet die Fami- lien der Maerostomida und Mierostomida, Prorhynchiden, Mesostomiden, Proboseiden, Vortieiden und Solenopharyngiden; die Tribus der Al- loiocoelen endlich setzt sich aus den Familien der Plagiostomiden und Monotiden zusammen. Der erste Abschnitt des allgemeinen Teils behandelt das Inte- gument. Alle Rhabdocoeliden, auch die Acoelen, für die Jensen die Existenz einer Hautschicht leugnete, besitzen ein Epithel, dessen Elemente in allen Abstufungen von Plattenzellen bis zu hohen Zylin- derzellen anzutreffen sind. Die Epithelzellen besitzen entweder ein- fache Ränder, oder sie sind mit ineinander greifenden Fortsätzen ver- sehen. Die von Geddes bei Convoluta beobachteten amöboiden Fort- sätze des Epithels hat Graff nie gesehen und die von Paradi be- 136 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. schriebenen Neuromuskelzellen beruhen auf groben Täuschungen. Pigment kommt bei den Rhabdocoeliden nur selten im Epithel vor. Der Farbstoff ist dann entweder im Plasma der Epithelzellen gelöst, oder an Körnchen, in einigen Fällen an Stäbchen gebunden, die indess mit den stäbehenförmigen Körpern nur die Form gemein haben. Eine echte Cutieula wird bei drei Arten in Form eines glashellen doppelt konturirten Häutchens nachgewiesen. Dieses Häutchen lässt sich in polyedrische Fetzen zerfällen, an denen man, in der Fläche gesehn, eine feine Punktirung wahrnimmt, welche wahrscheinlich durch Durch- trittslöcher für die Flimmereilien hervorgebracht wird. Als Cutieular- bildungen sind ferner aufzufassen die Spitzen der Giftorgane der Con- volutiden, der bauchständige Hakenkranz von Cylindrostoma Kloster- manni, sowie die harten Teile der Kopulationsorgane. In allen diesen Fällen haben wir es höchst wahrscheinlich mit chitinartigen Substan- zen zu tun. Die Cilienbekleidung erstreckt sich bei den Rhabdocoe- liden allgemein über den ganzen Körper, nur Graffilla muricicola (nach Ihering) und Cyrtomorpha saliens bilden eine Ausnahme, indem bei diesen die Cilien in durch eilienlose Streifen unterbrochenen Längs- reihen angeordnet sind. Neben den Cilien kommen bei den Rhabdo- coeliden allgemein noch längere kräftigere Geißelhaare vor, seltener unbewegliche Borsten. Die stäbehenförmigen Körper bringt Graff in vier Kategorien: 1. Nematocysten 2. Sagittocysten 3. Rhabditen und 4. Pseudorhabditen. Die Nematocysten der Turbellarien sind identisch mit den gleichnamigen Gebilden der Coelenteraten; sie be- sitzen sogar bei Microstomum lineare Widerhaken am Halsteil. Die Sagittocysten, von Graff zuerst bei Planaria quadrioculata ent- deckt, sind bis jetzt mit Sicherheit bei keinem Rhabdoeoeliden auf- gefunden. Sie enthalten statt des Fadens eine feine völlig selbstän- dige Nadel, die bei der Entladung ausgeworfen wird und nicht mit der Wand der Cyste zusammenhängt. Mit dem Namen Rhabditen bezeichnet Graff die echten Stäbchen, die weder einen Faden noch eine Nadel enthalten. Der Form nach werden nadel- spindelförmige, keulenförmige, zylindrische und elliptische oder eiförmige Rhabditen unterschieden. Die Rhabditen entstehen bei allen Rhabdocoeliden in Bildungszellen des Parenehyms, von wo aus sie in besondern durch Plasmaausläufer der Bildungszellen bestimmten Bahnen, den soge- nannten Stäbchenstraßen, der Körperoberfläche zugeführt werden. Graff glaubt indess, gestützt auf Beobachtungen an der Müller’schen Larve und an Embryonen von Rhabdocoeliden, nicht, dass die Stäb- chenbildungszellen Mesodermgebilde seien; ernimmt vielmehr an, dass die Rhabditen ursprünglich in Epithelzellen entstehen und erst später in das Mesoderm hineinrücken, wo sie noch durch die mit dem Epi- thel in Verbindung stehenden Stäbchenstränge an den Ort ihres Ur- sprungs erinnern. Die Pseudorhabditen sind feinkörnige Gebilde von unregelmäßiger Form und unebener Oberfläche; sie sind bis jetzt Graff, Rhabdocoelidenmonographie. NT nur bei Alloiocoelen aufgefunden. Graff hält alle diese vier Arten von Gebilden für homolog und fasst sie im Anschluss an die Auf- fassung Keferstein’s, der vom Referenten beigepflichtet wurde, als geformte Drüsensekrete auf. Was ihre physiologische Bedeutung an- betrifft, so dürften wol die Nematocysten und Sagittocysten Angriffs- und Verteidigungswaffen sein. Die Rhabditen hingegen fungiren wol als Tastorgane, wie schon Schultze und Ulianin annahmen. Graff stellt sich vor, dass sie in ähnlicher Weise befördernd auf das Tast- gefühl einwirken, wie der Nagel auf das Tastvermögen der Finger- spitze. Für diese Auffassung spreche hauptsächlich auch ihre reich- lichere Anhäufung am Vorderende des Körpers und das sehr reich- liche Vorkommen und die hohe Entwicklung derselben bei den so überaus lebhaften und sensibeln Gattungen Proxenetes, Mesostoma und Macrostoma. Zum Körperepithel gehören ferner die Schleim- oder Spinn- drüsen, die bei den Rhabdocoeliden ebenfalls allgemein verbreitet sind. Sie stellen einzellige birnförmige im Körperparenchym liegende Drüsen dar, die ihre mehr oder weniger langen Ausführungsgänge ins Epithel entsenden. Bei Macrostoma tuba sind sie mit Haftpapillen so verbunden, dass je ein Ausführungsgang an der Spitze einer Haftpapille ausmündet. In diesem Falle dürfte die Haftpapille als der über die Oberfläche des Körpers hervorragende Teil des Ausführungsgangs der Drüsenzelle zu betrachten sein. Im Anschluss an die Schleimdrüsen beschreibt sodann Graff die eigentümlichen Giftorgane, die er zuerst bei Convoluta paradoxa, dann auch bei andern Convoluten auf- gefunden hat. Es sind kleine ‚glänzende Kügelchen enthaltende Blasen mit muskulöser Wandung, welche auf der Bauchseite nach außen münden. Ihr Ausführungsgang ist durch eine Chitinspitze verstärkt. Solcher Blasen gibt es zweierlei Arten: 1. ein Paar ovale, die zu beiden Seiten der Mundöffnung liegen und deren Chitinspitzen nach letzterer hin konvergiren 2. genitale, entweder ein oder zwei Paare zu beiden Seiten der männlichen Geschlechtsöffnung. Diese letztern sind kleiner als die erstern und kommen nur während der männlichen Reife vor. Würden bloß die oralen Giftorgane bekannt sein, so würde man sie als Waffen zur Bewältigung der Beute auffassen können; würden bloß die genitalen bekannt sein, so könnte man an Reizmittel zur Begattung denken. Da aber Convoluta paradoxa beide besitzt, so stößt die physiologische Deutung dieser Organe auf Schwierigkei- ten. — Die in der Haut sehr vieler Rhabdocoeliden vorkommenden Haftpapillen oder Klebzellen beschreibt Graff als Zellen mit ge- zähnelter Oberfläche, die entweder immer oder doch zur Zeit der Funktion über die übrigen Epithelzellen hervorragen und zum Anhef- ten dienen. Das Epithel ist von dem Hautmuskelschlauch durch eine sehr zarte, entweder feinkörnige oder homogene, sich stark tingirende Membran, die Basilarmembran, geschieden. In bezug auf den 138 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. Hautmuskelschlauch bestreitet Graff zunächst die von Schnei- der behauptete Existenz einer innern Ring- und Längsfaserschicht. Der Hautmuskelschlauch besteht entweder aus einer äußern Ring- und inneru Längsfaserschicht, oder umgekehrt aus einer äußern Längs- und innern Ringfaserschicht oder auch aus einer Ring-, Dia- gonal- und Längsfaserschicht. Nicht selten finden sich bei nächst- verwandten Arten verschiedene Modi der Anordnung, sodass die Mus- kulatur jedenfalls nicht zur Einteilung zu verwerten ist (gegen Schnei- der). Die eine bedeutende Länge erreichenden kernlosen homogenen und glatten Muskelfasern sind, besonders die Längsfasern, oft an einem oder an beiden Enden verzweigt. Abweichend verhält sich Vortex viridis, indem bei dieser Form die Längsfasern eine Scheidung in eine stärker lichtbreehende Rinden- und eine überaus feinkörnige Marksubstanz erkennen lassen und in ihrer Struktur vollkommen mit den von Weismann abgebildeten Muskelzellen von Piscicola geo- metra übereinstimmen. Im zweiten Abschnitt des allgemeinen Teils behandelt Graff das Körperparenehym. Bezüglich der Acoelen bestätigt er die Angaben von Ulianin, denen zufolge in dieser Abteilung ein distinkter Darm fehlt. Bei den Acoelen ist noch keine Scheidung von Darmepithel und Parenchymgewebe eingetreten, sondern wir haben es hier mit einem „verdauenden Parenchym“ zu tun, das als ein größere und kleinere Lücken enthaltendes Maschenwerk mit ein- gestreuten Kernen den ganzen vom Integument umschlossenen Raum ausfüllt. In dieses Parenehym, welches amöboide Bewegungen zeigt, sind Pigmentzellen, Stäbehenbildungszellen, männliche und weibliche Geschlechtszellen und Anhäufungen reifer Spermatozoen eingelagert. Es fungirt als Stütz- und Bindegewebe und besorgt die Funktionen der Verdauung und Zirkulation, entspricht also physiologisch dem Darm plus Parenchym der übrigen Turbellarien. Die Entscheidung der Frage, ob es morphologisch dem Entoderm oder Mesoderm, oder beiden gleichwertig sei, lässt Graff erst vom Resultat entwieklungs- geschichtlicher Untersuchungen abhängen. Bei allen übrigen Turbel- larien ist das Parenehym vom Darmepithel scharf getrennt und be- steht aus drei Elementen 1. aus dorsoventralen oder Sagittal- muskeln 2. aus Bindegewebsbalken und 3. aus Bindegewebszellen. Die dorsoventralen Muskelfasern sind kernlos, glatt und glän- zend, an beiden Enden verästelt. Die Bindegewebsbalken bilden ein unregelmäßiges Netz von feinkörniger Substanz mit angelagerten Kernen. Die Lücken in diesem Netz werden von Graff als Leibes- höhle aufgefasst. Diese ist besonders stark bei den Formen ent- wickelt, welche eine kräftige Sagittalmuskulatur haben; sie ist im Gegenteil sehr unansehnlich, wo diese letztere schwach entwickelt ist, dagegen das Bindegewebe eine reichliche Entfaltung erlangt. Die Bindegewebszellen liegen zwischen den Bindegewebsbalken, Graff, Rhabdocoelidenmonographie. 139 in deren Lücken eingekeilt oder denselben flach anliegend. Von größ- ter Wichtigkeit ist nun der von Graff gelieferte Nachweis, dass diese Zellen bei Vortex viridis ein Endothel bilden, das, aus platten kern- haltigen Zellen bestehend, die Außenfläche des Darms, der Hoden und wahrscheinlich aller inneren Organe überzieht. (Der Nachweis dieses Endothels bei einem Rhabdocoeliden, die neulich veröffentlich- ten Untersuchungen von Salensky über die Entwicklungsgeschichte von Branchiobdella und die persönlichen Mitteilungen über die Ent- stehung des Mesoderms der Hirudineen, die dem Referenten von Hatschek, Kleinenberg und Metschnikoff gemacht wurden, beweisen die Unrichtigkeit der von ihm ausgesprochenen Ansicht, dass die Darmdivertikel der Plathelminthen und Hirudineen morpho- logisch als Cölomdivertikel aufzufassen seien. Referent wird in sei- ner Monographie der Polyeladen die Frage von der morphologischen Bedeutung des Mesoderms der Plathelminthen von einem neuen Ge- sicehtspunkte aus betrachten, indem er versuchen wird, die zwei Ur- mesodermzellen höherer Tiere auf die vier Urzellen des „Mesenchyms“ der Polyeladen zurückzuführen.) Das Parenchym von Graffilla findet Graff, im Gegensatz zu Ihering, aus einem reich verzweigten allseits durch Anastomosen verbundenen Flechtwerk stark lichtbrechender homogener Fasern be- stehend, die er für Muskeln hält. Die Lücken dieses Flechtwerks sind ausgefüllt durch eine feinkörnige Grundsubstanz, die vielleicht ge- ronnene perianterische Flüssigkeit, vielleicht Gallertgewebe ist. Bei den Alloiocoelen kann Graff nur schwer Bindegewebsbalken und Sagittalmuskulatur von einander unterscheiden; beide scheinen ganz allmählich in einander überzugehen. Der Leibesraum ist wahrscheinlich bei allen Rhabdocoelen erfüllt von einer perivisceralen Flüssigkeit, die indess nur in den wenigen Fällen, wo sie (gelblich oder rötlich) gefärbt ist, sieh deut- lich erkennen lässt. Der Farbstoff (Hämoglobin?) ist an suspendirte molekulare Körnchen gebunden. Die Färbung der Rhabdocoeliden wird in weitaus den meisten Fällen bedingt durch in die Zellen und Balken des Parenchyms ein- gelagerte Pigmente. Die pigmentirten Bindegewebszellen ent- halten das Pigment entweder in körniger Form, oder gelöst in Tropfen, welche im farblosen Plasma der Zelle eingeschlossen sind. Sind die Pigmentkörperchen den Fasern des Parenchyms eingelagert, so ent- steht die sogenannte retikuläre Pigmentirung. Die Zellen und Balken können (bei besonders dicht pigmentirten Formen) gleichzei- tig pigmentirt sein. Im Anschluss an das Parenchym behandelt Graff die gelben Zellen der Convoluten und die Chlorophyllikörper von Vortex viridis und Mesostoma viridatum, die er beide für parasitische Algen hält. 140 Graff, Rhabdosoelidenmonographie. Einen dritten Hauptabschnitt widmet Verf. dem Verdauungs- apparat. Derselbe besteht bei den Rhabdocoeliden in seiner höch- sten Vollendung aus Pharyngealtasche, Pharynx, Oesophagus und Darm. Ein After fehlt stets, auch bei den Microstomiden, Probosci- den, Macrostomeen und Prorhynchus, bei welchen Formen ältere For- scher das Vorhandensein eines Afters angegeben hatten. In meister- hafter Weise behandelt Verf. zunächst den Pharyngealapparat, von dem er zwei Hauptformen unterscheidet — den Pharynx sim- plex und den Pharynx compositus. Der erstere ist eine ein- fache Einsenkung des Integuments, welche ein häutiges Verbindungs- rohr zwischen Mund und Darm darstellt. In dieser Form findet man ihn bei den Acoelen, Microstomiden und Macrostomiden. Bei den beiden letzten Familien ist seine Muskelwandung schon etwas stärker entwickelt und im Umkreise des Mundrandes finden sich „Pharyngealzellen“, die wahrscheinlich Speicheldrüsen darstellen. Der Pharynx compo- situs besteht erstens aus einer Einsenkung des Integuments (Pharyn- gealtasche) und zweitens aus dem Pharynx selbst, der sich als zwiebelartiger Bulbus oder als Ringfalte im Grunde der erstern er- hebt. Der Pharynx compositus selbst lässt wieder zwei Hauptformen unterscheiden: a) den Pharynx bulbosus und b) den Pharynx plieatus. Bei ersterm ist der Pharynx von der Leibeshöhle durch eine muskulöse Scheidewand getrennt, bei letzterm ist dies nicht der Fall. Der Pharynx bulbosus, welcher der großen Mehrzahl der Rhab- docoelen und Alloiocoelen zukommt, ist entweder ein rosettenförmiger, oder tonnenförmiger, oder veränderlicher (Ph. rosulatus, Ph. doliifor- mis, Ph. variabilis). Den Pharynx rosulatus finden wir bei den Mesostomiden und Proboseiden. Er ist kuglig und seine Achse steht auf der Längsachse des Körpers senkrecht. Er besteht, wenn wir von innen nach außen fortschreiten, aus Epithel, innerer Muskularis (innere Ring- und äußere Längsfasern) und äußerer Muskularis (innere Ring- und äußere Längsfasern). Außerdem ist er von Radiärfasern durch- setzt, die sich an ihrer äußern Seite verästeln. Zwischen diesen Ra- diärfasern liegen große keulenförmige feinkörnige Zellen mit großen Kernen, die „Pharyngealzellen“. Graff hatte diese Zellen in einer frühern Arbeit als „Schlauchmuskeln“ bezeichnet, gibt aber jetzt diese Ansicht vollständig auf und ist geneigt, sie als elastische Polster für die Ausdehnung des Pharynx wirksam aufzufassen. — An die Pha- ryngealtasche setzen sich Muskelfasern an, die zum Integument in der Nähe der Mundöffnung verlaufen und andere, die radiär zum Rücken und zu den Seiten der Leibeswand ausstrahlen. Eine ein- gehende Besprechung der Wirkungsweise des ganzen Apparats be- schließt die Beschreibung des Pharynx rosulatus. Der Pharynx doliiformis ist den Vortieiden eigentümlich, seine Gestslt ist tonnen- bis röhrenförmig, seine Achse ist der Längsachse des Körpers meist para- Graft, Rhabdocoelidenmonographie. 141 lell; seine Spitze ist meist dem vordern, seltener dem hintern Körper- ende zugekehrt. Der Bau der innern und der äußern Muskularis ist wesentlich derselbe wie beim Ph. rosulatus. Die Radiärfasern sind in regelmäßigen Abständen in meridionalen Reihen angeordnet, die dem Pharynx auf Quetschpräparaten ein charakteristisches gitterförmi- ges Aussehen verleihen. Die Pharyngealzellen sind wenig entwickelt. — Der Pharynx variabilis findetsich bei Plagiostomiden. Im Ruhe- zustand ist er gewöhnlich tonnenförmig; bei der Aktion jedoch, bei der er öfter ganz ausgestülpt wird, zeigt er die mannigfaltigsten Gestaltsveränderungen. Seine äußere sowol als seine innere Musku- laris bestehen aus einer äußern Ring- und einer innern Längsmuskulatur. Die zahlreichen feinen Radiärmuskeln sind an beiden Enden verästelt und scheinen regellos angeordnet zu sein. Zwischen ihnen liegt ein Maschenwerk von zartem Bindegewebe. — Der Pharynx plieatus der Alloiocoelenfamilie Monotida stimmt in seinem Bau mit dem Pha- rynx der Trieladen und Polycladen überein. Er stellt eine hohe Ring- falte der Pharyngealtasche dar. Das Verbindungsstück der äußern und innern Muskularis, welches den Pharynx bulbosus wie eine Scheide- wand von der Leibeshöhle abschließt, fehlt dem Pharynx plicatus. Seine innere Muskularis besteht aus einer innern Ring- und einer äußern Längsfaserschicht, die äußere aus einer äußern Längs- und innern Ringfaserschicht. Alle diese Muskellagen sind mehrschichtig. Die Radiärmuskeln und das zwischen ihnen liegende Bindegewebe sind stark entwickelt. Zwischen äußerer und innerer Muskularis verlaufen die Ausführungsgänge zahlreicher im Umkreise des Pharynx gelegener Drüsen, die an der gesamten Oberfläche des Pharynx, vor allem aber an dessen Spitze nach außen münden und als Speicheldrüsen aufgefasst werden können. Auf Götte’s Darstellung der Entwicklung von Stylochopsis pi- lidium fußend, setzt Graff auseinander, dass die Polycladen in der Entwicklung ihres Pharyngealapparats die verschiedenen Formen des- selben bei den Rhabdocoeliden durchlaufen. Die in Form einer Ekto- dermeinstülpung auftretende erste Anlage des Pharynx der Stylocho- psislarve soll dem Pharynx simplex der Acoelen entsprechen. Als Oesophagus bezeichnet Graff den bei den Vortieinen auf den Pharynx folgenden ersten verengten Abschnitt des Darms, bei den Mesostomiden einen modifizirten zweiten Abschnitt des Pharyngeal- apparats. Der Darm der Rhabdocoeliden ist immer einfach, nie verästelt. Er zeigt vielfach selbständige Kontraktionserscheinungen. Eine be- sondere Muskularis des Darms hat jedoch Graff blos bei Stenostoma leucops und Microstoma lineare wahrgenommen, wo sie aus einer in- nern Längsfaser- und äußern Ringfaserschicht besteht. Bei den Probos- eiden ist der Darm nur bei jungen Tieren einheitlich sackförmig. Mit der Entwicklung der Geschlechtsorgane wird er eingeengt, bis 142 .. Eisig, Biologische Studien. zuletzt ein langsames Zerreißen desselben vor sich geht, in dem die Generationsorgane beinahe in die Darmhöhle hineinwachsen. Das Darmepithel erhält sich nur an einzelnen Stellen, wo Platz übrig bleibt. Graff bestätigt die Du Plessis’sche Entdeckung der amöboiden Bewegung der Darmzellen und erhärtet durch neue Beobachtungen die von ihm früher vermutete und sodann von Metschnikoff direkt be- obachtete intrazellulare Verdauung. Bei der Verdauung wer- den die Darmzellen größer, das Darmlumen kleiner, ja der Darm kann ganz schwinden. Durch den Mund wird nicht nur Wasser eingepumpt und Nahrung verschluckt, sondern auch Wasser mit Nahrungsresten ausgestoßen. Die durch das Ein- und Auspumpen von Wasser bewirkte Bespülung der Darmoberfläche kann füglich eine respiratorische Bedeutung haben. (Fortsetzung folgt.) Hugo Eisig, Biologische Studien. Ausland 1882. Nr. 35—37. Kosmos. Jahrg. VI. Heft 12. S. 433—443. Verf. veröffentlicht in den erwähnten Zeitschriften über Lebens- verhältnisse und Lebensgewohnheiten verschiedener Tiere eine Reihe interessanter Beobachtungen, welche er in den Aquarien der zoologi- schen Station zu Neapel anzustellen Gelegenheit hatte. Kommensalismus zwischen Aktinien und Einsiedlerkrebsen ist nichts Neues mehr. Dagegen gelang es dem Verf., durch fortgesetzte Beobachtung und durch Versuche die Gründe und die Erfolge des- selben etwas näher zu beleuchten. Er warf in ein Wasserbecken, welches einen Octopus und einen Gobius enthielt, einen Pagurus mit seinem Schneckengehäuse und den darauf sitzenden Aktinien. Sofort stürzte sich der Octopus, welcher ebenso wie sein Hausgenosse, der Gobius, sehr hungrig sein musste, auf den Krebs. Dieser zog sich augenblicklich in sein Gehäuse zurück, während jener ebenso plötzlich seine Beute wieder fahren ließ. Die Nesselorgane der Aktinien hat- ten seinen Angriff erfolgreich zurückgeschlagen und zwar so nach- drücklich, dass er von allen weitern Angrifisversuchen sofort Abstand nahm. Achnlich erging es dem Gobius. Eine Weile darauf warf Verf. einen seines Gehäuses beraubten Pagurus in dasselbe Wasserbecken in die nächste Nähe des Octopus. Doch dieser, durch seine letzte üble Erfahrung vorsichtig gemacht, betastete zuvor den Krebs mit einer Armspitze zögernd von allen Seiten und bemächtigte sich des- selben erst, nachdem er sich von der Gefahrlosigkeit des Futters über- zeugt hatte. Wie nun ein Einsiedlerkrebs durch die Vergesellschaftung mit den Aktinien Schutz vor manchen Feinden findet, welche ihn trotz seines Schneckengehäuses noch zu fassen verstehen, so gewährt andererseits Eisig, Biologische Studien. 148 den letztern dieses Zusammenleben mit dem Krebs unter Beibehaltung eines festen Anheftungspunktes alle Vorteile, welche aus einer größern Beweglichkeit entspringen. Der Krebs macht mit seinem fein- fübligen Geruch stets reichliche Beute ausfindig, von welcher den Ak- tinien ein gewisser Anteil zufällt. Dieselben nehmen wol auch ihrem Genossen das ihnen nötig scheinende Futter ohne weiteres aus den Scheeren. Nicht aber soll man glauben, dass der Krebs seine Be- schützerinnen füttere. Schon einige Ueberlegung macht diese 1863 von Wortley geäußerte Anschauung von vornherin unwahrscheinlich genug. Unerklärt bleibt es vorläufig, wie Krebse und Aktinien sich zu- sammenfinden. Besonders merkwürdig ist das, dass Krabben niemals mit Aktinien bestanden sind, obwol denselben das breite Rückenstück der Schale jener doch treffliche Standpunkte zu bieten geeignet ist. Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass grade die Schnecken- gehäuse hier eine wichtige Rolle spielen. Andere Beobachtungen stellte Eisig über den Einfluss der Was- sertemperatur auf Fische, Schildkröten und andere Seetiere an, und diese Versuche zeigten, dass der größere Teil derselben, wie sie die Wasserbehälter der zoologischen Station bevölkern, im allgemeinen wenig empfindlich gegen die Temperaturschwankungen sind, welche sich während des neapolitanischen Jahreszeitenwechsels geltend machen. Manche Formen hingegen sind weniger eurytherm. So wurden die sonst lebhaften Labroiden Julis und Ayrichthys unter 15° C. träge, legten sich traurig auf den Boden und vergruben sich schließlich dauernd unter den Sand, um allmählich abzusterben. Zabrus und Creni- labrus hingegen verhielten sich umgekehrt, so dass sehr heiße Som- mer meist 90 Prozent ihrer in den Aquarien vorhandenen Individuen- zahl den Tod gaben. Torpedo erliegt wieder leicht den Einwirkungen kalter Winter, und ebenso wird die sonst äußerst lebhafte Karett- schildkröte (Thalassochelys caretta) bei Temperaturen unter 15° C. langsam in ihren Bewegungen. Bis zu einem gewissen Grade aber merkt man fast allen Fischen die erheblichern Wärmesehwankungen an. Man hatte sich früher vielfach darüber gestritten, ob den Fischen gewisse Zeiten der Ruhe zukämen, ob ihnen also ein Schlaf eigen sei, und man wäre ohne die Einrichtung von Aquarien wol nie dazu gelangt, diese Frage zu beantworten. Eisig gibt uns auch hierüber anziehende und wol auch zum Teil ganz neue Aufschlüsse. Wie be- kanntlich Solea, so liegen z. B. auch Lophius, Uranoscopus und Tra- chinus „Tage lang auf dem Sand oder im Sand eingegraben.“ Nur der Kopf sieht aus demselben hervor, um gelegentlich in die Nähe kommende Beute zu erhaschen. Scorpaena hält sich ebenfalls oft mehrere Tage hindurch bewegungslos in Felsenspalten, ja ihre Träg- heit geht sogar so weit, dass sie sich bisweilen erst von Seesternen (z. B. Asteracanthion glacialis) ansaugen lässt, ehe sie ihren Ruhe- 144 Eisig, Biologische Studien. platz verlässt. Nicht viel weniger faul sind unter andern die Aale, Anguilla, Conger und Muraena. Während ersterer mit Vorliebe in den Sand sich eingräbt, verstecken letztere beiden sich gern in Steinspal- ten und Felslöchern. In gleicher Weise bringen Trigla, Dactylopterus, Mullus und Gobius einen erheblichen Bruchteil ihrer Lebenszeit im Zustand träger Ruhe hin. Alle diese Fische liegen festen Körpern unmittelbar auf. Andere, welche den Tag über in beständiger lebhafter Bewegung sich befin- den (z. B. Arten von Labrax, Sargus und Pagellus), verhalten sich während der Nacht ruhig. Sie verbringen dieselbe bewegungslos in schwebender Stellung in geringer Entfernung über dem Grunde. Julis und Xyrichthys wiederum schwimmen ebenfalls den ganzen Tag hin- durch rastlos umher, verfolgen sich gegenseitig und sind für jede Stö- rung von außen äußerst empfänglich. Bei Eintritt der Dunkelheit aber werden sie ruhig und vergraben sich eines nach dem andern in den Sand. Andere Labroiden, wie Ladrus und Orenilabrus, wechseln Ruhe und Bewegung nicht wie ihre vorher genannten Verwandten mit Tag und Nacht. Sie machen Ausflüge und suchen wieder, am liebsten in Algen, ein Versteck auf, ganz wie es ihnen vorübergehende Ein- flüsse eingeben. Niemals in Ruhe fand Eisig eine Makrelenart, Lichia glauca. Von den Knorpelfischen sind Squatina, Raja und Torpedo ganz so wie Lophius und Uranoscopus ungemein für träges Dahinbrüten im Sande eingenommen, während Scyllium andererseits ein ausgesproche- nes Nachttier ist. Am Tage in einer dunkeln Ecke des Wasserbeckens schlafend, beharren die Tiere der letzten Gattung die Nacht hindurch in mehr oder weniger lebhaften Schwimmbewegungen. Mustelus und Trygon dagegen sind wie jene oben genannte Makrele die lebhaftesten unter den Knorpelfischen der Aquarien der zoologischen Station. Längere Ruhe ist bei ihnen gleichbedeutend mit herannahendem Tod. Alle diese Verhältnisse hängen natürlich in hohem Maße davon ab, welchen Meeresregionen die Tiere im Naturzustande angehören. Pelagische Fische zum Beispiel werden im Aquarium niemals unmit- telbar dem Boden oder den Felsen sich auflegen, weil dieselben ihnen ganz unbekannte Dinge sind. Ganz ähnliches kann man bei den ver- schiedenen Cephalopoden beobachten. Octopus macropus lebt in Fel- senritzen und sobald Exemplare davon in größere Wasserbecken ge- setzt werden, verschwinden sie. Octopus vulgaris liebt zwar solche Verstecke auch; aber er hält sich nicht so andauernd und hartnäckig darin verborgen. Sepia vergräbt sich oft auf Stunden in den Sand, dann wieder einmal ebenso lange schwebend über demselben sich er- haltend. Ganz anders aber der pelagische Loligo. Unaufhörlich einem fliegenden Vogel nicht unähnlich auf und ab schwimmend berührt er niemals die Wandungen seines Behälters, er müsste sich denn unbe- haglich fühlen und seinem Ende entgegengehen. JdAn. Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirmrinde bei Menschen u, Tieren. 145 Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen und Tieren. Von Prof. H. Obersteiner (Wien). Der graue Rindenbelag des Kleinhirns zeigt in der ganzen Wirbeltierreihe eine auffallende Uebereinstimmung der feinern Struk- tur, vielleicht mit einziger Ausnahme des Amphioxus lanceolatus, bei welchem ein dem Cerebellum homologes Organ nicht nachweisbar ist. Es ist daher auch begreiflich, dass der Versuch von Miklucho- Maklay!), aus genetischen Gründen dem bei den Fischen bisher als Kleinhirn aufgefassten Hirnteil seine Bedeutung als Hinterhirn zu rauben, fast auf keiner Seite Anklang finden konnte. Auffallend mag es erscheinen, dass seit einer längern Reihe von Jahren unsere Kenntniss von dem histologischen Baue der Kleinhirn- rinde nur wenig gefördert wurde. Vielleicht liegt der Grund für diese unleugbare Tatsache darin, dass es dem Zusammenwirken zahlreicher Forscher bald gelungen war, die Strukturverhältnisse dieses Organs bis zu einem befriedigenden Punkte klarzulegen, dass aber anderer- seits darüber hinaus sich Schwierigkeiten entgegenstellten, welche auch die neuesten Fortschritte der mikroskopischen Technik nicht zu überwinden vermögen. Ich will nun versuchen, in kurzem ein genaues und vollständiges Bild von dem Bau der Kleinhirnrinde, zunächst derjenigen des Men- schen, zu entwerfen, und dabei außer den bisher veröffentlichten neuern Arbeiten auch meine eigenen Beobachtungen der letzten Zeit berück- sichtigen. Die Grenze zwischen Kleinhirnmark und Rinde ist nirgends eine ganz scharfe; vollkommen verwischt erscheint sie im Innern der Läpp- chen, deutlicher ist sie in der Tiefe der Furchen. Ueberall im Klein- hirnmark finden sich nämlich zwischen den Nervenfasern zerstreut, oder auch reihenförmig angeordnet, kleine rundliche Gebilde von 6 w— 7 w Durchmesser, welche nach außen zu immer dichter sich aneinander drängen, und dadurch die innerste Schichte der Kleinhirn- rinde (rostbraune Körnerschichte) bilden. — Die histologische Bedeu- tung dieser Körner ist noch nicht ergründet. An Zupfpräparaten las- sen viele von ihnen ein spärliches Protoplasma erkennen, welches in 2—3 sehr feine Fortsätze ausgezogen ist. Mit Karmin färben sich die Körner selbst intensiv, ebenso mit Hämatoxylin und Purpurin; durch dieses letztere Verhalten unterscheiden sie sich von den Gang- lienzellen, denn die Kerne der unzweifelhaft nervösen Zellen in der Kleinhirnrinde färben sich beispielsweise mit Hämatoxylin nur leicht blaugrau. Ihr histologischer Bau, sowie ihr Verhalten gegen die ge- nannten Farbstoffe macht es unmöglich, sie unbedingt den Ganglien- zellen gleichzustellen. Da sie aber andererseits auch nicht vollkommen bindegewebigen Flementen gleichen und auch eine derartige Anhäufung 4) Beiträge zur vergleichenden Neurologie der Wirbeltiere. Leipzig 1870. 10 446 Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen u. Tieren. von Bindegewebszellen an dieser Stelle physiologisch und morpholo- gisch nicht gut verständlich ist, so entspricht es vielleicht am besten den Tatsachen, wenn man die Körner der Kleinhirnrinde (und wol auch teilweise die Körner der Retina) als dem Nervensystem adjun- girte Elemente auffasst, die aber keineswegs mit typischen Ganglien- zellen identifizirt werden dürfen. Ich habe!) zwar selbst die Ansicht ausgesprochen, dass es zweierlei Arten von Körnern gebe, einmal solche, welche mit Nervenfasern in Verbindung stehen (also nervöse) und ferner fortsatzlose (bindegewebige), eine Anschauung, welche auch Henle noch in seinem Lehrbuch der Neurologie (2. Aufl.) ver- tritt; und obwol nun auch Denissenko?) durch Doppelfärbung mit Hämatoxylin und Eosin dazu gelangt sein will, zweierlei „Körner“ zu unterscheiden), muss ich doch gegenwärtig die Meinung von zwei verschiedenen Arten von Körnerın als nicht genügend begründet an- schen. Es macht den Eindruck, als wolle man an dieser Zweiteilung festhalten, um sich so über die schwierige Frage hinwegzuhelfen, ob nämlich diese Gebilde dem Nervensystem oder dem Bindegewebe zu- zuweisen seien. Unzweifelhafte Ganglienzellen (in der Regel pigment- haltend) von spindelförmiger rundlicher Form bis 0,3 mm im Durch- messer mit 2—4Fortsätzen kann man, allerdings meist nur sehr spar- sam zerstreut, in der Körnerschiehte antreffen. Die Häufigkeit dieser Ganglienzellen wechselt übrigens bei verschiedenen Individuen und auch bei verschiedenen Tieren sehr. Die markhaltigen Nervenfasern der zentralen Marksubstanz geben, sobald sie in die diehtern Lagen der Körner eingedrungen sind, ihre mehr oder minder parallele Verlaufsrichtung auf und bilden ein zier- liches Maschenwerk, das die ganze Breite der Körnerschiehte durch- zieht und nach Behandlung mit Palladiumchlorid und Goldsalzen gut gesehen werden kann. Außerdem ist der Raum zwischen den in Gruppen angeordneten Körnern neben wenig Neuroglia vorzüglich dureh ein dichtes Netzwerk feiner verfilzter Fasern ausgefüllt, welche nachweislich aus unzweifelhaften Bindegewebsfibrillen, vielleicht auch marklosen Nervenfasern und aus den Fortsätzen der Körner bestehen. Die nun nach außen folgende Schicht der Kleinhirnrinde ist haupt- sächlich charakterisirt durch eigentümliche große Nervenzellen, welche in einfacher Reihe angeordnet die Körnerschicht einsäumen. Diese zweite mittlere Rindenschicht wird daher auch am besten als groß- zellige Schicht bezeichnet. 4) Beiträge zur Kenntniss vom feinern Bau der Kleinhirnrinde. Sitzungsber. d. k. Akademie d. Wiss. zu Wien 1869. 2) Zur Frage über ER Bau der Kleinhirnrinde bei verschiednen Klassen von Wirbeltieren. Arch. f. mikr. Anatomie. XIV. Bd. 3) Fortsatzlose „Hämatoxylinzellen“, deren Bedeutung ihm unklar ist, An etwas kleinere, gruppenweise gelagerte „Eosinzellen“ (sie färben sich nämlich mit Eosin) mit zahlreichen Fortsätzen, die er als entschieden nervös ansieht. Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen u. Tieren. 147 Die erwähnten Nervenzellen, welche nach ihrem Entdecker ganz allgemein Purkinje’sche Zellen genannt werden, haben eine rundliche etwas flachgedrückte Form wie eine Linse oder ein Kürbiskern. Der Querdurehmesser dieser Zellen beträgt circa 0,03 mm, der Längsdurchmesser 0,0383 mm; doch wird diese Dimension, da zwischen der Zelle und dem gleich zu erwähnenden peripheren Fortsatz sich keine strenge Grenze ziehen lässt, gewöhnlich etwas größer angegeben. Die Dieke schwankt zwischen 0,025—0,03 mm. Die Purkinje’schen Zellen haben einen rundlichen großen Kern (0,016 mm) mit deutlichem Kernkörperchen; Kern und Kernkörperchen aber besitzen beide entschieden keine Fortsätze, wie sie Denissenko zu sehen meinte. Eine äußerst zarte Zellmembran, welche auch noch auf die Fortsätze der Zelle übergeht, ist vielleicht noch nicht ganz sicher nachgewiesen, doch ist ihr Vorhandensein zum mindesten sehr wahrscheinlich. Der Zellkörper zeigt eine deutliche faserige Streifung, welche den Kern schlingenförmig umzieht und sich gegen den peri- pheren Fortsatz wendet. Es mag hervorgehoben werden, dass diese Zellen zum Unterschiede von so vielen andern großen Nervenzellen (Großhirnrinde, Rückenmark, Thalamus optieus u.s.w.) kein oder höch- stens nur ungemein wenig Pigmentkörnchen enthalten, ein Umstand, der doch wol auch nicht ohne physiologische Bedeutung sein kann. An dem stets abgerundeten, der Körnerschicht zugewendeten Pole der Zelle entspringt mit breiter Basis und rasch sich verjüngend der so- genannte zentrale Fortsatz (ganz selten sind deren zwei vorhanden), der infolge seiner Zartheit bald unter den Körnern verschwindet. Nur an besonders glücklichen Präparaten oder nach der Färbung mit Sublimat gelingt es, ihn weiter in die Tiefe zu verfolgen. Auch an Zupfpräparaten reißt er infolge seiner Zartheit leicht ab. Deshalb sind auch die Meinungen über sein weiteres Schicksal sehr verschie- den. Koschewnikofft), Schwalbe?) sowie Henle (l. e.) lassen den Fortsatz ungeteilt in den Axenzylinder einer markhaltigen Ner- venfaser übergehen und Denissenko behauptet sogar (entgegen al- len andern Beobachtern), dass dieser Fortsatz — auch Axenzylinder- fortsatz genannt — gleich bei seinem Austritt aus der Zelle mit Mark umgeben sei. Teilungen dieses Fortsatzes wurden nur selten be- schrieben. In der letzten Zeit ist es hauptsächlich Polgi?), welcher zahlreiche Zweige von dem zentralen Fortsatz abgehen lässt. Er sagt, dass diese Seitenästehen sehr fein seien und eine gewisse Tendenz zeigen, sich gegen die Oberfläche des Kleinhirns zurück zu wenden; der eigentliche Axenzylinderfortsatz behalte dabei — im Gegensatze 4) Arch. f. mikr. Anat. V. Bd. 2) Lehrb. d. Neurologie 1881. 3) Archiv. ital. p.1. malatt. nerv. 1874 und Rivista speriment. di freniatria 4882 u. 1883. Der Schluss dieser Arbeit ist bisher noch nicht erschienen. 102 148 Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen u. Tieren. zu wiederholten dichotomischen Teilungen anderer Fortsätze — seine Selbständigkeit bei und lasse sich unmittelbar ohne Abnahme seiner Dicke bis in die Marksubstanz hinein verfolgen. — Gerlach ließ die Teilungsäste des zentralen Fortsatzes mit den Körnern der Körner- schicht in Verbindung treten, und auch Owsjannikoff!) sah mit- unter Teilungen und die Fäserchen, in welche er zerfiel, mit Körnern zusammenhängen. Aehnliches beschreibt Teleneff?) vom Kleinhirn des Petromyzon. — Die letztgenannten Autoren weichen hauptsächlich darin von Polgi ab, dass sie den Axenzylinderfortsatz in Teiläste zerfallen lassen, während der italienische Forscher neben den Seiten- ästen das intakte Erhaltenbleiben der Individualität des eigentlichen Fortsatzes bis zu seinem Uebergang in die markhaltige Faser beson- ders hervorhebt. Es ist demnach bisher nur festgestellt, dass die Purkinje’schen Zellen durch ihren zentralen Fortsatz mit den Markfasern zusammen- hängen; in welcher Weise dies geschieht, ob auch die Körner der Körnerschicht dabei eine Rolle spielen, ist mit Sicherheit gegenwärtig noch nicht zu beantworten. An dem gegen die Oberfläche des Klein- hirns gerichteten Pole der Purkinje’schen Zellen entspringt der dieke peripherische Fortsatz, welcher aber bereits vollständig in die nächst äußere, die molekulare Schicht gehört und daher auch dort besprochen werden soll. Die Körner der Körnerschicht reichen noch teilweise in die groß- zellige Schicht hinein. Die äußersten dieser Körner, die sogar noch in der molekularen Schicht vorgefunden werden, sind merklich größer, als die in der Tiefe der Kleinhirnrinde befindlichen. Ein nicht unbe- trächtlicher Zug markhaltiger Fasern streicht, die Körnerschicht gleich- sam einhüllend, neben den Purkinje’schen Zellen vorbei und um sie herum, parallel zur Rindenoberfläche und zur Längsrichtung der Gyri. Zwischen diesen Nervenfasern sieht man, teilweise die gleiche Ver- laufsrichtung einhaltend, ziemlich viele Bindegewebsfasern; andere Bindegewebsfasern umstricken die Purkinje’schen Zellen, wie dies von Stefani und Weiss?) auch am Kleinhirn der Taube gesehen wurde. Im ganzen ist das Gewebe der großzelligen Schicht ein sehr loekeres, sodass Schnitte durch die Kleinhirnrinde hier am leichtesten auseinanderfallen und auch kleinere Blutergüsse sich gerade hier gerne in die Fläche ausbreiten. | Es ist bekannt, dass die Purkinje’schen Zellen in der Tiefe der Furchen weit auseinander stehen, während sie jeder Konvexität der 1) Die Rinde des Großhirns beim Delphin. Mem. de l’Ac. de Peters- bourg 1879. 2) Histologische Untersuchung des kleinen Gehirns der Neunauge, Petro- myzon fluviatilis — Melanges biol. X. 1879. 3) Ricerche anatomiche interno al arvelletto di eolombi. Ferrara 1877. Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen u. Tieren. 149 Rinde entsprechend dicht aneinander gedrängt angetroffen werden. Die Breite der Körnerschicht steht in geradem Verhältniss zur An- zahl der großen Nervenzellen. Es liegt nun die Versuchung nahe, dieses wechselnde Verhalten mit der Entwicklung der Furchen und Mündungen des Kleinhirns in Zusammenhang zu bringen; doch gelingt es nicht, einen derartigen Zusammenhang aufzufinden. Es ergibt sich vielmehr nur, dass die Anzahl der Purkinje’schen Zellen unmittelbar abhängig ist von der Ausdehnung der wirklichen Kleinhirnoberfläche, sodass jede dieser Zellen gewissermaßen einen gleich großen Abschnitt der freien Rin- denoberfläche zu versorgen hat. Da die Oberfläche über der Kon- vexität größer, in den Konkavitäten aber gering ist, so ergibt sich daraus der verschiedene Reichtum an Purkinje’schen Zellen. — Die Breite der Körnerschicht, also die Quantität der Körner, richtet sich dann wieder, wie bereits erwähnt wurde, nach der Anzahl der großen Nervenzellen, mit denen sie demnach sicher in einem, wenn auch noch nicht aufgeklärten, funktionellen Zusammenhang stehen. In der äußersten Schicht, welche die Kleinhirnrinde an allen Stellen in gleichmäßiger Dicke (0,33 mm) überzieht (molekulare, graue Schicht), fallen zuerst die peripheren Fortsätze (Protoplasmafortsätze) der Purkinje’schen Zellen auf. Von dem peripherwärts gewendeten Pole der Zelle geht ein dieker Hauptstamm ab, meist ziemlich gerade gegen die Oberfläche hin gerichtet, bald aber in zwei ansehnliche Hauptäste mit horizontaler Verlaufsrichtung sich teilend. Von diesen Hauptästen gehen wieder ziemlich starke Zweige unter rechtem Win- kel gegen die Oberfläche hin ab. Es ergibt sich daraus, dass alle diekern Aeste der Fortsätze mit Ausnahme der feinsten Endverzwei- gungen entweder parallel zur Rindenoberfläche oder (in den beiden mittleren Vierteilen der molekularen Schicht fast ausschließlich) senk- recht gegen dieselbe verlaufen. Abgesehen davon, dass auch schon von den dickern Aesten feinste Fortsätze abgehen, lösen sich jene schließlich in ein Netzwerk äußerst zarter Fasern auf, das bis an die freie Oberfläche der Kleinhirnrinde reicht und am besten nach der von Polgi vorgeschlagenen Färbungs- methode mit Sublimat in seiner wunderbaren Reichhaltigkeit gesehen werden kann. Schneidet man das Kleinhirn senkrecht zur Oberfläche, jedoch in der Verlaufsrichtung seiner Windungszüge, so sieht man aber ein anderes Bild, als das eben beschriebene, welches man bei der üblichen Schnittrichtung (senkrecht zur Richtung der Windungs- züge) erhält. Es fehlt dann völlig die Ausbreitung der peripheren Fortsätze nach der Seite hin. Es wird nur ein Segment der mole- kularen Schicht, nicht breiter als der Diekendurchmesser der Zelle, von den Aesten dieses Fortsatzes erfüllt. Es geht also daraus her- ‚vor, dass die peripheren Fortsätze der Purkinje’schen Zellen sich nur in zwei Dimensionen, ganz so wie der Stamm und die Zweige des 450 Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen u. Tieren. Treillageobstes, verästeln. Auch dieser Umstand dürfte nicht ohne physiologische Bedeutung sein. Aus der Körnerschicht und der groß- zelligen Schicht steigen markhaltige Fasern in die molekulare Schicht entweder direkt gegen die Oberfläche oder in verschieden wechselnder Richtung auf, doch lassen sie sich nur in der innern Hälfte dieser Schieht (durch Goldfärbung) darstellen. Verschiedene zellige Elemente finden sich in der molekularen Schicht zerstreut, und zwar 1. jene bereits erwähnten größern Kör- ner (nur in den tiefsten Lagen) 2. kleinere anscheinend freie Kerne 3. Bindegewebszellen 4. kleine Zellen, welche aller Wahrscheinlichkeit nach als Ganglienzellen aufzufassen sind. Eine der wichtigsten, aber bisher auch noch am wenigsten auf- geklärten Fragen auf dem uns beschäftigenden Gebiet betrifft das End- schicksal der feinsten aus den Purkinje’schen Zellen stammenden peri- pheren Fäserchen. Vollkommen unbestimmt spricht sich Henle aus, wenn er sagt, dass die feinsten Endzweige zur Oberfläche aufsteigen und sich in ihrer Nähe verlieren. Auch Rindfleisch!) lässt sie schließlich in die feinkörnige Grundsubstanz auslaufen. Bellonei?) unterscheidet überhaupt zwei Sorten von Nerven- zellen im Zentralorgan. Die ersten färben sich unter der Einwirkung von Ueberosmiumsäure dunkel und dienen nur als Durchgangsstationen für die nervösen Bahnen (z. B. die Purkinje’schen Zellen); in die an- dere Klasse gehören Nervenzellen, welche mit dem genannten Reagens hell bleiben, und diese seien als eigentliche Endorgane aufzufassen. Bellonei findet nun zahlreiche derartige „Endzellen“ in der mole- kularen Schicht und zwar vorzüglich in der Nähe der Oberfläche. Zu diesen Zellen stehen die letzten Ausläufer der Purkinje’schen Zel- len — wenn sie sich auch nicht direkt mit ihnen verbinden — in inniger Beziehung. In ähnlicher Weise gibt Denissenko (|. e.) an, dass namentlich an der Oberfläche der Kleinhirnrinde zahlreiche sehr kleine Zellen vorhanden seien, an welche die fraglichen Aeste heran- treten und sie schlingenförmig umgeben. — Dagegen muss eingewen- det werden, dass die Anzahl dieser Zellen viel zu gering ist, um für alle Endäste auszureichen; andererseits ist eine Verbindung vieler dieser Fasern mit den in der molekularen Schicht zerstreuten Ner- venzellen — wie ich dieselbe (l. e.) auch beschrieben habe — nicht abzuweisen. Kölliker nahm an, dass diese feinsten Endverzweigungen in knopf- förmige Endigungen übergehen und Owsjannikoff glaubt auch, dass sie als feine, kaum messbare Härchen entweder einzeln oder 4) Zur Kenntniss der Nervenendigung. Arch. f. mikr. Anat. VIII. B. 2) Ricerche comparative sulla struttura dei centri nervosi dei Vertebrati, Atti dei Lincei 1880, Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen u. Tieren. 151 auch in kleine Bündel geordnet frei an der Oberfläche endigen. Es lässt sich m der Tat nicht leugnen, dass man Bilder erhalten kann, welche auch sehr zu gunsten dieser Anschauung sprechen. Ein Teil der Endverzweigungen biegt allerdings an der Oberfläche wieder nach innen um (Hadlich, Obersteiner); es ist möglich, dass sie sich dann in den tiefern Schichten zu Axenzylindern sammeln und vielleieht dadurch zur Bildung der oben erwähnten markhaltigen Nervenfasern in der molekularen Schicht Veranlassung geben, oder marklos bleibend zu dem Nervennetz der Könerschicht treten. — Diese Anschauung, welcher ich selbst (l. e.) beigepflichtet habe, darf aber immerhin nur als Hypothese aufgefasst werden, welche der Ver- legenheit, eine physiologisch passende Endigungsweise für diese Fort- sätze herauszufinden ihre Entstehung verdankt und auf keine ganz sichere Beobachtung begründet ist. Ich muss noch bemerken, dass größere Anastomosen zwischen den Purkinje’schen Zellen vollkommen fehlen und dass auch die fein- sten Fortsätze sich nicht mit andern vereinigen, dass also eigentlich ein Nervenfasernetz im strengen Sinn des Worts in der molekularen Schicht nicht vorhanden ist. Besondere Erwähnung verdient das Verhalten des Bindegewebes in der molekularen Schicht. Zwischen der eigentlichen gefäßreichen Pia mater und der Klein- hirnrinde hat zuerst Bergmann!) eine zarte Membran beschrieben, von weleher mit triehterförmiger Basis Bindegewebsfasern senkrecht abgehen und in die Kleinhirnrinde treten (Radiärfasern). Dieselben sind wegen ihrer Zartheit an gewöhnlichen Sehnittpräparaten nicht weit in die Kleinhirnrinde hinein zu verfolgen; ich habe aber am Kleinhirn der Neugebornen sowie an einem Fall von partieller Klein- hirnatrophie?) nachgewiesen, dass diese Radiärfasern untereinander parallel, ungeteilt und gestreckt die molekulare Schieht bis in die großzellige Schicht hinein durchsetzen. In den tiefern Lagen der molekularen Schicht finden sich auch noch Bindegewebsfasern, wel- che senkrecht auf die Radiärfasern, also parallel der Rindenoberfläche, verlaufen. An diesen verschiedenen genannten Bindegewebsfasern kann man nicht selten auch die einzelnen Kerne beobachten. Jener unbedeutende Raum, welcher in der molekularen Schicht noch zwischen den beschriebenen Elementen und den Blutgefäßen übrig bleibt, wird durch eine fein granulirte Zwischensubstanz, die Neuroglia, ausgefüllt. Wie bereits anfangs erwähnt wurde, ist das Kleinhirn bei allen Wirbeltieren nach demselben übereinstimmenden Typus gebaut, und Denissenko befindet sich im Irrtum, wenn er bei verschiedenen 4) Zeitschr. f. rat. Medic. VIII. Bd. N. F. 2) Allg. Zeitschrift für Psychiatrie 27. Bd. 459 Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen u. Tieren. Tierklassen die Anordnung der drei Schichten in mannigfacher Weise wechseln lässt. Nachstehende Tabelle enthält einige vergleichend anatomische Maßangaben in Millimetern (durchweg im Mittel). Er „ |GrößterDurch- 3 der | messer der p ann De Körner der mo ek Aaren Purkinje’schen urknJ6 SCHEN Kopmerschicht Schicht Zellen Zellen Mensch 0,38 0,038 0,015 0,007 Cercopithecus 0,25 0,028 0,012 0,007 Pferd 0,58 0,042 0,015 0,008 Eisbär 0,50 0,035 0,014 0,008 Hund 0,34 0,045 0,018 0,006 Fledermaus 0,14 0,018 0,01 0,004 Ratte 0,20 0,025 0,012 0,005 Huhn 0,34 0,028 0,012 0,004 un graeca 0,44 0,020 0,008 an arpfen 9,35 0,020 0,009 0,00 Gadus callarias 0,72 0,030 0,012 0,004 Aus diesen Zahlen geht hervor, dass wenigstens innerhalb der Säugetierreihe eine Beziehung zwischen der Größe des Tiers und der Größe der zelligen Elemente in der Kleinhirnrinde erkennbar ist; in gleicher Weise verhält sich auch die Breite der molekularen Schicht. Die Breite der Körnerschicht ist zu wechselnd, um ebenfalls in Rech- nung gezogen zu werden. Von diesen Größenunterschieden abgesehen, verhält sich die Klein- hirnrinde bei allen Säugetieren nahezu gleich, doch ist die Reichhal- tigkeit der Verästelungen, welche die Purkinje’schen Zellen aufweisen, nirgends so ungemein, als beim Menschen; besonders auffallend wird dies bei den kleinen Säugern, namentlich bei den Nagern. Auch wird das Bindegewebe in der Kleinhirnrinde bei vielen Säugetieren im Ver- gleich mit dem Menschen derber. Infolge des letztern Umstands kann man z.B. bei der Katze die Basalmembran mit den Radiärfasern meist recht gut sehen und letztere ein beträchtliches Stück in die moleku- lare Schicht hinein verfolgen. Auch noch bei den Vögeln schließt sich die Kleinhirnrinde in ihrem Bau eng an die der Säugetiere an. Tenchini und Stau- renghi!) geben an, dass beim Adler die großzellige Schicht beson- ders mächtig entwickelt sei. Erst im den andern Tierklassen treffen wir auch beträchtlichere Verschiedenheiten. Bei den Reptilien, Am- phibien und Fischen ist die großzellige Schicht meist beträchtlich verbreitert, was hauptsächlich durch zahlreiche der Oberfläche paral- lele Markfasern verursacht wird. Infolge dieses Umstands geschieht es dann, dass die Purkinje’schen Zellen nicht mehr in einer einzigen Reihe, sondern mehrfach über einander angeordnet sind. Ferner wei-. sen die genannten Zellen bei den drei niedern Wirbeltierklassen nicht 4) Contributo alla anatomia del cervelletto umano. Pavia 1881, Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen u. Tieren. 15) mehr immer jene charakteristische rundliche Form auf; ihre Gestalt ist vielmehr oft eine mannigfach schwankende spindelförmige, drei- eckige u. s. w. Die peripheren Fortsätze der Purkinje’schen Zellen sind bei diesen Tieren in ganz anderer Weise verästelt, als dies bei Säugern und Vögeln der Fall ist; sie verlaufen, nachdem sie sich nur wenigemal geteilt haben, ganz direkt gegen die Oberfläche des Kleinhirns und geben dabei nur ganz feine Seitenästchen ab, die sich aber nicht weit verfolgen lassen. Auch wird das Zwischengewebe nahe der Oberfläche so zart und locker, dass hier die Kleinhirnrinde häufig einem zarten Spitzengewebe gleicht. Denissenko nimmt gerade hier jene erwähnten Kerne und Zellen an, die aber späterhin nicht bestätigt wurden. Eine weitere Eigentümlichkeit vieler niederer Wirbeltiere besteht darin, dass die zentrale Marksubstanz auf ein Minimum reduzirt er- scheint, oder stellenweise dadurch, dass die markhaltigen Nervenfasern alle in der Körnerschicht liegen, gänzlich zu fehlen scheint. Es lässt sich eben am Kleinhirn ein für das Nervensystem im allgemeinen gültiges Gesetz klar nachweisen: Gleiehartige homologe Nervenzellen erhalten in der Regel umsomehr Fortsätze und diese wieder um so zahl- reichere Verästelungen, je höher wir in der Tierreihe hinaufsteigen. Da wir ja bei höhern Tieren eine reichere und mannigfachere Entfaltung der Leistung des Zentralnervensystems voraussetzen müssen, so wird auch eine entsprechende mannigfaltigere Verbindung der ner- vösen Elemente und der einzelnen Abteilungen des Gesamtorgans un- tereinander notwendig werden. Und wie bei höhern Tieren die Anzahl der zu einer Zelle gehörigen letzten Verästelungen wächst, so nimmt auch dieAnzahl derMarkfasern, die sich aus diesem Netz- werk sammeln, zu und zwar hauptsächlich zu gunsten jener Faserbündel, welche bestimmt sind, näher oder fer- ner gelegene Teile der grauen Substanz mit einander zu verbinden. Ein sehr auffallendes und leicht zu demonstrirendes Bei- spiel dafür gibt das corpus callosum ab. Als letzter Schluss ergibt sich endlich aus dem Gesagten eine Tatsache, die anatomisch nieht schwer nachzuweisen ist, und zu wel- cher Danilewsky!) auf ganz anderm Wege und nur für Mensch und Hund gekommen ist — dass nämlich das Verhältniss der weißen Substanz des Gehirns zu der grauen sich bei nie- dern Tierenimmer mehr zu ungunsten der erstern ändert. Da nun die Zellen der grauen Substanz die eigentlichen Träger 4) Die quantitativen Bestimmungen der grauen und weißen Substanz im Gehirn. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1880, 454 Obersteiner, Der feinere Bau der Kleinhirnrinde bei Menschen u. Tieren. der höhern zerebralen Leistungen sind, dürfte man vielleicht a priori erwarten, bei geistig höher stehenden Tieren die graue Substanz re- lativ mächtiger entwickelt zu finden; allein die höhere Leistung des Gehirns wird cben — wie dies Danilewsky auch schon angedeutet hat — zum nicht geringen Teil durch die innige funktionelle Ver- knüpfung möglichst vieler zerebraler Zentren untereinander erreicht. Die histologische Entwicklung der Kleinhirnrinde ist ziem- lich genau studirt. Beim Menschen besteht das Kleinhirn ursprüng- lich hauptsächlich aus einer Menge runder Körner (Gliakörner), in denen etwa um die Mitte des Embryonallebens ein der Oberfläche paralleles Band, welches von ihr aber noch durch die äußere Körner- schicht getrennt ist, sich abhebt. Dieses Band ist der Beginn der molekularen Schicht und hat in seinem Aussehen bereits große Aehn- lichkeit mit der molekularen Schicht des Erwachsenen. Gleichzeitig, oder auch schon etwas früher, dringt der spätere Markkern des Klein- hirns, vorderhand selbstverständlich nur aus marklosen Fasern gebil- det, gegen die Oberfläche vor. Am Ende des sechsten Monats lassen sich mitunter, aber keineswegs immer, die ersten Anfänge der Purkinje’- schen Zellen an der innern Grenze der molekularen Schicht erkennen; beim Neugebornen pflegen sie meist sehr deutlich sichtbar zu sein, doch sind ihre peripheren Fortsätze noch immer wenig verästelt. Während die Breite der molekularen Schicht langsam zunimmt, bleibt die der äußern Körnerschicht bis zur Geburt ziemlich gleich, um erst dann abzunehmen und in einer wechselnden Entwicklungs- periode gänzlich zu verschwinden. Beim Neugebornen lässt sich die äußere Körnerschicht in zwei ziemlich gleich breite parallele Schichten zerlegen; die oberflächlichen Körner werden größtenteils zum Aufbau der Basalmembran verwendet, während die tiefer liegenden später nach und nach in die molekulare Schicht hineinrücken. Die nachfolgende Tabelle gibt einige hieher gehörige Maße in Millimetern. Breite der | Breite der |Längsdurch- | Kernder | Körner der äußern Kör- molekularen | messer der | Purkinje’- Körmer- nerschichte Schicht |Purk. Zellen schen Zellen‘ schichte Menschl. Embr. 5Mon.) 0,03 0,04 —_ —_ 0,0055 4 =x1.M0n.4.00,028 0,05 — — 0,006 Neugeb. 0,03 0.07 0,023 0,011 0,006 Rindsembr. - 25 em lang 0,026 0,025 — —_ 0,004 Neugeborner Hund 0,025 0.12 0,032 0,012 0,006 Neugebornes Meer- schweinchen 0,02 0,16 0,028 0,013 0,005 Wolffberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. 455 Es ist auch erwähnenswert, dass die Nervenzellen des corpus rhomboideum cerebelli zu denen gehören, welehe ihre Ausbildung am frühesten erreichen. Bereits gegen Ende des sechsten Embryonal- monats sind sie in auffallend vorgeschrittener Entwicklung erkennbar, ein Umstand, welcher für die Erklärung ihrer funktionellen Bedeutung bisher noch keine Verwertung gefunden hat. Schließlich sei noch hingewiesen auf kleine graue Herde, welche man bei sehr sorgfältiger Untersuchung in vielen Kleinhirnen mitten in der Marksubstanz antreffen kann. Dieselben bleiben meist sehr klein, von kaum sichtbarer Größe bis zur Größe eines Hirsekorns, erreichen aber unter Umständen einen Längsdurchmesser von 1 em. Sie enthalten regellos gelagerte keulenförmige Ganglienzellen, die den Purkinje’schen Zellen sehr ähnlich sind; ferner Körner gleich denen der Körnerschicht und ein dichtes Kapillarnetz. Auf diese kleinen unterständigen Heterotopien grauer Substanz hat Pfleger!) bereits aufmerksam gemacht. Die physiologischen Grundsätze für die normgemässe Beköstigung des Erwachsenen. Eine gedrängte Uebersicht über die wichtigsten physiologischen Untersuchungen und Erfahrungen, welche geeignet sind, die Ansprüche an die normale Beköstigung des Erwachsenen zu begründen, dürfte zur allgemeinen Orientirung auf diesem wichtigen Gebiete unsern Lesern willkommen sein. Vielleicht ergibt sich eine spätere Gelegenheit, einzelne Punkte, welche in den folgenden Zeilen nur angedeutet oder kurz behandelt werden konnten, ausführlicher zu erörtern. Mit C. Voit, auf dessen in der „Zeitschrift für Biologie“ ver- öffentlichte Arbeiten hier ganz besonders verwiesen werden muss, for- dern wir von der normgemäßen Beköstigung, dass sie im stande sei, den menschlichen Organismus trotz der mit dem Leben verknüpften beständigen Umsetzungen auf seinem stofflichen Bestande zu erhalten oder in den für bestimmte Lebensverhältnisse geeigneten stofflichen Zustand zu versetzen. Eine derartige Kost nennen wir eine Nahrung. Eine Substanz, welche den Verlust eines zur jeweiligen Zusammen- setzung des Organismus gehörigen Stoffes ersetzt oder verhütet, ist ein Nahrungsstoff, z.B. Zucker oder Fett. Ein Nahrungsmit- tel ist ein aus mehreren Nahrungsstoffen bestehendes Gemenge, wie Fleisch oder Milch. Damit ein solches Gemenge eine Nahrung sei, ist zunächst also vorauszusetzen, dass es die einzelnen erforderlichen Nahrungsstoffe in hinreichenden Mengen und in richtiger Mischung enthalte. Die wichtigsten Kategorien der Nahrungsstoffe sind Ei- 1) Centrlbl. f. d. med. Wiss. 1880. 156 Wolffberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. weiß, Fett, Kohlehydrate, Salze und Wasser. Es entsteht daher die Frage, wie viel von diesen die tägliche Nahrung des Men- schen enthalten solle und in welchen gegenseitigen Verhältnissen. Es ist freilich unmöglich, eine für alle Fälle gültige Antwort zu geben, weil nicht nur das Alter, das Geschlecht und wechselnde Lebens- bedingungen, sondern auch unter sonst gleichen Verhältnissen die Individualität, die Körperbeschaffenheit das Nahrungsbedürfnis beein- flussen. Zahlreiche Untersuchungen haben indess gezeigt, dass die individuellen Schwankungen keineswegs so bedeutend sind, dass es nicht gelänge, für Menschen unter annähernd gleichen äußern Lebens- bedingungen mittlere Kostmaße aufzustellen, welche dem durchschnitt- lichen Bedürfnisse Rechnung tragen und wenigstens als Minimalsätze zu betrachten sind. Wir fragen also: Wieviel Eiweiß, Fett und Kohlehydrate, Salze und Wasser braucht der Mann im mittlern Lebensalter bei voller Leistungsfähigkeit? Zur Lösung dieser Frage kann man sich zweier Methoden be- dienen, der empirischen und der experimentellen. Entweder untersucht man die Kost bestimmter Menschen, von denen man sich überzeugt hat, dass sie sich dauernd vollkommen wol und arbeits- kräftig befinden — und zwar tut man dies wiederholt, um die Schwan- kungen in der Zusammensetzung der Kost kennen zu lernen und zu Mittelwerten für die Einzelbestandteile zu gelangen — oder man prüft die gesamte Nahrungszufuhr ‚eines gesunden arbeitskräftigen Men- schen während eines bestimmten Zeitraums (etwa 24 Stunden) und vergleicht die Elemente der Einnahmen mit den Elementen der in demselben Zeitraum ausgeschiedenen Stoffe. Diese letztere Methode ist besonders von Pettenkofer und Voit ausgebildet worden. So vorzügliche Anhaltspunkte zur Lösung unsrer Frage auch das empi- rische Verfahren gibt, so ist doch nicht zu verkennen, dass, wenn es sich darum handelt, ob ein Organismus unter dem Einflusse eines be- stimmten Nahrungsgemisches auf seiner ursprünglichen Zusammen- setzung verharrt habe, nur der experimentelle Weg, die Untersuchung der Einnahmen und Ausgaben, genügenden Aufschluss zu geben ver- mag. Nur durch einen sogenannten Ernährungsversuch, welcher, um die gesamten (auch die gasförmigen) Ausscheidungen in einem längern Zeitraum bestimmen zu können, mit Hilfe eines Respirations- apparats angestellt werden muss, wird eine vollständige Feststellung der Einnahmen und Ausgaben ermöglicht. Enthalten in einem solchen Versuche die Ausscheidungen die Elemente der Einnahmen in gleicher Quantität, so ist die Zusammensetzung des Körpers nicht geändert worden, es hatte also die Zufuhr eine Nahrung im Sinne der oben gegebenen Definition dargestellt. Ein kräftiger Arbeiter, welchen Pettenkofer und Voit!) nach 1) S. Zeitschr. f. Biologie. 1866. II. 522. Wolftberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. 157 dieser Methode untersuchten, verzehrte in gemischter Kost in 24 Stunden: 137 g Eiweiß, 117 g Fett, 352 g Kohlehydrate. In den Ausscheidungen des Körpers war im Ruhezustande so viel Stickstoff und Kohlenstoff enthalten, dass auf den Verbrauch von 137 g Eiweiß, 72 g Fett, 352 g Kohlehydraten zu schließen war. Bei derselben Nahrung zersetzte dieser Mann unter angestrengter Tätigkeit 137 g Eiweiß, 173 g Fett, 352 & Kohlehydrate. Moleschott!) hat auf grund einer Reihe von Beobachtungen, welche (von Mulder, Playfair, Liebig, A.) über das Nahrungs- bedürfniss nach der empirischen Methode gemacht worden waren, das tägliche Kostmaß eines arbeitenden Mannes im der Blüte des Le- bens auf 130 g Eiweiß, 84 g Fett, 404 g Kohlehydrate veranschlagt. Neuere Beobachtungen lehren, dass hiermit annähernd das Rich- tige getroffen ist. U. a. untersuchte J. Forster ?) die Nahrung vier gesunder Er- wachsener in München, von denen zwei dem Arbeiterstande, zwei (junge Aerzte) der gebildeten Klasse angehörten. Er fand an Nah- rungsstoffen folgende mittlere Mengen (Durchschnitt aus allen vier Beobachtungen, die sich über neun Tage erstreckten): 131,, g Eiweil, 88,, g Fett, 392,, g Kohlehydrate (=20,; N und 3125506); Aus einer größern Reihe von Beobachtnngen zieht Voit den Schluss, dass das geringste tägliche Bedürfniss eines mit- telkräftigen tätigen Erwachsenen sich auf 18,3 g Stickstoff und 328 g Kohlenstoff belaufe, oder, in Nahrungsstoffe umgesetzt, — neben Wasser, Salzen?) und Genussmitteln — 118 g Eiweiß, 56 g Fett und 500 g Kohlehydrate betrage. In diesem Kostmaß ist das Minimum an Fett, das Maximum an Kohlehydraten angegeben. Mehr von letztern als 500 g täglich ist in der Regel unverdaulich. Da die stärkemehlreichen Nahrungsmittel durchschnittlich die billigern sind, so findet sich in der Kost des Ar- beiters überwiegend viel davon. In den wohlhabendern Klassen pflegt die im Fett zugeführte Kohlenstoffmenge das von Voit geforderte Minimum beträchtlich zu übertreffen. 1) Physiologie der Nahrungsmittel. Zweite Aufl. Gießen 1860. 8. 223. 2) Zeitschr. f. Biologie. 1873. IX. 381. 3) Einer besondern Besprechung der Salze bedarf es an dieser Stelle nicht, da in den gebräuchlichen Nährmitteln die nötigen Salze in hinlänglicher Menge enthalten sind. 158 Wolffberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. Können Fette und Kohlehydrate in der Nahrung un- bedingt sich gegenseitig ersetzen? Beide Klassen von Nahrungsstoffen wurden von Liebig unter dem Namen der „respiratorischen Nahrungsmittel“ im Ge- gensatz zu den eiweißartigen, die er als „plastische Nahrungsmittel“ bezeichnete, zusammengefasst. Erstere sollten im Organismus vor- zugsweise die Bestimmung haben, durch ihre Verbrennung die nötige Wärme zu liefern; dagegen sollte das Eiweiß der Nahrung vorzüglich zum Wiederaufbau der durch die Arbeit (Muskelkontraktion, Sekre- tion u. s. w., den Stoffwechsel überhaupt) angeblich zerstörten organi- sirten Form dienen. Man maß die bei der totalen Verbrennung der Nahrungsstoffe frei werdenden lebendigen Kräfte und glaubte hieraus auf die Kraftsummen, welche Fett, Stärke u. a. Stoffe im Organismus entfalten, schließen zu dürfen. Hiernach sollten 100 Teile Fett in ihrem Werte als (wärmeerzeugender) Nahrungsstoff 240 Teilen Kohle- hydrate gleichkommen. Der relative Wert von Fetten und Kohlehydraten berechnet sich indessen nicht nach der Sauerstoffmenge, welche sie bei ihrer totalen Verbrennung verbrauchen, oder nach den hierbei erzeugten Wärme- mengen. Im Organismus ist es nicht der Sauerstoff, welcher in erster Reihe die Zersetzungen hervorruft. Die Größe der letztern und der Oxydationen richtet sich vielmehr nach wechselnden Bedingungen in- nerhalb der Organzellen. In den Organzellen sind die Ursachen für den Zerfall der zirkulirenden Nahrungstoffe, des Eiweißes sowol wie der stickstofffreien Stoffe, gegeben. Man musste daher von dem dynamischen Standpunkt Liebig’s, von der Frage, wie viel Wärme ein Nahrungsstofi bei seiner Oxydation erzeugt, zurückkommen und untersuchen, in welcher Weise durch Fette und Kohlehydrate die stoffliehen Umsetzungen im Organismus beeinflusst werden. Bei Gelegenheit von Ernährungsversuchen, welche Pettenkofer und Voit zur Lösung anderer Aufgaben unternahmen, ist auch die Frage, in welchen Mengen die Kohlehydrate mit Rücksicht auf die Verhütung des Fettverlustes vom Körper dem Fette äquivalent sind, berücksich- tigt worden. Hiernach tun als Nahrungsstoffe ca. 175 Teile Stärkemehl im allgemeinen dieselben Dienste wie 100 Teile Fett, vorausgesetzt, dass in den vergleichenden Versuchen beide vollständig zur Zersetzung gelangen!). Beide vermögen durch ihre Zersetzung den Zerfall des Eiweißes im Körper etwas einzuschränken; beide verhüten durch ihre Zer- setzung bis zu einem gewissen Grade die Oxydation des aus dem Eiweiß im Körper abgespaltenen Fettes. Während aber die Kohle- hydrate stets ganz zerstört werden, wird das Fett der Nahrung nur bis zu einer gewissen Grenze oxydirt, aber über diese hinaus kommt 4) Vgl. Ztschr. f. Biol. 1869. V. 448. und ebenda 1873. IX. 435. Wolftberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. 459 es zum Ansatz. Die stofflichen Wirkungen von Fett und Kohlehy- draten sind also auch qualitativ nicht vollständig gleich. Für die Volksernährung ist es ferner vielleicht nieht ohne Bedeutung, dass die sparende Wirkung, welche die letztern mit bezug auf die Ei- weißzersetzung ausüben, beträchtlicher zu sein scheint, als die der Fette. So wird die bedeutendere Menge von Stärkemehl in der ei- weilarmen Diät der Bedürftigen für die Erhaltung des Eiweißvor- rats im Körper vorteilhafter wirken, als wenn ein Teil der resor- birten Kohlehydrate durch Fett ersetzt wäre !). — Um die Anforderungen an die Diät des tätigen Mannes zu be- gründen, bleibt ferner zu erörtern, nach welcher Richtung die Stoff- zersetzungen im Körper durch die Arbeit beeinflusst werden. Hier- mit wird ein für die Theorie und Praxis der Ernährung höchst wich- tiges Kapitel berührt. Nach Liebig’s Hypothese sollte die Zersetzung des Organ- eiweißes die Kraftquelle für die Organarbeit liefern. Die vorliegen- den Untersuchungen von Voit?) und andern beweisen aber, dass durch angestrengteste Arbeit der Stickstoffumsatz nicht verändert wird. Die Arbeit geht vielmehr lediglich mit einer Steigerung der Kohlensäure- und Wasserausscheidung und erhöhter Wärmebildung vor sich. Durch die Arbeit (Muskeltätigkeit) tritt keine Mehrzer- setzung von Eiweiß, sondern von stickstofffreien Stoffen, insbesondre von Fett ein?). Um hieraus praktische Schlüsse für die Ernährung des Arbeitenden zu ziehen, ist es notwendig, einen Augenblick bei der Theorie der Muskelarbeit zu verweilen. Einige schlossen zus den angeführten Resultaten, dass für die mechanische Arbeit die Quelle in den Spannkräften der freien Stoffe der Nahrung, in Kohlehydraten und Fetten allein enthalten sei. Dem widerspricht aber schon die tägliche Erfahrung, welche lehrt, 1) Aus andern Gründen ist freilich, wie wir sehen werden, die Zufuhr von sehr viel Kohlehydraten, wie in der Diät der Armen, keineswegs erwünscht. Es muss daher zur Deckung des Kohlenstoffbedürfnisses eine gewisse Fett- menge zur Nahrung hinzukommen. Alsdann wird aber der dürftige Eiweiß- gehalt der Nahrung um so mehr aufgebessert werden müssen. 2) Vgl. Voit, über den Einfluss des Kochsalzes, Kaffees und der Muskel- bewegung auf den Stoffwechsel. München. 1860; ferner Zeitschrift f. Biol. II, 544. 1866. 3) In allen diesen und ähnlichen Untersuchungen ist der Stickstoff in den sensibeln Exkreten bestimmt worden. Wenn N auch gasförmig ausgeschieden würde, wie einige Autoren neuerdings wieder annehmen, so wäre es jedenfalls höchst auffallend, dass es bei einer bestimmten Zusammensetzung der Nahrung gelingt, Tiere (und Menschen) in den Zustand des N-Gleichgewichts zu setzen, in welchem in den sensibeln Exkreten ebensoviel N als in der Nahrung ent- halten ist, und dass in diesem N-Gleichgewicht keine Aenderung trotz ange- strengter Muskelarbeit eintritt. 160 Wolffberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. dass nicht vorzugsweise mit Stärkemehl und Fett, sondern durch eiweißreiche Nahrung dauernde Leistungsfähigkeit unterhalten wird. Die Hypothese von Pettenkofer und Voit nimmt das Eiweiß als Kraftquelle an und erklärt zugleich, wie der Umsatz des Ei- weißes durch mechanische Arbeit nicht vermehrt zu werden braucht. Nach dieser Hypothese werden durch die Sauerstoffaufnahme in die Organe und durch den gleichmäßig fortgehenden Zerfall von Eiweiß die für die Arbeitsleistung nötigen Spannkräfte angesammelt. Während diese bei der Ruhe unter der allmählichen Oxydation von Spaltungs- produkten des Eiweißes in Wärme übergehen, werden sie unter dem Einflusse des Willens in mechanische Arbeit umgesetzt. Die stick- stofffreien Zersetzungsprodukte des Eiweißes sind die Träger dieser Spannkräfte, während die stickstoffhaltigen, in gleichmäßiger Oxy- dation in Harnstoff übergeführt, unter allen Umständen nur zur Wär- mebildung beitragen. Viele glauben immer noch einen Widerspruch darin zu sehen, dass der Arbeitende mehr Eiweiß erhalten müsse, während doch durch die Arbeit nieht mehr Eiweiß als in der Ruhe zersetzt würdet. Das mögliche Arbeitsmaximum ist eine Funktion der Eiweißzersetzung. Die Arbeit aber beeinflusst die Höhe der Ei- weißzersetzung nicht; sie ist nur eine der Erscheinungsformen der vom Eiweiß abstammenden Kräfte, welche entweder nur als Wärme, oder als Arbeit und Wärme auftreten. Die in letzterm Falle aus- fallende Wärmemenge wird (in meist überschüssiger Höhe) durch Mehrzerfall anderer stickstofffreier Körper (Fett) gedeckt, welchen ein unbekannter nervöser Konnex veranlasst. 4) Vgl. z. B. Beneke, Zur Ernährungslehre des gesunden Menschen. Schriften der Gesellschaft zur Beförderung der gesamten Naturwissenschaften. Bd. XI. 5. Abh. 8. 277. Kassel 1878. (Schluss folgt.) Berichtigung. In Nr. 4 S. 117 Z.2 v. u. lies Nerven statt Merven. Soeben erschien: Elemente allgemeinen Physiologie. Kurz und leichtfasslich dargestellt von Prof. Dr. W. Preyer. Preis 4 Mark. Leipzig. Th. Grieben’s Verlag. (L. Fernan). Mit einer Beilage der Verlagsbuchhandlung H. Löscher in Turin. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut“ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Oentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess wd Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. III. Band. 15. Mai 1883. Na Inhalt: Zopf, Zur Morphologie der Spaltpflanzen. — Graff, Rhabdocoelidenmono- graphie (Fortsetzung). — Jordan, Zur Biogeographie der nördlich gemäßigten und arktischen Länder. — Polejaeif, Ueber das Sperma und die Spermato- genese bei Sycandra raphanus H. — Mielucho-Maelay, Gehirnwindungen des Canis Dingo. — Wolfiberg, Die physiologischen Grundsätze für die normgemäße Beköstigung des Erwachsenen (Schluss). — Berthoud, Das amerikanische Pferd. — E. v. Martens, Weich- und Schaltiere. — Berichti- gungen. W. Zopf, Zur Morphologie der Spaltpflanzen (Spaltpilze und Spaltalgen). Leipzig 1882. Mit 7 Tafeln. Betreffs der Morphologie und Systematik der Spaltpilze ist es eine der wichtigsten Streitfragen, ob die verschiedenen Spaltpilzformen, die unter den Namen Bacterium, Micrococeus, Bacillus, Vibrio, Spiril- lum ete. verstanden werden, genetisch mit einander zusammenhängen, wie Billroth, Nägeli, Cienkowski behaupten, oder ob sie selb- ständige konstante Pflanzenformen darstellen, wie Cohn, Koch, van Tieghem es annehmen. Der Verfasser will durch seine Arbeit die erste Ansicht als die richtige nachweisen und glaubt durch seine Resultate die herrschende Streitfrage der Hauptsache nach erledigt zu haben. In der ersten Hälfte seiner Abhandlung gibt der Verfasser die ausführliche Entwieklungsgeschichte einer Reihe von Spaltpilzen. Cladothrix dichotoma Cohn erscheint in Form farbloser zarter geglie- derter Fäden, die in der Weise eine Pseudoverzweigung zeigen, dass ein Stäbchen des Fadens sich streckt, seitwärts biegt und neben dem Hauptfaden einherwächst. Die Fäden sind von einer zarten Gallert- scheide umgeben. Durch Querteilung zerfallen die stäbehenförmigen Zellen der Cladothrixfäden in ganz kurze zylindrische Stücke, die sich allmählich abrunden, von einander isoliren und nun Mikrokokken vor- stellen. Aus ihnen entwickeln sich bei stärkerm Wachstum wieder at 162 Zopf, Zur Morphologie der Spaltpflanzen. 2 Stäbchenzellen, die durch fortgesetzte Querteilung mit gleichzeitiger Verlängerung in Fäden übergehen, die der bisher beschriebenen Lep- tothrix parasitica Kütz. ganz entsprechen. Die Fäden sind von zarter Gallertscheide umgeben, die in eisenhaltigem Wasser durch Aufnahme von Eisenverbindungen sich gelb bis braun färben und dann die Lep- tothrie ochracea Kütz. vorstellen. Durch Zweigbildung geht aus die- ser Leptothrixform die typische Oladothrix hervor. Aber noch ganz andere Umwandlungen dieses interessanten Spaltpilzes hat der Ver- fasser beobachtet. Einmal können sich von der Cladothrix längere oder kürzere Zweigfragmente ablösen und frei umherschwärmen. Un- ter gewissen Umständen krümmen sich die Zweigfäden von Cladothrix in schraubiger Weise. Indem sich einzelne der gewundenen Stücke abtrennen und frei umherschwärmen, entstehen spirillumartige Gebilde. Die schwärmenden Schrauben sind stets gegliedert und zwar sind ihre Glieder entweder stäbchen- oder mikrokokkenartig. Sehr wechselnd ist sowol die Höhe der Schraubengänge als auch die Fadendicke, wodurch sehr mannigfach variirte Gestalten entstehen, die bald mehr der Gat- tung Vibrio, bald mehr Spirillum oder Spirochaete entsprechen. Bisweilen sind die schraubenförmig gewundenen Fäden außeror- dentlich lang und zerfallen nach und nach in kleinere Stücke. Auch die bei den Bakterien so häufige Zoogloeaform tritt bei Cladothrix unter Umständen in die Erscheinung, und zwar in sehr mannigfaltiger Weise. Die Mikrokokken, die sich aus den Cladothrixfäden entwickeln, blei- ben oft in Gallerte vereinigt und bilden gestreckt zylindrische oder spindelförmige Kolonien. Aus ihnen gehen durch Auswachsen der Mikrokokken und sehr lebhafte Schleimausscheidung dendritische Gallertstöcke hervor, die aus bakteriumähnlichen Zellen zusammen- gesetzt sind. Sowol die Stäbehen wie die Mikrokokken können aus der Gallerte ausschwärmen. In derselben Zoogloeakolonie findet man sehr verschieden geformte Stäbehen, bald kürzere oder längere, bald gerade oder schwach gekrümmte bis zu stark schraubig gewundenen. Indem die Stäbchen zu längern Fäden auswachsen entstehen Zoogloea- kolonien, die aus der Leptothrixform gebildet werden; schließlich fin- det man auch Zoogloea der typischen Cladothrixform. So durchläuft dieser merkwürdige Spaltpilz die mannigfachsten Entwicklungszustände, die anscheinend mit den bisher als selbständige Formen beschriebenen Spaltpilzgattungen identisch sind. Ein zweiter in faulenden Gewässern sehr häufiger Spaltpilz ist die Beggiatoa alba V auch., welche in ihrer ausgebildeten Form, in dem „Lepto- thrixzustand“, aus langen meist an Pflanzenteilen festhaftenden Fäden besteht, deren Durchmesser sich von dem angehefteten nach dem freien Ende hin allmählich vergrößert, womit gleichzeitig die Gliederung durch Scheidewände immer undeutlicher wird. Gegen das freie Ende hin nimmt auch der Gehalt an Schwefelkörnchen zu. In der ersten Entwieklungszeit sind sämtliche Beggiatoafäden starr; sobald sie aber Zopf, Zur Morphologie der Spaltpflanzen. 163 eine gewisse Länge erreicht haben, zeigen sie eine langsame Bewegung, indem sie hin und her schwingen und sich krümmen. Dabei knicken die Endstücke der Fäden vielfach ein, lösen sich los und bewegen sich nach Art der Öscillarien vorwärts. In den Enden der Beggiatoa- fäden tritt nun ähnlich wie bei Cladothrix Bildung von Mikrokokken auf, die kuglige oder ellipsoidische Körperehen darstellen, welehe mit- unter in einen Schwärmzustand übergehen, zur Ruhe gekommen durch Gallertausscheidung Zoogloeakolonien veranlassen. In derselben Weise wachsen die Mikrokokken zu Stäbehen heran, welche ihrerseits aus- schwärmen können. Von den gekrümmten Fadenenden der Beggiatoa gliedern sich wie bei Cladothrix spirillumartige Stücke ab, die mit einer Cilie versehen frei umhersehwimmen. Eine der vorigen verwandte Form ist die Beggiatoa roseo-persieina Zopf, deren Fäden rosenrot bis violett gefärbt sind, die ebenfalls reichlich Mikrokokken bildet, welche in sehr mannigfaltig geformten Zoogloeakolonien sich vereinigen, die früher als Olathrocystis roseoper- sicina Cohn beschrieben worden sind. Es gibt bei dieser Art große und kleine Mikrokokken, die genetisch mit einander zusammenhängen. Aus den Kokken entwickeln sich Stäbehen von sehr verschiedener Länge. Durch Aufquellen der Zoogloeagallerte gehen die Mikrokokken wie Stäbehen in den Schwärmzustand über. In dem zweiten Hauptteil seiner Arbeit beschäftigt sich der Ver- fasser mit den Phycochromaceen oder Spaltalgen, jenen blau- grünen Algen, deren systematische Verwandtschaft mit den Spaltpilzen schon Cohn dargelegt hat. Die Uebereinstimmung dieser beiden Gruppen ist aber nach den Untersuchungen des Verfassers noch größer, als man bisher angenommen. Die spangrüne Glaucothrix gracillima (Kg.) Zopf entspricht vollkommen der farblosen Cladothrix dichotoma Cohn; sie erscheint in Form zarter Fäden, die von einer Gallertscheide umgeben sind und spärliche Pseudoverzweigung zeigen. Auf dieselbe Weise wie bei Cladothrix entstehen Mikrokokken, welche, wenn sie zusammengelagert bleiben, entsprechend gefärbte Zoogloeazustände bilden, die je nach der Vergallertungsfähigkeit der Einschlüsse ver- schiedenes Aussehen gewinnen und die zum Teil schon als selbständige Chrooeoceaceengattungen beschrieben worden sind. Der Uebergang in einen solchen Zoogloea- bezw. Chrooceoccaceenzustand wird durch längere Kultur der Algen auf schlechtem Nährboden herbeigeführt; so- bald man ihnen ein besseres Substrat gibt, entwickeln sich wieder die Fäden. Aehnliche Entwieklungszustände weisen auch andere Phyco- ehromaceen auf, so Gliothrix tenerrima Zopf, Seytonema fecunda Zopf, Öscillaria leptotricha Kütz., Chamaesiphon crenothrichoides Zopf, Siro- siphon Bornetii Zopf, Tolypothrix Nostoc Zopf. Bei der letzten Art machte der Verfasser die Beobachtung, dass aus den bekannten ungeschlechtlichen Fortpflanzungszellen, den Hormogonien, sich nicht gleich typische Tolypothrixfäden entwickeln, sondern dass (> 164 Zopf, Zur Morphologie der Spaltpflanzen. sie einen Zoogloeazustand eingehen, der einer Nostokkolonie sehr ähnlich ist. Jedenfalls zeigen alle diese Beobachtungen, wie nahe ver- wandt Spaltpilze und Spaltalgen sind und bei der spätern Umgestal- tung der ganzen Klasse in systematischer Beziehung wird man es aufgeben müssen, einfach die farblosen und gefärbten Formen so scharf zu trennen wie bisher. Das Vorhandensein oder das Fehlen des Farbstoffs tritt als systematischer Charakter weit an Bedeutung zurück gegenüber der sonstigen Organisation und dem Entwicklungs- gang, das ist nirgends deutlicher als hier bei den Schizophyceen. Es ist hier eine wesentlich andere Sache, als bei der Frage nach der Trennung von Pilzen und Algen, die man mit einander zu vereinigen gesucht hat, aber nicht mit Recht, weil, worauf de Bary besonders hingewiesen, diese beiden Thallophytenreihen ganz abgesehen von dem Farbstoffgehalt anders gebaut sind und sich in anderer Richtung ent- wickeln. Bei den Schizophyceen spielt auch die Ernährung durch Assimilation der Kohlensäure eine viel weniger bedeutsame Rolle, als bei den Chlorophyllalgen, weil die erstern mehr oder minder schon an eine Art saprophytischer Ernährung angepasst sind; es ist durch- aus wahrscheinlich, dass bei geeigneten Kulturbedingungen es gelingen wird, gefärbte Schizophyceen in farblose überzuführen, d.h. Spaltalgen in Spaltpilze. Diese Trennung wird am besten ganz aufhören; Glauco- thrix und Cladothrixz z. B. dürften kaum so weit wie bisher in geson- derten Familien zu stehen kommen, sondern gehören nahe zusammen und werden vielleicht am besten in derselben Gattung zu vereinigen sein. Das wichtigste Resultat der Arbeit des Verfassers ist jedenfalls der Nachweis, dass sowol die Spaltpilzformen wie Cladothrix ete., als auch die gefärbten Spaltalgen wie Glaucothrix u. a. unter gewissen Umständen Entwicklungszustände zeigen, die mit den bisher als selb- ständige Formen betrachteten Spaltpilzgattungen wie Bacterium, Vi- brio, Spirillum ete. bezw. mit einzelnen Chroococcaceengattungen morpho- logisch nahe übereinstimmen. Es ist dies eine sehr interessante Tat- sache, die noch an Bedeutung gewinnen wird, wenn erst die Bedin- gungen, unter welchen die verschiedenen Entwicklungsformen herbei- geführt werden, genauer erkannt sind. Der Verfasser hat in dieser Beziehung schon manche Beobachtung gemacht. Die Folgerung, die nun der Verfasser als Endresultat seiner Arbeit zieht, dass nämlich die oben genannten Spaltpilzgattungen resp. Chroococcaceen keine selb- ständigen Formen einschließen, sondern als bloße Entwicklungszustände von andern Spaltpilzen aufzufassen sind, erscheint aber nach den vor- liegenden Tatsachen durchaus noch nicht berechtigt, ja sogar unwahr- scheinlich. Das ist wol richtig, dass für einzelne der bisher beschrie- benen Arten eine Verwechslung mit solchen Entwicklungszuständen vorliegt, aber ob für die meisten ist es noch sehr fraglich. Die angeb- liche Identität der Stäbchenformen einer Cladothrix mit Bakterium- arten beruht auf der rein äußerlichen morphologischen Aehnlichkeit. BEE a nn Graff, Rhabdocoelidenmonographie. 165 Wir kennen vorläufig die innere Organisation viel zu wenig, um aus der erstern direkt auf eine solehe Identität zu schließen — wenigstens wird man in der Beziehung sehr vorsichtig vorgehen müssen, vor allem weil die mannigfaltigen Lebenserscheinungen der einzelnen Formen betreffs Erregung von Gärung und Krankheiten auf spe- zifische Differenzen hinweisen. Wie vorsichtig man in solchen Scehlüssen sein muss, erhellt mehrfach aus der Geschichte ähn- licher Fragen. Als die Schwärmsporen der Algen entdeckt wur- den, sprach sich Siebold dahin aus, dass ein großer Teil der von Ehrenberg beschriebenen grünen beweglichen Infusorien ähnliche Entwieklungszustände und keine selbständigen Formen seien. Die Verwechslung wäre für Ehrenberg sehr verzeihlich gewesen, denn für die damalige Zeit war die Achnlichkeit zwischen einer Schwärm- spore und einer Volvocinee oder einer grünen Flagellate schr groß, in demselben Maße, wie sie es für unsere Zeit zwischen einer Stäb- chenform der Cladothrix und dem frei lebenden Bakterium termo ist. Spätere Untersuchung zeigte aber, dass die allermeisten der von Ehrenberg beschriebenen Formen in der Tat selbständige Arten sind, ein Zeichen für seine hervorragende Beobachtungsgabe. Auch in neuerer Zeit ist eine ähnliche Uebereilung in der Schlussfolgerung von Cienkowski gemacht worden. Nachdem er nachgewiesen hatte, dass einzelne der früher als Palmellaceen beschriebenen Algen Ent- wieklungszustände höherer Fadenalgen waren, sprach er sich über- haupt gegen die Selbständigkeit der ganzen Algenfamilie aus und darin hat er nicht recht, weil die meisten Glieder derselben genau so selbständig sich erweisen, wie in andern Gruppen. So wird das auch für die Spaltpilze der Fall sein; neben den höher stehenden Fadenformen wie Cladothrix, Beggiatoa, Orenothrix ete. wird es auch ganz einfach gebaute aber ebenso selbständige Formen geben, die den jetzigen Gattungen Bacterium, Micrococcus ete. entsprechen. Allerdings wird es nun vor allem darauf ankommen, für jede Art durch längere Kultur unter wechselnden Bedingungen in so sorgfältiger Weise, als es der Verfasser in seiner Abhandlung getan hat, diese Selbständigkeit nachzuweisen und eine schärfere Charakteristik anzu- streben. Georg Klebs (Tübingen). Die Graff’sche Rhabdocoelidenmonographie. (Fortsetzung,.) Im vierten Abschnitt seiner Monographie behandelt Graff das Wassergefäßsystem der Rhabdoeoeliden. Er hebt die Schwierig- keiten hervor, auf welche die Erforschung dieses Organsystems haupt- sächlich bei marinen Formen stößt. Beiden Acoelen hat er keine Spur 4166 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. eines Wassergefäßsystems wahrgenommen. Referent erlaubt sich, die- ser Behauptung gegenüber sich noch etwas skeptisch zu verhalten. Das Vorkommen eines Wassergefäßsystems bei Plathelminthen, bei denen es früher bezweifelt worden war, ist in den letzten Jahren bei ver- schiedenen Gruppen sicher nachgewiesen worden. Referent ist um so mehr zur Skepsis geneigt, als er selbst zu wiederholten malen auf das bestimmteste die Existenz eines Wassergefäßsystems bei Poly- eladen geleugnet hat und sich jetzt doch von der Unrichtigkeit dieser Behauptung überzeugen musste. — In erster Linie betrachtet Graff die Hauptstämme und ihre Ausmündung nach fremden und eig- nen Beobachtungen. Bei den Makrostomiden existiren zwei seitliche sich vorn und hinten verzweigende Hauptstämme, deren Ausmündungen unbekannt sind. Die Mikrostomiden (Stenostoma) besitzen ein me- dianes Gefäß, das am hintern Körperende ausmündet, vorn umbiegt und unter dem obern Gefäßstamm wieder zurückläuft. Bei den Meso- stomiden ist jederseits ein Hauptstamm vorhanden, der sich vorn und hinten verästelt und in der Nähe des Pharynx nach innen einen Quer- ast abgibt, welcher in den seitlichen Teil der Pharyngealtasche ein- mündet. Bei den Plagiostomiden (und wahrscheinlich auch bei den Monotiden) finden wir zwei seitliche Stämme, welehe am hintern Ende mittels eines kurzen gemeinsamen medianen Endstücks nach außen münden. Bei den Proboseiden liegen jederseits zwei Hauptstämme. Die beiden Hauptstämme einer jeden Seite münden wahrscheinlich vereinigt mit einer hinten gelegenen Oeffnung nach außen, sodass also zwei hintere seitliche Oeffnungen vorhanden sind. Aehnlich verhalten sich nach den Angaben der Autoren Derostoma, Opistoma und Jensenia. Die Vortieiden verhalten sich wahrscheinlich ähnlich wie die Meso- stomiden. Die Prorhynchiden haben jederseits zwei Längsstämme, die vorn in eine quere Kommissur einmünden. Etwas vor der Kör- permitte, kurz hinter dem Pharynx, gibt jederseits der stärkere der beiden Längsstämme nach innen einen Ast ab, der nahe an der Mit- tellinie dureh eine einfache Oeffnung auf der Bauchseite nach außen mündet. — Graff hält den bilateralen Typus mit zwei getrennten äußern Oeffnungen für den ursprünglichen Zustand. — Die feinern Verästelungen und Anfänge des Wassergefäßsystems hat Graff bei Mesostoma Ehrenbergii genauer untersucht. Er findet hier, wie Francotte bei Derostoma, ein subkutanes Netzwerk von überall gleich weiten Gefäßen. Diese Maschengefäße gehen ziemlich unver- mittelt in die Hauptstämme und deren Aeste über. Von ihnen wie von den Hauptstämmen gehen feine Zweige ab, die allmählich feiner werdend sich in den Geweben des Körpers verlieren, ohne Endappa- rate zu tragen. Die Wimpertriehter sitzen nur vereinzelt der Wand der Endzweige da an, wo sie aus den Maschengefäßen ent- springen; ihre Hauptmasse aber gehört diesen letztern an. Die Wim- pertrichter sind kurze gerade Röhrchen, welche in die Wand der Ge- Graf, Rhabdocoelidenmonographie. 167 fäße ohne jede Erweiterung einmünden. Das freie in die Leibeshöhle ragende Ende des Röhrchens trägt ein rundes Knöpfehen, in welchem die schwingende Geißel befestigt ist; dieses Knöpfchen stellt offenbar die Geißelzelle oder den Kern der Wimpertrichter dar. Die Wimper- trichter sind geschlossen. Büschel von Wimpertrichtern finden sich an varikös erweiterten Fortsätzen der Maschengefäße. — In dem das Nervensystem behandelnden fünften Abschnitt wird in erster Linie für die Acoelen ein vollständiges Fehlen des Nervensystems behauptet. Referent kann auch hier nicht umhin, die völlige Richtigkeit dieser Behauptung zu bezweifeln. Schon die Tat- sache der Existenz eines Hautmuskelschlauches scheint ihm solche Zweifel zu rechtfertigen. Seit den neuen Untersuchungen über das Nervensystem der Coelenteraten und der Plathelminthen ist die Zahl der mit Muskelelementen ausgestatteten Tiere, bei denen ein Nerven- system noch nicht aufgefunden worden ist, beinahe auf Null reduzirt, sodass gegenwärtig wol kein Satz a priori wahrscheinlicher ist, als der, dass, wo Muskeln vorhanden sind, auch ein Nervensystem vor- kommt. Es würde Referenten durchaus nicht in Erstaunen setzen, wenn etwa bei Acoelen ein primitives ektodermales Nervensystem entdeckt würde. Zu einer solchen allerdings ganz in der Luft schwe- benden Vermutung gelangt Referent deshalb, weil ihm die Acoelen, die Graff ja selbst mit Polyeladenlarven vergleicht, nieht sowol ur- sprüngliche Formen, als stationäre, geschlechtsreif gewordene Turbel- larienlarven zu sein scheinen, deren Vorfahren komplizirter gebaute mit einem Gastrovaskularapparat versehene polycladenähnliche Tiere waren, die aber dadurch, dass sie auf dem Larvenstadium verharrten, in vielen Organisationsverhältnissen einfache, z. T. sogar ursprüng- liche Zustände darbieten. Bei den parasitischen Vortieiden (Graffilla, Anoplodium) erscheint Graff das Nervensystem bedeutend reduzirt. Bei allen übrigen Rhab- docoeliden ist es wol entwickelt und besteht aus einem im Vorder- ende des Körpers gelegenen Doppelganglion (Gehirn) mit zwei davon nach hinten abgehenden Längsstämmen. Das Gehirn liegt stets im Parenehym, mit bezug auf den Pharynx je nach dessen Lage über oder vor demselben. Wo der Darm einen vordern Blindsack über den Schlund hinaus entsendet, da kommt das Gehirn unter den Darm- blindsack zu liegen. Verfasser gibt eine sehr sorgfältige Beschreibung des Nervensystems von Mesostoma Ehrenbergü. Von den seitlichen vordern Ecken des Gehirns geht jederseits ein dieker Nerv nach vorn ab, der sich in einen äußern und einen innern Ast gabelt. Der innere teilt sich selbst wieder in zwei Aeste, von denen der schwächere innere sich nach der entgegengesetzten Körperseite wendet und mit dem der andern Seite ein vollständiges X herstellt. Die hintern Längs- nerven liegen unter dem Darm, sie geben zahlreiche Aeste nach außen ab, von denen die ersten und stärksten gleich nach dem Ursprunge 168 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. aus dem Gehirn abgehen. Neben dem Pharynx weichen die Längs- stämme auseinander und verbinden sich unmittelbar hinter demselben durch eine dieke Querkommissur, die zuerst von Schneider gesehen und dem Sehlundringe anderer Würmer homolog erklärt wurde. Diese Querkommissur fehlt den übrigen Rhabdocoelen und den meisten Al- loiocoelen, mit Ausnahme der Monotiden, die wahrscheinlich, wie die Trieladen, eine größere Anzahl von Querkommissuren besitzen. Im übrigen weicht das Nervensystem der übrigen Rhabdocoeliden von dem des Mesostoma Ehrenbergii wesentlich nur darin ab, dass die vor dem Gehirn liegenden Körperteile dureh mehrere kleinere vollständig aus dem Gehirn entspringende Nerven versorgt werden. Für Miero- stoma lineare bestätigt Graff die interessante Beobachtung Semper’s, dass vom Gehirn jederseits außer den Längsstämmen noch ein Nerv abgeht, der sich mit dem der andern Seite hinter dem Pharynx zu einem wahren Schlundring vereinigt. Histologisch besteht das Gehirn aus einer zentralen feinfaserigen Substanz und einer Rinden- schieht von Ganglienzellen. Es ist häufig nicht sehr scharf vom um- gebenden Gewebe abgegrenzt, nur bei Macrorhynchus Naegelii konnte der Verfasser eine schärfere Begrenzung durch eine doppelt konturirte bindegewebige Kapsel konstatiren. Nervenendigungen hat Graff weder in den Muskeln noch in den Sinnesorganen aufgefunden. Als Sinnesorgane der Rhabdoeoeliden beschreibt Graff in einem sechsten Abschnitt Augen, Gehörorgane, Tastorgane und Wim- pergrübehen. Die Augen sind in vielen Fällen, so besonders bei den Acoelen (excl. Proporus venenosus), Microstomiden und Monoti- tiden einfache Pigmentanhäufungen ohne lichtbrechende Medien, die öfter dem Gehirn, wo ein solches vorhanden, direkt anliegen. Die Augen der meisten übrigen Rhabdoecoeliden indess bestehen aus einem kugligen, becherförmigen, oder nierenförmigen Pigmentfleck, der eine oder mehrere Linsen als lichtbrechenden Körper umschließt. Jede Linse besteht aus einer Mehrzahl von Zellen. Die linsenlosen Augen der Acoelen und Mierostomiden liegen im Epithel, die Augen aller übrigen Formen im Parenchym. Bei gewissen Stenostoma-Arten kom- men unmittelbar hinter dem Gehirn, den Längsnerven angelagert, schon von frühern Autoren beobachtete eigentümliche schüssel- fürmige Körper vor, welche aus einer großen Anzahl stark licht- brechender Kügelchen zusammengesetzt sind. Obschon in ihnen kein Pigment vorkommt, so ist doch Graff geneigt, sie eher für lichtper- zipirende als’ für Gehörorgane zu halten. Die Otolithen sind bei den Rhabdoecoeliden weniger verbreitet als die Augen; sie kommen mit Ausnahme einer Art stets nur in der Einzahl vor und liegen im vordern Körperteil in der Medianlinie, wo ein einfaches unpaares Auge vorhanden ist, in inniger Verbindung mit demselben. Ihr Bau ist folgender. Eine kuglige pralle Blase, bestehend aus einer feinen doppelt konturirten strukturlosen und gegen Säuren resistenten Mem- Graff, Rhabdocoelidenmonographie. 169 bran, ist von einer farblosen Flüssigkeit erfüllt, welche den in seiner Gestalt sehr mannichfaltigen Otolithen umgibt. Dieser besteht aus kohlensaurem Kalk; wird letzterer aufgelöst, so bleibt eine zarte Membran und eine feinkörnige Kugel, die organische Grundlage des Ötolithen, zurück. Bei den Monotiden trägt der Otolith noch zwei Nebensteinchen. Eine Bewegung derselben wurde nie beobachtet. Als Tastorgane führt Graff an die Rhabditen, Geißelhaare, Borsten und Tastpapillen des Epithels, ferner die paarigen Tentakeln des Genus Vorticeros, deren Epithel sich durch das Fehlen der Stäb- chen und dadurch auszeichnet, dass die Cilien starr sind. Bei den meisten Rhabdocoeliden dient als Tastorgan das vorderste Körper- ende, das sehr beweglich ist und bei Mesostoma rostratum sogar fern- rohrartig eingezogen werden kann. Bei dem Genus Alaurina ist das Vorderende rüsselartig zu einem Tastorgan verlängert. Auch den Rüssel der Proboseiden betrachtet Graff als Tastapparat und hält ihn für weiter nichts, als für eine bleibend gewordene Einstül- pung des Vorderendes, wie man sie vorübergehend bei Mesost. rostra- tum sehe. Einen Uebergang vom Vorderende des Körpers von Mesost. rostratum. zum Rüssel der Proboseiden sieht Graff in dem kegel- förmigen Vorderende des Körpers von Pseudorhynchus bifidus, das sich vom übrigen Körper scharf abhebt, an Stelle der Flimmerhaare Bor- sten und an Stelle der gewöhnlichen Rhabditen nadelförmige Körper besitzt. Dieser „Rüssel“ kann indess nur teilweise eingefaltet werden. Der Rüssel der Proboseiden zeigt ähnliche Veränderungen des Epithels, wie bei Pseudorhynchus. Oft enthält sein Epithel Ne- matocysten. Dem Bau nach ist er ein konischer muskulöser Zapfen, der sich im Grunde einer Einstülpung des vordern Körperendes, der Rüsseltasche, erhebt. Wir können Graff nicht in seiner vollkommenen Darstellung der Muskulatur des Proboseidenrüssels und ihrer Wir- kungsweise folgen, sondern heben hier nur das Vorkommen von quergestreiften Muskeln hervor. Die Wimpergrübchen der Microstomiden, Prorhynchiden und Plagiostomiden, jene paarigen zu beiden Seiten des Körpers in der Höhe des Gehirns liegenden, von birnförmigen Drüsenzellen besetzten Einsenkungen des Integuments, fasst Graff im Anschluss an Vej- dovsky ebenfalls als Sinnesorgane auf. Gerechtfertigt ist diese Auf- fassung durch die von Vejdovsky konstatirte Tatsache, dass Gehirn- nerven mit einer kolbigen Anschwellung an sie herantreten. Ob sie aber, wie Vejdovsky glaubt, Riechgruben sind und ob sie den Kopfspalten der Nemertinen entsprechen, lässt Graff dahinge- stellt sein. Im siebenten umfangreichsten Abschnitt des allgemeinen Teils be- handelt Graff die Fortpflanzungsorgane der Rhabdocoeliden. Mit Ausnahme des Genus Microstoma und wahrscheinlich auch Steno- stoma sind alle Rhabdocoeliden Zwitter. Was die äußern Oeffnungen 170 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. des männlichen und weiblichen Genitalapparats anbetrifft, so hält Graff für das ursprüngliche Verhalten das Vorhandensein einer ge- meinsamen Oeffnung am hintern Leibesende, für sekundär die Ver- schiebung derselben auf die Bauchseite und nach vorn, oder die Aus- bildung von zwei getrennten äußern Oeffnungen. Wo zwei getrennte Geschlechtsöffnungen vorhanden sind, liegt die weibliche meist vor, seltener hinter der männlichen. Die Duplizität der Geschlechtsdrüsen ist Regel. Die Ausnahmefälle lassen sich auf Verkümmerung der Geschlechtsdrüsen der einen Seite zurückführen. Successiver Herma- phroditismus d. h. die ungleichzeitige Ausbildung der männlichen und weiblichen Geschlechtsprodukte eines und desselben Individuums ist bei den Acoelen, wo die männlichen Geschlechtsprodukte zuerst ge- bildet werden, Regel; selten kommt er bei Rhabdocoelen vor. — Wo weibliche und männliche Geschlechtsprodukte durch eine gemeinsame äußere Oeffnung ausmünden, ist ein gemeinsamer Vorraum (Atrium genitale) vorhanden. Bei den Formen mit getrennten Geschlechtsöff- nungen kommen ähnliche Vorhöfe vor, die dann als Antrum maseu- linum und feminimum bezeichnet werden. Im Antrum feminimum und im Atrium genitale findet die Vereinigung der Keimzelle mit den Dotterelementen und die Absonderung der Kittsubstanz der Eischalen statt. Bei fehlendem Uterus vollzieht sich hier auch die Befruchtung und die Bildung der Eischalen. Das Atrium ist morphologisch eine Einsenkung des Integuments und Uterus. Bursa seminalis, Receptaculum seminis, Bursa copulatrix und männlicher Begattungsapparat sind ihrerseits wieder sekundäre Aussackungen des Atriums. Mitunter zeigt das Atrium zwei Aussackungen, in deren eine die männlichen und in deren andere die weiblichen Genitalien einmünden. Hierin erblickt Graff eine Vorbereitung zur Trennung in zwei distinkte äußere Oeffnungen. Als weibliche Geschlechtsdrüsen finden wir bei den Rhabdocoeliden entweder Ovarien, oder Keimdotterstöcke, oder getrennte Keim- und Dotterstöcke. Die Ovarien repräsentiren den ursprünglichen Zustand. Aus ihnen sind durch Arbeitsteilung die Keimdotterstöcke hervorgegangen, indem der eine Teil der Geschlechts- drüse blos Eizellen, der andere blos Dotterelemente lieferte. Durch räumliche Teilung dieser zwei Teile der Keimdotterstöcke sind die getrennten Keim- und Dotterstöcke entstanden zu denken. Die Rich- tigkeit dieser Anffassungsweise, die schon von Gegenbaur ge- äußert worden ist, wird bei den Rhabdocoeliden durch zahlreiche Uebergangsformen zwischen den drei Typen der weiblichen Geschlechts- drüsen bewiesen. Ovarien finden wir bei den Acoelen, bei dem nie- drigsten Alloiocoelengenus Acmostoma und den einfachsten Rhab- docoelenfamilien Microstomida und Macrostomida. Keimdotterstöcke treffen wir an bei den relativ einfach organisirten und ursprünglichen Rhabdocoelengattungen Prorhynchus, Proxenetes und Schultzia und bei der Alloiocoelengattung Cylindrostoma. Alle übrigen Rhabdocoe- Graft, Rhabdocoelidenmonographie. 471 liden, zu denen die höchst organisirten Formen gehören, besitzen ge- trennte Keim- und Dotterstöcke. Die Ovarien der Acoelen sind zu beiden Seiten der Medianlinie gelegene langgezogene Keimlager, deren vorderer und ventraler Teil aus einer homogenen Protoplasmamasse besteht, in welche Kerne ein- gestreut sind. Gegen das hintere Ende der Ovarien zu grenzt sich das Plasma um die größer werdenden Kerne (Keimbläschen) ab, so dass zu jedem Kerne eine Portion Plasma gehört und beide zusammen eine junge Eizelle darstellen. Mit zunehmendem Wachstum der Ei- zelle füllt sich ihr ursprünglich klares Plasma mit Dotterkörnchen. Bei den Ovarien des Alloiocoelengenus Acmostoma sind die Eizellen von Anfang an individualisirt. Die Ovarien der Maerostomiden und Miero- stomiden bieten das Eigentümliche, dass der Dotter im homogenen Plasma der Ovarien auftritt, bevor letzteres um jedes Keimbläsehen individualisirt ist. — Die Keimstöcke der Rhabdoeoelen sind kuglig oder fingerförmig und meist wenigstens gegen die Ausmündung zu mit einer kräftigen Muskularis ausgestattet. Ihr blindes Ende besteht aus einer feinkörnigen Plasmamasse mit eingestreuten Kernen. Ge- gen die Ausmündung zu werden die Kerne immer größer, erhalten ein Kernkörperchen und das Plasma individualisirt sich um die Kerne. Bei den Mesostomiden und bei Graffilla platten sich die Eizellen ge- genseitig so ab, dass der Keimstock das Aussehen einer Geldrolle bekommt. In den Keimstöcken der Alloioeoelen sind die Eizellen von Anfang an idividualisirt. Die jüngsten unter ihnen besitzen einen äußerst geringen Plasmabelag und unterscheiden sich kaum von den Kernen des Parenchyms. Zwischen den Eizellen liegt ein bindege- webiges Gerüst mit angelagerten Kernen, sodass die Uebereinstimmung der Keimstöcke der Alloioeoelen mit denen der Trieladen vollkommen erscheint. R Die Dotterstöcke der Rhabdocoelen sind symmetrisch und ursprünglich stets aus zwei seitlichen Hälften zusammengesetzt. Graft beschreibt eingehend die verschiedene Form derselben bei den verschiedenen Gattungen und Arten. Mit bezug auf den feinern Bau derselben konstatirt er, dass sie von einer strukturlosen Membran eingeschlossen sind und aus einem einschichtigen Epithel kubischer Zellen mit zartem Kern bestehen. In den extremsten Fällen der so- genannten papillösen Dotterstücke beschränkt sich das Epithel auf die Papillen, während der zentrale als Leitungsapparat dienende Strang bloß aus der strukturlosen Membran besteht. Die Vermehrung des Dotterstockepithels geht von den freien Enden der Dotterstöcke aus, bei den glatten und bei den eingeschnittenen Dotterstöcken vom vordern Ende, bei den geweihartigen von den obern und äußern Zweig- enden, bei den papillösen von den Papillenspitzen. Den Dotterstücken der Alloiocoelen fehlt eine Tuniea propria. Ihr Bau entspricht dem der Keimstöcke dieser Tribus. Wir haben es mit soliden Zellen- 172 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. haufen zu tun, die vom Parenchymgewebe äußerlich zusammengehal- ten und innerlich durchsetzt werden. Die jüngsten, peripherisch ge- lagerten, noch undeutlich von einander abgegrenzten Dotterzellen zeichnen sich durch ihr homogenes dichteres feinkörniges Plasma aus. Graff hat ebensowenig wie Schmidt und van Beneden bei Rhabdocoelen ganze Dotterzellen den Dotterstock verlassen sehen, sondern „immer nur eine durch Zerfall dieser entstandene Dotter- flüssigkeit“. Die Aufnahme der Dotterkörnchen ins Innere der Keim- zelle hat er nie direkt beobachten können. Keimdotterstöcke. Während bei Prorhynchus nach Schultze, v. Beneden und Hallez der keimbereitende Teil des Keimdotter- stockes am blinden Ende desselben gelagert ist und allmählich in den am proximalen Ende gelegenen dotterbereitenden Teil übergeht, ist bei den Genera Proxenetes und Cylindrostoma gerade das umgekehrte der Fall. Die Keimzellen und der Dotter entstehen in den respektiven Teilen auf die nämliche Art und Weise, wie in den getrennten Keim- und Dotterstöcken. Der gemeinsame Ausführungsgang geht an der Grenze der beiden Teile ab und die Keimzelle umgibt sich bei ihrem Ueber- tritt in den Ovidukt mit einer Portion flüssiger Dottermasse. Bei dem Genus Schultzia stellen nach Schultze die Keimstöcke blinde Anhänge der Dotterstöcke dar, ein Verhalten, das von Graff als der erste Anfang einer räumlichen Trennung der keimbereitenden von den dotter- bereitenden Teilen aufgefasst wird. DieAusführungsgänge der weiblichen Geschlechtsdrüsen betref- fend betont Graff das Fehlen derselben bei den meisten Acoelen und Alloiocoelen, bei denen entweder die Geschlechtsdrüsen direkt der Wand des Atrium genitale aufsitzen, oder bei denen die Funktion der Ausführungsgänge von Lücken des Parenchyms übernommen wird. Sind wie bei den Rhabdocoelen besondere Ausführgänge vorhanden, so existirt bei den Formen mit getrennten Keim- und Dotterstöcken häufig jederseits auch ein gemeinsames kurzes Endstück, häufig auch münden letztere getrennt. — Wo ein Uterus vorhanden ist, stellt derselbe eine sekundäre Ausstülpung des Atrium genitale dar, mit dessen Bau er übereinstimmt. In vielen Fällen kann überdies ein Uterus nur dann unterschieden werden, wenn er gerade ein Ei beher- bergt. Gewöhnlich ist er einfach und gewöhnlich enthält er auch bloß ein Ei. Bei den prosoporen Mesostomiden jedoch ist er doppelt und enthält eine Mehrzahl von Eiern. Accessorische Uterusdrüsen, ähnlich den von Hallez bei Vortex Hallezii aufgefundenen,. findet Graff auch bei Vortex armiger, wo sie als paarige Drüsenbüschel in den Halsteil des Uterus einmünden. Graff macht sodann Mit- teilungen über die legereifen Eier und Eikapseln und über die Ei- ablage. Als besonders interessant verdient die Tatsache hervorgeho- ben zu werden, dass in vielen Fällen besonders die hartschaligen Eier erst durch den Tod der Mutter frei werden. Diese Tatsache wurde Graff, Rhabdocoelidenmonographie. 173 bei den Gattungen Mesostoma und Vortex direkt beobachtet. Ueber die bei Mesostomeen des süßen Wassers vorkommenden zwei Arten von Eiern (Sommer- und Wintereier) hat Graff keine neuen Beob- achtungen gemacht; er stellt indess alles darüber Bekannte zusammen und stellt eine Reihe von Fragen, die noch ihrer Entscheidung harren. Mit bezug auf die von O.Schmidt als Bursa eopulatrix und Receptaculum seminis unterschiedenen weiblichen Hülfs- apparate, die gestielte blasenförmige Aussackungen des Atrium geni- tale darstellen, zeigt Graff, dass sie nicht immer als zwei selb- ständige Organe vorhanden sind, sondern in vielen Fällen eine einzige dickwandige Blase (Bursa seminalis) bilden, welche sowol zur Empfangnahme als zur Aufbewahrung des Samens dient. Ueberdies fehlen diese Hülfsapparate einer großen Anzahl von Rhabdocoeliden vollständig, nämlich unter den Acoelen der Familie der Proporiden; - unter den Rhabdocoelen den Maero- und Microstomiden, den Prorhyn- chiden und den Gattungen Promesostoma und Schultzia und unter den Alloioeoelen allen Plagiostomiden mit Ausnahme des Genus Cylin- drostoma. Die große Mehrzahl der Rhabdoeoeliden besitzen eine häufig von einer Chitinmembran ausgekleidete Bursa seminalis. Diese ist bei Antomolos hamatus mit einer Nebenblase, bei Macrorhynchus helgolandieus und Naegelii mit deren zweien, bei Mesostoma splendi- dum und Monotus mit einem Kranze von Nebenblasen versehen, die wahrscheinlich als Receptaeula seminis fungiren. Bei den Gattungen Proxenetes und Hyporhynchus befindet sich am blinden Ende der Bursa seminalis ein verschieden gestalteter Fortsatz, der eine Chitinröhre als Fortsetzung der Intima der Bursa enthält und der deshalb von großem Interesse ist, weil er, wieGraff nachweist, keine andere Deutung zu- lässt, als die eines Rudimentes eines Verbindungsrohres, welches bei Byrsophlebs Graffii das Receptaeulum seminis mit der Bursa copulatrix verbindet und durch welches ersteres das Sperma aus letzterer zugeführt erhält. Ganz abweichend verhalten sich Cylöndrostoma Klostermanni und quadrioculatum, indem bei diesen Arten die vom übrigen weiblichen Geschlechtsapparate völlig losgelöste Bursa seminalis mit einer eige- nen Oeffnung hinter der gemeinsamen Geschlechtsöffnung nach außen mündet. — Als getrennte Organe finden sieh Bursa copulatrix und Receptaculum seminis bei allen Arten des Genus Vortex, ferner bei Byrsophlebs, Castrada und den meisten prosoporen Mesostomen. „Das Genus Vortex zeigt uns sehr schön, wie das ursprüngliche Verhalten in dem alleinigen Besitz einer Bursa seminalis gegeben ist und wie diese allmählich dadureh zur Bursa ceopulatrix wird, dass ein anderer Teil des Atrium die Funktion eines Receptaculum erhält.“ Bei einer Gruppe der Vortieiden ist das Receptaculum seminis noch nieht selb- ständig, sondern ein Teil des Ausführungsganges des Keimstockes. Bei einer andern Gruppe löst es sich mehr und mehr von diesem Ausführungs- gang los und bei Vortex Hallezii ist es vollständig selbständig ge- 474 Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. worden. Der alsReceptaculum seminis fungirende Teil des Ausführungs- ganges des Keimstockes ist seiner Struktur und seinem anatomischen Verhalten nach als Ausstülpung des Atriums und nicht als zum Keim- stock gehörig zu betrachten. Die Bursa copulatrix ist bei allen die- sen Arten eine diekwandige muskulöse und deshalb zur Aufnahme der mächtigen Kopulationsorgane geeignete Blase. — Bei Anoplodium parasita wird die Stelle der Bursa copulatrix durch eine Erweiterung des Stieles des Receptaculum seminis vertreten. (Schluss folgt.) Zur Biographie der nördlich gemässigten und arktischen Länder. Die landbewohnenden Pflanzen und Tiere sind in ihrer geographi- _ schen Verbreitung im großen und ganzen von zwei Hauptursachen abhängig, von dem Klima und von der Gestaltung des Bodens, wozu als dritter weniger wichtiger Punkt der Einfluss des Menschen hinzu- kommt. Verdrängung einer Tierart oder einer Pflanzenart durch eine andere pflegt, wenn auch vielleicht nicht immer, doch in den meisten Fällen mit diesem letztern in Verbindung zu stehen. Menschliche Einwirkung verdrängte den amerikanischen Büffel aus seinem ursprüng- lichen Gebiet in Nordamerika, vernichtete die Elefanten im nörd- lichen Afrika und wird bald auch dem Elefanten von Indien und Ceylon ein letztes Ende bereitet haben. Unverstand und Habsucht haben bereits einen großen Teil der noch in neuerer Zeit mit Begei- sterung besungenen prachtvollen Wälder des Kaukasus verschwinden lassen und ebenso zerstörte die menschliche Ansiedlung den herr- lichen Baumwuchs der Insel St. Helena, mit welchem zugleich eine Menge Tiere ausstarben. Formen ferner, welche durch ihre Lebens- gsewohnheiten mit der vorschreitenden Kultur in unlösbarem Wider- spruch stehen, vernichtet diese, während sie zur Vermehrung, Ent- wicklung, „Veredlung“ und Verbreitung von Arten, welche dem mensch- lichen Haushalt Nutzen bringen, alle ihr zu gebot stehenden Mittel zu Hilfe nimmt. Abgesehen von der absichtlichen und unbewussten Verschleppung von organischen Formen durch den Menschen scheint augenblicklich ein Zustand natürlichen Gleichgewichts eingetreten zu sein, wobei Schwankungen von Artgrenzen nur in sehr geringem Maß sich geltend machen. Haben wir darum aber anzunehmen, dass niemals Ereignisse eintraten, welche solche Veränderungen beschleunigen konnten? Als gegen das Ende der Tertiärepoche auf der nördlichen Hemi- sphäre das Klima immer kälter und kälter wurde, als Glazialbildungen immer mehr überhand nahmen und Gletscher von den Alpen bis nach Turin hinabreichten, da wurde eine üppige Fauna und Flora allent- Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. 475 halben nordwärts des großen europäischen Gebirgsgürtels vernichtet. Mit dem Eintreten einer neuen Aera, wo wieder günstigere klimati- sche Bedingungen die angehäuften Gletschermassen schmelzen und während der warmen Jahreszeit ungeheure Wasserfluten über die Ebenen sich ergießen ließen, da wurden durch Befreiung von der mächtigen Eisdecke für Pflanzen und Tiere neue Länder erschlossen, welche von allen Seiten her bevölkert wurden. In denselben Abschnitt der Erdgeschichte kann man aber auch mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit einen andern Vorgang verlegen, welcher für die Verteilung der Lebeformen innerhalb der nördlich gemäßigten Länder von größter Bedeutung war. Echte Bären kommen in Europa bis in das ältere Pliocän hinauf vor, während sie in Nordamerika erst in postpliocänen Ablagerungen auftreten. Der Bärentypus muss sich darum nach der heutigen sogenannten „neuen Welt“ erst in Zeiten verbreitet haben, welche dem Pliocän nachfolg- ten. Andere längst nach allen Seiten hin besprochene und bekannte Untersuchungen ergaben eine auffallend gleichartige jungtertiäre Cir- eumpolarflora aus höhern und mittlern Breiten und man kann darum gar nicht anders, als ehemalige Landverbindungen zwischen dem nord- amerikanischen und dem eurasischen Festland annehmen. Messun- gen von Meerestiefen zeigten, dass von dem nordwestlichen Europa über die Färöerinseln und Island ein untermeerischer Landrücken nach Grönland hinüberführt. Würde zwar unter gegenwärtigen Klima- verhältnissen eine Landverbindung in dieser Richtung von keiner be- sondern Bedeutung sein, so war doch eben das Klima nicht immer so. In tertiärer Zeit erfreuten sich auch höhere Breiten einer bedeu- tend mildern Temperatur, wie die im Tertiär von Grönland und Spitz- bergen gefundenen Pappeln, Birken und andern Bäume und Sträucher genügend beweisen. Dürfen wir nun auch annehmen, dass in früherer Zeit die lebende Schöpfung durch alle gemäßigten und nördlichen Länder um den Nordpol herum ein mehr einheitliches Bild als heute bot, so geschah dies eben in jungtertiärer Zeit, nicht aber trifft es jetzt noch zu. Könnte jemand darum eine geographische Paläontologie der Miocän- zeit oder der Pliocänperiode schreiben, so würde er wahrscheinlich weniger Veranlassung finden, innerhalb der gemäßigten und nördlichen Länder von Eurasien und Nordamerika besondere biogeographische Reiche oder Provinzen zu unterscheiden. Beschäftigen wir uns aber mit der geographischen Verbreitung der Lebeformen der Jetztzeit, so müssen wir die arktischen Länder um den Nordpol herum gegen die gemäßigten Länder von Nordamerika einerseits und gegen diejenigen von Eurasien andererseits als etwas Besonderes abgrenzen. Die Bo- taniker tun dies ohne Ausnahme an der Hand der von Grisebach!) 4) Grisebach, Vegetation der Erde. Leipzig 1872. 476 Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. aufgestellten pflanzengeographischen Gebiete, indem sie das arktische Cireumpolargebiet nach Süden hin dort aufhören lassen, wo einiger- maßen entwickelter Wuchs von gesellig lebenden Waldbäumen anfängt. Nicht so, von ältern Anschauungen z.B. eines Keferstein!) ganz ab- gesehen, die Zoologen. Unter diesen nimmt augenblicklich Wallace?) als Zoogeograph unstreitig den ersten Rang ein und gerade dieser will von einer Trennung der arktischen Länder von den nördlich ge- mäßigten nichts wissen. Niemand wird leugnen wollen, dass die Verbreitung von Pflanzen und Tieren im wesentlichen auf denselben Ursachen beruht. Klima, Gestaltung und Höhenlage des Bodens über dem Meeresspiegel haben bei beiden die größte und hauptsächliche Bedeutung und man sollte darum meinen, dass in der Hauptsache für die Verbreitung beider auch ein ziemlich einheitliches Bild sich herstellen lassen müsste. Nach Grisebach’s Vorgang betrachten alle Botaniker die eircumpolaren arktischen Länder mit ihren etwa 700 Arten, von denen ungefähr 20 endemisch und vielleicht 300 charakteristisch sind, als etwas Beson- deres und wir wollen nun sehen, was Wallace dagegen gegen eine zoogeographische arktische Cireumpolarprovinz einzuwenden hat. Erstens führt er an, dass die große afrikanisch-asiatische Wüsten- zone auch eine Anzahl von „Wüstenformen“ enthalte, ohne dass man hier eine besondere „Region“ oder „Provinz“ aufgestellt habe. Ein- mal aber hat nun z. B. Sechmarda?°) unter seinen 21 (allerdings et- was zahlreichen) zoologischen Reichen der festen Länder und Inseln als neuntes Reich die Saharä unterschieden (das „Reich der Mela- somen und des afrikanischen Straußes“), und ebenso spricht Grise- bach von einem „Gebiete der Saharä“ als von etwas in sich Abge- schlossenem. Außerdem aber ist doch wol die große Wüste in noch ganz anderm Grade formenarm, als die arktischen Länder; von be- sondern Gattungen ist nicht die Rede. Zweitens, meint Wallace, habe man weder für die Wüstenregion, noch für die arktische „irgend welche bestimmte zoologische oder geographische Grenzen“ setzen können. Nun weiß man nicht recht, was man unter „bestimmten Grenzen“ hier verstehen soll. Jedenfalls wird man überhaupt nicht öfter in der Lage sein, bei biogeographi- schen Arbeiten bestimmte Grenzen irgendwo herauszufinden, während es hingegen gerade scheinen will, als ob eine Wüste recht gut oder wenigstens noch am ehesten von den umliegenden Bezirken zu unter- scheiden sein müsste. „Der Versuch“ meint Wallace „welche Arten 4) Keferstein in Bronn, Klassen und Ordnungen des Tierreichs. Bd. III Mollusken. 2) A. R. Wallace, geographieal distribution of animals, deutsch von A. B. Meyer. Dresden 1876 und Wallace, Island Life. London 1880. 3) Schmarda, geographische Verbreitung der Tiere. Wien 1853. Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. 177 oder Gattungen ihnen“ (den Wüsten- oder Polarregionen) „zuerkannt werden sollten, würde sich als unlösbares Problem erweisen“. Wal- lace selbst aber führt vorher?!) folgende „echt arktische“ Gat- tungen und Arten an: Landsäugetiere: Gulo, Myodes, Rangifer. Ursus maritimus. Vulpes lagopus. Landvögel: Pinicola, Nyctea, Surnia. Wasservögel: Somateria, Uria, Catarractes, Mergulus, Alca, Fratercula — das Problem wäre also gelöst. Diesen könnte man aus dem Bereich der niedern Tierwelt noch weitere hinzufügen; doch sei hier nur an die streng arktische Helix (Acanthinula) harpa Say erinnert und an zwei andere Landschnecken, welche für die arktischen Länder zwar nicht endemisch sind, dennoch aber in eircumpolarer Verbreitung ihnen als bezeichnend zukommen und südlich davon bisher nur auf hohen Gebirgen gefunden worden sind: Pupa arctica Wallendberg und Pupa Shuttleworthiana Charp. Außerdem darf Cervus tarandus nicht vergessen werden. Drittens macht Wallace darauf aufmerksam, dass die arktische Provinz (Region) in neuern Erdepochen in ihrer Ausdehnung schwan- kend gewesen sei: „zur Eiszeit war sie viel größer und vor derselben scheint sie gar nicht bestanden zu haben.“ Gewiss, aber schreiben wir geographische Zoologie oder Paläontologie? In ersterm Fall müssen wir doch von dem gegenwärtigen Zustand ausgehen, ohne dass wir dabei die Aufschlüsse zu übersehen brauchen, welche uns die Paläontologie über die Abstammung gewisser Formen gewährt. Sieht nun Wallace die Fauna der höchsten nördlichen Breiten nur als eine verarmte Fauna der gemäßigten Länder an — und er wird geneigt sein, dieselbe Ansicht über die Abstammung der arktischen Flora zu hegen — so fehlt es andererseits nicht an gegenteiligen Stimmen. Asa Gray?) bezeichnet z.B. geradezu die Bäume der ge- mäßigten Zone als „von Norden abstammend.“ Nehmen wir nun an, dass sich in biogeographischer Hinsicht für die Tiere sowol als für die Pflanzen gemeinschaftlich eine arktische Provinz ausscheiden lasse, so werden wir dieselbe nach Süden hin etwa in folgender Weise abzugrenzen haben. Im Westen von Nordamerika und auch an den Westküsten des östlichen Kontinentalkomplexes herrscht infolge von äquatorialen Meeresströmungen ein gemäßigtes Klima weiter nach Norden hin, als im Innern und an den Ostküsten. Besonders an diesen letztern machen treibeisführende boreale Strömungen das Klima weit nach Süden hin 1) Bd. 1. S. 85 ff. in Meyer’s Uebersetzung. 2) Asa Gray, Forest Geography and Archaeology, a lecture delivered be- fore the Harvard University Natural History Society. April 18. 1878. 12 478 Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. kalt und polarisch. Darum liegt im Westen beider Festlandmassen die Südgrenze der arktischen Provinz um etwa zehn Breitengrade nördlicher als im Osten derselben. In Europa können wir diese Südgrenze etwa so verlaufen lassen, dass sie an der Westküste Skandinaviens bei 64—65° n. Br. anhebt, an der baltischen Küste aber bereits auf 61—62° n. Br. hinabsinkt. Die russischen Länder werden außer Südfinland und der nächsten Umgegend des Ladogasees von 60° n. Br. ab nach Norden hin als arktisch anzusehen sein. In Asien, soweit man nach den wenigen bisher angestellten Forschungen urteilen kann, wird sich die arktische Aequatorialgrenze von 60° n. Br. vom Ural ab ostnordostwärts ziehen lassen, bis sie bei etwa 100° ö. L. v. Gr. den Nordpolarkreis trifft. Denn hier be- günstigen die verhältnissmäßig hohen Temperaturen des kurzen kon- tinentalen Sommers ein Vordringen von Formen der gemäßigten Brei- ten nach Norden hin, insoweit dieselben dazu geeignet sind, einen langen Winterschlaf auszuhalten. Dann aber geht die erwähnte Süd- grenze in einer nach Südsüdosten offenen Bogenlinie bis zur nordöst- lichen Ecke des Stanowojgebirges, zieht mit diesem ein Stück süd- westwärts und biegt erst bei 52—53° n. Br. nach der ochotskischen Küste hin ab. So schließt sie also einen breiten Küstensaum von Ochotsk bis Udskoi und einen schmalen ebensolchen von da bis zur Amurmündung (Nikolajewsk), wo noch Tundrabildungen vorkommen, als zur arktischen Provinz gehörend ein. Nikolajewsk, unter 53° 58’ n. Br., hat beispielsweise noch das niedrige Jahresmittel von — 2,9°C. (Juli + 16,2° C., Januar — 24,5°C.), während an der nord- amerikanischen Westküste das um mehr als drei Breitengrade nörd- licher gelegene Sitka (57° 3° n. Br.) eine jährliche Durchschnittstem- peratur von + 6,2° C. (August — 12,2° C., Januar — 0,0° C.) auf- zuweisen hat. Im ganzen genommen dürfte die Abgrenzung des nordarktischen Gebiets in Sibirien ganz besonders verwischt sein. In Nordamerika fängt die arktische Provinz an der West- küste bei etwa 60—62° n. Br. an, dringt im Innern, von den Rocky Mountains ab, weiter nach Süden und an der Ostküste sogar bis zu 50° n. Br. vor und umfasst also noch die nördlichen Teile von Neu- fundland mit seinen kalten Wintern und sehr kühlen Sommern. In ganz knappen Umrissen würden arktische Fauna und Flora etwa mit folgenden Worten zu charakterisiren sein. Nördlich von der Polargrenze des Getreidebaus und nördlich von den Strichen, wo gesellig lebende Waldbäume mehr oder weniger dichte Bestände bilden, dehnt sich die arktische Provinz aus, welcher nur Pflanzen mit einer außerordentlich kurzen Vegetationsperiode — meist perennirende Pflanzen — angehören. Es sind hauptsächlich Laubmoose, Flechten, Gräser, wenige Stauden und einige zwergige Weiden, Birken und Vaeeinien. Bezeichnend sind die Tundren, Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. 179 unter denen man zweierlei Arten unterscheidet. Die Moostundren, tierarm und öde, sind weite nasse mit Moosen bestandene Ebenen, während die Flechtentundren aus trockenen, mit verschiedenfar- bigen Flechten bestandenen Flächen bestehen. Die letztern werden von der hochnordischen Tierwelt bevorzugt. Sehr viele der arktischen Phanerogamen zeichnen sich durch die Größe und Farbenpracht ihrer Blüten aus. Innerhalb der Verbreitungsgrenze des Rentiers finden sich nur ausnahmsweise größere Zahlen von Landsäugetieren beisammen. Am zahlreichsten unter den höhern Tieren sind die Schwimmvögel ver- treten, während man sonst als bezeichnende eirkumpolare arktische Charaktertiere den Eisbär, den Canis lagopus, den Fiolfras und die Myodes-Arten nennen kann. Auch unter den niedern Tieren (Mol- lusken, Arthropoden) fehlt es nicht an eigentümlichen nordpolarischen Zügen. Nur mit dem Rentier hat es seine eigene Bewandtniss. Man könnte fast glauben, dass die augenblickliche Verbreitung desselben weniger auf hochnordischem Klima, als auf Kultureinflüssen beruht. Nicht als ob wir dies aus dem Umstand folgern wollten, dass vor- geschichtliche Funde Rentiergeweihe in den Höhlen des mittlern und südlichen Frankreichs und Schwabens feststellten; denn man könnte uns entgegenhalten, dass in jenen fernen Zeiten vielleicht ein ganz anderer Himmel Europa beherrschte und ein ganz anderes Klima seine lebende Schöpfung beeinflusste. Aber das Karibu, das ameri- kanische Rentier, trafen in neuern geschichtlichen Zeiten die ersten europäischen Ansiedler an den östlichen Küsten von Nordamerika noch unter 43° n. Br., unter dem Parallel von Toulon, und nur die Kultur war es, welche dasselbe allmählich nach Norden verscheuchte. Auch bei uns war es wol noch in historischen Zeiten zu finden. Was soll man sich sonst unter dem „Rheno“ des Cäsar!) denken? Charles Gard?) spricht es ganz zuversichtlich aus, dass das Ren- tier bis zur Regierung des Augustus sein Dasein auf Rheininseln ge- fristet habe. Dennoch aber müssen wir wol an einer eigentümlichen arktischen Fauna festhalten. Etwas Aehnliches lässt sich übrigens von zwei Vögeln sagen, welche wahrscheinlich auch nur vor Kultureinflüssen, nur in verschie- dener Richtung, entwichen. So nennt Wallace als einen für Groß- britannien eigentümlichen Vogel den Lagopus scoticus von Schottland, Irland und Wales, welcher von den kontinentalen Arten bedeutend abweicht, jedoch sehr an den skandinavischen Lagopus albus erinnert. Beide Arten aber haben früher in Westeuropa gelebt, denn Milne Edwards führt in den Reliquiae Aquitanicae auf Seite 245 unter 4) Caesar, de bello gallico. VI. 21 u. 26. 2) Charles Gard, Skizzen aus dem Elsass. Ausland 1872. S. 1216, es 480 Polejaeff, Ueber das Sperma bei Sycandra raphanus. den von ihm bestimmten Vogelknochen aus der berühmten Höhle Cro-Magnon im Thale der Vezere unter andern auch Reste von La- gopus albus und L. scoticus auf. Die Insel Island rechnet Grisebach zu seinem arktischen Cir- cumpolargebiet. Indess fehlt es derselben nicht an Zügen — nega- tiven und positiven — welche sehr an gemäßigte Fauna und Flora erinnern. Es fehlen in Island G@ulo und Myodes und von den niedern Tieren kommen wenigstens seiner noch unter dem Einfluss des atlan- tischen Golfstroms stehenden Südküste einige Landschnecken zu, welche sonst ganz auf die gemäßigte Zone beschränkt sind: Helix (Tachea) hortensis Müll., Arion empiricorum Fer., Limax arborum Bouch. und Hiyalina alliaria Mill. Die echt arktische Helix harpa Say aber ist bisher noch nicht aus Island bekannt geworden. Der Umstand, dass diese Insel ohne allen gut entwickelten Baumwuchs ist, ist weniger eine Folge von arktischem Klima (jährliche Tem- peraturschwankung auf der Südhälfte von Island 10—15° C.), als vielmehr in den unausgesetzt wehenden und zum Teil äußerst heftigen Winden begründet. Für die arktische Cireumpolarflora sind ferner einige Rubus-Arten bezeichnend (R. Chamaemorus L., R. arcticus L. und R. stellatus Sm.); aber auch sie kommen nicht auf Island vor, werden dort vielmehr von dem sonst in gemäßigten Breiten heimischen Rubus saxatilis L. vertreten. Wegen seiner abgesonderten Lage empfiehlt es sich schlecht vom rein geographischen Standpunkt aus, Island zu trennen und in seiner nördlichen Hälfte dem arktischen Circumpolargebiet, in seiner südlichen hingegen wie die Färöerinseln den gemäßigten Ländern zu- zurechnen. Vom biogeographischen Standpunkt aus kann man ein solches Verfahren aber nicht völlig verwerfen. Außerdem fehlen auf Island endemische Pflanzen- und Tierformen. Dasselbe ist eine voll- kommen kontinentale Insel, deren abgesonderte Lage wol erst aus neuerer Zeit herzuleiten ist. (Schluss folgt.) N. Polejaeff, Ueber das Sperma und die Spermatogenese bei Sycandra raphanus H. Sitzungsber. k. Akad. Wissensch. Wien. Bd. LXXXVI, 8. 276—298. M. 2 Tf. Wenn das Vorkommen von Spermatozoiden bei den Porifera noncalearea als festgestellt angesehen werden konnte, so war dies für die Kalkschwämme nicht so. Die Angaben darüber von Häckel, Eimer, Carter und Keller widersprechen einander zu sehr; die von Barrois war ganz negativ und die von Vosmaer zu unsicher. Es war eine neue Untersuchung also höchst wünschenswert. Dass Polejaeff, Ueber das Sperma bei Sycandra raphanus. 181 nun Pol&jaeff das Vorkommen von Spermatozoiden bei Kalk- schwämmen sicher bewiesen hat, davon ist nach dem Lesen seiner Arbeit wol jeder überzeugt. Polejaeff untersuchte Sycandra raphanus H. und zwar in kon- servirtem Zustand (0,010/,—0,05°, Osm.-Säure, danach färben). Es hat sich nämlich herausgestellt, dass Schnitte am lebenden Tier nur sich bewegende Körperchen zeigten, weiter aber keinen Aufschluss gaben. An Schnitten von konservirten Exemplaren konnte Verf. zwi- schen den gewöhnlichen Wanderzellen noch eigentümliche mit stärker licehtbreehendem Kern versehene Zellen auffinden, die als Spermato- zoiden-Mutterzellen aufzufassen sind. Dieselben Elemente fanden sich zusammen mit Eiern oder Embryonen; jedoch hatte bei jeder kerma- phroditischen Syeandra entweder das männliche oder das weibliche Element die Oberhand. Verf. fand zwar zwei Formen, eine große und eine kleine; von einem Geschlechtsdimorphismus ist aber nicht die Rede. Zwischen den gewöhnlichen Wanderzellen sah P. einige wahr- scheinlich aus diesen entstandene zweikernige Zellen. Die zwei Kerne derselben sind ungleich (der eine ist etwas größer als der andere) und lagern sich an entgegengesetzten Polen. Im Protoplasma der Zelle selbst ist insofern eine Differenzirung eingetreten, als ein peri- pherischer Teil dem einen, ein zentraler Teil dem andern Kern an- gehört. Obwol Verf. nicht angeben kann, dass hier wirklich die Zelle sich in zwei geteilt hat, so will er der Kürze halber doch schon von einer Deekzelle und einer Ursamenzelle sprechen. Erstere teilt sich nicht weiter, während die von Protoplasma umschlossene zweite sich wiederholt teilt. Der fertige Spermaballen besteht aus einer nunmehr kernlosen Plasmahülle, in welcher zahlreiche stark licht- brechende Körperehen sich befinden. Diese Körperchen entwickeln sich zu den Köpfehen der Spermatozoiden, während sich aus dem ur- sprünglich gemeinschaftlichen Protoplasma die Schwänzchen bilden. Während dieser Vorgänge findet keine Volumenzunahme statt; eben- sowenig bildet sieh eine Endothelschicht an der Innenseite der ent- sprechenden Mesodermhöhle. Die Spermatozoen selbst zeigen einen Kopf und einen Schwanz, welehe beide ohne Vermittelung eines Halses scharf von einander abgegrenzt sind. Die Länge des Schwanzes konnte Verf. bis zu 0,03 mm verfolgen. Die Deckzelle von Sycandra raphanus H. stellt Polejaeff dem Endothel der die Spermaballen von Halisarca einschließenden Höhle physiologisch gleich. Ebenso nimmt er eine Analogie zwischen der vielkernigen Ursamenzelle der einen und den Spermaballen der andern an. Keineswegs aber kann hier von Homologie die Rede sein. Vosmaer (Neapel). 182 Miclucho-Maclay, Gehirnwindungen des Canis Dingo. De Miclucho-Maclay, Remarks about the Circumvolutions of the Cerebrum of Canis Dingo. Proceedings of the Linnean Society of New South Wales. Vol. VI S. 624—627. 4 Pl. Sidney 1881. Miclucho-Maclay’s Abbildungen der Gehirne des australi- lischen Dingo und des Papuahundes von Neu-Guinea bieten ein be- sonderes Interesse, weil sie aufs deutlichste die große Variabilität der Hirnwindungen auch bei den Tieren illustriren. Es ist bekannt, dass die Gehirne der hundeartigen Tiere überall im wesentlichen nach dem gleichen Typus gebaut sind. Pansch!) hat bezüglich derselben gezeigt, „dass, wo dieser Typus bei einer Art in der einfachsten Form auftritt, er auch den geringsten individuellen Schwankungen unterworfen ist und umgekehrt. So zeigen alle Fuchsgehirne fast genau dieselben Furchen, während bei den Hunden große Schwan- kungen wahrzunehmen sind und selbst beide Hälften desselben Ge- hirns scheinbar fundamentale Verschiedenheiten darbieten können. Freilich soll hierbei nicht gänzlich geleugnet werden, dass die Ver- anlassung dazu auch in den zahlreichen Varietäten oder Rassen zu suchen ist, in die die Hunde als älteste und verbreitetste Haustiere sich getrennt haben.“ Es werden natürlich gerade wegen dieser weit- gchenden Abänderungen die Gehirne zweier unter so ganz von denen der alten Welt verschiedenen Einflüssen lebenden Rassen ein beson- deres Interesse bieten. Miclucho-Maelay beschränkt sich aller- dings auf eine etwas schematische Abbildung ohne Beschreibung, so dass Ref. die letztere aus den Figuren entnehmen muss. Beide Gehirne zeigen ohne weiteres die Zugehörigkeit zu dem Typus der Canina, aber dasjenige des Dingo in weit vorgeschrittener Differenzirung, das des Papuahundes in seiner einfachsten Form, so dass beide geradezu die äußersten Verschiedenheiten erkennen lassen. Der Suleus eruciatus ist bei dem Dingo verhältnissmäßig weit auf der Convexität zu verfolgen, zeigt leichte Krümmungen oder Knickungen; beim Papuahund ist er kürzer und geradlinig. Die unterste der drei das Ende der Sylvi’sschen Spalte umwindenden Bogenfurchen — Pansch’s unterste Bogenfurche — ist bei dem Dingo sehr vollständig ausgebildet; sie ist ferner ziemlich weit nach vorn zu verfolgen, in- dem der vordere Schenkel, zur sagittalen Richtung umbiegend, eine Strecke weit parallel dem seitlichen Hemisphärenrande verläuft. Beim Papuahund ist sie kaum angedeutet, ebenso wie die Sylvi’sche Spalte selbst. Die Krümmung der beiden andern Bogenfurchen ist bei die- sem Tier ferner eine relativ flache. Seitenästehen existiren nur wenige von geringer Größe; an der rechten Hemisphäre ist eines derselben allerdings groß genug, um eine quere Verbindung beider Furchen etwa 1) A. Pansch, Beiträge zur Morphologie des Großhirns der Säugetiere. Morphologisches Jahrbuch Bd. V 8. 211. Miclucho-Maclay, Gehirnwindungen des Canis Dingo. 183 in deren Mitte zu bewirken. Beim Dingo sind die Furchen stärker gekrümmt und reicher an z. T. ziemlich langen Seitenzweigen, und ein solcher verbindet die mittlere und unterste Bogenfurche der linken Hemisphäre. Auf derselben Seite ist die obere Hauptfurche (Pansch) in ihrem hintern sagittalen Teil unterbrochen (es entsteht ganz das Bild wie beim menschlichen Gehirn, wenn die Parietalspalte von der obern Hinterhauptsfurche getrennt ist. Die Unterbrechung fällt in den sagittalen Teil der Bogenfurche; Referent vermag hier der Deu- tung des vordern Teils der obern Längsfurche — Coronalfurche als Zentralspalte nicht ohne weiteres zuzustimmen). Ziemlich reichlich finden sich in den Windungen beim Dingo Sekundärfurchen ange- deutet, u. a. zeichnet M. eine solche in dem Stirnlappen vor der vor- dern Hauptfurche. Die Verschiedenheit beider Gehirne ist sicher nicht minder auf- fällig, als die zwischen einem an Windungen reichen und einem win- dungsarmen menschlichen Gehirn. Im ganzen gleicht das Gehirn des Dingo jenem des domestizirten Hundes der alten Welt — auf welchen sich doch wol die bisherigen Untersuchungen ausschließlich beziehen — weit mehr, als jenes des Papuahundes. Sollte die verhältnissmäßig weitgehende Entwicklung der Sekundärfurchen, welche sich übrigens im Rahmen der von Pansch angedeuteten Variationen hält, Regel sein, so würde dies Gehirn allerdings an Interesse gewinnen. Miclucho-Maclay sucht diese Verschiedenheiten auf die ver- schiedene Lebensweise beider Tierformen zurückzuführen. Der Papua- hund ist im allgemeinen kleiner als der Dingo, entbehrt des buschi- sen Schwanzes. Er ist sehr scheu. In den Papuadörfern wird er gefüttert (er dient auch als Nahrung), lebt aber außerdem von Ab- fällen und daneben von kleinen Krebsen und Fischen, die er in den Strandlachen fängt. Zur Jagd wird er fast nie gebraucht, wol weil er zu träge und zu wenig intelligent ist. Der Dingo dagegen ist ge- zwungen sein Futter selbst zu erjagen, wozu er des Aufwandes seiner ganzen Intelligenz bedarf. — So wenig diese Einflüsse unterschätzt werden dürfen, so sollte man doch nicht übersehen, dass der Dingo eben nur der verwilderte Abkömmling des domestizirten Hundes ist (Brehm). An dessen Gehirnbildung schließt sich die des Dingo denn auch an, wenn sie auch, wie dies Miclucho-Maclay hervorhebt, an Windungsentfaltung letztern in vielen Fällen übertrifit. Der Pa- puahund aber mag wol in der Tat einer ursprünglich tiefer stehen- den Rasse entstammen. Flesch (Bern). 184 Wolffberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. Die physiologischen Grundsätze für die normgemässe Beköstigung des Erwachsenen. (Schluss.) Der nervöse (Willens-) Einfluss, welcher die Muskeltätigkeit ver- ursacht, erstreckt sich ohne Zweifel unmittelbar nur auf die Muskel- zelle. Wenn nun die Hypothese von Pettenkofer und Voit will, dass die Arbeit lediglich von einem Mehrzerfall stiekstofffreier Verbindungen begleitet wird, so fragt sich, ob innerhalb der Muskelzellen die Bedin- gungen für die Bildung und Anhäufung von solchen Stoffen gegeben sind. Wir dürfen nun in der Tat voraussetzen, dass der Zerfall der Nahrungs- stoffe, welehe nach ihrer Resorption in den Parenchymsäften die Organe durchströmen, unter der Einwirkung der lebendigen Zellen erfolgt. Wir wissen, dass hierbei aus dem Eiweiß außer einem stickstoffhal- tigen Bestandteil eine stickstofffreie Substanz entsteht, welche zur Bildung von Fett und Kohlehydraten führt. Diese letztern können daher in den Muskelzellen abgelagert bleiben. Auch lässt sich ja leicht zeigen, dass das Muskelfleisch Fette und Kohlehydrate enthält. Es verschwindet ferner, wie Nasse und Weiss nachgewiesen haben, aus tetanisirten Muskeln das Glykogen !). Es bliebe nun noch die Frage, ob die N-freien Stoffe, deren ver- mehrter Umsatz die Arbeit begleitet, notwendig einzig und allein aus dem Eiweißzerfall hergeleitet werden müssen. Dem wider- sprach aber schon die bekannte Untersuchung von Fick und Wis- licenus?), welche bei eiweißfreier Nahrung eine beschwerliche Be- steigung des Faulhorn unternommen hatten und berechnen konnten, dass die während der Arbeit zersetzte eiweißartige Substanz bei wei- tem nicht hinreichte, um die zur Bergbesteigung nötigen lebendigen Kräfte zu erzeugen. Demgemäß liefern auch solche stiekstofffreie Substanzen, welche mit der Nahrung aufgenommen wurden, Spann- kräfte für mechanische Arbeit. Wir stellen uns vor, dass sie als Be- standteile des Parenchymsaftes gleichsam in die Zusammensetzung der von letzterm getränkten Muskelzelle übergehend, oder im Kon- takte mit der letztern, unter den Bedingungen der Muskelarbeit in Zerfall geraten. Immer aber bleibt zu berücksichtigen, dass auch der Zerfall dieser Stoffe im Muskel nur durch die Einwirkung des Zellinhalts vermittelt wird. Aus dem Eiweißstande des täti- gen Organs leitet sich unter allen Umständen die Größe der Zersetzungen der im Parenchym enthaltenen Nah- 1) 0. Nasse, Beiträge zur Physiologie der kontraktilen Substanz. Pflü- ger’s Archiv. 1869. II. 97. — 8. Weiss, Sitzungsberichte der Wiener Aka- demie. Mathem.-Naturw. Klasse. LXIV. (1) 1871. Juli. 2) Ueber die Entstehung der Muskelkraft. Vierteljahrsschr. der Züricher Naturforschenden Gesellschaft. 1867. Wolffberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. 185 rungsstoffe (des Eiweißes und der stickstofffreien Stoffe) ab!). Mögen lediglich die Spaltungsprodukte des Eiweißes oder auch stick- stofffreie Stoffe der Nahrung die Spannkräfte für die Arbeitsleistung enthalten, so wird die Höhe ihrer Umsetzungen, ihrer Ueberführung in mechanische Arbeit, von dem Eiweißstande in den Muskeln abhängen. — Wie sind nun diese unsre Kenntnisse für die Ernährung des Menschen, der arbeitskräftig erhalten bleiben soll, zu verwerten? Vor Allem soll die Nahrung des Arbeiters eine genü- gend hohe Eiweißmenge enthalten. Das Eiweiß ist zur Erhaltung und zum Wachstum der arbeiten- den Organe (Muskeln) erforderlich; vom Eiweißstande in den Muskeln hängt die Intensität der Umsetzungen ab, auch derer, welche die Arbeit begleiten; durch den Eiweißzerfall wird die größte Summe der zur Arbeitsleistung nötigen Spannkräfte geliefert. Die vermehrte Zufuhr stickstofffreier Körper, und zwar besonders des Fettes, ist ferner notwendig, weil auch die Spannkräfte des resorbirten Fettes unter bestimmten Bedingungen zur Arbeitsleistung verwertet werden; sodann aber, weil die stick- stofffreien Verbindungen vorzugsweise geeignet sind, durch ihren Zer- fall die nötige Wärmemenge zu liefern, welche während der Tätigkeit dem Organismus dadurch entzogen wird, dass die sonst zur Wärme- bildung dienenden aus dem Eiweißzerfall stammenden Spannkräfte in mechanische Arbeit übergehen. Es hat ein nicht geringes volkswirtschaftliches Interesse, ob die Nahrung, welche die zur Erhaltung eines „Arbeiters“ mit seinen hohen durch die Arbeit bedingten Stoffverlusten erforderlichen Nahrungs- stoffe liefert, geringe oder bedeutende Ansprüche an die Verdau- ungstätigkeit macht. Denn auch durch diese letztere werden im Organismus Spannkräfte in Anspruch genommen, welche der äußern und eigentlichen Leistungsfähigkeit verloren gehen. Man sieht, es reicht keineswegs aus, in der Kost des „Arbeiters“ bestimmte Mengen von Eiweiß und stickstofffreien Substanzen zu verlangen. Denn dieselbe Summe von Nahrungsstoffen in der Nahrung, welche einmal leichtverdaulich der Muskelarbeit viel Spannkräfte über- lässt, reicht ein andermal, wenn die Verdauungsarbeit viel Spann- kräfte verbraucht, nur zu weit geringern Leistungen hin. Demge- mäß sind nicht alle Kohlehydrate oder alle Fette u. s. w. als gleich- wertig zu betrachten. Vielmehr wird ihr Nährwert davon abhängen, in welchen Nahrungsmitteln sie enthalten sind. Es besteht kein Zweifel, dass das vegetabilische Eiweiß, solange es in den festen 1) Pettenkofer und Voit haben nachgewiesen, dass die Größe der Umsetzungen und Oxydationen im Organismus außer von der Höhe der Zufuhr wesentlich vom Eiweißstande desselben abhängt. 186 Wolffberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. Hüllen der Zellulose enthalten ist, lange nicht den Wert gleicher Mengen von animalischem Eiweiß (in Fleisch, Milch, Käse) darstellt. Ebenso sind Schmalz und Butter den pflanzlichen Fetten, die Kohle- hydrate der Milch und das animalische Stärkemehl (Glykogen) den vegetabilischen Kohlehydraten überlegen. Die Fette unsrer Nah- rung sind vorzugsweise von animalischer Abstammung und stellen an die Verdauungsarbeit viel geringere Ansprüche als das vorwiegend vegetabilische Stärkemehl. Daher dürfen die (pflanzlichen) Kohle- hydrate nicht in zu großer Menge gegeben werden; vielmehr verdie- nen für den tätigen Menschen animalische Speisen (Eiweiß und Fett) eine ausgiebige Berücksichtigung. Bisher nahmen wir an, dass alle in den Nahrungsmitteln enthal- tenen Nahrungstoffe zur Assimilation gelangen; wir fanden einen Unterschied zwischen animalischen und vegetabilischen Speisen, weil nach Zufuhr der letztern ein verhältnissmäßig hoher Verbrauch von Spannkräften, welche der Leistungsfähigkeit entzogen werden, eintritt. Wir haben nun den wichtigen Umstand zu berücksichtigen, dass so- wol aus animalischen wie vegetabilischen Speisen nicht immer alle Nahrungsstoffe zur Assimilirung und Resorption gelangen. Es genügt also zur Beurteilung eines Nahrungsmittels nicht die Kenntniss seiner Zusammensetzung, sondern es muss das Experiment hinzukommen, die Untersuchung der nach Genuss verschiedener Nahrungsmittel un- ausgenützt bleibenden (in den Fäces abgehenden) Quantitäten. Die umfassendste Untersuchung über die Ausnützung einzelner Nahrungsmittel hat in neuester Zeit Rubner!) ausgeführt. Während bei gewöhnlicher gemischter Kost (nach Voit) etwa 5°/, durch die Exkremente verloren gehen, verhalten sich einzelne Nahrungsmittel (wie Weißbrot, Fleisch, Eier) allein gereicht nieht schlechter, andere (wie Milch, Speck, Kartoffeln) ziemlich viel und andere (Kohl, Schwarz- brot, Rüben) sehr wesentlich schlechter. Aus Kartoffeln, Schwarzbrot, Gelbrüben wurden die Kohlehydrate am wenigsten ausgelaugt; es fanden sich davon 7—18°/, im Kote, dagegen von den Kohlehy- draten des Weisbrotes noch nieht 1°/,. Rücksichtlich des Eiweißes stellte sich die Resorption am günstigsten bei Fleisch und harten Eiern, von denen nur etwa 2—3°/, Stickstoff im Kote ausgeschieden wurden; etwas weniger günstig bei Milch und Käse, während sehr beträchtliche Mengen auch vom Weißbrot (bis zu 25°/,), ferner von Schwarzbrot, Kohl, Kartoffeln, Rüben ungenützt blieben ?). In dieser 4) M. Rubner, Ueber die Ausnützung einiger Nahrungsmittel im Darm- kanale des Menschen. Ztschr. f. Biol. 1879. XV. 115. 2) Berücksichtigt man, dass im Kote nicht wenig Stickstoff (0,5 bis 1,5 g) enthalten ist, welcher nicht von den Nahrungsmitteln, sondern von den Ver- dauungssäften, Schleim und Epithelien stammt, so ist unzweifelhaft, dass die Ausnützung des Eiweißes animalischer Nahrungsmittel, besonders von Fleisch und Eiern, normaliter fast vollständig geschieht. Wolffberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. 487 Beziehung verhalten sich verhältnissmäßig recht günstig (nach Strüm- pell) !) fein gemahlene Leguminosen (Verlust von 10°], Stickstoff) ?). Wünschenswert wären weitere Untersuchungen über die Aus- nützung der Nahrungsmittel bei Kombination mehrerer. Im Durch- schnitt werden bei gewöhnlicher gemischter Kost nach V oit von 118g Eiweiß auf den Tag etwa 103g resorbirt; die Fäces enthalten 2,3g Stick- stoff und bestehen zum größten Teil aus nicht resorbirtem Stärkemehl. Im allgemeinen ist also erwiesen, dass die Ausnützung tie- rischer Speisen bei weitem besser geschieht als die der pflanzlichen). Eine Beobachtung von Schuster) möge folgen, um zu zeigen, wie groß die Verschiedenheiten in der Ausnützung sein können. Bei einem Zuchthausgefangenen, welcher in der (vorzugs- weise vegetabilischen) Nahrung 104 g Eiweiß täglich aufnahm, ge- langten hiervon, wie die Analyse der Exkremente erwies, nur 75°], — 78 g zur Resorption. In einer andern Gefangenenanstalt erhielten die Insassen 87 g Eiweiß pro die, also 17 g weniger; die Nahrung enthielt Fleisch; es kamen hier 76 g zur Resorption. Alles dies lehrt, dass, wenn wir für die Kost des Er- wachsenen pro die 118 g Eiweiß und wenigstens 56 g Fett neben höchstens 500 g Kohlehydraten verlangen, diese Nahrungsstoffe in gemischter Nahrung enthalten sein müssen; nebenvegetabilischen, dieHauptmasse derKohle- hydrate liefernden Speisen soll die animalische Kost einen größern Bruchteil des Eiweißes und fast das ge- samte Fett enthaltende Nahrungsmittel zuführen. Hiermit ist nun für unsre Frage schon viel gewonnen. Wir ha- ben noch als ferneres sehr wichtiges Postulat die Sorge für Schmack- haftigkeit und Abwechslung der Speisen hervorzuheben. Alle die verschiedenen Geruch- und Schmeckstoffe faßt Voit mit den Ge- würzen u. $. w. zweckmäßig unter dem Namen der Genussmittel zusammen. Alles, was den Speisen Schmackhaftigkeit verleiht, be- fördert wie Wein und Fleischbrühe durch Erregung des Nervensystems 4) Strümpell, Ueber den Nährwert der Leguminosen und ihre Bedeutung als Krankenspeise. Dtsch. Arch. f. kl. Med, 1875. XVII 108. 2) Vgl. auch G. Meyer, Ernährungsversuche mit Brot am Hund und Menschen, Ztschr. für Biologie. 1871. VII. 1. 3) Die Gründe für die ungenügende Ausnützung der Vegetabilien sind erstlich die Einschließung der Nahrungsstoffe in Cellulose, sodann das große Volumen der pflanzlichen Speisen, welches das Eindringen der Verdauungsäfte erschwert und den Eintritt von abnormen Gärungen begünstigt; hierdurch bilden sich oft in reichlichem Maße Stoffe (Fettsäuren u. a.), welche die Peri- staltik des Darms ungehörig beschleunigen. 4) S. Carl Voit, Untersuchung der Kost in einigen Öffentlichen An- stalten. In Verbindung mit J. Forster, Fr, Renk, A. Schuster. München, 1827. ». 106; 188 Wolffberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. die Verdauung. Eine reiz- und geschmacklose oder abwechslungs- lose Kost nährt nicht und ist wie Ballast. Durch die ungenügende Zufuhr von Genussmitteln wird wahrscheinlich die Lebensenergie des Organismus geschwächt, auch wenn die genügende Summe von Nah- rungsstoffen in den Speisen enthalten ist. Bekannt sind die schäd- lichen Folgen, welche lediglich durch Nichtberücksichtigung dieses Bedürfnisses nach Abwechslung in Art und Zubereitung der Speisen bei den Insassen von Gefängnissen und auf Schiffen, in belagerten Städten u. s. w. zu Tage treten. In einer oft nicht viel bessern Si- tuation befindet sich ein nicht geringer Bruchteil des Proletariats. Es liegt die Schuld teilweise am Mangel an Geld, der immer nur die- selben billigsten Nährmittel anzuschaffen gestattet, teilweise aber auch an dem Mangel an Küchenfertigkeit und Verständniss. Hier ist eine Quelle des für die Volksernährung so verderblichen Alkoholmiss- brauchs zu finden. Ref. hält die Vermutung für begründet, dass der dauernde Mangel an Genussmitteln (im Sinne der obigen Definition) zu den wesent- lichsten disponirenden Ursachen des Skorbuts gehört. Der Skorbut hat sich stets ganz besonders häufig bei abwechslungsloser und un- schmaekhafter Kost gezeigt. Bald hatte man übermäßigen Salz- gehalt der Nahrung (Schiffsepidemien), bald den Mangel an Koch- salz, in neuerer Zeit besonders den Mangel an Pflanzensäuren und kohlensaurem Kali beschuldigt. (Die getrockneten |kalihalti- gen] Gemüse scheinen aber ohne antiskorbutische Wirksamkeit zu sein!) In einer in neuester Zeit von J. Felix?) beschriebenen Epi- demie schien die Ursache der Mangel an Fett in der Nahrung zu sein, nach dessen Beschaffung die Epidemie aufhörte. Uns will scheinen, als dürfte nicht eine einzelne Noxe oder der Mangel eines einzelnen Stoffes in der Nahrung beschuldigt werden. Das Krank- heitsbild ist vorzugsweise das der Depression und Erschlaffung, und jedenfalls ist die chronisch ungenügende Erregung des Nervensystems, wenn nicht die eigentliche Ursache, so doch eines der wesentlichsten disponirenden Momente für die Krankheit. Daher sind auch in Ver- bindung mit der unzweckmäßigen Nahrung eintöniges Leben, gleich- mäßig andauernde Gemütsdepression und ähnliche Zustände, denen der Mangel auch der psychischen Genussmittel gemeinsam ist, von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Pathogenese des Skorbuts. So haben wir denn als Anforderung an die Kost des tätigen Er- wachsenen kennen gelernt die Notwendigkeit der Mischung animalischer und vegetabilischer Nahrungsmittel, so zwar, dass die hinreichende Quantität leicht resorbir- barer Nahrungsstoffe (im Mittel 118 g Eiweiß, 56 g Fett, 4) Zur Aetiologie des Skorbuts. Dtsch. Viertelj. für öffentliche Gesund- heitspflege. 1871. III. 111. Wolftberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. 189 500g Kohlehydrate) in schmackhaft und mit Abwechslung zubereiteten Speisen enthalten ist. Es bietet ein nicht geringes Interesse, mit diesen physiologischen Anforderungen die realen Verhältnisse in verschiedenen Ländern und Gegenden, in verschiedenen Berufs- und Vermögensklassen zu ver- gleichen. Mehrfache Untersuchungen über die Beköstigung der Ar- beiter aus verschiedenen Gegenden stammen von Mulder, Liebig, Gasparin, Playfair u. v. a., neuere finden sich in der Zeitschrift für Biologie. In diesen Beobachtungsreihen handelt es sich um Ar- beiter, die ihr gutes Auskommen hatten. Es fehlt aber an hinläng- lichen Untersuchungen über die Beköstigung Bedürftiger; es wäre eine höchst verdienstliche Arbeit, über die Beköstigung der Armen in verschiedenen Distrikten Deutschlands und anderer Länder metho- dische Untersuchungen anzustellen. Uebrigens liegen einige derartige Beobachtungen vor, von welchen wir zum Schlusse zwei Untersu- chungen über die Beköstigung norddeutscher Arbeiter anführen. Hildesheim!) berechnet, dass ein verheirateter Arbeiter (in Berlin im Winter 1846/47), welcher sich von Brot und Kartoffeln, etwas Mileh, Fett und Mehl, sonntags dazu wenig Fleisch und Erbsen ernährte, darin im Tage verzehrte: 86 g Eiweiß, 13 g Fett, 610 g Kohlehydrate. Böhm?) hat nach zahlreichen Beobachtungen zusammengestellt, wieviel eine arme Familie (in Luckau, Regierungsbezirk Frankfurt a/O.), bestehend aus Vater, Mutter und einem fünfjährigen Kinde, wöchent- lich verzehrt. Wir lassen diese Angaben folgen: Wochenverbrauch: Gehalt an Nahrungsstoffen °): Eiweiß. Fett. Kohlehydrate. 20500 g Kartoffeln =N40)Z — 4510 g 1125 „ Mehl — IPA — 810 „ 875 „ Fleisch ee ur en | 1000 83) = 157 „ 92 g 250 „ Reis = 49% _ 41995 6000 „ Brot Er AI8R, _ 2652 , 250 „ Butter = DS 230% — , IV EETTRIEE 7816ER Also täglicher Verbrauch = 173gE 46g8F. 1167 gK. 1) Die Normal-Diät. Berlin. 1856. S. 67. 2) Vorschläge zur Verbesserung der Speiseetats in den Gefangenenanstalten. Dtsch. V. f. öff. G. 1869. I. S. 376. 3) Diese Berechnungen sind ausgeführt auf grund einer von Voit gege- benen Zusammenstellung von Analysen der wichtigsten Nahrungsmittel. 4) Sonntägliche Zulage. 5) Fleisch, vom Metzger bezogen, enthält 15—20°/, Knochen, 71/,—10 Fettgewebe; reines Fleisch 22°), Eiweiß, 1°/, Fett. 190 Wolffberg, Normgemäße Beköstigung des Erwachsenen. Nimmt man an, dass der Mann die Hälfte hiervon verbraucht, so entfällt auf ihn: 86 g Eiweiß, 23 g Fett, 581 g Kohlehydrate. Als Illustration zu diesen ungenügenden Kostsätzen folge hier die Schilderung, welche ein Arzt!) von ostpreußischen Arbeitern entwirft, die in mehreren Strichen Ostpreußens freilich auf einer noch niedri- gern Kulturstufe als die ärmsten brandenburgischen Tagelöhner leben. „Die Arbeitsscheu, welche sich überall beim gemeinen Mann bemerk- lich macht, ist zum Teil wol mit ein unbewusster Ausdruck seiner geringen Körperkraft, wenn auch geistige Verkommenheit und Mangel an Bedürfnissen das meiste dazu beitragen. .... Von Statur ist der Arbeiter klein und mager, große, muskulöse Gestalten sind nur Aus- nahmen; .... die dürftige, aus Kartoffeln, Sauerkraut, Milch, Schwarzbrod bestehende Kost trägt das ihrige dazu bei, die Leute auf dem kläglichsten Ernährungszustande zu erhalten. Skorbutisches Zahnfleisch und Geschwüre an den Unterschenkeln finden sich sogar schon bei halbwüchsigen Menschen der arbeitenden Klasse, während von den Erwachsenen selten jemand von diesen Uebeln frei ist. Ohne Unterschied des Alters und Geschlechts sind alle-im hohen Maße dem übermäßigen Branntweingenuss ergeben, welcher seinerseits dazu beiträgt, die Ernährung des Arbeiters von klein auf zu unter- graben...“ — Der Hildesheim’sche und der Böhm’sche Arbeiter genießen eine durchaus gleichartige Kost. Dieselbe kann als das Prototyp der un- genügenden und unzweckmäßigen Nahrung unserer armen Arbeiter gelten. Sie ist überwiegend reich an Vegetabilien (Kartoffeln, Brot); sie enthält bei weitem zu wenig Eiweiß, zumal da ein sehr großer Teil des vegetabilischen Eiweißes nicht zur Resorption kommt. Vom Ei- weiß ist in dem nach den Böhm’schen Angaben berechneten Kost- satze nur 13,20), = 11,4 g animalischer Natur. Von der in minimo er- forderlichen Fettmenge enthält die Kost nur 41°/,; sie ist überreich an Kohlehydraten, macht an die Verdauungsarbeit zu große An- sprüche und ist darum ungeeignet, eine mittlere Leistungsfähigkeit zu ermöglichen. Bei einer solehen Diät werden die Muskeln schlaff und die Or- gane reich an Wasser, welches an die Stelle der wesentlichen Be- standteile tritt. Die Widerstandskraft gegen Krankheiten und die Energie sinken, mit ihr alle sittliche Willenskraft. Die Armen grei- fen zu scharfen Reizmitteln, umsomehr, als ihre vegetabilische Kost hinreichende Genussmittel nicht enthält. Der Branntwein gibt 4) Grun, Ueber den Hungertyphus u. s. w. in Horn’s Viertelj. f. ger. u. öff. Med. 1871. N. F. XIV. 203; 8. 237 ff. Berthoud, Das amerikanische Pferd. 4941 ihnen die Illusion einer nie vorhandenen Kraftfülle; aber er zerstört den noch normalen Rest der Verrichtungen des Nervensystems. Die typische Diät des armen Arbeiters ist nur durch Vermin- derung der eiweißarmen, durch Hinzufügung geeignet behandelter eiweißreicher Vegetabilien und besonders durch Hinzufügung von ani- malischem Eiweiß und Fett zu verbessern. S. Wolffberg (Bonn). Berthoud, Das amerikanische Pferd. Man nimmt allgemein an, dass das Pferd vor der Ankunft der Spanier in Amerika nicht vorhanden war, dass bisher unerforschte Ereignisse den Equi- dentypus daselbst vollkommen hatten aussterben lassen. Nach E. L. Ber- thoud (in der Kansas City Review) dürfte man dies nicht als unumstößliche Tatsache hinstellen. Derselbe berichtet von einer von Sebastian Cabot ent- worfenen Karte, auf welcher dieser seine eigenen Entdeckungen und diejenigen von John Cabot aufgezeichnet hatte. Diese Entdeckungen bestanden in der Auffindung und Erforschung des La Plata und Parana und es steht fest, dass Cabot im Jahre 1530 von dieser Reise nach Spanien zurückkehrte. Die Karte, welche bald darauf gezeichnet worden ist — jedenfalls vor der Rückkehr Cabot’s nach England, d h. vor 1547 — ist nun auch mit Abbildungen der auffallendsten Bäume und Tiere jener Länder ausgestattet und unter ihnen findet sich neben Puma und einem etwas zweifelhaften Vogel auch das Pferd. Da nun seit der Entdeckung von Peru bis zu dieser ersten Auffindung des La Plata kaum zwanzig Jahre vergangen waren, so kann man nicht wol an- nehmen, dass das Pferd über die Anden hinüber und durch die weiten Land- strecken hindurch bereits bis nach dem obern La Plata sich verbreitet haben sollte. Wie wenige Pferde waren damals von den Spaniern überhaupt erst eingeführt worden und diese wenigen sollten in so kurzer Zeit schon eine ver- wilderte Nachkommenschaft erzeugt haben, welche als besonders auffallendes Tier — also doch nur durch ihre Häufigkeit — die Aufmerksamkeit von Ca- bot und seinen Begleitern rege gemacht hätte ? Diesen im American Naturalist vom April d.J. auf 8.434 wiedergegebenen Auslassungen und Schlussfolgerungen kann man nichts entgegensetzen. Ist das, was Berthoud auf der käuflich von ihm in Paris erworbenen Karte ge- sehen hat, wirklich ein Pferd und rührt diese Zeichnung in der Tat von Cabot her, dann dürften Zweifel darüber, ob das Pferd in Südamerika nicht bereits vor dem Eindringen der Spanier daselbst heimisch war, nicht unberech- tigt erscheinen. Jdn. Die Weich- und Schaltiere, Gemeinfasslich dargestellt von Prof. Ed. von Martens. 1883. Prag und Leipzig. Mit 205 Abbildungen. Das Buch, welches eine bisher entschieden fühlbare Lücke in unserer Literatur ausfüllt, dürfte Anfängern und Liebhabern ein ganz vorzüglicher 192 Martens, Die Weich- und Schaltiere. Führer und dem Naturkundigen von Fach unter Umständen ein schätzenswerter ' Ratgeber sein. Der Fachmann im engern Sinne wird es als ansprechenden, an- regenden und wol auch belehrenden Lesestoff nicht minder willkommen heißen. Ferner erscheint es besonders dazu geeignet, dem Studium der Weichtiere oder der Beschäftigung mit denselben neue Jünger zuzuführen. Bei wirklich gemeinfasslicher Darstellung versteht es der Verfasser, ohne je trivial zu werden, auch allgemein interessant zu schreiben. Nach einer Einleitung über die Bedeutung und den Wert dessen, was man „System“ in der Naturwissenschaft nennt, nach einem Hinweis auf die Stellung der Mollusken im Tierreich, nach Bemerkungen über den Bau und die mor- phologische Bedeutung der Weichtierschale und nach einer kurzen Besprechung der Anatomie und Entwicklungsgeschichte geht Verf. zu den einzelnen Klas- sen über, welche er in der Vierzahl aufführt, nämlich 1) Cephalopoden 2) Schnecken 3) Kielfüßer, Flossenfüßer und Zahnröhren 4) Muscheln. Als bemerkenswert möge darauf hingewiesen sein, dass die Chitoniden hier zu den Kreiskiemern gerechnet werden. Ihering zog dieselben be- kanntlich wegen ihres anatomischen Baus (Nervensystem) zu den Würmern, ein Verfahren, welches manche Zoologen gutzuheißen geneigt sind. Außerdem möge hier noch die Einteilung der Muscheln eine Stelle finden. Sie lautet 1) austernartige M. 2) miesmuschelartige M. 3) Archenm. 4) regelm. M. ohne Mantelbucht 5) ungleichklappige Zweimuskler 6) regelm. M. mit Mantelbucht 7) Röhrenmuscheln. Den zweiten Hauptteil des Buchs (S. 219—309) nehmen „Aufenthalt und Verbreitung“, „Feinde und Verwendung der Schaltiere“ ein, und hier ganz be- sonders machen die reiche Erfahrung und der Wissensschatz des Verf. bei einer sehr ansprechenden Darstellungsweise sich geltend. Ein besonderer Abschnitt wie etwa „Anleitung zum Sammeln“ oder ähn- liches ist nicht in dem Buch enthalten. Wenn nun auch manchem mit einer solchen Zusammenstellung viel’eicht gedient gewesen wäre, so ist doch so vieles über Lebensweise der einzelnen Tiere eingeflochten, dass einem auf- merksamen Leser so ziemlich alles, was darin gestanden haben würde, von selbst einfallen muss. Außerdem erlaubt sich Ref. die Bemerkung, dass, wenn den Artnamen die Autoren zugefügt wären, Liebhaber und Anfänger Gelegen- heit gehabt hätten, sich einige wissenschaftliche Genauigkeit beim Anführen von Funden etc. anzueignen. Die Abbildungen sind teilweise ausgezeichnet, z.B. die Bilder von Limax agrestis L. und Arion ater L. auf $S. 121, oder von Tritonium variegatum auf 8. 295. Jan, Beriehtigungen. In Nr. 5 8. 136 Z. 8 v. o. lies: von statt in der Fläche. S. 142 Zz.1v. 0. „ indem statt in dem. S. 142 Z.8v.o. „ letzteres statt der Darm. S. 159 Z. 3 v. u. (im Text) lies: der stickstofffreien statt der freien Stoffe. av Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Öentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von.je 2 Bogen bilden einen Band. Ireis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Im. Band. 1. Juni 1883. Nr. 7. Inhalt: Klebs, Die neuern Arbeiten über die Farbstoffträger der Pflanzen. — Graff, Rhabdocoelidenmonographie (Schluss). — Jordan, Zur Biogeographie der nördlich gemäßigten und arktischen Länder (Schluss). — Kollmann, Muskel- varietäten als Spuren alter Herkunft des Menschen. — Lubbock, Farbensinn des Wasserfloehs. — Schneider, Begattung der Knorpelfisc..e.. — Anzeige. Die neuern Arbeiten über die Farbstoffträger der Pflanzen. Fr. Schmitz, Die Chromatophoren der Algen. Bonn 1882, mit 1 Tafel. — A. F. W. Schimper, Ueber die Gestalten der Stärkebildner und Farbkörper. Bot. Centralblatt 1882, Nr. 44. — Ders., Ueber die Entwicklung der Chloro- phylikörner und Farbkörper. Bot, Zeitung 1883, Nr. 7—10, mit 1 Tafel. — Arth. Meyer, Ueber Chlorophylikörner, Stärkebildner und Farbkörper. Bot. Centralblatt 1882, Nr. 48. Der feinern Organisation der Pflanzenzellen wendet man sich in neuster Zeit mit großem Interesse zu und, wie die vorliegenden Ar- beiten dartun, mit bedeutungsvollen Erfolgen. Bekanntlich beruht die Ernährung der grünen Pflanzen durch Assimilation der Kohlen- säure im Licht auf dem Vorhandensein des Chlorophylifarbstoffs, der, wie es für die meisten höhern Pflanzen schon seit lange bekannt war, an bestimmt geformte Körper, die Chlorophylikörner, gebunden ist, deren Grundsubstanz in ihren Eigenschaften sehr nahe mit dem Protoplasma übereinstimmt. Bei den Algen kommen häufig statt des Chlorophylis andere Farbstoffe vor, von Engelmann neuerdings als Chromophylle zusammengefasst, denen dieselbe physiologische Funktion wie dem Chlorophyll zukommt. Allgemein nahm man bisher an, dass die Chlorophylikörner zum größern Teile sich aus dem farblosen Proto- plasma der Zelle neubildeten. Die Arbeit von Schmitz beschäftigt sich näher mit den Farb- stoffträgern der Algen, die er als Chromatophoren ganz allgemein bezeichnet. Der Verfasser weist die wichtige Tatsache nach, dass 13 494 Klebs, Die neuern Arbeiten über die Farbstoffträger der Pflanzen. auch bei den niedern Algenformen, von denen man bisher annahm, dass der Farbstoff im ganzen Protoplasma verteilt sei, derselbe nur an abgesonderten geformten Trägern sich findet. Nur bei der großen Klasse der noch in vielen andern Beziehungen sehr isolirt stehenden Sehizophyten ist der Farbstoff, das Phyeochrom, im ganzen Proto- plasma verteilt. Es sind dieselben Organismen, bei denen auch bis- her keine geformten Kerne sich nachweisen ließen. Die Chromatophoren der Algen besitzen sehr mannigfaltige Ge- stalten; sie sind bald rund scheibenförmig, bald bandförmig, vielfach zerschlitzt oder sternförmig und erscheinen homogen gefärbt. Bei An- wendung von Reagentien tritt eine feine netzförmige Struktur hervor, die der Verfasser für den Ausdruck einer ursprünglich vorhandenen hält. Wichtiger sind seine Beobachtungen betreffs des kernartigen Gebildes, das er bei vielen Farbstoffkörpern gefunden hat und als „Pyrenoid“ bezeichnet. Diese Gebilde treten als kuglige Gestalten von stark lichtbrechender farbloser Substanz auf, welche in manchen Fällen, wie bei einzelnen marinen Diatomeen, nackt bleiben, in andern wie bei der Floridee Nemalion von zahlreichen Körnern der sogenann- ten Florideenstärke umgeben erscheinen. Viel ausgebildeter sind diese Pyrenoide in den Chlorophyliträgern der grünen Algen, bei denen sie die seit lange bekannten Amylonkerne bilden. Nach dem Ver- fasser ist in diesem Falle das Pyrenoid von einer hohlkugligen Stärke- hülle umsehlossen, die aus einer Schicht kleiner Stärkekörnchen be- steht, welche der Substanz des Chlorophyliträgers, die unmittelbar das Pyrenoid umgibt, eingelagert sind. Die kernartigen Bestandteile der Farbstoffträger der Algen teilen sich innerhalb derselben, was gewöhnlich mit der Teilung der letztern zusammenhängt. Die Teilung selbst geht in sehr einfacher Weise vor sich; das Pyrenoid streckt sich in die Länge und schnürt sich ein. Für manche Fälle erscheint es dem Verfasser wahrscheinlich, dass neben der Teilung auch eine Neubildung von Pyrenoiden erfolge. Die Chromatophoren der Algen vermehren sich durch Zwei-, seltener durch Vielteilung. Der Teilungsprozess verläuft je nach den Einzelfällen sehr verschieden, doch lassen sich diese auf zwei Haupttypen zurück- führen. Der einfachere Modus besteht in einer allmählichen Durch- schnürung, nachdem das Chromatophor sich in die Länge gestreckt hat. Bei dem andern Teilungstypus findet eine Zerschneidung des ursprünglichen Chromatophors ohne deutliche Einschnürung statt. In vielen Fällen nimmt die Substanz desselben in der Teilungsebene eine deutlich streifige Struktur an. Unter Auseinanderrücken der bei- den Teilstücke reißen die Streifen früher oder später durch und die Teilung ist beendet. Das wichtigste Resultat der Arbeit des Verfassers besteht in dem Nachweis, dass außer der Vermehrung durch Teilung eine andere Entstehungsart der Chromatophoren sich nirgends findet, dass die bis- Klebs, Die neuern Arbeiten über die Farbstoffträger der Pflanzen. 195 herige Annahme einer Neubildung so gut wie ausgeschlossen ist. Die letztere lässt sich freilich nie direkt verneinen, die Möglich- keit bleibt immer vorhanden. Jedoch hat der Verfasser dargelegt, dass in allen von ihm genau untersuchten Fällen die Chroma- tophoren sich lebhaft durch Teilung fortpflanzen, dass dieselben in fast allen hyalinen Zellen der Algengewebe sich nachweisen lassen. In solchen Teilen, wo dieselben in der Tat zu grunde gegangen sind, wie z. B. in vielen Haaren der Florideen, findet überhaupt keine Neu- bildung mehr statt. Auch überall in den Vegetationspunkten der Al- gen sind die Chromatophoren vorhanden, teils noch deutlich, teils nur schwach oder gar nieht mehr gefärbt. Von diesen sich ebenfalls teilenden Chromatophoren müssen sich die der andern Zellen herleiten. Bei der Bildung von Dauerzellen bleiben die Chromatophoren stets als selbständig geformte Körper erhalten, wenn sie auch häufig durch andere Zellbestandteile verdeckt werden. Auch die Zoosporenbildung sehr verschiedener Algen hat der Verfasser untersucht und gefunden, dass niemals eine Auflösung und Wiederneubildung von Chromato- phoren statthabe, sondern dass dieselben sich dabei teilen und die Teilungsprodukte auf die Zoosporen übergehen. Ein analoges Resul- tat ergab die Untersuchung der geschlechtlichen Fortpflanzungszellen der Algen. In den weiblichen Sexualzellen bleiben stets die Farb- stoffträger erhalten, häufig mit deutlichem Pyrenoid und Stärkeschale wie bei Oedogonium, Volvox; schwieriger nachweisbar, aber stets vorhanden, sind sie auch in Eizellen der Characeen und ferner der Florideen. Bei den männlichen Geschlechtszellen behalten die einen, besonders die, welche noch ganz den Typus der Zoosporen haben, die unveränderten Chromatophoren; bei andern wie bei denjenigen von Fucus werden dieselben undeutlich und gehen zu grunde. Die Sper- matien der Florideen, die Spermatozoiden der Characeen enthalten schon in ihren Mutterzellen keine Spur von Farbstoffträgern mehr. Wenn nun auch in den zuletzt genannten Fällen ebenso wie bei den Haaren und Rhizoiden anderer Algen die Chromatophoren ver- schwinden, so sind sie doch in der weit überwiegenden Zahl der Al- genzellen stets vorhanden, so dass der Verfasser zu dem Ausspruch gelangt, dass bei den Algen die Chromatophoren „einen wesentlichen Bestandteil des ganzen Zellenleibes bilden, einen Bestandteil, der in keiner Algenzelle fehlt, wenn nicht die Zelle zu einer besondern bio- logischen Spezialaufgabe, zu welcher der Besitz von Chromatophoren überflüssig ist, besonders ausgestaltet worden ist.“ Im Anschluss an das Vorhergehende bringt der Verfasser im letzten Teil seiner Arbeit noch zahlreiche Beobachtungen über die Stoff- wechselprodukte besonders der Stärkekörner, die bekanntlich in Ab- hängigkeit von Chlorophyliträgern bezw. den damit zusammengehörigen Stärkebildnern entstehen; doch muss in dieser Beziehung auf das Original verwiesen werden. 137 196 Klebs, Die neuern Arbeiten über die Farbstoffträger der Pflanzen. Die sehr bedeutungsvolle Tatsache, dass die Farbstoffträger der Algen sich wesentlich durch Teilung schon vorher vorhandener fort- pflanzen, wird durch die Arbeiten von Schimper und Meyer auch für die höhern Pflanzen nachgewiesen. In seiner ausführlichen Arbeit in der botanischen Zeitung legt Schimper dar, wie alle Vegetations- punkte der Blütenpflanzen und der untersuchten Gefäßkryptogamen stets differenzirte Chlorophylikörper oder doch ihre farblosen Grundlagen enthalten, dass dieselben nicht durch Neubildung aus dem Zellplasma, sondern durch Teilung aus einander entstehen und dass sie alle Chloro- phylikörper und Stärkebildner der aus dem Scheitelmeristem sich ent- wickelnden Gewebe erzeugen. In seltenern Fällen sind die Chloro- phylikörper in den Vegetationspunkten schön grün, wie bei Azolla und den Spitzen der Luftwurzeln von epiphytischen Orchideen. Meistens sind ‚sie dagegen farblos und entsprechen dann den schon früher vom Verfasser entdeckten Stärkebildnern. Er fasst jetzt alle diese Gebilde wie Chlorophylikörper, Stärkebildner, Farbkörper unter dem gemeinsamen Namen der Plastiden zusammen und unterscheidet dann die Chlorophyllkörper als Chloroplastiden, die Stärkebildner und alle hierher gehörigen farblosen Gebilde als Leucoplastiden, die gelben in den Blüten vorhandenen Farbkörper als Chromo- plastiden. Aus den Leucoplastiden der Vegetationspunkte entstehen durch Ergrünen und Vergrößerung die Chloroplastiden, die sich dann weiter durch Teilung vermehren, gehen ferner die Stärkebildner der Gewebezellen hervor. In manchen Fällen werden die Leucoplastiden anscheinend funktionslos, wie z. B. in den Zellen der Epidermis und desorganisiren schließlich. Aus Leuco- oder Chloroplastiden nie lchek durch Umwandlung die Chromoplastiden, auf deren Vorhandensein die Farbe zahlloser Blüten und Früchte beruht. Die Farbe der Chromoplastiden schwankt zwischen den verschiedenen Tönen von Karminrot bis Grünlichgelb. Häufig sind sie ihrer Gestalt nach rundlich, in vielen andern Fällen zwei- oder mehrspitzig, in seltenern stabförmig mit gerundeten oder quer abgestumpften Enden. Am Schluss seiner interessanten Arbeit macht Schimper noch auf die wichtige Tatsache aufmerksam, dass das Eiweiß vieler Plastiden in der lebenden Zelle teilweise oder ganz, vorübergehend oder dauernd, aus dem lebenden aktiven in den ruhen- den krystallisirten Zustand übergehe. Er beobachtete diesen Ueber- gang sowol bei Leuco-, als bei Chloro- und Chromoplastiden. Bei den letzten findet die Krystallisation am häufigsten statt und zwar meistens vor dem Aufblühen oder vor dem Reifen der Frucht, oft so- gar in ganz jungen Organen. Die Krystalle sind gewöhnlich spindel- förmig, seltener stabförmig, quellen in Wasser kuglig auf und zeigen deutliche Doppelbrechung. Durch Alkohol werden sie koagulirt und lagern dann gelöste Farbstoffe, besonders Anilinviolett, auf. Bei der Klebs, Die neuern Arbeiten über die Farbstoffträger der Pflanzen. 19% Krystallisation des Eiweißes der Chromoplastiden wird der Farbstoff selbst entweder mechanisch mitgerissen, oder er wird aus dem kry- stallisirenden Eiweiß ausgeschieden und bleibt an der Oberfläche des Krystalls haften. Unter Umständen kann das krystallisirte Eiweiß wieder in lebendes umgewandelt werden und als solches von neuem Stärke erzeugen, wie Sehimper es bei den gelben Krystallen der Blüten von Asphodeline lutea beobachtet hat. Ziemlich gleichzeitig hat auch Arthur Meyer sich mit den Farbstoffträgern der Phanerogamen beschäftigt, doch bisher nur eine kurze vorläufige Mitteilung veröffentlicht. In dem Hauptresultat seiner Arbeit stimmt er mit Schimper und Sehmitz vollkommen überein. Auch er fand, dass die Chlorophylikörper sich nie, soweit es sich be- obachten ließ, aus dem Zellplasma neubildeten, sondern nur durch Teilung fortpflanzten. Eine Resorption des Farbstoffkörpers scheint nach ihm niemals vorzukommen. In allen Organen, die untersucht wurden, ließen sich dieselben nachweisen in Parenehym- und Epi- dermiszellen, in sklerotischen Zellen, ferner in den Siebröhren. In be- treff der spindelförmigen Farbkörper in den Blüten und Früchten ist Meyer zu einem andern Resultat als Schimper gekommen, insofern nach ihm die Farbkörper der Hauptsache nach aus krystallisirtem Farbstoff bestehen. Durch die soeben besprochenen Arbeiten hat sich ergeben, dass die Chlorophylikörper und die damit verwandten Gebilde Organe der Pflanzenzelle sind, die fast nirgends fehlen und die analog den Ker- nen selbständig wachsen und sich teilen. Reinke hat nun, wie Schimper mitteilt, die Beobachtung gemacht, dass die Chlorophyll- körper eines faulenden Kürbisses in abgestorbenen Zellen noch weiter vegetirten und sich durch Teilung vermehrten. Schimper spricht infolge dessen den Gedanken aus, dass möglicherweise die grünen Pflanzen wirklich einer Vereinigung eines farblosen Organismus mit einem von Chlorophyll gleichmäßig gefärbten ihren Ursprung ver- danken. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es häufiger gelingen wird, die Chlorophylikörper der Zellen außerhalb derselben zu selbständigem Leben zu bringen; aber das gilt nicht allein für sie, sondern auch für den Kern. Für beide kommt es, um sie selbständig zu erhalten, vor allem darauf an, dass ähnliche osmotische Verhältnisse, denen sie inner- halb der Zelle angepasst sind, außerhalb derselben hergestellt werden. Das sofortige Absterben dieser Organe beim Oeffnen der Zelle beruht wesentlich auf der Aufquellung in dem eindringenden reinen Wasser. Man kann Chlorophylikörper wie Kern längere Zeit frisch und in ihrer Struktur unverändert erhalten, schon bei Anwendung einfacher Salzlösungen, z. B. verdünnter Kochsalz- oder Salpeterlösung. Findet man nur eine geeignete Nährlösung, so wird einer freien Kultur wenig im Wege stehen. Direkt die Chlorophylikörper als vorher selbständige Organismen, die sieh mit farblosen vereinigt haben, auf- 198 Klebs, Die neuern Arbeiten über die Farbstoffträger der Pflanzen. zufassen, möchte Referent nicht gutheißen. Denn dasselbe müsste auch für den Kern gelten. Was dann von der Zelle übrig bleibt und was wir jetzt Protoplasma nennen, ist aber nicht als ein einheit- liches Organ bezw. als ein Organismus zu betrachten, mit dem sich die andern vereinigt haben, sondern das besteht selbst wieder sehr wahr- scheinlich noch aus andern in ähnlicher Weise wie Kern ete. selbstän- digen Organen, die nur bisher unserer Erkenntniss entgangen sind. Die nähere Untersuchung der gemeinen grünen Euglenen, die nach den augenblickliehen Anschauungen unzweifelhaft einzellig sind, hat dem Referenten gezeigt, dass jede dieser Euglenen zusammengesetzt ist aus einer ganzen Reihe bestimmt geformter, ihrer Grundmasse nach aus plasmatischer d. h. aus Eiweißsubstanz bestehender wachsender und ge- sondert sich teilender Organe, die man als die eigentlichen Elementaror- gane betrachten kann. Außer dem Kern und den Chlorophylikörpern fin- den wir solche Organe in dem Augenfleck, in der äußern peripherischen Schicht der Membran und in dem System der pulsirenden Vakuolen. Die Untersuchungsmethoden sind noch zu unvollkommen, um den jetzt noch übrig bleibenden Zellbestandteil, den man, um den Gegensatz zu den andern ebenfalls protoplasmatischen Organen hervorzuheben, am bestenals Cytoplasma bezeichnet, nochin seine nähern Elemen- tarteile zu zerlegen, die seinen verschiedenen physiologischen Funk- tionen zu grunde liegen. Alle diese Organe der Euglenen besitzen, wie die Versuche lehren, eine gewisse physiologische Selbständigkeit und auch zum Teil Unabhängigkeit von einander. Man kann sich da- her sehr wol einen solchen einzelligen Organismus gebildet denken durch Symbiose verschiedenartig funktionirender, in gewisser Weise selbständig für sich lebender Elementarorgane. Worauf der innere Zusammenhang derselben beruht, durch den erst das einheitliche Ganze einer Zelle hervorgerufen wird, ist bisher für uns ebenso unfassbar, als es das Zusammenwirken der Zellen eines tieri- schen oder pflanzlichen Gewebes, oder die Bildung eines Wirbeltiers oder eines Baums aus seinen verschiedenen Organen ist. Durch die Entstehung der Zellorgane, vorzugsweise durch Teilung schon vor- her vorhandener, rückt nun aber die Generatio spontanea in immer weitere Fernen, und doch bleibt uns vorläufig nichts anderes übrig als anzunehmen, dass diese Zellorgane früher nicht selbständige Or- ganismen gewesen sind, die sich erst später zu der Bildung der Zel- len vereinigt haben, sondern dass sie durch allmähliche Differenzirung sich aus ursprünglich einheitlichem Protoplasma herausgestaltet haben. Merkwürdig ist es aber im hohen Grade, dass bei den niedern Organismen so wenig Uebergangsstufen in der Bildung dieser Zell- organe, wie besonders des Kerns und der Chlorophylikörper, sich nachweisen lassen. So werden anscheinend die Rätsel der Entstehung der Zellen immer dunkler, je mehr wir in der Erkenntniss ihres Baus und Lebens fortschreiten. Georg Klebs (Tübingen). Graff, Rhabdocoelidenmonographie. 199 Die Graff’sche Rhabdocoelidenmonographie. (Schluss.) Weiterhin im siebenten Abschnitt seiner Monographie gehtGraffzur Darstellung des männlichen Geschlechtsapparats der Rhabdo- coeliden über, welche er mit einer genauen anatomischen Beschrei- bung der Hoden beginnt. Er unterscheidet zwei Arten von Hoden, follikuläre und kompakte. Die follikulären Hoden sind durch den Zerfall in zahlreiche kleine Läppchen oder Bläschen charakterisirt. Wir begegnen ihnen bei sämtlichen Acoelen und Alloiocoelen und bei den Gattungen Mecynostoma und Alaurina unter den Rhabdoecoelen. Die Hodenbläschen sind bald zerstreut, bald zu größern Häufchen zu- sammengruppirt, bald dicht aneinandergelagert und nur durch spärliches Bindegewebe geschieden. Jedes einzelne Hodenbläschen wird durch eine einzige Zelle gebildet, die mit fortschreitender Entwieklung durch Teilung in ein rundliches Häufchen von Zellen zerfällt, welche noch spä- ter einem einzigen Knäuel oder Bündel von Spermatozoen den Ursprung geben. Eine Tunica propria fehlt den follikulären Hoden. Die kom- pakten Hoden sind mit einziger Ausnahme von Gyrator hermaphrodi- tus paarig. Sie sind sehr verschiedenartig gestaltet, stellen aber stets massige Drüsen dar, bei denen erst mit der Produktion von Sperma eine zentrale Höhle dadurch ensteht, dass es die zentralen Zellen sind, welche zuerst in Spermatozoen zerfallen. Die kompakten Hoden sind alle mit einer Tunica propria ausgestattet. Graff schildert ausführlich die Form und Bewegung der reifen Spermatozoen, deren Vielge- staltigkeit nur durch die Form des Kopulationsorgans übertroffen wird. Die Hauptformen der bei Rhabdocoeliden vorkommenden Spermatozoen sind folgende: 1) einfach fadenförmige Spermatozoen 2) gesäumte Spermatozoen d.h. solehe mit einer Mittelrippe und zwei derselben an- sitzenden membranosen Säumen 3) faden- oder peitschenfömige Sper- matozoen, deren eines Ende mit ein oder zwei feinern geißelartigen Fädehen ausgestattet ist. Außerdem kommen noch zahlreiche aber- rante Formen vor. Die Entwicklung der Spermatozoen ist von Graff hauptsächlich bei Plagiostoma Girardi eingehend verfolgt worden. Die reifen Spermatozoen dieser Art gehören zu den gesäumten Formen. Die frühesten Stadien, dieGraff frisch beobachtete, sind Kugeln, die zu maulbeerförmigen Aggregaten zusammengruppirt sind. „Später verlängern sich die Elemente und bekommen kleine von ihrem freien Ende hervorsprossende stumpfe Knöpfehen, die sich allmählich zu längöın Spitzen zuschärfen.“ Sodann isoliren sich die einzelnen Ele- mente und lassen die Mittelrippe als breiten Kolben erkennen. Auf Schnitten hat Graff den Vorgang histologisch genauer verfolgt: jede männliche Geschlechtszelle zerfällt zunächst in ein Häufchen keilför- miger Zellen mit dunkeln kleinen Kernen und zart granulirtem Plasma. Die Zellen wachsen rasch, aber verhältnissmäßig noch rascher ihre 200 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. Da Kerne ; in letztern treten dunkle feine Körnehen auf, die sich alsbald zu größern Häufchen zusammenballen, wodurch die Substanz des Kerns sich in eine farblose helle Grundsubstanz und in die dunkel tingirten Kugeln scheidet. Diese letztern verlängern sich zu Fädchen, die — unter fortschreitender Vergrößerung des Kerns — zu einem maschigen Gerüst zusammentreten, dessen Balken alle miteinander zusammenhängen. Die einzelnen Zellen dieses Stadiums entsprechen den einzelnen Zellen des oben erwähnten Maulbeerstadiums. Nach- her verschwindet die sich nicht färbende helle Grundsubstanz des Kerns und es bildet sich ein neuer Kern, der nur aus der Balken- substanz besteht und schließlich die Mittelrippe des Samenfadens bildet. — Graff beschreibt noch von mehrern andern Rhabdocoeli- den Stadien der Spermabildung und findet dabei meistens eine ähn- liche Kernmetamorphose, wie die eben von Plagiostoma Gürardi be- schriebene. Für die von Graff angeführte Vergleichung der ver- schiedenen Formen der Spermatozoen der Rhabdocoelen mit einander und mit denen der Vertebraten muss Referent auf das Original ver- weisen. — Besondere Ausführungsgänge (Vasa deferentia) für das Sperma sind bloß bei denjenigen Rhabdoeoeliden vorhanden, deren Hoden eine Tunica propria besitzen, wie dies bei den eigentlichen Rhabdocoelen der Fall ist. Die Tunica propria setzt sich dann auf die Vasa defe- .rentia fort. Bei den meisten Acoelen und Alloiocoelen entspricht dem Fehlen einer Tuniea propria der Hoden auch der Mangel bestimmt präformirter Ausführungsgänge — als Leitwege für das Sperma dienen hier einfach die Lücken des Parenchyms. Eine Ausnahme von diesem Verhalten bilden unter den Acoelen Proporus rubropunetatus, Apha- nostoma diversicolor und Allostoma pallidum, unter den Alloiocoelen die Monotiden, die ganz mit den Dendrocoeliden übereinstimmen. Die Vasa deferentia münden entweder getrennt in die Samenblase oder vereinigen sich vorher zu einem gemeinsamen unpaaren Gange, dem Ductus seminalis, der bisweilen blasenartig erweitert ist oder (Maecro- stoma hystrix) ein Diverticulum trägt. Die meisterhafte vergleichende Darstellung des männlichen Be- gattungsapparats der Rhabdocoeliden lässt sich kurz folgender- maßen zusammenfassen. Im einfachsten Falle stellt der Begattungs- apparat eine handschuhfingerförmige Aussackung des Atrium genitale vor, dessen Muskularis verdickt erscheint und in deren blindes Ende die Vasa deferentia einmünden. Als Kopulationsorgan scheidet das Epithel dieser Aussackung ein einfaches Chitinrohr ab. Die nächste Kom- plikation ist die, dass der Penis in eine Penisscheide eingeschlossen ist, in deren Grunde er sich als Ringfalte erhebt. Eine solche Penis- scheide kann auf zweierlei Art zu stande kommen. Sie entspricht entweder dem ursprünglichen „Duetus ejaeulatorius“, in dessen Lu- men sich sekundär der Penis als Ringfalte bildet — oder aber der Penis selbst repräsentirt den ursprünglichen Ductus ejaculatorius und Graff, Rhabdoeoelidenmonographie. 201 me bildet dureh sekundäre ringförmige Faltung nach außen die Penis- scheide. Im erstern Falle setzt sich die Wandung des Atrium geni- tale direkt in die der Penisscheide fort, im letztern direkt in die des Penis selbst. Alle Rhabdoeoeliden besitzen in Verbindung mit dem Kopu- lationsapparat Drüsen, welehe dem Sperma ein kömiges Sekret beimischen. Bei Convoluta münden diese aceessorischen Drüsen ein- fach in das Geschlechtsantrum. Bei den meisten Rhabdocoeliden aber entleeren sie ihr Sekret in eine birnförmige Erweiterung des blinden Endes des Penis, in welche außerdem noch die Vasa deferentia einmünden und welche zugleich als Samenblase und Sekretreservoir dient. In sehr vielen Fällen aber entwickeln sich am blinden Ende des Ductus ejaeulatorius zwei räumlich getrennte Bla- sen, von denen die eine die Vasa deferentia aufnimmt und als Samen- blase fungirt, während die andere das Sekret der accessorischen Drü- sen empfängt und als Sekretreservoir bezeichnet wird. Mit Rücksicht auf den eigentlichen Begattungsapparat mit seiner Chitinbewafinung kommen dabei folgende Hauptmodifikationen vor. 1) Die Chitinröhre des Begattungrapparats bleibt im Duetus ejaculatorius und der Inhalt der Samenblase sowol als der des Sekretreservoirs passiren dieselbe. 2) Der Ausführungsgang des Sekretreservoirs scheidet selbst wieder ein ehitiniges Rohr ab, das in den gemeinsamen Duetus ejaculatorius einmündet. Dabei kann das Chitinrohr dieses letztern fortbestehen oder fehlen und ganz durch das erstere ersetzt werden. Im ersten Fall kann das dem Sekretreservoir angehörige Begattungsrohr unter Um- ständen in das Begattungsrohr des Ductus ejaculatorius hineinragen, so dass zwei ineinandergeschachtelte Chitinröhren vorhanden sind, von denen die äußere den Samen empfängt, während die in ihr ein- geschlossene innere das Sekret des Sekretreservoirs fortleitet. Außer- dem gibt es noch Modifikationen, bei denen Samen- und Sekret- reservoire äußerlich nicht getrennt sind, sondern letzteres von der Samenblase mantelartig eingeschlossen zentral liegt, und wo der Aus- führungsgang des Sekretreservoirs im Innern des Ausführungsganges der Samenblase verläuft. Dies sind indess nur einige der Hauptmodifikatio- nen des sehr mannigfaltig gestalteten Begattungsapparats. Bei andern Formen liegt z. B. gerade umgekehrt der Samenkanal zentral und der Drüsenkanal peripherisch und das einzige vorhandene Chitinrohr gehört dem Samenkanal an. In bezug auf die physiologische Be- deutung des Sekrets der accessorischen Drüsen schließt sich Graff der Ansicht von Hallez an, nach welcher es als Nährmittel für die Spermatozoen dient. Im Anschluss an den männlichen Begattungsapparat behandelt Graff den von Jensen entdeekten Giftstachel von Maerorhynchus helgolandicus, obschon derselbe eine Bildung sui generis, eine vom männlichen Apparat vollständig unabhängige Aussackung des Atrium 202 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. genitale ist. Er besteht aus einem von einem Zentralkanal durch- bohrten Chitinstilett, in welches zwei in einem Giftsack eingeschlossene Giftdrüsen ihr Sekret entleeren. Am blinden Ende des Giftsackes inserirt sich das eine Ende des Retractormuskels des Giftapparats, während dessen anderes Ende sich am Sekretreservoir des männlichen Begattungsapparats anheftet. Die Begattung der Rhabdocoeliden ist eine gegenseitige. Selbst- befruchtung ist nur in vereinzelten Fällen nachgewiesen, kommt aber vielleicht bei Acoelen und Alloiocoelen allgemeiner verbreitet vor. Dureh die Untersuchungen von M. Schultze und O. Schmidt, besonders aber durch früher schon veröffentlichte Untersuchungen von Graff selbst ist bekannt worden, dass in der Familie der Mikrosto- miden neben der geschlechtlichen noch eine ungeschlechtliche Art der Fortpflanzung vorkommt, die in vieler Beziehung mit der Strobilation der Medusen und Cestoden übereinstimmt. Semper und Hallez haben die Resultate der Untersuchungen Graff’s in allen wesentlichen Punkten bestätigt. Ausden Abbildungen, dievonMetschni- koff und Mereschkovsky von Alaurinen gegeben wurden, schließt Graff, dass bei diesen Rhabdocoelen eine ähnliche Art ungeschlecht- licher Fortpflanzung wie bei Mikrostomiden vorkommt. Graff hat die ungeschlechtliche Fortpflanzung von Mierostoma lineare einer erneu- ten Untersuchung unterworfen und stellt den Vorgang nun in folgen- der Weise dar. Die Abtrennung der Knospe beginnt mit einer ring- förmigen Verdiekung der Darmwand, die einer entsprechenden ring- förmigen Einsenkung der Körperwand entgegenwächst. Zu gleicher Zeit mit der nach außen sich vollziehenden Verdiekung der Darm- wand bildet sich vor und hinter ihr eine nach innen vorspringende Ver- diekung, wodurch das Darmlumen an dieser Stelle verengt und zuletzt ganz unwegsam wird. Zwischen dem Rand der ringförmigen Darm- verdiekung und der Epithelfurche bildet sich ein gleich von Anfang an aus zwei Lamellen bestehendes Septum. Wenn diese beiden La- mellen auseinanderweichen, beginnt die Teilung, nach welcher der Darm an der Teilungsstelle klafft und so den Eindruck eines Afters her- vorbringen kann. Während der Bildung des Septums entsteht. hinter demselben in der Medianlinie der Bauchseite die Anlage des Pharynx in Form einer diehtern Anhäufung von Bindegewebszellen. Eine immer tiefer werdende Grube an der Hautoberfläche wächst in diese Zell- masse hinein, von der sieh rechts und links eine Zellgruppe absondert, welehe, vor und hinter der Pharynxanlage verwachsend, das Gehirn mit dem Schlundring darstellt. Nach dem Auftreten der Augenflecken, lange vor der spontanen Trennung der Individuen, öffnet sich die Pha- yynxhöhle in den Darm. Die Teilungsebene des sich zur Teilung an- schiekenden Individuums liegt zuerst, wie Hallez richtig hervor- gehoben hat, im hintern Drittel des Körpers; dadurch aber, dass die Knospe rasch wächst und dem Muttertier gleich wird, rückt sie in Graff, Rhabdocoelidenmonographie. 203 die Mitte des ursprünglichen Individuums. Der gleiche Prozess wie- derholt sich nun wieder am Muttertier und am Tochtertier u.s.w. — bis normal 16 Individuen vorhanden sind. Dann erst trennen sich die Indi- viduen der Kolonie. Die Knospung ist periodisch: „Alle Individuen eines Stockes erzeugen zu gleicher Zeit eine Knospe (Fortpflanzungsperiode) und hierauf folgt ein beschleunigtes Wachstum all der zu gleicher Zeit gebildeten Knospen bis zur Größe ihrer Mutter (Wachtumsperiode).“ Am Ende jeder Wachstumsperiode sieht deshalb der Stock aus, als ob er das Resultat einer regelmäßig fortgesetzten Querteilung wäre. Wichtig für die Auffassung dieser ungeschlechtlichen Vermehrung als Knospung ist außer der Tatsache der Bildung der Teilungsebenen im hintern Drittel der Individuen, der Wachstumszone, die andere Tatsache, dass das ursprüngliche Muttertier bei der fortschreitenden Knospung nicht kleiner wird, sondern die ursprüngliche Größe, die Größe der solitären Individuen, beibehält. Graff vermutet, dass bei den Mikrostomiden eine Art Generationswechsel vorkomme. „Alle Wahr- scheinlichkeit spricht dafür, dass auf eine Reihe sich bloß ungeschlecht- lieh fortpflanzender Frühlings- und Sommergenerationen eine ab- schließende Herbstgeneration folgt, deren Sprösslinge sich insgesamt ge- schlechtlich entwickeln, die Begattung vollziehen und dann absterben, um aus ihren Eiern im nächsten Jahre eine ungeschlechtliche Generation hervorgehen zu lassen.“ Im allgemeinen Teile seiner Monographie behandelt Graff noch die Oekologie und Chorologie der Rhabdoeoeliden und gibt allgemeine systematische Erörterungen. Im Kapitel Oekologie finden wir zu- nächst Angaben über die Lebensdauer, aus denen hervorgeht, dass wol keine Form über ein Jahr alt wird. Dann folgen Angaben über die Nahrung der Rhabdoeoeliden und über deren Feinde. Die Nah- rung ist überwiegend animalischer Natur. Sie besteht aus Infusorien, Rotatorien, kleinern Krebsen, Insektenlarven, Naiden, Radiolarien, auch aus eigenen Stammesgenossen. Als Feinde werden außer den eigenen Stammesgenossen angeführt ausgewachsene Ostracoden, Cladoeeren, Amphipoden und Isopoden. Folgende Fälle von Symbiose werden verzeichnet. Monotus fus- cus sucht bei eintretender Ebbe den Mantelraum von Balanıus, Chi- ton, Patella auf, offenbar Schutz gegen die Vertrocknung suchend; bei eintretender Flut verlässt er wieder seinen Zufluchtsort. Acmo- stoma Cyprinae, Enterostoma Mytili, Provortee Tellinae und Ano- plodium Mytili leben zwischen den Kiemenblättern von Muscheln und nur dort. Hierher rechnet Graff auch Graffilla tethydicola, weil dieses Tier nach des Entdeckers Angaben den Fuss der Tethys, in dem es lebt, nach einigem Aufenthalt des Wirtes in einem Gefäß mit See- wasser freiwillig verlasse. Referent bemerkt jedoch, dass die Tiere im Seewasser außerhalb ihres Wohntiers nur kurze Zeit am Leben bleiben und er glaubt, dass Graffilla tethydicola ein echter Schmarotzer 204 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. ist. Als echte Schmarotzer nennt Graff die den Darmkanal ihrer Wirte bewohnenden Anoplodium Schneideri, Anopl. (2) Myriotrochi, Macro- stoma Serobieulariae, den Nierenschmarotzer Graffilla muricicola und die in der Leibeshöhle ihrer Wohntiere lebenden Nematoscolex parasiticus und Anoplodium parasita. Die beiden ausschließlich parasitischen Genera Anoplodium und Graffilla zeigen unzweifelhafte den Pharynx, das Nervensystem und die Sinnesorgane betreffende Rückbildungen. Was die farbige Anpassung der Rhabdoecoeliden anbetriftt, die Hallez mit so großem Nachdruck hervorgehoben hat, so mahnt Graff eindring- lich zur Vorsicht, da die Ausnahmefälle allzu zahlreich seien. Das Kapitel „Chorologie“ enthält eine tabellarische Zusammen- stellung der geographischen Verbreitung aller bekannten Rhabdocoe- lidenarten in systematischer Reihenfolge. Von den interessanten Tat- sachen, die aus dieser Zusammenstellung ersichtlich werden, mögen hier folgende erwähnt werden. Die Süßwasserfauna Grönlands enthält einige der gemeinsten mitteleuropäischen Formen. Die Meeresfauna Grönlands stimmt mit der norwegischen, die der kanarischen Inseln mit der des tyrrhenischen Meeres überein. Von den 268 Rhabdocoe- liden sind 30 Exoten, 160 Meeresbewohner (15 Parasiten, 1 in stark salz- haltigen Salinen lebend) 97 Süßwasser-, 1 Landbewohner, 5 Brack- wasserformen, 2 leben sowol im Brack- als im Seewasser und 3 so- wol im süßen als im salzigen Wasser. Die Acoelen enthalten aus- schließlich, die Alloiocoelen beinahe ausschließlich marine Formen; die Rhabdocoelen verteilen sich ungefähr gleichmäßig auf das Meer und auf das Süßwasser. Diese Tatsachen erscheinen Graff höchst bedeutungsvoll, weil aus Acoelen und Alloiocoelen die echten Rhabdo- coelen und die Trieladen abgeleitet werden müssen und weil inner- halb der Rhabdocoelen, wie die vergleichende Anatomie zeige, die Süßwasserbewohner die höhern, die Seewasserbewohner die niedern ursprünglichen Formen darstellen. Bedeutungsvoll sei auch die Tat- sache, dass die beiden „Fremdlinge unter den Süßwasserbewohnern“ Plagiostoma Lemani (die einzige Plagiostomide des süßen Wassers) und Otomesostoma Morgiense der Tiefenfauna (des Genfersees) an- gehören. Schon Du Plessis hat auf die hohe ehorologische Bedeutung dieser Formen hingewiesen, die Graff als Relikte der marinen Fauna auffasst, welche ehedem unsere großen Alpenseen erfüllte und aus welcher sich allmählich die heutige Süßwasserfauna entwickelte. Wenn man außerdem noch in betracht ziehe, dass das von Braun in den tiefen Brunnen Dorpats entdeckte Turbellariengenus Bothrioplana als mutmaßliche Stammform der Trieladen einen ursprünglichen Cha- rakter zeige, so sei nicht zu verkennen, dass die Turbellarien „ein neues Beispiel dafür bieten, dass die Fauna der Tiefen der Süßwas- serseen, sowie der tief unter der Erdoberfläche befindlichen Wasser- becken sich zur Fauna oberflächlicher Gewässer ähnlich verhalte, wie die Fauna der größten Meerestiefen zu der der obern Meereschichten.“ Graff, Rhabdocoelidenmonographie. 205 Für die marinen Rhabdocoeliden geht aus der tabellarischen Zu- sammenstellung der geographischen Verbreitung hervor, dass die Zahl der Arten nach dem Norden eher zu — als abnimmt. Sicher ist dies für die Individuenzahl der Fall. Wenige Arten sind pelagisch. Eigen- tümlichkeiten der Tiefseefauna sind: weniger lebhafte Farbe, größere Durchsichtigkeit und die Veränderuug des schwarzen Augenpigments in rotes. Aus der Brunnenfauna sind mehrere augenlose Formen be- schrieben worden. Graff hebt jedoch mit Recht hervor, dass bloß für eine Art, für Gyrator coecus, der wirkliche Nachweis geliefert wurde, dass die Augenlosigkeit eine Anpassungserscheinung sei. Den Schluss des allgemeinen Teils der Graff’schen Monographie bildet ein Kapitel über Systematik, in welchem in erster Linie eine Uebersicht über die bisherigen Turbellariensysteme gegeben wird. Um eine möglichst sichere Grundlage für ein natürliches Turbellarien- system zu gewinnen, erörtert und prüft sodann Graff eingehend die Dignität der systematischen Charaktere und kommt dabei zu dem Re- sultat, dass der Bau der Geschlechtsorgane, des Pharynx und des Darmkanals als oberstes Einteilungsprinzip verwertet werden müsse. Auf dieses Rinteilungsprinzip sich stützend begründet Graff, der die Nemertinen mit Recht definitiv aus der Ordnung der Turbellarien ent- fernt, ein neues Turbellariensystem, welches folgende Gestalt an- nimmt: Ordo Turbellaria. Tr ee _ 1) Subordo Rhabdocoelida. 2) Subordo Dendrocoelida. a EUR nn N nn 1) Tribus Acoela. 2) Trib. Rhabdocoela. 3) Trib. Alloiocoela. 1) Trib. Trieladi. 2) Trib. Polyeladi. Für die ursprüngliehsten Formen hält Graff die Acoelen. Aus ihnen sind nach einer Richtung die höchst entwickelten Rabdoeoelen, nach einer andern die weniger hoch entwickelten Alloiocoelen hervorgegangen. Die Alloiocoelen führen durch das Genus Bothrioplana Braun, bei dem die beiden hintern Darmäste hinter dem Pharynx noch vereinigt sind, ungezwungen zu den Trieladen hinüber. Die Polyeladen werden von ursprünglichen Formen der Alloiocelen abgeleitet, welche noch der Trennung des weiblichen Apparates in Keim- nnd Dotterstöcke ermangeln (Genus Acmostoma). Vielleicht aber seien die Polyeladen direkt aus Acoelen mit besonderer Wurzel entsprungen und in diesem Falle wäre Graff geneigt, die Kowalevsky’sche Coeloplana als eine jener aus Acoelen hervorgegangenen Urformen zu betrachten, aus der einerseits die Polyeladen, andererseits die Coelenteraten hervor- gingen. Verfasser verspricht uns eine eingehendere Diskussion der über die Coelenteratenverwandtschaft der Turbellarien aufgestellten Hypothesen für den Zeitpunkt, wo er die Entwicklungsgeschichte der Acoelen und damit die Frage, ob die Acoelie bei diesen Formen eine primäre oder sekundäre Erscheinung sei, aufgeklärt haben werde. Auch möchte er die Resultate einer eingehendern Polyeladenbear- 206 Graff, Rhabdocoelidenmonographie. beitung abwarten. Die Diskussion der Verwandtschaft der Turbellarien mit den übrigen Plathelminthen und mit den Hirudineen wird eben- falls auf eine spätere Gelegenheit verschoben. Die drei Tribus der Rhabdocoeliden (Acoela mit 2 Familien und 5 Gattungen; Rhabdocoela mit 7 Familien und 27 Gattungen; Alloio- eoela mit 2 Familien und 8 Gattungen) werden folgendermaßen charakterisirt. Aecoela. Mit verdauender Marksubstanz, ohne Differenzirung von Darmrohr und Parenchymgewebe, ohne Nervensystem und Exkretions- organ. Geschlechtsorgane hermaphroditisch, mit in Parenchymlücken eingelagerten follikulären Hoden und paarigen Ovarien. Zumeist ohne Pharynx und der Mund führt dann als einfache Spalte des Integu- gements direkt in das verdauende Parenehym. Mit einem Otolithen. Rhabdocoela. Darmrohr und Parenehymgewebe gesondert und meist eine geräumige Leibeshöhle vorhanden, in welcher der regel- mäßig gestaltelte Darm durch spärliches Parenehymgewebe aufgehängt ist. Mit Nervensystem und Exkretionsorgan. Geschlechtsorgane her- maphroditisch (mit Ausnahme der Genera Microstoma und ? Steno- stoma), Hoden in der Regel als zwei kompakte Drüsen, die weiblichen Geschleehtsdrüsen als Ovarien, Keimdotterstöcke oder Keim- und Dot- terstöcke entwickelt. Die Geschlechtsdrüsen sind von einer beson- dern Tuniea propria gegen das Parenchym abgegrenzt. Pharynx stets vorhanden und sehr mannigfaltig gebaut. Ein Otolith fehlt den meisten Formen. Alloiocoela. Darmrohr und Parenchymgewebe gesondert, aber die Leibeshöhle durch starke Entwicklung des letztern sehr reduzirt. Mit Nervensystem und Exkretionsorgan. Geschlechtsorgane herma- phroditisch mit follikulären Hoden und paarigen, als Ovarien, Keim- dotterstöcke oder getrennte Keim- und Dotterstöcke ausgebildeten weib- liehen Drüsen. Die beiden Dotterstöücke sind unregelmäßig lappig, selten teilweise verzweigt. Die Geschlechtsdrüsen entbehren zumeist sämtlich einer besondern Tunica propria und sind in die Lücken des Körperparenchyms eingelagert. Penis sehr einförmig und ohne oder mit wenig entwiekelten chitinosen Kopulationsorganen. Pharynx ein Ph. variabilis oder plieatus. Darm gelappt oder ein unregelmäßig aus- geweiteter Sack. Der spezielle Teil der Graff’schen Monographie enthält auf 292 Seiten Text die systematische Bearbeitung aller bekannten Rhabdo- eoeliden. Wir müssen gänzlich darauf verzichten, über diesen Teil im einzelnen zu referiren, da ein nur einigermaßen vollständiges Re- ferat viel zu umfangreich werden würde. Die Verwandtschaftsver- hältnisse der Familien werden in der allgemeinen Besprechung der Tribus, die der Genera in der allgemeinen Besprechung der Familien ausführlich erörtert. Die meisten Familien und Gattungen und ein großer Teil der Arten sind neu und sehr sorgfältig und unter steter Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. 207 Berücksichtigung aller anatomischen Charaktere umgrenzt. Die Spe- ziesbeschreibungen sind, wo es immer die Zahl der aufgefundenen Exemplare erlaubte, Muster von Vollständigkeit in der Darstellung und von Klarheit in den ikonographischen Erläuterungen. Die Synonymik ist mit einer beinahe peinlichen Gewissenhatftigkeit durchgearbeitet und bei jeder der 268 bekannten Arten ist alles, was über dieselbe über- haupt bekannt geworden ist, bis auf die kleinsten Einzelheiten über- sichtlich zusammengefasst. Den Schluss des großen Werks, das sich zweifellos an die schönsten und sorgfältigsten anatomisch - systema- tischen Monographien ebenbürtig anreiht, bildet ein alphabetisches Verzeichniss der Fundorte und Lokalfaunen. Lang (Neapel). Zur Biographie der nördlich gemässigten und arktischen Länder. (Schluss.) Können wir die arktischen Länder in eine eireumpolare „arkti- sche Provinz“ zusammenfassen und werden wir in gewisser Be- ziehung durch gleichmäßiges Vorkommen derselben Gattungen und Arten um den Nordpol herum sogar dazu genötigt, so trifft dies nicht auf alle Länder mit nördlich gemäßigtem Klima zu. Freilich erin- nert die nordamerikanische Fauna recht sehr an diejenige des ge- mäßigten Eurasien. Hier wie dort finden sich Katzen, Luchse, Bären, Wölfe, Füchse, Hirsche, Hasen und auf den ersten Bliek scheinen zwischen beiden bezüglich der Säugetiere wenig Unterschiede zu be- stehen. Doch bei genauerer Untersuchung findet man bald genug jederseits auch eigentümliche Säugetierformen heraus. In den ge- mäßigten Ländern von Eurasien, in der „paläarktischen Provinz“, sind an 20 Arten von Ziegen und Schafen heimisch, während in dem gemäßigten Nordamerika, der „nearktischen Provinz“, nur ein Schaf in den Rocky Mountains lebt (Wallace). Amerika hat ferner eigene Gattungen in Mephitis, Antilocapra und Aplocerus; drei Fünftel seiner Säugetierfauna machen Nagetierarten aus und es zeigt außer- dem zum Unterschied von dem östlichen Festland Anklänge an Süd- amerika (die „neotropische Provinz“). Von letzterm ist es wie- der durch zahlreiche Insektivoren (z. B. 15 Sorex-Arten) unterschie- den, welche diesem gänzlich fehlen. Von Vögeln sind ebenfalls ein Achtel südamerikanisch, wie die Vögel überhaupt in höherm Grade verschieden von dem östlichen Kontinentalkomplex ausfallen, als die Säugetiere. Noch mehr weichen im Osten und im Westen der nörd- lich gemäßigten Zone die Reptilien von einander ab; man denke nur an die Klapperschlangen und Iguaniden und an die zahlreichen geschwänzten Batrachier von Nordamerika. Von Fischen kommen viele Gattungen der paläarktischen und der nearktischen Provinz ge- 308 Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. meinsam zu; aber letztere ist durch eine reiche Ganoidenfauna vor jener ausgezeichnet. Auch die Molluskenfauna erinnert in Nord- amerika sehr an die paläarktische; nur haben sich dort die nämlichen Gruppen anders als in Eurasien entwickelt. Im nördlichen Europa und Asien herrscht die Helixgruppe Fruticicola vor, während dieselbe in Nordamerika nur spärlich vertreten ist; dagegen sind die Helix- gruppen Patula und Triodopsis hier außerordentlich formenreich. Außerdem fehlen in den nearktischen Ländern die Clausilien. Endlich zeichnet sich Nordamerika vor dem eurasischen Festland durch eine ganz überwältigende Entwicklung von Umio-Formen aus. Wir erwähnten, dass man in zoogeographischer Beziehung die gemäßigten Länder von Nordamerika als „nearktische Provinz“, die gemäßigten Länder von Europa und Asien aber als „paläark- tische Provinz“ zusammenfasse — eine Tatsache, welche als hin- länglich bekannt wol keiner weitern geschichtlichen Rückblicke be- darf. Doch wollen wir uns näher damit beschäftigen, wie diese zoo- geographischen Reiche nach Süden hin abzugrenzen seien, inwiefern sie mit den von der Pflanzengeographie getroffenen Eimteilungen über- einstimmen und wie man etwa innerhalb ihrer Grenzen Unterabteilun- gen anbringen kann. Die Nordgrenzen der nearktischen und paläarktischen Provinz ergeben sich von selbst aus den Südgrenzen der arktischen, insoweit man hier überhaupt von wirklichen „Grenzen“ sprechen kann. Aber auch nach dem Aequator hin sind die Umrisse wenigstens der paläarktischen Provinz leicht zu veranschaulichen. Denn hier ist es vornehmlich der ungeheure Wüstengürtel der „alten Welt“, wel- cher die gemäßigte Fauna und Flora von der tropischen scheidet. Im Osten dann, in Asien, steigt als riesenhafte Grenzmarke das Hi- malayagebirge zwischen beiden empor, und an dieses wiederum schließen sich andere Gebirge in einem nach Nordwesten offenen Bogen an, welche mit der Wasserscheide zwischen dem Amur und den südmanschurischen Küstenflüssen die von dem Atlantischen Meer nach dem stillen Ozean über Afrika und ganz Asien hinweg lang sich hinziehende Trennungslinie, oder besser gesagt Uebergangsregion, vervollständigen. In Nordamerika ferner lässt sich die Aequatorial- grenze der nördlich gemäßigten Lebewelt infolge der abgesonderten Lage dieses Festlands nicht minder leicht beschreiben. Es sind eben die Vereinigten Staaten, deren Südgrenze so ziemlich mit derjenigen der nearktischen Provinz zusammenfällt, nur dass man Florida botanisch wie zoologisch als subtropisch auffassen und der neotro- pischen Provinz, am nächsten also den westindischen Inseln, zu- rechnen muss. Im Innern von Mejiko schweift außerdem die Süd- grenze auf dem Gebirge etwas nach Süden aus, lässt sich aber leicht durch die Aequatorialgrenze der nordamerikanischen Koniferen und des Wolfs bestimmen. Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. 209 Während die Zoologen die nördlich gemäßigten Länder von Amerika einerseits und diejenigen des großen eurasischen Festlands anderer- seits in die zwei erwähnten großen Reiche, Provinzen oder Regionen zusammenfassen, hat Grisebach, dessen pflanzengeographische Ein- teilung im großen und ganzen ja allgemein von den Botanikern an- genommen worden ist, innerhalb der nördlich gemäßigten Zone weit zahlreichere Hauptverbreitungsbezirke unterschieden. Aber die Ge- samtheit seiner Florengebiete des gemäßigten Eurasien und Nord- afrika stimmt ebenso gut mit dem paläarktischen Reich der Zoologen überein, als die Summe seiner drei nordamerikanischen Florenbezirke mit dem nearktischen. Nur sein „chinesisch-japanesisches Gebiet“ in Ostasien greift nordwärts in die paläarktische Provinz der Zoologen in erheblicher Ausdehnung hinein. Und gerade hier in Ostasien haben auch die Zoogeographen noch nicht über die Feststellung der süd- lichen Grenzen der paläarktischen Provinz sich einigen können. Sela- ter!) rechnet an der Hand der Tatsachen, welche die geographische Verbreitung der Säugetiere und Vögel ergibt, Nordehina als „man- schurische“ und die japanischen Inseln als „japanische“ Subregion ganz zu seiner „paläarktischen Region“ und ihm folgt Wallace, welcher in seiner „manschurischen Subregion“ Japan, Nordehina und den untern Teil des Amurlandes verstanden wissen will. Freilich fügt letzterer schon hinzu, dass die Fauna von Japan eine Mischung von gemäßigten und tropischen Formen mit einem beträchtlichen Bruchteil eigentümlicher Arten darstelle2). E. v. Martens?) meint hingegen, „dass die Land- und Süßwasserschaltiere Japans und Chinas mehr mit den Formen des tropischen Asiens zusammenhängen“, wie anch Gloyne?*) die japanischen Landschneeken der Hauptsache nach asiatischtropisch nennt. Das japanische Reich als solches wird sich aber kaum als ein Ganzes entweder als paläarktisch, oder als asiatischtropisch bezeichnen lassen. Es stellt ein Uebergangsgebiet dar, welches in seinen nörd- lichsten Teilen (Yezo mit den nächsten Kurilen und der nördlichste Teil von Hondo [Nipon|) entschieden paläarktisch, in seinen südlich- sten (Shikoku und Kiushiu) entschieden asiatischtropisch ist. Es be- sitzt 40 bis 50 Säugetiere’), von denen 25 bestimmt als eigentümlich anzusehen sind. Schafe und Ziegen fehlen. Diese endemischen For- 1) P.L. Sclater, in Report of the XLV Meeting of the British Asso- eiation. Bristol 1875 (London 1876). Transactions of the sections. $. 85. 2) Wallace, Island Life. S. 371. 3) E. v. Martens, Die Weich- und Schaltiere. Leipzig-Prag. 1883. S. 228. 4) C.P.Gloyne, Remarks on the Geographical Distribution of the Terrestrial Mollusca. Quarterly Journal of Conchology. 1877. Nr. 13 und 14. 5) Wallace zählt40 (Island Life), Rein (Japan nach Reisen und Studien im Auftrage der kgl. preußischen Regierung dargestellt. Bd. I. Natur und Volk des Mikadoreiches. Leipzig 1881) gibt etwa 50 an, 14 910 Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. men aber zeigen teils tropische, teils paläarktische Verwandtschaft und teils sind sie in ihrem Charakter unbestimmt. Tropische Ver- wandtschaft zeigen davon südjapanische Formen, wie Jnuus speciosus, Pteropus dasymallus, Ursus Japonicus. Tropische Verwandtschaft zei- gen aber auch Formen, welche durch ganz Japan vorkommen, so be- sonders Cervus Sika), der auch noch auf Yezo vorkommt und dem Cervus pseudaxis von Formosa, allerdings wol auch dem Cervus man- suricus aus Nordehina, nahe steht und ferner Antilope (Nemorhedus) crispa, welche auf allen hohen Gebirgen Japans heimisch ist und nächste Beziehungen zu A. sumatrana von Sumatra und A. Swinhoei von Formosa hat. Ebenso schließt sich das japanische Schwein (Sus leucomystax) am engsten an 5. iaevanıus von Formosa an. Paläarkti- sche Verwandtschaft haben unter den eigentümlichen Formen erstens drei Marder, von denen aber wenigstens der eine (Mustela brachyura) nur im Norden vorkommt, ferner ebenso eine Fischotter (Lutronectes Whiteleyi), die man nicht mit unserer Lutra vulgaris L. verwechseln darf, dann Canis (Vulpes) Japonicus, welcher aber nicht mit unserm Canis vulpes identisch ist. Ein richtiges Uebergangsglied an sich ist z. B. der Yama-imu (Berghund), der japanische Wolf (Canis hodophylaz), welcher gleicherweise mit C. sumatranus vom Malayenarchipel und ©. alpinus von Sibirien verwandt ist. Andererseits ist ganz besonders ein Insektivore merkwürdig, Urotrichus talpoides, welcher einer sonst nur im nordwestlichen Amerika vorkommenden Gattung angehört. Manche halten ihn sogar für identisch mit dem nordamerikanischen N. Gibsü. Auch die andern japanischen Säugetierformen geben in ihrer Zu- sammenstellung ein Faunenbild von unbestimmtem Charakter. Die Fledertiere, von denen außer dem bereits erwähnten Pteropus keine Form eigentümlich japanisch ist, sind zur Hälfte tropisch, einige ge- hören nördlichen Typen an und eines ist chinesisch. Vier Sorex- Arten kommen in Japan vor, von denen eine tropisch, die andern aber endemisch sind. Eine Abart des nordischen braunen Bären, Ur- sus arctos var., welehe man wol auch fälschlich für den nordameri- Grizly hielt, gehört zwar wol der japanischen Fauna, aber nur Yezo an. Dieselbe kommt sonst auch im Amurland, auf Kamschatka und auf den Kurilen vor. Die sehr reichhaltige japanische Vogelfauna scheint in höherm Grade von paläarktischen Bestandteilen durchsetzt zu sein, als die Fauna der Säuger und der niedern Tiere. Nachtigallen (Cettia cantans) schmettern auch in Japan ihre Lieder und der Sperling (Passer 4) Es möge nicht unerwähnt bleiben, dass neuerdings Pere Heude erklärt hat, der gewöhnliche Hirsch von Yezo sei nicht Cervus Sika, sondern eine bisher unbeschriebene Art, für welche er den Namen CO. mansuricus minor Vor- schlägt. (Nature. Agril 26. 1883. S. 614). Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. 911 montanus) ist ein ebenso häufiger Gast als bei uns. Es fehlen auch in Japan die Häher, Elstern, Staare, Bachstelzen, Lerche und der Kukuk nicht. Wachteln, Birkhühner und Auerhühner kommen vor und die höchsten Teile der Gebirge bewohnt das Schneehuhn. Von Reptilien und Batrachiern kennt man etwa 30 Arten aus Japan und den anliegenden Meeren. Die marinen Formen (3 Schildkröten und 4 Seeschlangen) sind vollkommen tropisch, die Landfauna wie- derum ist in ihrem Charakter gemischt. So bildet alles zusammen ein wunderliches Gemisch von nördlichen, tropischen und selbst spe- zifisch amerikanischen neben eigentümlichen Formen, deren Gesamtheit an Artenzahl der Fauna des benachbarten Festlandes kaum nachstehen dürfte. Man kann W allace nur beistimmen, wenn er die Vermutung aus- spricht, dass die japanischen Inseln öfters bei verschiedenen Klimaten mit dem Festland in Verbindung gestanden und immer etwas von den überkommenen Formen aufbewahrt haben, zum Teil in nach und nach sich verändernder, zum Teil in unveränderter Form. In noch geringerm Grade kann man, wenn man von Yezo ab- sieht, von der japanischen Flora sagen, dass sie der unsrigen ähn- lich sähe. Der europäische und nördlich asiatische Wald besteht aus wenigen Baumarten, welche als echte soziale Pflanzen nur eine ge- ringe Zahl Sträucher unter sich dulden. Der japanische Laubwald dagegen ist aus einer großen Menge von Baum- und Straucharten zu- sammengesetzt. Schlinggewächse, Kletterpflanzen und Farne spielen eine größere Rolle und erinnern mehr an den tropischen Urwald. Neuerdings sind wieder Versuche gemacht worden, die Richtig- keit einer Trennung der gemäßigten Länder von Nordamerika einer- seits und von Eurasien andererseits als nearktische und paläarktische Provinz oder Region anzufechten. Heilprin!) betont, dass beide zu- sammen als Ganzes sich bedeutend besser von andern zoologischen Regionen unterschieden, z. B. von der neotropischen, äthiopischen (tropisches Afrika) und australischen, als beide gesondert von einander. Ganz gewiss stehen sie einander näher, als etwa die paläarktische Region und Australien; nur wenige aber werden dieser auf ein- seitigen Gesichtspunkten beruhenden Anschauung beipflichten wollen. Einmal dürfte es sich als empfehlenswert erweisen, zoologische und botanische Hauptverbreitungsgebiete mit einander möglichst in Ein- klang zu bringen und außerdem unterscheiden mannigfache Typen beide, die nearktische und die paläarktische Provinz, genugsam von einander. Ferner sprachen wir schon, wiederum in Uebereinstimmung mit der Ueberzeugung der Mehrzahl der Pflanzengeographen, die An- 4) Heilprin in Nature. April 26. 1883. S. 605. Heilprin nannte diese . Summe aller nördlich gemäßigten und arktischen Länder anfänglich „triark- tische“, dann „holarktische“ Region. 14 * 242 Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. sicht aus, dass die eirkumpolaren arktischen Länder als eine „ark- tische Provinz“ ausgeschieden werden müssten. Es fragt sich noch, wie man es mit den verschiedenen Inseln zu halten habe. Die Inseln im Osten des eurasischen Festlands be- sprachen wir bereits. Im Westen gehören Island und die Färöer- inseln vollkommen zu Westeuropa. Ihre Trennung vom Festland kann sich erst in neuerer Zeit vollzogen haben; denn ihnen gehört keine einzige Form aus dem Pflanzenreich oder aus der Tierwelt an, welche nieht auch auf diesem vorkäme. Großbritannien schließt sich ebenso in seiner Fauna und Flora vollkommen dem Kontinent an. Zwar machen sich hier unter den Fischen einige Eigentümlichkeiten geltend. Dieselben gehören aber sämtlich den Gattungen Salmo und Coregonus an, deren Neigung zur Bildung von örtlichen Spielarten und Misch- lingsformen bekannt genug ist. Interessant ist der Umstand, dass in den neusten Ablagerungen von Großbritannien drei ausgesprochen kontinentale Schneckenarten fossil vorkommen: Helix (Frutieicola) fruticum Müll., incarnata Müll. und Patula ruderata Stud. Wie sehr wird man dadurch daran erinnert, dass in neuern Epochen Groß- britanien mit dem Festland zusammengehangen hat, dass damals sein Klima weniger ozeanisch als heut gewesen ist, wo diese Schnecken in dem vollkommen ozeanisch gewordenen Land nach und nach aus- starben. Südwestlich von Europa liegen die atlantischen Inseln. Grise- bach bespricht alle ozeanischen Inseln — und als solche sind die atlantischen Inseln ja sicher anzusehen — besonders. Nichtsdesto- weniger wird sich aber auch der Standpunkt rechtfertigen lassen, ozeanische Inseln in die Grenzen desjenigen biogeographischen Reichs hineinzuziehen, mit welchem sie noch am ehesten verwandt sind. Fast erscheint dieses letztere auch als das Bessere. Denn einmal gibt es sofort einigen Aufschluss über ihre Lebewelt und dann trägt es bedeutend zur Klärung der Uebersicht des ganzen biogeographi- schen Erdprovinzensystems bei. Will man nun die atlantischen Inseln einer der großen Erdprovinzen zurechnen, so kann dies nur die palä- arktische sein. Will man das aber nicht tun, dann muss man auch aus jeder einzelnen der vier Gruppen (Azoren, Madeira, Kanaren und Kapverden) eine besondere Provinz machen. Denn die endemischen Formen einer jeden derselben überwiegen in allen Fällen an Zahl der gemeinschaftlich atlantischen, während beiden, wenigstens bei den Pflanzen, paläarktische Formen an Zahl überlegen sind. Rechnen wir sowol die atlantischen Inseln, als auch Yezo und Sachalin noch zur paläarktischen Provinz und fassen wir in dieser gleichzeitig Länder zusammen, welche wie Irland denkbarst ozeani- sches Klima haben und welche wie die Länder nordöstlich vom Bay- kalsee von allen Gebieten der Erde den am meisten ausgeprägten kontinentalen Charakter zur Schau tragen, so wird mancher zweifelnd Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. 215 fragen, ob die Vereinigung aller dieser Länder in eine einheitliche biogeographische Provinz auch wirklich gerechtfertigt sei? Der Prozentsatz an gleichen Arten, welche durch alle Länder von Norwegen bis nach Marokko oder von Irland bis nach Inner- asien, nach dem Amurland, nach Sachalin und Yezo hindurchgehen, ist innerhalb mancher Tierklassen und innerhalb der Pflanzen freilich klein genug; aber die Zusamenstellung der Gattungen bleibt im wesentlichen stets dieselbe. Sonst aber liefern besonders die Vögel einerseits und die Süßwasserschnecken andererseits auch eine immerhin ansehnliche Anzahl von Arten, welche überall in der palä- arktischen Provinz vorkommen !). Ferner sind „nicht wenige Familien „von Pflanzen überall in den vier Grisebach’schen Florengebieten zu „finden, welche zusammen der paläarktischen Provinz von Wallace „entsprechen und gewisse Spezies wachsen von Spanien und Skandi- „navien bis Armenien und bis zu den japanischen Gebirgen“ (Drude)?). Versuchen wir nun, das ungeheure Gebiet der paläarktischen Provinz in einzelne Regionen zu zerlegen, so werden wir dabei wol am geeignetsten von den Florengebieten ausgehen, wie sie Grise- bach aufgestellt hat. Das östliche oder das europäisch-sibirische Waldgebiet nimmt den Norden der paläarktischen Provinz durch deren ganze westöstliche Länge ein. Es reicht im Süden bis an die Pyrenäen und Alpen einschließlich dieser Gebirge, ausschließlich der französi- schen Mittelmeerküsten, umfasst noch das ganze Becken der untern Donau und umzieht dann in einem nach Norden ausgeschweiften Bo- gen die aralisch-kaspischen und innerasischen Steppen; von 80° ö. L. v. Gr. ab verläuft seine Südgrenze etwa mit dem fünfzigsten Parallel bis nach Sachalin. Keine regenlosen Zeiten schädigen das Wachstum der gesellig lebenden Waldbäume, unter denen die Laub- träger sämtlich ihr Laub wechseln, während die Vegetationszeit drei Monate mehr oder weniger überschreitet. Auch zoologisch kann man in gewisser Beziehung mit dieser Abgrenzung zufrieden sein. Nur werden wir von zoogeographischem Standpunkt aus einen solchen nörd- 4) Von charakteristisch paläarktischen Vogelgattungen seien hier Locu- stella, Pyrrhula und Emberiza erwähnt Großbritannien und das äußerste Ostasien haben etwa vierzig Vogelarten gemeinsam (darunter sehr bekannte und häufige Vögel, z.B. der große Würger, Nusshäher, Krähe, Rabe, Bergfink, Zeisig, Kernbeißer, Bachstelze, Schwarzspecht, Buntspecht, Kukuk, Wiede- hopf und eine Anzahl unserer gewöhnlichen Raubvögel). Die Süßwasser- schneckenfauna hat überall in der paläarktischen Provinz (allerdings zum Teil auch in Nordamerika und in der arktischen Provinz) eine Anzahl gleicher Arten der Gattungen Limnaea und Planorbis aufzuweisen, so besonders Lim- naea lagotis (Schrank) E. v.M., L. palustris Müll., L. truncatula Müll,, Planor- bis albus Müll. u. a. m. 2) Drude in: Geographisches Jahrbuch. Bd. VII. S. 168—169. 244 Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßgiten u. arktischen Länder. lichen Teil der paläarktischen Provinz, den wir hier germanische Region nennen wollen, nicht so weit nordwärts ausdehnen können, als dies Grisebach mıt seinem östlichen Waldgebiet tut. Wie wir bei Besprechung der arktischen Provinz bereits erwähnten, dürfte die Nordgrenze der germanischen Region mit der Polargrenze der dich- ten Wälder, des europäischen Getreidebaus und mit der Aequatorial- grenze des Rentiers zusammenfallen. In der arktischen Provinz mit ihren waldlosen oder nur mit schwachem und lückenhaftem Baum- wuchs bestandenen Gefilden weidet das Rentier; die dichten Wälder der germanischen Region bevölkern andere Cervus-Arten und die Te- traoniden, die Auer-, Birk- und Haselhühner. Fledermäuse treten auf, das Wildschwein erscheint von 55° n. Br. ab und Singvögel erfreuen in den diehten Laubholzbeständen das Ohr des Menschen. Wie weit aber reicht diese germanische Region nach Osten? Sollen wir sie, wie Grisebach sein östliches Waldgebiet, auch bis nach dem Amurland und nach der Insel Sachalin oder gar bis Yezo ausdehnen? Wir wissen das noch nieht gewiss. Es dürfte sich wol aber als geeigneter erweisen, das gemäßigte Ostasien als etwas Be- sonderes in dem System der Regionen der paläarktischen Provinz aufzufassen. Mit großer Sicherheit indess können wir unsere germa- nische Region ostwärts über den Ural hinaus verlängern, etwa bis an die Wasserscheide zwischen Ob und Jenissei, bis an die Ostgrenze der Verbreitung unsers Hamsters, des Cricetus fumentarius. Auch für niedere Tierklassen stimmt diese Verbreitungsgrenze gut überein, z.B. für die Mollusken und auch, wenn wir Motschulsky!) glauben wollen, für die Insekten. Jedenfalls muss man ganz aufhören den Ural als wichtige Grenzscheide ansehen zu wollen und man sollte darum auch aufhören, eine „europäische Fauna“ einer „asiatischen“ als etwas Geschlossenes gegenüberzustellen. Etwas Verfehlteres kann man sich kaum denken. Wenn wir sagten, dass die germanische Region in Europa durch die Hochgebirge gegen die Länder mit südlicherm Charakter abge- grenzt würden, so muss man sich dies indess nicht so vorstellen, als ob die Pyrenäen, Alpen und etwa gar auch der Balkan und Kau- kasus eine Grenzlinie in ihren höchsten Erhebungen bildeten. Vielmehr sind diese Hochgebirge besser als eigene biogeographische Regionen aufzufassen, welche allerdings mit dem Norden mehr Ver- wandtschaft haben, als mit dem Süden. Eigentümliche Charakter- züge aber weisen sie genugsam auf (Gemse, Steinbock, nur in den Pyrenäen Mygale pyrenaica u. 8. W.). Weitergehende Unterabteilungen werden sich innerhalb dieser ger- manischen Region vom allgemein biogeographischen Standpunkt kaum 1) Motehoulsky, Insectes de la Siberie. M&m. des Savants Etrangers. V. 1846. Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. 215 machen lassen; nur wird immer und überall in allen Klassen der Pflanzenwelt und des Tierreichs der allmähliche Uebergang deutlich von ozeanischem Klima zu kontinentalem, ein Klimawechsel, welcher besonders in der östlichen Verbreitungsgrenze der Rotbuche seinen Ausdruck findet. Nicht uninteressant ist die wol ebenso bekannte Tatsache, dass Osten und Westen dieser germanischen Region durch verschiedene Formen des beliebtesten unserer Singvögel, der Nachti- gall, sich bezeichnen lassen. Während Luseinia luseiola dem west- liehen Teil derselben angehört, lauschen die östlichen Völker den Liedern der L. philomela. Möglicherweise kann man einer solchen Teilung der germanischen Region in eine westliche und östliche Hälfte die Isotalantose (Linie der jährlichen Wärmeschwankung) von 20° zu srunde legen '). Die Länder um das Mittelmeer herum, Länder mit regenlosen Sommern und milden Wintern, das Gebiet des Oelbaums und der immergrünen Laubbäume, bezeichnet Grisebach als das Mittel- meergebiet. Auch in zoogeographischer Hinsicht müssen wir die Ausscheidung eines solchen als geboten anerkennen, ja es fehlt nicht an hervorragenden Zoologen, welche der Aufstellung einer ganzen großen paläarktischen Provinz abhold und mehr geneigt sind, die germanische Region, die Länder um das Mittelmeer, Innerasien und das gemäßigte Ostasien alle als gesonderte Verbreitungsprovinzen an- zusehen. Wenn diese Anschauung auch in mancher Beziehung ihre volle Berechtigung hat, zum Beispiel in bezug auf die Verbreitung der Landschnecken oder einiger anderer einzelner Tierklassen, so kommt bei dieser vielfältigen Einteilungsweise niemals die Gesamt- abgrenzung der gemäßigten gegen die tropischen Länder zum Aus- druck und dies hindert die allgemeine Uebersicht. Da nun das allgemeine Gepräge der Fauna genugsam für eine gewisse Zusammen- gehörigkeit der ganzen paläarktischen Provinz spricht und da beson- ders auch pflanzengeographische Beziehungen in der Gesamtausdeh- nung derselben nicht fehlen, so dürfte man besser an einer großen paläarktischen Provinz festzuhalten haben — nur die arktische eir- cumpolare Fauna und Flora muss man aus beiden, aus der paläark- tischen und aus der nearktischen Provinz, auszuscheiden sich ver- stehen. In der germanischen Region hatten wir es nur mit laubwechseln- den Laubbäumen zu tun, in der mittelländischen oder der Medi- terranregion sind die immergrünen Laubbäume (Lorbeer, Myrte, Oleander, immergrüne Eichen u. s. w.) bezeichnend. In jener sind charakteristisch die Igel, die karpfenartigen Fische und von den Insekten besonders die zu den Familien der Carabicinen und 4) Supan, Verteilung d. jährl. Wärmeschwankung auf der Erdoberfläche. Zeitschr. f. wissensch. Geographie. 1880. S. 141— 156. 946 Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. Staphylinen gehörigen Käfer. Unter den Landmollusken ist be- sonders die Helixgruppe Fruticicola bezeichnend, während die Rep- tilien und die Arachniden noch wenig entwickelt sind. Letztere beiden erreichen in der Mediterranfauna bereits einen erheblichen Formenreichtum, während unter den Helixgruppen Frutieieola zurück- tritt und dafür die Gruppen Pomatia, Macularia, Iberus, Xerophila — außerdem die Gattungen Buliminus und Clausilia sehr reich sich ent- faltet haben. Unter den Insekten nehmen die heteromeren Käfer als charakteristische Formen den ersten Rang ein, sodass sogar Sehmarda!) die Mittelmeerländer mit dem Namen „das Reich der Heteromeren“ belegte. Nach der ursprünglichen Auffassung von Grisebach sollte die Mediterranflora nach Osten hin nur die Küstenstriche von Vorderasien am Mittelmeer und am schwarzen Meer umfassen. Dies steht nicht im Einklang mit der Verbreitung der Arten der Gattung Rubus. Denu nach Focke?) gehen die europäisch-atlantischen Rubusformen durch ganz Vorderasien, also durch Kaukasien, Armenien und die Levante bis nach Kurdistan, Persien und Syrien — eine Erweiterung des Grisebach’schen Mittelmeergebietes, welehe jetzt wol auch die Mehr- zahl der Botaniker in anderer Beziehung als zutreffend anerkennt und welche auch für eine zoogeographische Ausdehnung unserer Me- diterranregion als zutreffend bezeichnet werden muss. Westlich von den Mittelmeerländern liegen die atlantischen Inseln, die Azoren, Madeira, die Kanaren und Kapverden. Von Grisebach als ozeanische Inseln keiner seiner kontinentalen Florengebiete zugerechnet, haben dieselben doch in floristischer Be- ziehung am meisten Verwandtschaft mit den gemäßigten Ländern Eurasiens, wofür folgende aus Grisebach’s eigenem Werk entnom- mene Tabelle als Beleg dienen möge. Parlmarnezzeen endemische atlantische europäische Azoren 40 36 etwa 420 Madeira 106 58 etwa 500 Kanaren 300 70 etwa 1000 Während sich die Azoren durch ihre ausgedehnten Lorbeerwälder besonders eng an die Flora der Mittelmeerländer anschließen, wei- chen die andern Gruppen je nach ihrer immer weiter nach Süden vorschreitenden Lage desto hochgradiger von derselben ab und das- selbe kann man von der Fauna sagen. Folgende zweite Tabelle möge dies wenigstens hinsichtlich der Mollusken klar verdeutlichen. 4) Schmarda, Geographische Verbreitung der Tiere. Wien 1853. 2) W. 0. Focke, Ueber die natürliche Gliederung und die geographische Verbreitung der Gattung Rubus. Engler’s bot. Jahrb. Leipzig 1880. Jordan, Zur Biogeographie d. nördlich gemäßigten u. arktischen Länder. 947 MrorWlVes ken endemische atlantische europäische Azoren nr 2, 10:9 40.9, Madeira ib, Gi, 18, Kanaren 84 „ De 1 Die Kapverden schließen sich in vieler Beziehung bereits an den Sudän an, während noch in St. Helena Anklänge an eine Zusammen- gehörigkeit mit den oben erwähnten atlantischen Inseln nicht fehlen. Zu diesen ozeanischen Inseln stehen in geradem Gegensatz die aralisch-kaspischen Steppen und die Länder von Innerasien. Während auf jenen die jährliche Wärmeschwankung nur 5—10 Grade beträgt, übersteigt sie hier in allen Fällen 25° und erreicht sogar östlich vom Baykalsee 45—50°. Haben wir es dort mit kleinsten Landbezirken inmitten eines großen Ozeans zu tun, so finden wir hier die entgegen- gesetzten Verhältnisse bei einem großen kontinentalen Ländergebiet inmitten des größten Festlands, inmitten von Eurasien. Im ganzen ist Innerasien waldarm; das „Steppengebiet“ von Grisebach, das „zentrale Hochasien, Reich der Equiden“ von Schmarda, entbehrt auf große Strecken hin sogar allen Waldwuchses. Wie dies in der teilweise herrschenden großen Regenarmut seinen Grund hat, so kann man bei letzterer auch keine reiche Fauna vermuten. Diese nun ist vor derjenigen der andern eurasischen, zur paläarktischen Provinz gehörenden Länder also auch vor allem durch das Fehlen derjenigen Tiere charakterisirt, denen reicher Waldwuchs Bedürfniss ist, z. B. durch das Fehlen der Hirsche. Diese werden durch An- tilopen (Antilope gutturosa und A. Hodgsonii) ersetzt. Schmarda nennt dieses Ländergebiet das Reich der Equiden, das Vaterland des Pferdes, des Dschiggetai und des Kulan oder wilden Esels. Ver- meiden wir den Ausdruck „Vaterland“, da der Equidentypus in Amerika in ältere Formationen als in der östlichen Hemisphäre hinaufreicht, so können wir diese Formen immerhin noch als bezeich- nende aufführen. Für den Westen dieser „zentralasiatischen Region“, für die Länder am schwarzen Meer, möge dann als Cha- raktertier die Saigaantilope und für das eigentliche innere Hoch- asien das wilde Kameel hervorgehoben werden. Die Vogelfauna ist durchaus paläarktisch., Denn Rebhühner, Hasel-, Steppen- und Sandhühner gehören neben den Trappen zu den gewöhnlichsten orni- thologischen Typen. Leider sind unsere Kenntnisse von diesen in- nersten Ländern des größten Festlandes der Erde bisher so lücken- haft geblieben, dass wir nur sagen können, der allgemeine Eindruck der Forschungsergebnisse lasse auf eine zwar arme, aber dennoch eigentümliche innerasiatische Fauna schließen. Erst die Zukunft kann den Schleier heben, weleher noch manche Teile derselben bedeckt. Herm. Jordan (Erlangen). 215 Kollmann, Muskelvarietäten als Spuren alter Herkunft des Menschen. Muskelvarietäten als Spuren alter Herkunft des Menschen. 1) Gadow H., Observations in comparative myology. Journ. of Anat. and Physiol. July 1882. S. 493—514. — 2) Krause W., Handbuch der menschlichen Anatomie. Hannover 1879. — 3) Roux W., Beiträge zur Morphologie der funktionellen Anpassung. Zweiter Artikel: Ueber die Selbstregulation der morphologischen Länge der Skeletmuskeln. Zeitschrift für Naturwissenschaft XVI. Neue Folge, IX. Bd. Jena, Fischer. 1883. Ein Blick in die anatomische Literatur zeigt, dass die Mittei- lungen über Muskelvarietäten beständig an Zahl zunehmen. Sie wer- den einst ein wichtiges Kapitel der Stammesgeschichte des Menschen bilden. Ein großer Teil derselben ist zweifellos theromorph und viele von ihnen geradezu pithekoid. Die endgültige Feststellung des Wertes Jeder einzelnen Varietät erfordert aber sehr eingehende vergleichend- anatomische Studien. Ohne diese Hinweise verlieren sie einen Teil des damit verknüpften Interesses; aber selbst mit diesen bieten sie zunächst nur ein wertvolles Material, das noch der Sichtung und Ver- wertung harırt. Die Zeit hierfür dürfte jedoch nicht mehr fern sein. Die vergleichende Myologie hat dabei eine der allerwichtigsten Rollen zu spielen und davon mag der Versuch Gadow’s ein Beispiel geben, der in der vorliegenden Abhandlung die Anordnung der Mus- keln an der hintern Extremität ins Auge fasst und die Homologien darlegt, welche von den Amphibien aus durch die Sauropsiden bis hinauf zu dem Menschen bestehen. Das ist ein sehr gewagtes Unter- nehmen bei dem heutigen Stand unserer Kenntnisse und Gadow be- trachtet es selbst nur als Versuch. Gleichwol ist selbst dieser Versuch in dieser Form der Beachtung wert, schon um der Methode und des Zieles willen, ‚welche hier wie in allen Wissenschaften in allererster Linie stehen. Die vergleichende Myologie geht sehr achtsam zu werke, um allmählich die Homologien festzustellen. Sie hat namentlich unter der Führung von Gegenbaur sich zur Regel gemacht, große Reihen von Formen zu untersuchen, um z. B. die Homologien zwischen den Muskeln einer Eidechse und denjenigen eines Salamanders festzu- stellen. Auf den ersten Bliek scheint es geradezu unmöglich, diese Aufgabe auch nur bezüglich eines einzigen Muskels zu lösen. Sobald man aber umfangreiche Reihen durchforscht hat, findet sich meist jede nur denkbare Varietät in der Form und in dem Verlauf der Muskeln. So lässt sieh dann ‘allmählich die ganze Reihe der Aen- derungen beurteilen, zurück zu den Vorfahren, möge man auch von dem höchsten Typus aus die Umschau beginnen wollen. Man hat sich daran gewöhnt, jene Muskelvarianten des Menschen, welche als Norm bei den Affen gefunden werden, pithekoid zu nennen, jene, welehe normalen Bildungen bei andern Tieren entsprechen, als thero- Kollmann, Muskelvarietäten als Spuren alter Herkunft des Menschen. 949 morph zu bezeichnen. Ein altes und beliebtes Kapitel der thero- morphen Bildungen (der Zusatz „des Menschen“ ist streng genommen ein Pleonasmus) bildete schon lange das der Gefäßanomalien, na- mentlich in dem Bereich des Aortenbogens. Von den Wiederkäuer- und Fleischfresservarietäten wurde in allen Sezirsälen mit großer Zuversicht gesprochen. Neuestens beschäftigen die theromorphen Bil- dungen an dem Schädel ziemlich lebhaft die Kraniologen. Offenbar liegt darin auch ein fruchtbarer Weg für die Stammesgeschichte des Menschen. Nur erfordert er größte Vorsicht. Man darf von thero- morphen und pithekoiden Zeichen „überhaupt“ reden soviel man will, nur hüte man sich, an irgend einem Volksstamm Europas mehr, bei einem andern dagegen weniger aufzuzählen. Die Kraniologen des betreffenden Landes, bei denen die Statistik etwas mehr findet, fühlen sich sofort persönlich getroffen und treten für ihre Nationalität auf den Plan. Dagegen kann man über die Völker „weit hinten in der Türkei“ in dieser Hinsicht noch sagen was man will. — Die Thero- morphie der Muskeln schwebt noch in keiner Gefahr dieser Art, doch droht auch ihr manche Bedrängniss. Es sind die Namen, die oft verhängnissvoll werden. Es ist naheliegend, dass bei dem innigen Zusammenhang der vergleichenden und der menschlichen Myologie die Bezeichnung überall eine einheitliche nach dem morphologischen Prinzip sein sollte. Das ist aber leichter gesagt als getan und auch hierfür hat Gadow ein offenes Urteil. Die Ansicht, dass für vergleichende Studien Namen nicht das geringste taugen, welche von der Form oder der Funktion der Mus- keln hergenommen sind, ist vollkommen gerechtfertigt. Wissenschaft- liche Myologie fordert morphologische Bezeichnungen und diese kön- nen nur vom Ursprung und Ansatz hergenommen werden; auch nicht von den Nerven, weil diese gerade nach den Muskeln bezeichnet wer- den sollen, die sie versorgen. Die erste Hälfte des Muskelnamens soll von dem Ursprung, die zweite mit einer Adjektivendung von dem Ansatz hergenommen werden. Man wird leicht verstehen, dass ein Musculus ischio -femoralis vom Os ischii entspringt und sich an dem Femur befestigt. Allein trotz solcher Wahl sind die Schwierigkeiten nicht gering. Denn da gibt es Fälle, wo der Name für die Muskeln eines Amphibiums durchaus nicht auf jene der Säugetiere oder Rep- tilien passt. Ueberdies gibt es Muskeln, welche selbst in einem und demselben Genus dem Variren so sehr unterworfen sind, dass es geradezu unmöglich ist, zweekmäßige Namen zu finden. Ueberdies werden dann solehe morphologische Namen wirklich abenteuerlich, wie z. B. Musculus epicondylo-fibulo-tibio-digitalis ventralis profundus, der in Wirklichkeit, so wie er dasteht, in der Literatur vorhanden ist. — Das sind wahre Wortungeheuer, welche zeigen, wohin die konsequente Anwendung dieses Prinzips führt. Da gibt es nun keinen andern Ausweg, als es bei den alten topographischen Namen bewen- 390 Kollmann, Muskelvarietäten als Spuren alter Herkunft des Menschen. den zu lassen und Bezeichnungen wie M. tibialis anticus und peroneus noch ferner selbst vom morphologischen Standpunkt aus anzuerkennen. Die vergleichende Myologie kann heute bereits verschiedene Formen aufführen, welche die Differenzirung eines Muskels auf dem Wege fortschreitender Entwicklung durchmacht; nämlich: 1) Der Hauptmuskel zerfällt in ein proximales und in ein distales Segment. 2) Die Muskelmasse spaltet sich in übereinanderliegende Schichten (Bauchmuskeln). 3) Längsteilung von Muskeln. 4) Entstehung eines neuen Muskels durch Verschmelzung zweier ursprünglich getrennter (Musculus glutaeus posterior, M. tensor fasciae latae bei den Kurzflüglern). 5) Aenderung der Form und Lage eines Muskels durch Verschie- bung des Ursprungs und Ansatzes. Vergleicht man von morphologischer Grundlage aus die Muskeln der Reptilien mit denen des Menschen, so wird ersichtlich, was im Verlauf der Stammesgeschichte aus den Muskeln der erstern gewor- den ist. Vergleicht man wiederum diese mit denen der Urodelen, so lässt sich beurteilen, was aus diesen im Lauf der Zeit geworden. Man sieht Vergangenheit und Zukunft nebeneinander. In einer Tabelle, die wir der Wichtigkeit des Gegenstandes wegen auf S.221 folgen lassen, stellt Gadow die Muskeln der hintern Hälfte des Vertebratenkörpers bezüglich ihrer allmählichen Differenzirung und zwar von Urodelen, Reptilien, Vögeln und von dem Menschen neben- einander. Es soll aus ihr hervorgehen, in welche Muskeln die pri- märe Muskelmasse der seitlichen Körperwand sich in diesen großen Abteilungen differenzirt hat. Die Anuren sind in diese Vergleichung nicht aufgenommen, weil die Differenzirung so verschieden ist, dass dadurch das Verständniss der höhern Tiere nur erschwert würde. In mancher Hinsicht ist nämlich die Muskulatur des Frosches höher differenzirt, als die des Menschen. Aus dieser Uebersicht ergibt sich folgendes: 1) Die Zahl der Muskeln der Kreuz- und Beckengegend (Ab- teilung B der Tabelle) wächst beträchtlich von den Urodelen an durch Reptilien und Vögel hinauf bis zu dem Menschen, und zwar je um 11, 15, 18 und 21 verschiedene Muskeln. Wie die Tabelle ferner er- kennen lässt, rührt die Zunahme bei den höhern Wirbeltieren von der Teilung der in der vorausgehenden Gruppe schon vorhandenen Mus- keln her. Es ist besonders die Muskelgruppe B, welche bei der nächst höhern Tierklasse vermehrt wird. Dabei tritt eine andere Tatsache in den Vordergrund, die von hohem Interesse ist. Je höher wir in der Reihe gelangen, desto mehr nimmt die Zahl der von zwei verschiedenen Nerven versorgten Muskeln ab (schon bei den Ratiten). Bei dem Menschen ist normaliter nur der Adductor magnus von dem Kollmann, Muskelvarietäten als Spuren alter Herkunft des Menschen. 221 Muskelstratum | RN - der Körperwand, | = | Urodelen. Reptilien. | Vögel Mensch. |o|lo|s | el2|0 | Pie|s | «als | | | | -- M. obliquus abdominis externus. E Serrati |Serrati+ scaleni. E : Intercostal. ext. Intercost. ext. et longi. = + ee Quadrat. lumb. ? Quadrat. lumbor. ef > ‚Intercost. int. + ilio-psoas. R |Scalares Intercostales interni. < = Obliquus abdominis internus + Transversus abdominis. Iliac. ext. med. - 2% et anterior. Glut. med. et £ En Ilio - femoralis. Iliac. ext. post. | minimus (pt.) = Glutaeus ant. = Be pre . g Extens. ilio-tib. [Tensor vaginae = an en + ten. fasc. lat. femoris. 3 + Dio-tibialis. 1 omlien: Ambiens Rect. int. fem. S und pubi-tib Sartorius NUDE Si “ \/Glutaeus post. |Sartorius. SE = Femoro-tibialis. Mm, vasti. © © + rect. fem. int. + crureus. BR ar = Dlio - fibularis. © _ b : 1 } $ +[Pubi - ischio- ( Pub.-isch.-fem. Dieepae.L Slür. 3 femoralis in- }. maximus (pt.) = Kr int.pars I+ I. Pectineus. re : pars II. Diacus int. Ilio-psoas ? & E Pübiz.ischio- en Pub. isch, fem. |Obtur. extern. 22 femoralis EL, (pt.) : ; Estermis Pub.-isch.-fem. ( | Obturator. Gemelli fe} E ae 5 posterior. Quadrat. fem. = Obtur. inter. = i Pub. isch. fem.|Adduet. longus. = + Ischio-femoralis (pt.) > brevis. = n + ischio-fem. = magnus, + Pub.-isch.-tib. |Pub.-isch.-tib. Gracilis. \ + pubi-tibialis. |(nur bei Eidech- Sen.) 4 eaudi-femoral. |[caud. isch. il. [Pyriformis. = see mer | caudi-ilio-fem. | fem. = + caudal -pubi- Flex. tib, ext. jcaud. il. flex. Glut. max. (pt. = ischio - tib. + Semitendin.) o + ischio -flexor. Flex. tib. int. |ischio-fex. Semimembran. Die fett gedruckten Muskeln haben Innervation von verschiedenen Nerven- geflechten. 2399 Kollmann, Muskelvarietäten als Spuren alter Herkunft des Menschen. Plexus cruralis und ischiadieus versorgt. So zeigen die Muskeln, dass auch sie in strenger Reihenfolge Schritt für Schritt auf dem Wege zu höherer Entwicklung gerade so wie der ganze Organismus weiter schreiten. Die Muskelvarietäten des Menschen sind also zum Teil atavistische Erscheinungen und nehmen von diesem Standpunkt aus eine hervor- ragende Stellung ein. Neuerdings beginnen sie auch für die Morpho- logie der funktionellen Anpassung wertvoll zu werden. Eduard Fr. Weber wies nach, dass den Muskeln eine physiologisch bestimmte Länge zukomme und zwar schwankten die gefundenen Zahlen für eingelenkige Muskeln zwischen 47 und 62°/, Verkürzungs- größe. W. Roux zeigt jetzt, dass auch die Varietäten dieser Regel streng unterworfen sind. Durch den Weber’schen Satz war erkannt worden, dass es eine ziemlich genau physiologisch bestimmte normale Muskellänge gibt. Damit war auch zugleich die Möglichkeit gegeben, weiterhin zu fra- gen, wie sich der Muskel in bezug auf seine Länge verhält, wenn die Beweglichkeit der Gelenke sich ändert; ob eine wirkliche Regulation sich kundgibt in der Art, dass einige Zeit nach der Aenderung der Beweglichkeit der Muskel unter vollkommener Anpassung an die neue Bewegungsgröße wieder den frühern Verkürzungskoeffizienten erlangt. Den Chirurgen ist es eine geläufige Erfahrung, dass die Muskeln sich in hohem Maße an wiedererlangte oder erst nachträg- lich erlangte größere Beweglichkeit der Gelenke anzupassen vermö- gen, dass sie nach der Operation von Ankylosen, veralteten Luxa- tionen, Klumpfüßen ete. fähig werden, die Bewegungen in dem wünschenswerten Maß auszuführen. Man wäre zu erwarten berechtigt, dass in den Muskelvarie- täten, also in Fällen, wo das Bildungsmaterial der Muskeln von seiner normalen Richtung oder Stelle abgelenkt worden ist und dabei zumeist nicht willkürlich gebraucht wird, dass hier die Muskelbündel ganz beliebige, gar nieht mit der Beweglichkeit der Anheftungspunkte in bestimmter Korrelation stehende Längen haben würden. Allein die Bestimmung ergab, dass die Bündel eines und desselben variir- ten Muskels, welche an verschieden beweglichen Sehnen sich in- seriren, ganz denselben oder fast ganz denselben Verkürzungskoeffi- zienten haben. Die durch das W eber’sche Gesetz bestimmten Längen- verhältnisse erfahren keine Aenderung durch Verwerfungen der Muskelfasern auf den Verbindungslinien der Ursprungs- und Inser- tionspunkte. Die Verwerfungen sind manchmal sehr beträchtlich und können so weit gehen, dass Muskeln, welche normal blos eine Sehne haben, total oder blos in einigen ihrer Bündel zwischen zwei Sehnen gelagert sind oder auch den Platz von Sehne und Muskel vollkommen verwechseln, wie dies beim Pronator quadratus, beim Palmaris longus und andern Muskeln nicht selten beobachtet wird und schon wieder- Behrens, Der Farbensinn des Wasserflohs. 2953 holt beschrieben ist. Es sprechen sich vielmehr auch in der Beschaf- fenheit dieser Zufallsgebilde sehr bestimmte Regeln aus, welche streng eingehalten werden. Wir führen nur die folgenden an: Mus- kelfaserbündel eines variirten Muskels, welche in Sehnenfasern von gleicher Beweglichkeit übergehen, sind gleich lang. Damit ist das Interesse für die Muskelvarietäten noch von einer weitern Seite wachgerufen und man wird den Dienst anerkennen, den W. Krause durch die Aufnahme der Varietäten in sein Hand- buch der menschlichen Anatomie der Wissenschaft geleistet hat. Er hat sie übersichtlich in einen Abschnitt zusammengefasst, der die stattliche Zahl von nahezu 200 Seiten umfasst, obwol die Behandlung der Varietäten der Knochen, Muskeln, Eingeweide, Arterien u. s. w. an Knappheit nichts zu wünschen übrig lässt. Zu den vergleichend anatomischen Hinweisen kommt noch ein Vorzug, den wir hier her- vorheben wollen, die kritische Verwendung der anatomischen Statistik oder der Massenuntersuchung, um die Ausdrücke „öfter“, „manchmal“, „mitunter“ u.s. w. zahlenmäßig festzustellen. Denn auch diese Seite der theromorphen Bildungen wird bei dem Abwägen ihres Wertes für die Stammesgeschichte des Menschen einst eine Rolle spielen. J. Kollmann (Basel). Der Farbensinn des Wasserflohs. Der Farbensinn des Wasserflohs (Daphnia pulex De Geer.) bildete den Gegenstand eines am 19. April d. J. von Sir John Lubbock vor der Lin- nean Society gehaltenen Vortrags. Während Paul Bert sich durch seine Versuche über die Lichtempfindung des Wasserflohs zu der Ansicht gedrängt gesehen hatte, die Lichtgrenzen dieses Tiers für dieselben wie die des Men- schen, rot an einem, violett am andern Ende des Spektrums anzusehen, hatte Lubbock dann im Gegensatz dazu, durch wiederholte Versuche veranlasst, seine Meinung dahin ausgesprochen, dass die Daphnien noch ultraviolette Strahlen, welche unsere Augen nicht mehr erkennen können, zu sehen im stande seien. Merezkowski, der ebenfalls Versuche zur Klarstellung dieser Verhältnisse ausgeführt hatte, meint, dass die Tiere, wenn sie gelbe Strahlen den andern vorziehen, dies nur aus Vorliebe für die größere Helligkeit der- selben tun, aber nicht etwa durch ihr Farbenunterscheidungsvermögen getrieben. Neuerdings hat nun Lubbock, um endlich in diese Sache Licht zu bringen, nochmals zahlreiche Versuche dieser Art angestellt, deren Resultate er in dem erwähnten Vortrag der Gesellschaft darlegte Zu diesen Versuchen setzte er etwa fünfzig Daphnien in 1 Zoll hohe, 8 Zoll lange und 3 Zoll breite Por- zellantröge, auf welche er in einem verdunkelten Zimmer ein elektrisches Spektrum so fallen ließ, dass auf einer Seite einer bestimmten Linie das Licht gleich stark war. Er beobachtete dann, dass die größere Zahl der Tiere das grüne Ende des Spektrums dem roten vorzog. Von den weitern Versuchen sei hier nur noch einer erwähnt, bei dem er die Versuchstiere in vier Trögen unterbrachte, von denen der erste zur Hälfte mit einer gelben, der zweite mit einer grünen Lösung, der dritte halb mit einer Platte von mattem Glas be- deckt war, während der vierte in seiner einen Hälfte durch einen Spiegel noch besondere Beleuchtung empfing. Es sammelten sich dann in den beiden ersten 294 Schneider, Begattung der Knorpelfische. Trögen die meisten Tiere unter den Lösungen, im dritten hielt sich die größere Menge unter der freien, im vierten in der stärker beleuchteten Hälfte auf. Bedeckte man die Tröge zum Teil mit roten oder blauen Lösungen, so be- gaben sich die Tiere stets in den unbedeckten Teil. Will man nun annehmen, dass die Lichtstrahlen, wie es wahrscheinlich ist, bei diesen Tieren wie bei uns Lichtempfindungen hervorrufen, so kommt man durch diese Versuche zu der Ueberzeugung, dass die Daphnien nicht blos verschiedene Helligkeitsgrade des Lichts, sondern auch verschiedene Farben- nüancen unterscheiden !). H. Behrens (Halle). 1) Vergl. Nature. Apr. 26. 1883. 8. 618 und Biol. Centralbl. Bd. II Nr. 4 (D. Red.). Schneider, Begattung der Knorpelfische. Nach Bolau, welcher die Begattung der Knorpelfische zuerst beobachtete, wird bei diesem Vorgang das eine der beiden Begattungswerkzeuge (Pterygo- podium nach Petri) des Männchens in die weibliche Geschlechtsöffnung einge- führt. Aus der nahen Berührung beider “eschlechtsöffnungen schließt Bolau auf unmittelbare Ueberführung des Samens in die weibliche Kloake. Das Pterygopodium sollte dabei, wie auch Petri meint, nur die Uterusmündung zu erweitern haben. Nun schließt das Pterygopodium aber einen von einer dich n Schicht quer- gestreifter Muskelfasern umgebenen Sack ein, dessen Wände bei einigen Pla- giostomen ein Sekret ausscheiden, bei andern eine große Drüse enthalten. Schneider hält dies für ein Receptaculum seminis, da er bei Spinax Acan- thias Samen darin gefunden hat. Er meint darum, dass, nachdem dieses Recept. seminis mit Samen sich gefüllt hat, mit Hilfe des in den Uterus ein- geführten Pterygopodiums die Besamung des Weibchens stattfinde. Unbekannt ist noch die Art der Begattung bei den Holocephali, Callorhyn- chus und Chimaera. Bei diesen befindet sich jederseits vor dem Pterygopodium ein sehr verwickelt gebautes Organ, welches aus einer Tasche mit mehrern knorpligen, hervorstreckbaren und mit Widerhaken versehenen Stücken be- steht. Diese Tasche fand S. bei Callorhynchus mit Samen gefüllt, sodass man also auch für die Elasmobranchier die Ueberzeugung gewinnt, dass der Samen vor der Begattung nach außen gebracht wird. (Zoolog. Beiträge. Herausgegeben von Dr Anton Schneider Bd.I Hft.1 S. 61). Im Verlage von Eduard Trewendt in Breslau erschien soeben und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen: Die Spaltpilze. Nach dem neuesten Standpunkte bearbeitet von Dr. W. Zopf, Privatdocent a. d. Universität in Halle a. S. Mit 34 vom Verfasser selbst auf Holz gezeichneten Schnitten. Preis 3 Mk. Nicht nur Botanikern von Fach, auch Medieinern und Physiologen sei dieses alle neuern Forschungen über die Bacterien kurz zusammenfassende Buch empfohlen. Mit einer Beilage der Buchhandlung von Rudolf Barth in Aachen. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Oentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Inhalt: Trelease, Ueber Kreuzungseinrichtungen einiger Pflanzen. — Just, Ueber die Möglichkeit, die durch Pflanzen verarbeitete Kohlensäure durch Kohlen- oxydgas zu ersetzen. — Solger, Ueber Lebensverhältnisse der Spongien. — Kowalewski, Beiträge zur Naturgeschichte der Oxytrichinen. — Nasse, Chemismus der Muskelsubstanz. — Püöhl, Bildung des Peptons außerhalb des Verdauungsapparats. — Wollny, Elektrizität bei der Pflanzenkultur. — Zopf, Die Spaltpilze. William Trelease, On the structures which favor cross- fertilization in several plants. Proceed. of the Boston Soc. of Nat. Hist. Vol. XXI. March. 15. 1882. Verf. beschreibt zehn verschiedene Pflanzenarten in bezug auf ihren Blütenmechanismus, nämlich die auch in Europa häufige Lemna minor nach im Zimmer gehaltenen Exemplaren und neun andere in den außereuropäischen Erdteilen einheimische Arten nach Exemplaren des botanischen Gartens zu Cambridge, Mass. Durch direkte Be- obachtung wurde die natürliche Kreuzungsvermittlung also in keinem der erörterten Fälle ermittelt. Doch dürften einige der mitgeteilten Tatsachen wol von allgemeinerm Interesse sein. Die scharlachroten Salbeiarten Brasiliens (Salvia splendens, ful- gens, coccinea ete.), die zum Teil auch unsere Gärten schmücken, wur- den schon früher als Kolibriblumen betrachtet. Allgemein sprach zu- erst Delpino diese Vermutung aus!), nachdem Fritz Müller mehrere derselben tatsächlich sehr häufig von Kolibris besucht ge- sehen hatte?). Trelease sah dann auch in den Vereinigten Staaten Salvia splendens vom „ruby throat“ (= Trochilus colubris Wils.? Ref.) besucht und wies die Blüte dieses Salbeis als der Kreuzung durch Kolibris angepasst nach®). Im vorliegenden Aufsatz sucht nun Verf. 1) Delpino, Ulteriori osservazioni P. I. fasc. II. p. 255. 2) H. Müller, Befruchtung der Blumen. S. 325. 3) American Naturalist. Jan. 1881. p. 11—15. 15 226 Just, Kohlensäure und Kohlenoxyd bei Pflanzen. den gleichen Nachweis auch von zwei andern scharlachroten Salbei- arten des tropischen Amerika (Salvia gesneriaefolia und $. Heerii) beizubringen. Von den zahlreichen Erica-Arten des Kaps sind nach dem Verf. manche wie unsere Erica tetralix den Bienen, andere wie unsere E. carnea den Faltern, noch andere aber den Honigvögeln angepasst. Eine australische Labiate endlich, Westringia rosmariniformis, ist dadurch merkwürdig, dass zwei ihrer Staubfäden sich aus der Blüte vorstrecken und statt der Antheren Anker tragen, an denen die be- suchenden Bienen mit den Krallen ihrer Vorderbeine sich bequem festhaken, also buchstäblich „vor Anker legen“ können. Hermann Müller (Lippstadt). L. Just, Ueber die Möglichkeit, die unter gewöhnlichen Verhält- nissen durch grüne beleuchtete Pflanzen verarbeitete Kohlensäure durch Kohlenoxydgas zu ersetzen. Forsch. a. d. Geb. d. Agrikulturphysik, herausg. v. Wollny. Bd. V. Heft 1u.2. D.160 72. Nach einer von Baeyer 1870 aufgestellten Hypothese sollte die Bildung von Kohlehydraten in der Pflanze in der Weise vor sich gehen, dass im Chlorophylikorn unter Einfluss des Sonnenlichts CO, in CO + O gespalten werde, CO unter Aufnahme von H, in Form- aldehyd übergehe und dieser unter Einfluss des Zellinhalts sich in Zucker verwandle. Zur Prüfnng dieser Hypothese hatte Stutzer Keimpflanzen von Brassica und Triticum die Kohlensäure zu entziehen und durch Beimischung von 3—4 Prozent CO zu der den Pflanzen gebotenen Luft zu ersetzen versucht. Da die Pflanzen keine neuen Blätter bildeten, so schloss er, dass die Assimilation des Kohlenstoffs nicht in der von Baeyer angedeuteten Weise stattfinde. Dem gegenüber weist Verf. darauf hin, dass alle Nährstoffe den Pflanzen in weitgehender Verdünnung dargeboten werden müssen, dass also vielleicht durch die 3—4 Prozent CO in der Atmosphäre die Pflanzen so geschädigt wurden, dass sie das Kohlenoxyd nicht mehr verarbeiten konnten. Verf. kultivirte auf Nährlösung schwimmende Azolla caroliniana und Lemna gibba. In atmosphärischer Luft mit gewöhnlichem Gehalt an CO, vegetirend, ergaben die Versuchspflanzen beträchtliche Zunahme des Frischgewichts wie des Trockengewichts, und die Zellen enthielten reichlich Stärke. In kohlensäurefreier Luft wachsende Pflanzen dagegen und in ganz gleicher Weise auch die- jenigen, welche in kohlensäurefreier Luft wuchsen, der man !/,, Pro- zent CO und in allmählicher Steigerung bis 1 Prozent CO zugesetzt Solger, Ueber Lebensverhältnisse der Spongien. 37T. hatte, hatten zwar eine geringe Steigerung des Frischgewichts er- fahren, aber das Trockengewicht wies deutliche Abnahme auf; die Zellen enthielten nur noch geringe Spuren von Stärke und waren äußerst arm an Inhaltsstoffen. Achnliche Resultate ergaben Versuche, bei denen die Pflanzen größere Mengen CO erhielten. Verf. hält dem- nach für zweifellos festgestellt, dass Kohlenoxydgas, grünen Pflanzen von außen dargeboten, von denselben nicht verarbeitet wird. Die Baeyer’sche Hypothese sei damit zwar noch nieht widerlegt, denn nach derselben sei ja das Kohlenoxyd im Chlorophylikorn im Status nascendi, aber sie verliere mit den negativen Versuchsergebnissen an Wahrscheinlichkeit. Trotzdem könne der Prozess der Kohlehydrat- bildung ein ähnlicher sein. Man könne mit Reinke annehmen, dass im Moment der Absorption aus CO, und dem in den Zellen enthal- tenen Wasser sich der Körper CO,H, (Kohlensäure) bilde, aus diesem könne unter Ausscheiden von O, direkt der Formaldehyd COH, ent- stehen und aus diesem genau in der Weise, wie es sich Baeyer denkt, durch Synthese Kohlehydrate hervorgehen, wol zunächst der Traubenzucker nach der Formel 6 (CH,0) = C,H,,0,. Und diese Vermutung gewinne dadurch an Wahrscheinlichkeit, dass es Reinke neuerdings gelungen sei, in assimilirenden grünen Pflanzenteilen eine aldehydartige Substanz nachzuweisen. Eine nebenher angestellte Reihe von Versuchen führt den Verf. zu dem Resultat, dass Kohlenoxydgas auf Lemna-Pflanzen erst dann schädlich wirke, wenn es in der die Pflanzen umgebenden Atmosphäre mehr als 10 Prozent ausmache. Ed. Seler (Krossen). Ueber einige der anatomischen Untersuchung zugängliche Lebens- erscheinungen der Spongien. Es gehört zu den reizvollsten Aufgaben der anatomischen For- schung, die Organe und Gewebe in den verschiedenen Phasen ihrer Tätigkeit und ihrer Ruhe zu studiren und so den jeweiligen anatomi- schen Ausdruck für die wechselnden Zustände festzustellen. Für eine Anzahl von Geweben und Organen der Wirbeltiere — ich erinnere nur an die Untersuchungen verschiedener Forscher über die Niere, die Speichel- und Magendrüsen der Säuger — ist dies auch bereits ge- schehen. Spärlicher sind die Tatsachen, die nach der bezeichneten Richtung hin bei Wirbellosen ermittelt wurden. Daher wird eine Be- trachtung der tierischen Organismen, die, von den untersten Formen beginnend, allmählich zu den höchsten aufsteigt, von dem angegebenen Gesichtspunkt aus durchgeführt, wol am Platze sein. Das Ziel der- selben ist die genauere Erforschung der Lebenserscheinungen einzelner 15? 298 Solger, Ueber Lebensverhältnisse der Spongien. Tiergruppen und der zunehmenden Komplikation der Vorgänge in der Tierreihe. Die Fragestellung ist also ursprünglich eine rein physiologische; allein zur Lösung der gewaltigen Aufgabe müssen anatomische Methoden sich mit den physiologischen zu gemein- samer Arbeit verbinden. In diesem Sinne also ging ich daran, die Leistungen einer Anzahl von Forschern auf einem Gebiete zusammen- zufassen, das freilich der soeben charakterisirten Art und Weise ana- tomischer Forschung nicht allzuviele Seiten bietet, aber zum Aus- gangspunkt doch nicht ungeeignet erschien. Und raubt eine allzu- strenge Beurteilung derselben mir nicht den Mut, so gedenke ich in der Folge auch die übrigen Gruppen der Wirbellosen und schließlich der Wirbeltiere von gleichem Gesichtspunkte aus durchzugehen, um, soviel ich eben vermag, die Fühlung herzustellen zwischen den beiden Schwesterdisziplinen, der Morphologie und der Physiologie, die ja bei aller Verschiedenheit der Ziele und Wege „einander doch im Auge behalten“ müssen (Gegenbaur). Hoffentlich kann ich dann hie und da auch von eigenen Untersuchungen reden. — Wer es etwa unlogisch finden möchte, mit den Spongien statt mit den Protozoen zu beginnen, dem gebe ich zu bedenken, dass diesen Organismen gegenüber bei der wenig oder gar nicht durchgeführten Arbeitsteilung und dem Man- gel von Geweben oder Organen (höherer Ordnung) unsere Betrach- tungsweise sich sehr wenig fruchtbar erwiesen hätte. Dass ich da- mit die hohe Bedeutung, welche der Kenntniss jener Klasse nament- lich für die Einsicht in das Wesen der Zelle und des vielzelligen Organismus, der Fortpflanzung und der Vererbung zukommt, verkenne oder nicht genügend würdige, wird man aus meinem Verfahren hoffent- lieh nicht ableiten wollen. (Entodermale Geißelzellen und Geißelkammern). Wer ausschließlich auf vergleichend anatomische und entwicklungsgeschicht- liche Gründe gestützt sich eine Meinung von der Funktion der geißel- tragenden Entodermzellen der Spongien zu bilden sucht, wird leicht dahin kommen, ihnen unbedenklich eine nutritive oder auch eine nu- tritive und zugleich respiratorische Leistung zuzuschreiben. Mit der Aufnahme von Nahrungsstoffen im engern Sinne, äußert sich z. B. Pagenstecher, ist die Aufnahme von Sauerstoff und Wasser ver- bunden. „Nahrungsstrom und Atemstrom sind nicht geschieden.“ Die Asconen, bei denen ja die Epithelauskleidung der Haupthöhle des Körpers durchweg von denselben Elementen, dem „nutritiven Geißel- epithel“ Häckel’s geliefert wird, würden demnach nicht nur morpho- logisch, wie dies Häckel in seinem fundamentalen Werke „Die Kalkschwämme“ so überzeugend dargetan hat, die primitivsten Zu- stände repräsentiren, sondern auch physiologische Verdauung und At- mung würden in einem und demselben Hohlraume, der „Magenhöhle“ Häckels, vor sich gehen, und zwar in den verschiedenen Bezirken desselben in gleicher Weise, ohne Andeutung einer Arbeitsteilung. Solger, Ueber Lebensverhältnisse der Spongien. 229 Aber gerade unter den Asconen treten schon Anfänge von Arbeits- teilung und Funktionswechsel hervor, die bei den übrigen Gruppen der Kalkschwämme und weiterhin der Horn- und Kieselschwämme zu noch viel weiter gehenden Differenzirungen Anlass gaben. So fun- girt bei manchen Asconen die „Magenhöhle“* auch als Brutkapsel (Häckel), z. B. bei Ascetta clathrus und Ascetta primordialis. Bei den Leuconen sodann und bei den Syconen hat die Centralhöhle nur mehr die funktionelle Bedeutung einer Kloake oder Ausströmungs- höhle (Häckel); denn das „nutritive Geißelepithel“ hat sich hier im ausgebildeten Schwamm auf die Astkanäle und die Radialtuben zu- rückgezogen. Außer Häckel und Pagenstecher sind für die nutritive Be- deutung des Geißelepithels, oder doch wenigstens des Epithels der Geißelkammern, noch eine Reihe anderer Autoren eingetreten. James Clark und Carter stimmen darin überein, dass Indigopartikelchen von den Geißelzellen (namentlich bei Spongilla) aufgenommen würden und stehen nicht an, diesen Versuch als vollkommen beweiskräftig für die nutritive Tätigkeit dieser Elemente anzusehen. Aufhören der Geißelbewegung, die bei Gelegenheit von Fütterungsversuchen wieder- holt beobachtet wurde, würde sich dann einfach als ein Zeichen voll- kommener oder übermäßiger Sättigung ergeben. Eine ernährende Tätigkeit neben einer respiratorischen schreibt fernerhin auch Keller den Geißelkammern zu. Er findet bei Chalinula fertilis die Zellen derselben in ihrem basalen Ende stets reich an Körnchen und Pigment und sieht in ihnen die einzigen Organe für die Nahrungsaufnahme und die Atmung. Wenn nun, wie bei Kteniera semitubulosa, im Meso- derm zahlreiche mit Körnchen erfüllte Zellen vorkommen, die beson- ders in der nächsten Umgebung der Wimperkammern sich finden und, amöboider Bewegungen fähig, allmählich gegen die Rindenschicht vor- rücken, so liegt es nahe, dieselben — die nutritive Tätigkeit des Geißelepithels als bewiesen vorausgesetzt — gleichfalls in den Dienst der Ernährung zu stellen. In der Tat werden sie von Keller als „nutritive Wanderzellen“ aufgeführt und ihnen die Bestimmung zu- erkannt, die Nährstoffe von den Geißelkammern weg in das Innere und an die Peripherie des Schwammkörpers zu übertragen. Während an der respiratorischen Tätigkeit der Kragenzellen, für die sich neuerdings — wenigstens bei Sycandra raphanus — auch F. E. Schulze ausgesprochen hat, nicht zu zweifeln ist, hat anderer- seits die Lehre, dass die Geißelzellen zur Nahrungsaufnahme dienen, von verschiedenen Seiten her Beschränkung in ihrer allgemeinen Gül- tigkeit und weiterhin selbst entschiedenen Widerspruch erfahren. So kennt Meeznikoff, der zwar bei Halisarca, Ascetta und Spongilla die Nahrungsaufnahme von den Entodermzellen besorgt werden lässt, doch auch einige Schwämme, bei denen „die Rolle der Nahrungsauf- nahme ausschließlich von Mesodermelementen ausgeführt wird.“ Allein 230 Solger, Ueber Lebensverhältnisse der Spongien. man wird, da auch Mecznikoff seine Behauptung nicht mit ent- scheidendenden Verdauungsversuchen belegt hat, zunächst doch nieht um- hin können, Kruken berg’s Experimenten so lange großes Gewicht zu- zuerkennen, als ihre Beweiskraft durch anderweitige Erfahrungen nicht abgeschwächt oder aufgehoben wird. Der zuletzt genannte For- scher hat nämlich wiederholt beobachten können, dass Fibrin, also eine wirklich verdauliche Substanz, in erster Linie von der Ober- fläche seiner Versuchstiere verdaut wurde, von den tiefern Schich- ten jedoch nur weit schwächer oder gar nicht. Seine Angaben lauten folgendermaßen: Suberites massa verdaut Fibrin an der Oberfläche, vielleicht auch in den mehr zentralwärts gelegenen Teilen, Suberites domuncula an der Oberfläche, in den tiefern Schichten dagegen gar nicht, und ähnlich verhält sich Ohondrosia reniformis, wo „in der Rin- denschicht“ verdaut wird, in den weiter zentralwärts gelegenen Schich- ten jedoch die durchgezogenen Fibrinfäden unverändert bleiben. Somit würden gerade die Epiblastzellen der Oberfläche, die nach Meczni- koff bei Sycandra außer dem Spiele bleiben, bei Suberites und Chon- drosia in erster Linie bei der Nahrungsaufnahme und Assimilation zur Verwendung kommen, in zweiter Instanz sodann das benachbarte dem Mesoderm angehörige Gewebe. Um jedoch alle Zweifel an der verdauenden Tätigkeit der flachen Epiblastzellen zu beseitigen, müsste durch Wiederholung der Versuche der Zustand des Oberflächenepithels an dem Versuchstier überhaupt und an der dem Versuch dienenden Stelle insbesondere histologisch festgestellt werden, um dem Einwand zu begegnen, dass vielleicht ihre Epitheldecke oder die Cutieula ab- gerieben gewesen sein mochte und also die Ze ulenah Zwischen- schicht bloß gelegen habe. Vom Entoderm als verdauender Fläche, von dem wir ausgegangen waren, sind wir also schließlich zum Ektoderm gelangt. Angenommen das Entoderm verdaue bei Aseonen, wie es in der Tat möglich ist, so hätten wir freilich eine ganze Reihe von Vorgängen des Funktions- wechsels anzunehmen, um schließlich zu der Ektodermverdauung zu kommen. Eine tatsächliche Stütze für diese Annahme müssen wir jedoch in den wiehtigen morphologischen Differenzirungen erblicken, die während der Entwicklung der Gastralhöhle und ihrer Verästelun- gen bei den meisten Spongien zu beobachten sind. Sollte aber auch bei den Olynthus-Formen unter den Asconen durch beweiskräftige Ver- suche das Ektoderm und nicht das Entoderm als die verdauende Fläche sich ergeben, dann müsste man allerdings, angesichts dieses „fundamentalen Unterschieds zwischen den Schwämmen und den übri- gen Metazoen hinsichtlich der primären Funktionen der Keimblätter“ zur „Aufstellung einer besondern Abteilung, der Metazoen“ (Balfour) schreiten, oder eine derartige Trennung wenigstens in Erwägung ziehen. Die Entscheidung wird davon abhängen, ob man dem topo- graphischen Moment, nämlich der gleichen Lagerung der Keim- Solger, Ueber Lebensverhältnisse der Spongien. 2331 blätter, oder dem physiologischen, d. h. ihrer Leistung, mehr Gewicht beilegt. (Lipogastrie und Lipostomie). Die Fälle von Magenverlust (Lipogastrie) unter den Kalkschwämmen haben für unsere Betrachtung nur sehr geringe Bedeutung. Lipogastrie scheint nämlieh unter den Caleispongien nur bei den Leuconen vorzukommen. Hier ist aber schon längst „lem Verlust der Magenhöhle der Verlust ihrer Funktion vorausgegangen“, und zwar nicht nur als Verdauungs- organ, sondern auch als eines „zentralen Wasserreservoirs“. Der Unterschied zwischen den übrigen Leuconen und den lipogastrischen Formen besteht eben nur darin, dass „die Wasserströme, welche durch zahlreiche Hautporen in die feinern Astkanäle eintreten, ihren Ausweg durch andere Astkanäle und andere Hautporen“ (Häckel) nehmen. — Auch dem Mundverlust (Lipostomie) werden wir für un- sere Zwecke ein besonderes Interesse nicht abgewinnen können. Zwar sind es die Aseonen, wo das entodermale Geißelepithel die Magen- höhle noch in ihrer ganzen Ausdehnung auskleidet, bei denen dieser Zustand am häufigsten zur Beobachtung kommt. Allein die Magen- höhle wird dadurch keineswegs außer Dienst gesetzt; an Stelle des Osculums übernehmen einfach Lochkanäle (Poraltuben) die Funktion der ehemaligen Ausströmungsöffnung. In beiden Fällen wird also das Verdauungsgeschäft, mag es nun dem Geißelepithel der Gastralhöhle und der Wimperkammern, oder mag es dem Ektoderm und Mesoderm zukommen, nicht wesentlich verändert. (Pepsin, Trypsin). Krukenberg hat die verdauenden En- zyme der höhern Tiere, Pepsin und Trypsin, auch aus dem lebend zerhackten Schwammgewebe darstellen können. Natürlich musste bei diesem Verfahren auf die Bestimmung des fermentbildenden Gewebes oder Organs zunächst verzichtet werden. Er fand Pepsin im Glyzerin- auszug von Suberites domumcula, Hircinia variabilis, Chondrosia reni- formis, endlich bei Tethya Lyneureum und bei Aplysina aerophoba ; Trypsin oder ein trypsinähnliches Ferment konnte nachgewiesen wer- den bei Sycon, Reniera porosa, Tedania digitata, bei Suberites massa und S. lobatus. (Reservenahrungsstoffe). Der Organismus der Spongien deckt nun aber nicht nur die augenblicklichen Bedürfnisse an Nah- rungsstoffen, sondern einzelne Formen sind auch im stande, gewisse Quantitäten von Reservenahrung zeitweise in sich aufzuspeichern (F. E. Schulze). Bei Chondrosia reniformis beispielsweise lagerten sich in Zellen des Mesoderms „hyaline, stark lichtbrechende, knollige Ge- bilde“ ab, die nicht geringe Aehnliehkeit mit fettigen Substanzen ha- ben. Aehnliches lässt sich auch bei Chondrilla nucula (0. Schmidt) und bei Euspongia offieinalis beobachten. Handelte es sich bisher nur um Stoffe, die dem Fett oder Amylum bis zu einem gewissen Grad vergleichbar waren, so ist dagegen das intrazellulare Vorkom- 232 Solger, Ueber Lebensverhältnisse der Spongien, men von echtem Amylum durch Ganin für Spongilla Mülleri, durch Keller für Spongilla lacustris (im Vorsommer), Beniera litoralis, Mysilla fasciculata, Geodia gigas, Tethya Lyncureum, Suberites massa und $. flavus mit aller Sicherheit festgestellt worden. Die wichtige Frage nach der Herkunft des Amylums beantwortete man bis vor kurzem unbedenklich dahin, dass diese Substanz ein Pro- dukt des Tierkörpers sei, in dem sie sich finde. Dem ist jedoch, wenn wir K. Brandt folgen, nicht so. Brandt zählt nieht weniger als 10 Vertreter verschiedener Algengruppen als Parasiten von Spon- gien auf. In manchen Fällen konnte gleichzeitig neben den Algen Stärke nachgewiesen werden; in andern wieder fehlten entweder die Algen bei Anwesenheit von Stärke, oder man vermisste umgekehrt (oder übersah) die Stärke bei Gegenwart von Algen. Der genannte Forscher meint nun, dass hier dasselbe ursächliche Verhältniss in dem Vorkommen der pflanzlichen Parasiten und des Amylums obwalte, das für die freilebende Pflanze längst bekannt ist, dass nämlich die Stärke das Produkt jener pflanzlichen Organismen sei. Höchst wahr- scheinlich tragen die Algen durch Lieferung dieses Reservematerials zur Ernährung ihrer Wirte bei, denn die Parenchymzellen mancher Spongien (Spongilla, Reniera) beherbergen das Amylum in gelöstem Zustand (Carter, Keller). Die Quantität desselben ist übrigens zu verschiedenen Zeiten eine wechselnde. Echtes Fett ist bei Spongien wenig verbreitet und tritt, wo es vorkommt, nur in kleinen Mengen auf (Krukenberg). Deutliche Spuren eines fetten Oels konnten bei manchen Exemplaren von Sube- rites domuncula und ausnahmslos bei Spongelia elegans beobachtet wer- den. Statt dessen ergab der alkoholische Aetherextrakt mehrerer anderer Formen, die auf Fett geprüft wurden (Chondrosia reniformis, Suberites flavus, S. massa und S. lobatus, Aplysina aerophoba, Geodia gigas), ein ätherisches Oel. (Farbstoffe). Zu diesem beschränkten Vorkommen von Fett steht der häufige Befund an Lipochromen (d.h. Farbstoffen, die, meist in Fett gelöst, bei Wirbeltieren in größter Verbreitung angetroffen werden) in einem eigentümlichen Gegensatz. Weitaus die meisten gelben oder roten Spongienfarbstoffe sind Lipochrome (Krukenberg). Wir treten damit in die Besprechung des sehr interessanten Kapitels der Spongienfarbstoffe ein. Was zunächst den Sitz der Farbstoffe anlangt, so finden sich dieselben entweder in den entodermalen Geißel- zellen oder in der mesodermalen Zwischenschicht. Als Beispiel für die Pigmentirung der Geißelzellen sei Spongelia avara genannt. Hier enthalten die Kragenzellen, welche die sackförmigen Geißelkammern auskleiden, in ihrem mittlern oder basalen Teile lila- oder rosafarbene Körner, welche für sich allein dem ganzen Schwamm das Kolorit ver- leihen (F. E. Schulze). Auch bei den Kalkschwämmen findet sich das Pigment in den Geißelzellen des Entoderms in der Umgebung der Solger, Ueber Lebensverhältnisse der Spongien. 235 Kerne (Häckel), und zwar ist es entweder auf das entodermale Epi- thel beschränkt, oder es kommt auch in der Umgebung der Kerne des „Syneytiums“ zur Beobachtung (z. B. bei der schwefelgelben oder orangeroten Varietät von Ascetta primordialis). In andern Fällen, namentlich bei Hornschwämmen, sind die fixen stern- oder spindel- förmigen „Bindegewebszellen“ (F. E. Schulze) der mesodermalen Zwischenschicht der Sitz der Pigmentirung, wobei die Rindenzone häfig intensiver gefärbt erscheint, als die zentralen Partien, so bei Euspongia officinalis und ähnlich hei Chondrosia reniformis. Eine nicht geringe Anzahl der Spongienfarbstoffe geht mehr oder weniger rasch nach dem Absterben des Tiers Verfärbungen ein, ja es gibt sogar farblose Kalkschwämme, die, lebend in Weingeist ge- setzt, alsbald eine intensiv braune Färbung annehmen. Der orange- gelbe Suberitenfarbstoft verfärbt sich unter dem Einfluss des Lichts; auf Papier gestrichen und in trockenem Zustand dem Licht ausge- setzt ist er manchmal schon nach wenigen Stunden vollkommen ab- geblasst. Sein Spektrum zeigt, wie beiläufig bemerkt werden mag, fast genaue Uebereinstimmung mit dem des Tetronerythrin des roten Farbstoffs in der „Rose“ der Waldhähne. Zwei weitere gleichfalls lichtempfindliche rötliche Farbstoffe, die aber in ihrem spektroskopi- schen Verhalten mit dem Tetronerythrin nichts gemein haben, sind die von Hircinia variabilis und Steletta Wagneri (Krukenberg). Eine besonders auffallende Farbenänderung, deren Verlauf be- quem unter dem Mikroskop verfolgt werden kann, erleiden die gelben Körner von Aplysina aerophoba. In der mesodermalen Schicht dieser Spongie, die mit dem gallertigen Bindegewebe der Wirbeltiere die größte Aehnlichkeit hat, finden sich neben andern Formelementen rund- liche oder knollige Körper, die etwa 10 w im Durchmesser halten und durch ihre intensiv schwefelgelbe Farbe und ihr ziemlich starkes Lichtbrechungsvermögen sich auszeichnen. Besonders reichlich finden sie sich in der Rindenzone. Schnitte von einer lebenden Aplysin«a aerophoba beginnen schon nach wenigen Minuten sich blau zu färben. Verfolgt man den Farbenwechsel unter dem Mikroskop, so bemerkt man, dass das leuchtende Gelb der erwähnten Körper zuerst in ein blasses Blaugrau sich verfärbt, aus dem sodann ein reineres Blau und schließlich ein ganz dunkles Preußischblau hervorgeht. In Essig- säure löst sich der gelbe Farbstoff der Körner ohne Aenderung seiner Farbe auf; die Substanz der Körner selbst wird in Aether und in absolutem Alkohol langsam verflüssigt. Diese gelben Körner lagern sich übrigens ebensowenig wie die Fetttropfen an beliebigen Stellen frei im Gewebe ab, sondern verdanken gleichfalls ihr Auftreten der Vermittelung zelliger Elemente. Denn durch Essigsäure kann man einen bläschenförmigen Kern sichtbar machen, der, umgeben von einem spärlichen körnigen Hof, entweder zwischen den gelben Körnern oder an der Seite der ganze Knolle zum Vorschein kommt (F.E. Schulze). 234 Solger, Ueber Lebensverhältnisse der Spongien. Krukenberg fügt diesen Angaben noch hinzu, dass die natürliche gelbe Färbung in Salieylsäurelösungen sich wochenlang erhält. Durch Salzsäure lässt sich bereits verfärbten Aplysina-Aesten das natürliche Kolorit annähernd wiedergeben; andererseits wird durch Alkalizusatz die Verfärbung außerordentlich intensiv. Nach Schulze stellen die gelben Aplysina-Körner ebenso wie die bei Chondrosia und Chondrilla vorkommenden knolligen Körper, die hier freilich farblos sind (s. o.), gleichfalls Ablagerungen von Reservenahrungsmaterial dar. Dieses Aplysinofulvin (Krukenberg), das unter Sauerstoffauf- nahme in Aplysinonigrin übergeht, scheint außer bei Aplysina aero- phoba nur noch bei Aplysilla aerophoba und bei Hircinia spinulosa vorzukommen. Aplysina und Aplysilla verhalten sich übrigens hin- sichtlich der Zeit, innerhalb deren die dunkle Verfärbung eintritt, insofern verschieden, als bei Aplysilla die Farbenänderung weit lang- samer, bisweilen erst nach 1—2 Tagen eintritt (F. E. Schulze). Man kann diese Verschiedenheit darauf zurückführen, dass das Re- duktionsmittel („Reduktionsferment“), welches während des Lebens die Umwandlung des gelben Farbstoffs in den blauschwarzen verhin- dert, „beim Absterben der Gewebe das eine Mal langsamer, das an- dere Mal rascher zersetzt“ wird (Krukenberg). (Ausscheidung der Hornfasern). Schon Kölliker (1864) hatte die Hornfasern als Ausscheidungen des „zelligen Parenehyms“ angesehen. Neuerdings ist F. E. Schulze mit Entschiedenheit gegen die Meinung aufgetreten, dass man in dem Spongiolin ein Umwand- lungsprodukt des Mesoderms zu erblicken babe. Nachdem es dem verdienten Spongienforscher an Euspongia officinalis gelungen ist, den die wachsende Hornfaser umgebenden Zellenbelag, die Spongo- blasten, aufzufinden, ist Kölliker’s Vermutung nahezu zur Gewissheit geworden. Die Hornfaser ist also als „eine euticulare Ausscheidung eigentümlich modifizirter Bindesubstanzzellen, der Spongoblasten“ an- zusehen. Für die Annahme einer nachträglichen Umbildung des Faser- gerüsts durch Resorption, an die man denken könnte, wenn man die große Anpassungsfähigkeit der Schwämme (z. B. der Stöcke von As- cetta clathrus) an wechselnde äußere Existenzbedingungen erwägt, haben sich bis jetzt noch keine anatomischen Anhaltspunkte er- geben. (Sehwammzuchtversuche). Zum Schluss möchte ich noch auf eine Beobachtung Cavolinis hinweisen, die vielleicht denjenigen, welche die Histogenese in das Bereich ihrer Studien ziehen werden, von Nutzen sein könnte. Cavolini, der Vorläufer O. Schmidt’s auf dem Felde der künstlichen Schwammzüchtung, fixirte mittels durchgezogener Fäden eine Anzahl abgelöster Schwämme in einer unter- seeischen Grotte. Nachdem sie auf ihrer neuen Unterlage sich be- festigt hatten und teilweise unter einander verwachsen waren, be- gannen „über die eigentlichen Schwammstücke hinaus die Stricke sich Kowalewski, Beiträge zur Naturgeschichte der Oxytrichinen. 235 mit schleimiger Schwammmasse“!) zu überziehen, in der erst später das Fasergerüst sich ausbildete. Vielleicht könnte die Methode all- gemeiner angewandt werden, um die jüngsten Stellen der Schwämme leicht aufzufinden. Die Kenntniss der Entwicklung der Gewebe wird gewiss auf diesem Wege zu fördern sein. B. Solger (Halle a/S.). Mietschislaus Kowalewski, Beiträge zur Naturgeschichte der Oxytrichinen. Physiographische Denkschrift. Warschau 1882. Bd. I. S. 395—411. Taf. XXIX und XXX. Polnisch. I. Ueber den Bau des Peristoms bei den Oxytrichinen. Das Peristom ist vom Verf. besonders bei Sfylonychia mytilus, Urostyla grandis und Oxytricha fallax untersucht worden. Die Stirn und der Boden des Peristoms liegen auf verschiedenem Niveau, und ihre Grenze, wie bereits Stein?) und Sterki°) dar- getan haben, bildet eine bogenförmige nach hinten konvexe Linie. Dieselbe erscheint aber bei den oben genannten Arten abgeschnitten, so dass zwei Kanten gebildet werden, eine frontale und eine orale (margo frontalis und oralis). Die erstere geht in die rechte Längsleiste des Peristoms über. Bei Stylonychia pustulata sowie bei kleinen Exemplaren von Stylonychia mytilus bemerkte Verf. nur eine einzige Grenzlinie; bei Amphisia piscis (Uroleptus piseis) und Urostyla grandis entdeckte Verf. nur die orale Kante derselben. Der Boden des Peristoms ist von rechts nach links geneigt nnd bildet drei schwach ausgeprägte Terrassen, die von zwei kamm- artigen Längsleisten begrenzt werden; an die Leisten sind verschie- dene, weiter unten beschriebene Gebilde angeheftet. Die mehr nach rechts gelegene Leiste ist bereits von Sterki beschrieben und von Stein als die Mundspalte gedeutet worden. Dieselbe geht in die oben erwähnte fronto-orale Grenzlinie über. Die zweite mehr nach links gelegene Leiste erscheint sehr schwach ausgebildet und dient zur Anheftung der Wimpern, die vom Verf. als endorale bezeichnet werden. Die dem Peristom angehörigen Gebilde sind, vom äußern nach dem innern Peristomrande gerechnet, nach dem Verf. folgende. 1. Die adoralen Membranellen. Man hat dieselben früher 1) Nach Pagenstecher zitirt. 2) Der Organismus des Infusionstiers. I. Hälfte. S. 148, Taf. VII, Fig. 1. 3) Sterki, Beiträge zur Morphologie der Oxytrichinen. Zeitschr, f, wiss. Zool. 1878. Bd. XXXL S. 36, 236 Kowalewski, Beiträge zar Naturgeschichte der Oxytrichinen. als Wimpern betrachtet (eirres buccaux Clap. et Lachm., adorale Wimpern Stein); erst von Sterki!) sind sie richtig dargestellt worden. Jede derselben wird von einer sich fächerartig ausbreiten- den und wieder zusammenlegenden undulirenden Membranelle ge- bildet, welche am äußern Peristomrande angeheftet ist. Die Anhef- tungslinien derselben erscheinen parallel und werden von Stein?) und Engelmann?) als Furchen angesehen, die zur Aufnahme der adoralen Wimpern im Ruhezustande dienen sollten. Die innern Rän- der der Membranellen gehen zuweilen auf den Boden des Peristoms über und bilden daselbst kleine nach hinten gerichtete Fortsätze. Nach des Verfassers Zählungen besitzen alle von ihm untersuchten Arten 40 adorale Membranellen. 2. Die innern adoralen Wimpern (cilia interna) bilden eine Reihe längs der Linie, welche den Boden des Peristoms vom Außen- rande dieses letztern abgrenzt. Sie sind kurz, mit ihren Spitzen nach vorn und nach rechts gerichtet. Jede Wimper scheint dicht am Innenrand der entsprechenden adoralen Membranelle eingepflanzt zu sein und es ist somit möglich, dass diese Wimpern keine selbstän- digen Gebilde darstellen, sondern dass sie nur Fortsätze der entspre- chenden Membranellen seien. — Diese Wimpern sind vom Verf. nur bei Urostyla grandis beobachtet worden. 3. Die paroralen Wimpern sind bereits von Stein?) bei Urostyla grandis beobachtet, aber unrichtig als ein Band zarter kurzer und undulirender Cilien an den innern Enden der adoralen Membra- nellen bezeichnet worden. Engelmann’) hat bei Onychodromus grandis Wimpern abgebildet, die vielleicht den in Rede stehenden entsprechen, obwol sie zu weit von den adoralen Membranellen ent- fernt dargestellt sind. Die paroralen Wimpern sind zuerst von Sterki®) ganz richtig bei Urostyla, Allotricha und Gastrostyla be- schrieben und bei dieser letztern auch abgebildet worden. Verf. hat dieselben nur bei Urostyla grandis beobachtet, wo sie neben den innern Enden der adoralen Membranellen sitzen, ziemlich lang, dünn und mit ihren Spitzen nach dem Oesophagus gerichtet sind. Verf. ist der Ansicht, dass dieselben entweder wie bei Urostyla grandis eine vollständige Reihe bilden, oder dass sie gar nicht vorhanden sind, dass sie aber niemals, wie Sterki meint, nur im hintern Teil des Peristoms neben der Oesophagusmündung sich finden. 4) Sterki, L. c. S. 44.-Taf. IV. Fig. 1. h, h. Fig. 4, a; Fig. 8, a. 2) Stein, Organismus etc. I. Teil. S. 148. 3) Engelmann, Zur Naturgeschichte der Infusorien. Zeitschr. f. wissen- schaftliche Zoologie. Bd. XI. S. 385. 4) Stein, L. ec. S. 196. Taf. XII, XIV. 5) Engelmann, L. ce. Taf. XXX, Fig. 8, 9. 6) Sterki, L. ec. Taf. IV, Fig. 3 £. Kowalewski, Beiträge zur Naturgeschichte der Oxytrichinen. 937 4. Die endoralen Wimpern bilden eine längs der linken Peri- stomleiste sich hinziehende Reihe, welche von der fronto-oralen Grenz- leiste an bis in das Innere des Oesophagus hineinreicht. Hier undu- liren sie beständig und rufen dadurch eine Rotation der Nahrungs- stoffe hervor. Diese Wimpern sind vom Verf. bei Urostyla grandis, Ozxytricha fallax, Uroleptus musculus und Stylonychia mytilus beobachtet worden. Den vordern Teil der Wimperreihe hat Verf. auch bei Am- physia piscis und bei einer nicht näher bezeichneten Oxytricha - Art entdeckt. Die kurzen endoralen Wimpern sind mit ihren Spitzen nach hinten gerichtet; gewöhnlich erscheinen sie nach rechts, bei Stylonychia mytilus aber nach links geneigt. Sie scheinen der ganzen Oxytrichinenfamilie eigen zu sein, entsprechen aber den von Sterki mit demselben Namen bezeichneten Wimpern nicht. 5. Die endorale undulirende Membran ist zuerst von Engelmann!) bei Pleurotricha setifera, Pleurotricha lanceolata, bei Urostyla und Onychodromus entdeckt und als eine bis zum Schlunde reichende undulirende Membran beschrieben worden. Sterki?) hält dieselbe für eine Reihe von Wimpern, die er als endorale bezeichnet. Beide Forscher sind der Meinung, dass Stein dieses Gebilde für die Mundspalte angesehen hatte. Aber es ist augenscheinlich, dass er der entsprechenden Leiste diese Bedeutung zuschrieb. — Die in Rede stehende Membran beobachtete Verf. bei Urostyla grandis, Oxytricha fallax, Stylonychia mytilus und Stylonychia pustu- lata. Der rechten Peristomleiste angeheftet durchzieht diese Leiste bei allen genannten Arten die ganze Länge des Peristoms und geht in den Oesophagus hinein. Bei den Stylonychia- Arten ist sie schwer zu beobachten, indem sie meist weit nach rechts geschoben und von dem daehförmigen Innenrande des Peristoms bedeckt erscheint. Diese endorale undulirende Membran ist wahrscheinlich bei allen Oxytrichinen vorhanden. 6. Die innere undulirende Membran (membrana undulans interna) ist vom Verf. bloß bei Stylonychia mytilus gefunden worden. Sie ist der innersten Wand des Peristombodens angeheftet und scheint die innerste Grenzlinie desselben zu bilden. Sie ist zuerst vom Verf. entdeckt worden. 7. Die präorale undulirende Membran, mit der vorigen parallel, ist dieht neben derselben, aber mehr nach links angeheftet und geht in den Oesophagus hinein. Sie liegt dem ganzen Innen- rande des Peristoms an und wendet ihren freien Rand nach oben und nach links. Bei Stylonychia erscheint ihr vorderes Ende nach hinten und nach links gerichtet und bildet einige Falten, welche von frühern 4) Engelmann, L. ce. S. 385. Taf. XXX1. Fig. 10. 9) Sterki, L. ce. 8. 37. Taf. IV. Fig. 3g. Fig. 1i. Fig. 4c. 238 Kowalewski, Beiträge zur Naturgeschichte der Oxytrichinen. Beobachtern als vorderste präorale Wimpern angesehen worden sind. Diese Membran ist, ausgenommen bei den Stylonychien, am leichtesten zu entdecken und darum wird sie auch am häufigsten abgebildet. 8. Präorale Wimpern ferner sind bereits von Claparede und Lachmann!), Stein, Wrzesniowski?) und Sterki beo- bachtet worden. Verf. hat dieselben bei Stylonychia mytilus und Uro- styla grandis näher untersucht. Sie sind dünn und lang, so dass sie bis zur Mitte des Peristoms reichen, und mit ihren Spitzen beständig nach links gerichtet. Sie sind dieht unter der Kante des Innenran- des angeheftet, vom Verf. übrigens nieht in Bewegung beobachtet worden. 9. Die äußere Membran (membrana externa) erscheint wenig verbreitert, besonders nach vorn verschmälert und hinten abgerundet. Mit ihrem freien Rande ist sie regelmäßig nach links gerichtet. Bewegungen sind nicht an ihr wahrzunehmen und es scheint, als ob sie nur den verdünnten Innenrand des Peristoms darstelle. — Diese Membran ist vom Verf. bei Stylonychia mytilus, Stylonychia pustulata und Urostyla grandis beobachtet worden. Bei Stylonychia mytilus ist sie besonders deutlich und wurde bei dieser Art bereits von Stein, Engelmann, Wrzesniowski und Sterki bemerkt. II. Ueber den Oesophagus der Oxytrichinen. Stein stellt das Vorhandensein eines Oesophagus bei den ÖOxytrichinen in Abrede, während Claparede und Lachmann?) eines kurzen Oesophagus Erwähnung tun und auch aus den Figuren vonEngelmann®) und Wrzesniowski?°) sich schließen lässt, dass diese ebenfalls einen Oesophagus bei den Oxytrichinen annehmen. Am genausten jedoch ist dieses Organ von Sterki®) beschrieben worden. Nach Untersuchungen des Verf. stellt der Oesophagus der Öxytrichinen eine verschmälerte und röhrenförmig abgeschlossene Ver- längerung des Peristoms dar; bei jeder Art gehen die ihr eigenen Gebilde des Peristoms, die präoralen Wimpern und die äußere Mem- bran ausgenommen, in den Oesophagus hinein. 4) Claparede et Lachmann, Etudes sur les infusoires et les rhizo- podes. Bd. I. S. 156. 2) Wrzesniowski, Jahrbücher der wissenschaftlichen Gesellschaft zu Krakau. Krakau. 1867. Bd. 35. S. 62, 69; Taf. IV. Fig. 2, 3; Taf. V. Fig. 1; Taf. VII. Fig. 1. (polnisch). — Deutsch: Zeitschr. f. wiss. Zoologie. Bd. XX. S. 478, 481; Taf. XXI. Fig. 14, 16. >>. Clap, et Laichm. L.c. BE. 1. 3.514,32, 138. 4) Engelmann. e. S. 385. Taf. XXXL Fig. 10 (Pleurotricha setifera). 5) Wrzesniowski, Beitrag zur Naturgeschichte der Infusorien. Jahr- bücher d. gelehrt. Gesellsch. zu Krakau. 1867. Bd. XXXV. Taf. VII. Polnisch. 6) Sterki l. c.,8. 36, 37. Kowalewski, Beiträge zur Naturgeschichte der Oxytrichinen. 239 II. Ueber die dorsalen Borsten. Nach Claparede und Lachmann!) sind die dorsalen Borsten von Lieberkühn bei Stylonychia mytilus entdeckt worden. Nachher wurden sie von Claparede und Lachmann?), Engelmann?) und Wrzesniowski*) beschrieben und abgebildet; Stein aber tut derselben keine Erwähnung. Alle diese Forscher haben geirrt, indem sie annahmen, dass diese Borsten jederseits am Körperrande eine einfache Reihe bildeten. Erst Sterki?’) entdeckte, dass sie über den ganzen Rücken in einer Längsreihe angeordnet sind. Verf. kann die Angaben dieses letztern nur bestätigen und er tut dies mit der Be- merkung, dass er diese Borsten auch bei Urostyla grandis entdeckt hat. IV. Beschreibung neuer oder ungenügend bekannter Arten. 1. Strongylidium lanceolatum n. sp. hat einen lanzettförmigen Körper mit stark konvexem Rücken und minder konvexer Bauchseite. Vorn in einen gleichmäßig breiten Hals ausgezogen, der ein Viertel der ganzen Körperlänge ausmacht, zeigt sich das Tier nach hinten all- mählich in einen kurzen abgestutzten und etwas nach links gebo- genen Schwanz verschmälert. Der hintere Teil des übrigens form- beständigen Körpers erscheint ein wenig um seine Achse gedreht. Am vordern Ende des Halses machen sich drei in einer schrägen Reihe gestellte Stirnwimpern bemerkbar. Die ziemlich langen Bauch- wimpern bilden drei spiralige Reihen, welche an der Bauchseite quer von rechts und oben nach links und unten verlaufen. Die Randwim- pern sind ziemlich lang; die rechte Reihe derselben beginnt vorn an der Rückenseite und geht nachher auf die Bauchseite über, um end- lieh schräg zum linken Körperrande zu verlaufen. Die linke Reihe beginnt auf der Bauchseite des Körpers etwas über der Halsbasis, steigt weiter auf die Rückenseite und, ohne diese Seite zu verlassen, zieht sie sich zum rechten Körperrande. Die kurzen Rückenborsten sind auf der ganzen Rückenseite sehr deutlich, Hals und Schwanz nicht ausgenommen. Das sehr schmale Peristom befindet sich in der Mitte der Breite der hintern Halshälfte. Die 30 adoralen Membranellen sind ungemein lang und stark und gehen auf den rechten Rand und die Rückenseite des Halses weit nach hinten über. Von allen undulirenden Mem- branen ist vom Verf. nur die präorale bemerkt worden. Der kontraktile Behälter liegt am linken Körperrande dicht unter 1) Clap. et Lachm. 1. ce. Bd. I. S. 160. 2) Clap. et Lachm. 1. ce. Bd. I. S. 153, 160, 164, 165 ete. 3) Engelmann l. e. S. 384. 4) Wrzesniowski, Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. XX, S. 472—490. 5) Sterkil. c. 8. 48—50. 240 Kowalewski, Beiträge zur Naturgeschichte der Oxytrichinen, der Halsbasis. Das Körperparenchym enthält stark glänzende, mehr oder weniger ausgezogene Körner, welche den grünen Pseudochloro- phylikörpern ähnlich sehen, von denen die Kerne des Infusoriums maskirt werden. Gesamtlänge des Körpers 0,126 mm, Körperbreite 0,032 mm, Länge des Halses 0,033 mm, Breite desselben 0,015 mm. Das Tier bewegt sich langsam und schießt nach Art einer Sticho- tricha gern plötzlich nach hinten. Vom Verf. ist ein einziges Exem- plar in Gesellschaft von Lembadion bullinum gefunden worden. Strongylidium lanceolatum steht dem Strongylidium crassum Sterki sehr nahe. Diese beiden Arten werden durch folgende Merk- male unterschieden: Str. Zanceolatum besitzt 3 Stirnwimpern und 3 Reihen Bauchwimpern, Str. crassum 6 Stirnwimpern und 2 Reihen Bauchwimpern. Ersteres hat außerdem einen deutlichen Hals, wäh- rend Sterki von einem solchen nichts erwähnt. 2. Urosoma Cienkowskii n. gen. et. n. spec. hat einen schmalen sie- benmal längern als breiten und vorn abgerundeten Körper. In zwei Dritteln seiner Länge ist derselbe gleichmäßig breit, verschmälert sich aber dann in einen zugespitzten Schwanz, welcher ein Viertel der ganzen Körperlänge ausmacht. Der Körper hat einen elliptischen, stark plattgedrückten Querschnitt. 8 Stirawimpern sind vorhanden und wie bei Stylonychia mytilus angeordnet, ferner 8 Bauchwimpern, von denen 5 hinter dem Peristom 2 Längsreihen bilden, die rechte aus 3, die linke aus 2 Wimpern bestehend. Eine Bauchwimper steht auf der Mitte der Bauchseite und 2 dicht vor den Afterwimpern. Die 5 borstenförmigen Afterwimpern stehen in einer nach hinten konvexen, sehr weit nach vorn gerückten Bogenreihe zwischen den hintersten beiden Körpervierteln, was bei den Oxytriehinen sonst ungewöhnlich ist. Die Bauchwimperreihen, die ziemlich weit von den Körperrändern entfernt sind und parallel zu einander verlaufen, gehen hinten auf die Ränder des Körpers über und vereinigen sich mit einander auf der Schwanzspitze. Alle Wim- pern sind verhältnissmäßig platt, dünn und mittelmäßig lang. Die Rückenborsten sind kurz, aber deutlich. Das Peristom ist schmal und kurz; es nimmt ein Viertel der gan- zen Körperlänge ein. Sein Innenrand liegt an der Körperachse selbst, weit von dem vordern Körperrande entfernt und verläuft in grader Richtung; nur vorn krümmt er sich bogenförmig nach links um. Die adoralen Membranellen sind zahlreich und ebenso wie die Körper- wimpern dünn und wenig verbreitert. Einige derselben finden sich am rechten Rand und an der Bauchseite des Körpers. Von allen Membranellen des Innenrandes des Peristoms ist vom Verf. nur die äußerste bemerkt worden. Einen Anus hat Verf. nicht gesehen. Der kontraktile Behälter befindet sich wie bei allen Oxytrichinen am linken Körperrande und ist bedeutend nach hinten gerückt, an Kowalewski, Beiträge zur Naturgeschichte der Oxytrichinen, 241 das hintere Ende des vordern Drittels der Körperlänge. Das Tier besitzt zwei elliptische, mit je einem großen Nucleolus versehene Nuclei. Während des Teilungsprozesses, der wie bei den übrigen Oxytrichinen verläuft, verschmelzen diese Nucleiin einen dünnen und langen Strang, der sich vom vordern Körperrande bis zu den Afterwimpern erstreckt. Die Körperlänge beträgt etwa 0,24 mm. Das Körperparenchym er- scheint rötlich und ist dieht mit gelblichen Körnern gefüllt. Urosoma Cienkowskii bewegt sich rasch mit Schlangenbiegungen des Körpers. Das Tier ist vom Verf. in einem ein wenig Wasser ent- haltenden Boot in der Weichsel bei Warschau entdeckt worden. Ur. Cienkowskii steht der Gattung Oxylricha sehr nahe, unter- scheidet sich aber von derselben durch ihre nach vorn gerückten Afterwimpern, wodurch der hinter denselben liegende Körperabschnitt ein Viertel der Totallänge des Körpers ausmacht. 3. Balladina parvula n. gen. etn. sp. hat einen elliptischen Körper, der nach vorn ein wenig verschmälert, vorn abgerundet, hinten stumpf zugespitzt ist. Die Rückenseite ist stark, die Bauchseite etwas weni- ger gewölbt. Der Körper erscheint formbeständig. Die 7 Bauchwimpern bilden eine einzige, von vorn und rechts nach hinten und links verlaufende Reihe, welche vom vordern Körper- rande bis zu den Afterwimpern reicht. Diese letztern, im ganzen 5, sind so angeordnet, dass sie zwei in einem spitzen Winkel zusammen- treffende Reihen bilden. Dierechte Reihe besteht aus zwei, die linke aus drei Wimpern. Die Randwimperreihen sind an den Körperrändern eingepflanzt und die vordern Wimpern der rechten Reihe sitzen sogar an der Rückenseite. Alle Wimpern erscheinen verhältnissmäßig un- gemein lang, breit und ziemlich dick. Die Rückenborsten sind unge- wöhnlich lang, besonders am hintern Körperende und bilden etwa fünf Längsreihen. Das Peristom ist so breit, dass es nach rechts über die Körper- achse hinausreicht. Die adoralen Membranellen erscheinen wenig zahl- reich; aber wie alle Körperwimpern sind sie lang und breit. Die Öberlippe ist schmal. Von allen undulirenden Membranen ist vom Verf. nur die präorale beobachtet worden. Der kontraktile Behälter liegt am linken Rande des Körpers, in der Mitte der Länge desselben. Die beiden länglichen Nuclei erscheinen verhältnissmäßig groß und liegen nahe neben einander. Eine spaltförmige Höhle teilt jeden Nucleus in zwei ungleiche Abschnitte, die je einen innern Nucleolus beherbergen. Die verhältnissmäßig kleinen äußern Nucleoli liegen je einer in einem Ausschnitte des entsprechenden Nucleus. Länge des Körpers = 0,044 mm, Breite desselben = 0,017 mm. Das Tier bewegt sich ziemlich rasch und unaufhörlich. Die vorliegende Art ist vom Verf. in Warschau in dem Parke Tazienki aufgefunden worden. 16 949 Kowalewski, Beiträge zur Naturgeschichte der Oxytrichinen. Balladina steht der Gattung Oxytricha nahe, von der sie sich durch ihre Bauchwimpern unterscheidet, die nur eine einzige schräge Reihe bilden. 4. Amphisia piscis. Trichoda piscis. O. F. Müller. Animaleula infusoria. Pag. 214. Tab. XXXI, Fig. 1—4. — Oxytricha caudata. Ehrenberg, Die Infusionstierchen. S. 365. Taf. XL, Fig. 11. — Uroleptus piscis. Ehrenberg, Die Infusionstierchen. $. 358. Taf. XL. Fig. 1.— Oxytricha caudata. Claparede et Lachmann. Etudes. Bd. I, S. 146. Taf. V, Fig. 7. — Uroleptus piscis. Stein, Organismus der Infusionstiere. I. Teil. S. 178. Taf. XI, Fig. 1-3. — Uroleptus piscis. A. Wrzesniowski. Archiv für mikroskop. Anat. Bd. V, Taf. IV, Fig. 23—26. Körper verlängert, nach vorn schwach verschmälert, nach hinten in einen ziemlich langen säbelförmigen Schwanz ausgezogen, dessen linker Rand die Schärfe, der rechte aber den Rücken eines Säbels darstellt. Die Rückenseite des Körpers erscheint ziemlich stark kon- vex, die Bauchseite dagegen fast vollständig plattgedrückt. Der ganze Körper ist im höchsten Grade kontraktil; der Schwanz wird bei jeder heftigen Rückwärtsbewegung in den Körper eingezogen. Die 5 wenig verdiekten Stirnwimpern werden nach hinten all- mählich kleiner. Die Bauchwimpern bilden 2 parallele, dicht neben einander verlaufende Reihen, die vom vordern bis zum hintern Körper- rande reichen. Die Wimpern der rechten Reihe erscheinen dicker, länger und dichter gestellt, die der linken dünner, kürzer und durch weitere Zwischenräume von einander getrennt. Die Wimpern der rech- ten Reihe sind gewöhnlich mit ihren Spitzen nach hinten, die der linken Reihe dagegen nach vorn gerichtet. Die Afterwimpern (etwa 17), welche zuerst von Sterki!) beschrieben worden sind, bilden eine dichte Reihe am linken Rande des Schwanzes und nehmen ungefähr zwei Drittel der Länge dieses letztern ein. Sie sind dick, lang und grade. Die Bauchwimpern werden nach hinten immer länger und dieker. Die linke Reihe rückt mehr nach innen als die rechte. Die Wimpern der ersten Reihe sind länger, übertreffen am Schwanz an Länge die Afterwimpern bedeutend und erscheinen sehr wenig beweg- lieh. Die Randborsten sind kurz und an der ganzen Rückenseite deut- lich, den Schwanz nicht ausgenommen. Am Peristom sind vom Verf. nur die präorale Membran und die vordern endoralen Wimpern bemerkt worden. Der kontraktile Behälter liegt in der Mitte der Länge des eigent- lichen Körpers, wie bei allen Oxytrichinen am linken Körperrande. Länge des Körpers 0,8 mm, Breite desselben 0,2 mm. Amphisia piseis ist bereits von vielen Infusorienforschern beschrie- ben und abgebildet worden. Die Anwesenheit von Afterwimpern wurde erst von Sterki entdeckt, ihre Anordnung jedoch sowie die Anord- 1) Sterki, L. c. S. 47. Anmerkung. Nasse, Chemismus der Muskelsubstanz. 243 nung und Beschaffenheit der Stirn-, Bauch- und Randwimpern ist erst vom Verf. genau untersucht worden. Die in Rede stehende Form kann wegen der Afterwimpern nicht in der Gattung Uroleptus, wie Stein dieselbe charakterisirt, belassen werden; sie muss vielmehr in der von Sterki aufgestellten Gattung Amphisia ihren Platz finden. Dieser Gattung dürfen folgende bekannte Arten zugezählt werden: Oxytricha gibba Stein, Oxytricha nuptacina Stein, Oxytricha micans Englm., Oxytricha Kessleri Wrzesniowki, Oxytricha multisete Sterki, Uroleptus piscis Ehrenb., Stein. — In der von Wrzesniowski aufgestellten Gattung Holosticha bleibt so- mit nur Oxitricha pernix Wrzesn., die sich durch den Mangel der Stirnwimpern auszeichnet. Die mitgeteilten Beobachtungen sind in dem Laboratorium des Referenten ausgeführt worden. August Wrzesniowski (Warschau). Der Chemismus der Muskelsubstanz '). Ueberall setzt sich der Stoffwechsel aus zwei Faktoren zusam- men, dem Verbrauch und dem Ersatz. Am leichtesten zu verfolgen ist der Verbrauch, weil es Mittel gibt, den Ersatz vollkommen auszuschließen. Handelt es sich um Organe höherer tierischer Orga- nismen, so besteht das einfachste Mittel darin, denselben die Blut- zufuhr abzuschneiden, wobei es bis zu einem gewissen Grade gleich- giltig ist, ob das Organ im Organismus verbleibt, oder ob es aus demselben entfernt wird. Muskeln, in dieser Weise aus dem Kreis- lauf gebracht, verfallen mehr oder weniger rasch in einen eigen- tümlichen Zustand, Starre, welcher die seit undenklichen Zeiten bekannte Leichenstarre bedingt. Die Starre ist keineswegs nur den Muskeln oder überhaupt dem kontraktilen Gewebe eigen; auch die verschiedensten andern Gewebe, tierische wie pflanzliche, verändern sich unter denselben Bedingungen in ähnlicher, übrigens bis jetzt wenig untersuchter Weise. Der Eintritt der Starre wird beschleunigt durch Erhöhung der Temperatur bis zu einem bestimmten jeder Tier- art eigenen Grade (Temperaturoptimum), ferner durch Kontraktionen des Muskels sowie durch starke Spannung desselben, kurz gesagt durch alle Eingriffe, welche den Stoffverbrauch erhöhen. So verfällt u. a. auch derjenige Muskel, welcher mittels seines Nerven mit den 4) Die nachstehende zusammenfassende Uebersicht schließt sich an die Bd. I S. 313 über den chemischen Bau der Muskelsubstanz gegebene an. Das längst Feststehende ist nur kurz behandelt, eingehender die neuern Fort- schritte, sowie die lange streitig gewesenen oder jetzt noch streitigen Punkte, 16> DAR Nasse, Chemismus der Muskelsubstanz. (natürlich intakten) nervösen Zentralorganen noch in Verbindung steht und auf diese Weise sich in einem Tonus (chemischer Tonus) befindet, rascher in Starre, als der von den nervösen Zentralorganen abgetrennte Muskel. So offenbar aus dem Mitgeteilten sich bereits die nahe Beziehung der Vorgänge bei der Erstarrung zu dem als Verbrauch bezeichneten Teil des Stoffwechsels ergibt, so darf doch nieht ohne weiteres aus jenen der Verbrauch abgeleitet werden, da die Versuchsmethode nur scheinbar eine ganz vollkommene ist. Es haften derselben vielmehr bemerkenswerte Fehler an, deren Größe übrigens oft auch überschätzt worden ist. Der eine Fehler besteht darin, dass durch die Anhäufung der gar nicht oder wenigstens nicht genügend fortgeschafften Zersetzungsprodukte der Muskelbestandteile die Zersetzungen der Menge und der Art nach verändert werden können, ähnlich wie bei vielen oder vielleicht allen Gährungsprozessen Stoffe erzeugt werden, die den Gährungsprozess selbst zu hemmen vermögen. Ein zweiter Fehler der Methode liegt in der mit ler Ent- fernung des Muskels aus dem Körper zunehmenden Gefahr des Hin- zukommens von fremden Kräften in Gestalt niederer Organismen. Die Tätigkeit der Bakterien zu hindern, ohne auch zugleich die in dem Muskel wirkenden, später noch genauer zu untersuchenden Kräfte zu schädigen, sind aber die Wege noch nicht gefunden. Mit großer Vorsicht muss also die Beurteilung der auftretenden Erscheinungen vor sich gehen, häufig wird nur eine indirekte Entscheidung mög- lich sein. Es lassen sich die Haupterscheinungen bei der Erstarrung etwa folgendermaßen zusammenfassen: Unter Abnahme der Erregbarkeit bis zum Verschwinden dersel- ben verliert der Muskel an Durchsichtigkeit, wird fester, dabei we- niger vollkommen elastisch; die unter den nötigen Vorsichtsmaß- regeln durch Pressen gewonnene Flüssigkeit ist frei von Myosin, ist also kein Muskelplasma mehr, sondern Muskelserum; das Glykogen nimmt an Menge ab, an seiner Stelle tritt eine dem frischen Muskel fehlende, in die Gruppe des Traubenzuckers gehörende Zuckerart auf (Fleischzucker), so dass schließlich von dem Inosit abgesehen nur dieses einzige Kohlehydrat mehr vorhanden ist, jedoch nicht in der ganzen aus dem Glykogen zu berechnenden Menge. Es findet also ein Verbrauch von Kohlehydraten statt, der bis zu 80°], der ur- sprünglichen Menge betragen kann, und bei einem bestimmten Tier alle Muskeln (die im Glykogengehalt nicht unbeträchtlich von einan- der abweichen) in demselben Verhältniss trifft. Ferner geht die neu- trale Reaktion des Muskels in saure über. Bei diesem Punkt ist einen Augenblick länger zu verweilen. Bis vor kurzem hat man mit du Bois-Reymond angenommen, die saure Reaktion sei neben saurem Alkaliphosphat durch eine freie, nicht flüchtige Säure bedingt. Diese letztere sollte eine dem frischen Muskel nicht zukommende Nasse, Chemismus der Muskelsubstanz. 245 Säure sein und zwar außer wechselnden, aber immer nur sehr ge- ringen Mengen der optisch inaktiven Aethylidenmilchsäure (der ge- wöhnlichen Gärungsmilchsäure) sowie der Aethylenmilehsäure die als Para- oder Fleischmilehsäure bezeichnete optisch aktive Aethyl- idenmilchsäure. Nun geht aber aus den Arbeiten von Asta- schewsky!) und Böhm?) wie aus einer bis dahin allein stehenden ältern Untersuchung von Borszow °) hervor, dass milchsaure Salze stets auch im frischen Muskel vorkommen, ja sogar gelegentlich freie Milchsäure, ohne dass, was freilich nieht recht verständlich ist, der Muskel sauer reagire. Bei der Erstarrung nimmt nun nach Böhm die Gesamtmilchsäure zu. Astaschewsky, der sich über die Ver- änderung der Milchsäuremenge nicht äußerte, lässt die saure Reak- tion nicht dureh Milchsäure, sondern einzig durch saure Phosphate be- dingt sein und begründet seine Behauptung damit, dass durch Alkohol die saure Substanz sich nicht ausziehen lasse, wol aber durch Wasser. Die Teilerscheinungen der Starre, wie man die angeführten Vor- gänge, zu welchen noch eine fortwährende durch die Zersetzung von Kohlehydraten genügend erklärte Kohlensäurebildung kommt, wol zu nennen pflegt, sind bis zu einem gewissen Grade unabhängig von einander. Insbesondere kann der Muskel sauer werden, ohne dass das Glykogen an Menge abnimmt; das letztere darf daher nicht als die Muttersubstanz der Milchsäure angesehen werden. Böhm, dem wir das Auffinden dieser wichtigen Tatsache verdanken, ist nun am meisten geneigt von dem Eiweiß die Milchsäure abzuleiten, wie dies auch schon von Demant*) geschehen ist. Eine Stütze findet diese Ansieht vielleicht in dem Auftreten von Fleischmilehsäure im Harn bei der akuten Phosphorvergiftung, mit welcher eine mächtige Ei- weißzersetzung verknüpft ist. Wie weit ein Zusammenhang besteht zwischen der Myosingerinnung im Muskel, wie das Festwerden des Myosins kurz heißen mag, und der Säuerung, lässt sich nicht mit Be- stimmtheit sagen. Catherine Schipiloff) äußerte sich vor kur- zem dahin, dass das Myosin in Folge der Säureentwicklung zur tem- porären Ausscheidung komme; von anderer Seite (Brücke, Kühne) ist der Vorgang als ein Gerinnungsprozess ähnlich der Fibringerin- nung aufgefasst worden und zwar aufgrund des bei dem chemischen Bau der Muskelsubstanz erwähnten Verhaltens des ausgepressten Muskelsaftes, der so rasch gerinnt, dass eine Säuerung noch nicht nachweisbar ist. Zweifellos ist übrigens, dass die Säureentwicklung die Ausscheidung des Myosins begünstigen kann. Ob das Myosin- 4) Zeitschr. f. physiol. Chem. IV. S. 397. 1880. 2) Arch. f. d. ges. Physiol. XXIIL S. 44. 1880. 3) Würzburger naturwiss. Zeitschr. II. S. 65. 1862. 4) Zeitschr. f. physiol. Chemie II, 5. 382. 1879. 5) Med, Centralbl. 1882. S. 291. 946 Nasse, Chemismus der Muskelsubstanz. gerinnsel des totenstarren Muskels sich zu dem Myosin des frischen Muskels ebenso verhält, wie das in vieler Beziehung dem Myosin ähn- liche Fibrin zur fibrinogenen Substanz, muss ebenfalls dahingestellt bleiben. Eine eingehendere Besprechung dieser Verhältnisse findet sich S. 79 meiner Schrift: Zur Anatomie und Physiologie d. quergestr. Muskelsubstanz. Leipzig 1882. Bemerkenswert wird die Tatsache er- scheinen, dass die optischen Eigenschaften vor und nach der Gerin- nung die gleichen sind. Gegen eine eingreifende chemische Verän- derung spricht dieser Umstand übrigens nicht, da auch die Koagula- tion des Myosins durch Siedehitze die optischen Eigenschaften nicht ändert. Chemisch oder physikalisch wird sich niemals feststellen lassen, ob ein Muskel wirklich starr und tot oder nur scheintot ist; insbe- sondere darf die Reaktion in dieser Beziehung nicht als entscheidend erachtet werden. Es kann aber weiter auch nicht die Erregbarkeit als Maßstab benutzt werden, sondern einzig und allein die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, die Kontraktilität bei Anwendung der geeigneten Mittel, unter denen das Blut des betreffenden Tiers in erster Linie steht, wiederherzustellen, gibt das Kriterium über scheintot oder tot ab. Hiermit verlassen wir die offenbar ebenso interessanten als wich- tigen Erscheinungen bei dem erstern und schen uns nach dem um, was auf andern Wegen über den Stoffverbrauch des Muskels und zwar zuerst des ruhenden ermittelt worden ist. Da ist denn zuerst die Erzeugung von Kohlensäure durch das Muskelgewebe anzuführen. Bei der Abgabe von Kohlensäure seitens ausgeschnittener Muskeln, die unabhängig vom Blutgehalt, sowie auch in sauerstofffreien, übri- gens indifferenten Gasgemengen vor sich geht, könnte man an Störung durch beginnende Starre oder durch Bakterienwirkung denken. Un- zweideutiger ist schon der Kohlensäuregehalt des aus dem Muskel ausströmenden Bluts oder der künstlich durch die Gefäße des Mus- kels getriebenen Lymphe. Ebenso hat sich endlich die Bildung von Kohlensäure im Muskel ergeben bei Untersuchung des gesamten Gasaustausches des Körpers. Wie man dazu gekommen ist, die von dem Körper ausgegebene Kohlensäure ganz oder teilweise auf den Muskel zu beziehen, bedarf einer kurzen Erörterung. Der Begriff „ruhender Muskel“ ist vom chemischen Standpunkt ein rela- tiver, insofern bei vollkommener mechanischer Muskelruhe der Stoff- wechsel im Muskel verschieden stark sein kann. Der oben bereits erwähnte chemische Tonus, ein Reflextonus, in welchem sich der ruhende Muskel bei intaktem Körper befindet, lässt sich auf verschie- dene Weise vermindern, so z. B. durch mechanische oder toxische Trennung des Muskels von den nervösen Zentralorganen, und an- dererseits verstärken, ohne dass es zu Bewegungen kommt, so durch Erhöhung der Reize auf der Peripherie, z. B. Abkühlung der Haut. Nasse, Chemismus der Muskelsubstanz. 947 In ersterm Falle sinkt die Kohlensäureproduktion unter, in letzterm Falle steigt sie über die bei der gewöhnlichen Ruhe beobachteten. Versuche an Tieren mit ruhender und sodann durch Kurare im chemischen Tonus herabgesetzter Muskulatur haben bei genauster Verfolgung der Stickstoffausscheidung ergeben, dass Eiweißkörper oder überhaupt stickstoffhaltige Bestandteile des Muskels im Ruhezu- stand desselben nicht in merkbarer Weise zersetzt werden; die Koh- lensäure muss demnach von Fetten oder Kohlehydraten stammen. Von einer Zersetzung von Fett im ruhenden Muskel ist nichts be- kannt, wol aber weist die Abnahme des Glykogens bei unverändertem Tonus (Ruhe im gewöhnlichen Sinne), jedoch gleichzeitigem Ausschluss des Ersatzes durch Unterbrechung der Zirkulation sowie andererseits die Zunahme von Glykogen bei Verringerung des chemischen Tonus auf Verbrauch von Glykogen in der Ruhe hin. Wiederholt ist bereits behauptet worden (Heynsius, Funke), dass auch im ruhenden Muskel sich fortwährend Säure bilde, deutlich nachgewiesen ist dieselbe aber erst neuerdings durch Langendorff?): bei unter Wasser erstickten Fröschen fanden sich die mit dem Zen- tralorgan in Verbindung stehenden Muskeln deutlich sauer, nicht die von den Zentralorganen abgetrennten. Jene waren dabei noch erreg- bar, die normale Reaktion kehrte bei Wiederherstellung der Atmung rasch zurück. Näheres ist über die Säuerung nieht mitgeteilt. Im tätigen Muskel steigt die Kohlensäurebildung entsprechend dem Grade der Tätigkeit, übrigens wie in der Ruhe unabhängig von gleichzeitiger Sauerstoffaufnahme. Unter normalen Verhältnissen stammt die Kohlensäure auch hier nicht von Zersetzung der Eiweiß- stoffe. Nur in zwei Fällen kann Zersetzung der stickstoffhaltigen Verbindungen eintreten und sich in vermehrter Stickstoffausfuhr des Organismus zu erkennen geben. Auf den einen Fall, der auch bei dem vollkommensten Ernährungszustand möglich ist, hat H. Oppen- heim?) besonders aufmerksam gemacht: sobald die Muskelarbeit zu Dyspnoe führt, wird die Stickstoffausscheidung gesteigert, wie über- haupt bei Dyspnoe mehr Eiweiß zerfällt. Der Ort des Zerfalls ist hiermit freilich nieht bestimmt, doch spricht nichts dagegen, als sol- chen das Muskelgewebe selbst anzunehmen. Die Erkenntniss dieses Verhaltens gibt uns die Erklärung für die Widersprüche mancher teils älterer, teils bis in die neuste Zeit reichender Angaben über die Wirkung der Muskelarbeit auf die Eiweißzersetzung. Nicht minder wichtig ist der zweite Fall: es wird stiekstoffhaltiges Material zer- setzt und ist in diesem Fall auch die Quelle aller im Muskel frei werdenden lebendigen Kraft, wenn die stiekstofffreien Substanzen in der Nahrung und im Körper in zu geringer Menge vorhanden sind. 1) Medizin. Centralbl. 1882. S.. 899. 2) Arch. f. d. ges. Physiol. XXI. S. 40. 1880, 948 Nasse, Chemismus der Muskelsubstanz. Nach alledem stammt also in der Norm auch bei der Tätigkeit die Kohlensäure aus stickstofffreien Muskelbestandteilen, und zwar ist es erwiesen, dass das Glykogen an Menge abnimmt, zum Teil wie bei der Starre in Zucker übergeht. Zersetzung von Fett in den Muskeln bei deren Tätigkeit ist aus allgemeinen Stoffwechselversuchen gefol- gert worden, an direkten Untersuchungen des Muskels selbst fehlt es vollständig. Die Muskeln werden ferner bei ihrer Tätigkeit sauer. Auch hier ist die bisherige Erklärung, es handle sich um Auftreten von freier Milchsäure, nicht mehr giltig. Zunächst hat Warren!) vom Alkohol wieder befreite alkoholische Auszüge von ausgeschnittenen ruhenden sowie tetanisirten Muskeln mit Schwefelsäure angesäuert, mit Aether ausgeschüttelt und die in den Aetherauszug übergegangenen nicht flüchtigen Säuren (wahrscheinlich nur Milchsäure) durch Titration bestimmt und dabei eine Abnahme derselben durch den Tetanus kon- statirtt. Astaschewsky (a.a. O.) hat unabhängig von der eben be- sprochenen Untersuchung durch Ermittlung der Milchsäure selbst, der freien wie der gebundenen, ebenfalls eine Abnahme derselben infolge der Tätigkeit der Muskeln festgestellt, freilich bei erhaltener Zirku- lation. Die Beobachtungen dürfen aber dennoch mit herangezogen werden, da Warren bei erhaltener Zirkulation dieselben Verän- derungen wie in ausgeschnittenen Muskeln gefunden hat. Woher nun aber die saure Reaktion? Astaschewsky behauptet sogar auch, die sauern Alkaliphosphate seien vermindert! Aufschluss scheinen Versuche von Weyl und Zeitler?) zu geben: im: Gegensatz zu Astaschewsky zeigte sich deutlich eine Vermehrung der anorgani- schen Phosphate im tetanisirten Muskel, von den organischen Phos- phaten, wenn dieser Ausdruck für die Phosphorsäureäther gebraucht werden darf, war das Leeithin vermindert. Auf die bei der Zer- setzung von Leeithin frei werdende Phosphorsäure wäre somit die Bildung von sauren Alkaliphosphaten und die saure Reaktion des tetanisirten Muskels zurückzuführen. Wahrscheimlich sind aber noch andere Phosphate dabei beteiligt, vielleicht das Nuclein, denn die Vermehrung der Phosphorsäure in den anorganischen Phosphaten ist bedeutender, als die Abnahme der in dem Leeithin enthaltenen. Diese interessante Entdeckung von Weyl und Zeitler gibt wol auch eine Erklärung für die wiederholt (Hammond, Speck, G. v. Engel- mann) bemerkte Vermehrung der durch den Harn ausgeschiedenen Phosphorsäure. Freilich ist nicht in allen diesen Fällen auch die in den Fäces enthaltene Phosphorsäure bestimmt worden; es kann aber bekanntlich nur bei Berücksichtigung aller Ausscheidungen der Stoff- wechsel der Phosphorsäure ermittelt werden. 4) Arch. f. d. ges. Physiol. XXIV. 391. 1881. 2) Zeitschr. f. physiol. Chem. VI. S. 557. 1832. Nasse, Chemismus der Muskelsubstanz. 249 Fügen wir zu dem Vorstehenden noch hinzu, dass durch die Tä- tigkeit des Muskels der wässrige Auszug desselben an Menge ab-, der alkoholische an Menge zunimmt, sowie dass reduzirende Sub- stanzen entstehen, so ist damit das tatsächliche Material, die Zer- setzungen bei der Kontraktion angehend, so gut wie erschöpft. Es mag noch einmal darauf hingewiesen werden, welche Schwierigkeiten bei dem Studium dieser Vorgänge — das gilt ebenso für den ruhen- den Muskel — sich geltend machen. Bleibt die Zirkulation erhalten, so werden die neugebildeten Substanzen leicht weggeschwemmt und so dem Nachweis entzogen werden können; ist die Zirkulation auf- gehoben, oder sind die Muskeln aus dem Körper entfernt, so tritt als eine ihrer Größe nach unberechenbare Komplikation die sofort begin- nende Erstarrung ein. Uebergehend zu der Aufgabe, den Verbrauch bei dem Stoff- wechsel des Muskels kurz zusammenzufassen, tragen wir zuerst noch nach, dass bei der Erstarrung wie bei den verschiedensten Tätigkeits- zuständen des Muskels Wärme entwickelt wird. Sicher gestatten die mitgeteilten Tatsachen den Schluss, dass der Verbrauch bei der Ruhe von dem bei der Tätigkeit nur quantitativ, nicht qualitativ verschie- den ist. Tätigkeit und Erstarrung hat man in bezug auf die che- mischen Prozesse, nicht auf die durch das Auge zu erkennenden gröbern oder feinern Veränderungen schon seit längerer Zeit mit einander verglichen und die Aehnlichkeiten hervorgesucht. Die Un- gleichheiten finden zum Teil unschwer ihre Erklärung in den wieder- holt betonten unumgänglichen Verschiedenheiten der Versuchsanord- nungen, sowie in dem bei dem tätigen Muskel oft nieht auszuschlie- ßenden gleichzeitigen Ersatz. Unerklärlich bleibt aber die Differenz betreffs der Säurebildung: bei der Starre wird die Milchsäure ver- mehrt (Böhm), bei der Tätigkeit vermindert (Warren, Asta- schewsky)! Hier sind weitere Untersuchungen durchaus erforderlich. Unter Freiwerden von Wärme wird Kohlensäure entwickelt, Gly- kogen umgewandelt und teilweise ganz zersetzt (ohne dass bekannt ist, was außer Kohlensäure hierbei entsteht) — das sind bis jetzt, normale Verhältnisse der Ernährung u. s. w. vorausgesetzt, die kon- stanten und somit wol als wesentlich zu bezeichnenden Vorgänge bei dem „Verbrauch“ genannten Teile des Stoffwechsels der Muskelsub- stanz. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass sich mit der Zeit noch anderes anreihen wird, u. a. vielleicht die Leeithinzersetzung. Die oben angeführten Tatsachen, dass diese Stoffumwandlungen unabhängig von Sauerstoff vor sich gehen, beweisen, dass es sich nicht um Oxydationsvorgänge im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes handelt. Es hat sich vielmehr mit der Zeit die Anschauung Bahn gebrochen, dass die in Frage stehenden Vorgänge in die Kategorie der Spaltungsprozesse, ähnlich den Gährungs- oder Fermentprozessen, gehören. Ihre Begründung findet die Anschauung hauptsächlich darin, 350 Nasse, Chemismus der Muskelsubstanz. dass man die Umsetzungen mit ähnlichen Mitteln hindern und an- dererseits fördern kann wie Fermentprozesse. Indem ich nur ganz kurz hier noch erwähne, dass ich verschiedenen Einwendungen ge- genüber ungeformte Fermente für wesentlich beteiligt halte bei allen mit Freiwerden von lebendiger Kraft einhergehenden Umsetzungen im Körper und so auch im Muskel, und dass ich eine von solcher Ferment- wirkung prinzipiell zu trennende Protoplasmawirkung nicht zugeben kann, erlaube ich mir bezüglich des Nähern nochmals auf meine oben angeführte Schrift S. 96 ff. zu verweisen. Das Aufsuchen und Isoliren der Fermente — man kennt bis jetzt nur ein diastatisches und ein peptisches, welches letztere vielleicht ganz ohne Bedeutung ist — ist dringendes Bedürfniss. Wir können den Verbrauch von Stoffen im Muskel nicht ver- lassen, ohne wenigstens andeutungsweise der interessanten, noch nicht genug gewürdigten Beziehungen des Muskelstoffwechsels zum Diabetes zu gedenken. Es ist hier von der Tatsache auszugehen, dass Zucker im Muskel zerstört werden kann. Die Fähigkeit Zucker zu zerstören beschränkt sich aber, wie eine Reihe besonders von Zimmer!) her- vorgehobener Tatsachen schließen lässt, nicht auf den im Muskel selbst gebildeten Zucker, sondern betrifft auch den im Blut den Mus- keln zugeführten. Ja es scheint sogar, als seien die Muskeln über- haupt diejenigen Organe, welche den in das Blut auf irgend eine Weise gebrachten Zucker zerstören. Ist die in Rede stehende Fähig- keit verringert, so wird unter Umständen Zucker im Harn auftreten können. Häufig lässt sich die Fähigkeit wieder erhöhen und zwar durch dieselben Mittel, durch welche der Stoffwechsel der Muskeln überhaupt verstärkt wird. So kennt man Fälle von Diabetes, in wel- chen die Zuckerausscheidung durch Muskeltätigkeit vermindert und sogar aufgehoben wird. Umgekehrt hat man oft in der Nacht, offen- bar wol der größern Muskelruhe wegen, die Zuckerausscheidung zu- nehmen zu sehen Gelegenheit. Vielleicht erklärt sich auch der Ku- rarediabetes auf ähnliche Weise. Das Auftreten von Glykosurie bei Stryehnintetanus lässt übrigens vermuten, dass allzuheftige Anregung des Stoffwechsels, wie sie bei stark erschöpfenden Kontraktionen vor- kommt, die Zuckerzersetzung schädigen kann. An das eben Mitgeteilte knüpft sich aber auch noch eime all- gemeinere Betrachtung der Frage, ob der durch das Blut dem Muskel zugeführte und in demselben zerstörte Zucker den Kohlehydraten des Muskels selbst in physiologischer Beziehung gleichwertig ist, ins- besondere in gleicher Weise wie die letztern Kraftquelle für die me- chanische Arbeit sein kann. Gewichtige Gründe gegen die Annahme 1) Die Muskeln eine Quelle, Muskelarbeit ein Heilmittel bei Diabetes. Karlsbad 1880. — Ein Beitrag zur Lehre vom Diabetes mellitus. Karlsbad 1883. Nasse, Chemismus der Muskelsubstanz. 251 einer solchen Gleiehwertigkeit scheinen mir nicht vorzuliegen, um so weniger als das Glykogen, wie bei dem chemischen Bau der Muskel- substanz auseinandergesetzt worden ist, nicht dem eigentlich kon- traktilen Teil des Muskels (der fibrillären Substanz), sondern dem protoplasmatischen Teil angehört. Dieselben Erörterungen würden auch notwendig sein bezüglich des Fettes, wenn Zerstörung von Fett im Muskel eine normale Er- scheinung sein sollte. So viel Zeit notwendig gewesen ist, um, wenn auch nur in Um- rissen, ein Bild unserer augenblicklichen Kenntnisse von dem ersten Teil des Stoffwechsels der Muskelsubstanz zu entwerfen, so wenig ist leider erforderlich für die Besprechung des zweiten Teils, des Er- satzes. Auf zweierlei Art kann Ersatz überhaupt vor sich gehen: entweder werden dem Organ oder Gewebe direkt die Substanzen zu- gebracht, welche in ihm verbraucht sind, oder sie werden ihm nur indirekt geliefert, erhalten die geeignete Form erst an Ort und Stelle. Natürlich haben diese beiden Möglichkeiten für jede einzelne Substanz Geltung. Der Prozess, durch welchen den Stoffen eine geeignete be- sondere Form gegeben wird, kann auch wieder verschiedener Natur sein, insofern dabei entweder eine Zunahme der chemischen Spaun- kraft (anenergischer Prozess Bernstein’s) !) oder eine Abnahme der- selben (katenergischer Prozess) stattfindet. Prozesse ersterer Art sind jedenfalls im Muskel möglich. Das beweisen u. a. die Versuche von Kochs?) über die Bildung von Aetherschwefelsäuren. Zu ihrem Zustandekommen ist bei den höhern Organismen Anwesenheit von Blut, und zwar von sauerstoffhaltigem Blut erforderlich. Unter die anenergischen Prozesse ist, wenn wir die Aufgabe einen Augenblick etwas weiter fassen und nicht bloß von dem Ersatz bei dem Stoff- wechsel, sondern von dem chemischen Aufbau der Muskelsubstanz iiberhaupt handeln wollen, jedenfalls die Bildung des Haemoglobins zu rechnen, vielleicht auch die des Myosins. Halten wir uns aber nur an das Glykogen, als den einzigen sicher verbrauchten Stoff, so ist mit Bestimmtheit zu sagen, hauptsächlich aufgrund der Külz- schen ?) Beobachtungen an entleberten Fröschen, dass dasselbe im Muskel selbst gebildet wird, und mit großer Wahrscheimlichkeit, dass es durch einen katenergischen Prozess aus Eiweißkörpern entsteht, nicht, wie man eine Zeit lang glaubte, durch einen anenergischen Prozess aus Traubenzucker. Hier mag auch noch die Bemerkung Platz finden, dass wir von der Größe des Stoffwechsels des Glykogens unter normalen Verhältnissen uns einstweilen keine Vorstellung bil- den können. Keinesfalls darf man sich zu dem Fehler verleiten 1) Ueber die Kräfte der lebendigen Materie. Halis 1380. Rektoratspro- gramm. 2) Arch. f. d. ges. Physiol. XXIH. 5. 161. 1879, 3) ebenda XXIV, S. 64. 1880. 252 Pöhl, Bildung des Peptons außerhalb des Verdauungsapparats. lassen, in dem momentanen Glykogengehalt einen Maßstab für die- selbe zu sehen. Die am wenigsten tätigen Muskeln haben stets den höchsten Glykogengehalt. Hypothesen über Regenerirung des vielleicht bei der Kontraktion vorübergehend gerinnenden Myosins u. dgl. m. sollen begreiflicher Weise dem Leser erspart bleiben. Dagegen ge- hört in diesen Abschnitt des Muskelchemismus noch die Aufführung der von Kroneeker und seinen Schülern (Stirling, Me Guire, Martius, von Ott) angestellten Untersuchungen. Dieselben be- schäftigen sich nur mit einem bestimmten Muskel, nämlich der (ver- mutlich nervenlosen) Herzspitze des Frosches. Wenn dieselbe durch längeres Durchleiten von verschiedenen indifferenten Flüssigkeiten, so u. a. von (,6prozentiger Kochsalzlösung, leistungsunfähig gemacht worden ist, so kann ihr durch eine, aber eben auch nur eine einzige Substanz, nämlich Serumalbumin, die frühere Energie wiedergegeben werden. Man möchte vielleicht geneigt sein hieraus nur zu folgern, dass die kontraktile Substanz nur dann normal zu funktioniren ver- mag, wenn sie von serumalbuminhaltiger Flüssigkeit umspült ist, ohne dass die letztere wie der gesamte protoplasmatische Teil des Muskelgewebes direkt an den Vorgängen beteiligt ist; Kronecker selbst spricht sich aber mit Entschiedenheit dahin aus, dass das Se- rumalbumin Nährmaterial sei. Dass sich in dem Vorstehenden kein Wort darüber findet, wie es zugehe, dass unter gewissen Umständen die frei werdenden leben. digen Kräfte, bei unbestreitbarer Abstammung aus der gleichen Quelle, nicht blos die Form von Wärme, sondern auch die von me- chanischer Arbeit annehmen, wird nur denjenigen wundern, der der tierischen Physiologie ferner steht. Man kennt eben den Zusammen- hang des Stoffverbrauchs mit der von dem Muskel geleisteten mecha- nischen Arbeit gar nicht. Wol sind Hypothesen hierüber, mehr oder weniger in der Luft schwebend, gemacht worden, meistens aber ganz ohne Berücksichtigung der (mikroskopisch) sichtbaren, übrigens selbst schwer zu deutenden Veränderungen des Muskels bei seiner Kontrak- tion. Die Kritisirung dieser Hypothesen würde an dieser Stelle zu weit führen. 0. Nasse (Rostock). Alexander Poehl, Ueber das Vorkommen und die Bildung des Peptons ausserhalb des Verdauungsapparats und über die Rück- verwandlung des Peptons in Eiweiss. Abhandlung zur Erlangung des Grades eines Doctors der Chemie zu Dorpat. Petersburg 1832. 108 8. Die Untersuchungen des Verf. (vorläufig mitgeteilt im Bericht der deutschen chemischen Gesellschaft 1881, S. 1355) schließen sich Pöhl, Bildung des Peptons außerhalb des Verdauungsapparats. 255 an die Arbeiten von E. Eiehwald an (Colloidentartung der Eier- stöcke. Würzburg. med. Zeitschr. 5, 61; 1865 und Beiträge zur Chemie der gewebbildenden Substanzen und ihrer Abkömmlinge. Berlin 1873), und wurden mit Unterstützung desselben ausgeführt. Kap. I behan- delt die Eigenschaften des Peptons, besonders diejenigen, welche dasselbe vom nativen Eiweiß unterscheiden, die große Lös- lichkeit und die Nichtfällbarkeit durch Hitze, Säuren (auch Meta- phosphorsäure, welche ein empfindliches Reagens auf Eiweiß dar- stellt) und Salze der Alkalien und alkalischen Erden. Auch durch Essigsäure und Ferrocyankalium wird reines Pepton nicht gefällt, was von einigen neuern Autoren übersehen wurde. Kap. U. Dar- stellung und quantitative Bestimmung. Die verschiedenen Methoden, das durch Pepsin und Salzsäure in den Verdauungsflüssig- keiten aus den Albuminstoffen gebildete Pepton von dem unverän- derten Eiweiß zu trennen, werden eingehend besprochen. Den Vor- zug verdient die Hoppe-Seyler’sche, welehe nach Hofmeister folgendermaßen ausgeführt wird. Die sauern Flüssigkeiten (100 T.) werden mit gesättigter Lösung von Natriumacetat (ca. 3 T.) ver- setzt, dazu Risenchlorid tropfenweise bis zu bleibender Rotfärbung gegeben, die Azidität bis zu sehr schwach saurer oder neutraler Reaktion abgestumpft, aufgekocht, der entstandene Eiweißniederschlag mit siedendem, etwas Natriumacetat haltendem Wasser ausgewaschen. In dem eingedampften Filtrat kann das Pepton durch die Biuret- reaktion (Violettfärbung mit Natronlauge und etwas Kupfersulfat) nachgewiesen und im Vergleich mit einer Normalpeptonlösung auch kolorimetrisch bestimmt werden. Sind Körper zugegen, welche hier stören könnten, so wird das Filtrat mit Schwefelsäure versetzt und das Pepton mit Phosphorwolframsäure ausgefällt (Hofmeister). Der Niederschlag wird nach kurzem Stehen abfiltrirt, mit Schwefel- säure (ca. 5°/,) gewaschen und in einer Reibschale mit Wasser und überschüssigem Barythydrat verrieben; nach kurzem Erwärmen auf dem Wasserbad wird filtrirt, mit Barytwasser nachgewaschen und im Filtrat das Pepton bestimmt. P. warnt davor, das Eiweiß aus den Versuchsflüssigkeiten durch Kochen mit Bleioxyd zu entfernen, weil dabei das Pepton zum Teil mit gefällt, zum Teil verändert wird. Kap. II und IV. Vorkommen und Bildung außerhalb des Verdauungsapparats. Schon Mialhe und Pressat (Compt. rend. 33, 450) gaben die weite Verbreitung des Peptons in den tieri- schen Flüssigkeiten an, spätere Forscher fanden es besonders reich- lich im Eiter und während der Resorption von pathologischen Exsudaten im Harn. Hier wird es nach Hofmeister durch Fäl- lung mit Phosphorwolframsäure und Essigsäure frei von Kreatinin erhalten. P. wies es in Sputis, in Ovarialeysten, in Krebs- massen nach. Im Harn fand er es sehr häufig bei hochfiebernden Kranken, überhaupt in jedem sauern eiweißhaltigen Har; 954 Pöhl, Bildung des Peptons außerhalb des Verdauungsapparats. nahm derselbe neutrale oder alkalische Reaktion an, so verlor sich der Peptongehalt. Obiges Verhalten könnte durch einen Gehalt des Harns an Pepsin erklärt werden; dieser wurde von Brücke nach- gewiesen, welcher eine Resorption des Pepsins im Darm annahm. P. konnte im filtrirten Harn keine peptische Wirkung nachweisen, wol aber im unfiltrirten, schleimhaltigen. Doch stammt der Pepton- gehalt des Harns wahrscheinlich aus der Niere, denn das Gewebe derselben ist nach P.’s Versuchen fähig, Serumalbumin und Fibrin zu peptonisiren, noch mehr das der Lunge, weniger das Gewebe vom Duodenum und Dünndarm. Aehnliche Beobachtungen wurden früher von Eberle, E. Mitscherlich, Valentin, Frerichs, Mulder und Kühne gemacht. In den Pflanzen wurde das Vor- kommen Pepton bildender Fermente von Gorup-Besanez, Will, Wurtz und Bouchut ete. nachgewiesen. P. experimentirte mit dem Milchsaft von Carica papaya, mit Penicillium sowie mit den Blät- tern vieler Dikotyledonen und er steht nicht an, das in den verschie- denen tierischen und pflanzlichen Geweben nachgewiesene Ferment mit dem nur in saurer Lösung wirksamen Pepsin zu identifiziren. Kap. V. Die Rückverwandlung von Pepton in Eiweiß geschieht nach Henninger durch Erwärmen mit Essigsäurean- hydrid auf 80°, oder durch Erhitzen des Peptons für sieh auf 160 bis 180°, wie auch Hofmeister fand. Nach v. Wittich und Cohn wirkt der galvanische Strom in gleicher Weise, nach P. jedoch nur in Gegenwart von Salzen (Chlornatrium). Auch durch Alko- hol und Salze wird das Pepton in Eiweiß übergeführt, wie Poehl und A. Danilewsky fanden, ferner nach P. durch Eintragen von Pepton in Natriumsulfat, welches in seinem Krystallwasser ge- schmolzen wurde, oder durch Erwärmen mit Natriumsulfat im Kolben am Rückflusskühler. Durch diese Einwirkungen, welche im wesent- lichen als wasserentziehende zu betrachten sind, wird allmählich ein immer schwerer lösliches und durch mehr Reagentien fällbares Eiweiß gebildet. Kap. VI. Das optische Verhalten des Peptons wurde vom Verf. eingehend studirt. Die spezifische Drehung von Fibrin- pepton wurde von Hofmeister zu («)p = — 63,5° bestimmt. P. fand, dass das Vermögen der Peptonlösungen, die Ebene des po- larisirten Lichts nach links zu drehen, mit zunehmender Verdünnung wächst und bestimmte («)p = — 14,479 — 0,4929 q. Das spezi- fische Lichtbrechungsvermögen nimmt dagegen mit der Kon- zentration ab und beträgt nach P.: 0,4212 — 0,0008954 q. q misst den Grad der Verdünnung und bezeichnet die Menge inaktiver oder fremder Substanz (Wasser), welche sich in 100 Gewichtsteilen der untersuchten Peptonlösung findet. Kap. VII. Das Verhältniss der Peptone zu den genuinen Eiweißkörpern wurde von Thiry als Isomerie, von Herth Wollny, Elektrizität bei der Pflanzenkultur. 355 als Polymerie aufgefasst. Die zur Zeit ziemlich allgemein herr- schende Ansicht nimmt eine Hydratation, eine chemische Bindung der Elemente des Wassers bei der Peptonisation an. Allerdings lie- fert die vergleichende Elementaranalyse keinen sichern Beweis dafür, was sich aus dem hohen Molekulargewicht der Albuminstoffe erklärt; doch spricht die Rückbildung von Eiweiß durch Wasser entziehende Mittel für diese Auffassung. Nach Eichwald, dem sich P. an- schließt, wird das Wasser bei der Peptonisation aber nicht chemisch, sondern physikalisch gebunden, Pepton und Eiweiß wären dem- nach verschiedene Quellungszustände desselben chemischen Körpers. Einen Beweis gegen die andern Auffassungen und für die von ihm vertretene Hypothese sieht P. in dem Umstand, dass in seinen Ver- suchen weder das spezifische Lichtbrechungsvermögen, noch das spe- zifische Gewicht, oder das spezifische Drehungsvermögen der Pepsin- eiweißlösungen bei der Peptonisation sich änderte. De Bary hatte eine geringe Zunahme des spezifischen Drehungsvermögens bei der Peptonbildung beobachtet. Herter (Berlin). Ewald Wollny, Ueber die Anwendung der Elektrizität bei der Pflanzenkultur. 37 S. München. Theodor Ackermann 1883. Eine Reihe älterer Versuche, unter denen die Bertholon’s hervorzuheben sind, schienen ebenso wie die neuern Versuche Grandeau’s, Leclere’s und Celi’s den Beweis zu liefern, dass direkt elektrisirte Pflanzen gegenüber solehen, die nur der Einwirkung der in der Atmosphäre vorhandenen Elektri- zität ausgesetzt waren, letztere ihrerseits gegenüber solchen, die durch darüber gespannte ableitende Metalldrähte der Einwirkung der atmosphärischen Elek- trizität entzogen waren, in bezug auf Schnelligkeit der Keimung und des Wachstums, Größe und Kräftigkeit der gebildeten Organe im Vorteil seien, duftreichere Blüten und süßere Früchte erzeugen. Bei den Versuchen an- derer Forscher, so namentlich bei den von Naudin angestellten, ergab sich jedoch das gerade Gegenteil. Jngenhouss und Solly wiederum konnten bei in größerm Maßstab angestellten Versuchen überhaupt keinen Einfluss der Elektrizität, weder in der einen noch in der andern Richtung, erkennen. Gleiche positive und negative Erfolge hat die Anwendung des galvanischen Stroms aufzuweisen, so dass Verf. die ganze Frage noch für unentschieden hält. Die Widersprüche in den Versuchsresultaten führt er zum Teil darauf zurück, dass wahrscheinlich einerseits ein Nutzen aus der Anwendung der Elektrizität erst bei einer gewissen Größe der Einwirkung hervortrete, anderer- seits sehr bald ein Punkt erreicht werde, wo die Elektrizität schädlich zu wirken beginne. Eben deshalb sei aber kaum zu erwarten, dass die Elektro- kultur für die Praxis des Pflanzenbaus eine besondere Bedeutung erlangen werde. Versuche von C. W. Siemens und P. P. Dehe&rain mit elektrischem Licht stellten zunächst die Tatsache fest, dass das direkte Licht schädlich auf die Pflanzen wirkt, daher elektrisches Lieht überhaupt nur verwendet werden darf, wenn durch Umgebung mit einer Lampe aus mattem Glase für Absorption der sehr stark brechbaren Strahlen gesorgt wird. Da ferner das elektrische Licht dem Sonnenlichte an Stärke bedeutend nachsteht, so stellt 256 Zopf, Die Spaltpilze. sich bei in vollem Wachstum befindlichen und daher sehr lichtbedürftigen Pflanzen in elektrischer Beleuchtung abnormes Längenwachstum ein, welches schließlich zur Lebensunfähigkeit des Protoplasmas in den Zellen und zu einem Lagern der Pflanzen führt. Für solche Pflanzen hält daher Verf. eine vorteilhafte Verwertung der fraglichen künstlichen Lichtquelle überhaupt für ausgeschlossen. Aber auch für im Wachstum vorgeschrittene Pflanzen sei von elektrischer Belichtung geringe Förderung zu erwarten, weil das elektrische Lieht zu arm an leuchtenden Strahlen ist, die für die Assimilationstätigkeit der Pflanze allein in betracht kommen. Eine lohnende Verwendung des elek- trischen Lichts sei daher nur in solchen Fällen zu erwarten, wo die zum Be- triebe der Dynamomaschinen erforderlichen Kräfte sich sehr billig beschaffen lassen. Ed. Seler (Krossen). W. Zopf, Die Spaltpilze. Nach dem neuesten Standpunkt bearbeitet. Separatabdruck aus der Eney- klopädie der Naturwissenschaften. Bres!zu 1883. Während die wissenschaftlichen Ergebnisse der von Zopf selbst über Spaltpflanzen angestellten Forschungen bereits an zwei andern Stellen dieses Blattes besprochen worden sind, in Bd. II Nr. 9 und in Bd. III Nr. 6, bleibt uns hier nur übrig, darauf hinzuweisen, dass die „vorliegende Schrift den Zweck hat, die wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Spaltpilzforschung, so- weit sie die Morphologie, Physiologie, Entwicklungsgeschichte und Systematik betreffen, in wissenschaftlicher Darstellung zu einem gegliederten Ganzen zu verarbeiten“. Eine solche kritische Zusammenstellung war bei der neuerdings reißend anschwellenden einschlägigen und überall verstreuten Literatur ein Bedürfniss und wir können dern Unternehmen der „Eneyklopädie“ Glück wünschen, dass dasselbe eine so kundige Feder dafür gefunden hat. Die von dem Verfasser selbst auf Holz gezeichneten Abbildungen tragen nicht wenig zum allgemeinen Verständniss der Sache bei. Berichtigung. In meinem Untersuchungsbericht über die Reifung und Furchung des Rep- tilieneies finden sich ohne mein Verschulden folgende Irrtümer, welche leicht zu Missverständnissen Anlass geben können. Zwei derselben, die mir besonders wichtig scheinen, will ich daher in ihrem ursprünglichen Sinne wiedergeben. Ich sprach von dem für die Schichtung des Vogeldotters geltenden Schema, ohne mich irgendwie über dessen Richtigkeit zu äussern. Nach der jetzigen Fassung erscheint mir aber die Bestätigung desselben untergeschoben, gegen welche ich mich verwahren muss; denn meine Untersuchungen am Ei des Papageis stimmen mit dem von Kölliker gezeichneten Schichtungsbilde — dieses hatte ich nämlich zur Vergeichung gewählt — nicht überein, sondern schliessen sich mehr an das ın Balfour’s Lehrbuch gegebene Schema an. Ferner sprach ich vom „Centrum“ der Dotterbildung und statt dessen heisst es jetzt „Ausgangspunkt“ der Dotterbildung was sich mit obigem Begriffe nicht deckt. Auf eine Anzahl stilistischer Aende- rungen, die mir zwar sehr unbequem sind und manchmal hervorgehobene Gegen- sätze abschwächen, will ich nicht näher eingehen. Meine bald erscheinende Ar- beit wird, was hier unklar geblieben sein mag, demnächst in extenso wiederbringen. Würzburg, 1. Juni 1883. C. F. Sarasin. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 94 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. = ; | III. Band. 1. Juli 1883. Nr. 9. Inhalt: Wortmann, Pf .nzliche Verdauungsprozesse. — 6wriesbach, Bindesubstanz und Coelom der Cestoden. — Klaussner, Rückenmark des Proteus an- guineus. — Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. — Biedermann, Stadium der latenten Reizung. — Buecola, Pupillenreaktion bei progressiver Paralyse. — Urbantschitsch, Einfluss von Trigeminusreizen auf die Sinnes- empfindungen. — Urbantschitseh, Anästhesie der peripheren Chorda tympani- Fasern. — Eeker, Anatomie des Frosches. — Pflüger, Ueberwintern der Kaulquappen der Knoblauchkröte. — Preyer, Elemente der allgemeinen Physiologie. LLLL——————————————————————————————————— Die pflanzlichen Verdauungsprozesse. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der physiologischen For- schung, die Beziehungen aufzudeeken, welche zwischen den Lebens- erscheinungen des pflanzlichen und des tierischen Organismus bestehen und die übereinstimmenden Prozesse auf gleiche Ursachen zurückzu- führen. Lange Zeit hindurch glaubte man an zwei gänzlich von ein- ander verschiedene Arten des Seins und stellte ein tierisches Leben zu einem pflanzlichen in strengen Gegensatz. Eine gründlichere For- schung hat jedoch in überraschender Weise erkannt, dass eine so scharfe Scheidung gegensätzlichen Lebens nicht gerechtfertigt ist, und grade gegenwärtig macht sich das Bestreben geltend, überall die Analogien zwischen pflanzlichem und tierischem Leben hervorzuheben. Diese Analogien sind auf keinem Gebiet so groß, aber auch die Gegensätze sind nirgends so scharf zu charakterisiren, als auf dem Gebiet der Ernährung, und zwar vielleicht darum, weil kein anderer Zweig der Physiologie besser und mit mehr Erfolg bearbeitet wurde. Dass der Tierleib, auch der der Carnivoren, sich aus ganz denselben Elementen aufbaut wie der Pflanzenkörper, hat heute gar nichts Be- fremdendes mehr, da man weiß, dass in letzter Stufe doch der pflanz- liche Organismus das gesamte Nährmaterial für den tierischen liefert. Während die Umsetzung des aufgenommenen Nährmaterials, der Stoff- wechsel, ebenfalls als ein bei beiden Arten von Organismen im Prin- 17 258 Wortmann, Pflanzliche Verdauungsprozesse. zip analoger Vorgang sich kund gibt, scheint hinsichtlich der Qualität des Nährmaterials sowie in der Art und Weise der Aufnahme des- selben ein großer Unterschied zu bestehen. Die gewöhnliche mit Chlorophyll versehene Pflanze erhält ihr ge- samtes Nährmaterial nur in gelöstem oder gasförmigem Zustand. Aus einigen wenigen, noch dazu in ganz geringer Menge im Bodenwasser gelösten Salzen, sowie aus der ebenfalls in außerordentlich geringem Maßverhältniss in der Atmosphäre enthaltenen Kohlensäure ist sie im stande ihren Körper aufzubauen. Ausanorganischem Material erzeugt sie durch Synthese die komplizirtesten organischen Verbindungen, zu- nächst Kohlehydrate und mit Hilfe derselben auch Eiweiß; das aber sind Verbindungen, welche, einmal erzeugt, im pflanzlichen und im tierischen Organismus ganz analogen Umsetzungen unterliegen Ganz anders verhält sich bezüglich der Aufnahme das Tier. Unfähig, or- ganisches Material aus anorganischen Faktoren zu erzeugen, ist es hinsichtlich der Nährstoffe auf die durch pflanzliche Tätigkeit erzeug- ten Verbindungen angewiesen, welche es in festem sowol als auch in gelöstem Zustand zu sich nehmen kann. Nicht einfach von außen her, wie bei der Pflanze, vermögen die dem Tier dienenden Nähr- stoffe in dessen Inneres einzudringen; in besonders veranlagten Organen findet vielmehr durch höchst verwiekelte Prozesse eine Um- wandlung der aufgenommenen Nährstoffe in Verbindungen statt, wel- che löslich und alsdann fähig sind, direkt am Aufbau des Tierkörpers sich zu beteiligen. Die chiorophyliführende Pflanze findet ihr Nähr- material immer in dem Zustand, in welchem es absorbirt werden kann; bei dem Tier treten vor der Absorption noch eine Reihe von Erschei- nungen ein, welche nötig sind, um die Absorption möglich zu machen; Diese beiden Arten der Nahrungsaufnahme seitens des Tiers und sei- tens der Pflanze sind sowol physiologisch als chemisch prinzipiell von einander unterschieden, und mit Recht weist Hansen!) den von Pfeffer gemachten Versuch zurück, den Prozess der Kohlensäure- aufnahme seitens der grünen Pflanze, den Assimilationsprozess, als etwas der Nahrungsaufnahme durch das Tier Analoges unter dem Begriff des Stoffwechsels zu subsummiren. Der Assimilationsprozess ist eben ein Vorgang, der nur in der chlorophylihaltigen Pflanze sich abspielt; die Assimilation ist nicht bloß eine Umarbeitung aufgenom- mener Nahrung, sondern die Darstellung derselben aus Nährmaterial. Erst nachdem die grüne Pflanze ihre Nahrung sich selbst bereitet hat, kann sie mit derselben in entsprechender Weise operiren wie das Tier, welches die Nahrung fertig gebildet vorfindet. Die nicht chlorophyll- haltige Pflanze, welche eben wegen des Chlorophylimangels sich ihre Nahrung aus anorganischen Bestandteilen nicht selbst bereiten kann, 4) Hansen: Geschichte der Assimilation und Chlorophylifunktion. Ar- beiten des botanischen Instituts in Würzburg. II. Bd. Heft 4. S. 538. Wortmann, Pflanzliche Verdaumgsprozesse, 259 ist daher ebenso wie das Tier auf Zufuhr organischer Nahrung an- gewiesen. Wir haben daher den nur einem Teil der Gewächse eigentümliechen Assimilationsprozess, die Fähigkeit der Bereitung organischer Nah- rung, als etwas ganz Besonderes abzutrennen und uns nach den Ana- logien der Umarbeitung der aufgenommenen oder dargestellten Nahrung behufs Ueberführung in protoplasmatische Bestandteile um- zusehen. | Wie schon erwähnt geht diese Verarbeitung, diese Umsetzung der aufgenommenen Nahrung, speziell bei dem höher gegliederten Tier in besonders veranlagten Organen, vorzüglich im Magen und im Darm- kanal vor sieh, und die Vorgänge, welche in denselben sich abspielen, nannte man „Verdauung“. Von einem dem tierischen Magen oder Darm- kanal analogen Organ kommt im ganzen Pflanzenreich, auch bei den höchst organisirten Gewächsen, nicht einmal eine Andeutung vor; dennoeh aber finden wir hinsichtlich der im Magen und andern Ver- dauungsorganen sich abwiekelnden chemischen Prozesse bei den Pflan- zen die größte und auffallendste Uebereinstimmung. Bei allen Ver- dauungsprozessen handelt es sich in gleicher Weise darum, aufgenom- mene oder auch aufnehmbare und noch nieht direkt zu verwendende Nahrung in Verbindungen überzuführen, welche fähig sind, am Aufbau zunächst der das Protoplasma zusammensetzenden Atom- und Mole- külgruppen unmittelbar sich zu beteiligen, in eine Form zu verwan- deln, in welcher dieselbe, wenn man so sagen darf, vom Protoplasma weiter verarbeitet werden kann. Der Vorgangder Verdauung besteht nicht bloß in einem Löslichmachen fester Nährbestandteile, sondern in einer Ueberführung auch vorher schon gelöster Körper in Verbindungen, welche in den Stoffwechsel eintreten können. Alle diese Umsetzungen haben das Gemeinsame, dass sie durch vom Organismus zu diesem Zweck erzeugte und ausgeschiedene lösliche und diffusionsfähige Stoffe ausgeführt werden, welche man als Fermente, und zwar im engern Sinn als „lösliche oder ungeformte“ Fermente, bezeichnet. Jeder Verdauungsprozess ist ein Fermentprozess. Unterlassen wir es, auf den Chemismus der Fermentation näher einzugehen, sondern suchen wir uns bei den Pflanzen über das Vor- handensein und die Identität der verschiedenen tierischen Verdauungs- prozesse zu orientiren. Esist klar, dass es hierbei nur auf eine Ver- gleichung des chemischen Aktes der Verdauung als des hauptsächlichen Moments ankommen kann, da den bei der tierischen Verdauung sich vollziehenden physikalischen und mechanischen Vorgängen im allge- meinen eine sekundäre Bedeutung beigemessen werden muss. Dies ist schon daraus ersichtlich, dass dieselben bei vielen auf niederer Stufe der Organisation stehenden Tieren gänzlich fehlen können und selbst da, wo sie vorhanden sind, zahlreiche Variationen zeigen. Das organische Nährmaterial der Tiere besteht aus Eiweißstoffen, 17° 650 Wortmann, Pflanzliche Verdauungsprozesse. Fetten und Kohlehydraten. Die Verdauung dieser Stoffe findet aber nicht durch ein einziges, auf jeden der Stoffe gleichzeitig oder gleich- mäßig wirkendes Ferment statt, sondern der Organismus produzirt verschiedene Fermente, von denen jedes nur auf ganz bestimmte Ver- bindungen einzuwirken im stande ist. Die Verdauung der Eiweißstoffe beruht auf einer Ueberführung derselben in Peptone und zwar ge- schieht dies teilweise durch das nur in saurer Lösung wirksame, 1836 von Schwann entdeckte, peptonisirende Ferment des Magens, zum größten Teil jedoch durch das auch in alkaliseher Lösung reagirende von Kühne isolirte Pankreaspepsin. Die Verdauung der Fette be- ruht auf einer Spaltung derselben in Glyzerin und freie Fettsäuren, welche durch ein nach Cl. Bernard im Pankreassaft gelöst enthal- tenes, allein bis jetzt noch nicht abgeschiedenes Ferment bewerkstelligt wird. Bei der Verdauung der Kohlehydrate kommt es darauf an, dieselben in Glykose überzuführen, was beim Stärkemehl durch ein sowol im Speichel als auch im Pankreassaft enthaltenes diastatisches Ferment geschieht. Ein anderes Ferment, das Invertin, hat die Auf- gabe, den zwar löslichen, aber doch nieht als solchen verwendbaren Rohrzucker in .ein Gemenge von Dextrose und Levulose umzuwandeln. Dieselben Fermentationen finden wir ohne Ausnahme auch im Pflanzenreich. Abgesehen von der schon im Jahre 1833 von Payen und Persoz aus keimenden Gerstensamen isolirten Diastase, ist die Kenntniss von der großen Verbreitung ungeformter Fermente in den Pflanzen erst neuern Datums, obwol man, vornehmlich durch Unter- suchungen von Sachs, schon seit geraumer Zeit über die Umsetzung von Stärke und Rohrzucker in Glykose, über die Auflösung der Ei- weißstoffe und über die Wanderung der Fette unterrichtet war. Es waren die sogenannten Insekten fressenden Pflanzen, durch deren auf- fallende Eigentümlichkeit, Insekten und andere kleine Tiere zu fangen und deren Körper aufzulösen und zu absorbiren, die Analogie mit der tierischen Verdauung sofort in die Augen sprang. Und in der Tat gelang es Reess und Will!), aus Drosera-Blättern durch Glyzerin einen Körper zu extrahiren, dessen verdauende Wirkung auf Blutfibrin leicht konstatirt werden konnte und dessen Uebereinstimmung mit dem Magensekret sich noch dadurch dokumentirte, dass seine Wirkung nur in schwach sauern Lösungen zur Geltung kam. Die Zahl der bis jetzt als insektivor bekannten Pflanzen hat sich bis auf ungefähr fünfzehn vermehrt. Trotz der ganz erheblich von einander abweichenden me- chanischen Einrichtungen derselben, wodurch das Fangen der Insekten ermöglicht wird, handelt es sich bei allen übereinstimmend darum, die Körpersubstanz des Insekts zur Aufnahme tauglich zu machen, und das geschieht in allen Fällen auf genau die gleiche Art und 1) Reess und Will: Einige Bemerkungen über „fleischessende* Pflanzen. Bot. Ztg. 1875. pag. 713 ff. Wortmann, Pflanzliche Verdauungsprozesse. 1 Weise. Genau wie im tierischen Magen wird hier durch Ausscheidung eines peptonisirenden Ferments der Körper des gefangenen Tiers in Pepton verwandelt und als solches absorbirt. Die Identität des Che- mismus sowol als auch die gleiche physiologische Bedeutung des an- gedeuteten Verdauungsprozesses der Insektivoren mit den im Magen des Tiers sich vollziehenden Vorgängen liegt daher auf der Hand. Wenn wir gesehen haben, dass die chlorophyllhaltige Pflanze bezüg- lich der Aufnahme der Nährstoffe eim anderes Verhalten an den Tag legt, als das Tier, so muss bemerkt werden, dass auch die grünen Gewächse in einer gewissen Periode, in welcher sie noch nicht hin- reichend zur Entwicklung gelangt sind, um ihre organische Nah- rung sich selbst zubereiten, auf die Zufuhr bereits fertig gebil- deter organischer Nährstoffe von außen angewiesen sind. Diese Periode ist die der Keimung, bei welcher bekanntlich die junge Keim- pflanze von den im Endosperm oder in den Kotyledonen enthaltenen Reservestoffen sich ernährt. Damit aber das in den Reservestoffbe- hältern in fester Form aufgespeicherte Nährmaterial in die Keimpflanze gelangen kann, muss es löslich und diffusionsfähig gemacht werden. Es bestehen mithin, wenn man will, zwischen der Keimpflanze und den Re- servestoffen dieselben Beziehungen, wie zwischen dem tierischen Organis- musund derverschluckten Nahrung. Auch die als Reservestoffe abgelager- ten eiweißartigen Verbindungen werden, wie in vielen Fällen mit Sicher- heit angenommen werden kann, durch Einwirkung eines von der Keim- pflanze zu diesem Zweck abgeschiedenen peptonisirenden Ferments in Lösung gebracht, und Gorup-Besanez!) warim stande, ein sol- ches im Samen der Wicke, des Hanfes, des Leins und der Gerste nachzuweisen. Die aus den Reservestoffbehältern ausgewanderten Produkte der Eiweißverdauung, Peptone, konnte Schulze?), wenn auch in geringer Menge, in Keimpflanzen von Lupinen auffinden. Die- selbe Art der Verdauung eiweißhaltiger Stoffe fmdet man bei den chlorophyllifreien Gewächsen, welche eben wegen dieses Chlorophyll- mangels auf Zufuhr und Aufnahme organischer Stoffe angewiesen sind. Bei den Spalt- und Schimmelpilzen wurde bis jetzt ein pep- tonisirendes Ferment noch nicht nachgewiesen; dennoch lässt die Art und Weise, wie diese Organismen auf das ihnen zu gebote stehende eiweißhaltige Substrat wirken, keinen Zweifel darüber aufkommen, dass man es hier mit einem Vorgang fermentativer Natur zu tun hat, dass hier die Pilzzelle ihre eiweißhaltige Nahrung in derselben Weise verdaut wie das Tier. Ein nur in saurer Lösung wirkendes peptoni- sirendes Ferment konnte übrigens von Krukenberg?) in den Plas- modien eines Schleimpilzes, des als Lohblüte bekannten Aethalium sep- 4) Berichte der chem. Gesellschaft. Bd. 7 u. 8 (1874 u. 1875). 2) Landwirtsch. Jahrbücher 1880. Bd. 2 pag. 88. 3) Untersuchungen des physiol. Instituts in Heidelberg. Bd. U p. 273. 2652 Wortmann, Pflanzliche Verdauungsprozesse. ticum, nachgewiesen werden. In neuster Zeit ferner ist durch Un- tersuchungen von Wittmack!), Wurtz und Bouchut?) auf ein im Milchsaft von Carica papaya enthaltenes, sehr energisch peptonisiren- des Ferment aufmerksam gemacht worden und letzterm Forscher ge- lang es, auch im Milchsaft von Ficus carica ein Fibrin lösendes Fer- ment aufzufinden®). Dass die Milchsaftbehälter als Organe, in denen Verdauungsprozesse sich abspielen, sehr geeignet sind, ergibt sieh schon aus der Tatsache, dass dieselben durch die ganze Pflanze hin- durch ein ununterbrochenes System von Röhren bilden und auf diese Weise die Verdauungsprodukte leicht und sicher an jeden beliebigen Verbrauehsort hingeleitet werden können. Zur Verdauung der Fette ist zwar ein Ferment, welches in ana- loger Weise wie im Tierkörper die Fette in Glyzerin und freie Fett- säuren zerspaltet, aus Pflanzen zur Zeit noch nicht nachgewiesen. Allein durch die bei der Keimung fetthaltiger Samen von Sachs konstatirte Wanderung der Fette aus den Kotyledonen oder aus dem Endosperm in die wachsenden Keimteile wird die Annahme, dass auch von der Pflanze die Fette auf fermentativem Wege verdaut werden, zum mindesten sehr nahe gelegt. Einen gleichen Schluss lässt die Beobachtung Sehützenberger’s*) zu, dass beim Zerreiben fetthal- tiger Samen mit Wasser zunächst eine Emulsion entsteht und nachher das Auftreten von Glyzerin und freien Fettsäuren zu bemerken ist. Viel besser unterrichtet ist man über die Verdauung der Kohle- hydrate, besonders über die Verdauung der Stärke. Wie schon er- wähnt wurde grade aus Pflanzenteilen, aus keimenden Gerstensamen zuerst das Amylum verdauende Agens, die Diastase extrahirt, welehe von ihren Entdeckern Payen und Persoz auch im keimenden Samen von Hafer und Weizen, sowie in treibenden Kartoffelknollen und in den Knospen von Ailanthus glandulosus gefunden wurde. Durch neuere Untersuchungen, unter denen diejenige von Baranetzky°) den ersten Platz einnimmt, ist dann die allgemeine Verbreitung des stärkeumbil- denden Ferments in den verschiedensten stärkehaltigen pflanzlichen Organen, Samen, Knollen, Stengeln, Blättern u. s. w. ermittelt wor- den. Dass auch von nicht chlorophylihaltigen Pflanzen, vornehmlich von den Pilzen, diastatisches Ferment erzeugt wird, ergibt sich schon aus den häufig zu machenden Beobachtungen, dass Pilzfäden in das Innere von Stärkekörnern einzudringen vermögen und an denselben analoge Korrosionserscheinungen hervorrufen, wie sie bei der Behand- lung von Stärkekörnern mit Speichel oder Malzextrakt erhalten wer- den. Dass von Bakterienzellen ein energischer Einfluss auf Stärke- 4) Sitzungsber. d. Gesellsch. naturf. Freunde in Berlin. 19. Febr. 1878. 2) Compt. rend. 1879 Bd. 89 und 1880 Bd. 90. 3) Compt. rend. 1880. Bd. 91. 4) Schützenberger, Die Gärungsercheinungen. 1876. 5. 263. 5) Baranetzky, Die stärkeumbildenden Fermente, 1878. Wortmann, Pflanzliche Verdauungsprozesse. 263 körner ausgeübt wird, wurde schon von Nägeli!) hervorgehoben. Ebenso vermochte ich vor kurzem den Nachweis zu führen?), dass die feste Stärke den Bakterien als einzige organische Nahrung dienen kann und dass auch hier durch ein ausgeschiedenes und isolirbares diastatisches Ferment die Verdauung der Stärke, die Ueberführung derselben in direkt zur Aufnahme fähigen Zucker ermöglicht wird. Auch an intakten, von Aethalium-Plasmodien aufgenommenen Weizen- stärkekörnern konnte ich, noch während dieselben im Plasmodium wanderten, das Auftreten von Korrosionen beobachten, was zu dem Schluss berechtigt, dass außer einem peptonisirenden auch ein stärke- verdauendes Ferment von den Plasmodien produzirt wird. So kann denn in anbetracht dieser Tatsachen gegenwärtig wol kaum ein Zwei- fel darüber laut werden, dass in allen Fällen, in denen Stärke in und von pflanzlichen Organen in Lösung gebracht wird, diese Lösung auf fermentativem Wege erfolgt. Auch ein Invertin, ein Ferment, welches Rohrzucker in Invert- zucker überführt, wird von gewissen Pflanzen erzeugt. Sicher nach- gewiesen ist dies von Schimmelpilzen, von der Hefe und von Bakterien. Obgleich Untersuchungen über das Vorkommen von Invertin grade bei den höher organisirten Gewächsen noch nicht vorliegen, so wird man doch durch die Tatsache, dass in all den Fällen, in denen Rohr- zucker in den Pflanzen auftritt, derselbe als Reservestoff fungirt und regelmäßig vor seiner Verwendung einer Umsetzung in Glykose unter- liegt, zu der Annahme gedrängt, dass auch hier ein invertirendes Fer- ment die Ursache jener Umwandlung ist. Auch bezüglich der Auf- nahme des Rohrzuckers sehen wir bei Tier und Pflanze das gleiche Verhalten. Keines ist im stande, den Rohrzucker direkt zu verwen- den; sondern dies kann erst dann geschehen, nachdem seine Ver- dauung in Glykose vollzogen ist. Die Ueberführung der gleichen organischen Nährstoffe in direkt aufnehmbare Verbindungen findet also beim tierischen wie beim pflanz- lichen Organismus auf eine vollkommen gleiche Art und Weise statt. Die Pflanze bedient sich zu diesem Zweck derselben Mittel wie das Tier; sie erzeugt ebenfalls Fermente, welche die Umwandlung der von ihnen in Angriff genommenen Körper nach demselben Modus voll- ziehen. Aber auch hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit verhalten sich die verschiedenen organischen Stoffe Tier und Pflanze gegenüber gleich; denn von den Stoffen, welche das Tier erst dann zur Vermehrung seiner Körpermasse benutzen kann, nachdem es dieselben dem Ver- dauungsprozesse unterzogen hat, ist auch die Pflanze keinen unmittel- bar zu verwenden im stande. Wo letztere keine Mittel besitzt, einen 1) Nägeli, Die niedern Pilze. 1877. S. 12. 2) Wortmann, Untersuchungen über das diastatische Ferment der Bakterien, Zeitschr. für physiol. Chemie. Bd. VI. 264 Wortmann, Pflanzliche Vordauungsprozesse. solehen Stoff in aufnehmbare Verbindungen zu verwandeln, muss der- selbe als unverdaulich vom Stoffwechsel ausgeschlossen bleiben. Hier- aus ergibt sich zugleich, dass diejenigen pflanzlichen Repräsentanten, welche die verschiedensten Fermente zu erzeugen fähig sind, auch das verschiedenste von diesen Fermenten umsetzbare Nährmaterial in Verwendung bringen können, während umgekehrt in dem Maße, als die Produktionsfähigkeit verschiedener Fermente abnimmt, auch die Zahl der verwendbaren Nährstoffe eine beschränktere wird. Als tref- fendes Beispiel hierfür mögen die Bakterien und der Hefepilz ange- führt sein. Erstere sind im stande die verschiedensten Fermente zu erzeugen und können daher, außer von direkt aufnehmbaren Stoffen wie Glykose u. s. w. sowol von Eiweißstoffen als auch von Kohle- hydraten, Stärke und Rohrzucker, sogar von Zellulose sich ernähren. Dagegen ist durch den Umstand, dass die Hefe, wovon ich mich wie- derholt überzeugen konnte, nur Invertin zu produziren vermag, das Nährmaterial derselben ein sehr beschränktes, insofern außer Rohr- zucker nur direkt aufnehmbare Zuckerarten solches liefern können. Die von Tier und Pflanze geschaffenen verdauenden Agentien, die Fermente, sind löslich und diffusionsfähig, und daraus geht sogleich hervor, dass denselben nicht bloß die Aufgabe erwächst, unmittelbar an ihrem Entstehungsorte, innerhalb der Zelle, welche sie hervor- brachte, das Verdauungsgeschäft zu besorgen, sondern dass dieselben grade in gewisser Entfernung von ihrem Entstehungsorte tätig sein sollen. Deshalb sehen wir zunächst bei allen Pilzen die Fermente nach außen abgeschieden; grade außerhalb der sie erzeugenden Zel- len treffen die Fermente mit denjenigen Substanzen zusammen, auf welche sie ihren Einfluss geltend machen können: die Verdauung fin- det außerhalb des Organismus statt. Das Gesagte trifft auch hinsicht- lich der Fleisch fressenden Pflanzen zu, denn auch hier finden wir das fermenthaltige Sekret durch besondere Drüsen nach außen abge- sondert. Eine Ausnahme von dieser Regel besteht bei den höhern Gewächsen, insofern wir hier nur innerhalb des Organismus die Fer- mente antreffen. Doch lassen sich die bei der Keimung zu beobach- tenden Fermentausscheidungen leicht auf die allgemeine Regel zurück- führen; denn die Fermente, obwol innerhalb der Zellen der Reserve- stoffbehälter funktionirend, sind doch von dem Embryo erzeugt und erst an den Ort ihrer Tätigkeit gewandert, demnach immerhin außer- halb des Organismus tätig, welcher sie hervorbrachte. Wenn aber innerhalb der keimenden und auch der ausgewachsenen Pflanze die Translokation der Baustoffe bedingenden Fermentationen unterhalten werden, so ist zu bemerken, dass diese Baustoffe auch fortdauernd innerhalb des Organismus wieder erzeugt werden, demnach eine Wan- derung der Fermente nach außen sehr überflüssig wäre. Die grüne Pflanze findet ja, wie wir gesehen haben, nicht wie das Tier und die chlorophyllosen Gewächse ihre Nahrung in ihrer Umgebung bereits Wortmann, Pflanzliche Verdauungsprozesse, 265 fertig gebildet vor, sondern es tritt als erste Aufgabe an sie heran, ihre Nahrung sich selbst zu bereiten. Da diese Nahrung im Innern des Organismus entsteht, so können auch nur innerhalb desselben Ver- dauungsprozesse unterhalten werden. Mit den angeführten, von Pflanzen sowol als von Tieren unter- haltenen Verdauungsprozessen ist indess die Zahl der vom pflanz- lichen Organismus ausgeführten Fermentationen noch keineswegs erschöpft. Es gesellen sich vielmehr noch einige Fälle hinzu, in denen von lebenden Pflanzenteilen, außerhalb und innerhalb der letztern, Lösungs- und Umsetzungserscheinungen hervorgerufen werden, welche sich entweder direkt, d. h. dureh Isolirung des wirkenden Agens oder aber indirekt, aus der Art und Weise, wie dieselben sich abspielen, mit Sicherheit als Fermentprozesse zu erkennen geben. Wie Sachs!) bereits 1862 feststellte und näher untersuchte, fin- det bei der Keimung der Dattel, bei welcher die stickstofffreien Re- servestoffe in Form von Zellstoff abgelagert sind, eine Auflösung der verdiekten Zellwände des Endosperms statt, wobei zugleich ein Auf- treten von Glykose in dem heranwachsenden Embryo zu bemerken ist. In analoger Weise wird auch das große zellstoffreiche Endosperm der Samen von Phytelephas bei der Keimung löslich gemacht und vom Embryo aufgesogen werden. Auch in der Abteilung der Pilze begegnen wir ähnlichen Erscheinungen. Es ist bekannt, dass eine große Zahl von Parasiten im stande ist, von außen her unter Durehbohrung der Zellu- losemembran der Wirtspflanze in das Innere derselben einzudringen. Zum Beispiel werden von dem Mycelium der in Bäumen wohnenden Pilze die starken Holzwände des Splints und selbst die des Kern- holzes durehbohrt. Diese Erscheinungen werden aber nur dann ver- ständlich, wenn man annimmt, dass von den dünnen Pilzhyphen Fer- ment abgesondert wird, welches fähig ist, den Zellstoff in Lösung zu bringen. Dass in vielen Fällen der in Glykose übergeführte Zellstoff wegen der minimalen Quantitäten, in denen er in die Pilzzelle eintritt, für die Ernährung derselben von untergeordneter Bedeutung ist, hin- dert nicht, den Vorgang der Lösung als eine Verdauung anzusehen. Auch dureh die Tätigkeit der Spaltpilze kann, wie den Angaben Nägeli’s?) zu entnehmen ist, Zellulose in lösliche Kohlehydrate über- geführt werden. In den Knollen mancher Kompositen (Hebianthus tuberosus, Dahlia ete.) ist ein dem Zueker und der Stärke nahe verwandter Körper, das Inulin, in gelöstem Zustand als Reservematerial aufgespeichert, welehes beim Austreiben der Knollen als plastisches Material fungirt, jedoch von der Pflanze niemals direkt, sondern erst nach Ueberführung in Glykose (Levulose) zur Verwendung gebracht werden kann. Trotz- 4) Sachs, Zur Keimungsgeschichte der Dattel. Bot. Ztg. 1862. 2) Nägeli, Die niedern Pilze. 1877. S. 12. 266 Wortmann, Pflanzliche Verdauungsprozesse. dem es bis jetzt nieht gelungen ist, aus den genannten Organen ein Inulin in Glykose überführendes Ferment zu extrahiren!), so lässt sich doch bei der Analogie mit dem Rohrzucker- und Stärkeumwandlungs- prozess die Annahme einer fermentativen Umwandlung des Inulins nieht zurückweisen, und eine erneute Untersuchung dürfte wol von Erfolg gekrönt sein. Auch die durch Spaltpilze bewerkstelligte Ueberführung von Milch- zucker in gärungsfähigen Zucker?) kann nur auf fermentativem Wege erfolgen; denn auch hier kommt es darauf an, den Milehzucker in einen Zustand zu versetzen, in dem er zunächst, wenn auch nur für einen Moment, in die Bestandteile des Protoplasmas eintreten kann. Außer diesen bisher angeführten Fermentationsvorgängen sind nun noch einige andere im pflanzlichen Organismus sich vollziehende bekannt, denen wegen ihres ganz vereinzelten Vorkommens jedoch nur eine geringe Bedeutung beizumessen ist. Es sind dies durch ein in den Mandeln enthaltenes und Emulsin genanntes Ferment aus- geführte Spaltungen, dureh welche verschiedene Benzolglukoside in Glykose und einfachere Benzolderivate zerlegt werden, so die Spal- tung von Amygdalin in Glykose, Bittermandelöl und Blausäure, die Spaltung von Saliein in Glykose und Saligenin u. a.m. In ähnlicher Weise wirkt ein anderes Ferment, Myrosin, welches im stande ist, das myronsaure Kali in Glykose, schwefelsaures Kali und Senföl zu zerlegen. Trotz dieser durch die beiden letztgenannten Fermente aus- geführten tiefern Spaltung der von ihnen angreifbaren Verbindungen gegenüber der bloß umwandelnden Eigenschaft der vorher erwähnten Fermente kann doch auch hier der Vorgang der Spaltung als ein Verdauungsprozess angesprochen werden, insofern immer die Produk- tion von direkt verwendbarer Glykose damit verknüpft ist. Im Vorstehenden ist gezeigt worden, dass zunächst sämtliche im tierischen Organismus vor sich gehende Verdauungsprozesse, ab- gesehen von unwesentlichen accessorischen Momenten, in ganz ana- loger Weise von der Pflanze unterhalten werden, so dass den letztern in bezug auf die Ernährung die gleiche Bedeutung zugesprochen wer- den muss. Das wesentliche und bei beiden Arten von Organismen gleiche Moment liegt darin, dass zum Zwecke der Brauchbarmachung zwar ernährungstüchtiger, aber als solche nicht direkt verwendbarer Verbindungen Stoffe (Fermente) produzirt werden, welehe die Eigen- tümlichkeit besitzen, in außerordentlieh geringen Quantitäten nach und nach eine ganz erhebliche Menge der von ihnen angreifbaren Körper in dem genannten Sinne umzuwandeln. Den Verdauungsprozess kön- nen wir als einen Vorgang definiren, in welchem auf fermentativem 1) Dragendorff, Materialien zu einer Monographie des Inulins. St. Peters- burg. 1870. 2). Nägeli. 1..e.. 8.11, Wortmann, Pflanzliche Verdauungsprozesse. 267 Wege außerhalb des Protoplasmas organisches oder, wie man sagen könnte, indirektes Nährmaterial zu Verbindungen verarbeitet wird, welehe vom Protoplasma aufgenommen und umgesetzt werden können, also zu direktem Nährmaterial. Wo wir vom pflanzlichen Organismus Fermente produzirt sehen, handelt essich auch um einen durch diese Fer- mente ausgeführten Verdauungsprozess; wo wir innerhalb und außerhalb der vegetabilischen Zelle vor sich gehende Substanzumwandlungen ihrer Bedeutung nach als Verdauungsprozesse erkennen, springt wie- derum aus der Art und Weise, wie diese Prozesse sich abspielen, die fermentative Natur derselben sofort in die Augen. Können wir nun nach dem Gesagten ohne weiteres jeden Verdauungsprozess als Fer- mentation ansprechen, so würden wir doch fehl gehen, wenn wir um- gekehrt auch jede Fermentation eine „Verdauung“ nennen wollten. Es werden von lebenden Pflanzenzellen noch eine Reihe von Prozessen unterhalten, welche unzweifelhaft fermentativer Natur sind, welche aber von Verdauungsprozessen sich grade dadurch sehr wesentlich unterscheiden, dass, wie Nägeli!) hervorhebt und neuerdings auch Sachs?) mit besonderm Nachdruck betont, im Gegensatz zu ihnen die Produkte dieser Prozesse ausnahmslos schlechter nährende Ver- bindungen sind. Es sind Prozesse, durch welche die aus der Ver- dauung hervorgegangenen Nährstoffe mehr oder weniger wieder zer- stört werden. Hierher gehören die bisher allgemein als Ferment- wirkungen betrachteten Gärungen, welche aus der Einwirkung der Gärungspilze auf das ihnen zu gebot stehende Substrat hervorgehen. Wenn aber durch die Tätigkeit der Hefezelle Traubenzucker fort- dauernd in Alkohol, Kohlensäure, sowie in geringe Mengen von Gly- zerin und Bernsteinsäure zerlegt wird, wenn durch die Tätigkeit von Bakterien die verschiedenen eiweißartigen Verbindungen tiefgreifende Spaltungen erfahren, so gehen diese Umsetzungen des Gärmaterials nicht allein innerhalb der lebenden Zelle, sondern, worauf es wesent- lich ankommt, innerkalb des lebenden Protoplasmas vor sich. Die Gärung ist streng an das lebende Protoplasma gebunden. Das ist der Grund, weshalb man trotz vielfachen Bemühens nicht im stande gewesen ist, ein die Gärung unterhaltendes Ferment zu isoliren, und sehr treffend in bezug hierauf sagt Nägeli (l.e.): „es ist selbst sehr frag- lich, ob der Organismus jemals Fermente bildet, welehe innerhalb des Plasmas wirksam sein sollen; denn hier bedarf es ihrer nieht, weil ihm in den Molekularkräften der lebenden Substanz viel energischere Mittel für chemische Wirkung zu gebot stehen.“ Die Erfolglosigkeit „Gärungsfermente“ zu isoliren war auch der Grund, weshalb man im Gegensatz zu den löslichen, die Verdauung unterhaltenden „unge- formten“ Fermenten, die Gärungsorganismen als „geformte“ Fermente 1) Nägeli, Theorie der Gärung. 1879. 2) Sachs, Vorlesungen. I. S. 421 ff. 268 Griesbach, Bindesubstanz und Coelom der Cestoden. oder Fermentorganismen unterschieden hat. Diese Bezeichnung ist aber für den heutigen Stand unserer Kenntnisse eine gänzlich un- brauchbare geworden; denn ein sogenanntes „geformtes“ Ferment, z. B. die lebende Hefezelle, ist eben ein lebender Organismus, und in der in ihr sich vollziehenden Alkoholgärung können wir nur einen Teil der Tätigkeit ihres Protoplasmas erblicken. „Fermentorganismus“ aber ist dann auch mit demselben Recht jede lebende Zelle, insofern in ihr ein der Alkoholgärung ähnlicher Prozess, die intramolekulare Atmung, sich abspielt. Wennaber durch die im Protoplasma bestän- dig vor sich gehenden molekularen Umlagerungen Prozesse fermen- tativer Natur ins Leben gerufen werden, so dürfte hierdurch auch einiges Licht auf die Verdauungsvorgänge geworfen werden, insofern wir uns die Art und Weise der Wirkung des Ferments nicht als ein- fachen Kontraktreiz vorzustellen hätten, sondern die Verdauung als eine infolge der Dissoziation des immerhin komplizirt gebauten Fer- mentmoleküls angeregte Umwandlung der betreffenden verdaulichen Substanzen anzusehen wäre. Julius Wortmann (Strassburg i./E.). Bindesubstanz und Coelom der Cestoden. Von Dr. H. Griesbach. Privatdozent an der Universität Basel. Seit einiger Zeit mit Cestodenstudien beschäftigt, deren Resultate ich demnächst im Zusammenhang publiziren werde, möchte ich hier nur eine kurze Notiz über die Grundsubstanz (Körperparenchym) von Solenophorus megalocephalus geben. Bisher wurde die Grundsubstanz der Cestoden meistens als Bindegewebe und zwar mit den Zusätzen einfach hyalin (B. Leuckart)!) fibrillär (von Roboz)?) ete. in An- spruch genommen. Schneider?) lässt sie aus diffusem körnigem Protoplasma bestehen. Schiefferdecker*) findet in den ältern Gliedern ein zierliches Interzellularnetz, das aus verschieden gestalte- ten Bälkeken gebildet wird, welche sich netzförmig gruppiren. In den Netzmaschen „liegen oder lagen (falls sie zu grunde gegangen sind) die Bindegewebszellen, welche die Bälkehen ausscheiden.“ Nach meinen Untersuchungen kann man das Körperparenchym der Cestoden nicht schlechthin als Bindegewebe bezeichnen, denn es weicht in histologischer, physikalischer und chemischer Hinsicht von 1) Parasiten Bd. I. S. 354 2) Zeitschrift f. w. Zoologie. Bd. 37. H. 2. 3) Untersuchungen iiber Plathelminthen. XIV. Bericht der oberhessischen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde. Giessen 1873 S. 70. 4) Jen. Zeitschrift für Naturw. Bd. VII, H. 1. Griesbach, Bindesubstanz und Coelom der Üestoden, 369 diesem nieht unbeträchtlich ab. Die Bindesubstanz der acephalen Mollusken wurde vor kurzem von Kollmann!) als Gallertgewebe beschrieben und ich habe diese embryonale Gewebeform des weitern bei Wirbellosen verfolgt. Schon früher haben Virchow?) und Schultze?) nachgewiesen, dass die Körpermasse der Akalephen zum großen Teil daraus besteht und vielleicht ist dasselbe bei Wirbellosen viel weiter verbreitet, als man bisher vermutete. Im Körper der Cestoden ist Gallertgewebe die einzigste Bindesubstanz, welche mit der der Acephalen histologisch zwar nicht gleichwertig ist, ‘aber in mancher Beziehung damit Aehnlichkeit besitzt. Ich finde darin bei Solenophorus keine rundlichen oder ovalen Zellen, wie Sommer und Landois*) bei Bothriocephalus beschreiben, ich finde keine Bindege- websfibrillen im Sinne des Histologen, wie von Roboz es angibt. Es muss wundernehmen, dass in spätern Arbeiten die Schneider’schen Angaben nicht mehr Berücksichtigung erfahren haben, da doch in denselben besonders betont wird, dass man bei den Cestoden keines- wegs gewöhnliches Bindegewebe als Grundsubstanz finde. Die Som- mer und Landois’schen Rundzellen werden bereits von Schneider als Flüssigkeit führende Hohlräume in Anspruch genommen und ich muss diesen Angaben nach meinen Untersuchungen beistimmen. Das ganze Gallertgewebe ist grade wie bei den acephalen Mollusken von lakunären Hohlräumen, die vielfach mit einander anastomosiren, durch- setzt, welche durch Porenkanäle der als eine Verdichtung des Gallert- gewebes aufzufassenden sogenannten Cuticula, besser Körpergrenz- membran, ähnlich wie bei gewissen Mollusken’), Anneliden®) ete. mit der Außenwelt in Verbindung stehen. Aus diesem Grunde kann ich mich nieht mehr der noch kürzlich von Hatschek’) verteidigten An- sicht, die Plathelminthen seien parenchymatöse Tiere, anschließen, sondern bezeichne das Lakunensystem dar Platoden als Coelom. Nach Moseley°) gibt es bei Landplanarien auch eine Leibeshöhle und die durch Thiry?) genauer bekannt gewordene Cercaria macrocerca besitzt ebenfalls eine solche; bei Graff!®) findet man ähnliche An- sichten vertreten. Ray-Lankester!!) erblickt in dem Wassergefäß- 4) Arch. f. mikr. Anat. Bd. XI. Sitzungsberichte der math.-phys. Kl. d. bayr. Akad. d Wiss. 1876. H. II. 2) Virch. Arch. Bd. VII S. 558 3) Müller’s Arch. 1856 S. 311. 4) Zeitschrift f. w. Zoolog. XXU. H. 1. 5) Vergl. Leydig, Müller’s Arch. 1855. Archiv f. Natg. 1876. 6) Id. in Arch. f. mikr. Anat. Bd. I. 7) Arbeiten aus d. zool. Institut Wien. Bd. 1 H. 3. 8) Philos. Transact. Vol. 164. P. I. 9) Zeitschr. f. w. Zoologie. Bd. X. 10) Zeitschr. f. w. Zoologie Bd. XXX Suppl. 11) Annals and Magazine of natural History. Vol. XI. 4 Series 1873 und Quarterly Journal ofmierose. Sc. Vol. XV 1877 Zoolog. Anz. Nr. 35, 91, 96,101, 110. I70 Griesbach, Bindesubstanz und Coelom der Cestoden. system (Lakunen und Kanäle) den Ausgangspunkt für die Bildung der Leibeshöhle, Fraipont’s!) und vanBeneden’s?) Gewebslücken dürften ebenfalls als solche gelten. Da es noch entwieklungsgeschichtlichen Studien zu erforschen vorbehalten bleibt, ob das hier besprochene Coelom ein Psendocoel oder Enterocoel im Sinne der Gebrüder Hertwig bildet, so belege ich dasselbe einfach mit dem von Bütschli?) für Trematoden gebraueh- ten Ausdruck, rudimentäre Leibeshöhle. In der Bindesubstanz sind überall Kerne eingebettet, welche oft- mals nackt — wenigstens finde ich mit aller Mühe kein Protoplasma — oftmals aber auch von einer geringen feinkörnigen Protoplasmamasse umgrenzt sind, welche Ueberosmiumsäure zwar deutlicher hervortreten lässt, der aber eine Membran positiv fehlt. Diese plasmatischen Zel- len sind meist kuglig und zeigen keine Ausläufer. Außer ihnen sehe ich noch glashelle geschlängelte unmessbar feine Fädehen in der Bindesubstanz eingesprengt; sie liegen isolirt, sind von stark licht- brechender Kraft — man darf sie jedoch nicht etwa verwechseln mit abgerissenen Kapillaren der dem Wassergefäßsystem zugehörigen, überall in den Lakunen liegenden Wimper- (?) Trichtern — nur mit scharfen Systemen wahrzunehmen und schon von Kollmann als Gallertfibrillen bei Mollusken beschrieben. Spindelzellen mit zwei oder mehrern Ausläufern, wie sie im Gallertgewebe der Mollusken vorkommen, finden sich ebenfalls. Die großen Rundzellen fehlen. Nur auf der Grenze der Wassergefäßhauptstränge finden sich eigen- tümliche Zellen als Bestandteil des Gallertgewebes. Sie sind oval, messen mit ihrer längern Axe 0,02 mm, mit der kurzen Axe 0,015 mm. Sie bestehen aus einem körnerreichen Protoplasma, in welchem ein zentral gelegener, im Durchmesser 0,005 mm großer Nucleus sich be- findet. Eine Zellmembran ist vorhanden. In dem Protoplasma liegen allerhand »farblose Konkremente, welche dafür sprechen, dass wir diese Gebilde wahrscheinlich als einzellige Drüsen anzusehen haben. Die Bedeutung der Drüsenzellen tritt uns indem Körper mancher nie- derer Tiere in frappantester Weise entgegen, indem wir bei denselben oftmals Gebilde finden, welche wie drüsige Organe funktioniren und dabei nur aus einer einzigen Zelle bestehen. Dass solche Drüsenzellen oft einen epithelialen Charakter zeigen, ist bekannt; ich brauche nur an die Drüsenzellen auf den Falten des Bojanus’schen Organs zu erinnern. Indess zu ihrer physiologischen Leistung bedarf die Drüsen- zelle mehr Körperlichkeit, als eine einfache epitheliale Platte besitzt. Ob die beschriebenen Zellen, wie ich glaube, mit der Bildung der überall im Körper der Cestoden verbreiteten Kalkkonkremente in Zu- sammenhang stehen, werden weitere Untersuchungen, namentlich an frischen Objekten, festzustellen haben. 1) Arch. de Biologie T. I. 2) Zoolog. Anzeiger Nr. 85, 91, 96, 101, 110. 3) Zoolog. Anz. 1879 Nr. 42 S. 588—589. Klaussner, Rickenmark des Proteus anguineus. IT > Klaussner, Das Rückenmark des Proteus anguineus. Abh. d. k. bayr. Ak. d. Wiss. II. Kl. XIV. B. IL Abt. Das Rückenmark des Olms stellt einen dorso-ventral flach ge- drückten Strang mit nur schwach angedeuteter Cervikal- und Lum- balanschwellung dar. Seine Länge betrug in den beiden untersuchten Fällen 10—12 em, seine Breite im Mittel 1 mm. Aus der mikroskopischen Untersuchung geht hervor, dass das Rückenmark des erwachsenen Proteus den embryonalen Charakter des Markes der höhern Wirbeltiere in ausgeprägterm Grade zeigt, als von irgend einem andern Vertebraten bekannt ist. Die graue Masse besteht gleichsam aus mehrern Zonen, von denen die innerste, um den Zentralkanal gelegene, durch eine fünf- bis sechs- fache Schicht von Epithelzellen gebildet wird. Die mittlere Zone zeigt einen vorherrschend fibrillären Bau aus feinen Faserzügen und Fasernetzen; sie wird nach außen, gegen die weiße Substanz hin, durch eine Zone abgegrenzt, welche durch das Auftreten von Nerven- zellen charakterisirt erscheint. Die größten dieser Zellen liegen an der vordern lateralen Peripherie der grauen Substanz, während hinten medialwärts eine Gruppe von kleinen rundliehen Zellen (Körnern) das Hinterhorn repräsentirt und die hintern Wurzelfasern entspringen lässt. — Von der zentralen Epithelzone gehen 4 Bündel feiner blasser Fasern aus: das ventrale Bündel bildet zum Teil die vordere Kom- missur, das dorsale spaltet sich und trägt teilweise zur Bildung der hintern Wurzelfasern bei, während ein einzelner konstanter Faden in der Mittellinie dorsalwärts bis an die Peripherie zieht, woselbst er in einem isolirten Korn endet. Die beiden lateralen aus dem Epithel stammenden Faserbündel lösen sich bald in ein feinmaschiges Reti- eulum auf. Man findet alle Uebergangsiormen zwischen den „Körnern“ der grauen Substanz und den großen Ganglienzellen einerseits und den Epithelzellen der mittlern Zone andererseits. Der Ursprung der vordern Wurzelfasern aus den großen Nerven- zellen konnte nicht mit genügender Klarheit nachgewiesen werden. Aus den früher erwähnten Umständen, besonders aber aus der Be- teiligung der vom zentralen Epithel herstammenden Faserzüge an der vordern Kommissur und den hintern Wurzeln glaubt K. schließen zu dürfen, dass dem mächtigen Epithel um den Zentralkanal des Proteus zweifellos die Bedeutung eines zentralen Nervenapparats zukommt. Es mag hier bemerkt sein, dass Roller!) zuerst entschieden auf eine nervöse Natur der Epithelzellen im Zentralnervensystem hin- ” 1) Zentraler Verlauf des Nervus glossopharyngeus. Arch. f. mikrosk. Ana- tomie XIX. Bd. 272 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. gewiesen hat. Nachdem die Epithelien der nervösen Binnenräume und die nervösen Bestandteile der Zentralorgane entwicklungsge- schichtlich gleichwertig sind, nachdem R. ferner von den Epithelien des Zentralkanals Fasern ausgehen sah, welche in Herde von Ner- venzellen (dem N. glossopharyngeus angehörend) eintreten, hält er es für wahrschemlich, dass diese Epithelialzellen als nervöse Elemente aufzufassen seien. Anhangsweise sei zur Vervollständigung der Literaturangaben Klaussners noch auf die Arbeit von P. R. Treviranus: de Pro- tei anguinei encephalo. Gottingae 1819, hingewiesen, in welcher auch das Rückenmark des Olms kurz beschrieben wird. Obersteiner (Wien). Johannes Ranke, Beiträge zur physischen Anthropologie der Bayern. Mit 16 Tafeln und 2 Karten. München. 1883. Ranke stellt als eine der Hauptaufgaben der modernen anthro- pologischen Forschung eine Bearbeitung der Ethnographie der euro- päischen Völker hin. Der wichtigste Teil der Ethnographie ist aber unbedingt die physische Anthropologie der Völker. Für die Bevölkerung Bayerns nun bringt der Verfasser hier eine Reihe Ar- beiten, welche einzelne Fragen der physischen Anthropologie einer Lösung entgegenführen sollen. Ranke hat sich hiermit an ähnliche Arbeiten gemacht, wie früher Eeker, Rütimeyer, His, Hölder in betreff der Schwaben und Alemannen ausgeführt haben. Haupt- sächlich ist es hier bei Ranke wie bei den genannten Autoren der Schädel, der besondere Berücksichtigung gefunden, außerdem die Körpergröße; an eine Darstellung der gesamten physischen Anthro- pologie auch nur eines kleinen deutschen Volksstammes hat sich bis jetzt auffallender Weise kein Autor gewagt. I. Abschnitt. Der erste Abschnitt liefert Beiträge „zur Physiologie des Schädels und Gehirns“ (8. 1—168) und zwar werden hier be- sprochen: die Schläfenenge (S. 1—60), die partiellen Erwei- terungen des Hirnraums (41—106), sowie der Schädelinhalt und der Horizontalumfang des Schädels (107—123). Warum der Verfasser alle Einzelabhandlungen des ersten Ab- schnitts Beiträge zur Physiologie des Schädels und Gehirns genannt hat, ist uns, da es sich hierbei doch nur um anatomische Verhältnisse handelt, nicht recht ersichtlich. Den Abhandlungen des ersten Abschnitts ist eine kurze Einlei- Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 73 tung vorausgeschiekt, worin. der Verfasser über das Material, welches er zu seinen Arbeiten benützte, berichtet. Der Verfasser konnte eine große Reihe Schädel untersuchen, welche zum Teil den Kapellen und Beinkammern der altbayrischen Landkirchhöfe, zum Teil den Kirch- höfen der Stadt München entnommen waren und mit ziemlicher Ge- wissheit Individuen aus dem letzten Jahrhundert zugeschrieben wer- den konnten. Es können demnach die Schädel als solche der mo- dernen altbayrischen Landbevölkerung bezeichnet werden. Das reichhaltige Material ist vorläufig nur mit Rücksicht, auf die altbayrische Landbevölkerung verarbeitet worden; Arbeiten über die altbayrische Stadtbevölkerung und die altbayri- schen Frauenschädel sollen später folgen. Kap. I. Die Schläfenenge (8. 10—59). Dies Kapitel be- spricht einen Zustand der Schläfengegend der Schädel, auf welchen Virchow die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Der Zustand besteht in einer auffallenden Verengung des Schädelraums an den Schläfen und ist von Virchow mit dem Namen Stenokrotaphie (Schläfen- enge) benannt worden. Virchow hat die Schläfenenge als ein Zei- chen niederer Rasse gedeutet und Ranke bietet an der Hand des von ihm verarbeiteten Materials eine genaue Statistik jener Störung an deutschen Schädeln, um hierin eine Grundlage für einen exakten Vergleich zwischen höher und tiefer stehenden Menschenrassen zu gewinnen. Mit Rücksicht auf die von Virchow namhaft gemachten anato- mischen Veränderungen in der Schläfengegend kommt Ranke zu folgenden statistischen Ergebnissen: Untersucht wurden 2421 Schädel der altbayrischen Landbevöl- kerung, darunter fanden sich 43 Schädel mit teils einseitigem, teils doppelseitigem vollkommenem Stirnfortsatz der Schläfenschuppe (Processus frontalis squamae ossis temporum completus) oder 17,3 auf 1000. Ferner fanden sich darunter 146 Fälle von unvollständi- gem Stirnfortsatz (Proc. front. squamae oss. temp. incompletus) bald einseitig bald doppelseitig oder 60,3 auf 1000. — Das Vorkommen eines Schläfenfortsatzes des Stirnbeins (Proc. temporalis ossis frontis) ist viel geringer; es fanden sich nur 6 Fälle, somit ist das Verhältniss wie 1 : 403 oder 2,4 auf 1000. Temporale Schaltknochen waren viel häufiger, 251 zu finden, demnach 1 : 9,6 oder 103 auf 1000. — Unter 2421 Schädeln sind 43 mit vollst. Stimfortsatz an der Schläfenschuppe 446 „ unvollst. = z 2 „ vollständigem Schbifenforteatz des Stirnbeins 4 „ unvollständigem = 123 „ trennenden Schaltknochen d. Schläfengegend 123 „ nicht trennenden „ In Summa demnach 446 Schädel mit größern Störungen der Schlä- fengegend, d.h. also je einer unter 5,4 oder 184 auf 1000. 15 7A Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. Ranke schließt sich an Virchow an, indem er behauptet, dass jene Stirnfortsätze und Schaltknochen häufig — (aber nicht immer) — eine Verengerung der Schläfengegend bedingten; und mit Rücksicht hierauf untersucht er die einfache Schläfenenge, d.h. diejenige, welche ohne die genannten anatomischen Veränderungen auftritt. Er findet Schädel mit so sehr verkümmerten Keilbeinflügeln, dass Schlä- fenschuppe und Stirnbein sich direkt — ohne Bildung eines Fort- satzes — berühren, nur 5mal, dazu 8 Schädel mit einem geringen Abstand zwischen Schuppe und Stirnbein von 0,5—2,5 mm. — Geringe Grade dieser Schläfenenge, größtenteils durch rinnenartiges Einziehen der Schläfengegend erzeugt, ließen sich an 219 Schädeln erkennen. In Summa gibt es demnach unter 2421 altbayrischen Schädeln 232 mit einfacher Scehläfenenge, d. i. 96,2 pro mille. Zum Schluss zieht Ranke die 446 Schädel mit größern anato- mischen Störungen der Schläfengegend und die 232 Schädel mit ein- facher Schläfenenge zusammen und findet darnach 678 Schädel mit Schläfenenge, d. h. auf je 3,6 Schädel zeigt schon ein Schädel eine mehr oder weniger hoehgradige Verkümmerung in der Schläfengegend oder unter 1000 je 280, also über !|, aller untersuchten Schädel. Gewiss ein anthropologisch sehr beachtenswertes Resultat !). Weiter bespricht Ranke die Entstehungsursache der Schlä- fenenge, wobei er einerseits die Lucae’sche Durafalte beschuldigt, die Ursache der Schläfenenge des kindlichen Alters zu sein, anderer- seits aber auch die Möglichkeit hinstellt, dass auch im späten Alter eine senile Schläfenenge sich ausbilden kann. Er glaubt deshalb unterscheiden zu müssen eine Stenoerotaphia neonatorum, senilis und miseriae (T. praesenilis). Im wesentlichen handelt es sich hierbei um Ernährungsstörungen, durch welche nach Ansicht Ranke’s die Zugkräfte der Lucae’schen Durafalten zu übermäßiger Wirksamkeit gelangen. Schließlich wirft Ranke die Frage auf: sind wir aber auch be- rechtigt mit Virchow anzunehmen, dass in jenen Fällen von Schlä- fenenge auch eine partielle Verkümmerung der Hirne, eine tempo- rale Mikrokephalie vorhanden ist? Mit Berücksiehtigung einerseits des Umstands, dass am Ende des Fötallebens die Insel nicht bedeckt, sondern sichtbar ist (Bischoff) und andererseits des Befunds an mikrokephalen Hirnen, an welehen das untere Ende der Insel unbedeckt oder gar die Insel völlig frei ist, nimmt Ranke an, dass auch bei der temporalen Mikrokephalie es sich vor allem um Störungen in der Ausbildung der bei der Formirung der Fossa und Fissura Sylvii beteiligten Hirnpartien handle. Es kommt nach Ranke „bei der wahren tempo- 4) Der Ref. verweist auf die Abhandlung von Anutschin im II. Bd. d. biol. Centralblatts 8. 33 u. ff, Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 375 ralen Mikrokephalie nicht zur vollkommenen normalen Ausbildung, d. h. Schließung der Fossa Sylvi; es bleibt daher oft ein größerer oder geringerer Teil der Insel analog dem fötalen Zustand unbedeckt.“ Ranke hat nun Gelegenheit gehabt, zwei mit dem höchsten Grade der Schläfenenge behaftete Schädel und die dazu gehörigen Hirne untersuchen zu können: Schädel und Hirn des Negers Salem und eines Nordafrikaners. An beiden Hirnen lag die Insel frei. Außerdem untersuchte er eine Reihe anderer Schädel (27) mit ausgesprochener Schläfenenge und die dazu gehörigen Hirne ‘(die Er- gebnisse sind tabellarisch zusammengestellt) und fand im allgemeinen dasselbe Resultat: eine Bestätigung der von Virchow geäußerten Vermutung, dass hochgradige Schläfenenge mit mehr oder weniger ausgesprochener Mikrokephalie verbunden vorkommt. Der Verfasser bemerkt zuletzt mit Virchow, dass nicht alle Schädel mit Schaltknochen der Schläfengegend wirklich eine hoch- gradige Schläfenenge zeigen müssen, weil kompensatorische Momente zur Wirksamkeit kommen können. Dem Verfasser erscheint die Bemerkung, dass die nächste Ent- stehungsursache der Schläfenenge in Ernährungsstörungen na- mentlich im ersten Kindesalter bestehe, von einigem praktischen Wert. Er meint, es eröffne sich uns die Aussicht, durch Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen und durch rationelle Jugender- ziehung die Schläfenenge der niederstehenden Rassen relativ zu ver- bessern und damit ihre psychische Entwicklungsfähigkeit, ihre Kultur- fähigkeit zu heben. Kap. H. Partielle Erweiterungen der Hirnräume (8.60 —105). Im Gegensatz zu denjenigen anatomischen Veränderungen der Schläfengegend, welche — wenn keine kompensatorische Ausgleichung eintritt — eine Verengerung des Schädelraums, eine partielle (tem- porale) Mikrokephalie bewirken, gibt es nun auch anatomische Ver- änderungen am Schädel, als deren Folge eine partielle temporale oder oceipitale Makrokephalie eintreten kann. Darauf haben bereits Virchow und Welcker hingewiesen und als solche anatomische Veränderungen des Schädels die Persistenz der Stirnnaht und die quere Hinterhauptsnaht bezeichnet; Ranke fügt hinzu die Existenz zahlreicher Worm’seher Knochen in der Lambdanaht. Ranke untersuchte nun die betreffenden anatomischen Verän- derungen an den Schädeln der altbayrischen Landbevölkerung; ein dazu gehöriges Material an Gehirnen war nicht vorhanden, so dass eine definitive Lösung der Frage, ob die Persistenz der Stirnnaht und der queren Hinterhauptsnaht, sowie die Existenz der Worm’schen Knoehen wirklich in allen Fällen eine partielle Makrokephalie hervor- rufe und mit derselben zusammenfalle, noch nicht erwartet werden kann. Es ist vorläufig die Frage als eine offene, besser als eine hy- pothetische zu betrachten, 107 276 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 1. Statistik der Stirnnaht bei der altbayrischen Land- bevölkerung. Unter 2535 Schädeln fand Ranke 190 mit vollkommener Stirnnaht ferner unter 1620 = BO 4 » 145 mit Stirnnahtresten Das Verhältniss ist demnach im ersten Falle 1: 13,3, im zwei- ten Falle 1 : 15,0 (vollk. Stirnnaht 1 : 12,3 mit teilweise unvollkom- mener Persistenz der Stirnnaht) d. h. im ersten Falle 7,3°/,, im zweiten Falle 8,13°/,. Zwischen diesen Zahlen und den von andern Autoren früher berechneten ergeben sich einige Differenzen, wie aus folgender Tabelle hervorgeht. Ranke: 2535 deutsche Schädel = 1 : 13 1020 B > 112.123 Welcker: 130 > a A et 567 = n a Virchow: ? 1 8 Gruber: 1093 slavische Schädel 17: 1446 Leuekart: 290 deutsche Schädel ARE Im allgemeinen darf man daraus wol den Schluss ziehen, dass die Persistenz der Stirnnaht bei allen Völkern der arischen Rasse im großen und ganzen etwa gleich häufig vorkommt. — Nach Welcker häufiger als nach andern Autoren; da Ranke das Verhältniss der Häufigkeit der Stirnnaht in verschiedenen Gegenden Bayerns verschie- den fand, so glaubt er dies durch die Annahme einer exquisiten Erblichkeit der Stirnnaht erklären zu müssen. — Die Stirnnaht ist bei den Bewohnern des Gebirges häufiger, als bei denen des Flach- lands. Wir verkürzen die von Ranke (S. 64) gelieferte Tabelle: Bezeichnung Zahl der mit Stirnnaht mit Veränderungen der Gegend: Schädel: in nk and. Schläfengegend: Flachland (ohne 1722 7,0207; 26,3 % slavische Beimischung) Flachland (mit slavi- 653 1,96 ', 28,8 „ scher Beimischung) Gebirge (ohne slavi- 160 10,62 „ 45,0 „ sche Beimischung) Bemerkenswert ist, dass mit der Häufigkeit der anatomischen Störungen in der Schläfengegend auch die Häufigkeit der Stirnnaht schwankt; das spricht für die kompensatorische Bedeutung der Stirn- naht, worauf Virchow schon früher hingewiesen. 2. Sutura transversa squamae occipitalis foetalis (die ver- schiedenen Formen des Os epactale s. Incae). Bekanntlich bezeichnet man damit eine persistirende Naht an dem Hinterhauptsbein, welches aus mehrern Ossifikationszentren her- vorgeht. Mit Uebergehen alles dessen, was der Verfasser über Vir- chow’s bezügliche Arbeiten sagt und mit Rücksicht darauf, dass Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. Para bereits in diesen Blättern bei Gelegenheit des Referats über die Ab- handlung von Anutschin die verschiedenen Formen der Ineakno- chen aufgezählt worden sind, dürfen wir uns hier kurz fassen. Wir stellen die Hauptzahlenergebnisse zu folgender Tabelle zu- sammen. Unter 2489 Schädeln der altbayrischen Landbevölkerung fanden sich: 1. Os Incae proprium 2 Schädel = 0,8 pro mille 2. Os Incae tripartitum 1 4 — IE ES 3. Os Incae dimedium 2 5 EN 4. Os Incae medium 5 3 —U PN RE: 5. Os Incae laterale 10 „ =Al) 5 05 Summa 20 A = ran und ferner unter 2489 Schädeln 1.—5. Bildungen des Os Incae 20 Schädel = 8, pro mille 6. Die Spitzenknochen der Squama Oss. oce. 36 A = 14, Mr 7. Seitliche Reste der sutura transv. 180 a =ul2,3 > squam. Oss. oce. Summa 236 n =n94,8,0% L Demnach zeigt bereits unter je 10,5 Schädeln einer (9,4°/,) teilweises oder vollkommenes Offenbleiben fötaler Nähte der Hinterhauptsschuppe. Bei der altbayrischen Landbevölkerung ist das teilweise und vollkommene Persistiren fötaler Hinterhauptsnähte sehr annähernd ebenso häufig, als das teilweise und vollkommene Per- sistiren der fötalen Stirnnaht. Beim Ordnen der Schädel mit den genannten Anomalien nach ihrer geographischen Lage stellt sich hier — wie bei der Zahl der persistirenden Stirnnähte — eine Verschiedenheit heraus: an einigen Orten ist die Persistenz der Incaknochen häufiger als an andern. Und zwar sind an den Orten, wo die Persistenz der Stirnnaht häu- figer auftritt, die zur Gruppe der Incaknochen gehörigen Anomalien seltener oder fehlen ganz. Flachlandorte ohne Flachlandorte mit Gebirgsorte ohne slav. Beimischung: slav. Beim.: slav. Beim.: Stirnnaht Yo 8% 10,6 % Os Incae-Bildungen 9,4 pro mille 6,3 pro mille 0,0 Als Ursache dieser Tatsache ist wie bei der Stirnnaht wol die Erblichkeit aufzufassen. 3. Statistik anomaler Ossifikationszentren der Nähte (S. 82-83). I. Statistik des hintern Fontanellknochens. Unter 2489 Sehädeln finden sich 96 mit hintern Fontanellknochen, also je 1 Schä- del auf 26 — 3,85°/,; von diesen 96 Fontanellknochen sind 83 von der kleinen typischen Form, d. h. 1:27 — 3,53°),. Durch eine sagittale Naht geteilte hintere Fontanellknochen waren nur 5— 1: 4,98 — 0,2°/, aller untersuchten Schädel; kolossale Fontanellknochen ze mal — 1 830 012], Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. [0] En] [@ 0) II. Statistik der Worm’schen Knochen (8. 84-87). Unter 2449 Schädeln fanden sich 122, bei welehen die Lambdanaht durch eine Zahl Worm’scher Knochen entweder vollkommen oder zum größten Teil doppelt erschien, d.i. 1 Schädel auf 20 oder/5?];- Bei 1383 Schädeln waren Worm’sehe Knochen in der Lambda- naht vorhanden, aber weniger zahlreich. Von jener Bildung des Hinterhaupts, welche H. Meyer als nest- artige Ausziehung des Hinterhaupts bezeichnet hat und welche durch eine doppelte Lambdanaht bedingt wird, fanden sich unter 2443 Schädeln sieben Fälle, d. h. 1: 399. Die Schädel aus Gebirgsorten zeigen eine besonders starke Entwicklung Worm’scher Knochen der Lambdanaht viel seltener, als die Schädel der Flachlandorte. — Die Persistenz der Stirnnaht ist, wie gezeigt wurde, ein kompensatorisches Moment gegenüber der Störung der Schläfengegend; dasselbe gilt von den epactalen Bil- dungen der Hinterhauptschuppe und den Worm’schen Knochen. Bei der Gebirgsbevölkerung tritt bei Störung der Schläfengegend die Kom- pensation durch Persistenz der Stirnnaht, bei der Flachlandbevöl- kerung durch Auftreten von epaetalen Bildungen und Worm’schen Knochen ein. II. Statistik des Interparietalknochens (8. 87—88). (Os sagittale und Os coronale). Unter 2475 Schädeln fanden sich größere Interparietalknochen (Os sagittale) in 19 Fällen, demnach wie 1: 130 — 0,76°/,; noch seltener sind Coronalknochen; unter 2485 Sehädeln fanden sich nur 5 Fälle, demnach wie 1 : 497 = 0,2°|,. II. Statistik der anomalen Quernähte in der Schläfen- schuppe und im Scheitelbein (S. 88—92). Unter 2431 Schä- deln fanden sich 5 mit Querteilung der Schläfensehuppe durch eine Naht, 3 mit vollkommener, 2 mit unvollkommener Querteilung, demnach 1:487 — 0,2°/,. Außerdem noch 2 Schädel mit senkrechter Nahtspalte in der Schläfenschuppe. Unter 2465 Schädeln fanden sich Schädel mit abnormen Nähten im Scheitelbein, demnach 1 : 411 = 0,24°/,; eine wahre anomale Quernaht des Scheitelbeins, jedoch niemals vollkommen, fand sieh an 3 Schädeln. Der Verfasser schließt an die eben in Kürze vorgeführte Erör- terung der Anomalien der Schädel einen Abschnitt, welchen er be- titelt: „das Gehirn und die in Kap. II besprochenen Formab wei- chungen des Sehädels. Er geht dabei von der Voraussetzung aus, dass die dureh die Schläfenenge veranlasste Verengerung des Schä- delraums in einer großen Menge der Fälle mehr oder weniger voll- kommen dureh Kompensationen ausgeglichen werde und dass dieselbe physikalische Ursache, welche die Enge hervorbringe, auch die Kom- pensation hervorrufe. Die Hauptursache der Schläfenenge ist — außer der Erblichkeit — eine pathologische Störung in der Schädel- Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 379 entwicklung der ersten Kindheit: diese Störungen gestatten eine ge- steigerte „Formbildbarkeit“ der Schädel. Der Verfasser hat an 100 Schädeln die Länge des Scheitelbogens gemessen und dieselbe bestimmt im Mittel auf 361,93 mm — zu 100 gesetzt daran beteiligen sich das Stimbein mit 125,19 mm zu 34,6 die Pfeilnaht (Scheitelbein) 116,44, 5. 14 11389 die Hinterhauptschuppe 119,36: 341,350 und zwar Oberschuppe DBDA un 15 10,28, x „ Unterschuppe 60.167, 7, 216,8 Demnach überwiegt die sagittale Entwicklung des Stirnbeins und des Scheitelbeins in der Hinterhauptschuppe; oder anders aus- gedrückt, die Schädel der Altbayern zeigen eine überwiegend fron- tale Entwicklung. Der Verfasser vergleicht nun dieses Resultat mit den Maßen einiger Sehädel mit Abnormitäten. Wir ziehen alles in eine kleine verkürzte Tabelle zusammen. Stirnbein Scheitelbein Schuppe d. Hinterhaupts Mittel aus (?) Schädeln 125,29 116,44 119,30 Schädel mit seitl. Reste d. Sut. oce. tr. 126,65 122,22 117,00 2 Schädel mit Os Incae prop. 120,00 114,00 121,00 2 Schädel mit Spitzenknochen der Hinter- hauptschuppe 129,50 111,00 129,50 Hieraus zeigt sich die Zunahme der Hinterhauptschuppe auf Reste der Seitenwandbeine sehr auffallend. Es stimmt das mit den Resultaten Virehow’s überein. Schließlich verweilt der Verfasser bei der von H. Meyer an- schaulich beschriebenen Flachlegung des untern Hinterhauptsgewölbes, welche sich zur basilaren Impression des Schädels nach Vir- chow steigern kann. Wir können hier die rein theoretischen Erör- terungen darüber füglich umgehen. Kap. II. Der Schädelinhalt und der Horizontalumfang der Schädel bei der altbayrischen Landbevölkerung (S. 106—123). I. Direkte Messungen des Schädelinnenraums. Die- selben wurden von dem Verfasser nach der Tiedemann’schen Me- thode durch Einfüllen mit Hirse ausgeführt und die Hirse hinterher gemessen. Schädelinhalt in cem. Mittel Minimum Maximum 100 männliche Schädel (altbayr.) 1503,5 1260 1780 100 weibliche £ pe 1553,53 1100 1683 demnach 200 A 1 1419 141100 1780 60 Schädel sächs. Stamms nach Welcker 1374 1090 1790 30 männl. Schädel (Welcker) 1448 1220 1790 30 weibl. Schädel (Welcker) N 1300 1090 1550 380 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. Aus dem Vergleich der von Ranke gemessenen altbayrischen Schädel mit den von Welcker gemessenen Schädeln „sächsischen Stamms“ ergibt sich, dass die altbayrischen Schädel einen größern Schädelraum (Ranke sagt S. 108 Hirnraum, das soll offenbar heißen Schädelraum) besitzen als die sächsischen Schädel; das Uebergewicht ist bei den männlichen Schädeln deutlicher als bei den weiblichen. Ein Vergleich zwischen männlichen und weiblichen Schädeln der Altbayern ergibt nach Ranke 4503,92 4355.>=,1000 2 8895 „ Weleker 1448 : 1300 = 1000 : 897 (Schädel sächs. Stamms) „ Weissbach 1521,6 : 1336,6 (deutsche Schädel in Wien) Bemerkenswert ist die große Uebereinstimmung zwischen den Resultaten Ranke’s und Weissbach’s. Bemerkenswert ist ferner, dass das Mittel aus 32 Schädeln oberbayrischer Verbrecher (Hudler) 1502 cem beträgt, also eine Zahl, welche der von Ranke gefun- denen (1503) fast gleichkommt. Ranke scheint ein anderes Re- sultat erwartet zu haben; er sagt, die Zahlen beweisen gleichzeitig, dass sich hier ein Zusammenhang des Hirnraums (soll besser heißen Schädelraums) mit einer vorwiegenden Neigung zu Verbrechen im allgemeinen nicht erkennen lässt. Warum soll zwischen Ver- brechen und Schädelraum ein Zusammenhang sein? A priori liegt doch kaum ein Grund für diese Annahme vor und die Behauptungen Benedikt’s und anderer Autoren, wonach alle Verbrecher als patho- logisch in somatischer Hinsicht, speziell als schädel- oder hirnkrank zu bezeiehnen wären, sind noch lange nicht bewiesen. Ranke stellt die Einzelmessungen an seinen 200 Schädeln denen Hudler’s gegenüber. Schädelinhalt in cem. unter 200 Schädeln unter 32 Verbr.-Sch. 1200—1299 8 1 1300—1399 34 7 1400—1499 92 7 1500—1599 99 6 1600—1699 26 5 1700—1799 20 2 1800—1900 7 3 Er meint nun aus dieser Tabelle schließen zu müssen, dass die mittlern Werte der Schädelkapazität (1503) sich unter den Verbrecher- schädeln in geringerm prozentischem Verhältniss finden als unter der übrigen Bevölkerung, dass dagegen niemals die maximalen Werte stärker vertreten sind. Ref. kann diese Schlussfolgerung nicht als richtig anerkennen; da es sich bei der Reihe der Verbrecherschädel nur um 32, also nur um eine geringe Zahl von Schädeln handelt, so ist allen möglichen Zufälligkeiten Thür und Thor geöffnet. Erst bei viel größern Zahlen, wo es sich um hundert und mehr Schädel han- delt, kann ein Vergleich gewagt werden. Ref. kann in dieser „Ver- Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 281 brechertheorie“ nur eine interessante Hypothese sehen, welche aber mancherlei Bedenkliches in sich schließt. II. Vergleichung des Schädelraums mit dem horizon- talen Schädelumfang (8. 115—121). Der Horizontalumfang des Schädels bei 100 Männerschädeln 524 mm bei 100 Verbr.-Schädeln 501 mm demnach wie 1000 : 956 Welcker findet 1000 : 966 Ranke nimmt nun an, dass bei der altbayrischen Landbevöl- kerung der Horizontalumfang des Schädels um 10 mm fortschreitet, wenn der Innenraum des Schädels um 100 cem wächst; 1 mm entspricht demnach 10cem. Und zwar entspricht ein mittlerer Horizontalumfang eines Schädels von 515 mm einem mittlern Schädelraum von 1400 cem. 837 Schädel gaben einen mittlern Umfang von 516 mm und da- nach eine Schädelkapazität von 1410cem; die direkte Bestimmung des Schädelraums ergab aus 200 Schädeln aber 1419 cem, wonach die Brauchbarkeit dieser Rechnungsmethode genügend sicher gestellt erscheint. Zwischen Flachlandorten und Gebirgsorten mit rein altbayrischer Bevölkerung besteht in bezug auf den mittlern Horizontalumfang kein Unterschied. Horizontalumfang Schädelkapazität gemessen berechnet Flachlandorte (300 Schädel) Se 1460 Gebirgsorte (137 Schädel) 521 1460 Es haben demnach (119) die im Gebirge zahlreichen Störungen in der Schläfengegend der Schädel keinen nachteiligen Einfluss auf den Gesamtschädelinnenraum der Bevölkerung. Für die Orte, wo die Bevölkerung mit slavischen und fränkischen Elementen gemischt ist, resultirt eine andere Tatsache: es finden sich Schädel mit flachgewölbter Stirn und etwas geringerer Schädelkapazität. Der mittlere Horizontalumfang für die Schädel von Michelfeld und Chammünster (200 Sch.) ist 518mm, danach die mittlere Schädel- kapazität etwa 1430 eem. Ranke glaubt daraus schließen zu müssen, dass die Bevölkerung jener Gegenden, in welchen Slaven und Fran- ken den Altbayern beigemischt sind, eine geringere Schädelkapazität besitzt, als die Gegend mit unvermischter altbayrischer Bevölkerung. Virchow hat abnorm große Schädel als „Kephalone“ be- zeichnet, Welceker versteht darunter Schädel, deren horizontaler Umfang 540-550 mm beträgt. Unter 100 altbayrischen Männer- schädeln sind 12, unter 100 altbayrischen Frauenschädeln 1 Schädel, welche 550 und mehr Horizontalumfang besitzen; das Maximum ist sogar 570 mm. Demnach nimmt der altbayrische Stamm in Rücksicht auf die Sehädelkapazität einen Ehrenplatz unter den deutschen Stämmen ein 282 Biedermann, Stadium der latenten Reizung. (8. 120). (An einem andern Orte S. 130 bezeichnet Ranke die alt- bayrische Landbevölkerung als physiologisch- makrokephal.) Es folgen nun Schlussbehauptungen (S. 122 — 136), weiterhin noch eine Anzahl Tabellen (S. 137—147) und dann eine Kurventafel, drei Tafeln mit Abbildungen männlicher und weiblicher Schädel und schließlich eine Tafel, auf welcher die Bases der Gehirne des Negers Salem und eines Nordafrikaners dargestellt sind. (Schluss folgt.) Maurice Mendelssohn, Recherches cliniques sur la periode d’exeitation latente des muscles dans differentes maladies nerveuses. Arch. de physiologie normale et pathologique. 1880. p. 193 Ludwig Edinger, Untersuchungen über die Zuckungskurve des menschlichen Muskels im gesunden und kranken Zustande. Zeitschr. f. klin. Med. Bd. VI. Augustus Waller, Sur le temps perdu de la contraction d’ouverture. Arch. de physologie normale et pathologique, 2. Serie. IX. p. 383. Die Zeit, welche zwischen dem Moment der Reizung und dem Beginn der Kontraktion vergeht (das „Stadium der latenten Reizung“) wurde für menschliche Muskeln zuerst von Place (Pflüger’s Arch. 1870. S. 424) berechnet. Er reizte vom Nerven aus (über dem Hand- gelenk) die Muskeln des Daumenballens und bestimmte die Dauer des Latenzstadiums im Mittel aus 20 Versuchen zu 0,018 Sek. Mendelssohn, der einesvon Marey konstruirten Apparats sich bediente, bestimmte die Latenzperiode der Zuckung verschiedener menschlicher Muskeln sowol unter normalen Verhältnissen, als auch in pathologischen Fällen bei direkter Reizung mit einzelnen Oeffnungs- induktionsströmen. Er erhielt Werte, welehe nicht nur mit der Inten- sität des Reizstroms und mit dem jeweiligen Erregbarkeitsgrad des Muskels wechselten, sondern auch, abgesehen von pathologischen Zu- ständen, nach Alter und Geschlecht, nach Körperhälfte und Muskelgruppe beträchtliche Schwankungen darboten (im Mittel 0,006—0,008 Sek.). Edinger, welcher -wie Mendelssohn die Verdiekungskurve der von einem Oeffnungsinduktionsstrom in querer Riehtung durchflossenen Muskels mittels Marey’scher Tambours und Lufttransmission graphisch verzeichnete, konnte dagegen weder hinsichtlich der Form, noch auch betreffs der zeitlichen Verhältnisse wesentliche Differenzen der von verschiedenen Muskelindividuen stammenden Kurven konstatiren. Die Latenzzeit bestimmte er im Mittel zu 0,01 Sek. Die niedrigste Zahl für Gesunde betrug 0,009, die höchste 0,016. Die Stromstärke schien keinen erheblichen Einfluss auf die Größe des Latenzstadiums zu be- besitzen. Die Kurven erreichten durchschnittlich nach 0,045 Sek. Buceola, Pupillenreaktion bei progressiver Paralyse. 285 ihre größte Höhe, die Gesamtdauer einer Zuckung betrug 0,3—0,45 Sek. Im übrigen gleichen sie hinsichtlich ihrer Form dnrehaus den Zuckungskurven tierischer Muskeln. Beträchtliche Veränderungen (Verlängerung) der Latenzzeit wurden auch von Edinger in ver- schiedenen pathologischen Fällen gefunden. Nach Waller ist die Zeit, welehe zwischen dem Beginn der Ver- kürzung eines menschlichen Muskels und der durch Oeffnung eines genügend starken Kettenstroms bewirkten Reizung des zugehörigen Nerven vergeht, beträchtlich größer, als wenn die Erregung durch Schließung desselben Stroms ausgelöst wird. Biedermann (Prag). G. Buccola, Sul tempo della dilatazione reflessa della pupilla nella paralisi progressiva degli alienati ed in altre malattie dei centri nervosi. Rivista sperimentale di freniatria e di medicina legale. Anno IX. Fase. 1. pag. 98—109. Obwol schon Moeli!) das Verhalten der Pupillenreaktion bei pro- gressiver Paralyse nicht bloß auf Licht-, sondern auch auf sensible Reize geprüft und gefunden hatte, dass dieselbe häufig fehlt oder nur in schwer wahrnehmbarem Grade vorhanden ist, so fehlten darüber doch noch genauere Messungen. Um solche ausführen zu können, war es nötig, vorerst die Zeit zu bestimmen, innerhalb welcher die auf sensible Reize erfolgende Pupillendilatation unter normalen Ver- hältnissen eintritt. Der Hautreiz geschah mittels des elektrischen Stroms und es wurde selbstverständlich streng darauf geachtet, dass weder direkter Lichteinfall noch Akkommodationsanstrengungen Ver- änderungen in der Pupillenweite hervorbringen konnten. Die beiden Pole wurden so nahe nebeneinander aufgesetzt, dass die Zeit der Stromschließung gleichzusetzen war mit dem Moment der Hautreizung. Ferner wurde der Augenblick genau registrirt, in welchem der Be- obachter den Anfang der Erweiterung wahrnahm. Die durch das Chronoskop angegebene Zeit umfasst also die Dauer des nervösen Reflexvorgangs und die Zeit, welche ein geübter Beobachter braucht, um den Anfang der Irisbewegung wahrzunehmen und diese Wahr- nehmung zu signalisiren. Derartige Messungen existiren bis jetzt bloß über „die Reflexzeit der Pupillenerweiterung“ bei Beschattung der Netzhaut. Dieselben hatte Vintschgau?) mit Hilfe der entoptischen 1) Die Reaktion der Pupillen Geisteskranker bei Reizung sensibler Nerven. Arch. f. Psychiatrie. Bd. XIII S. 602. 2) Zeitbestimmungen der Bewegungen der eigenen Iris. Pflüger’s Arch, f. d. ges. Physiol. Bd. XXVI, S. 324—390 (speziell S. 367). 984 Urbantschitsech, Einfluss von Trigeminusreizen auf d. Sinnesempfindungen. Methode angestellt und als chronometrische Werte 0,785°—0,799" für die rechte und 0,767°—0,778' für die linke Pupille erhalten. Die Reaktionszeit der Iris, welehe Buecola an drei normalen Indivi- duen bei Applikation sensibler Reize bekam, beträgt im Mittel aus einer langen Reihe von Versuchen 0,688, 0,726 und 0,723. Um nun die wahre Reaktionszeit für die reflektorische Pupillenerweiterung zu erfahren, müsste man noch den numerischen Wert der persönlichen Gleichung abziehen, welchen B. nach sehr langer Uebung fast kon- stant auf 0,220°—0,240' beziffern zu dürfen glaubt. So mit der Kenntniss der physiologischen Reaktionszeit ausge- rüstet, ging B. an die Untersuchung von 15 Paralytikern. Bei 7, welche schon in einem vorgeschrittenen Stadium des paralytischen Blödsinns sich befanden, zeigte sich die Pupille bei wiederholten Prüfungen vollkommen reaktionslos. Bei allen übrigen erhielt er po- sitive Resultaie, welche beweisen, dass bei der deutlich ausgesprochenen progressiven Paralyse und bei einigen andern Erkrankungen der ner- vösen Zentralorgane (schleichende, diffuse Myelitis, Dementia mit sen- sibler und motorischer Hemiparese der rechten Seite, disseminirter Sklerose) eine höchst auffällige Verlangsamung der Reflexzeit der Iris besteht. Anhangsweise wird noch erwähnt, dass in zwei Fällen ma- niakalischer Exaltation und in einem mit hypochondrischem Irresein keine Anomalie in der Reflexzeit der Pupillenerweiterung gefunden wurde. Schließlich kündigt B. noch weitere Untersuchungen bei an- dern Formen von Geisteskrankheiten an. Sattler (Erlangen). Victor Urbantschitsch, Ueber den Einfluss von Trigeminus- reizen auf die Sinnesempfindungen, insbesondere auf den Ge- sichtssinn. Pflügers Archiv für die ges. Phys. Bd. XXX. Die Beobachtung, dass bei einigen Ohrenkranken zugleich mit der Er- krankung des Ohrs (chronischer Katarıh des Mittelohrs) eine allmähliche oder plötzliche Abnahme des Sehvermögens mit Verdunklung des Gesichtsfeldes eintrat, welche sich nach Bougirung der Tuba erheblich besserte, gab Urban- tschitsch Veranlassung, Untersuchungen über den Einfluss des Gehörorgans auf den Gesiehtssinn anzustellen. Die Resultate, die sich an 25 Ohrenkranken ergaben, sind folgende: Bei 11 Kranken war auf der Seite des erkrankten, bezw. stärker affizirten Ohrs das Sehvermögen herabgesetzt, bei 3 andern war es auf der Seite des erkrankten Ohrs erhöht, bei vier auf beiden Seiten gleich; bei zweien kam nur 1 Auge zur Prüfung. Im Verlauf der Behandlung besserte sich das Sehvermögen in 21 Fällen und in 14 Fällen in so bestimmter Weise, dass ein Zusammenhang zwischen Sehvermögen und Ohrerkrankung mit Sicher- heit angenommen werden muss. Es stellte sich außerdem heraus, dass nicht Urbantschitsch, Anästhesie der peripheren Chorda tympani-Fasern. 285 nur das gleichseitige Auge, sondern auch das Auge der andern Seite beein- flusst wurde. Auch durch verschiedene Reizeinwirkungen auf das äußere und mittlere Ohr kann zuweilen ein auffälliger Einfluss auf das Sehvermögen ausgeübt wer- den, der sich gewöhnlich in einer Steigerung, mitunter in einer Verminderung der Sehstärke äußert; die Einwirkung geschieht meist entweder unmittelbar nur binnen kurzer Zeit. Die Frage, in welcher Weise die beobachteten Erscheinungen ihre Er- klärung finden, da bei der ophthalmoskopischen Untersuchung diesbezüglicher Fälle keine Veränderungen im Augenhintergrunde nachweisbar waren, beant- wortet Verf. dahin, dass es sich hierbei um einen reflektorischen Vorgang han- delt, indem bestimmte dem äußern und mittlern Ohre angehörige Nerven durch einen sie treffenden Reiz auf dem Wege des Reflexes den Gesichtssinn beein- flussen. Als den vermittelnden Nerven betrachtet Verf. den Trigeminus, des- sen Reizung auch an andern Punkten seiner Ausbreitung, wie diesbezügliche Versuche lehrten, einen Einfluss auf den Gesichtssinn übt. Auch die nach Bougirung der Tuben, ohne Anwendung der Luftdouche, auftretende Hörver- besserung glaubt Verf. in gleicher Weise durch eine reflektorische Beeinflus- sung der akustischen Zentren vom Trigeminusgebiete aus erklären zu können, wie Verf. überhaupt der Meinung ist, dass der Trigeminus auf sämtliche Sin- nesempfindungen einen Einfluss zu nehmen vermag, und dass durch eine Affek- tion irgend eines sensiblen Trigeminusastes alle Sinne in Mitleidenschaft ge- zogen werden können. B. Baginski (Berlin). Vietor Urbantschitsch, Beobachtung eines Falles von Anästhesie der peripheren Chorda tympani-Fasern bei Auslösbarkeit von Ge- schmacks- und Gefühlsempfindungen durch Reizung des Chorda tympani-Stamms. Arch. für Ohrenheilkunde Bd. XIX S. 155. Verf. hatte Gelegenheit, bei einem Kranken mit Perforation des linken Trommelfells am hintern obern Quadranten totale Geschmacksanästhesie mit gleichzeitiger herabgesetzter tactiler Empfindung der vordern Hälfte der gleich- seitigen Zungenseite zu konstatiren, als Folge der durch die Ohraffektion auf die Chorda tympani fortgeleiteten Entzündung. Mechanische und chemische Reizung der Chorda tympani erzeugte Geschmacksempfindungen und Gefühls- sensationen, wobei noch besonders bemerkenswert war, dass dieselben trotz der peripheren Anästhesie der Chordafasern an den anästhetischen Zungen- partien ausgelöst werden konnten. Außerdem zeigte es sich bei den wieder- holten Prüfungen, dass häufig eine allmähliche Umwandlung des an einer be- stimmten Zungenstelle mechanisch erregten Geschmackes in eine andere, von diesem wesentlich verschiedene Geschmacksempfindung eintrat, und es wäre denkbar, dass der quantitative Geschmacksunterschied nur durch die Art der Erregung, und nicht durch die verschiedenen Arten der Nervenfasern bestimmt wird. B. Baginski (Berlin). 286 Ecker, Anatomie des Frosches. Alexander Ecker, Die Anatomie des Frosches. Ein Handbuch für Physiologen, Aerzte und Studirende. Dritte (Schluss-) Abteilung: Lehre von den Eingeweiden, dem Integument und den Sinnes- organen, bearbeitet von Prof. R. Wiedersheim. Braunschweig 1882 Mit vorliegender Arbeit von Wiedersheim wird ein Werk zum Ab- schluss gebracht, dessen eminente praktische Bedeutung für zoologische, histo- logische und physiologische Laboratorien an dieser Stelle wol nicht mehr be- sonders hervorgehoben zu werden braucht. Entsprechend dem Plane, welcher der ersten Lieferung (1864!) dieser systematischen Anatomie des „physiologi- schen Haustiers xar’ 2£oynv“ zu grunde gelegt wurde, gestalteten sich im we- sentlichen Lieferung 2 (1881) und die in relativ rascher Folge darauf ausge- gebene vorliegende 3. (Schluss-) Lieferung. Diese letztere, ausschließlich von R. Wiedersheim bearbeitet, bietet unter Benützung der wichtigsten ein- schlägigen Literatur ein übersichtliches Bild über die wichtigsten Details der deskriptiven Splanchnologie (s. str.) und der Anatomie der Sinnesorgane des Frosches, obwol die einzelnen Partien — nicht immer ganz motivirt — ungleich ausführlich, einige (Topographie der Organe) etwas kurz behan- delt wurden. Die Holzschnitte — in der Ausführung meist vorzüglich — wurden in sehr bescheidener Anzahl gegeben. Die „Lehre von den Eingeweiden“ wird in vier Hauptkapiteln behandelt (Traetus intestinalis — Respirationsorgane — Blutgefäßdrüsen — Urogenital- system). Das erste umfasst als spezielle Kapitel „die Organe der Mundhöhle“ „Speiseröhre“ und Magen (Vorderdarm), „Dünndarm“ und „Dickdarm“. An- schließend hieran werden in Kürze die histologischen Verhältnisse des Darm- rohrs erörtert. Ueber die in neuster Zeit wieder etwas strittig gewordene Natur der Becherzellen (Flemming, — Otto Drasch etc.) spricht Verfasser hier seine Ansicht nicht bestimmt aus (8.17 — vergl. aber auch 8.59 „Epidermis*). Der Abschnitt „drüsige Anhänge des Tractus intestinalis“ (Leber und Pan- kreas) erläutert durch eine sehr instruktive Figur das Zustandekommen des Duectus hepato-pancreaticus, der Fossa hepatis cardiaca u, s. w., enthält auch, eingeflochten in die sehr klare anatomische Beschreibung der genannten Or- gane, praktische Winke für Präparation und Demonstration. „Milz“ und „Bauchfell“ werden mit Recht in eigenen Kapiteln abgehandelt. Im zweiten Hauptkapitel (oder Abschnitt) „Respirationsorgane* erfreut sich der „Larynx“ einer trefflichen und durch genügend zahlreiche Holzschnitte erläuterten Dar- stellung; weniger entspricht die zu kurz gefasste Beschreibung der Lungen. Hauptabschnitt III befasst sich mit der Lageschilderung der Blutgefäßdrüsen (Thymus und Thyreoidea); in Kürze wird auch deren feinerer Bau berührt. Eine Bemerkung über die Nebennieren findet sich in dem ausführlichen und sehr gelungenen vierten Abschnitt „Urogenitalsystem“; aber auch bei diesem wurde über alle Gebühr mit Figuren gespart. Anhangsweise wird hier auch das Corpus adiposum besprochen. Den letzten Hauptabschnitt des ganzen Werks bildet „die Lehre vom Integument und von den Sinnesorganen“. „Epidermis“, „Corium“ und „Haut- drüsen* werden in speziellen Kapiteln geschildert. Bei Besprechung der letz- tern finden Zalesky’s Beobachtungen in betreff der Wirkung des Hautdrüsen- sekrets von Salamandra, Triton und Bufo Erwähnung (andere Autoren werden nicht genannt), — Die Hautsinnesorgane werden unter hauptsächlicher Zugrunde- legung der schönen zusammenfassenden Untersuchungen von Merkel behandelt. Pflüger, Ueberwintern der Kaulquappen der Knoblauchkröte. 287 Sehr detaillirt sind die Kapitel über das Geruchsorgan (die Born’schen Unter- suchungen kann Autor bis ins Einzelne bestätigen) und über das Gehörorgan, und hier werden auch die wichtigsten Details durch recht klare Holzschnitte zur Anschauung gebracht. Letzteres ist nicht der Fall bei dem zum Schluss geschilderten, etwas stiefmütterlich behandelten „Sehorgan“. August von Mojsisovies (Graz). E. Pflüger, Das Ueberwintern der Kaulquappen der Knoblauchkröte. Während Karl Koch und Franz Leydig noch nichts Bestimmtes über die Ueberwinterung der Kaulquappen von Pelobates fuscus zu sagen wussten, jedoch zu der Ansicht geneigt waren, dass dieselben nicht den Winter über ausdauern könnten, hat neuerdings E. Pflüger Gelegenheit gehabt, weitere und genaue Beobachtungen über diesen bisher zweifelhaften Punkt anzustellen. Nach dem kalten Sommer und Herbst des vorigen Jahres, dessen niedrige Temperaturen die Metamorphose der Amphibienlarven verzögerten, fand Verf. noch im Oktober in Tümpeln bei Bonn Larven von Bombinator igneus und Rana esculenta, natürlich also auch viele Kaulquappen der Knoblauchkröte, von denen bei uns in Deutschland mit dem Ausgang des Sommers stets ein erheblicher Bruchteil unentwickelt bleibt. Mit dem Monat Oktober hörte die Weiterentwicklung der Kaulquappen ganz auf, unter denen sich neben Stücken von 8-9 cm auch noch ganz kleine von nur 3 cm Länge fanden. Im Lauf des Novembers verminderte sich die Zahl der Kaulquappen bedeutend, welche nunmehr sehr träg in ihren Bewe- gungen geworden waren. Aber sie hielten sich bis in den Februar. Mehrfach eintretende Bedeckung der Tümpel mit diekem Eis schien den Tieren Luft- mangel zu verursachen und nach dem letzten Abschmelzen des Eises waren sie scheinbar alle zu grunde gegangen. Aber nur scheinbar. Denn in den ersten Tagen des Monats April fand Verf. mehrere große Larven von Pelobates fuseus, deren Verwechslung mit solchen von Alytes obstreticans er bestimmt in Abrede stellt. Beide Arten laichen wol auch nicht in gleichen Gewässern. Ist somit nun festgestellt, dass die Larven von Pelobates fuscus unter Um- ständen den deutschen Winter ertragen können, so ist dies doch nur für eine geringe Anzahl derselben der Fall. Im allgemeinen ist unser Sommer zu kurz, um die Entwicklung aller zu Ende kommen zu lassen. Dasselbe trifft wol auch für Alytes obstreticans zu; die Kaulquappen dieser Art aber über- wintern leicht. Pflüger zieht daraus den Schluss, dass Pelobates fuscus „ein von Süden her in Deutschland eingewandertes Tier ist, welches seine Anpas- sung an unser Klima noch nicht vollzogen hat. Diese Anpassung wird nun auf verschiedenen Wegen erstrebt.“ Jedes Jahr entsteht eine kleine Zahl von Knoblauchkröten aus überwinterten Larven, welche durch ihre Ueberwinterung an Widerstandsfähigkeit gegen die Rauhheit des Klimas gewonnen haben und diese Fähigkeit auf ihre Nachkommen vererben. Ferner aber gehen besonders alle die Larven zu grunde, welchen die langsamste Entwicklung eigen ist. Andere, welchen die Tendenz kürzerer Entwicklungszeit innewohnt und die mit Ausgang des Sommers ihre Metamorphose beendet haben, bleiben leben und vererben auf ihre Nachkommenschaft die immer deutlieher hervortretende Fähigkeit, in unserm kurzen Sommer ihre Verwandlung durchzumachen. (Pflüger’s Archiv Bd. XXXI Heft 3 u. 4 S. 134—145). 288 Preyer, Elemente der allgemeinen Physiologie. W. Preyer, Elemente der allgemeinen Physiologie. Kurz und leichtfasslich dargestellt. Leipzig 1883. Hervorgegangen aus Universitätsvorlesungen dürfte dieses Werk nicht nur für Studirende der Medizin und der Naturwissenschaften als Einleitung in das Studium der speziellen Physiologie sich eignen, sondern es gewährt auch dem Vorgeschrittenen erwünschte Gelegenheit zur raschen Orientirung über allge- meine physiologische Fragen. Es erscheint darum wol geeignet, eine fühlbare Lücke in der grade an Werken über allgemeine Physiologie armen Fachlitera- tur auszufüllen. Nicht Sache dieser Besprechung kann es sein, den reichen Inhalt des an sich schon in prägnanter Kürze geschriebenen Buches wiederzu- geben. Es sei nur erwähnt, dass im ersten Abschnitt, welcher vom „Wesen des Lebens“ handelt, unter anderm die allgemeinen innern und äußern Lebens- bedingungen sowie die Hypothesen über den Ursprung der ersten lebenden Wesen erörtert werden, während die folgenden Abschnitte den chemischen Aufbau und die Formen der Organismen zum Gegenstand haben. Als beson- ders instruktiv dürfen ferner auch jene Kapitel gelten, in welchen die Kraft- äußerungen lebender Körper und die allgemeinen physiologischen Funktionen besprochen werden. Die Darstellungsweise ist durchweg klar und übersicht- lich und setzt, der Bestimmung des Buches entsprechend, zum Verständniss keineswegs gründliche physiologische Vorkenntnisse, sondern nur die Bekannt- schaft mit den allgemeinen und wesentlichsten Tatsachen der Physik, Chemie und Anatomie voraus. Als eine sehr zweckdienliche Beigabe darf insbeson- dere auch die kurze und übersichtliche Darstellung der historischen Entwick- lung der Physiologie von ihren ersten Anfängen bis auf die Gegenwart ange- sehen werden. Biedermann (Prag). Verlag von Eduard Besold in Erlangen. Soeben erschien: Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane von Dr. Georg Schwalbe, 0. Professor der Anatomie an der Universität Königsberg. Erste Lieferung. Preis 7 Mark. k= Dieses seit länger erwartete Werk bildet zugleich des zweiten Bandes dritte Abteilung von Hoffmann-Schwalbe’s Lehrbuch der Anatomie. TEE Zweite Auflage. an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Gentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 4 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band, Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. IIT. Band. 15. Juli 1883. Nr. 10. Inhalt: Grant Allen, Blumenfarben. — Brock, Zur Akklimatisation von Ostrea angulata. — Ranke, Physische Anthropologie der Bayern (Schluss). — Strasser, Funktionelle Anpassung der quergestreiften Muskeln. — Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. — affroen, Anatomie und Histo- logie von Peripatus. — Palacky, Westgrenze unserer Pflanzen, Grant Allen, The colours of flowers as illustrated in the british flora. With illustrations. London, Macmillan and Co 1882 119 S. (Etwas gekürzt ist dieselbe Arbeit unter gleichem Titel abgedruckt in „Nature* Vol. XXVI Nr. 665—668; Juli— Aug. 1882). Dieser Arbeit liegt, soweit sich erkennen lässt, keine einzige eigne Beobachtung des Verf. zu grunde, wol aber ein glücklicher Einfall, der mit mehr rednerischem als wissenschaftlichem Geschick in seine Konsequenzen verfolgt ist und der, obwol er einer sichern Begründung ermangelt, die vollste Beachtung verdient. Es ist dies der Gedanke, dass die Blumenblätter nicht aus Stengelblättern, son- dern aus Staubgefäßen hervorgegangen seien und des- halb ursprünglich von gelberFarbe gewesen sein müssen. Die ältesten Blütenpflanzen, sagt der Verf., sind anerkanntermaßen die Gymnospermen. Da diese nun gar keine Kelche und Blumen- blätter, sondern nur einerseits Stengelblätter, andererseits Staubgefäße und Samenknöspchen besitzen, so können sie auch auf ihre Abkömm- linge, die Angiospermen, keine Kelch- und Blumenblätter vererbt ha- ben. Es können also auch nicht, wie die Wolft-Göthe’sche Metamor- phosenlehre es will, die Staubgefäße höherer Blütenpflanzen aus der Umbildung von Blumenblättern, es müssen vielmehr umgekehrt die Blumenblätter aus Umbildung der äußersten Staubgefäße der ur- sprünglichen Windblüten hervorgegangen sein und zwar in Anpassung an den Dienst der Insektenanlockung, sobald Insekten statt des Win- des den Blütenstaub auf Narben getrennter Stöcke übertrugen. Der negative Teil dieser Schlussfolgerung ist offenbar ebenso sicher, als 19 290 Grant Allen, Blumenfarben. die ziemlich allgemeine Annahme, dass die Angiospermen von den Gymnospermen abstammen. Der positive Teil der Grant Allen’schen Behauptung dagegen folgt durchaus nicht mit Notwendigkeit aus sei- nen Praemissen; vielmehr ist es ebenso denkbar, dass sich Blütenblätter zunächst als Schutzhüllen der Befruchtungsorgane ausgebildet und später in Anpassung an die Insektenanlockung zu großen abweichend gefärbten Flächen umgebildet haben. Grant Allen aber übersieht alle die naheliegenden Einwendungen, welche sich gegen seinen Ein- fall erheben lassen, mit Hartnäckigkeit und stellt als feste Grundlage einer Theorie der Blumenfarben den einfachen Satz hin: Die Blumen- blätter sind aus Staubgefäßen dadurch hervorgegangen, dass sich der äußerste Kreis derselben verflacht, verbreitert, die Pollenproduktion aufgegeben, die ursprüngliche gelbe Farbe der Antheren aber bei- behalten hat. Aus diesem Satze leitet er sodann in eben so willkürlicher Weise ein „allgemeinesGesetzfortschreitender Entwicklung der Blumenfarben“ ab, wonach aus dem ursprünglichen G elb die Ent- wicklung der Blumenfarben in der bestimmten Reihenfolge Weiß, Rot, Purpur, Violett und Blau fortgeschritten sein soll. In der Tat sind ja von F. Hildebrand und vom Ref. sehr zalreiche Bei- spiele nachgewiesen worden, welche einen Fortschritt der Blumen- farbenentwicklung von Gelb oder Weiß aus durch Rot zu Blau und Violett bekunden; aber dieselben beiden Gewährsmänner heben aus- drücklich hervor, dass die Entwicklung der Blumenfarben keineswegs in dieser einen, sondern in sehr verschiedenen Richtungen erfolgt ist. Hier und weiterhin zieht Verf. alle ihm geeignet erscheinenden Be- obachtungen F. Hildebrand’s und H. Müller’s zur Unterstützung seiner Behauptung heran und zwar ohne Nennung der Quelle als eignen geistigen Erwerb; dagegen alle seiner Behauptung wider- sprechenden Sätze derselben übergeht er vollständig mit Stillschweigen. Ebenso wird der vom Ref. in verschiedenen Arbeiten !) versuchte Nachweis, dass die Ausprägung bestimmter Blumenfarben in erster Linie durch Farbenliebhaberei der als Kreuzungsvermittler wirksamen Insekten bedingt gewesen sei, mit keiner Silbe erwähnt. In der Phantasie des Verf. liegt die Sache viel einfacher. Eine gelegentliche Aeußerung seines berühmten Landsmannes Wallace: „Ueberall in der Natur erscheinen farbige Flecken und Augen an den am höchsten 1) Namentlich in dem Aufsatze: „Die Insekten als unbewusste Blumen- züchter*, Kosmos Bd. III S. 314—337, 403—426, 476—499 und in den „Alpen- blumen“, in den Rückblicken über die betrachteten Liliaceen (S. 54), Crassu- laceen (S. 87), Saxifragen (S. 109), Ranunculaceen (S. 140), Violen (8. 157), Caryophylleen (S. 205) Rosifloren (S. 228), Boragineen (S. 265), Serophularia- ceen (S. 303), Gentianen (S. 348), Primulaceen (S. 373), Ericaceen (S 388) und Caprifoliaceen (S. 398). . Brock, Zur Akklimatisation von Ostrea angulata. 291 abgeänderten Teilen“ genügt ihm, um den allgemeinen Satz aufzustellen: die Weiterentwieklung der Blumenfarben in der bestimmten Reihen- folge Gelb, Weiß, Rot, Purpur, Violett, Blau ist lediglich durch die immer höhere Spezialisirnng der Blumenformen bedingt gewesen und hat mit derselben gleichen Schritt gehalten; ebenso hat sich mit bei- den in gleichem Sehritt die Unterscheidungsfähigkeit und Liebhaberei der Blumenhonig saugenden Insekten für diese Farben entwickelt. Die zahllosen Beispiele von höher spezialisirten Blumen mit gelben oder weißen Farben, die mit seiner Theorie in augenscheinlichem Wider- spruch stehen, sind dem Verf. nur ebenso viele Beweise eines statt- gehabten Farbenrückschrittes; seinem „allgemeinen Gesetze“ aber tun sie nach seiner Ansicht ebensowenig Abbruch, als die nicht minder häufigen Fälle von Buntfärbung der Blumen, deren Unter- ordnung unter das „allgemeine Gesetz“ er gar nicht einmal versucht. Auch über die allbekannte Tatsache, dass viele sehr einfach gebildete Blumen von grüner Farbe sind, für welche in der Grant Allen’schen Farbenreihe gar kein Platz ist, kommt der Verf. ohne alle Schwierig- keit hinweg. Da es bei ihnen feststeht, dass alle Blumen ursprüng- lich gelb gewesen sind, so — schließt er — müssen alle grünen Angiospermenblüten ohne Ausnahme entartete Typen sein, und wo irgendwelche Blüte ein Rudiment einer Blütenhülle in irgend einer Form besizt, muss sie von insektenblütigen Vorfahren mit auffallen- der Blumenfarbe abstammen. So verfällt er denn schließlich der ohne Bedenken von ihm ausgesprochenen Konsequenz, dass die Kätzchen tragenden Bäume die degenerirten Nachkommen von blau-, rot-, weiß- oder gelbblumigen Insektenblüten sein müssen, einer Konsequenz, die mit den bis jetzt bekannten geologischen Funden in offenem Wider- spruche steht. Für den Mangel an wissenschaftlicher Ausbeute entschädigt uns das vorliegende Werkchen einigermaßen nur durch die Ueberraschung der auffallenden Wahrnehmung, mit welcher Unverfrorenheit der Verf. seinen Landsleuten unsere Forschungsergebnisse karrikirt und zu einem bestimmten Zweck zurecht gestutzt als eigne Leistung vorführt. Das Befremden darüber soll uns aber nicht hindern, seinem wirklich neuen und anregenden Gedanken, dass die Blumenblätter möglicherweise aus der Umbildung von Staubgefäßen hervorgegangen sein Können, unsere volle Beobachtung zu schenken. Hermann Müller (Lippstadt). Die Akklimatisation von Ostrea (Gryphaea) angulata Lam. an den französischen Küsten. Wanderungen von Tieren und Pflanzen und Ansiedlungen in ur- sprünglich fremden Gebieten sind von jeher mit großem Interesse ver- 19° 2399 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. folgt worden, besonders wenn die Erweiterung des Verbreitungsgebiets nur durch Verdrängung verwandter Arten erreicht werden kann. Die Verdrängung der Hausratte durch die Wanderratte, die Vernichtung vieler endemischer Pflanzen auf ozeanischen Inseln durch eingeführte Kulturgewächse und deren Unkräuter sind allbekannte Beispiele für diesen merkwürdigen Vorgang, den man durch Annahme einer „Ueber- legenheit“ der siegreichen Art im Kampf ums Dasein mehr zu um- schreiben, als zu erklären pflegt. Vor etwa einem Jahrzehnt warf ein Schiff, das mit portugiesi- schen Austern nach Bordeaux bestimmt war, in einiger Entfernung von der Mündung der Gironde einen Teil der Ladung, der für ver- dorben gehalten wurde, über Bord. Letzteres war aber keineswegs der Fall; vielmehr fanden die ausgeworfenen Austern in der Gironde so günstige Existenzbedingungen, dass sie sich rapid vermehrten und heute nicht nur an beiden Ufern der Gironde mächtige Bänke bilden, sondern sich auch an der Westküste weit nach Norden und Süden hin ausgedehnt haben. So wurden 1880—81 von Morenne (einem Städtehen etwas nördlich von der Girondemündung) schon 40 Millionen Stück dieser Austern exportirt, während sie in südlicher Richtung schon anfangen, in die Austernparke von Arcachon einzudringen. Letzterer Umstand gibt zu ernstlichen Befürchtungen Veranlassung, denn die Ostrea angulata erweist sich der Ostrea edulis im Kampf ums Dasein dermaßen überlegen, dass eine Verdrängung der letztern wol im Bereich der Möglichkeit liegt. Es ist wol der Erwähnung wert, dass die Ueberlegenheit der Ostrea ang. schon der freischwimmenden Larve eigen zu sein scheint. Wenigstens fand man die „Colleeteurs“ (Gegenstände, welche die Austernzüchter an geeigneten Stellen ver- senken, um der freischwimmenden Brut Gelegenheit zum Festsetzen zu geben, in Frankreich gewöhnlich Ziegel) an den Küsten der Insel Oleron, wo beide Arten neben einander vorkommen, im letzten Jahr fast ausschließlich mit der Brut der Ostrea angul. bedeckt. Die portugiesische Auster ist diöeisch (0. edulis bekanntlich herma- phroditisch) und die künstliche Befruchtung an ihr mit Glück ausgeführt worden; sie bevorzugt im Gegensatz zu der tiefer lebenden Ostrea edulis die Flutgrenze und ist bei jeder Ebbe vollkommen im Trocknen. Brock (Göttingen). Johannes Ranke, Beiträge zur physischen Anthropologie der Bayern. (Schluss.) II. Abschnitt. Ethnologische Kraniologie Bayerns. (S. 1— 296.) Der Verfasser beschreibt und untersucht in diesem umfassenden Abschnitt nicht allein die Schädel der altbayrischen Landbevöl- Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 293 A kerung, sondern auch die Köpfe der lebenden Bayern mit steter Be- rücksichtigung der bereits vorliegenden Resultate an benachbarten und verwandten Volksstämmen. Die Beschreibungen und Schilderungen sind äußerst minutiös, genau und peinlich, und wir sind hier bei einem Referat natürlich nicht im stande, ihnen in allen Einzelheiten folgen zu können. Wir werden uns aber bemühen, die Hauptresultate herauszugreifen. Der Verfasser beginnt mit einer kurzen ethnologischen Cha- rakteristik der Altbayern (8. 1—7), welche wir hier nicht wieder- geben können. Wir betonen nur, dass die Bayern urgermani- schen Stammes sind, dass sie sich in Oberbayern am reinsten, d. h. am freisten von Beimischungen anderer Stämme erhalten haben. Dann folgt das V. Kapitel (warum V., da eigentlich kein IV. existirt?), welches sich mit der altbayrischen Brachykephalie beschäftigt (S. S—72). Wir stellen die Hauptresultate an die Spitze: die Untersuchung der Schädel (1000) ergibt im Mittel einen Längen- breitenindex von 83; demnach ist die altbayrische Landbevölkerung im Mittel ausgesprochen brachykephal, überdies sind die Schädel absolut hoch. Das Zentrum dieser brachykephalen Bevölkerung ist das bayrisch-tyrolische Hochgebirge. — Verfolgen wir nun den Gang der Untersuchungen des Verfassers mehr im einzelnen. Der Verfasser war in der glücklichen Lage, gegen 2000 Schädel der modernen altbayrischen Bevölkerung seinen Untersuchungen un- terziehen zu können. Die Schädel gehörten den Knochenhäusern ver- schiedener Ortschaften an. Die Untersuchung der Längenbreitenver- hältnisse der Schädel wurde speziell an 1000 Schädeln aus 10 Orten (Altötting, Aufkirchen, Beuerberg, Chammünster, Michelfeld, Prien, Wallerhausen, Innzell, Obergaismering, Bärnried) ausgeführt. Längenbreitenindex im Mittel 1. Verschiedene Ortschaften 82,23 2. Chammünster 82,35 3. Altötting 82,68 4. Weiberschädel 83,10 5. Aufkirchen 83,18 6. Männerschädel 83,19 7. Beuerberg 33,94 8. Michelfeld 83,45 9. Prien 83,60 10. Wallerhausen bei Schwabhausen 85,33 im Mittel 83245 Die Gleichartigkeit der Zahlen ist entschieden eine sehr große. Weiter macht der Verfasser mit vollem Recht darauf aufmerk- sam, dass die berechnete Mittelzahl allein in diesem Falle kein Maß für den Längenbreitenindex der Schädel sei, dass man vielmehr zu erfahren habe, wie viel Schädel im einzelnen auf die verschiedenen u 294 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. Indices fallen. Unter den 1000 gemessenen Schädeln schwankt der Index von 70,3—97,6. Um hier das Resultat der Untersuchung recht anschaulich zu machen, zeichnet der Verfasser ganz empirisch eine Kurve — ein Verfahren, welches unbedingt zu billigen ist (S. 23). Dass die Kurve eine zackige ist, dafür liegt der Grund in der Em- pirie derselben; um die Kurve abgerundet zu erhalten, müsste man gewisse Berechnungen anstellen. Ref. hat sich darüber schon an einem andern Orte ausgesprochen (Arch. für Anthropologie Bd. XIV) und glaubt deshalb darauf verweisen zu können. Er betont aber nochmals, dass das von Ranke geübte Verfahren, das Resultat der Messungen an den Schädeln in Kurvenform wiederzugeben, ein durch- aus nachahmungswertes ist. Weiter setzt der Verfasser an der Hand seiner Zahlen auseinan- der, dass das bayrisch -tyrolische Hochgebirge ein Ausstrahlungszen- trum der altbayrischen Brachykephalie (S. 30—36), das westliche Maingebiet ein Ausstrahlungszentrum der Dolicho- und Mesokephalie der altbayrischen Bevölkerung sei (S. 37—44) und erörtert die Be- einflussung der altbayrischen Brachykephalie durch die slavisch-ost- fränkische Bevölkerung Oberfrankens (S. 48—53) und durch die schwäbisch-allemannische Brachykephalie (S. 54—56). Von Interesse ist der Ausblick, welchen der Verfasser nach Skandinavien und in die Vorzeit macht (S. 57—64). Es ergibt sich, dass speziell in Bayern, wie in verschiedenen deutschen Land- schaften, in der Richtung von Norden nach Süden die brachykephalen und umgekehrt in der Riehtung von Süden nach Norden die meso- kephalen und dolichokephalen Schädelformen häufiger werden. Die Verhältnisse werden nur dadurch gestört, dass vorwiegend von Osten, aber auch von Westen her, brachykephale Formen mehr oder weniger weit sich hereinschieben. Ferner ist dann zu erinnern, dass nach Ecker der typische dolichokephale Schädel der „fränkischen“ Reihengräber gewisse Analogien zeige mit den (dolichokephalen) Schwedenschädeln. Vir- chow findet die Friesenschädel mesokephal mit einer Hinneigung zur Brachykephalie: mesokephal 52°/,, dolichokephal 18°/,, brachy- kephal 30°/,. Nach Untersuchungen von Prof. Schmidt in Kopen- hagen an Schädeln. der dänischen Landbevölkerung ergibt sich, ddass dolichokephal 57°/,, mesokephal 37°/,, brachykephal 6°/, sind. Im Gegensatz sind unter den Bayern dolichokephal 1°/, mesoke- phal 14°/,, brachykephal 83°/,. Wie sind die Nachkommen jener dolichokephalen (und mesoke- phalen) Germanen der fränkisch-alemannischen Reihengräber — d.h. die modernen Stämme der Alemannen, Schwaben und Bayern so ent- schieden brachykephal geworden? Ranke berechnet nun mit Zu- srundelegung seiner frühern Statistik, dass unter 2 Millionen der Gesamtbevölkerung der 3 altbayrischen Kreise Bayerns noch heut Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 295 16,000 Menschen mit Dolichokephalie und 342,000 Menschen mit do- lichoiden Schädeln zu finden seien. In den fränkischen Gegenden Bayerns am Main findet sich noch heute die Form der fränkischen Reihengräberschädel zahlreieh ver- treten; hier behauptet die dolichoide Kopfform entschieden das Ueber- gewicht. Wie ist nun die so verschiedene Häufigkeit der Brachykephalie unter den modernen süddeutschen Stämmen zu erklären? Ranke sagt, zur Erklärung dieser Tatsache seien verschiedene Momente aus- einander zu halten und fährt dann fort: „Die Brachykephalie erklärt sich einerseits aus einer somatischen Umbildung infolge der phy- sischen Einflüsse des Wohnorts. Wir haben diese umbildenden Ein- flüssse des Wohnorts, welche in einem Unterschied der Schädelbil- dung zwischen Flachland — bezw. Thalbevölkerung auf der einen und der Gebirgsbevölkerung auf der andern Seite gipfeln, sonach bei dem Stamm der Bayern, oder bei dem der Franken und Bayern, und zwar gesondert für bayrische West- und Ostfranken konstatiren können. Die Bewohner gebirgiger Gegenden neigen durch den Einfluss des Wohnorts zu eimer gesteigerten Brachykephalie. Die Veränderung der Schädelform in den süddeutschen Gegenden hat die Reihengräberzeit zum Teil auf diese Momente zu beziehen. — Refe- rent muss offen gestehn, dass er nieht einsieht, in weleher Weise der Einfluss des Wohnorts, wie der Aufenthalt im Gebirge, aus dolicho- kephalen Menschen brachykephale machen soll? Dass die Tatsache des häufigen Vorkommens von Brachykephalie in Gebirgsorten für Bayern und Süddeutschland feststeht, daran zweifelt Ref. nicht; aber dies einfach „durch Einfluss des Wohnorts“ zu erklären, ist nicht möglich. Worin besteht denn der Einfluss des Wohnorts? Darüber werden wir nicht genügend aufgeklärt. Andererseits erklärt sich die jetzige Häufigkeit der Brachyke- phalie unter der altbayrischen Landbevölkerung — heißt es weiter S. 60 — aus der Mischung der (doliehokephalen) Einwanderer mit den noch alten Resten der (brachykephalen) Urbevölkerung. Die rhäto- romanische Gebirgsbevölkerung liefert vorwiegend brachykephale Schädel; im Hochgebirge Altbayerns und Tyrols finden sich über- wiegend brachykephale Leute. Dem Referenten will es erscheinen, dass — den brachykephalen Typus der Urbevölkerung für erwiesen ge- nommen — die Erklärung für die Tatsache der vorwiegenden Brachy- kephalie im Gebirge einfach auf eine geringere Beimischung der doli- chokephalen Einwanderer zurückzuführen ist. Die Leute des Gebirges lebten und leben noch heute abgeschlossener als die Leute der Ebene; die von Norden her Einwandernden blieben auch in der Ebene und ließen die Gebirgsbewohner unberücksichtigt. Die Urbevölkerung aber sind die kurzköpfigen Wälschen (Welcker, Wahlin). Drittens nimmt der Verf. auf der Grundlage der Untersuchungen 296 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. Heinrich Ranke’s an, dass die kurzschädligen Insassen der oberbayrischen Reihengräber dem rein deutschen Stamm der Bajovaren angehört haben. Wir lassen diese Behauptungen des Verfassers dahingestellt sein; als sicher bewiesen dürfen dieselben nicht angesehen werden. Weiter erörtert der Verfasser die Höhe der altbayrischen Schä- del; der Schädel ist kurz, breit und hat eine ziemlich beträchtliche absolute Höhe. Die Höhe — vom vordern Rand der Hinterhauptfläche senkrecht auf die (deutsche) Horizontale gemessen — beträgt bei den Schädeln der fünf rein altbayrischen Knochenhäuser im Mittel 131,5 mm. Der Breitenhöhenindex betrug 89,1, der Längenhöhenindex 73,9. (Auf 8.66 ist in der kleinen Tabelle die Ueberschrift verdruckt; statt Längenbreitenindex muss es heißen Längenhöhenindex und statt Längenhöhenindex muss es heißen Breiten höhenindex). Kap. VI. Die Bildung des Gesichts bei der altbayri- schen Landbevölkerung (8. 101—273). Als Einleitung bespricht der Verfasser einige von Defregger gelieferte Porträtskizzen altbayri- scher Bauern, welche auf 3 Tafeln mitgeteilt sind. Dann wird die Stirn besprochen (S. 106—125). Die Augenbrauenbogen erschei- nen am Schädel als zwei erhabene Bogen über der Augenhöhle; sie bilden, indem sie mit ihrem medialen Ende in der Mitte den Nasen- fortsatz des Stirnbeins berühren, einen nach oben offenen Winkel. Verbindet man die obersten Punkte der Augenbrauenbogen durch eine grade Linea supraorbitalis, so bildet diese Linie die Basis jenes zwischen den Augenbrauenbogen befindlichen Dreiecks, dessen Spitze gegen die Nasenwurzel gerichtet ist. Dieses Dreieck ist die Gla- bella und erscheint meist als eine Vertiefung. Charakteristisch nur für die kindlichen Sehädel ist es, dass die Glabella nicht vertieft er- scheint, sondern dass sich die untern Partien der Stirn von der Nasen- wurzel aufwärts und ebenso querüber vorwölben. Die Glabella ist da nicht vertieft, sondern „voll“. Wir haben dann eine volle Gla- bella, welche Stirnnasenwulst genannt wird. Bei den dolichokephalen fränkisch-thüringischen Schädeln aus dem Nordwesten Bayerns ist der Unterschied in der Stirnbildung bei Män- nern und Weibern sehr auffallend; bei den brachykephalen Altbayern ist das in viel geringerm Grade der Fall. Bekanntlich steht der ent- wickelte weibliche Typus der Schädel dem kimdlichen näher als dem männlichen; diese ausgesprochene Annäherung der Schädelbildung bei Kindern, Frauen und jungen Männern ist bei den Altbayern unver- kennbar. Da „volle Glabella oder Stirnnasenwulst“ neben den Augen- brauenbogen fehlen oder nur spurweise vorhanden sind, ist sie den weib- lichen altbayrischen Schädeln charakteristisch. Aber auch bei alt- bayrischen männlichen Schädeln ist das sehr häufig der Fall. Da- durch erhält Stirn undGesicht auch beidenaltbayrischen Männern den auffallenden Ausdruck jugendlicher Offen- Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 997 heit; das Auge liegt frei, von den Augenbrauen nicht oder wenig beschattet. 100 altbayrische junge Männer (Soldaten), in bezug auf die Stirn- wölbung geprüft, zeigten: die Krümmung der Stirnkurve steigt im ganzen von der Nase an ziemlich senkrecht auf und biegt dann zwar mit einer starken Rundung, aber annähernd rechtwinklig, in den Scheitel über. In analoger Weise fällt auch der Scheitel gegen das Hinterhaupt ab. — Diese Bildung der Stirn ist für die kindlichen wie für die weiblichen Schädel der süddeutschen Bevölkerung vollkommen typisch (Ecker). Es ist nun für die altbayrische Schädel- und Gesichtsform charakteristisch, dass auch die männliche Stirn nicht nur fast ausnahmslos gut entwickelte Stirnhöcker erkennen lässt, son- dern auch in bezug auf die Steilheit des Ansteigens in der recht- winkligen Stellung von Scheitel und Stirn dem weiblichen Schädel wenig nachgibt. Mit dem Namen „Stirnwinkel“ bezeichnen wir denjenigen Win- kel, welcher gebildet wird von der deutschen Horizontalebene und einer folgendermaßen gezogenen Linie: man verbindet den Mittelpunkt zwischen den Augenbrauenbogen oder den anatomisch entsprechenden Punkt an der Basis der Stirnfortsätze des Nasenbeins mit dem Mittel- punkt einer die beiden Stirnhöcker vereinigenden geraden Linie. Ranke fand nur bei 6 Kinderschädeln (etwa 10 jährig) den Stirnwinkel größer als einen Rechten; die Stirn ist gleichsam überhängend; bei 10 Frauen- schädeln im Mittel ca. 86°; bei 10 dolichokephalen Männerschädeln der fränkisch-thürmgschen Bevölkerung (Ebrach) im Mittel 74,5%, bei 10 brachykephalen altbayrischen Männerschädeln im Mittel 86,0. — Danach charakterisirt die steil ansteigende Stirn bei beiden Geschlech- tern die altbayrische Kopfform; sowol die altbayrischen Kinder, Frauen und Jünglinge, als auch die erwachsenen Männer sind unter die Ecker’schen Orthometopen oder Steilstirnen zu rechnen. (Als Gegensatz heißen die andern die Chamaemetopen oder Flachstirnen). Die Langköpfe Altbayerns, sowie die zur Langköpfigkeit nei- genden Kurz- und Mittelköpfe sind — wie bereits auseinandergesetzt wurde — als Beimengungen zu dem exquisit kurzköpfigen Stamm und als Mischresultat aus den Verbindungen von Kurz- oder Langköpfen anzusprechen. Es tragen nun sowol die eigentlichen Langköpfe, als auch Jene Mischformen ihren abweichenden Schädelcharakter an der Stirn geschrieben: eine fliehende Stirn, vorspringende Augenbrauenbogen sind oft sehr überraschend ausgeprägt. An 10 zu Dolichokephalie neigenden Männerschädeln beträgt der Stirnwinkel im Mittel 79,5. Der Verfasser wendet nun eine zweite Methode an, um ein Bild der Steil- und Flachstirnigkeit der Schädel zu gewinnen. Er ver- gleicht die Länge des Stirnbogens (Stirnkurve — Stirn-Nasennaht bis zum hintern Rand des Stirnbeins an der Sagittalnaht) mit der Länge der Stirnsehne, d. h. mit der Sehne, welche dem Stirnbogen 298 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. angehört. Er setzt die Länge des Stirnbogens = 100 und berechnet Stirnsehne 100 Stirnbogen Schädel mit einem Index über 90,0 — flachstirnige oder Chamae- metopen, bis 90,0 = steilstirnige oder rundstirnige Orthometopen. nach der Formel = Stirnwölbungsindex. Danach sind Schädel Rundstirnen Flachstirnen 100 altbayr. Männersch. 74% 26 %o 100 altbayr. Weibersch. 88 „ 12; Setzt man umgekehrt die Länge der Stirnsehne = 100 und da- Stirnbogen 100 nach die Formel , sogewinntman dadurch den zweiten Stirnsehne Stirnwölbungsindex derart: Schädel Rundstirnen Flachstirnen 100 altbayr. Männer 87% 15 95 100 altbayr. Weiber 957, Di, Eine Zusammenstellung gibt folgende Tabelle: Schädel Stirnbogen Stirnsehne Stirnwölbungsindex IB I. männl. im Mittel 127,5 mm 112,4 mm 87,9 11357. weibl. im Mittel 121,9, 106,6 „ 87,6 114,2 Zuletzt berechnet der Verfasser noch einen Stirnbreitenindex, worunter er das Verhältniss der obern (größten) Stirnbreite zur un- tern (kleinsten) versteht. Ist die obere Breite sehr bedeutend, springt die Stirn blasenartig vor, so haben wir Kugelstirnen (im Gegen- satz dazu Parallelstirnen). Schädel Kugelstirnen Parallelstirnen Stirnbreitenindex 71 Männer 74% 26 % 72—86 83 Frauen 81, 19 12—88 Auch dies spricht dafür, dass die Brachykephalie der Altbayern eine wesentlich frontale ist. Weiter wird dieBildung der Augenhöhle erörtert (S.121—152). Die Augenlidspalte steht bei der altbayrischen Landbevöl- kerung fast ausnahmslos annähernd horizontal. — Dagegen fand der Verfasser unter der Münchner Stadtbevölkerung Männer 1—1,5 /,, Frauen 2 %/,, bei welchen die Augenlidspalte mn mongoloider Weise ihre lateralen Winkel nach aufwärts wendet. Schädel Augenhöhlenbreite Augenhöhlenhöhe Min. Max. Min. Max. altbayr. Männer 71 34 mm 45 mm 253 mm 41 mm . Frauen 79 BERN AT m 2.5 390 Augenhöhlenbreite Augenhöhlenhöhe Augenhöhlenindex. Schädel Min. Max. amhäufigst. Min. Max. amhäufigst. Min. Max. am häufigst. Männer 3imm 45mm 40mm 235mm 4imm 32u.35 70 100 8 Brauent 3Ar0 Aa 739% DE BIE N 32UR33 74 400 86u.89 Nach der gebräuchlichen Abgrenzung der Indices der Augenhöhle (ehamaeconch, niedrig, mesoconch und hypsiconch, hoch) ergibt sich darin für die Augenhöhlen Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 299 chamaeconch mesoconch hypsiconch Männer 29,9%, 21° 60 9% Frauen 110% DA (dr beide zusammen 20. 33. 2 5, Demnach ist die typische Brachykephalie altbayrischer Schädel beider Geschlechter mit hohen und weiten Augenhöhlen versehen, hypsieonch bis mesoconch; die niedrige und schmale (cha- maeconche) Form des Augenhöhleneingangs gehört mehr dem männlichen Geschlecht an; sie erscheint als Ergebniss der Mischung mit dolicho- kephaler und mesokephaler Form [Ebrach|. Der Augenhöhlenwinkel, d.h. der Winkel, welcher die größte Breite des Augenhöhleneingangs mit der Vertikalebene des Gesichts bildet, schwankt bei beiden Geschlechtern zwischen 60—70°, bei den Frauen ist er größer als bei den Männern. Drittens wird die Bildung der Nase besprochen (8. 160—187). Die Untersuchung von 100 lebenden bayr. Männern (Soldaten) zeigt die Nase von mäßiger Länge, grade oder leicht adlernasenartig gekrümmt. Wahre Adlernasen (Topinard’s Profil Nr.1) fanden sich bei 7 °/,, Stumpfnasen (Topinard Nr.3) bei 3°/,. Bei Frauen sind die graden Nasen häufiger als bei Männern. Der ganze Nasen- rücken mit der Nasenspitze erscheint bei beiden Geschlechtern meist etwas breit; bei Männern ist das bemerklicher als bei Frauen, welche zwar etwas kleinere, aber dabei im ganzen sehr zierlich ge- formte Nasen zeigen. Die Nasenhöhe an Schädeln gemessen schwankt bei Männern von 48—53 mm, bei Frauen von 46—52; analog verhält sich die Nasenbreite; sie schwankt bei Männer- und Frauenschädeln auf- fallend wenig. Im allgemeinen sind die Nasen der Schädel, sowol in der Höhe als in der Breite, bei Frauen kleiner als bei Männern. Nasenhöhe Nasenbreite Nasenindex Min. Max. Häuf. Min. Max. Häuf. Min. Max. Häuf. Männer 41mm 60mm 51u.52mm 20mm 29mm 25mm 40 63 50 Brauems Al‘, 98 5. ,40,41,49..0.19 ,.28%,003, 39 62 46, 47, 43 Leptorhin Mesorhin Plathyrhin Hyperplathyrhin Männer 28 9 42% 26 9% Auen, Frauen S0E SU 292, ANE Unter anderthalbtausend Schädeln befanden sich mit wahrer Vir- chow’scher Katarrhine nur 0,13 °/,, der wahren annähernd 1,3 %/,, mit abnorm breiten stark gewölbten Nasenbeinen 0,8 °/,. Die Pränasalgrube, bei altbayr. Männerschädeln zu4°/,, bei altbayr. Weiberschädeln zu 7 °/,, bei den fränkisch-thüringischen Schädeln aus Nordwestbayern zu 32 °/, gefunden, verliert dadurch vollständig die Bedeutung als ein „Merkmal niederer Rasse“. Den Abstand der Augenhöhlen von einander zeigt die folgende Tabelle. 300 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern, Abstand der Augenhöhlen Augenhöhlenabstandsindex Min. Max. Hauptm. Min, Max. Hauptm. Männer 19mm 23mm 25 mm 15 23 18 u. 19 Weiber RR 0 he Am: 15 23 21.00.28 Unter dem Augenhöhlenabstandsindex versteht der Verfasser das Verhältniss des Augenhöhlenabstands zur Gesichtsbreite. Ferner wurde untersucht der Profilwinkel, der Mittelgesichts- winkel und der Alveolarwinkel (S. 189—208). Profillinie ist diejenige Linie, welche von der Stirnnasennaht bis zum vorspringendsten Punkte des Alveolarrandes des Oberkiefers in der Sagittalebene des Gesichts gezogen wird. Profilwinkel, von Ranke auch als Stirnwinkel bezeichnet, ist derjenige Winkel, wel- cher die Profillinie mit der (deutschen) Horizontalebene bildet. Die Messungen wurden mittels eines von Ranke vervollkommne- ten Instruments, eines Goniometers, ausgeführt, während der Schä- del von einem ebenfalls von Ranke verbesserten Kraniophor gehalten wird. Wir verweisen in bezug auf diese Apparate auf das Original (S. 485—191). Mit Rücksicht auf die bekannte Einteilung Prognathie (Schiefzähner) bei 82° (Orthognathie) Mesognathie (Gradzähner) von 83°—90° Hyperorthognathie „ über 90° kommt Ranke zu dem Resultat, dass die Schädel der altbayrischen Land- bevölkerung vorwiegend hyperorthognath und orthognath sind; die so selten auftretende Prognathie ist als ethnisches Erbteil fremder Bei- mischung zu erklären. Der Mittelgesichts- oder Nasenwinkel ist derjenige Winkel, welchen eine von der Stirnnasennaht nach dem obern Alveolarrande des Öberkiefers gezogene Linie (Nasallinie) mit der (deutschen) Horizon- talebene bildet. Der Alveolarwinkel ist derjenige Winkel, welchen eine vom obern Alveolarrand des Oberkiefers zur stärksten Wölbung des un- tern Alveolarrands gezogene Linie (Alveolarlinie) mit der horizon- talen bildet. Nasal- und Alveolarwinkel sind gleichsam der obere und der untere Abschnitt des ganzen Profilwinkels. Sie wurden gemessen, um zu ermitteln, ob die Prognathie der Schädel nur auf einer Schief- stellung der Alveolarfortsätze des Oberkiefers beruhe, oder ob das Ganze ihres Oberkiefers daran teilnimmt. Die Resultate der Messung der Nasalwinkel sind dieselben, wie die der Profilwinkel. Die Schädel der altbayrischen Landbevölkerung sind vorwiegend orthognath mit starker Hinneigung zur Hyperortho- gnathie. Bei den weiblichen Schädeln tritt in seltenen Fällen wahre Prognathie auf; indess neigen die weiblichen Schädel häufiger als die männlichen zu Prognathie. Die Messungen der Alveolarwinkel ergeben, dass fast die Hälfte aller untersuchten männlichen Schädel und mehr als der Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 301 dritte Teil der untersuchten weiblichen Schädel ausgesprochene al- veolare Prognathie zeigt. (Es wurden selbstverständlich ge- wisse zur Messung geeignete Schädel untersucht). Profilwinkel Mittelgesichts- Alveolar- winkel winkel altbayr. Männer 89,19 90,09 82,5 altbayr. Frauen 88,8 89,70 83,5 beide Geschlechter zusammen 88,99 89,80 82,90 die Ebracher Schädel 85,30 86,8 ‚81,59 Weiter wurde der knöcherne Gaumen gemessen (S. 208—223), und zwar die Gaumenlänge von der Basis der Spina des harten Gau- mens bis zur innern Lamelle des Alveolarrands zwischen den mittlern Schneidezähnen, dieGaumenmittelbreite zwischen den innern Al- veolarrändern an den zweiten Molaren gemessen. Die Gaumenend- breite wurde an den beiden hintern Endpunkten des Gaumens bezw. der innern Alveolarränder gemessen. — AlsResultate sind zu erwähnen: die Gaumenlänge ist beimännlichen Schädeln absolut größer, als bei weiblichen; die Mittelbreite differirt bei beiden Geschlechtern im allgemeinen nicht; die Gaumenendbreite ist bei männlichen Schädeln ausnahmslos, bei weiblichen Schädeln fast ausnahmslos größer, als die Gaumenmittelbreite. Die Mehrzahl der Schädel erscheint als „Breitgaumen“ d. h. als meso- und brachystaphylin nach Virchow. Länge des Gaumens Mittelbreite des Gaumens Min. Max. Hauptm. Min. Max. Hauptm, männliche Schädel 39 49 44, 45 26 39 33 weibliche Schädel 37 49 42, 45 26 38 35) zusammen 37 49 42, 44, 495 — == = Schädel aus Ebrach 39 50 A a, le il 37 33 Dolichokephalie 42 50 47 24 86 >1 Gaumenmittelindex (Gaumenendindex Min. Max. Hauptm. Min. Max. Hauptm. männliche Schädel 64 90 75 68 103 83, 88 weibliche Schädel 57 102 1,81 6944102 81 zusammen 57 a er Tahen! 6522102 81, 83, 88 Schädel aus Ebrach 60 86 68, 73, 74 63 100 — Dolichokephalie 60 IS) _ 63 8 _ Die Kurve, welche die innern Alveolarränder der Oberkiefer bil- den (Gaumenkurve), ist bei den männlichen Schädeln ausnahmslos eine mehr oder weniger weit geöffnete Parabel; bei den weiblichen Schädeln ist die Parabel etwas weniger weit geöffnet (bei 88 %/,); da- gegen bei 8 °/, ist die Gaumenkurve das Endstück einer Ellipse mit unendlich langer Achse, bei 4 °/, das Endstück einer kürzern Ellipse. Den Schluss der Einzeluntersuchungen bildet eine Besprechung der Gesichtslänge und Gesichtsbreite ($. 224—229). Der Verfasser weist hier zuerst auf die verschiedenen Me- thoden hin, die Gesichtsbreite und Gesichtslänge zu messen, welche eine allgemeine Verwertung überaus erschweren, wenn nicht unmög- 302 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. lich machen. Der Verfasser, um das ihm zu gebot stehende Mate- rial an Schädeln zu vervollständigen, wandte sich deshalb zur Unter- suchung an Lebenden. — Eine Untersuchung lebender Individuen ist gewiss äußerst erwünscht; ob es aber zweckmäßig ist, wie hier der Verfasser es getan, in rein kraniologischen Erörterungen die Resultate der Untersuchungen an Lebenden hineinzuziehen, erscheint dem Re- ferenten fraglich. Ref. kommt zum Schluss auf diese Frage noch ein- mal zurück. Die Jochbreite, die größte Entfernung der Jochbogen von einander (nach Kollmann die Gesichtsbreite) gibt folgende Tabelle an. Männl. Schädel Lebende Frauenschädel Ebracher Schädel Minimum 120 mm 121 mm 115 mm 105, 167 mm Maximum 1397, 140 „ 139°, 142 mm Hauptmaß 184,.139% 140 ae 1390 Die Gesichtsbreite (nach Hölder) ist die Entfernung der beiden Wangenbeinwinkel und die Entfernung der beiden senkrecht unter dem Wangenbeinwinkel liegenden Punkte des untern Wangen- beinendes; beide Messungen geben annähernd dasselbe Resultat. Männl. Schädel Lebende Weibl. Schädel Minimum 107 mm 110 mm 100 mm Maximum 133.74 1352.45 122% Hauptm. 118, , 120155 111, Die Gesichtsbreite (nach Virchow) ist die Entfernung der beiden Oberkieferjochbeinnähte von einander. Sie beträgt bei den altbayrischen Schädeln: männliche weibliche Minimum 85 mm 80 mm Maximum 1002, Ser Hauptm. Un SS Die Gesiehtshöhe wurde vom Verfasser nur an lebenden altbayrischen Männern gemessen; das Resultat der Messungen an 100 Soldaten war: Minimum 108 mm, Maximum 142; Hauptmaß 120. Die Obergesichtshöhe wurde an 56 männlichen und 66 weib- lichen Schädeln bestimmt. männl. u. weibl. zusammen Ebracher Minimum 61 mm 55 mm 53 mm 61 mm Maximum SE Da ar 84, AOrı9 Hauptm. vom, 63,68, 67,70, 65 Zur Berechnung des Gesichtsindex benutzte der Verfasser zu- nächst die Messungen an 100 Soldaten; danach erhielt er für den Jochbreitengesichtsindex nach Kollmann im Maxium 82—92. Dem- nach sind nach Kollmann chamaeprosop 60 °/, leptoprosop 40 °%, Für den Gesichtsindex an Lebenden nach Virchow-Hölder ergab sich als Min. 93, Max. 121, Hauptindex 96 und 100. Das Resultat ist (p. 231): Altbayern wie die Franko-Thüringer Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 303 Nordwestbayerns erscheinen bezüglich der Obergesichter nach Vir- chow und Hölder ausgesprochen schmalgesichtig, nach Koll- mann enthalten sie eine beträchtliche Anzahl von Breitgesichten. Die Gesichter der Altbayern sind im allgemeinen nach den Messungen an Lebenden, trotz der gelegentlich starken Breitenentwicklung ihrer Gesichtsweichteile, in ihrer knöchernen Grundlage schmal; nicht ganz selten wölben sich jedoch die Jochbogen stärker vor, aber ohne dass dadurch der Eindruck des Schmalgesichts verwischt wird. — Die Gesichter der Ebracher sind im allgemeinen absolut kürzer als die der Altbayern. Nachdem wir hier bei Wiedergabe der Zahlenergebnisse möglichst ins Detail eingegangen sind, müssen wir uns im weitern einer großen Kürze befleißigen, insofern es sich um die allgemeinen Erörterungen handelt. Der Verfasser bespricht die „blonden“ und „braunen“ Typen der altbayrischen Bevölkerung (S. 270— 299). Wir lassen alles bei Seite, was der Verfasser von blonden und braunen Typen in Deutschland im allgemeinen sagt, insofern er dabei die Schulstatistik der Augen, Haare und Haut im Sinne hat und wen- den uns zu seinen tatsächlichen Untersuchungen in betreff der Kör- pergröße bei blonden, braunen und einer Mischrasse angehörigen Sol- daten. Untersucht und gemessen wurden 256 altbayrische Soldaten. Darunter Blonde 74 = 29 %, — 1,671 mm Körpergröße im Mittel a Braune 69. =.29 , —- 1,6857, & = e „ Mischrasse 117 — 46 „ — 1675 „ n 5 5 256 = 100 Pr — 1,676 ” » » » Bemerkenswert ist, dass die blonden Leute (blaue Augen, blonde Haare, weiße Haut) etwas kleiner sind, als die braunen. Der mittlere Kopfindex der blonden und braunen Bayern ist identisch 85,4. Es entspricht dieser Kopfindex, wenn nach Broca 2 Ein- heiten abgerechnet werden, dem mittlern Schädelindex, welcher von Ranke als 83,0 bestimmt worden ist. Ein Zusammenhang zwischen Kopfindex und Körpergröße wie von Blondheit und Braunheit ist nicht nachzuweisen. Sowol die blonden und die braunen Altbayern, als auch die Misch- rasse sind schmalgesichtig. Breitgesichter Schmalgesichter Index — 90 Index 90—100 Index über 100 Blonde 27 1 16 40 Braune 26 1 13 42 Mischrasse 47 2 20 25 100 Ai, 49 9%, 49 %o Ferner zeigt sich, dass von 100 Altbayern 60 °/, ehamaeprosop und 40 °/, leptoprosop sind, aber es zeigt sich kein Unterschied zwischen blonden und braunen. 304 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. Es sind die Altbayern fast ausnahmslos im Hölder’schen und Virehow’schen Sinn schmalgesichtige Kurzköpfe. Im folgenden (S. 252—263) werden die altbayrischen und ober- fränkischen (Waischenfeld) Schädel mit einander verglichen. Da auch die genaue Detailuntersuchung ergibt, dass dietypische Brachykephalie der bayrisch-thüringischen Bevölkerung Oberfrankens von der typischen Brachykephalie der aus Bayern und Rbätoromanen bestehenden Bevöl- kerung Bayerns und Tyrols nicht verschieden ist, so findet Ref. keine Veranlassung, die Detailangaben zu wiederholen. Eine spezifisch slavische Brachykephalie findet sich an bayri- schen Schädeln nicht. Ranke fasst nun die Gesamtresultate der im letzten (VI.) Ka- pitel niedergelegten Einzeluntersuchungen zusammen. Alle unter der niedern Bevölkerung sich findenden Modifikationen der normalen Schädelbildung lassen sich in zwei wesentlich von ein- ander sich unterscheidende Schädelformen erklären: eine brachyke- phale und eine dolichokephale Schädelform. Die erste Schädelform, die brachykephale, ist in ihren Hauptmerkmalen folgendermaßen zu besprechen: der Schädel ist brachykephal, relativ hoch (Längenhöhenindex 75—76 hypsikephal) mit annähernd senkrecht aufgerichteter Hinterhaupts- und Stirnbein- schuppe, die Stirn breit und wie die Hinterhauptsfläche in die Scheitel- fläche in winkliger Wölbung übergehend. Stirn- und Scheitelbein- höcker gut entwickelt. Bei beiden Geschlechtern findet sich an Stelle der vollkommen fehlenden und nur schwach entwickelten knöchernen Augenbrauenbogen eine Stirnnasenwulst als blasige Vorwölbung der Mitte der Unterstirn (Glabella). Die Hinterhauptschuppe steht vom äußern Hinterhauptshöcker an annähernd senkrecht aufgerichtet, der Hinterhauptshöcker bildet meist den hervorragendsten Punkt des Hin- terhaupts. Das Gesicht ist schmal, das Jochbein wenig vorgewölbt, flach. Augenhöhle hoch, weit, gerundet, meist mit stark nach abwärts und außen gesenktem größtem Querdurchmesser. Die knöcherne Nase ziemlich lang und schmal, Nasenwurzel und Nasenbeine an ihrem Stirnansatz breit, wenig oder nieht unter der Unterstirn eingezogen. Gaumen kurz und breit, Gaumenkurve parabolisch geschweift. Stellung des Mittelgesichts wie der Oberkieferzahnfortsätze or- thognath. Unterkiefer hoch mit gut entwickeltem vorstehendem Kinn. Die zweite Schädelform ist entschieden dolichokephal und wesentlich niedriger (Längenhöhenindex ce. 70—71 = orthokephal). Die Hinterhaupts- und Stirnbeinschuppe sind, letztere namentlich bei männlichen Schädeln, stark und annähernd parallel nach hinten ge- neigt, dabei ist die Stirn fliehend, das Hinterhaupt ist zu einer kurzen vierseitigen, von der Kante und Seite zwar etwas gerundeten, im ganzen aber pyramidalen, an der Spitze etwas abgestutzten Verlängerung aus- gezogen. Die Stirn ist relativ schmal; Stirnhöcker und Scheitel- Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 305 beinhöcker undeutlich, verstrichen; bei männlichen Schädeln läuft häufig ein erhöhter Grat über die Mitte der Stirn und über den Scheitel, die Pfeilnaht erhebend, entlang. Der Uebergang von Stirn und Hinterhauptsfläche in den Scheitel zeigt eine flache und zwar nach beiden Richtungen ziemlich gleiche Wölbung. Die Protub. oce. ext. liegt weit unten und einwärts von der Endfläche der Hinterhaupts- pyramide, welche selbst den hervorragendsten Punkt des Hinterhaupts bildet. Das Gesicht ist kurz und erscheint wegen der ausgebauchten und mit dem untern Rand schief nach auswärts gerichteten Jochbeine re- lativ breit. Die Augenbrauenbogen am männlichen Schädel sind stark, oft zu mächtigen Wülsten entwickelt, welche sich über die Nasen- wurzel weit vorschieben, so dass diese tief eingesetzt erscheint. Die Augenhöhlen der männlichen Schädel sind niedrig und viereckig; ihr größter Querdurchmesser steht annähernd horizontal, die knöcherne Nase ist kurz und breit und häufig sind Pränasalgruben vorhanden; die Nasenbeine sind in ihrem obern Teile manchmal stark verschmälert (Annäherung an Virchow’s Katarrhinie). Gaumen lang, Alveolarfortsatz ziemlich kurz, die Zahnrandkurve elliptisch. Neigung zu allgemeiner und zu alveolarer Prognathie. Unterkiefer mäßig hoch; Kinn etwas weni- ger vorstehend. Die weiblichen Schädel dieser zweiten Gruppe nähern sich in der Bildung des Gesichts, der Stirn, der Augenhöhlen, aber auch der Alveolarfortsätze und der Jochbogen in gewissem Sinne der ersten Gruppe. Die brachykephale Schädelform tritt uns entgegen im bayrischen Gebirgsvorland und im Hochgebirge, aber auch in der oberfränki- schen Gebirgsgegend (Waischenfeld), während die dolichokephale Form in der fränkischthüringischen Gegend (Ebrach, Aschaffenburg) am zahlreichsten sich findet. Beide Schädelformen finden sich auch in den prähistorischen Gräbern Bayerns. In den Gräbern aus der Völkerwanderungszeit (Reihengräber) findet sich nun daneben noch eine dritte Form: die Reihengräberform Ecker’s die Hohebergform Rütimeyer’s und His’ die Frankenschädel nach Virchow — in dieser Schädelform findet sich das Gesicht und die Schädelhöhe der brachykephalen Form vereinigt mit den ausgeprägt dolichokephalen Hirnschädeln der zweiten Form. Es sind das schmalgesichtige ortho- gnathe Dolichokephale (Kollmann). Sie finden sich unter der heuti- gen rechtsrheinischen Bevölkerung nieht mehr vor, ebenso wenig in Südbaden (Eeker) als in der Schweiz (Rütimeyer und His). Mit Rücksicht darauf, dass die Frage nach den Schädeltypen noch lange nicht endgültig entschieden ist, dass sogar gegen das typi- sehe Moment der Brachykephalen und Dolichokephalen sich gewisse Bedenken erhoben haben, spricht Ranke seine eigne Ansicht nur in großer Reserve provisorisch aus: alle die als Typen oder Un- 20 506 Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. tertypen von Ecker und andern Autoren unter der deutschen Bevöl- kerung beschriebenen Schädelformen lassen sich — abgesehen von Virehow’s Chamaekephalie — aus der mechanischen Kombination der zwei Haupttypen erklären. Ranke stellt danach (S. 207) folgende Tabelle auf: Haupttypen Untertypen . Schmalgesichtige Langköpfe . Schmalgesichtige Mittelköpfe 5. Breitgesichtige Kurzköpfe 6. Breitgesichtige Mittelköpfe 4. Schmalgesichtige Kurzköpfe Ha 02 2. Breitgesichtige Langköpfe Zu den süddeutschen Schädeltypen kommt dann noch Virchow’s norddeutschfriesischer Typus, die Chamaekephalie als dritter Haupttypus, welche selbst wieder Lang-, Mittel- und Kurzköpfe in sich schließt u.s.w. Es lässt sich nachweisen, dass dieser Typus bis nach Süddeutschland in seinen letzten Ausläufern hineinreicht. Danach hält Ranke die Frage nach den Schädeltypen gar nicht für hinreichend beantwortet. Schließlich gibt der Verfasser in Kap. VII einen „Umblick im übrigen Deutschland“ (S. 274—294). Wir geben nur die Haupt- schlüsse wieder. Nach einem Vergleich der für Bayern gewonnenen kraniologischen Resultate einerseits mit den Resultaten Hölder’s an Würtembergischen Schädeln, andererseits mit den Resultaten Eckers, Rütimeyer’s und His’ an alemannischen und schweizerischen Schädeln kommtder Verfasser zu dem Schluss: Die modernen süddeutschen Stämme der Bayern, Schwaben und Alemannen zeigen in kraniologischer Beziehung die allernächste Verwandtschaft, sie sind gewisser- maßen kraniologisch identisch zusammengesetzt. Für Mitteldeutsch- land liegt keine so umfassende Schädeluntersuchung vor, aber aus den bis jetzt vorliegenden (Welcker, Virchow) ist anzunehmen, dass im modernen thüringischen Stamm sich die gleichen typischen Schä- delformen finden, wie unter den modernen süddeutschen Hauptstämmen und der fränkischthüringischen und thürmgischslavischen Bevölkerung Nordbayerns. Zu den zweitgenannten Typen kommt als dritter der chamae- kephale friesische Typus (Virchow) hinzu: derselbe strahlt aus Nord- deutschland bezw. Friesland mit abnehmender Intensität nach Mittel- deutschland aus und erstreckt sich in geringerer Intensität auch nach Süddeutschland und in die Gebirgsgegenden. Ob die orthognathe (gradzähnige und schmalgesichtige) rheinländische Reihengräberform der Völkerwanderungszeit irgendwo in Deutschland als vierte typische Form heute noch in echter Reinheit und größerer Anzahl existirt, scheint dem Verfasser bisher noch nicht sicher festzustehen. Es ist aber bekannt (Retzius, Ecker u. a.), dass diese Form in Skandi- navien existirt. Schließlich spricht der Verfasser die Ansicht aus, dass die in Ranke, Physische Anthropologie der Bayern. 307 Deutschland vorkommenden Schädeltypen nicht als deutsche, sondern als europäische anzusehen sind und dass die verschiedenen Schädel- typen, welche wir heute finden, als seit den ältesten Zeiten in Europa eingesessen erscheinen. II. Abschnitt. Zur Statistik und Physiologie der Körper- größe der bayrischen Militärpflichtigen (S. 1-36). Zu der wichtigsten Aufgabe der Anthropologie in Deutschland gehört unzweifelhaft die Feststellung der Körpergröße in den ver- schiedenen Gegenden. Für ein Land (Baden) liegt bereits eine der- artige Arbeit von Ecker (1876) vor; für einen Teil Bayerns, für Mittelfranken, erschien bereits 1862 eine ähnliche Arbeit von Dr. C. Majer. Ueber beide Arbeiten und ihre Resultate berichtet Ranke ausführlich. kanke benutzt zu seiner Untersuchung die Messungen der Mili- tärpflichtigen im ganzen rechtsrheinischen Hauptlande des Königreichs Bayern im Jahre 1875. Die Methode, nach welcher der Verfasser die ihm vorliegenden Listen benutzte, beschreibt er wie folgt: „Für jeden Vorstellungsbezirk, Bezirksamt der unmittelbaren Stadt wurde eine eigne Tabelle angelegt. Auf einem in kleine Quadrate eingeteilten Bezirk wurde als Grundlinie (Abseisse) von 143—192 cm von 1 cm zu 1 cm fortschreitend die Zahlenreihe der Größenmaße ein- getragen. Ueber jede dieser Zahlen wurde durch Punkte die Anzahl der mit diesem speziellen Größenmaß in den betreffenden Bezirken vorgestellten Militärpflichtigen (als Ordinaten) verzeichnet. Leute, deren Größe unter 143 em betrug, wurden am Rande der Tabellen bemerkt. Es bildet auf diese Weise die Bevölkerung jedes Bezirks eine ge- schlossene Kurve, in welcher ohne jede weitere Umrechnung in Pro- zente, lediglich bei der absoluten Anzahl der über jedes Einzelmaß Eingetragenen — mit der wechselnden Höhe der Ordinate die allge- meine Verteilung der Körpergröße zur Anschauung kommt. Die Art und Weise, wie nun der Verfasser diese reine Zusammen- stellung benutzt, ist eine ganz andere, als sie bisher bei solchen sta- tistisch-anthropologischen Arbeiten gebräuchlich war. Es fehlt z. B. die Angabe einer Durchschnittszahl der Körpergröße, das sogenannte Mittel, wie überhaupt die Maße selbst fehlen, was sehr zu bedauern ist, insofern man dadurch der Möglichkeit beraubt wird, die Resultate Ranke’s mit andern Arbeiten zu vergleichen. — Der Verfasser bespricht zuerst das Mindermaß und Uebermaß, dann die Riesen und Zwerge, dann die Kleinen und Großen mit Angabe der Prozente, wie dieselben in dem einen oder andern Bezirk vorkommen. Mit Hin- weglassung aller dieser Zahlen gibt Ref. die Resultate der Statistik der Körpergröße fast genau mit den Worten des Verfassers (8. 17). 1. Der Mensch erscheint im wesentlichen als ein Geschöpf des Bodens, auf welchem er wohnt. Wahrhaft gebirgige Gegenden 20 * 308 Strasser, Funktionelle Anpassung der quergestreiften Muskeln, machen, wie es scheint, namentlich infolge höherer Tätigkeit der Be- -wegungsorgane, im allgemeinen den Menschen größer. 2. Die bessere und schlechtere Ernährung bestimmt wesentlich die Körpergröße einer fast gleichartigen Bevölkerung: in fruchtbaren und reichen Gegenden Bayerns finden sich mehr große Leute, als in unfruchtbaren und armen. 3. Die Häufigkeit des brünetten Typus deckt sich mit der Häu- figkeit der Kleinheit nicht: in den bayrischen Alpen sind die Bewohner vorwiegend groß und dabei auch vorwiegend brünett. 4. Im Hochgebirge ist die extreme brachykephale Bevölkerung, in den bayrischen untern Maingegenden die vorwiegend dolicho- und mesokephale Bevölkerung häufig groß. Demnach ergibt sich kein Zu- sammenhang der Schädelform mit der Körpergröße. Dann ist zu be- achten, dass die im untern Maintal sitzende relativ zur Dolichokephalie neigende „fränkische“ Bevölkerung sich wie die Gebirgsbewohner durch Körpergröße auszeichnet. 5. Einen strikten Nachweis der unzweifelhaft bestehenden Einflüsse ethnischer Momente auf die Körpergröße haben die Zusammenstellun- gen für Bayern nicht ergeben, doch wahrscheinlich gemacht. 6. Die ackerbautreibende Landbevölkerung weist in Bayern im allgemeinen weniger Mindermäßige auf, als die Industriebevölkerung der Städte. Es ist in den Städten die Bevölkerung bezüglich ihrer Körpergröße besser entwickelt, als in den dazu gehörigen Landbezirken und zwar einigemal da, wo in den letztern viel Armut herrscht. Indem Referent zum Schluss den überaus fleißigen Arbeiten des Verfassers seine volle Anerkennung zollt, spricht er den Wunsch aus, dass sich dem Verfasser bald Zeit und Gelegenheit bie- ten möge, eine anthropologische Gesamtbehandlung der Altbayern auf Grundlage von Messungen und Untersuchungen an Lebenden zu liefern. Für keinen der deutschen Stämme besitzen wir eine derartige Arbeit, und es wäre Zeit, dass damit der Anfang gemacht würde. L. Stieda (Dorpat). H. Strasser, Zur Kenntniss der funktionellen Anpassung der quergestreiften Muskeln. Stuttgart 1883. Mit 2 lithogr. Tafeln. Die funktionelle Anpassung bedeutet jenen zwar natürlichen, aber immerhin rätselhaften Prozess, der die Organe zwingt, für die Aus- führung ihrer physiologischen Aufgaben sich am zweckmäßigsten ein- zurichten. Nachdem wir wissen, dass dabei die kleinsten Teile ebenso wie die größten in betracht kommen, muss sich die Beobachtung bei- den zuwenden. Eins der bekanntesten und gleichzeitig der tiber- Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 309 raschendsten Beispiele von Anpassung liefert die Knochenspongiose. Der regulatorische Einfluss der Funktion bei der Bildung und Aus- gestaltung dieser harten Substanz liegt auf der Hand. Die Knochen- bälkchen greifen, der Belastung entsprechend, wie die Sparren einer Gitterbrücke ineinander. H. Strasser gibt nun in der vorliegenden Monographie einen Beitrag zur Kenntniss der funktionellen Anpassung der quergestreiften Muskeln und will damit u. a. die Lehre von dem kausalen Zusammenhang in den Entwicklungsvorgängen des Or- ganismus fördern. Die nächste Veranlassung gab ein Fall von seit Jahren bestehender Ankylose des Ellenbogengelenks. Die Veröffent- lichung des Befunds ist an sich schon erwünscht, weil es sich wirk- lich um einen ungewöhnlich reinen und typischen Fall von Muskel- veränderungen durch Funktionswechsel handelt, wobei Eigentümlich- keiten am Muse. pronator quadratus, am M. supinator bre- vis, M. pronator teres u.a.m. aufgefunden wurden. Indem dann die ganze Muskulatur des betreffenden Arms bis hinauf zu den Schul- termuskeln und Rumpf- Oberarmmuskeln untersucht wurde, konnte nachgewiesen werden, dass es sich um ein vortreffliches Beispiel von Inaktivitätsatrophie handelt, dass überall eine annähernd vollkommene Anpassung der Faserlängen an die neuere Funktion (z. B. im Ober- armgelenk) stattgefunden hat, und dass sie bis ins einzelne hinein, bis an die elementaren Teile fortgeschritten ist. Erhält so dieser spezielle Fall von Ankylose durch den Nachweis der stufenweisen Umänderung für die Chirurgie ein ganz bestimmtes Interesse, so wird dasselbe noch weiter angeregt durch die Erörterung der Anpassung des Muskels von einem allgemeinen Gesichtspunkt aus, wie dies aus der Ueberschrift der einzelnen Absehnitte ersichtlich ist, welche wir hier folgen lassen. Allgemeines über die Anpassung des Muskels an seine spezifische Funktion. 1) Beanspruchung des Muskels bei der Funktion. 2) Anpassung des Muskels an veränderte Ansprüche. Theorie dieser Anpassung. 3) Beweise für die funktionelle Anpassung des Muskels aus den normalen Verhältnissen der Muskulatur. 4) Veränderungen in den Insertionsverhältnissen der Muskelfasern. Die Muskelveränderungen in einem Fall von Ankylose des Ell- bogengelenks. Kollmann (Basel). Zur Anatomie und Physiologie der Retina. Von den vielen Schiehten, aus welchen die schalenförmige End- ausbreitung des Sehnerven im Innern des Auges zusammengesetzt 310 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. ist, wird der äußersten, das heißt der vom Mittelpunkte des Auges am meisten entfernten Schichte, welehe aus stiftartigen, wie in einer Mosaikarbeit zur Fläche vereinigten Gebilden besteht, mit Recht das größte Interesse zugewendet. Sie ist es nämlich, in welcher man aus überzeugenden Gründen das eigentliche periphere Ende des Sehnerven, die lichtempfindliche Schichte, die Sinnesoberfläche erblickt. Es liegt kein Anlass vor, die in alle Lehrbücher der Physiologie übergegangene Begründung dieser Anschauung hier ausführlich wiederzugeben. Nur hingewiesen sei darauf, dass die besondern Verhältnisse bei der sub- jektiven Wahrnehmung der Blutgefäße der Retina den Ort, an wel- chem sich diese Schichte befindet, als denjenigen erkennen lassen, auf welchen sich die Schatten der Gefäße projiziren müssen, um so zu erscheinen, wie sie wirklich erscheinen; dass an der Stelle des deut- lichsten Sehens im Auge alle zwischen den Fasern des Sehnerven und den Stiften, welehe diese Schichte zusammensetzen, gelegenen Gebilde fehlen, dass also die Netzhaut an der Stelle, an welcher sie am besten funktionirt, nur aus dieser Schichte und Leitungsfasern besteht; dass endlich in keinem Wirbeltierauge, bei aller sonstigen Verschiedenheit, diese Schichte fehlt. Letztere Tatsache ist allerdings in jüngster Zeit in Zweifel gezogen worden und zwar auf die angebliche Beobachtung hin, dass in den Augen von Tigern und einigen andern Felinen die besprochene Schicht der Netzhaut, welche man als „Stäbehen- und Zapfenschichte“ oder als „musivische Schiehte* bezeichnet, fehlt, oder aber durch eine aus ganz andern Gebilden bestehende Schichte ersetzt sei. Doch handelt es sich bei diesen Beobachtungen gewiss nur um postmortale Veränderungen und Zersetzungen, welche zu stande kamen, ehe die die morphologischen Elemente fixirende und erhärtende Kon- servirungsflüssigkeit bis zu diesen vorgedrungen war; denn man findet gelegentlich an Augen von Tieren, an denen die musivische Schichte sonst jedesmal gesehen wird, die aber zufällig einer mangelhaften mikroskopischen Teehnik unterzogen wurden, genau dieselben schein- baren Abnormitäten, welehe jüngst an Tigeraugen beschrieben wurden. Im menschlichen Auge besteht die musivische Schichte aus Stiften von zweierlei Form: aus „Stäbchen“ und „Zapfen“. Bei vielen Tieren sind diese beiden Formen nicht so scharf von einander verschieden wie beim Menschen, bei andern wieder findet sich nur eine einzige Form, und wieder bei andern kommen die Stifte im eigentümlicher Weise zu Paaren vereinigt vor. Da wo Stäbehen und Zapfen vor- kommen, speziell beim Menschen, nimmt man an, dass die Zapfen die eigentlichen Sehelemente (Boll) seien. Diese Annahme beruht auf der Tatsache, dass an den periphersten Teilen der Netzhaut, da wo das Sehvermögen am geringsten ist, fast nur Stäbchen vorkommen, dass in der Fovea centralis hingegen, also an der Stelle des deutlichsten Sehens, nnr Zapfen sich finden, während in den mittlern Zonen der Retina Stäbehenreihen die Zapfen umgeben. Die Zapfen gelten also Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 311 für die Sehelemente, d. h. man ist der Ansicht, dass die Zapfen die Angriffspunkte für die die Gesichtswahrnehmung bedingenden Reize sind, dass die verschiedenen Erregungen eines Zapfens sich nur durch ihre Stärke von einander unterscheiden können, und dass jeder Er- regung eines Zapfens ein Empfindungselement und ein Lokalzeichen entspricht. Hiernach muss es für die Empfindung vollkommen gleich- bedeutend sein, in welcher Weise die auf einen Zapfen fallende Licht- menge auf diesem Zapfen verteilt ist — solange kein Teil des Zapfens maximal erregt ist; es muss zum Beispiel gleich sein, ob die ganze Grundfläche des Zapfens von Lieht mit der Intensität 1 oder die halbe Grundfläche von Licht mit der Intensität 2 getroffen wird: ob die obere oder die untere, die rechte oder die linke Hälfte der Grund- fläche des Zapfens belichtet wird u. s. w. Unter diesen Voraussetzungen hängt natürlich die Feinheit unseres Sehens von der Größe, der Anzahl und der Entfernung der Zapfen von einander ab. Je kleiner die einzelnen Zapfen sind und je dichter an einander gedrängt sie stehen, d.h. je mehr ihrer in der Flächeneinheit der Retina vorhanden sind, desto feiner wird unser Sehen sein, desto kleinere Details an den Bildern werden wir zu erkennen vermögen. Es knüpft sich also ein großes Interesse an die Frage nach der An- zahl der Zapfen in einer Retina. Nicht minder wichtig scheint aber die Kenntniss der Anzahl von Nervenfasern zu sein, welche, im Stamme eines Nervus optieus vereinigt, ein Auge verlassen. Denn nach den vorderhand allgemein anerkannten Grundsätzen der Physio- logie ist mit dieser letzteru Zahl auch die Zahl der voneinander verschiedenen Einzelerregungen gegeben, die unserm Sensorium von einem Auge aus zukommen können. Jede der Fasern im Stamme eines Sehnerven ist Vermittlerin einer und zwar — so oft und wie immer sie auch erregt werden mag — immer einer und derselben Elementarempfindung. Nur dem Grade nach, sonst aber in nichts, können sich die Erregungen einer Nervenfaser für unser Sensorium von einander unterscheiden. Auch die Anzahl der im Sehnerven vor- handenen Fasern gibt uns also ein Maß — wenn auch kein so di- rektes, wie die Anzahl der in der Fovea centralis enthaltenen Zapfen — für die Feinheit unsers Sehens. Es möchte nach dem bisher Gesagten fast scheinen, als müsste die Zahl der in einem Auge vorhandenen Zapfen sich mit der Zahl der in dem zugehörigen Sehnerven enthal- tenen Fasern decken; doch kann man diese Annahme nicht berechtigt nennen, solange man über die Rolle, welche die Stäbchen beim Sehen spielen, nichts weiß, und solange nicht die beiden Möglichkeiten, dass mehrere Nervenfasern zu einem Zapfen gehen, oder dass eine Nervenfaser zu mehrern Zapfen geht, ausgeschlossen sind, und so- lange überhaupt niehts Näheres über die Verbindung der Sehelemente mit den Nervenfasern bekannt ist. Herr F. Salzer hat sich nun die Aufgabe gestellt, die Zahlen 319 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. m. für die Zapfen in einer Retina und für die Fasern in einem Sehnerven zu ermitteln und hat diese Aufgabe im Wiener physiologischen Insti- tute mit großer Umsicht und Sorgfalt gelöst. Methode und Resultate seiner Untersuchung !) sollen zunächst in Kürze mitgeteilt werden. Die Fasern wurden an den Sehnerven Erwachsener und zwar auf Querschnitten gezählt, welche dem Orbitalteile des Nerven entnommen waren. Der Nerv war nach der von Fleischl angegebenen Me- thode 2) vor der Härtung mit Osmiumsäurelösung behandelt worden, wodurch die Erkennung und Zählung der Nervenfasern sehr erleich- tert wird. Im Diaphragma des Oculares war durch Spinnwebfäden ein kleines viereckiges Areal abgegrenzt, dessen Bildwert für die angewendete Linsenkombination bestimmt war. Es wurden nun an besonders dünnen und deutlichen Stellen des Präparates die innerhalb des Viereckes liegenden Fasern gezählt. Um aus dem Mittelwerte dieser Zählungen an einem Querschnitte auf die Gesamtzahl der in demselben enthaltenen Fasern schließen zu können, musste das Areal des ganzen Querschnittes bekannt sein. Dieses wurde ermittelt, indem bei geringer Vergrößerung mit einer Camera obscura das Bild des ganzen Querschnittes gezeichnet und dann sowol am Präparate (mittels der gewöhnlichen mikrometrischen Methoden), als auch an der Zeich- nung die Entfernung zwischen zwei bestimmten, einander ungefähr gegenüberliegenden Punkten der Peripherie gemessen wurde. Aus dem Flächeninhalt der Zeichnung, welcher mit dem Weltli’schen Planimeter gemessen wurde, ließ sich dann leicht der des Querschnittes berechnen. Nun sind bekanntlich im Sehnerven die einzelnen Faserbündel durch bindegewebige Scheidewände von erheblicher Dieke voneinan- der getrennt, welche auf dem Querschnitte als breite Strassen er- scheinen. Das Gesamtareal dieser letztern musste von dem Areal des Nervenquersehnittes abgezogen werden, da der Zählung immer nur solehe Stellen des Präparates unterzogen worden waren, welche frei von größern Bindegewebszügen erschienen. Es wurde zu diesem Behufe mit der Camera obseura eine Zeichnung des Querschnittes und der darin vorkommenden stärkern Bindegewebssepta entworfen, diese auf Stanniol übertragen und nun die Zeichnung der Bindegewebssepta ausgeschnitten und abgewogen. Ebenso wurde der Rest des Stan- niols, welcher den zwischen den Bindegewebsseptis liegenden Ner- venbündeln entsprach, abgewogen. Die auf diese Weise gewonnenen Zahlen wurden in die Rechnung eingeführt und diese ergab als Mittel 4) F. Salzer, Ueber die Anzahl der Sehnervenfasern und der Retinazapfen im Auge des Menschen. Wiener akad. Sitzungsber. LXXXI. Bd., IH. Abt., Jännerheft 1880. 2) E. Fleischl, Ueber die Beschaffenheit des Axenceylinders. Festgabe f. „Carl Ludwig 8. 53, i Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 313 für die Zahl der Nervenfasern im Sehnerven (gewonnen aus drei ver- schiedenen Nervis optieis) die Zahl: 438 000. — Die Anzahl der Zapfen in der Retina musste an Netzhäuten neu- geborner Kinder bestimmt werden, denn die so hinfälligen Gebilde der musivischen Schichte sind nach Ablauf der Zeit, welche nach un- sern Gesetzen zwischen Tod und Obduktion von Erwachsenen ver- streichen muss, zur Zählung nicht mehr geeignet. Nach der Angabe M. Schultze’s ist übrigens die musivische Schichte beim neugehornen Kinde bereits vollkommen entwickelt, sodass nicht anzunehmen ist, dass nachträglich noch eine Aenderung in der Zahl der Zapfen statt- findet. An eine Verminderung der Anzahl der Zapfen während des Wachstums ist gewiss nicht zu denken — und hierauf kommt es, wie sich bald ergeben wird, in diesem Falle hauptsächlich an. Um eine Zählung möglich zu machen, musste die Retina auf eine ebene Glasplatte, einen großen Objektträger ausgebreitet werden. Da nun die Netzhaut keine abwickelbare Fläche ist, so mussten einige ra- diäre Schnitte in ihr angebracht werden. Die Einzelheiten der Präpara- tionsmethode übergehe ich und will nur noch anmerken, dass immer die ganze Netzhaut bis an ihre vordere Grenze — Ora serrata — präparirt wurde. Jede einzelne Zählung bezog sich wie bei den Ner- venfasern auf ein kleines durch vier Fäden im Okular abgegrenztes Areal. Die größte Schwierigkeit erwuchs bei Bestimmung der Anzahl der Zapfen aus dem bereits angedeuteten Umstand, dass diese Ge- bilde sehr ungleich über die Netzhaut verteilt sind. Das Gesetz ihrer Abnahme vom Zentrum der Netzhaut gegen die Peripherie ist unbe- kannt und ließ sich auch nicht mit ausreichender Genauigkeit be- stimmen. Aus den in einer Retina durchgezählten Arealen das Mittel zu nehmen ging nicht an, weil diese Areale auch nicht annähernd gleichmäßig über die Netzhaut verteilt waren. Es erwies sich noch als das geeignetste, ein Mittel zu nehmen aus dem Minimum und dem Maximun: der in einem Areal gefundenen Zapfenzahl. Als Minimum wurde hiebei der kleinste gefundene Wert in Rechnung genommen, als Maximum aber nicht wirklich der größte gefundene Wert, son- dern, da es sich besonders darum handelte, sich vor einer Ueber- schätzung der Zapfenzahl zu bewahren, der kleinste derjenigen gefundenen Zahlenwerte, „von denen man mit voller Bestimmt- heit sagen konnte, dass sie zu groß seien, um für die betref- fende Retina als Mittelwert der Zapfenanzahl“ zu gelten. In der Fovea centralis selbst konnte bei drei Netzhäuten gezählt werden; und es zeigte sich, dass an dieser Stelle auf !/,. qmm 132—138 Zapfen stehen. Diesen hohen Wert als Maximum für die Mittelbe- rechnung anzunehmen, wäre ganz unstatthaft gewesen wegen des sehr kleinen Gebietes der Netzhaut, für welchen er Geltung hat, und wegen der unverhältnissmäßigen Anhäufung von Zapfen in eben die- sem Gebiete. Die Gesamtoberfläche der Netzhaut wurde wieder mit 314 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. dem Planimeter bestimmt und hiervon noch die Oberfläche der zapfen- losen Stelle der Netzhaut, welche dem Sehnerveneimtritt entspricht, abgezogen. Um dem Leser einigermaßen ein Urteil über die Berechti- gung der angewandten Methode und über die Genauigkeit der Resul- tate zu ermöglichen, will ich die Resultate der Zählungen an einer der untersuchten sieben Netzhäute hierhersetzen. Die Zählungen in- nerhalb der Fovea centralis dieser Netzhaut ergaben für das Areal a: 32, 30, 29, 29, 27, 26, 25 Zapfen. Innerhalb desselben Areals a lagen an verschiedenen Stellen der Netzhaut (unter welchen auch ganz periphere): 26, 26, 26, 26, 26, 26, 24, 23, 22, 22, 22, 22, 22, 22, 22, 22, 21, 21, 21, 21 Zapfen. Das Minimum der Zapfen wurde für diese Netzhaut mit Zugrundelegung der Zahl 21 gefunden zu: 3 005 100 Zapfen; das Maximum mit Zugrundelegung der Zahl 26 zu: 3 720 600 Zapfen. Es wurde also angenommen, dass in dieser Netzhaut 3362 850 Zapfen sind. Das Mittel aus den Mitteln der 5 Netzhäute, bei denen die sämt- lichen Operationen am tadellosesten vor sich gegangen waren (und unter denen die eben besprochene sich nicht befand), ergab 3 362 210 Zapfen. Ein Vergleich mit der für die Nervenfasern in einem Seh- nerven gefundenen Mittelzahl zeigt, dass auf jede Nervenfaser mehr als 7 Zapfen kommen. Selbst die größte gefundene Zahl für die Sehnervenfasern, bei deren Bestimmung z. B. auf das Bindegewebe im Querschnitt des Nerven keine Rücksicht genommen wurde, und die sicher viel zu groß ist, beträgt weniger als ein Drittel des kleinsten Minimalwerts der Zapfen, der also sicher viel zu klein ist, indem ja für die ganze Netzhaut nur eine solche Dichte der Besetzung mit Zapfen vorausgesetzt wurde, wie sie an der zapfenärmsten Stelle die- ser Netzhaut sich wirklich vorfand. Wenn man annimmt, alle Optikusfasern seien mit Zapfen verbun- den und verteilen sieh gleichmäßig über sie, so ergibt das Resultat dieser Zählungen, dass eine jede Optikusfaser sieben bis acht Zapfen versorgt. Es hat sich somit jene Voraussetzung, dass ebenso viele Zapfen in einem Auge als Nervenfasern in einem Optikusstamme sein müssten, welehe wir oben als eine ungerechtfertigte bezeichneten, als in der Natur auch wirklich nieht erfüllt herausgestellt. Sehreiben wir jedem Zapfen eine Elementarempfindung und ein Lokalzeichen zu, so ist mit der ungeheuern Anzahl von Zapfen auf so kleiner Fläche eine bestimmte sehr große Sehschärfe angelegt, welche — unter Zugrundelegung der vorgetragenen Anschauungen über die Bedeutung der Nervenfasern — durch die verhältnissmäßig geringe Anzahl derselben, also dureh eine Mangelhaftigkeit des Leitungs- apparates, wieder vereitelt erscheint. Der Leitungsapparat ist so zu sagen der Feinheit des Perzeptionsapparats nicht gewachsen, und es erscheint diese letztere wie verschwendet. Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 315 Sehen wir also nach, welchem von beiden Apparaten unsere Sch- schärfe in Wirklichkeit entspricht. Genaue Beantwortungen dieser Frage liegen bloß für das direkte Sehen, das heißt für das Sehen mit der Netzhautgrube, der Fovea eentralis, vor und gehen alle einstimmig dahin, dass die Schärfe des direkten Sehens genau der Feinheit der Zapfenmosaik in der Fovea centralis entspricht. Eine besonders sorgfältige Untersuchung in dieser Richtung verdanken wir Dr. Claude du Bois-Reymond, einem Sohne des großen Physiologen, welcher in seiner Dissertationschrift !) die zunächst zu referirenden Versuche und Betrachtungen veröffent- licht hat. Herr Claude du Bois-Reymond sagt: Wenn wir n gleich- mäßig über eine Fläche zerstreute leuchtende Punkte auf ein qua- dratisches Feld der Fovea von 0,1 mm Seite wirken lassen, so müsste ein wesentlicher Unterschied des subjektiven Eindrucks beobachtet werden für die Fälle, dass n erheblich größer oder kleiner als 132 —138 ist. (Dies ist nämlich die von Herrn Salzer durch Zählung direkt gefundene Zahl der Zapfen auf einem Quadrat der Fovea von 0,1 mm Seitenlänge.) Wächst die Zahl n allmählich an, so wird eine Grenzzahl ermittelt werden können; diese müsste dann der Salzer’- schen nahe kommen. Die Fragen, welche durch die von Claude du Bois-Reymond angestellten Versuche zunächst beantwortet werden sollen, lauten: Wie viele getrennte Lichtempfindungen werden auf !/,. amm der Fovea centralis wahrgenommen; und wie viele sind mindestens erforderlich, um eine homogen erleuchtete Fläche vorzutäuschen ? Die Versuche wurden nun so angestellt, dass von einem Planspiegel das Licht des Himmels in das sechs Meter vom Spiegel entfernte beobachtende Auge geworfen wurde. Das Auge lag unmittelbar an dem einen Ende einer innen geschwärzten, 2,5 cm weiten und 1m langen Röhre, durch welche alles Seitenlicht von demselben abgehalten wurde. Außerdem war auch zum gleichen Zwecke der Experimentirraum möglichst verdunkelt. Zwischen dem andern Ende der geschwärzten Röhre und dem Spiegel blieb nun eine Distanz von 5m. Diese wurde von einer Bahn ein- genommen, längs welcher ein Schirm auf bequeme Weise verschoben werden konnte, welcher das Licht, das vom Spiegel kam, vom Auge abhielt. In den Schirm war das eigentliche Beobachtungsobjekt ein- gesetzt. Es bestand aus einem Stanniolblatte, in dessen Mitte ein Quadrat von 5cem Seitenlänge von regelmäßig angeordneten Nadel- stichen durchlöchert war. Jedes Loch hatte einen Durchmesser von ‘!/; mm, und von der Gleichheit der Löcher überzeugte man sich durch 1) Ueber die Zahl der Empfindungskreise in der Netzhautgrube von Claude du Bois-Reymond. Berlin 15. August 1881. Daselbst findet sich die übrige hierhergehörige Literatur zitirt. 316 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. Prüfung mit dem Mikroskop. Die Löcher standen an den Durch- schnittspunkten dreier Scharen äquidistanter paralleler Linien, welche einander unter Winkeln von 60° schnitten, so dass alle Löcher glei- chen Zentralabstand (2,5 mm) von den Nachbarn hatten. Aus diesen Daten und dem jeweiligen Abstande des Schirms vom Auge ließ sich leicht die Anzahl der Liehtpunkte berechnen, welche sich auf einer 00 amm großen Fläche der Fovea centralis abbildeten. Entfernt man nun den Schirm, während man eine Gruppe der hellen Punkte auf ihm fixirt, allmählich vom Auge, so findet man bald eine Entfernung, bei welcher die Punkte eben aufhören einzeln deut- lieh sichtbar zu sein und zu kurzen, unterbrochenen Linienstücken zu verschmelzen beginnen. Die Lage und Anordnung der Linien wechselt bei den geringsten Augenbewegungen. Die Entfernung des Schirmes vom Auge, bei welcher diese Erscheinung auftritt, wird no- tirt, und zwar im Protokolle des Verf. unter der Rubrik „E. P.“ („Entfernend“, nämlich: den Schirm, „Punkte“, nämlich: verschwinden). Wird nun der Schirm noch weiter vom Auge abgerückt, so wer- den erst die Linien beständig, das Objekt ähnelt einem Drahtgitter, und dann werden die Linien matt und verschwinden endlich, indem das Feld nunmehr wie eine gleichmäßig beleuchtete graue Fläche erscheint. Die Entfernung, in welcher dies stattfindet, wird als „E. L.“ notirt. Auch in umgekehrter Ordnung wurde der Versuch angestellt, so- dass der Schirm aus seiner entferntesten Lage allmählich an das Auge herangerückt wurde. Hiebei traten die Erscheinungen in um- gekehrter Ordnung auf und man gewann zwei weitere Notirungen N. L.#.(Nähernd Einien) und: „N.>P.2'— Es ist wol nicht nötig, aller Kontrolversuche und Vorsichtsmaß- regeln zu gedenken, durch welche der Verf. sich vor Fehlern schützte; hingegen wird ein Vergleich der von ihm gefundenen Werte mit den Zahlen Salzer’s um so mehr interessiren. Ein solcher folgt nun hier in wesentlichem Anschlusse an Claude du Bois’ Gedankengang. Die Mittelwerte sämtlicher Versuche über das Verschwinden oder Wiederauftauchen der einzelnen Punkte ergeben die Anzahl von 74 hellen Punktbildern auf !/,. qmm der Fovea; der Uebergang des Linienphänomens in das der gleichmäßig grauen Fläche erfolgte bei im Mittel 149 hellen Punktbildern auf demselben Raume. Stehen nun in der Fovea die Zapfen dicht aneinander gedrängt in Form regulärer, die Fläche völlig erfüllender Sechsecke bei- sammen, so ist es klar, dass, wenn auf einen bestimmten Teil dieser Fläche mehr Punktbilder fallen, als Sechsecke darin enthalten sind, auf jedes Sechseek mindestens ein Bild fallen muss, und dass alle Zapfen erregt werden, wie beim Anblick einer homogenen leuchtenden Fläche. Die Zahl der Punktbilder, bei welcher diese zu einer ganz einheit- lichen Fläche verschmolzen — 149 — stimmt nun näherungsweise mit der Salzer’schen Zahl von 138 Zapfen auf dem gleichen Areal. Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 317 Besser wird die Uebereinstimmung, wenn man das Mittel nur aus jenen Beobachtungen du Bois’ nimmt, welche bei allmählicher Näherung des Schirmes gewonnen wurden. Diese geben das Mittel 140. Eine Berechtigung dafür diese Zahl zu betonen, findet du Bois in dem Umstande, dass das Urteil über das Auftauchen einer Erscheinung sicherer ist, als das über ihr Verschwinden. Soll ein Punkt als solcher isolirt gesehen werden, so ist die Be- dingung hierfür, dass der Zapfen (das Sechseck), auf welchen sein Bild fällt, von lauter Zapfen unmittelbar umgeben sei, welehe nicht belichtet sind, auf welche also kein Punktbild fällt. Dieser Fall aber kann, wie eine einfache Ueberlegung oder Konstruktion ergibt, nicht eher eintreten, als bis die Zahl der Punktbilder auf oder unter die Hälfte der Zapfenzahl gesunken ist. Die halbe Salzer’sche Zapfen- zahl ist 69; das Mittel sämtlicher du Bois’scher Beobachtungen für das Punktpbänomen ergibt 74, das Mittel der vertrauenswürdigern, bei Annäherung des Schirmes gewonnenen Zahlen ist 72. Die Eigen- tümlichkeiten und Details der Erscheinungen, welche auftreten, wenn Punktbilder auf die Zapfenmosaik auffallen in einer Anzahl, welche größer als die halbe und kleiner als die ganze Zapfenzahl ist, vor allem die auftretenden Linien, erklären sich ungezwungen und durch einfache Konstruktionen aus der regelmäßigen Anordnung der Zapfen und der regelmäßigen Verteilung der Punktbilder über sie. Somit ist das Resultat der du Bois’schen Untersuchungen, dass die experimentell ermittelte Sehschärfe der Fovea centralis mit der direkt ermittelten Anzahl von Zapfen in der Flächeneinheit der Fovea übereinstimmt. In dieser Uebereinstimmung liegt aber ein zwingen- der Beweis für den Satz, dass jeder Zapfen der Fovea ein Empfin- dungskreis ist, dass die Erregung eines jeden einzelnen Zapfens dieser Netzhautstelle gesondert ins Zentralorgan geleitet und daselbst ge- sondert perzipirt wird. So weit Claude du Bois-Reymond. Dieses Resultat zwingt uns, unter Zugrundelegung der allgemein rezipirten Auffassung von der Natur und Leistung der Primitivner- venfasern, zu der Annahme, dass jeder Zapfen der Fovea centralis mit einer Nervenfaser in Verbindung steht, welche weiter keinen Zapfen als eben diesen einen versorgt. Unter dieser Voraussetzung aber wird natürlich das Verhältniss der außerhalb der Fovea gelegenen Zapfen zu den für ihre Versor- gung übrig bleibenden Nervenfasern ein noch größeres sein, als das sämtlicher Zapfen der Netzhaut zu sämtlichen Fasern des Sehnerven, also größer als 7:1. — Sehr beträchtlich wird allerdings dieses Ver- hältniss durch die Einzelversorgung der Foveazapfen nicht alterirt werden, denn die ganze Fovea ist sehr klein, und die absolute Anzahl der in ihr stehenden Zapfen ist sehr unbedeutend im Vergleiche mit der Gesamtzahl der Zapfen. 318 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. Lassen wir nun einstweilen die Stäbchen der Netzhaut und ihre etwaige Bedeutung für das Sehen ganz außer betracht, so bleibt nichts übrig als die Annahme, dass von den außerhalb der Fovea gelegenen Zapfen je mehrere von je einer Nervenfaser versorgt wer- den, das heißt durch sie in funktionelle Verbindung mit dem Zentral- organe gesetzt werden. Hier sind nun zunächst zwei Einrichtungen denkbar. Entweder es stellt jede Nervenfaser eine einzige Leitungsbahn vor, welcher auch im Zentralorgane ein einziges Lokalzeichen entspricht; und jede solehe Nervenfaser teilt sich in der Netzhaut und tritt mit ihren Zwei- gen in Verbindung mit mehrern Zapfen, von denen dann natürlich jeder durch seine Erregung die Auslösung eines und desselben Lokal- zeichens im Zentralorgane bedingen würde, sodass die Erregungen dieser zu einer Nervenfaser gehörigen Zapfen im Zentralorgane nicht von einander zu unterscheiden wären. Das Gebiet der Netzhaut, in welchem solche zu einer Nervenfaser gehörige Zapfen stehen, wäre dann ein Empfindungskreis. Oder in jeder scheinbar einfachen Nervenfaser sind so viele ein- zelne von einander funktionell isolirte Leitungsbahnen vereinigt, als Zapfen von ihr versorgt werden. In der Netzhaut würden dann diese schon in der Faser funktionell getrennten Leitungsbahnen auch ana- tomisch auseinandertreten und sich jede zu ihrem Zapfen begeben. Diese letztere Vorstellungsweise ist bei weitem die einfachere, nur liefert eben die sorgfältigste mikroskopische Untersuchung der Ner- venfasern auch nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine solche Vorstellung. Aus ihr würde übrigens für die außerhalb der Fovea gelegenen Netzhautstellen nur eine solehe Abnahme der Sehschärfe folgen, wie sie dureh die Verschlechterung der optischen Bilder auf den Seitenteilen der Netzhaut und durch die größere Distanz der Zapfen voneinander in eben diesen Teilen sich ergibt. In Wirklich- keit ist jedoch die Verschlechterung des Sehens in der Netzhautperi- pherie eine viel zu große, als dass sie sich aus diesen Umständen erklären ließe, und auch von ganz anderer Art, als sie hiernach sein müsste. Auf diesen letztern Punkt, welcher von großer Bedeutung ist, werde ich noch zurückkommen. Wollte man diese Annahme einmal machen, so stünde natürlich dem nichts im Wege, sich so viele funktionell von einander verschie- dene Leitungsbahnen in jeder Nervenfaser vereinigt zu denken, dass auch für jedes Stäbchen eine gesonderte Leitung zum Zentralorgane herauskäme. Da aber, wie bemerkt, nichts zu der Annahme berechtigt, dass in einer Nervenfaser mehrere Leitungsbahnen isolirt nebeneinan- der laufen und außerdem beim Sehnerven sogar ganz bestimmte Gründe dagegen sprechen, so lassen wir diese Vorstellungsweise gleich hier fallen, um uns nieht wieder mit ihr zu beschäftigen. Eine dritte, sehr sinnreiche, von Helmholtz herrührende Ver- Gaffron, Anatomie und Histologie von Peripatus. 319 mutung über die Verteilung der Sehnervenfasern auf die Zapfen wird im weitern Verlaufe dieser Darstellung ausführlicher besprochen werden. (Schluss folgt.) Eduard Gaffron, Beiträge zur Anatomie und Histologie von Peripatus, Zoologische Beiträge herausgegeben von Dr. A. Schneider 1883. Bd. I, Heft 1, S. 33—60. Taf. VI—XIH. \ Durch die Herausgabe der Zoologischen Beiträge hat Prof. A. Schneider die betreffende Fachliteratur um ein Journal vermehrt, über dessen Zweck- mäßigkeit die Zukunft entscheiden wird. Für den Fall, dass es nicht aus- schließlich Breslauer Institutsblatt sein soll, sondern dass darin auch die Un- tersuchungsergebnisse auswärtiger Zoologen aufgenommen werden, ist das Unternehmen ein zeitgemäßes zu nennen; denn sicherlich müssen jetzt nur zu häufig Manuskripte lange Zeit auf den Abdruck warten, wenn dieselben den ältern Fachblättern zugehen. In dem ersten Heft des ersten Bandes findet sich außer einigen Arbeiten und Beobachtungen Schneider’s und der im Zoologischen Anzeiger sattsam besprochenen Nematodenuntersuchung von Dr. Rhode eine größere Abhand- lung Gaffron’s über den Peripatus. Sie ist rein anatomisch-histologischer Natur und bringt vorläufig die Resultate, welche eine Untersuchung über die Struktur des Leibesschlauches, der Segmentalorgane, der Seitenkanäle und des Gefäßsystems ergab. Der Leibesschlauch setzt sich aus der Epidermis, der Subepidermoidal- schicht, dem Hautmuskelschlauch und dem Peritoneum zusammen. Die zylin- drischen Epidermiszellen sind als Matrix der Cutieula aufzufassen und bilden mit dieser zusammen zahlreiche „tönnchenförmige Organe“, die vor allem Tast- empfindung vermitteln sollen. An ihrer Spitze tragen die ungegliederten Füß- chen zwei parallel zu einander gestellte nach unten gekrümmte euticulare Häkchen oder Klauen, unter denen sich im Innern zwei in Bildung begriffene Reservekrallen finden. Dieser Haftapparat wird durch Kontraktion der Ring- muskulatur vorgeschoben und durch besondere Muskelfäden wieder zurückgezogen. Peripatus respirirt durch Tracheen, deren Mündungen unregelmäßig auf der Oberfläche des Körpers zerstreut liegen. Am reichlichsten sind die Tra- chealröhren um den Uterus herum ausgebildet und zwar namentlich um den- Jenigen Teil, der mit Embryonen angefüllt ist. Abweichend von dem sonsti- gen Habitus dieser Gebilde ist der Befund, dass weder Verzweigung noch Anastomosenbildung beobachtet werden konnte und dass auch ein enden sich nicht mit Sicherheit nachweisen ließ. Zwischen Epidermis und Muskularis schiebt sich die aus parallelen „Säul- chen“ und „welligen Fibrillenbündeln“ bestehende Subepidermoidalschicht ein. Die Elemente der fünf Muskellagen — eine Ring-, zwei Diagonal-, eine Längs- und eine Sagittalfaserschicht — entbehren der Querstreifung und sind kom- pakte, zylindrische oder plattgedrückte Bündel homogener Fibrillen. Unter dem Sarcolemma liegen Protoplasmaanhäufungen mit deutlichen ovalen Ker- nen, die sehr häufig mehrere Nucleoli enthalten. Das reichlich von Tracheen durchsetzte Peritoneum ist ein 0,003—0,007 mm dünnes Häutchen, welches die Wandungen der Leibeshöhle und die sämtlichen in ihr liegenden Organe überzieht. In allen Segmenten münden hart an der 320 Palacky, Westgrenze unserer Pflanzen. Basis der Füßchen die Segmentalorgane, an denen sowol nach der Form als nach dem histologischen Bau drei Hauptabschnitte, der Trichter, der Schleifen- kanal und die Endblase sich unterscheiden lassen. Organe eigentümlicher Art, jedenfalls indess drüsiger Natur, sind die so- genannten Seitenkanäle, deren Mündung in der Mundhöhle zu suchen ist, wäh- rend das andere blinde Ende bei einem 21 mm langen Embryo mit 31 Bein- paaren in der Gegend des sechstletzten Segments lag. Das Rückengefäß des Peripatus darf man wol als das Herz bezeichnen. Wie bei den tracheaten Arthropoden liegt es in einem besondern perikardialen Sinus, völlig eingebettet in eine Zellmasse, die seitlich ihre stärkste Entwick- lung erreicht. Die Wandungen des Rückengefäßes sind von Spaltöffnungen durchsetzt, welche den Körpersegmenten entsprechen und in der obern Hälfte des Rohrs gesucht werden müssen. Längs der dorsalen Mittellinie verläuft ein rundlicher Strang, der (wahrscheinlich mit Unrecht) als Nerv angesprochen wird. Perikardialsinus und Leibeshöhle stehen durch zahlreiche ovale Oeft- nungen des Septums, welches beide von einander trennt, in Verbindung, wäh- rend ein Teil der Muskulatur durch ein intermuskuläres Kanalsystem von der dorsalen Seite aus mit Blut versorgt wird. C. B. J. Palacky, Die Westgrenze unserer Pflanzen. Verhandl. d. k. k. zoolog.-bot. Ges. in Wien, Bd. XXXII, Sitzungsber. S. 36—39. Der Vortr. besprach die Ausdehnung der mitteleuropäischen, besonders der österreichischen Flora nach Westen zu, d.h. er führt an, wie viele der mittel- europäischen Arten auch im westlichen Nordamerika und in Mejico vorkommen. Der vorliegende kurze Bericht ist indess zu wenig klar in seiner Fassung und geht nicht genug auf die bei dem erwähnten Thema in Frage kommenden pflan- zengeographischen Verhältnisse ein, als dass es sich lohnte, mit demselben näher sich zu beschäftigen. Nach dem Bericht zu urteilen scheint Vortr. die iiber diese Frage schon vorhandene Literatur weder berücksichtigt noch ge- kannt zu haben. Auch mit den Tatsachen geht er nicht grade kritisch um. F. Kurtz (Berlin). Verlag von August Hirschwald in Berlin. Soeben erschien die erste Abteilung: Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der sesammten Mediecin. Unter Mitwirkung zahlreicher Gelehrten herausgegeben von Rud. Virchow und Aug. Hirsch. 17. Jahrgang. Bericht für das Jahr 1882. 2 Bände (6 Abteilungen). Preis des Jahrgangs 37 M. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. II. Band. 1. August 1883. Nr... Inhalt: Russow, Zur Kenntniss des Holzes. — Frenzel, Ueber die sogenannten Kalkzellen der Gasteropodenleber. — Vayssiere, Vorhandensein einer Schale bei Notarchus punctatus. — Martin, Bau der gestreiften Muskelfaser. — Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. — Sattler, Die Jequi- rity-Ophthalmie. E. Russow, Zur Kenntniss des Holzes, insonderheit des Koni- ferenholzes. Bot. Centralbl. von Uhlworm und Behrens. Bd. XII. 1883. Nr. 1—5. 50 8. Mit 5 Tafeln. Die Arbeit von Russow gewinnt erhöhtes Interesse durch die nahe Beziehung, in welche sie zu der gegenwärtig mehrseitig behan- delten Frage nach der Bewegung des Transpirationswassers im Holz tritt. Der Verfasser beschäftigte sich zunächst eingehend mit dem Studium des Hoftüpfels und fand hierbei manches Neue. Im Früh- lingsholz der Abietineen (Pinus, Abies, Picea, Larix) ist der Rand der Hofwand nach innen, d. h. in den linsenförmigen Hofraum hinein- gekrümmt. Dadurch wird die Hofwand widerstandsfähiger gegen Druck, und die Sicherheit und Vollkommenheit des Verschlusses wer- den durch die Schließhaut erhöht. Die letztere ist nur im Kernholz, also in den ältern Jahresringen, der Hofwand dicht angeschmiegt, häufig so- gar in den Kanal, der aus dem Tüpfelraum in das Lumen der Holz- zelle führt, hineingekrümmt und dann mit der Kanalmündung sehr fest verbunden, gleichsam mit ihr „verlötet“. Im frischen Splint er- scheint sie jedoch der Wand nur locker angelegt und verschiebbar. Diese Tatsache wurde bisher übersehen, da im Splintholz, welches an der Luft troeken wurde, die Schließhäute der Hoftüpfel der einen oder andern Hofwand angepasst erscheinen. Letzteres ist aber nur eine Folge des Eintrocknens. Indem das in den Holzzellen (Tra- cheiden) anfänglich enthaltene Wasser allmählich verdunstet, stellt sich im Innern dieser Elemente, deren Wände für Luft nicht oder 21 322 Russow, Zur Kenntniss des Holzes. doch nur schwer durchlässig sind, ein luftverdünnter Raum her, wo- bei die Schließhäute notwendig aspirirt, d. h. der dem Lumen der betreffenden Holzzelle zugekehrten Hofwand fest angedrückt werden müssen. Nach einer genauen Beschreibung der Struktur der Schließ- haut — welche keine Mittellamelle besitzt und in ihrer ganzen Aus- dehnung nicht doppeltbrechend wirkt — besprieht der Verf. die Funk- tion des Hoftüpfels. Der letztere muss als „Klappenventil“ gedeutet werden, „das von einem Klappenventil unserer Pumpen sich dadurch unterscheidet, dass es nicht nur nach einer Seite, sondern nach zwei Seiten hin schließt.“ Die Klappe wird durch die Schließhaut darge- stellt, deren Rand (margo) sehr dünn, deren zentraler Teil (torus) dagegen sehr dick ist. Das Vorhandensein eines „negativen Drucks“ in den wasserleitenden Holzelementen transpirirender Pflanzen beweist, dass die Schließhaut — wenigstens im feuchten Zustande — für Luft sehr wenig durchlässig ist. Die Durchlässigkeit für Wasser ist auf den Margo beschränkt, hier aber in hohem Grade vorhanden, während sie dem Torus fehlt. Was die Bewegung des Transpirationswassers im Holz betrifft, so lässt auch Russow dieselbe in den Hohlräumen der Elemente vor sich gehen, bringt gegen die Imbibitionstheorie mehrere gerechtfertigte Bedenken vor und legt die Hinfälligkeit eini- ger für diese Theorie bisher ins Feld geführter Beweismittel dar. Der Verf. macht ferner auf das bisher übersehene, oder doch nicht gehörig beachtete Vorkommen von Interzellulargängen im Holz aufmerksam. Bei den Koniferen sind solche weit verbreitet, sowol zwischen Tracheiden und angrenzenden Markstrahlzellen, als auch im Innern der Holzstränge, also zwischen den Tracheiden selbst. Zwischen den Markstrahlzellen und den benachbarten Tracheiden ver- laufen solche Interzellulargänge teils horizontal, teils vertikal. Die ersten setzen sich — wenigstens während der Vegetationszeit — durch die Zuwachsregion (das Cambium) bis in die Interzellularräume der Rinde fort, kommuniziren also durch die Lenticellen mit der äußern Atmosphäre. Bei den Laubhölzern finden sich Interzellularen auch zwischen dem Holzparenehym und dem angrenzenden „Libriform“. Schließlich bespricht der Verf. den Bau, das Vorkommen und die Funk- tion der sogenannten einseitigen Hoftüpfel. Sie finden sieh überall da, wo parenchymatische Elemente an tracheale grenzen und sind durch das Vorhandensein nur einer (von dem trachealen Element ge- bildeten) Hofwand, sowie einer gleichmäßig verdickten, stets (?) un- verholzten Schließhaut charakterisirt. Die letztere ist im jungen Holz straff ausgespannt, im ausgebildeten Holze aber in das Tracheenlumen hineingewölbt. Diese Hineinwölbung kann entweder durch den ne- gativen Druck in den Tracheen, oder durch positiven (osmotischen) Druck in den Parenchymzellen veranlasst sein. Der Verf. vermutet, dass der Wurzeldruck in solehen mit einseitigen Hoftüpfeln ver- sehenen parenchymatischen Holzelementen zu stande kommt, indem Frenzel, Ueber die sogenannten Kalkzellen der Gasteropodenleber. 323 die nicht verholzten Schließhäute der einseitigen Hoftüpfel für Wasser durchlässiger sein werden, als die übrige Wand dieser Zellen. Die Wirkung eines in ihnen zu stande kommenden osmotischen Drucks wird also das Hinauspressen von Wasser in das Tracheenlumen sein. — Die Ergebnisse der Untersuchungen des Verf. führen diesen zu der Vorstellung, „dass die Gefäße und Tracheiden nichts anderes als Pumpen sind, die je nach Umständen saugend oder drückend das Wasser im Holzkörper von der Wurzel bis zu den Blättern heben. Die Saugung (durch die Transpiration eingeleitet und unterhalten) wird durch die zweiseitigen Hoftüpfel, der positive Druck (durch die osmotische Kraft des Inhalts der Markstrahl- und Holzparenchymzel- len erzeugt) wird durch die einseitigen Hoftüpfel vermittelt. ...„Wie weit diese Vorstellungen der Wahrheit entsprechen, bleibt künftigen experimentellen Untersuchungen zu entscheiden vorbehalten.“ K. Wilhelm (Wien). Ueber die sogenannten Kalkzellen der Gasteropodenleber. Von Dr. Johannes Frenzel. Aus der Zoologischen Station zu Neapel. Nach den Untersuchungen Barfurth’s, welche vor kurzem unter dem Titel: Ueber den Bau und die Tätigkeit der Gastero- podenleber im Archiv für mikroskopische Anatomie 1883. XXI. Heft 3 S. 473 veröffentlicht wurden, soll das Epithel der Mollusken- leber drei verschiedene Zellarten enthalten, nämlich Ferment-, Leber- und Kalkzellen. Da nach neuern Untersuchungen die sogenannte Leber der Mollusken ein Verdauungssekret liefert, so ist nicht zu be- streiten, dass die erstere Zellart wirklich vorhanden ist und wol auch den Zellen entspricht, welche B. als die Fermentzellen ansieht. In betreff der zweiten Zellart, der sogenannten Leberzellen, lässt sich jedoch, ohne auf andere Umstände noch Rücksicht zu nehmen, geltend machen, dass B. für ihre Lebernatur gar keinen strikten Beweis bei- bringt. Das Einzige, worauf er sich stützen könnte, ist, dass diese Zellen eine große Menge gelblicher Körnehen, also einen Farbstoff führen, welcher vielleicht ein Gallenfarbstoff sein könnte. Doch führen auch die Fermentzellen ähnlich gefärbte Bläschen, welche man daher ebenfalls als ein Lebersekret betrachten dürfte. Außerdem kommen noch bei zahlreichen Mollusken, wie Leydig (Histologie S. 363) schon vor 25 Jahren bei Helix hortensis fand, Zellen vor, welche „braune ge- schichtete Kugeln“ führen. Derartige Zellen, welche B. ganz über- sehen hat, fand auch ich bei Tritonia, Thetys, Pleurobranchaea, Sca- phander, Murex u. a. Auch diesen Zellen könnte man aus obigem Grunde mit demselben Recht Lebernatur zusprechen. — Alle übrigen 21* 324 Frenzel, Ueber die sogenannten Kalkzellen der Gasteropodenleber. Beweise, welche B. dafür anführt, dass die Zellen mit den gelben Körnchen Leberzellen seien, haben nur geringen Wert, wie B.es auch in betreff der Reaktionen selbst zugibt, und dass sich die in Frage stehenden gelben Körnchen in den Fäces massenhaft fanden, hat des- halb keine Bedeutung, weil die Tiere, wo B. dies feststellte, längere Zeit gehungert hatten, also unter ganz abnormen physiologischen Ver- hältnissen standen. Während diese Beweise demnach als hinfällig zu betrachten sind, so ist allerdings vorläufig immer noch die Möglichkeit vorhanden, dass die Leber der Mollusken echte Leberzellen enthalte und dass sie den Zellen Barfurth’s entsprechen. Dagegen muss ich nach meinen in Neapel angestellten Untersuchungen in betreff der dritten Zellart, der Kalkzellen, behaupten, dass sie als solehe gar nicht existiren, sondern eine ganz andere, wenn auch noch unbekannte Bedeutung haben. B. glaubt, dass diese Zellen kleine Kügelchen von phosphorsaurem Kalk enthalten. Die Zellen sollen nach seiner Ansicht zur Aufspeiche- rung von Kalk dienen, welcher teils im Winter zur Bildung des Win- terdeckels, teils zur Reparatur der Schale, oder Festigung der Haut, oder zum Ersatz des kalkhaltigen Hautschleims dienen soll. Indem ich mir vorbehalte, andern Orts ausführlicheres über das Leberepithel der Seeschnecken mitzuteilen, will ich hier schon jetzt die Resultate meiner Untersuchungen in betreff dieser dritten Zellart folgen lassen. Für diese Untersuchungen benutzte ich folgende Tiere: Prosobranchier: Chiton marginatus, Murex brandaris, M. trun- culus, Nassa mutabilis, Natica millepunctata, Cerithium vulgatum, Cas- sidaria echinophora. Pulmonaten: Helix lapicida (?) Opisthobranchier: Gastropteron Meckelii, Scaphander lignarius, Aplysia depilans, Pleurobranchaea Meckelii, Doris verrucosa, Tritonia thetydea, Thetys leporina, Notarchus neapolitanus. B. berichtet von den sogenannten Kalkzellen bei Arion und Helix, dass sie zur Zeit lebhaftesten Stoffwechsels vollgepfropft sind mit kleinen glänzenden Körnchen. Er behauptet, dass sich dieselben bei Behandlung des frischen Gewebes mit verdünnten Säuren nicht lösen und gibt als Ursache hiervon an, dass sie durch eine Schleim- umhüllung etwa vor den Angriffen der Reagentien geschützt seien. Dagegen lösten sich nach B. diese Kügelchen in gehärteten Präpara- ten bei Zusatz von Säuren sofort ohne Gasentwicklung auf; und da sich auf chemischem Wege in der Leber eine deutlich erkennbare Menge von Phosphorsäure nachweisen ließ, so schloss der Autor aus diesen beiden Umständen, dass die besagten Körner aus phosphor- saurem Kalk bestehen, indem er einfach die bei der chemischen Ana- Iyse gefundene Phosphorsäure den Körnern zuschrieb. Zunächst ist die Behauptung B.’s unrichtig, dass sich jene Körner Frenzel, Ueber die sogenannten Kalkzellen der Gasteropodenleber. 395 bei Zusatz von Säuren zu dem frischen Gewebe nicht lösen; denn bei zahlreichen Versuchen und bei den verschiedensten Arten gelang es mir jedesmal, mit konzentrirten oder verdünnten Säuren eine sofor- tige Lösung der freischwimmenden sowol wie der in den Zellen ent- haltenen Kügelchen herbeizuführen. Allerdings muss man oft, um zu diesem Resultat zu gelangen, das Reagens unter dem Deckglase mit Fließpapier hindurchsaugen, worauf B. nieht geachtet zu haben scheint. Auch finden sich im Präparate zahlreiche kleine Fetttröpfehen, welche erstern Kügelchen zum Verwechseln äsnlich sehen, z. B. bei Chiton und Helix. Diese Fetttröpfehen brauchen sich natürlich nieht in Säu- ren zu lösen, doch darf man sie und ihr Verhalten eben nicht mit den andern Kügelchen verwechseln. Fast bei allen Mollusken, welche ich zur Untersuchung heranzog, so verschiedenen Gattungen und Arten sie angehören und so ver- schieden auch ihre Ernährungsverhältnisse sind, gelang es mir, in der Leber die fraglichen Zellen zu finden. Nur bei Thetys, Scaphander und Nassa war mir dies nicht möglich, doch mochten hier grade besondere physiologische Umstände mitspielen. Die Zellen sind mehr oder weniger erfüllt mit kleinen stark lichtbrechenden meist farblosen Körpern. Die Anzahl der Zellen und die Menge dieser Körper ist oft sehr verschieden; so fand ich sie in geringer Menge bei Cassidaria und Natica, während sie z. B. bei Cerithium äußerst zahlreich waren. Auch dies rührte vielleicht von Ernährungsverhältnissen her. Ihre Gestalt nähert sich der einer Kugel z.B. bei Gastropteron, Chiton, bei mehrern Murex-Arten, bei Cassidaria, Natica, Cerithium und Helix. Eine mehr eckige Gestalt, etwa wie die eines Rhombus mit abge- rundeten Winkeln, oder eine ovale, elliptische oder Nierenform findet sich bei Tritonia, Doris und Aplysia. Häufig zeigen sie, was auch B. anführt, eine konzentrische Schichtung, z. B. bei Gastropteron und am deutlichsten bei Murex. In andern Fällen erscheinen sie doppelt- konturirt, d. h. sie besitzen in Wahrheit einen aufgewulsteten Rand, oder sind von Tellerform z. B. bei Tritonia, Murex ete. Meist sind diese Körper ungefärbt, nur bei Tritonia scheinen sie ganz schwach grün und bei Cerithium schwach grau gefärbt zu sein. Schließlich sei noch erwähnt, dass sie durchsichtig sind, was man erkennt, wenn sie sich mit einem andern Körper decken (Murex). Wie B. fand und wie ich bestätigen kann, lösen sich diese Kör- perchen nieht in Alkalien, Wasser, Glyzerin, Alkohol und Aether, ebenso schwärzen sie sich nicht im Osmiumsäure. Gegen andere Reagentien verhalten sie sich wie folgt: Bei Zusatz von organischen und anorganischen Säuren werden sie gelöst, und zwar, wie schon oben erwähnt, schon bei Behandlung des frischen Gewebes (Zupfpräparat). Der Vorgang vollzieht sich in der Weise, dass sie zuerst aufquellen und ein mattes Aussehen bekommen, also das Licht schwächer brechen als vorher. Dann ver- 396 Frenzel, Ueber die sogenannten Kalkzellen der Gasteropodenleber. schwindet zunächst die Substanz des Zentrums, indem sich ein Hohl- raum bildet; dieser wird größer und größer und schließlich bleibt nur noch der verdiekte Rand übrig, welcher nach einiger Zeit eben- falls verschwindet. Dies zeigt sich besonders schön bei Tritonia, Doris, Aplysia und Helix. — Von Säuren wurden Salzsäure, Salpeter- säure, Schwefelsäure, Essigsäure und — worauf besonders zu achten ist — Oxalsäure angewandt. Diese Säuren wirkten in allen Fällen ziemlich in gleicher Weise, nur mit verschiedener Intensität je nach ihrer Konzentration. Auch ist hier zu erwähnen, dass sich bei Zu- satz von Schwefelsäure oft reichliche Mengen deutlich ausgeprägter Krystalle von schwefelsaurem Kalk bildeten, ebenso bei Zusatz von Oxalsäure reichliche Mengen von oxalsaurem Kalk (Murex ete.). Wie oben gesagt besitzen in diesem Falle die Alkalien keine auflösende Kraft (z. B. bei Notarchus), doch wurden die in Rede stehenden Körner bei Murex auf Zusatz von Ammoniak schwächer lichtbrechend. Ferner entstanden Krystalle von phosphorsaurer Am- moniakmagnesia grade wie in den entsprechenden Drüsen anderer Tiere, z. B. in der Mitteldarmdrüse der Krebse, worüber ich in kur- zem genauer berichten werde. Von andern Reagentien wurde noch Jodtinktur benutzt. Dieselbe rief, dem frischen Zupfpräparat von Aplysia zugesetzt, eine intensiv braunsehwarze Färbung der Kügelehen hervor. — Wurde schließlich ein gleiches Präparat über der Lampe erhitzt, so schwärzten sich die Kügelchen und zeigten die konzentrische Schiehtung sehr deutlich. Wurde jetzt Salzsäure hin- zugefügt, so wurden sie nicht gelöst, sie sind also verkohlt. Resultat. Aus dem Verhalten der besprochenen Körper gegen Erhitzen sowie gegen die Einwirkung von Jodlösung, schließlich aus ihrer Quellbarkeit in Säuren kann man den Schluss ziehen, dass sie von organischer Natur sind und dass sie vielleicht den Eiweiß- körpern in ihrer Zusammensetzung nahe stehen. Nun könnte man dies zugeben und behaupten, dass an das organische Substrat der Kalk gebunden sei. Dagegen spricht aber der Umstand, dass diese Körper in allen Fällen in Oxalsäure löslich waren, während weder kohlensaurer noch phosphorsaurer Kalk durch diese Säure ge- löst werden, was sich noch überflüssigerweise durch einen Versuch nachweisen lässt. Die Körper können also unmöglich aus phosphor- saurem Kalke bestehen, wie B. glaubt; und damit fällt denn auch seine ganze Theorie in sich zusammen, wonach diese dritte Zellart zur Aufspeicherung von Kalk dienen soll. Da die Leber der Mollus- ken, wie B. ganz richtig fand und wie sich auch mikrochemisch zei- gen lässt, eine bedeutende Menge von Phosphorsäure und Caleium — jedoch nur in gelöstem Zustande — enthält, so ist allerdings die Möglichkeit, unterstützt durch die Experimente B.’s, nicht ganz aus- geschlossen, dass sie zu gewissen Zeiten Kalk oder dessen Bestand- teile abgibt. Meine Gegenversuche lassen sogar noch die Möglichkeit Vayssiere, Vorhandensein einer Schale bei Notarchus puncetatus. 397 offen, dass die Inhaltskörner der dritten Zellart Phosphor oder Cal- eium, oder auch beide Stoffe enthalten; trotz seiner ausgedehnten chemischen Experimente ist es aber B. doch nicht gelungen zu be- weisen, dass die Phosphorsäure und das Caleium der Schale, des Deckels u. s. w. wirklich von dieser dritten Zellart oder von der so- genannten Leber überhaupt herstammen. Denn wenn auch bei Win- tertieren (Helix pomatia) das Gewicht und der Prozentgehalt der Asche geringer ist als bei Sommertieren, so lässt sich hierfür als der plausibelste Grund geltend machen, dass die Tiere sich unter anor- malen physiologischen Verhältnissen befinden und dass ihre Ernährung völlig stillesteht. Mir erscheint daher die Annahme viel berechtigter, dass die sogenannte Leber der Mollusken eine einfache Verdauungs- drüse ist und dass speziell die Inhaltskörper der dritten Zellart bei der Verdauung eine wichtige Rolle spielen. A. Vayssiere, Note sur l’existence d’une coquille chez le Notar- chus punctatus. Jourm. eonchyliol. t. 30. 1882 S. 271. Notarchus ist ein kleines Genus der Aplysiaden und nahe ver- wandt mit dem Hauptgenus Aplysia, von dem es sich hauptsächlich durch den Mangel einer Schale unterscheiden sollte. Jetzt meldet Hr. Vayssiere die Entdeckung einer Schale, aber von solcher Klein- heit, dass sie bei einem 5—6 em langen Tiere die Dimension von 1 mm nicht überschritt. Es ist das ein neuer Beweis für das unge- mein langsame Verschwinden der Schale in allen Molluskenklassen, ein Ziel, welches überall nur langsam und in vielen Absätzen erreicht wird. Man denke an die vollkommene Stufenleiter, welche in bezug auf den allmäblichen Verlust der Schale die tubikolen Muscheln bis zu Clavagella und Aspergillum hin bieten, oder nicht minder schön unter den Pulmonaten die Testacelliden und Limaeiden, oder die Cepha- lopoden in den Familien der Oetopoden und Sepioladen, oder end- lieh die Opisthobranchier in den Tectibranchiern, um von Ptero- und Heteropoden ganz zu schweigen. Während die Tendenz zur Reduktion allgemein vorhanden ist, ist der Weg, auf dem diesem einen Ziel zu- gestrebt wird, in allen Abteilungen ein verschiedener. Am häufigsten wird die Schale zuerst eine innere (Opisthobranchier, Pulmonaten, Cephalo- poden), dann wird die Kalkablagerung mangelhaft (Aplysia), dann ganz unterdrückt (Opisthobranchier, Cephalopoden) worauf die Schale immer kleiner wird, bis sie ganz verschwindet. Die letzten Reste sind eine fast mikroskopisch kleine Schale (Gastropteron, Notarchus), sehr klein auch bei den Tubikolen, Kalkkrümel (Arion), die Stützknorpel der Schale (Oetopoden); allgemeines Fehlen oder Verkümmerung der Schale bei 398 Martin, Bau der gestreiften Muskelfaser. größern Abteilungen ist immer mit einer sehr hohen Differenzirungs- stufe, teilweise sogar aberranter Organisation verbunden (Nudibran- chier, Tubikolen). Bei den Muscheln, wo ein festes Gehäuse zum Schutz des Tieres unbedingt nötig erscheint, werden, wenn die Schale verloren geht oder durch ihre Kleinheit nutzlos wird, eher ganz neue röhrenförmige kalkige Bildungen zur Kompensation entwickelt, als dass die Tendenz zum Aufgeben der Schale unterdrückt würde (Tubikolen). So steht auch hier die vergleichende Anatomie mit der Embryologie im vollsten Einklange und schon allein auf die Schale hin, von allen andern Organsystemen ganz abgesehen, muss jeder Versuch, nackte Formen für irgend eine Molluskenklasse zu Stamm- formen machen zu wollen (v. Ihering bei seinen Platycochliden) als völlig verfehlt zurückgewiesen werden. Brock (Göttingen). Martin, Recherches sur la structure de la fibre musculaire striee et sur les analogies de structure et de fonction entre le tissu musculaire et les cellules a bätonnets (protoplasma strie). Bibl. des haut. e&tudes. Laborat. d’hist. Paris. 1832. VII. pag. 173. Viele Zellen zeigen bekanntlich ein gestreiftes Protoplasma; am längsten bekannt ist dieses Bild von den roten Blutkörperchen, die radiär gestreift sind, den Zylinderepithelien und Flimmerepithelien, welche Längsstreifung darbieten, den Stäbchen der pyramidenförmi- gen Zellen in den gewundenen Harnkanälchen u. s. w. Im allgemei- nen sah man bisher diese Zeichnung als den Ausdruck eines festern Stroma an, in welches die eigentlich wesentliche Substanz der Zelle z.B. das Hämoglobin eingelagert sei, wie in einem Gehäuse, und Brücke unterschied daher ein „Oikoid“ vom „Zooid“ der Blutkörperchen. Martin betrachtet die Angelegenheit von einer andern Seite. Er unterscheidet zunächst im Zellenleibe die amorphe protoplasma- tische Substanz (gangue) und die Granulation. Unter Granula- tionen werden aber nicht beliebige Körnchen, z. B. Fettkörnehen oder Pigmentkörnehen verstanden, die gleichsam zufällig im Zellenkörper eingelagert sind, sondern ausschließlich Eiweißkörnchen: granulations proteiques. Die letztern sind ein wesentlicher, niemals fehlender Bestandteil des Zellenprotoplasmas; sie können entweder unregelmäßig zerstreut der protoplasmatischen Grundsubstanz eingelagert sein, oder sie sind linear in Serien angeordnet. Im erstern Fall handelt es sich um embryonale Zellen, ferner um Leukocyten, auch gehören die Endo- thelien hierher. Im zweiten Fall entstehen durch die Aneinander- reihung der Granulationen Zellen mit Stäbehen (& bätonnets). Hierzu gehören die längsgestreiften Zylinderzellen in den feinern Ausführungs- Martin, Bau der gestreiften Muskelfaser, 329 gängen der Drüsen, die Zellen der gewundenen Harnkanälchen, der Acini des Pankreas, der Ausführungsgänge der Schweißdrüsen inner- halb der Cutis, die Leberzellen, welche sämtlich senkrecht zur Längs- achse der benachbarten Blutgefäßkapillaren gestreift sind und zwar nicht nur beim Frosch (Kupffer, 1876), sondern auch bei den Säugern, ferner die Zylinderepithelien der Gallengänge, endlich die Flimmer- epithelzellen der Epididymis, des Vas deferens, der Trachea, der Milch- drüsenausführungsgänge während der Laktation. Indess fragt es sich bei den Flimmerzellen der Luftröhre, oh sie wirklich den Zellen a bätonnets zuzurechnen sind. Eigentlich muss man die letztern, wenn man von ihrer Form absieht, als Bündel hya- liner Stäbchen auffassen, in welche Stäbehen die Granulationen regel- mäßig aufgereiht eingelagert sind; die so definirten Stäbchen werden dureh eine Zwischensubstanz verbunden, die untergeordnetern Ranges ist; nun haben die erwähnten Flimmerzellen zwar reihenweise geord- nete Granulationen, aber kein bündelförmiges Protoplasma aufzuweisen. Wie man sieht, enthalten obige Sätze eine Umgestaltung der Zel- lenlehre, wie sie eingreifender kaum gedacht werden kann. Alles das ist auf die einfache, wie gesagt längst bekannte Tatsache aufge- baut, dass manche in bestimmter Form geprägte Zellen streifig sind, speziell Längsstreifen zeigen. Man müsste, um dem Hypothesenbau irgend welche Stützen zu verleihen, zunächst eine eingehende mikro- chemische Untersuchung der Stäbehen, der Körnchen und der Zwi- schensubstanz fordern, wozu der Verf. keinen Anfang beigebracht hat. Alles, was man weiß, besagt nur, dass es sich um Eiweißkörper verschiedenartiger Löslichkeit handelt; ob den festern bezw. weniger leicht quellbaren Streifen die größere physiologische Wichtigkeit inne- wohnt, wäre noch zu beweisen. Ebensowol ist die Annahme gestattet, dass es sich um Protoplasmastreifen handelt, die beim Längenwachs- tum des Zellenkörpers in die Länge gedehnt und relativ starr gewor- den sind (Ref.). Die Flimmerhaare erklärt der Verf. für echte Stäb- chen bezw. protoplasmatische Gebilde mit Granulationen im Innern. Martin hat dann weiter die Samenfäden studirt. Nach Behand- lung mit Eosin und verdünnter Kalilauge werden die Köpfe der Sa- menfäden der Weinbergschnecke granulirt, man kann 30-40 Körm- chen zählen. Im Mittelstück tritt an Stelle des von Eimer bei der Fledermaus beschriebenen homogenen Achsenfadens eine einfache Reihe rot tingirter Körnchen auf. Die Köpfe quellen und ähneln einem Eiterkörperchen. Vorausgeschiekt war der obigen Behandlung eine starke Dehnung und Quetschung der Samenfäden zwischen zwei Glas- platten und Trocknung bei 100°. Dieselben Resultate wurden an den Spermatozoen des Menschen, Frosches, Triton u.s.w. (bei etwa 2000- facher Vergrößerung) erhalten, wozu Bene werden muss (Ref.), dass bereits Leeuwenhoek (1722) die Köpfe der Spermatozoen des Ka- ninchens als granulirt beschrieben hatte. Nach seinen eigenen Be- 330 Martin, Bau der gestreiften Muskelfaser. obachtungen deutet Martin den Samenfaden als ein Protoplasmastäb- chen, bestehend aus einer protoplasmatischen Substanz (gangue) und eiweißartigen Granulationen. Alles Vorhergehende bildet gleichsam die Einleitung zu einer aus- gedehnten Untersuchung der quergestreiften Muskelfasern. Das Ma- terial wurde frischen Hospitalleichen und amputirten Gliedern ent- nommen, die Muskelsubstanz stark gedehnt, getrocknet, mit Drittel- alkohol behandelt und in Wasser untersucht. Dabei wurden 1500— 2000 fache Vergrößerungen angewendet, bei sehr engem Diaphragma; dieser Teil der Arbeit datirt schon aus dem Jahr 1877. Martin un- tersuchte möglichst isolirte Muskelfibrillen von Säugern und ging ver- mutlich im übrigen von der Vorstellung aus, dass die anisotropen Querbänder von einer hellen Zwischenscheibe geteilt und die Quer- scheiben von je zwei Nebenscheiben begleitet werden. Der Verf. lässt nun die Muskelprismen des Ref. oder die sarcous elements aus je zwei, die Querlinie in jeder Muskelfibrille aus je drei, nämlich einem mittlern größern und zwei kleinern Körnchen zusam- mengesetzt sein, welchein der Achse jeder Fibrille aufeinander folgen. Letztere haben nach Martin nur 0,0002 mm Dieke. Wie man sieht, handelt es sich darum, die vorausgesetzte Struktur der Muskelfasern der Insekten auch an den Fibrillen des menschlichen Muskels nach- zuweisen, da an den Muskelfasern der Wirbeltiere solche Nebenschei- ben bisher nicht aufgefunden werden konnten. Die von Martin angewendete Methode ist nicht so unzwecekmälig, wie sieauf den ersten Blick zu sein scheint. Verwendung von sogenannten frischen, in Wahrheitaber längst totenstarren Muskeln, Dehnen, Trocknen, verdünnter Spiritus, Wasserzusatz unter dem Mikroskop — diese Ver- fahrungsarten waren in der Histologie etwa gebräuchlich, als Henle (1841) seine allgemeine Anatomie schrieb. Einfacher wäre es ge- wesen, lebende Muskelfasern von Insekten in absoluten Alkohol zu bringen und in Wasser zu zerfasern, wobei man an isolirten Fibrillen dievon Martin beschriebenen Bilder erhält (Ref.). Indess hat G. Wa- gener (Sitzungsberichte der Gesellschaft zur Beförderung der Natur- wissenschaften zu Marburg. 1872. S. 29) schon früher gezeigt, dass die anisotropen Querhänder fein längsgestreift erscheinen können, d. h. also sie sind geschichtet in der Längsrichtung der Muskelfaser. Vermutlich wird eine stärkere Dehnung nötig sein, um die an- scheinende Zusammensetzung der Muskelstäbchen aus zwei Körnchen hervorzubringen; für gewöhnlich fehlt solehe durchaus. In physiologischer Hinsicht schreiben Ranvier und Martin die Muskelkontraktion der isotropen Substanz zu. Nach letzterm ist die Muskelfibrille ein zylindrisches Stäbehen, in welchem eiweißartige Granulationen von mehrern Arten in ganz bestimmter Weise ange- ordnet sind. Dass durch solche Schematisirung des Muskelbaues ein Verständniss desselben in keiner Weise befördert wird, und dass vor Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 331 allem das verschiedene chemische Verhalten, z. B. die dem Verf. un- bekannte Resistenz der Querlinien gegen verdünnte Säuren, zu berück- sichtigen wäre, liegt wol auf der Hand. Ref. verweist in dieser Beziehung auf den von ihm als Funda- mentalversuch bezeichneten Versuch (Die motorischen Endplatten der quergestreiften Muskelfasern, Hannover 1869 und Zeitschrift für Bio- logie, 1869. Bd. V. S. 415. Taf. I. Fig. 8). W. Krause (Göttingen). Zur Anatomie und Physiologie der Retina. (Schluss.) Zunächst möchte ich eine Hypothese über die Verteilung der Seh- nervenfasern auf die Zapfen vorbringen, welche den Inhalt einer von mir am 4. Mai d. J. der kais. Akademie der Wissenschaften zu Wien vorgelegten kleinen Abhandlung bildet !). Die Grundlage dieser Hypothese ist eine Tatsache, welche schon lange bekannt zu sein scheint, da z. B. Helmholtz in seiner phy- siologischen Optik (S. 66) auf sie wie auf etwas allgemein Bekanntes anspielt. Doch ist meines Wissens zuerst von Sigm. Exner?) auf diese Tatsache ausdrücklich aufmerksam gemacht worden, welche für die Beurteilung der Leistungen der Netzhautperipherie sehr maß- gebend ist. Nach Exner’s Beobachtungen, welche ich an meinen eignen Augen vollkommen bestätigt finde, nimmt nämlich mit wachsender Entfernung von der Grube die Fähigkeit der Netzhaut Bewegungen wahrzunehmen bei weitem nicht in demselben Maße wie die eigent- liche Sehschärfe ab. Das Vorhandensein eines Gegenstandes, dessen Bild auf die äußerste Peripherie der Netzhaut fällt, kommt zum Beispiel gar nicht in unser Bewusstsein, und dennoch wird unsere Aufmerk- samkeit sofort auch auf kleine Bewegungen dieses Gegenstandes ge- richtet — wir vermögen absolut kein Urteil über Form und Aus- dehnung des Gegenstandes abzugeben, wissen aber mit größter Sicher- heit, dass derselbe sich bewegt. Dies alles wird verständlich und auch der Eingangs erwähnte Widerspruch wird behoben, wenn wir uns zu der an sich keine Schwierigkeit bietenden Annahme entschließen, dass in der Netz- hautperipherie die von einer Nervenfaser versorgten 1) Ein genaueres Zitat zu geben ist mir nicht möglich, da der Band der Sitzungsberichte, welcher diese Abhandlung enthält, zur Zeit noch nicht er- schienen ist. 2) Sigm. Exner, Ueber das Sehen von Bewegungen u. s. w. Wiener akad, Sitz.-Ber. LXXIL, Bd. 3. Abt, 339 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. Zapfen nicht auch anatomisch eine Gruppe bilden, son- dern mit Zapfen vermischt stehen, welche von andern Nervenfasern versorgt werden. Die Sehschärfe, an der aber ohnedies kaum mehr etwas zu verderben war, wird hierdurch aller- dings noch weiter herabgesetzt, denn der Bezirk, von dem aus ein und dasselbe Lokalzeichen gegeben werden kann, wird noch größer; aber dafür wird es unmöglich, dass selbst geringe Bildverschiebungen auf der Netzhaut stattfinden, ohne dass verschiedene Lokalzeichen nacheinander gegeben werden. Sowie das Bild von einem Zapfen, der zu einer bestimmten Nervenfaser gehört, auf einen benachbarten Zapfen überwandert!), der zu einer andern Nervenfaser gehört, wird unsere Aufmerksamkeit erregt, und es erfolgt unwillkürlich eine Augen- bewegung, welche den interessant gewordenen Teil des Gesichtsfeldes auf die Fovea centralis fallen macht: Es wird durch eine solche An- ordnung mit einer verhältnissmäßig geringen Anzahl von Lokalzeichen eine Feinheit im Bemerken von Bewegungen erreicht, die sonst, nach der gewöhnlichen Vorstellungsweise, nur durch Anbringung von außer- ordentlich viel mehr Nervenfasern und Lokalzeichen erreichbar wäre. Auch die eigentümliche fast peinliche Art der Unsicherheit im Urteil über Konturen und Formen wird durch diese Uebereinanderlagerung von Empfindungskreisen verständlich. Letztere Eigentümlichkeit der Netzhautperipherie ist bei der raschen und vollkommenen Beweglich- keit des Bulbus kein wirklicher Nachteil; hingegen leuchtet es ein, ein wie großer Vorteil im Kampfe ums Dasein durch die Fähigkeit geboten wird, von jeder Bewegung innerhalb eines sehr großen Raum- winkels sofort unterrichtet zu werden, und dieser Vorteil wird unter den von uns gemachten Voraussetzungen mit einem Minimum unter- einander verschiedener Lokalzeichen erreicht. Wäre für jeden Zapfen auch in den peripheren Teilen der Retina eine eigne Nervenfaser vorhanden, so müsste deren Anzahl versiebenfacht werden und trotz- dem würde die Sehschärfe der Peripherie gegen die der zentralen Grube noch so weit zurückbleiben, dass das Bild eines Gegenstandes, um einigermaßen scharf gesehen zu werden, mittels einer Drehung des Bulbus auf letztere gebracht werden müsste. Es würde durch eine so beträchtliche Vermehrung der Nervenfasern und Lokalzeichen verhältnissmäßig außerordentlich wenig gewonnen. Würde anderer- seits die Gleichheit der Zahlen für Zapfen und Nervenfasern dadurch hergestellt, dass die Zapfenzahl auf die Zahl der in Wirklichkeit vor- handenen Nervenfasern reduzirt würde, so würde, wegen der hieraus folgenden sehr großen Entfernung der Zapfen in der Peripherie der Netzhaut voneinander, eine so minimale Sehschärfe und zugleich eine so geringe Fähigkeit, Bewegungen wahrzunehmen, für das in- 4) Oder auch nur das quantitative Verhältniss der Belichtung beider sich ändert, Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 355 direkte Sehen resultiren, dass die ganze übrige Netzhaut als eine ziemlich überflüssige und nutzlose Beigabe zur Fovea und ihrer un- mittelbaren Umgebung erscheinen würde. Sind hingegen, wie wir annehmen, die Zapfen in der Peripherie in der Weise mit dem Zentralorgane verbunden, dass ihrer mehrere oder viele eine physiologische Gruppe bilden, dass sie also alle zu- sammen mit einer einzigen Nervenfaser in Verbindung stehen, und dass somit von jedem Zapfen einer solchen physiologischen Gruppe aus dasselbe Lokalzeichen ins Zentrum kommt, wie von jedem an- dern Zapfen derselben Gruppe, so ist damit eine starke Verminderung der Zahl der Lokalzeichen gegeben. Bilden, wie wir ferner annehmen, die Zapfen einer solchen physiologischen Gruppe nicht zugleich eine anatomische Gruppe auf der Netzhaut, sondern sind sie vielmehr innig gemischt mit Zapfen, welche einer oder mehrern andern physio- logischen Gruppen angehören und also andere Lokalzeichen auslösen, über einen etwas größern Bezirk der Netzhaut verteilt, so wird hier- durch erreicht, dass schon mit ganz kleinen Bildverschiebungen auf der Netzhautperipherie der Uebergang von einem Lokalzeichen zu einem oder mehrern andern erfolgt — wir somit von dem Vorhan- densein einer Bewegung überhaupt unterrichtet werden. Dazu aber, dass wir den Ort, an welchem die Bewegung stattfindet, mit einer hinreichend großen Genauigkeit wahrnehmen, um danach eine zweck- mäßige Augenbewegung — möglicherweise reflektorisch — auszuführen, dazu sind auch nach unserer Voraussetzung die Empfindungskreise immer noch klein genug. Nach einer sehr treffenden Bemerkung Brücke’s!) dürfen die Werke der Natur nieht wie Menschenwerke beurteilt werden, welche letztere immer irgend jemandem Zeit und Mühe kosten; eine Ersparungs- rücksicht in diesem Sinne kann also niemals in einer naturwissen- schaftlichen Erwägung geltend gemacht werden. Ganz anders aber steht es mit den Lokalzeichen; diese kosten jemandem Mühe und Zeit, nämlich uns selbst, da wir sie uns erst durch Erfahrung nutzbar machen müssen. Es ist also im Geiste der Theorie von der Zucht- wahl und von der Anpassung eine Einrichtung allerdings wahrschein- lich gemacht, wenn von ihr gezeigt werden kann, dass durch sie ein bestimmter Zweck mit einer auffallenden Ersparung von Lokalzeichen erreicht würde. Die Lokalzeichen und ihre durch Erfahrung erwor- benen Deutungen bilden so zu sagen eine kontinuirliche Belastung unseres Gedächtnisses, und mit ihrer Zahl wächst diese Belastung und die Komplizirtheit unserer geistigen Funktionen beim Perzipiren. Besteht nun die Netzhaut aus einem zum möglichst deutlichen 4) Ernst Brücke, Ueber einige Konsequenzen der Young-Helmholtz’- schen Theorie, I. Abhandlung. Wiener akad. Ber. LXXX. Bd. IH. Abt. Juli 1879. S. 29 des Sep.-Abdr. ; 994 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. Sehen bestimmten Teile — der Fovea eentralis und etwa ihrer näch- sten Umgebung — und aus einem andern, hauptsächlich zum Gewahren von Bewegungen bestimmten Teile, durch welchen wir erfahren, wo- hin wir mit der Fovea centralis schauen sollen, dann wird, die Rich- tigkeit unserer Vermutung vorausgesetzt, letztere Leistung auf eine solehe Weise erreicht, dass hierdurch unser Gedächtniss und unsere auf Verwertung von Lokalzeichen gerichtete psychische Tätigkeit möglichst wenig dauernd belastet ist, dass möglichst wenige Lokal- zeichen dazu erforderlich sind. Soll die von uns vermutete Einrichtung wirklich bestehen, so müssen sich folgende Konsequenzen derselben nachweisen lassen: 1) Es muss sehr viel mehr Zapfen als Nervenfasern geben. — Dass dem so ist, haben die Zählungen Salzer’s ergeben?). 2) Es muss wegen des vielfachen und ausgiebigen Ineinander- greifens der Empfindungskreise eine diesem Umstande entsprechende eigentümliche und besondere Art der Unsicherheit in der Deutung der peripherischen Netzhautbilder existiren. Dass diese Unsicherheit vorhanden ist, ist bekannt; und wie sehr die besondere Art derselben der besondern Ursache entspricht, aus welcher sie nach unserer Vor- aussetzung herrührt, geht am besten aus folgender höchst charakte- ristischen Sehilderung Brücke’s?) hervor: „Unser indirektes Sehen hat eine ganz andere Art von Unvoll- „kommenheit, als diejenige ist, welche nur von Unvollkommenheit der „Netzhautbilder herrührt. Derjenige, welcher die Gegenstände schlecht „unterscheidet lediglich wegen Unvollkommenheit der Netzhautbilder, „der sieht die unvollkommenen Netzhautbilder an und für sich deut- „lich; er kann ihre Fehler, wenn er die sonst dazu nötigen Kenntnisse „besitzt, sehr bestimmt und sehr im einzelnen beschreiben. Jeder „kann sich diese Art des undeutlichen Sehens veranschaulichen, wenn „er eine Linse vor sein Auge legt, welche die Einstellung für die je- „weilige Objektweite unmöglich macht. Ganz anderer Art ist „unser indirektes Sehen. Hier haben wir nicht sowol die „Empfindung, dass die Bilder den Objekten nicht ent- „sprechen, als vielmehr die, dass wir von den Bildern „iberhaupt keine hinreichende Kenntniss erlangen, um „sie sicher beurteilen zu können.“ Diese Darstellung enthält einen zu klaren Nachweis davon, dass unser Postulat erfüllt ist, als dass es nötig wäre, denselben noch be- sonders hervorzuheben, oder überhaupt irgend etwas hinzuzufügen. 3) Es muss der Netzhautperipherie ein auffallend großes, zu ihrer 4) W. Krause, (Allg. und mikroskop. Anatomie 1876) nimmt zwar ganz andere Zahlen an, als Salzer; das Verhältniss der Zapfen und Fasern ist aber auch nach ihm annähernd wie sieben zu eins. 9) 1. e, p. 10.— Die gesperrte Schrift im folgenden Zitate rührt von mir her. Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 335 geringen Sehschärfe in keinem Verhältniss stehendes Vermögen eigen sein, Bewegungen gewahr zu werden. Dass dieses der Fall ist, geht aus Exner’s Versuchen hervor (]. e.). Ich selbst habe mich viel- fältig davon überzeugt, und jedermann, der diese Versuche anstellt, wird zugeben, dass diesem Postulat in der Natur genügt ist. Liegt nun schon in dem Umstande, dass alle aus unserer Hypo- these abzuleitenden Konsequenzen in so guter Uebereinstimmung mit der Erfahrung sind, etwas, was sie empfiehlt, so wird man hoffentlich um so eher geneigt sein sie gelten zu lassen, als in ihrem Lichte eine an sich so rätselhafte Erscheinung, wie die der großen Ueber- zahl der Zapfen über die Nervenfasern, einfach und leicht begreiflich wird. Hier ist nun der Ort, die oben S. 318 in voriger Nummer erwähnte Hypothese von Helmholtz ausführlicher zu besprechen. Sie findet sich vorgetragen in einer kurzen Einleitung, die Helmholtzzuder posthumen Publikation schrieb: „Thesen und Hypothesen zur Lieht- und Farbenem- pfindung?)“ von Franz Boll, dem zum größten Schaden der Wissen- schaft und zum tiefsten Leide aller, die ihn gekannt, so früh verstorbenen Forscher, dem genialen Entdecker des Sehrot und zahlreicher wichtiger histologischer Tatsachen. Dass diese unvoll- endete Abhandlung überhaupt abgedruckt wurde, war nicht nur an sich als ein Akt der Pietät, sondern auch durch ihre Fülle an originellen Gedanken vollkommen gerechtfertigt. Wenn ich nun trotzdem in dem vorliegenden Essay den Inhalt jener Abhandlung Boll’s nicht vollständig wiedergebe, sondern nur gelegentlich einzelnes daraus vorbringe, so geschieht dies, weil es mir widerstrebt, Ansichten meines verstorbenen Freundes, welche dieser bei seiner großen Ge- wissenhaftigkeit sicherlich nieht ohne feste Begründung öffentlich vor- gebracht hätte, nunmehr mit ihrer oft nur andeutungsweisen Begrün- dung einem größern Publikum zu unterbreiten und hiedurch Proteste hervorzurufen, die — sofern sie sachlich gerechtfertigt sein mögen — Boll selbst gewiss zuerst gegen sich erhoben hätte. Da es ihm leider nicht beschieden war, seine in dieser Schrift ausgesproche- nen Gedanken zu völliger Reife durchzuarbeiten, zu beweisen oder zurückzulegen, so mag ich nicht die billige Aufgabe übernehmen, in den Gedankenskizzen des Verstorbenen kritisch zu wählen. Dieser Abhandlung Boll’s hatnun E.du Bois-Reymond einige einleitende Worte und einen Brief von Helmholtz vorangeschickt, welcher Brief sich auf eine Besprechung mit Boll über Gegenstände der betreffenden Abhandlung bezieht; und dieser Brief von Helm- holtz enthält jene Hypothese über die Verbindung der lichtperzipi- renden Elemente mit den Sehnervenfasern. Ich gebe sie — eine für 4) Du Bois-Reymond’s Archiv für Physiologie 1881. Dreizehnte Mit- teilung aus dem Laboratorium für vergleichende Anatomie u. Physiologie zu Rom, 336 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. uns ganz unbedeutende Auslassung ausgenommen — mit Helmholtz’ eigenen Worten. Helmholtz macht die Annahme, „dass die peripheri- „schen Empfindungsfasern ..... . ein anastomosirendes Netz bilden, „aus dem nur eine verhältnissmäßig geringe Zahl von zentripetal lei- „tenden Fasern entspringen. Nimmt man an, dass die Erregung je- „des peripherischen Punktes!) sich in dem Netz verbreitet und von „den nächst gelegenen zentripetalen Fasern?) stark, von den entfern- „tern schwächer zu den Nervenzentren geleitet werde, so würde die „Lokalisation auf Intensitätsabstufungen der Empfindungen benach- „barter sensibler Fasern zurückzuführen sein, und dabei könnten für „das zwischen den Mündungsstellen von nur drei Fasern liegende „Dreieck der empfindenden Fläche viele Hunderte von unterscheid- „baren Abstufungen der Gesamtempfindungen hergestellt werden, die „den Ortsveränderungen des gereizten Punktes entsprächen. Eine „solche Hypothese hatte ich mir längst für den Tastsinn gebildet, „um das lückenlose Ineinandergreifen der Empfindungskreise und die „feinere Ausbildung der Lokalisation durch die Uebung zu erklären.“ Dass diese Hypothese eine ausreichende Erklärung der großen Ueberzahl der Zapfen über die Fasern enthält, sieht wol jeder auf den ersten Blick. Niehtsdestoweniger glaube ich folgende Argumente vorbringen zu dürfen, welehe mir mehr zu gunsten meiner Annahme als der Helmholtz’schen zu sprechen scheinen. Dass unsere Sehschärfe in der Netzhautperipherie so außerordent- lich viel schlechter als im Zentrum ist, lässt sich durch die geringe Anzahl der Zapfen in der Flächeneinheit der Peripherie bei weitem nicht erklären. Ich erkläre es ungezwungen aus dem Umstande, dass in der Peripherie dreißig oder vierzig oder mehr Zapfen nur eine Nervenfaser und ein Lokalzeichen haben, im Zentrum hingegen jeder Zapfen seine eigene Faser hat. Nach Helmholtz müsste man aber annehmen, dass die schlechte Sehschärfe in der Peripherie aus dem Mangel an Uebung herrührt. Dies ist soweit ganz plausibel. Aber dann müsste sich die Schärfe des stark indirekten Sehens durch Uebung auch sehr beträchtlich verbessern lassen, eben bis zu der Grenze hin, die durch die geringere Zapfenzahl gesetzt ist. Dies ist aber nach meiner durch lange Zeit und mit vieler Anstrengung hierauf be- dachten Erfahrung keineswegs der Fall. Man erreicht durch alle Uebung nur eine geringe und immerhin zweifelhafte Verbesserung der indirekten Sehschärfe. Ferner kann man, soviel ich weiß, auch die ganz besondere und eigentümliche Art der Unsicherheit des Urteils über indirekt Ge- sehenes, auf welehe ich ein besonderes Gewicht lege, nach Helm- holtz abermals nur durch Mangel an Uebung erklären. Aber dieser 4) Jedes Zapfens. 2) Sehnervenfasern. Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 337 letztere erklärt wol ganz leicht jeden beliebig geringen Grad, aber kaum eine andere Art der Unsicherheit des Urteils. Wie will man es zum Beispiel aus einer andern Hypothese als der meinigen, spe- ziell aus der Helmholtz’schen erklären, dass man, wie ich mich ganz bestimmt überzeugt habe, im stark indirekten Sehen eine sehr kleine Bewegung gewahren kann ohne eine Spur von Urteil über die Richtung der Bewegung? Schließlich ist aus der Helmholtz’schen Annahme der so scharfe Bewegungssinn der Peripherie neben der geringen absoluten Seh- schärfe — soviel ich ermessen kann — gar nicht zu erklären, wäh- rend dieser merkwürdige Umstand aus meiner Annahme sich ganz von selbst ergibt. Die Tatsache aber, dass die mikroskopische Anatomie bisher nichts von dem von Helmholtz angenommenen Netze hat entdecken können, darf nicht gegen seine Annahme geltend gemacht werden; denn das Mikroskop hat uns überhaupt noch nichts über die Verbin- dung der Fasern mit den Zapfen gelehrt, und somit ist einstweilen jede Annahme hierüber eben so berechtigt, wie jede andere. Eine hierher gehörige Frage ist die nach der Sehschärfe für far- bige Objekte; denn alle bisher erwähnten Versuche über die Seh- schärfe bezogen sich auf Objekte, an denen weiße mit schwarzen Stellen abwechselten. An solchen Objekten war eine befriedigende Uebereinstimmung zwischen der Sehschärfe und der Feinheit des Zapfenmosaik in der Fovea centralis konstatirt worden. Wie sich diese Verhältnisse gestalten, wenn die zur Ermittlung der Sehschärfe dienenden Objekte farbiger Natur sind, ist eine von den Fragen, mit welchen sich eine vor vier Jahren erschieneneAbhandlung E.v.Brücke’s!) beschäftigt. Der uns hier zunächst interessirende Teil dieser Abhandlung ver- folgt einen Gedankengang, dessen Basis die Young-Helmholtz’sche Theorie?) ist. Diese nimmt bekanntlich drei verschiedene Arten von licehtempfindlichen Elementen an, von denen jede durch Lieht von einer bestimmten Wellenlänge oder Farbe stark, durch anderes Licht aber schwach erregt wird. Gleichzeitige Erregung aller drei Arten von Endorganen in bestimmtem Intensitätsverhältnisse bringt in uns die Empfindung von Weiß hervor, während die ausschließliche Erre- gung von Endorganen, welche für ein Lieht von bestimmter Wellen- länge am empfindlichsten sind, in uns die Empfindung der dieser Wellenlänge entsprechenden Farbe hervorruft. 1) Ueber einige Konsequenzen der Young-Helmholtz’schen Theorie. I. Abhandlung. Wiener akad. Sitzungsberichte. LXXX. Bd. III. Abt. 2) Vergl. meine Darstellung derselben in Band I dieser Zeitschrift S. 499 —513. „Ueber die Theorien der Farbenwahrnehmung.“ 39 338 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. v. Brücke, welcher, wie wir es auch im Verlaufe dieser Darstel- lung getan haben, die Zapfen der Netzhaut als die einzigen das Sehen vermittelnden liehtperzipirenden Endorgane des optischen Apparates ansieht, weist nun zunächst auf zwei mögliche Einrichtungen hin. Es können nach ihm entweder in jedem Zapfen drei Elemente vereinigt sein, deren jedes für eine der drei oben erwähnten Lichtar- ten eine charakteristische Empfindlichkeit hat — oder es kann jeder Zapfen als Ganzes für eine der drei Lichtgattungen empfindlich sein. Im letztern Falle wäre dann wieder die nächstliegende Voraussetzung, dass ein Drittel aller Zapfen für rotes Licht, ein anderes Drittel für grünes, das letzte für violettblaues Lieht empfindlich ist. Im ersten Falle müsste aber die Sehschärfe für Objekte, die aus verschiedenfarbigen Teilen bestehen, eben so groß als für solche sein, welche aus weißen und schwarzen Teilen bestehen. Dies ist leicht einzusehen. Wir haben ja schon bemerkt, dass die Sehschärfe von der Anzahl der lichtempfindlichen Elemente in der Flächeneinheit der Netzhaut abhängt. Da nun nach Brücke’s erstem Falle jeder Zapfen für alle Farben empfindlich ist, so gibt es auf einem bestimmten Areale der Netzhaut ebenso viele für eine beliebige Farbe empfindliche Punkte, als es überhaupt lichtempfindliche Punkte in diesem Areale gibt, und somit wird die Sehschärfe für farbige und für schwarzweiße Muster dieselbe sein müssen. Im zweiten Falle aber kann nach v. Brücke die Sehschärfe für bloße Farbenunterschiede nur etwa ?/, von der Sehschärfe für schwarz- weiße Muster, also für Helligkeitsunterschiede betragen. Dies wird durch beistehende Zeichnung ebenfalls £ leicht eingesehen werden. Hier stellen die einfachen Punkte rot empfindende Zapfen, die von einem kleinen Kreise o eingeschlossenen blauviolett empfin- dende und die kleinen Kreuze grün em- pfindende Zapfen vor. Wie man sieht, A ist hier die Annahme gemacht, dass die Zapfen in regelmäßigster Anord- nung auch bezüglich ihrer besondern Farbenempfindlichkeit gestellt sind. Für weißes Licht, für welches alle Zapfen erregbar sind, ist die Seh- schärfe gegeben durch den geringsten Abstand zweier Zapfen von einander, also durch die Länge a der Linie rg. Für grünes Licht aber ist die Sehschärfe gegeben durch den ge- ringsten Abstand zweier grün empfindender Zapfen, denn die andern Zapfen werden durch dasselbe kaum merklich erregt bei den Licht- stärken, für welehe diese Betrachtung überhaupt einen Sinn hat. Der geringste Abstand zweier für dasselbe Lieht — hier für grünes — erregbaren Zapfen ist aber gleich der Linie gg. Die Länge gg ist Fig. 1. Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 339 ı gleich zweimal der Länge gm. Da der Winkel bei g der halbe Win- kel eines gleichseitigen Dreieckes ist, so beträgt er 30° und gm ist a. cos 30°, folglich gg — 2 a cos 30°. Die Sehsehärfe für weißes Lieht war gemessen durch a, die für grünes durch 2 a. cos 30°, die beiden verhalten sich also zu einander umgekehrt, wie 1 zu 2 cos 30°, denn die Sehschärfe ist umso größer, je kleiner die Distanz der Zapfen ist, durch die wir sie messen. Obiges Verhältniss ist aber ziemlich nahe gleich dem Verhältnisse von 3 zu 3. Wenn also die zweite Annahme v. Brücke’s die richtige sein soll, so muss die Sehschärfe für schwarzweiße Muster ungefähr 1?/, mal so groß sein, als die für farbige. In Wirklichkeit hat sich nun bei zahlreichen in dieser Richtung angestellten Versuchen, an welchen sich außer v. Brücke selbst noch andere Beobachter beteiligten, das genannte Verhältniss mit aller zu erwartenden Genauigkeit als das mittlere herausgestellt. Diese zu erwartende Genauigkeit ist nun allerdings keine sehr große, und zwar aus folgenden Gründen. Erstens müssen, wenn die angenommenen Distanzen ihre Berech- tigung haben sollen, die zwischenliegenden Zapfen merklich unerregt bleiben, das heisst: die zur Prüfung verwendeten Farben müssen mit den physiologischen Grundfarben der Young-Helmholtz’schen Theorie merklich übereinstimmen, welcher Bedingung aus vielen hier nicht zu erörternden Gründen schwer oder gar nicht zu genügen ist. Zweitens aber müssen bei der Prüfung der Sehschärfe für Farben wirklich bloße Farbenunterschiede und nicht auch gleichzeitig Hellig- keitsunterschiede dem Auge dargeboten werden. Gleiche Helligkeiten verschiedener Farben herzustellen ist aber eine Aufgabe, die nicht nur eine sehr beschränkte Lösbarkeit, sondern überhaupt nur einen sehr beschränkten Sinn hat — Umstände, welche von v. Brücke in dieser, sowie besonders in einer zweiten Abhandlung!), über die nächstens referirt werden soll, sehr genau erwogen worden sind. Soviel haben die Versuche v. Brücke’s jedenfalls sichergestellt, dass, wenn man die Zapfen als die liehtperzipirenden Elemente an- sieht und sich der Young-Helmholtz’schen Hypothese anschließt, die weitere Annahme unausweichlich ist: dass es dreierlei Zapfen gibt, von denen jede Art für eine der drei Grundfarben erregbar ist. In diesem Aufsatze, in welchem wir uns die Aufgabe gestellt haben, die unmittelbaren Konsequenzen der Annahme, dass die Zapfen die eigentlich liehtempfindlichen Elemente sind, zu entwickeln und zu prüfen, muss noch eines Phänomenes gedacht werden. Es ist dieses Phänomen von Helmholtz entdeckt und von ihm aus der anatomi- 4) Ueber einige Konsequenzen der Young-Helmholtz’schen Theorie, II. Abhandlung. Wiener akad. Berichte LXXXIV. Bd. III. At. 1881. 22° 340 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. schen Anordnung der Zapfen und aus ihrer physiologischen Funktion als lichtperzipirende Elemente erklärt werden. Helmholtz’s schöne Idee hat allgemeinen Anklang gefunden und seine klassische Dar- stellung ist in viele Arbeiten aufgenommen worden, so auch in die oben erwähnten von Claude du Bois-Reymond und von Franz Boll. Auch hier soll zunächst Helmholtz’s Gedanke mit seinen eigenen Worten wiedergegeben werden. Bei Besprechung der Er- scheinungsweise von Stabgittern, die sich in relativ großer Entfernung vom Auge befinden, gibt Helmholtz!) folgende Beschreibung und Abbildung. „Bei diesen Versuchen bemerkte ich eine auffallende Formverän- „derung der geraden hellen und dunkeln Linien. Die Breite jedes „hellen und jedes dunkeln Streifen des von mir gebrauchten Gitters „betrug 13/,, = 0,4167 mm. In dem Abstand von 1,1 bis 1,2 Meter „fing die Erscheinung an sichtbar zu werden. Das Gitter bekam etwa „das Ansehen wie in Fig. 102A (s. d. nebenstehende Fig. 2A), die „weißen Streifen erschienen zum Teil wellenförmig gekrümmt, zum „Teil perlschnurförmig mit abwechselnd diekern und dünnern Stel- „len. Es seien in Fig. 102 (2 B) die kleinen Sechsecke Querschnitte „der Zapfen des gelben Flecks, a, b und e drei optische Bilder von den gesehenen Streifen; diese sind oberhalb dd in ihrer wirklichen Form dargestellt, unterhalb dd aber sind alle Sechsecke, deren größere Hälfte schwarz war, ganz schwarz gemacht, deren größere Hälfte weiß war, ganz weiß, weil in der Empfindung immer nur die mittlere Helligkeit jedes Ele- ments wahrgenommen werden kann. Man sieht, dass dadurch in der untern Fig. 2. Hälfte von Fig. 102 (1) B ähnliche Muster entstehen wie in A.“. Gegen diese Erklärungsweise des sehr auffallenden Phänomens möchte ich mir nun einige Einwendungen erlauben). Warum erscheint nicht jede gut fixirte und scharf gesehene gerad- linige Grenze zwischen zwei Farben oder zwei Helligkeiten gewellt? Und wie ist es zu verstehen, dass man Details am Rande eines ge- wellt erscheinenden Gitterstabes noch erkennt, welche feiner sind als die Wellenfigur selbst? Ich werde im weitern Verlaufe dieser Dar- stellung die Bedingungen mitteilen, unter denen man die Stäbe und 1) H. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, S. 217. 2) Die nun folgende Darstellung ist meiner Abhandlung: „Physiologisch- optische Notizen, 2, Mitteilung“ Wiener akad. Berichte LXXXVI. Bd. II. Abt. 1582, entnommen, Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 341 Zwischenräume eines Gitters, welches aus feinsten Laubsägeblättern zusammengesetzt ist, deutlich wellenförmig und dabei doch noch die Zähnelung mit einem solehen Grade von Deutlichkeit sieht, dass man wenigstens mit Leichtigkeit angeben kann, nach welcher Seite die Zähne sehen — obwohl die letztern ein in jeder Beziehung feineres Muster bilden als die Wellen. — In Wirklichkeit ist die Be- dingung, dass das Netzhautbild des Gitters von derselben Feinheit sei wie die Zapfenmosaik, gar keine Bedingung für das Gewellter- scheinen des Gitters; und in Wirklichkeit erscheint allerdings jede geradlinige Grenze zwischen zwei Farben oder Helligkeiten gewellt, sobald sie unter die wahren Bedingungen des Versuches gebracht wird. Ehe ich zur Aufzählung meiner übrigen Einwendungen gegen die von Helmholtz gegebene Erklärung übergehe, will ich jene Be- dingung namhaft machen, welche ich für die wahre Bedingung des Versuches halte. Jedes Gitter, jeder Stab, jeder geradlinige Rand er- scheint gewellt, sobald sein Netzhautbild — von welcher Größe es immer sei — mit einer mäßigen Geschwindigkeit über die Netzhaut hingeleitet. Man zeichne sich irgend ein Stabgitter auf einen Streifen Papier, etwa indem man mit der Reißfeder eine Schar paralleler Linien zieht, und wickle das Papier so um den Zylinder eines Kymographions, dass die Streifen vertikal stehen. Ich habe mich gelegentlich jener im Handel vorkommenden Sehreibunterlagen bedient, welche mit dieken äquidistanten Linien bedeckt sind und vielfach verwendet werden, um Zeilenlänge und -Abstand regelmäßig zu machen. Beson- ders mit einer solehen rastrirten Unterlage, bei welcher die Dicke der schwarzen Linien ca. 1,6 mm, die Breite der weißen Streifen aber ca. 5,5 mm betrug, habe ich einen großen Teil der im folgenden zu beschreibenden Versuche angestellt. Ist der mit vertikalen Linien bedeckte Streifen um die Trommel des Kymographions befestigt, so setzt man sich in bequemer Seh- weite vor die gut beleuchtete Seite derselben und lässt sie durch das Laufwerk des Apparates drehen. Die schwarzen Streifen erscheinen nach wie vor geradlinig. Bringt man nun aber vor der Trommel auf einem eigenen Stativ ein kleines ruhendes Fixationszeichen an und fixirt es gut, während sich die Streifen hinter ihm vorüberbewegen, so erscheinen letztere im ganzen Felde des direkten Sehens wellen- förmig verkrümmt. Dieses Phänomen tritt, wie gesagt, immer ein; es ist aber deutlicher und wird von Ungeübten leichter bemerkt, wenn für das Muster und die Umdrehungsgeschwindigkeit gewisse Verhält- nisse nicht zu weit überschritten werden. Bei einer Breite der Strei- fen von etwa 7 mm, der Intervalle von etwa 1,5 mm und einer Ge- schwindigkeit von beiläufig 15—20 mm in der Sekunde ist das Phä- nomen, aus einer Entfernung von 30—40 cm betrachtet, so in die 342 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. Augen fallend, dass es nicht leicht von jemand unbemerkt bleiben wird. Es müsste denn eine des Fixirens vollkommen unfähige Per- son sein, und soleher Menschen gibt es allerdings mehr als man glaubt. Man überzeugt sich bei dieser Anordnung des Versuches leicht davon, dass man die Wellen nur in jenen Momenten sieht, in denen die Fixation gut ist; sobald man mit dem Auge den sich bewegenden Linien folgt, erscheinen diese wieder einfach geradlinig. Bei einiger Uebung im Beobachten dieses Phänomenes wird man desselben sehr häufig gewahr — sobald nur einigermaßen die Bedingung des Ver- suches vorhanden ist. So habe ich z. B. die armdicken Stäbe des kolossalen Gitters vor St. Peter in Rom, in der Loggia in 2 Schritt Entfernung vor ihnen stehend, deutlich wellenartig gekrümmt gesehen, als ich die Spitze meines Spazierstockes quer in Augenhöhe an ihnen vorüberführte und dieselbe mit den Augen fixirte. Dass die von Helmholtz an entfernten feinen Gittern beobach- tete Erscheinung mit der von mir an bewegten Gittern von beliebiger Größe und Entfernung beobachteten identisch ist, scheint allerdings noch eines Beweises bedürftig. Ich finde denselben aber in folgenden Umständen. Die Erscheinungsweise des Phänomenes ist in beiden Fällen ganz die gleiche — es ist mir nicht gelungen, irgend einen Unterschied in dem Charakter der Wellen aufzufinden. Das Auftreten der Erscheinung bei der Helmholtz’schen Anord- nung lässt sich sofort unterdrücken, sobald es gelingt, die Bedingung, welche sich nach meiner Anordnung als für das Zustandekommen der Erscheinung maßgebend herausgestellt hat, zu eliminiren. Sieht man also die Stäbe eines Gitters nur mehr unter Gesichtswinkeln von ca. 1’, so verschwindet das Wellenphänomen in den Zeiten absoluter Fixation des Blickes oder in den Zeiten, während welcher die Blick- bewegung den Stäben merklich parallel ist. Die Meinung, dass man die Wellen nur dann sieht, wenn die Netzhautbilder so fein sind wie die Zapfenmosaik, hat sich offenbar auf folgende Weise gebildet. Solange man ein Gitter mühelos deut- lich sieht, hat man gar keine Veranlassung, das Auge regelmäßig quer zu den Stäben zu bewegen; das Auge findet an den deutlich gesehenen Linien hinlängliche Anhaltspunkte zum Fixiren und macht höchstens einigermaßen regelmäßige Bewegungen in der Richtung der Linien. Erst wenn bei zunehmender Entfernung die Linien anfangen undeut- lich zu werden, hören sie auf, gute Fixationsobjekte für das beobach- tende Auge abzugeben, und dieses schwankt nun an einem keine An- haltspunkte darbietenden Objekte nach allen Richtungen umher, wobei jedesmal, wenn sich die Riehtung der Augenbewegung mit der der Stäbe unter einem etwas größern Winkel schneidet, die Wellenfigur erscheint. Ebenso wie die Forderung der Kleinheit der Netzhautbilder muss Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 343 q ich auch die an demselben Orte ausgesprochene Forderung einer genauen (nötigenfalls durch Brillen zu unterstützenden) Akkomodation des Auges für die Entfernung des Gitters für unwesentlich halten. Arbei- tet man unter den von Helmholtz angegebenen Bedingungen, dann ist natürlich scharfe Einstellung des Auges unerlässlich, da ja unter diesen Verhältnissen bei ungenauer Einstellung überhaupt keine Linien, also auch keine gewellten, gesehen werden; macht man aber den Ver- such mit sich bewegendem Gitter und fixirendem Auge, dann kann das Fixationszeichen sehr viel näher am Auge liegen als das Gitter, ohne dass die Erscheinung an Deutlichkeit abnimmt; ja ein gewisser Grad von Ungenauigkeit der Akkomodation ist ihrem Zustandekom- men sogar günstig. So sehe ich die Wellen z. B. sehr schön, wenn die Entfernung des sich bewegenden Gitters von einem meiner (emme- tropischen) Augen 400 mm, die Entfernung des Fixationszeichens vom Auge hingegen 230—320 mm beträgt. Wie eine sehr einfache Ueberlegung ergibt, ist auch die Tatsache, _ dass das Vorhandensein so beträchtlicher Zerstreuungsbilder, wie sie unter den zuletzt besprochenen Verhältnissen auftreten, die Erschei- nung keineswegs behinderte, jenem Erklärungsversuche nicht günstig, welcher sich auf die Zapfenmosaik beruft. Absolut unvereinbar mit dieser Erklärung sind aber die Resultate der Messung (oder besser Schätzung) der Dimensionen des Wellenphänomenes. Unter Zugrundelegung der Helmholtz’schen Annahme würde sich ergeben, dass die Länge der Wellen der doppelten Breite und die Höhe derselben (vom höchsten bis zum tiefsten Punkte) der halben Breite eines Zapfens gleich sein muss; es würde sich danach für die Länge einer Welle ein Gesichtswinkel von ungefähr 2‘, für ihre Höhe ein Gesichtswinkel von ungefähr 30 ergeben. Wie groß ist nun der Gesichtswinkel‘, unter welchem die Wellen wirklich erscheinen ? Um diese Frage zu beantworten habe ich zwischen dem Auge und der Kymographiumtrommel, ziemlich nahe an letzterer, einen schwarzen Schirm angebracht, in welchem sich ein Fenster von etwa 5 em Breite und 2 cm Höhe befand. Das Fixationszeichen war in der Mitte des Fensters angebracht, und man sah durch letzteres auf die sich langsam vorbei bewegenden Gitterstäbe hin. Es wurde nun durch möglichst sorgfältige Schätzung zu bestim- men gesucht, wieviel ganze Wellen auf der durch das Fenster ge- sehenen Länge eines Stabes sich befanden — eine Aufgabe, welche weder leicht noch angenehm und gewiss nicht sehr genau zu lösen war. Sowie man sich anstrengt die Wellen auf dem Stabe zu zählen, entwickelt sich natürlich die Tendenz diesem mit dem Blicke zu fol- gen; und sobald man dieser Tendenz nachgibt, verschwinden augen- blicklieh die Wellen. Nichtsdestoweniger war die Uebereinstimmung 944 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. unter meinen Resultaten eine für den nächsten Zweck ausreichende und der Wert meiner Schätzungen wurde für mieh noch wesentlich durch den Umstand erhöht, dass einige Schätzungen, welehe H. Hof- rath v. Brücke und H. Prof. Sigm. Exner für mieh vorzunehmen die Güte hatten, sehr gut mit den meinigen übereinstimmten. Um ein Beispiel zu geben, will ich anführen, dass ich an einem 630 mm von meinem Auge entfernten Gitter auf jedem der 18 mm langen Stäbe 6 ganze Wellen zählte. Hieraus ergibt sich ein Ge- sichtswinkel von etwa !/,° für die Welle — und die Tatsache, dass eine Welle auf der Netzhaut ungefähr 15 Zapfen bedeckt. Dies aber scheint mir jede Möglichkeit, die Wellen aus der Zapfenmosaik zu erklären, auszuschließen. Zahlen, welche zu ganz ähnlichen Resultaten führten, erhielt ich nun bei allen in dieser Richtung angestellten Beobachtungen, wobei die Entfernung des Auges vom Gitter, die Lörge des sichtbaren Teiles der Stäbe, ihre Breite, die Winkelgeschwindigkeit ihrer Bewegung und insofern auch die Methode der Beobachtung varürt wurde, als als auch in einigen Fällen ruhende Gitter aus einiger Entfernung be- trachtet wurden und die Anzahl der Wellen abgeschätzt wurde, wel- che (infolge der Augenbewegungen) auf jedem Stabe sichtbar wurden. Die auf diese verschiedenen Arten erhaltenen Zahlen variirten um das oben angegebene Mittel in scheinbar unregelmäßiger Weise und um Beträge, welche aus der Unsicherheit solcher Abschätzungen vollkommen erklärt werden. Die geringsten Wellenlängen, welche bei absichtlich nach dieser Richtung übertriebener Schätzung und un- ter den ungünstigsten Umständen erhalten wurden, übertrafen immer noch um ein Vielfaches jene Länge, welche ein Postulat der Erklärung des Phänomenes aus der Zapfenmosaik ist. Ich will hier bloß noch anmerken, dass bei Beobachtungen aus größerer Entfernung die geschätzten Werte der Wellenlängen im all- gemeinen geringer ausfielen, als bei geringerer Distanz, ohne dass ich für diesen Umstand irgend einen Grund anzuführen vermöchte. Die Höhe der Wellen versuchte ich entweder so zu schätzen, dass ich sie an dem entwickelten Phänomene mit der Breite der ge- wellten Streifen verglich; oder so, dass ich eine möglichst vollkom- mene Zeichnung von dem Phänomen anfertigte, dieselbe wiederholt kor- rigivrend mit letzterm verglich und dann an der Zeichnung (unter sehöriger Reduktion auf die Entfernung) die gesuchte Größe maß. Auf diese Weise erhielt ich abermals untereinander mit hinreichender Genauigkeit übereinstimmende Werte, deren kleinster, 2,5 Zapfenbrei- ten für die Höhe der Welle, ebenfalls mit der Helmholtz’schen Er- klärung, welche eine Höhe der Wellen von !/, Zapfenbreite bedingen würde, in keinen Einklang zu bringen ist. Ich habe nun verschiedene Versuche gemacht, das Phänomen auf Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. 345 eine befriedigende Weise zu erklären — doch ist mir dieses bis jetzt nicht gelungen. Von den Formelementen der Netzhaut würden als die breitesten die Zellen des Pigmentepithels!) in betracht kommen, doch reichen selbst die Durchmesser dieser Gebilde zur Erklärung des Gesichts- winkels, unter welchem die Wellen erscheinen, nicht ganz aus. Doch könnte man sich, wenn nur sonst ein ausreichender Grund vorläge, den Pigmentzellen eine derartige Funktion beim Sehen zuzuschreiben, in Erwägung der großen Unsicherheit in der Ermittlung dieses Ge- sichtswinkels immerhin selbst dazu entschließen anzunehmen, man habe denselben durchgehends noch einmal so groß geschätzt, als er in Wirklichkeit ist — eine Annahme, die notwendig wäre, um die Erscheinung unter der Voraussetzung zu erklären, dass die Zellen des Pigmentepithels, „Sehelemente“* (Boll) sind. Boll hat nämlich in jener mehrfach zitirten Abhandlung Gründe für die Anschauung beizubringen versucht, dass nicht nur die Zapfen, sondern auch die Stäbchen und die Pigmentzellen lichtempfindliche Elemente (Sehele- mente) sind. Uebrigens ist es, um das Pigmentepithel zur Erklärung des Phä- nomenes heranzuziehen, nicht gerade notwendig, dasselbe für lichtper- zipirend zu halten in der Art, wie wir die Zapfen für lichtperzipirend halten. Es würde zum Beispiel vollkommen ausreichen anzunehmen, dass sich in jeder Pigmentzelle, sobald dieselbe an einem kleinen Teile ihrer Oberfläche von Licht getroffen wird, ein chemischer Prozess abzuspielen beginnt, der sich mit sehr großer Geschwindigkeit über die ganze Zelle verbreitet und der auf irgend eine Weise die vor dieser Pigmentzelle gelegenen Zapfen beeinflusst?). Allerdings würde eine derartige Einrichtung eigentlich einen Ap- parat zur Herabsetzung der Sehschärfe darstellen, aber es ist ja nicht ausgeschlossen, dass die Rückwirkung vom Epithel auf die Zapfen für gewöhnlich eine so schwache ist, dass sie nur unter besonders günstigen Verhältnissen bemerkbar wird — wie hier bei Bewegung des Bildes auf der Netzhaut, wobei ein steter periodischer Wechsel zwischen Erregung und Ruhe für jede Zelle stattfindet. Ohne auf die Verfolgung dieses Gedankens weiter einzugehen, und indem ich einige andere entschieden unglückliche Erklärungs- versuche ganz übergehe, will ich nur noch einer Idee Erwähnung tun, von der ich mir durch längere Zeit schmeichelte, sie würde zu einem Verständniss der Erscheinung führen. Man denke sich nahe vor einem Schirme, auf welchem ein opti- 4) Vergl. Franz Boll, Thesen und Hypothesen zur Licht- und Farben- empfindung. Arch. f. [Anat. u.] Physiologie 1831. 3) Vgl. die Darstellung W. Kühne’s von der Tätigkeit des Pigmentepi- thels beim Sehen in dessen „Chemische Vorgänge in der Netzhaut“. Hermann’s Handb. der Physiologie III. Bd. 1. Teil. 346 Fleischl, Zur Anatomie und Physiologie der Retina. sches Bild aufgefangen wird, parallel mit ihm ein Netz mit rundlichen Maschen aufgestellt. Die Fäden des Netzes bestehen aus dieken durch- sichtigen Zylindern, deren Brechungsindex sich nur wenig von dem des umgebenden Mediums unterscheidet. Das Bild eines Stabgitters, welches auf den Schirm fällt, wird durch das vorgestellte Netz ver- zerrt werden, und zwar werden die Stäbe durch die schief zu ihrer Richtung gestellten Zylinder mehrfach gebogen und geknickt erscheinen. Ein solches Netz ist nun vor der lichtperzipirenden Schichte der Netz- haut in Form ihres Blutgefäßsystemes aufgespannt, und man kann allerdings an eine solche Beeinflussung des Bildes seitens der Gefäße durch Brechung, Biegung oder Reflexion denken. Die Größe der Maschen des Kapillarnetzes in meinen Augen würde ganz gut mit dem Gesichtswinkel des Wellenphänomenes stim- men, aber es dürften die Stäbe, wenn diese Erklärung das Richtige getroffen haben sollte, in unmittelbarer Umgebung des Fixationspunk- tes nicht gewellt, sondern sie müssten gerade erscheinen, da bekannt- lich die Stelle des deutlichsten Sehens auf der Netzhaut gefäßlos ist. Vielleicht ist aber diese Stelle so klein, dass dieses kurze gerade Stückchen der Beobachtung entgeht, besonders bei den schwierigen Umständen, unter denen diese vorgenommen wird. Ich habe also die Größe der gefäßlosen Stelle in der Netzhaut meines rechten Auges bestimmt, und zwar auf folgende Weise. Ich blickte in das helle leere Gesichtsfeld eines Mikroskopes un- ter beständiger Bewegung meines Kopfes. Das auf diese Weise her- vorgerufene äußerst scharfe Bild!) der Blutgefäße in der Netzhaut wurde mittels eines auf das Okular aufgesetzten Zeichenprismas auf eine in gemessener Entfernung aufgestellte Papierfläche projizirt und die gefäßlose Stelle mit verschieden großen, auf das Papier ge- zeichneten Kreisen dadurch verglichen, dass man sie der Reihe nach mit den Kreisen zur Deckung zu bringen suchte. Aus der Größe des passenden Kreises und seiner Entfernung wurde dann der Gesichts- winkel, unter dem die gefäßlose Stelle gesehen wird — und folglich auch sieht — bestimmt, und zwar bei mir etwa gleich 85°. Auf der gefäßlosen Stelle haben folglich 4—6 ganze Wellen des Phänomenes Platz, und ich glaube ganz bestimmt sagen zu dürfen, dass es mir nicht entgangen wäre, wenn das Phänomen in solcher Ausdehnung gerade an der Stelle des deutlichsten Sehens gefehlt hätte. Demnach habe ich auch diese Erklärung wieder fallen gelassen. So bin ich denn in der unerquicklichen Lage, die Richtigkeit der Erklärung der Helmholtz’schen Wellenphänomenes aus der Zapfen- mosaik bestreiten zu müssen, ohne an die Stelle dieser Erklärung eine andere setzen zu können. Ernst von Fleischl (Wien). 1) Vergl. Helmholtz, physiologische Optik, S. 161. Fleischl, physio- logisch-optische Notizen, erste Mitteilung II. diese Berichte LXXXIL, Bd. II. Abt. - Sattler, Die Jequirity-Ophthalmie. 34 Hubert Sattler, Die Jequirity-Ophthalmie. Eine neue Infektions- krankheit. Wiener med. Wochenschrift. Nr. 17—21. 1883. Derselbe, Ueber die Natur der Jequirity-Ophthalmie. Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde. Juniheft. 1883. Im vorigen Jahre wurde durch den Pariser Ophthalmologen L. de Wecker auf eine in Brasilien unter dem Namen Jequirity bei uns als Paternostererbse bekannte pflanzliche Drogue aufmerksam gemacht, deren Samen in Gestalt einer Infusion schon seit vielen Jahren in genanntem Lande von der Volksmedizin mit Erfolg zur Heilung der sogenannten trachomatösen (granulösen) Augenentzündung verwandt wurde. Auch die von de W. mit dem Mittel angestellten Heilversuche hatten einen überraschend günstigen Erfolg. Was in der Jequirityinfusion das wirksame Agens war, blieb W. trotz mehr- facher darauf gerichteter mikroskopischer Untersuchungen dunkel. Er vermutete indess, „dass es sich wol um ein Ferment vegetabi- lischer Natur handeln könnte, dessen Entwicklung auf der Conjune- tiva selbst destruirend auf die Granulationen wirke.“ Ebensowenig gelang Silva Araujo, der auf Veranlassung von Moura Brazil eine histiologische Untersuchung der Infusionen, wie auch der nach Applikation derselben auftretenden Conjunetivalexsudate vornahm, der Nachweis des aktiven Prinzips des merkwürdigen Heilmittels. Denselben mit einer vor jedem Einwand sichern Exaktheit er- bracht zu haben, ist nun das Verdienst von Prof. Sattler. Bei der Tragweite, welche die zahlreichen von $. bezüglich dieser Frage in gradezu ingeniöser Weise angestellten Untersuchungen nicht nur für die Augenheilkunde, sondern in noch weit höherm Maße für die allgemeine Pathogenese besitzen, erachten wir es für gerechtfertigt, die beiden Arbeiten Sattler’s in ihrem experimentellen Teile in etwas ausführlicherer Weise zu besprechen. Sattler, der anfänglich die Infusion in der gleichen Weise her- gestellt, wie W. sie angab, hat nachher die Bereitung derselben dahin abgeändert, dass er die völlig unwirksamen Samenkapseln vor der Mazeration entfernte und eine !/,prozentige Infusion benutzte. Dabei machte S. die Wahrnehmung, dass eine dureh nur kurze (dreistündige) Mazerationsdauer gewonnene oder eine geringer konzentrirte Flüssig- keit wirksamer oder doch ebenso wirksam war, als eine, bei der die Mazerationsdauer zwischen 6 und 24 Stunden schwankte, bezw. als eine stärker konzentrirte. (Die apodiktische Behauptung Wecker's und Brazil’s, dass die artifizielle Konjunktivitis um so intensiver sei, je konzentrirter die Infusion, ist damit widerlegt). Bei Beurtei- lung der Wirkung kommt ferner in betracht das Alter der Infusion (je älter, desto unwirksamer; 8—10 Wochen alte Infusion war wir- kungslos) und die Temperatur des Raumes, in welchem die Ma- zeration stattfand (bei Zimmertemperatur erhält man die kräftigsten 948 Sattler, Die Jequirity-Ophthalmie. Infusionen; ungleich viel weniger wirksam bei Mazeration im Brut- ofen bei 33—35° C., während die Zubereitung mit Eiswasser und 24stündiger Aufenthalt im Eisschranke die Wirkung nicht beein- trächtigt). Neben diesen Faktoren ist die Beschaffenheit des Bo- dens, auf welchem das Mittel angewendet wird, von großer Bedeutung. Je normaler die Bindehaut, desto intensiver ist die Reaktion, während bei narbigen Degenerationen, wie auch bei starker Papillar- hypertrophie der Conjunetiva die eintretende Ophthalmie viel gering- sradiger ist. Ebenso spielen rein individuelle Verhältnisse eine Rolle. Aus der Schilderung des klinischen Bildes der Jequirity- Ophthalmie entnehmen wir, dass beim Menschen im Verlauf von wenigen Tagen intensive Schwellung der Lider, der Conjunctiva, so- wol in ihrem palpebralen, als auch in dem bulbären Teile eintritt. Dabei kommt es zu vermehrter Thränensekretion und Bildung eines grau- gelblichen membranartigen Exsudates, das der Conjunetiva fest an- haftet. Auch das Allgemeinbefinden ist nicht selten erheblich gestört (allgemeines Unbehagen, Schnupfen, Schwellung der Glandula suprapa- rotidea, Abendtemperatur von über 38°). — Vom vierten Tage an gehen Lidschwellung und Chemosis zurück, und die membranösen Exsudat- massen stoßen sich ab; bisweilen aber kommt es jetzt zu einer Trü- bung der untern Kornealpartien und stellenweisen Epitheldefekten. Die mehr eitrige Sekretion ist eine recht profuse. — Vom sechsten Tage an nimmt dieselbe allmählich ab; auch die bis dahin der Conjunctiva fornieis noch fest anhaftenden Membranen lösen sich, in intensiven Graden eine anämische glatte, narbig eingezogene Stelle zurück- lassend; für längere Zeit bleibt noch eine schmutzige Färbung und eine etwas stärkere Injektion der Conjunetiva bulbi zurück. Sulzige Körner bilden sich allmählich langsam zurück, nicht so stark gewucherte pupilläre Exkreszenzen, die der Rückbildung mehr widerstehen. Die Epitbeldefekte der Cornea heilen im allgemeinen rasch. Doch kann es auch bei ganz intakter Cornea zu Bildung von progressiven Ge- schwüren kommen. — Viel intensiver gestaltet sich der geschilderte Symptomenkomplex auf die Jequiritybepinselungen beim Kaninchen. Es kam in einigen Fällen zur teilweisen oder völligen Abstoßung der Lider. Die Narbenbildung in der Conjunetiva, die von ungleich diekern, zähern Membränen bedeckt wird und ein diphtherisches Aussehen bekommt, ist ebenfalls viel intensiver. Auch die Cornea wird unter Umständen teilweise oder in toto nekrotisch abgestoßen. Ja ein Teil der Versuchstiere verfiel in einen dyspnoischen Zustand und ging unter Krämpfen zu grunde. Das Sektionsresultat war im allgemeinen negativ; nur bei emigen Tieren fand sich eine von der Unterkiefergegend bis zum Sternalrand reichende, speckähnlich glän- zende, subkutane Infiltration. Bemerkenswert war, dass, wenn die überstandene Ophthalmie ' einigermaßen beträchtliche Veränderungen in der Bindehaut zurück- gelassen, die Tiere gegen eine erneute Applikation völlig immun Sattler, Die Jequirity-Ophthalmie. 349 blieben. Die Annahme, dass die durch Jequirityinfusion erzeugte Ophthalmie vielleicht eine Analogie biete zu einer artifiziellen Entzündung, wie wir solche durch Einwirkung von chemischen Agentien in der Conjunetiva entstehen sehen, weist Sattler auf- grund diesbezüglicher Experimente mit Ammoniak ete. zurück. Die Jequirity-Ophthalmie hat vielmehr alle Bigenschaften einer echten Infektionskrankheit; sie nähert sich in mehr- facher Beziehung der akuten Bindehautblennorrhoe. Welches ist nun das eigentlich wirksame Prinzip des Mittels? Die chemische Untersuchung ergab, dass der Samen eine nicht unbeträchtliche Menge eines Eiweißkörpers enthielt, welcher sich vom Legumin in einigen Punkten unterscheidet. Eine von Prof. Hilger aus dem Samen dargestellte krystallisirte Substanz wurde in einer !/,prozentigen alkalischen Lösung wiederholt in den Binde- hautfleck eingeträufelt, ohne indess die mindeste Reaktion hervorzu- rufen. Ebensowenig gelang es Hilger, in dem Samen ein unge- formtes Ferment nachzuweisen. Es blieb blieb also noch die Frage übrig, ob ein geformtes Ferment die Wirkungen der Infusion bedinge. Sollte diese Frage bejahend ausfallen, so mussten folgende Punkte festgestellt werden: 1) dass in der Jequirityinfusion ganz bestimmte Mikroorganismen regelmäßig vorkommen und dass auch dieselben Mikroparasiten in der erkrankten Conjunetiva und in den von iihr gelieferten Sekreten vor- handen sind; 2) dass die Infusion wirkungslos ist, wenn die betreffenden Mikrobien von ihr ferngehalten oder wirkungslos gemacht worden sind; 3) dass die letztern, aus der Infusion auf andere geeignete Nährsubstanzen übertragen und durch eine Reihe von Generationen rein sezüchtet, dieselbe Ophthalmie wie die Infusion er- zeugten. Dieser Nachweis ist nun Prof. Sattler m der vollkommensten Weise gelungen. Ad 1) ergab die mikroskopische Untersuchung der Infusion mit der größten Konstanz den ganz bestimmten Formenkreis eines Spalt- pilzes, welcher der Gattung Bacillus angehört und die Flüssigkeit in enormer Menge bevölkert und zuweilen gleich, meist aber erst mehrere bis 16 Stunden nach dem Filtriren der Infusion mikrosko- pisch nachweisbar ist. Als zylindrische homogen opake Gebilde von etwa 0,585 m Dicke und 2,5—4,5 m Länge erscheinend, teils ruhend, teils lebhafte schwingende und drehende Bewegungen und Ortsver- änderungen zeigend, sammeln sich diese Mikroorganismen bald zu kleinern und größern inselförmigen Aggregaten, um zuletzt eine die ganze Oberfläche der Flüssigkeit überziehende trübe Schieht zu bil- den, welche sich schon mikroskopisch recht auffällig von der Rahm- haut anderer Baeillenarten unterschied. Dabei ging an den meisten 380 Sattler, Die Jequirity-Ophthalmie. Elementen bereits eine Veränderung vor sich, welche als Sporenbil- dung zu deuten war. Die anfangs trübe Flüssigkeit klärte sich nach wochenlangem Stehen langsam wieder, die erwähnte oberflächliche Schicht sank in Fetzen zu Boden und die organisirten Elemente nahmen mehr und mehr ab. Untersuchte man in dieser Zeit auf den Eiweiß- gehalt, so sah man, dass dasselbe völlig verschwunden war. Von beträchtichem Einflusse auf die Zeit des Auftretens der Ba- eillen und die Raschheit des Verlaufes des Entwieklungsprozesses ist auch die Temperatur des Raumes, in welchem die Mazeration statt- fand. Temperatur von 34—36° C. befördert die Stäbchenentwick- lung sehr, während höhere Temperatur dieselbe hindern und endlich ganz aufheben. Temperatur von 2—3° hemmt die Auskeimung völlig; dieselbe geht aber wieder vor sich, wenn man die Flüssigkeit in ein warmes Zimmer bringt. Die Sporen haben eine bedeutende Widerstandsfähigkeit, indem sie nach wochenlangem Eintrocknen wie- der angefeuchtet keimfähig bleiben. 2—3 Minuten langer Aufent- halt in einer 0,100 Sublimatlösung tötet sie nicht, in lufttrocknem Zustand wird selbst durch 5 Minuten langes Erhitzen auf 100° C. die Keimungsfähigkeit nicht aufgehoben, dagegen tötet sie in benetztem Zustande schon ein 10 Minuten langes Aufkochen der Flüssigkeit. Der Baeillus ist ein exquisit aerobier Organismus, indem derselbe, wenn die Infusion mit möglichst wenig Luft in einem zugeschmolzenen Kölbehen eingeschlossen wird, sich gar nicht entwickelt. Dieselben Bacillen in sporentragendem Zustande fand nun S. auch stets in dem eitrigen Sekret der Conjunetiva und in den von derselben abgezogenen Membranen, jedoch nicht sehr reichlieh, wodurch auch die äußerst geringe Ansteckungsfähigkeit dieser Produkte erklärlich wird. Reichlicher dagegen wurden sie an- getroffen in der infiltrirten Bindehaut selbst, sowie in dem subeon- jJunetivalen Gewebe der Uebergangsfalten. Ad 2) gelang es Sattler darzutun, dass die Infusion erst durch das Hinzukommen der entwieklungsfähigen Keime des gefundenen Baeillus die Fähigkeit, die Jequirity-Ophthalmie zu erzeugen, erlangt. Er machte zu dem Zwecke die Jequirityinfusion keimfrei. Durch /,„—1stündiges Kochen wurde nun dieselbe allerdings völlig unwirk- sam, aber sie wurde nieht unwesentlich dadurch verändert, dass das Eiweiß sich in Flocken ausschied. Die vom Niederschlag abfiltrirte Flüs- sigkeit stellte jetzt einen so schlechten Nährboden dar, dass sich in ihr, der Luft ausgesetzt, nur eine schwache Generation des Bacillus ent- wickelte. Da ferner der Versuch, die Infusion dadurch zu sterilisiren, dass dieselbe 8 Tage lang täglich einmal und anfangs zweimal eine Stunde lang einer Temperatur von 58° ausgesetzt ward, ebenfalls nieht vollkommen gelang, so versuchte Sattler die Infusion in der ge- wöhnlichen Weise, aber unter sorgfältiger Fernhaltung der Baeillen- keime zu bereiten, was in der Tat gelang. Dass der Einträufelung einer solchen keimfreien Infusion in den Conjunetivalsack gleichwol Sattler, Die Jequirity-Ophthalmie. 351 eine nicht unbeträchtliche Ophthalmie folgte, sprach eben dafür, dass die spezifischen Keime aus der Luft zur Infusion hinzutraten. An- dererseits stellte sich, wenn 8. die steril erhaltene Jequirityinfusion unter allen Kautelen von der Haut aus dicht unter die Conjunetiva der Uebergangsfalte injizirte, abgesehen von einer bald vorübergehen- den lokalen Anschwellung kein Effekt en, während bei Einspritzung der in gewöhnlicher Weise hergestellten Infusion oder einer Rein- kultur des spezifischen Baeillus intensive Schwellung des obern Lides eintrat mit Bildung eines käsigen Abszesses, in welchem der Ba- cillus reichlich vorhanden war. Durch Hinzufügung von Sublimat (1 : 20,000) wurde bloß das Auftreten der Bacillen etwas verzögert und die Wirkung der Infusion etwas abgeschwächt. Bei Steigerung der Konzentration des Sublimats auf 1 : 10,000 trat eine auf Eiweiß- fällung beruhende stärker opalartige Trübung der Infusion ein, die Baeillenentwicklung blieb aus; aber es waren in der Flüssigkeit eine sroße Anzahl stattlicher Sporen des spezifischen Baeillus enthalten, die durch das Sublimat zwar am Auskeimen verhindert wurden, auf einem guten Nährboden — auf dem Conjunetivalsack — sich aber zu einer neuen Baeillengeneration entwiekelten und so ebenfalls eine recht heftige Ophthalmie veranlassten. Sublimat 1 : 8000 tötete alle organischen Keime sicher. Diese geringere antibakterielle Kraft des Sublimats, das in einer Verdünnung von 1 : 20,000 Milzbrandsporen völlig unfähig macht, sich weiter zu entwickeln, beruht auf dem nicht unbeträchtlichen Eiweißgehalt der Infusion. Dadurch wird ein großer Teil des Sublimats als Quecksilberchloridalbuminat gebunden und geht für die Ertötung der in dem Aufguss befindlichen widerstandsfähigern Keime verloren. Als Antiseptikum, das keine Eiweißfällung her- vorbrachte und doch in sehr geringer Konzentration die Infusion un- wirksam machte und steril erhielt, erkannte Sattler eine Thymol- lösung von 1: 1100. Hingegen erzielte das Jodoform nur eine geringe Abschwächung der Infuswirkung. Ad 3) zeigt Sattler, dass der gefundene spezifische Baecillus, auch vom ursprünglichen Mutterboden getrennt, dieselbe pathogene Eigenschaft besitzt, wie die Infusion, die erst durch das Hinzukommen seiner Keime die Eigenschaft erlangt, eine eigenartige Ophthalmie zu erzeugen. S. erzielte Reinkulturen des Dacillus auf verschiedenen Nährböden (am besten auf Blutserumgallerte und auf Fleischextrakt- Peptongelatine) und setzte dieselben durch eine Reihe von Genera- tionen, einmal bis zur vierzigsten, fort. Die Reinkulturen wurden m der Regel erst nach Verflüssigung der Gelatine (wo also die zahllosen Bacillen zum größten Teil schon in den sporentragenden Zustand übergegangen waren) in den Conjunctivalsack eingeträufelt und er- zeugten jedesmal eine Conjunetivitis, die zwar bei weitem weniger intensiv war, als die durch ein frisches Infus erzeugte, in ihren Eigen- schaften und ihrem Verlauf mit dieser aber übereinstimmte. Es fragt sich nun: gibt es einen Bacillus von den be- 352 Sattler, Die Jequirity-Ophthalmie. schriebenen morphologischen Eigenschaften, der schon an und für sich, ohne Dazwischenkunft einer Jequirity- infusion, in den Conjunctivalsack gelangend, eine solehe Ophthalmie erzeugen kann? Sattler muss diese Frage ent- schieden verneinen. — Es wurden verschiedene baeillenhaltige Flüssigkeiten (Leguminosensamen- Aufgüsse, Heuinfus u. s. w.) wie- derholt und reichlich in den Bindehautsack von Kaninchen einge- bracht, ohne dass auch nur die mindeste Reizung danach entstan- den war. Gleich negativ war der Versuch mit Reinkulturen verschiedener Bacillen. Auch bei den zahlreichen Sekretuntersuchungen, die S. bei den verschiedenen Bindehauterkrankungen des Menschen vornahm, hat er nie ähnliche Mikroparasiten gesehen, wie sie die Jequirity- ophthalmie zeigt. Es bleibt also nach Sattler nur übrig anzu- nehmen, dass ein offenbar weit verbreiteter, an und für sich unschäd- licher Baeillus dadurch, dass seine Sporen in eine Jequirityinfusion gelangen, dort quellen und bestimmte Nährstoffe assimiliren, eine neue physiologische Qualität erwirbt, nämlich die, auf und in der Bindehaut des lebenden Tieres zu vegetiren und durch ein dabei er- zeugtes Ferment die betreffenden Gewebsbestandteile zu schädigen und Reaktionsbestrebungen hervorzurufen, wodurch jenes Krankheits- bild entsteht, welches uns als Jequirity-Ophthalmie entgegentritt. Die heilsame Wirkung der Jequirity-Ophthalmie auf den tracho- matösen Prozess erklärt sich in folgender Weise: Infolge der Ansied- lung eines neuen Mikroparasiten und der dadurch bedingten reaktiven Vorgänge wird der Boden, auf dem sich das Trachom entwickelt hat, in spezifischer Weise alterirt. Die dem letztern Prozesse zugrunde liegenden Mikroorganismen gehen in ähnlicher Weise unter, wie in der Jequirityinfusion selbst alle andern entwieklungsfähigen Keime durch den allein siegreichen Bacillus unterdrückt werden. So ver- steht man auch, wie mit dem Abklingen der inokulirten Ophthalmie auch die durch den ursprünglichen Prozess hervorgerufenen chroni- schen Entzündungsprodukte allmählich vollständig resorbirt werden. Der Wert dieser beiden bahnbrechenden Sattler’schen Arbeiten, die, wie schon eingangs bemerkt, sowol die Ophthalmologen in erster Linie, als noch vielmehr die Pathologen und biologischen Forscher interessiren werden, weil sie uns das Verständniss von andern Infek- tionskrankheiten, deren bakteritische Krankheitserreger eine ekanthrope Entwicklungsphase durchlaufen, näher bringen und die tiefe Gründ- lichkeit derselben werden aber erst vollkommen in das richtige Licht gestellt, wenn man mit ihnen die oberflächlichen Untersuchungen Haranger’s über die Mikroorganismen der Jequirityinfusion vergleicht. Eversbusch (München). Berichtigung. Seite 291 Zeile 18 von oben lies: ihm statt ihnen. Verlag von Eduard Besold in Erlangen, — Druck von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. x r FIRE = \ 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. II. Band. 15. August 1883. Nr. 12, Inhalt: H. v. Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. — Krabbe, Beziehungen der Rindenspannung zur Bildung der Jahresringe. — Joyeux-Lafiuie, Anatomie und Entwicklung von Oncidium celtieum. — Noorden, Entwicklung des Labyrinthes bei Knochenfischen. — Biedermann, Ursache der Oeffnungszuckung. — Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen. — Varigni, Einfluss des Seewassers auf die Entwicklung des Frosches. — 56. Ver- sammlung deutscher Naturforscher und Aerzte. Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. Auf allen Gebieten der menschlichen Tätigkeiten macht sich seit geraumer Zeit das Bestreben nach Spezialisirung geltend und diesem Bestreben haben auch die anatomisch-physiologischen Fächer sieh fügen müssen. Die Zeit liegt nicht weit hinter uns, in welcher Anatomie, Phy- siologie, vergleichende Anatomie und pathologische Anatomie in der- selben Hand waren. Ich habe noch einen Fall in Erinnerung, in welchem mit diesen Fächern auch die Zoologie verbunden war, und auch noch einen zweiten, in welchem außer diesen fünf Fächern so- gar noch Botanik und Mineralogie zu vertreten die Aufgabe eines und desselben Lehrstuhles war. Die letzten Dezennien haben hierin eine wesentliche Aenderung gebracht, indem sie solche unpassende Kumulirung von Fächern be- seitigten, und es möchte gegenwärtig kaum eine deutsche Universität zu finden sein, in welcher nicht Anatomie, Physiologie und patholo- gische Anatomie durch besondere Lehrstühle vertreten wären. Die ver- gleichende Anatomie ist je nach Umständen mit der Anatomie oder der Zoologie verbunden, oder findet auch eine besondere Vertretung, und die seit vier Dezennien in die Reihe der akademischen Lehr- fächer aufgenommene Histologie ist je nach der Individualität der Vertreter der genannten Fächer mit einem oder dem andern derselben verbunden, hat auch wol ihren Einzelvertreter. Ebenso ist je nach den örtlichen Verhältnissen die Embryologie mit der Anatomie oder mit der Physiologie verbunden, 25 354 Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. Bei dem innigen Zusammenhange, welcher alle anatomisch -phy- siologischen Fächer untereinander verbindet, und bei dem vielfachen ergänzenden Ineinandergreifen der einzelnen hierher gehörigen Dok- trinen ist es indessen schwierig, die praktisch wichtige Frage nach der bestimmtern Umgrenzung der einzelnen Fächer zu beantworten; ja dies ist um so schwieriger, als kein einziges derselben nicht ge- wisse Einzelgebiete hat, welche ein anderes so genau berühren, dass man in Zweifel sein kann, zu welchem Fache eigentlich ein solches Einzelgebiet gehören soll. In Wirklichkeit hat man denn auch sehen müssen, dass solche Einzelgebiete aus einem größern Fache in das andere übertragen, oder gar aus dem einen ausgeschlossen wurden, ohne entschieden von einem andern aufgenommen zu werden. Kein Fach ist vielleicht geeigneter dieses zu erläutern, als die pathologische Anatomie. Nehmen wir die seiner Zeit sehr ange- sehene im Jabre 1818 erschienene pathologische Anatomie von Mer- kel zur Hand, so finden wir die Darstellung in die zwei großen Hauptteile zerfallen: angeborne und erworbene Veränderungen des normalen Baues, und von den 1726 Seiten des ganzen Werkes nehmen die erstern (also die Missbildungen) nicht weniger als 971 Seiten (56"/,°/,) in Anspruch. Dieser Teil erscheint also als der Hauptteil des Werkes, während er in der gegenwärtigen pathologischen Ana- tomie nur eine nebensächliche Rolle spielt oder gar als ein Beson- deres im Lektionskatalog oder in der Literatur auftritt. Analysiren wir den zweiten Hauptteil (die erworbenen Veränderungen), so finden wir in diesem die Hernien mit 126, die Vorfälle mit 8, falsche Lagen des Uterus mit 7, Inversionen und Invaginationen mit 27, Skoliosen mit 8 Seiten bedacht, — zusammen 176 Seiten = 10°/,. Ferner sind den Entozoen 50 Seiten (3°/,) gewidmet. Alle diese Abschnitte spie- len aber in der gegenwärtigen pathologischen Anatomie entweder eine ganz untergeordnete Rolle, oder sie sind ganz an die Chirurgie be- ziehungsweise Geburtshilfe oder Zoologie übergegangen. Ebenso nimmt die Heilung von Kontinuitätsstörungen (Wunden, Ligaturen, Knochenbrüchen ete.) 64 Seiten (3?/,°/,) in Anspruch, — ein Kapitel, welches gegenwärtig mehr der Chirurgie als der pathologischen Ana- tomie angehört. Für diejenigen Abschnitte, welche in der patho- logischen Anatomie in ihrer gegenwärtigen Gestalt die Hauptrolle spielen (Farbenveränderungen, Konsistenzveränderungen, Vergröße- rungen, Verkleinerungen, Entzündung, Neubildungen), bleiben dann nur 425 Seiten — 25°/, übrig. Dagegen hat aber auch die patho- logische Anatomie eine neue wichtige Doktrin, nämlich die Lehre von den mikroskopischen Parasiten, aufgenommen. Von dem entschiedensten Einfluss ist für solche Verschiebungen des Standpunkts und des Inhalts der einzelnen hierbei beteiligten Fächer die Kenntniss der Individualität der Elementarteile geworden, eine Lehre, welche seit Beginn dieses Jahrhunderts geahnt worden Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. 355 ist, welche aber erst durch die bahnbrechenden Arbeiten von Schlei- den und Schwann in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre bewusste Gestalt angenommen hat. Seitdem man durch diese Forscher das individuelle Leben der Elementarteile kennen gelernt hat, kann man den alten Begriff des „Organs“ nicht mehr festhalten. Das „Organ“ als Einzelbegriff hat aufgehört zu bestehen; es ist aufgelöst in einen Komplex von Elementarteilen, von welchen ein jeder seine eigne Bedeutung besitzt, und die „Funktion“ des „Organs“ erscheint, nun- mehr nur noch als die resultirende der Funktionen oder Lebenser- scheinungen seiner Elementarteile. Mit dieser Erkenntniss war dann der Physiologie und der Patho- logie ein ganz veränderter Standpunkt angewiesen. Die Physiologie hörte auf, eine Physiologie der Organe zu sein; sie wurde eine Phy- siologie der Elementarteile — und ihr folgend hatte auch die Patho- logie das Verhalten der Elementarteile näher ins Auge zu fassen und deren abnorme Lebenserscheinungen zur Erklärung der Krankheits- prozesse zu verwenden. Daher entstand denn die mikroskopische Riehtung der pathologischen Anatomie, in welcher diese aufhörte, ihre Hauptaufgabe in der Beschreibung abnormer Formen- und La- genverhältnisse zu finden, und sich das Ziel steckte, im Anschluss an die Kenntniss der Individualität der Elementarteile die abnormen Aeußerungen in deren Lebenserscheinungen zu erforschen und daraus die krankhafte äußere Erscheinung und die krankhaften Funktionen derselben herzuleiten. Sie wurde damit zu einer Lehre von der Pa- thogenese auf histologischer Basis, und ihre Aufgabe in diesem Sinne wurde noch bedeutend vergrößert dadurch, dass man die mikrosko- pischen Parasiten als Krankheitserreger kennen lernte. Hierdurch aber wurde sie noch mehr, als dieses früher der Fall war, in die ex- perimentale Riehtung gedrängt. Mit diesem veränderten Standpunkte musste sie mehr und mehr von der Aufmerksamkeit auf solche Form- veränderungen, welche nieht auf histologische Basis zurückzuführen waren, wie Hernien, Skoliosen ete., abgezogen werden. Selbstver- ständlich fielen dann diese Themata der Chirurgie zu, welche alles Interesse hatte, die Genese und die Erscheinungsweise dieser Deformi- täten zu erforschen, welche zu heilen oder erträglicher zu machen sie berufen ist. Nieht minder als die Kenntniss des Einzellebens der Elementar- teile ist aber auch seit Liebig’s bahnbrechenden Arbeiten die Ent- wicklung der Chemie, namentlich der organischen Chemie, von weit- tragender Bedeutung vorzugsweise für die Physiologie geworden. »ie begann hierauf gestützt die in den Körper aufgenommenen Materien zu verfolgen, ihren Umwandlungen in dem Organismus nachzuspüren und nach den Gestaltungen zu forschen, in welchen sie den Körper wieder verlassen; sie führt förmliche Haushaltungsbücher und zieht Bilanzen über Einnahme, Verwendung und Ausgabe und sucht auf 23% 356 Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. diese Weise den Chemismus des lebenden Organismus kennen zu lernen. In gleicher Weise wendet sie sich auch den Fortschritten der Physik in Optik, Akustik, Elektrizität zu, um deren Kenntniss für die Phy- siologie des Auges, des Ohres, des Kehlkopfes, der Muskelfaser, der Nervenfaser etc. zu verwerten. — Der frühere Standpunkt, welcher nur fragte: „Wozu dienen die Organe?“ ist damit verlassen, und die Physiologie ist nunmehr eine Physiologie der Elementarteile und eine Physik und Chemie des Organismus geworden. Welchen gewaltigen Aufschwung Physiologie und pathologische Anatomie durch diese Veränderung ihrer Standpunkte und durch diese neue Auffassung ihrer Aufgaben gewonnen, ist hinlänglich bekannt. Sollte diesem regen Treiben gegenüber die Anatomie ruhig blei- ben und auf ihrem alten Standpunkte verharren? Fast sollte man dieses glauben, wenn man sieht, wie dieses Fach verwaist ist, ob- gleich jedermann einsieht und anerkennt, dass gründliche anato- mische Kenntniss die einzige feste Grundlage des ganzen medizini- schen Wissens ist. Haben doch schon viele es wagen dürfen, die Anatomie als ein abgeschlossenes Fach hinzustellen, in welchem nichts mehr zu leisten sei, das allerdings als ein leider notwendiges Lehr- fach eine gewisse Bedeutung habe, aber eben deswegen, weil es nur eine gewisse Summe von Kenntnissen erfordere, von einem jeden ver- sehen werden könne, auch wenn er sich nicht besonders mit dem- selben beschäftige. Aeußerungen dieser Art können nur von solehen ausgehen, welche die Anatomie nicht kennen und nicht wissen, weleher Entwicklung dieselbe noch fähig ist, wenn sie nur ihre Aufgabe richtig erkennt. Zwar hat sie sich nieht so mächtiger Anregung zu erfreuen gehabt wie die Physiologie und die pathologische Anatomie, aber sie hat in sich selbst Inhalt genug, um eine Entwicklung zu finden, welche der- Jenigen der Physiologie und der pathologischen Anatomie vollständig ebenbürtig ist; — und sobald dieses einmal allgemeiner erkannt sein wird, werden sich ihr auch wieder mehr gute Kräfte zuwenden, als dieses in den letzten Dezennien geschehen ist, weil viele sich scheuten, sich einem Fache zuzuwenden, welches als leerer Gedächtnisskram abgeschlossener Tatsachen sehr allgemein über die Schulter ange- sehen wird. Dass die Anatomie sich noch nieht allgemeiner zu frischem Leben hat erheben können, findet aber seinen Grund nieht in dem Fache selbst, sondern in der Vernachlässigung desselben von seiten derer, welche nach ihrer Stellung berufen und im stande gewesen wären, die zeitgemäße Aufgabe der Anatomie zu erfassen. Aber auch diesen ist teilweise nicht die ganze Schuld beizumessen, sondern diese fällt zum Teil auf äußere Umstände, namentlich auf die Kumulirung der anatomisch-physiologischen Fächer und auf Kumulirung der Anatomie sogar mit andern Fächern, z. B. mit der Chirurgie, welche letztere Ver- Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. 357 bindung wenigstens für zwei als Chirurgen sehr angesehene Männer noch in vieler frischem Gedächtniss ist. Ursprünglich ging Richtung und Aufgabe der Anatomie dahin, die Formbestandteile des Körpers kennen zu lernen, wobei selbstver- ständlich auch das Bestreben sein musste zu wissen, wozu diese Formbestandteile dienen. Nach dem Wiedererwachen der Wissen- schaften wurde auch diese Aufgabe aufs neue in die Hand genom- men und ziemlich rasch in der Hauptsache gelöst, wie uns Vesal’s große in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts erschienene Ana- tomie lehrt. Späterer Zeit war sodann Ergänzung des Materials vor- behalten, sowie feinerer Ausbau der ganzen Lehre. Indess konnte dieses nur sehr langsam geschehen, indem reichlicherer und genauerer Bearbeitung der Anatomie vielseitig die größten Schwierigkeiten ent- gegengestellt wurden, sodass Untersuchungsobjekte nur selten zu er- langen waren. Erst liberalere Auffassungen gestatteten es, dass durch Haller und dann durch Sömmering das angesammelte Ma- terial zu einem richtigen Ganzen gerundet werden konnte. Darüber war unser Jahrhundert herangekommen und gehen wir in diesem so- gleich in die Zeit, in welcher die Naturwissenschaften von der Natur- philosophie sich frei machend wieder mit Eifer sich der Forschung zuwandten, so finden wir, dass die Besitzer anatomischer Lehrstellen nicht nur die Anatomie, sondern auch Physiologie, vergleichende Ana- tomie und pathologische Anatomie oder gar Chirurgie zu vertreten hatten. Unter diesen Verhältnissen mussten notwendiger Weise die Kräfte zersplittert werden, und viele, welchen die Anatomie anver- traut war, konnten dieselbe nur als Lehrfach behandeln, während sie im übrigen eines der andern Fächer als ihr eigentliches Forschungs- fach wählten. Die Zahl derer, welche dann der Anatomie sich be- sonders zuwandten, musste deswegen verhältnissmäßig gering sein und diese wandten sich vorzugsweise einer verbesserten Darstellung des anatomischen Materials in Lehrbüchern, Abbildungen und Samm- lungen zu, wobei sie das Material durch eigne Nachuntersuchungen sicherer stellten und sichteten. Damit war nun die Aufgabe, die Formbestandteile des Körpers aus Anschauung zu kennen, als nahezu gelöst anzusehen, und es wäre an der Zeit gewesen, der anatomischen Forschung neue Ziele vorzustecken. Einzelne haben dieses auch ge- fühlt und in diesem Sinne gearbeitet, aber sie blieben vereinzelt, in- dem der störende Umstand der Kumulirung der Fächer nicht nur fort- währte, sondern noch vergrößert wurde dadurch, dass die Histologie noch in die Reihe der anatomisch-physiologischen Fächer eintrat. Die Erkenntniss der Wichtigkeit dieses Faches, der Reiz der Neuheit, die Freude an der eleganten und säuberlichen Technik, die Sicherheit, bei einigem Fleiß etwas Neues zu entdecken, wurden Ursache dafür, dass sich der größte Teil der jüngern Kräfte dem neuen Fache zu- wandte. Die Kräftezersplitterung wurde dadurch nur vermehrt und 358 Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. wiederum hatte die Anatomie darunter zu leiden, indem ihr viele Kräfte entfremdet wurden. Zu diesem Verhältnisse trug auch noch sehr wesentlich der Umstand bei, dass man bald die Meinung zu ver- breiten wusste, die Histologie sei die eigentliche feine Anatomie, und dass es sogar zum guten Tone gehörte, nur mit verächtlichem Achsel- zucken von der Anatomie als von einer untergeordneten Beschäftigung mit groben Formen zu reden. Es sind mir sogar Fälle bekannt gewor- den, in welchen strebsame junge Leute direkt vor der Anatomie ge- warnt wurden; die Histologie sei es allein, welche eine Karriere sichern könne. Lächerlicher Weise ist auch gegenwärtig die Meinung, dass die Histologie die einzig wahre feine Anatomie sei, noch viel- fach verbreitet. Es beweist dieses aber nur einen gänzlichen Mangel von Verständniss der Bedeutung der Anatomie. Die Histologie, d.h. die Lehre vom Bau und Leben der Elementarteile, ist ebensowenig Anatomie, als Kenntniss der Baumaterialien Architektur oder hütten- kundige Kenntniss der Metalle Maschinenlehre. Ist es unter solchen Verhältnissen zu verwundern, wenn die Ana- tomie sehr verwaist dasteht, und wenn auch Bemühungen, durch Sub- tilitätenkrämerei und Varietätenjägerei Genauigkeit zn bringen oder durch unpassende Beimengungen dem Fache die „Trockenheit“ zu benehmen, hierin keine Aenderung bringen konnten? Die beiden großen früher mit dem anatomischen Lehrstuhle ver- bundenen Fächer, Physiologie und pathologische Anatomie, sind nun- mehr überall mit besondern Lehrstühlen versehen, und die verglei- chende Anatomie wenigstens an vielen Orten. Die Anatomie ist da- durch überall in eine mehr selbständige Stellung gebracht; die Kräftezersplitterung, welche ihr bisher so hinderlich gewesen, ist damit beseitigt und der Zeitpunkt gekommen, in welchem sie eine selbständige Weiterentwicklung finden kann. Sie hat hierfür vor allem sich klar darüber zu sein, dass die bloße Kenntniss der Formen der einzelnen Teile des Organismus vor- läufig als abgeschlossen anzusehen ist, aber auch nur vorläufig, indem in bezug auf die Formen noch viele wichtige und interessante Tatsachen zu ermitteln sind. Diese Tatsashen sind aber nicht da- durch zu gewinnen, dass man, was schon neun und neunzigmal dureh- präparirt ist, noch zum hundertsten Male durchpräparirt und sich freut, wenn man ein Fäserchen mehr findet, als die Vorgänger. Sie sind allein zu gewinnen, wenn die Anatomie den Standpunkt prinzipien- loser Formbeschreibung verlässt und einen neuen Standpunkt mit Be- wusstsein einnimmt, den Standpunkt, dass sie als ihre Aufgabe er- kennt, die Gesetze des Aufbaues und der Mechanismen des Organis- mus zu erforschen. Individuell haben einzelne bereits in den letzten Dezennien mit mehr oder weniger Bewusstsein diese Aufgabe er- fasst, und diese Auffassung ist dann für ihre Arbeiten eine Fundgrube von ungeahntem Reichtum. für interessante Tatsachen und Aufschlüsse Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. 359 geworden. Dieser Standpunkt muss aber ein allgemeiner werden und in das allgemeine Bewusstsein übergehen; und ist dieses geschehen, dann wird das verwaiste Fach der Anatomie sich mehr und mehr Freunde gewinnen und mehr und mehr als eines der interessantesten und fragenreichsten Fächer zu neuem Ansehen kommen. Ueber diesen Standpunkt, welcher der Ausgangspunkt einer neuen freudigen Entwicklung der Anatomie zu werden berufen ist, habe ich mich schon vor dreißig Jahren (Müller’s Archiv 1853. S. 9) deutlich ausgesprochen, indem ich der Anatomie die Aufgabe stellte, den Kör- per als einen Komplex von physiologischen Apparaten anzusehen, deren Verständniss sich nur auf ihre funktionelle Bedeutung stützt. Deutlicher habe ich mich einige Jahre später (1856) in der Vorrede meines Lehrbuches der Anatomie ausgesprochen: „Die Erforschung der Gestalten als solcher ist durch die bisherigen Arbeiten fast als erledigt anzusehen, und wirklich ist auch seit Jahrzehnten in dieser Beziehung nur sehr wenig wesentlich Neues dem frühern Wissen hin- zugefügt worden. Darum ist jedoch die Anatomie noch keineswegs, wie man sehr häufig äußern hört, eine abgeschlossene Wissenschaft; denn nach Erledigung der angegebenen ersten Aufgabe erwächst ihrer Bearbeitung nunmehr eine neue Aufgabe darin, dass sie auch auf das Verständniss der Formen hinzuwirken hat. — Eine diese Aufgabe erfassende Bearbeitung der Anatomie hat sich auf die Phy- siologie zu stützen, den Körper als einen Komplex physiologischer Apparate aufzufassen und das Verständniss der Formen aus der funk- tionellen Bedeutung der einzelnen Teile herzuleiten.“ Vor allen Dingen hat eine solehe Auffassung der Anatomie mit einer naturgemäßen Gruppirung und damit Einteilung aller Teile zu beginnen und zusammengehöriges zu vereinigen, um dadurch den Aufbau des Körpers aus einzelnen Apparaten zu erkennen. Die her- kömmliehe Art, die Teile nicht nach ihrer physiologischen Zusammen- gehörigkeit, sondern nach ihrer histologischen Uebereinstimmung zu sruppiren, reißt die Organe oder Apparate willkürlich auseinander und schafft Gruppen von heterogenster Zusammensetzung. Dieses Verfahren ist nicht anders, als wenn ein Mechaniker den Bau einer Maschine erklären wollte, indem er die einzelnen Teile nicht nach ihrer mechanischen Bedeutung zusammenstellt, sondern nach dem Ma- terial, aus welchem sie dargestellt sind, ob aus Holz, Eisen oder Mes- sing. Oder ist es etwas anderes, wenn man die Augenmuskeln, Schlundkopfmuskeln in der Myologie beschrieben findet, oder in Veterinäranatomien das Os cordis und das Os penis in der Osteologie? Des gleichen Fehlers machen sich die vielfach geltenden topographi- schen Motive schuldig, indem auch diese die geschlossensten Appa- rate auseinanderreißen, so dass deren Teile an den verschiedensten Orten zusammengesucht werden müssen; so müssen z.B. die Muskeln des mechanischen Apparats „Arm“ teils bei den Brustmuskeln, teils 360 Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. bei den Rückenmuskeln, teils bei den Armmuskeln gesucht werden. Eine Uebersicht über die mechanischen Leistungen des Armes ist deswegen kaum zu gewinnen, und auch im der Extremität selbst fin- det man die Einteilung in a) Muskeln an der vordern Seite b) Mus- keln an der äußern Seite ete., womit aller einheitliche Ueberblick und alles Verständniss der Bedeutung der Muskeln verloren geht. Dahin gehört auch die Beschreibung der Kehlkopf-, Zungen- und Schlund- kopfmuskeln als „tiefe Halsmuskeln“ und verschiedenes mehr. Unendlich einfacher und naturgemäßer ist es doch, die Augen- muskeln bei dem Sehapparat, die Zungen- und Schlundkopfmuskeln bei dem Verdaungsapparat, die Kehlkopfmuskeln bei dem Atmungs- apparat ete. zu beschreiben, wobei deren Bedeutung für den ganzen Apparat und damit auch die Motive ihrer Anordnung sogleich ein- leuehtend hervortreten. In gleicher Weise ist die Anordnung von Ex- tremitätenmuskeln, welche nach der traditionellen Darstellungsweise namentlich an dem Unterarm und dem Unterschenkel so viele Schwie- rigkeiten für das Verständniss bieten, unendlich vereinfacht und ver- deutlicht, wenn man von der mechanischen Leistung der Extremität ausgehend die Bewegungsfähigkeit der Gelenke als Einteilungsmotive benutzt und danach die Muskeln in physiologische Gruppen zerlegt, welche sich dann nach einfachen Gesetzen wieder analysiren lassen — wenn man, mit andern Worten, z. B. die Armmuskeln in Muskeln des Schultergürtels, des Schultergelenks, des Ellenbogengelenks ete. zer- legt, statt in Muskeln an der Brust, an dem Rücken, an dem Ober- arm etc. Ist eine solehe naturgemäße Einteilung gewonnen, so ist auch der einzelne Apparat für sich naturgemäß anzusehen. Die Hauptbe- deutung desselben ist in den Vordergrund zu stellen und die Beziehun- gen aller accessorischen Teile des Apparats bei deren Behandlung zu ermitteln und damit auch deren Verbindungen mit dem Hauptteile des Apparats. Das schlagendste Beispiel hierfür bietet der Gehörappa- rat. Stellt man an diesem das Labyrinth in den Vordergrund, so reihen sich der Schallleitungsapparat und die Nervenzuleitungen ohne Schwierigkeit an und es wird ein viel riehtigeres und leichteres Ver- ständniss des Gehörapparats erzielt, als wenn man beginnt: A. Aeuße- res Ohr B. Gehörgang ete., wobei dann zuletzt fast nur als ein Anhang auch das Labyrinth an die Reihe kommt. So sind auch bei dem Verdauungsapparat die Darmzotten, bei dem Atmungsapparat die Lungenbläsehen stets als die Hauptteile im Auge zu behalten, für welche alle andern Teile dieser Apparate arbeiten und zu deren Bedeutung die Anwesenheit und die Einrichtung aller andern Teile in nächster Beziehung stehen. Es ist nicht notwendig hierbei zu weit auf physiologische Einzel- heiten einzugehen; es genügt vollständig an den einfachsten Sätzen der Physiologie über die Funktion der Organe. Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. 361 Der hier dargelegte veränderte Standpunkt in der Grundanschau- ung für die Behandlung der Anatomie und die Bestrebungen, Funktion und Anordnung der einzelnen Teile in Einklang zu bringen, führen einen leitenden Grundsatz in das Fach der Anatomie ein, welcher geeignet ist, viele Fragen anzuregen und damit viele neue Tatsachen in bezug auf äußere Gestaltung und innere Gliederung der Teile zu Tage zu fördern. Zugleich aber auch müssen dadurch viele Einzelheiten als unwichtig und unwahrscheinlich erscheinen und damit eine Sichtung des anatomischen Materials erzielt werden, welche, auf bestimmte naturgemäße Grundsätze gestüzt, nur verständliches znrücklässt und den Weg zeigt, auf welchem ein weiterer fruchtbringender Ausbau des Faches der Anatomie unternommen werden kann. Andererseits wird aber auch durch diesen Standpunkt der Anatomie eine Fülle neuen Bearbeitungsmaterials geboten. Wenn ihr der Kör- per nicht mehr nur eine Häufung verschieden geformter Teile ist, son- dern ein kunstreicher Mechanismus, so hat sie eine große und inter- essante Aufgabe in den Studium dieser Mechanismen, von welchen die bedeutendsten der Mechanismus der willkürlichen Bewegungen und der Mechanismus des Blutlaufes sind. Die Physiologie kann nur die Gesetze der Muskelkontraktion überhaupt behandeln und Grund- prinzipien des Gelenkbaues besprechen. Die Anatomie hat jeden ein- zelnen Muskel und jedes einzelne Gelenk zu beschreiben, und wenn sie die Formen, die sich hier bieten, auch verstehen will, so muss sie die Mechanismen aller Gelenke in der Bewegung und in der Ruhe und die mechanische Einwirkung der Muskeln auf dieselben untersuchen. Eine reiche Fülle wichtiger und interessanter Aufgaben! — Aehnlich verhält es sich mit dem Blutlaufe. Die Physiologie erörtert nur im allgemeinen die in dem Blutlaufe geltenden hydraulischen Gesetze; wie aber im einzelnen diese Gesetze in den verschiedenen Teilen des Gefäßsystems dem Bau derselben entsprechend zur Geltung kommen können, und wie ihrerseits auch wieder die Hydraulik des Blutlaufes auf die einzelnen Teile des Gefäßsystems zurückwirkt und bestimmend auf deren Bau und äußere Gestaltung einwirkt, — dieses ist wieder eine Aufgabe der Anatomie, welche jedem einzelnen Gefäße ihre Auf- merksamkeit zuzuwenden hat. Ich habe diese beiden Beispiele als Hinweis auf die reichen Fund- gruben, welche eine physiologische Grundanschauung der Anatomie eröffnet, gern und vorzugsweise gewählt, weil in beiden Aufgaben bereits seit längerer Zeit mit Erfolg gearbeitet wird. In andern Teilen der Anatomie fehlt es aber nicht an ähnlichen Aufgaben und Frage- stellungen. Bei einer solchen von bestimmten Grundsätzen geleiteten Unter- suchung des Aufbaues des Körpers kann es nicht fehlen, dass auch allgemeiner giltige Gesetze gefunden werden, welche für eine ganze Klasse von einzelnen Teilen ihre Anwendung finden und welche dann 362 Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. in ihrer Anwendung auf die einzelnen Fälle die Auffassung und das Verständniss wesentlich erleichtern. Geeignete Zusammenstellung die- ser Gesetze entweder als Ganzes oder als Einleitung in die einzelnen größern Abschnitte ist dann im stande, als einen wichtigen Teil der anatomischen Lehre eine „allgemeine Anatomie“ zu schaffen, d. h. eine Zusammenstellung der allgemeln giltigen Gesetze des Baues und der Anordnung der Teile. Die Lehre von den Elementarteilen als dem Baumaterial des Körpers und der Bedingung der Funktions- fähigkeit der einzelnen Teile desselben, hat in einer solchen auch als ein Teil Platz zu finden. Dass sie gegenwärtig noch vielfach für sich allein „allgemeine Anotomie“ genannt wird, stammt noch aus der Zeit her, in welcher die einleitenden Kapitel der Anatomie nur die Substanzen, aus welchen der Körper besteht, behandelten !. 1) Es ist eine sonderbare Tatsache, dass sehr allgemein Bichat als der Schöpfer der Histologie hingestellt wird, und ich kann mir diese Erscheinung nur dadurch erklären, dass Bichat sein Werk „anatomie generale“ nennt und dass die Histologie auch vielfach „allgemeine Anatomie“ genannt wird. Kennt- niss von Bichat’s Werk kann wenigstens nicht das Motiv einer solchen An- gabe sein; denn wer Bichat’s Werk kennt, der muss wissen, dass dasselbe mit unserer heutigen Histologie gar nichts gemein hat und nur ein Teil einer Schule ist, welche für uns ein längst überwundener Standpunkt ist, nämlich der Lehre von den Partes similares des Körpers. In der Literatur tritt diese Lehre als ein besonderes geschlossenes Ganzes zuerst auf in den Lectiones Gabrielis Fallopii de partibus similaribus humani corporis a Volchero Coiter collectae. Norimb. 1575. Als partes similares wurden solche Teile genannt, welche durch und durch gleichartig sind (ein Muskel, die Leber); partes dis- similares dagegen waren die aus ungleichen Bestandteilen zusammengesetzten (z. B. die Hand). Partes similares waren also die einfachen Elemente des Körpers, Muskeln, Knochen, Fett, Drüsenparenchym, Häute ete. — Ganz in diesem Sinne bespricht auch Bichat die einfachen Bestandteile des Körpers, was daraus deutlich hervorgeht, dass in seiner Aufzählung der einfachen Ele- mente auch als solche vorkommen: Arterien, Venen, Schleimhaut, seröse Haut, Drüsenparenchym ete. Die Gesamtheit gleichartiger Gebilde dieser Art ist ihm ein System und solcher Systeme stellt er 21 auf. Jedes derselben unter- sucht er dann auf das genaueste in bezug auf seine Zusammensetzung und seine Eigenschaften, soweit Skalpell und Reagentien (Kochen, Mazeriren, Al- kalien, Säuren ete.) darüber Belehrung geben können. Seine überaus gründ- lichen und genauen Untersuchungen blieben bis in die zwanziger Jahre maß- gebend für die Darstellung der einfachen Elemente des organischen Aufbaues. In den zwanziger Jahren begann aber die neue Aera dadurch, dass man durch das Mikroskop systematisch die Substanzen des Körpers auf ihre feinern Form- bestandteile untersuchte und dass damit der Begriff: „partes elementares* auf- trat, während zugleich der Begriff: „partes similares* verloren ging. — Die erste mir bekannte bewusste Aeußerung dieser Richtung ist Sigismund Schultze’s: Prodromus descriptionis formarum partium elementariarum in animalibus. Bero- lini 1828. — Es ist nicht notwendig noch besonders auszuführen, wie die er- sten wirklich brauchbaren Untersuchungen der partes elementares aus den Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. 363 q Neben der physiologischen Grundanschauung ist noch eine zweite Methode, die Formen verstehen zu lernen, anzuerkennen. Es ist die- jenige, welche man als „genetische Anatomie“ bezeichnen könnte. Diese Methode stellt sich die Aufgabe, mit den einfachsten Formen eines Organs zu beginnen und allmählich die verwickeltern Formen desselben dadurch abzuleiten, dass die Entstehung der letztern auf einseitige Weiterentwicklung, auf fortschreitende Differenzirung der einzelnen Bestandteile ete. zurückgeführt wird. Das Hilfsmittel hier- zu bieten uns die Embryologie und die Zootomie. Beide ge- statten uns, dasselbe Organ, welches uns in dem erwachsenen mensch- lichen Körper in verwickeltern Gestalten entgegentritt, in seiner ein- fachsten Gestaltung zu sehen und dadurch gewissermaßen den Grundriss seines ganzen Baues zu erkennen. Die Embryologie zeigt uns, wie in Wirklichkeit die ursprünglich einfachen Anlagen der Teile sich in der weitern Entwieklung mehr und mehr verwickeln, bis sie endlich ihren ausgebildeten Zustand er- reichen. Die Anschauung dieser Genese gewährt uns denselben Vor- teil, welchen wir genießen, wenn wir von einem Gemälde oder einer Arabeske zuerst den Entwurf sehen und dann die weitere Ausführung allmählich verfolgen können. Uebersehen wir aber nicht, dass wir dadurch nur eine leichtere Auffassung der Gestalt als einer solchen erhalten, etwa so, wie wir uns ein Achteck leichter vorstellen können, wenn wir es als ein Viereck mit abgestumpften Ecken denken, — und dass wir, genau genommen, die Form inihrerBedeutung darum noch nicht besser verstehen. In dieser Beziehung leistet die Zootomie mehr. Sie gewährt uns durch die Aneinanderreihung gewisser Formen desselben Organs in der Tierreihe ein ähnliches, wenn auch nur schematisches Bild der Genese der Organe, aber sie gewährt uns auch zu gleicher Zeit die Möglichkeit eines Verständnisses der Organe. Um dieses zu leisten, muss sie aber wieder von der physiologischen Anschauungsweise aus- gehen. Sie kann ja die Reihen nicht gewinnen, wenn sie nicht zu den einzelnen dem Organismus notwendigen Funktionen die materiellen Substrate in der Tierreihe aufsucht. Dass sie wirklich diesen Weg verfolgt, beweist unter anderm das beständig wieder angeregte Suchen nach den Geruchsorganen und den Gehörorganen der Insekten. Die Grundbedingung für das Zustandekommen der Funktion muss dabei dreißiger Jahren datiren, und wie dann durch Schleiden und Schwann die heu- tige Histologie als die Lehre vom Bau und dem Leben der Elementarteile ge- schaffen wurde. — Bichat stand also trotz seiner höchst sorgfältigen und wert- vollen Arbeiten noch ganz auf dem Standpunkte des Faloppia und hatte keine Ahnung von unserer heutigen Histologie, ist demnach auch nicht ihr Schöpfer. Der Name „Histologie“ ist von L. Mayer eingeführt (über Histologie und eine neue Einteilung der Gewebe. Bonn 1819). Derselbe steht übrigens ebenfalls noch auf dem Standpunkte der partes similares. 364 Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart. schon in der Hauptsache richtig erfasst sein, und hat man dann die ganze Reihe gleichbedeutender Organe vor sich, so kann man erken- nun, was in den einzelnen Gliedern derselben das Gemeinschaftliche und deswegen das Wesentliche ist und kann somit den Grundsatz und den eigentlichen Kern des Aufbaues von dem mehr Zufälligen und Nebensächlichen unterscheiden. So erkennen wir durch Ver- gleichung von Kiemen und Lungen als die Grundlage des Baues der Lunge und der Atmungswerkzeuge überhaupt die Ausbreitung eines Kapillarnetzes derart, dass das in demselben enthaltene Blut den Sauerstoff aus der Luft oder dem Wasser aufnehmen kann; ziehen wir aber die Atmungsorgane der Insekten mit in die Betrachtung, so erkennen wir als das Grundprinzip des Atmungsapparats die Mög- lichkeit der Zuführung der Luft zu allen Teilen des Körpers und er- kennen in den Kiemen und Lungen nur die Eingangspforte für die Luft und in dem Gefäßsystem das Mittel für die Verteilung derselben in dem ganzen Körper, sodass wir genötigt sind, das Gefäßsystem in dieser einen seiner Beziehungen mit zu den Atmungzwerkzeugen zu rechnen. Andererseits finden wir aber auch bei den Tieren manche einsei- tige Ausbildung, welche wir, wenn wir auf dieselbe aufmerksam ge- worden sind, in dem menschlichen Bau der gleichen Teile wieder erkennen und dadurch diese besser verstehen. So verstehen wir z.B. das menschliche Kiefergelenk nur, wenn wir die einzelnen Arten seiner Bewegungen in einseitiger Ausbildung bei Karnivoren, Nagern und Einhufern kennen gelernt haben. Es ist demnach unverkennbar, dass die Zootomie ihren Wert, das richtige Verständniss der organischen Formen zu unterstützen und zu ergänzen, nur dann gewinnen kann, wenn sie nach der physio- logischen Methode arbeitet und sich nicht darauf beschränkt, nur eine Beschreibung der Formenverschiedenheiten zu liefern. — Selbstver- ständlich ist es vorzugsweise die Anatomie der Wirbeltiere, welche der menschlichen Anatomie diesen Nutzen gewähren kann, wenn auch die Anatomie der Wirbellosen manchen wichtigen Beitrag dazu zu liefern im stande ist. Ich habe in dem Bisherigen die Anatomie nur für sich im Auge schabt d. h. als ein naturwissenschaftliches Fach. Ihre engen Be- ziehungen zu den medizinischen Fächern verlangen indess doch noch einige Worte der Berücksichtigung. Dass der Mediziner sowol für die Pathologie als für die Chirurgie nie zu viele anatomische Kenntnisse haben kann, ist unbestritten; und es fragt sich nun, wie die Anatomie mit Rücksicht auf diese Doktrinen als Lehrfach behandelt werden soll. Vor allen Dingen muss die Anatomie überhaupt einmal ordentlich gekannt sein. Dass die physiologische Methode vorzugsweise geeignet Meyer, Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwant. 365 ist, das Studium derselben zu erleichtern, glaube ich in dem Bisherigen genügend dargelegt zu haben. Diese Methode gewährt aber auch als Vorbereitung für die praktischen Fächer entsprechende Vorteile. Denn wer vonvornherein gewöhnt ist, die einzelnen Organe stets in ihren Beziehungen zu ihren Funktionen anzusehen, der wird auch die genauere Behandlung ihrer normalen Funktionen in der Physiologie und ihrer abnormen Funktionen in der Pathologie leichter mit den Organen in Zusammenhang bringen und somit leichter verstehen können. Nicht minder wird derjenige, welcher die Knochen, Muskeln und‘ Bänder zugleich mit ihren mechanischen statischen Beziehungen kennen ge- lernt hat, darin eine sehr große Erleichterung für das Studium eines beträchtlichen Teiles der Chirurgie finden; erkennt ja die Chirurgie selbst die Förderung ihrer orthopädischen Richtung durch die Bearbei- tung des Knochengerüstes im Sinne der physiologischen Richtung der Anatomie rückhaltlos an. Es zeigt sich somit die physiologische Grundanschauung für die Behandlung des anatomischen Materials nicht bloß als eine Erleichte- rung und als die Grundbedingung eines verständigen Studiums der Anatomie, sondern sie ist auch die beste Grundlage für das richtige Verstehen der Störungen des gesunden Lebens des Organismus, seien diese Störungen in den Funktionen der Teile oder in den mechanischen Verhältnissen derselben begründet. Die Chirurgie verlangt aber für ihre Zwecke eine besondere An- schauungsweise des anatomischen Materials, indem sie in vielen Fällen eine besondere Wichtigkeit auf die gegenseitigen Lagenverhältnisse der Teile zu legen hat. Kenntniss der Teile wird dabei natürlich vorausgesetzt, und insofern diese Kenntniss am geeignetsten durch die physiologische Methode erworben wird, kann dieses Verlangen der Chirurgie keinen Gegengrund gegen die physiologische Behandlungs- weise abgeben; aber auch selbst für die Erfassung der topographi- schen Verhältnisse, namentlich der Extremitäten, bietet diese Be- handlungsweise große Vorteile, indem sie im Zusammenhang mit dem Mechanismus der Gelenke die Muskeln in physiologische Gruppen zer- legt, deren Lagerung sich schon aus den Bewegungsarten des Gelenkes von selbst ergibt. Im übrigen ist nun aber allerdings das Studium der gegensei- tigen Lagenverhältnisse etwas Besonderes; es ist eine Art von ange- wandter Anatomie und muss mit Rücksieht auf ihren Zweck besonders behandelt werden. Man hat deswegen diese Art der Behandlung des anatomischen Materials auch „chirurgische Anatomie“ genannt und verlangt, dass in dieser Doktrin die für die Chirurgie wichtigen Ge- genden speziell behandelt werden. Damit ist indessen unmögliches verlangt; denn erstens kann von dem Anatomen nicht gefordert wer- den, dass er mit der Chirurgie stets so auf dem Laufenden sei, dass er immer weiß, welche Teile die heutige Chirurgie besonders inter- 366 Krabbe, Beziehungen der Rindenspannung zur Bildung der Jahresringe. essiren, — und dann kann die Chirurgie selbst nicht sagen, welche Teile ihr besonders wichtig sind. Denn es ist nicht ein einziger Teil, nicht ein einziges Lagenverhältniss, welches nicht in der chirurgischen Kasuistik einmal von Wichtigkeit werden könnte, namentlich seit die Anwendung der Narkose viele Eingriffe erlaubt, welche man früher niemals gewagt hätte. Es bleibt also dem Anatomen nur übrig, die Topographie nach möglichst rationeller Methode so genau wie möglich zu besprechen, so dass die Chirurgie die Einzelheiten, welche sie braucht, wenn nötig, leicht ergänzen kann. Von dem Standpunkte aus, dass die topographische Anatomie vor- zugsweise der Chirurgie zu dienen hat, hat man vielfach für ihre Darstellung die Methode angewendet, dass man, wie die operative Chirurgie selbst, von außen nach innen eindringt. Indess wird der richtige Begriff der gegenseitigen Lagenverhältnisse nur dann ge- wonnen, wenn man mit einem gegebenen festen Teile im Innern z.B. einem Knochen beginnt und dasUebrige an denselben methodisch an- baut. Ist auf diese Weise die richtige Auffassung des Aufbaues und der Lagerungsverhältnisse gewonnen, dann kann man es ruhig dem Öperationskurse überlassen, die Methode der Auffindung durch Ein- dringen von außen zu lehren. Hermann von Meyer (Zürich). G. Krabbe, Ueber die Beziehungen der Rindenspannung zur Bildung der Jahresringe und zur Ablenkung der Markstrahlen. Sitzungsberichte der kgl. preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1882. LI. 51 $. Mit 2 Holzschnitten. Die Wirkungen der Rindenspannung auf die Struktur des Holz- körpers unserer Bäume und Sträucher wurden zuerst von Sachs er- wogen, welcher bereits 1868 die Vermutung aussprach, dass die Ver- schiedenheit zwischen Frühjahrs- und Herbstholz und die Bildung der Jahresringe bedingt werde durch den vom Frühjahr zum Herbste wachsenden Druck der Rinde. Dass dieser im Frühjahr geringer sei, als im Herbste, suchte Sachs aus der am Ende des Winters ein- tretenden Erweiterung und Vertiefung der Rindenrisse und der nach- folgenden durch das feuchte Frühlingswetter bedingten Quellung der Borke zu erklären, während im Laufe des Sommers nicht nur die Borke wieder austrocknet und sich zusammenzieht, sondern auch der Holzkörper dicker wird, die Spannung zwischen beiden also zunimmt. Diese jährliche Periode der Querspannung führt nun nach Sachs zur Entstehung der Jahresringe, indem das unter größerm Druck ge- bildete Herbstholz eines jeden Jahreszuwachses schmälere und in der Krabbe, Beziehungen der Rindenspannung zur Bildung der Jahresringe. 367 Regel auch diekwandigere Elemente erhält, als das aus breitern und dünnwandigern Zellen zusammengesetzte Frühjahrsholz. Die Experi- mente von H. de Vries schienen die Sachs’sche Ansicht zu be- kräftigen. Aus dem Bau des Holzes, welches unter einer durch Längs- einschnitte gelockerten, oder unter einer durch eine Ligatur verstärk- ten Rinde entstanden war, folgerte de Vries, dass der radiale Durch- messer der Holzfasern (Libriformzellen) von dem während ihrer Ent- stehung wirksamen Rindendruck abhängig sei, und zwar um so kleiner werde, je mehr der letztere wachse, und dass im nämlichen Verhält- nisse die Zahl und der Durchmesser der Gefäße abnehmen). Nachdem der Verf. darauf hingewiesen hat, dass die Sach s’sche Vorstellung von der jährlichen Periode der Rindenspannung und ihren Ursachen schon a priori für alle diejenigen Fälle nicht zutreffe, in welchen man es mit einer glatten unaufgerissenen Rinde zu tun hat, geht er daran, experimentell zu untersuchen, ob denn die Rinden- spannung vom Frühjahr bis zum Herbste hin wirklich zunehme und welche Größe sie überhaupt besitze. Er wählte zu Versuchsobjekten solche Stammteile, bezw. Aeste, an welchen die Rinde noch ringsum geschlossen, also noch keine Borkenbildung eingetreten war. Hier wurden Rindenstreifen von bestimmter Breite in der Querrichtung ab- gelöst und hierauf in ihre frühere Lage am Holzkörper zurückge- bracht. In der Mehrzahl der Fälle zeigten sie nun eine größere oder geringere Verkürzung. Um die Streifen wieder auf ihre anfängliche Länge zu bringen, mussten sie gewaltsam gedehnt werden, und die hierzu nötige Kraft war das direkte Maß ihrer ursprünglichen Span- nung. Aus zahlreichen derartigen Messungen, welche an Nadelhölzern (Picea excelsa, Larix europaea, Pinus silvestris, P. Strobus) und Laub- hölzern (Alnus glutinosa, Castanea vesca, Salix fragilis, S. pentandra, Caprea, Populus alba, Aesculus Hippocastanum , Sorbus aucuparia, Fraxinus excelsior) angestellt wurden, ergab sich: 1) So lange die Struktur der Rinde weder durch Borkenbildung, noch durch sonstige Vorgänge wesentliche Veränderungen erfahren hat, wächst ihre Tangentialspannung mit der Diekenzunahme des Holz- körpers. Bei Pinus Strobus betrug die Tangentialspannung eines 1 mm brei- ten Rindenstreifens für einen Radius von 11 mm 86,6 g, für einen Radius von 60 mm 170 g. Bei Castanea vesca wurde die Tangential- spannung eines gleich breiten Rindenstreifens bei einem Radius von 17 mm mit 290 g, bei einem Radius von 29 mm mit 466,6 bestimmt. 2) Der Radialdruck der Rinde nimmt mit der Diekenzunahme des Holzkörpers ab. Dieser Radialdruck wurde durch Division der Tangentialspannung durch den Radius gefunden. Er betrug beispielsweise bei Pinus 1) Siehe Flora, 1875. — Archives Ne&erlandaises, T. XI, 368 Krabbe, Beziehungen der Rindenspannung zur Bildung der Jahresringe. Strobus für das dünnere Stück 7,98, für das diekere nur mehr 2,83 g pro qmm. Bei Castanea vesca stellten sich die entsprechenden Werte auf 17 und 16.8. 3) Die Größe, um welche der Radialdruck vom Frühling bis zum Herbst zu- oder abnimmt, ist eine so geringe, dass ein Einfluss der- selben auf die Tätigkeit des Cambiumringes nicht angenommen wer- den kann. In den untersuchten Fällen erreicht diese Verschiedenheit niemals den Wert von 18, zeigte sich also durchwegs geringer als der Unter- schied in der Größe des Radialdruckes, welcher in verschiedenen Höhen der nämlichen Bäume gleichzeitig bestand. „Würde in Wirklichkeit die Differenzirung des Holzkörpers aus dem Cambiumringe von Aen- derungen in der Größe des radialen Rindendruckes beeinflusst, dann müsste die anatomische Beschaffenheit des Holzes an verschiedenen Stellen eines Organs eine verschiedene sein; es dürfte z. B. bei den untersuchten Bäumen in der Mitte oder an der Basis nur Frühlings- holz zur Ausbildung gelangen, während in der Krone nur Herbstholz erzeugt werden konnte. Derartige Unterschiede in der anatomischen Beschaffenheit des Holzes an verschiedenen Stellen eines Baumes sind aber nicht vorhanden ..... .“"). Endlich gibt es Bäume mit deut- lichen Jahresringen, bei welchen sich die abgelöste Rinde zu keiner Jahreszeit um eine messbare Größe verkürzi. Aus alledem folgt, dass die Ursache der Jahresringbildung nicht in einem vom Frühling bis zum Herbst sich steigernden Druck gesucht werden kann. Mit der Konstatirung dieses Tatbestandes hielt der Verf. seine Hauptaufgabe für gelöst. Die Erforschung der bei dem Zustande- kommen der Jahresringe tatsächlich wirksamen Ursachen lag außerhalb des Rahmens seiner Arbeit. Diese hatte sich vielmehr nur noch mit den anscheinend entgegenstehenden Resultaten der eingangs erwähnten Versuche von de Vries, sowie mit der Rindenspannung bei unregel- mäßig gebauten Organen und der hier zu beobachtenden „Ablenkung“ der Markstrahlen zu beschäftigen. Was nun die von de Vries er- mittelten Tatsachen betrifft, so ist zunächst die Begünstigung der Ge- fäßbildung durch Rindeneinschnitte keine notwendige Folge des ver- minderten Rindendruckes. Sie kann sehr wol auch aus dem Bestreben der Pflanze erklärt werden, der schädlichen Austrocknung der Ge- webe an der Wundstelle durch vermehrte Wasserzufuhr vorzubeugen, und derart einen raschen Verschluss der Wunde selbst zu befördern ?). 1) In den bis jetzt genauer untersuchten Fällen hat sich sogar gezeigt, dass die relative Entwicklung des Herbstholzes im nämlichen Jahresringe von oben nach unten zunimmt. Vgl. Sanio in Pringsheim’s Jahrb. f. wissensch. Bot. IX. 8. 115. Anm. d. Ref. 2) Zu anderm Zweck eingeleitete Versuche des Referenten zeigten tat- sächlich, dass, wenn zu der Verwundung durch Rindeneinschnitte eine voll- Krabbe, Beziehungen der Rindenspannung zur Bildung der Jahresringe. 369 Die Entstehung von Herbstholz unter einer Ligatur betrachtet der Verf. gleichfalls als eine pathologische Erscheinung, welche deshalb nicht wol zur Erklärung des Vorgangs im intakten Stamme herbei- gezogen werden könne, weil der normale Rindendruck durch die An- legung eines starren Verbands höchst wahrscheinlich um eine bedeu- tende Größe — das Zehn- bis Zwanzigfache — gesteigert wird, ein Wert, welchem gegenüber die beobachteten Schwankungen der Rin- denspannung geradezu verschwinden. Ob die letztere überhaupt einen erheblichen Einfluss auf die Wachstumstätigkeit des Cambiums gewinnen kann, erscheint fraglich, sobald man sich vergegenwärtigt, dass in lebenden Zellen hohe hydrostatische Druckkräfte, welche oft mehrere Atmosphären betragen, zu stande kommen, während nach den Untersuchungen des Verf. der Rindendruck im Mittel bei den Laubhölzern wenig über eine Atmosphäre, bei den Nadelhölzern etwa eine halbe Atmosphäre pro qmm beträgt. Was nun die Tangentialspannung der Rinde an exzentrisch ge- wachsenen Bäumen und Aesten betrifft, so ist diese an dem Orte maximalen Wachstums am größten — so lange wenigstens, als die Rinde keine wesentlichen Veränderungen erfahren hat. Der radiale Rindendruck jedoch ist an allen Punkten des Umfanges nahezu gleich groß. Die Ablenkung der Markstrahlen — welche in solchen exzentrisch gebauten Holzkörpern die Jahresringe nicht recht- winklig durchsetzen, sondern gegen die Seite des maximalen Wachs- tums gerückt erscheinen — kann daher nur durch einen von der hier stärker gespannten Rinde ausgeübten Zug verursacht sein. „Die Markstrahlen werden nach dem Orte maximalen Wachstums hinüber- gezogen infolge des größern Kontraktionsbestrebens der Rinde an dieser Seite.“ Dass es sich bei dieser Erscheinung um einen von der Rinde ausgeübten Zug handle, hatte schon Schwendener zunächst aus theoretischen Gründen gefolgert!), während Sachs?) und Det- lefsen?) annehmen, dass der Rindendruck auf der Seite des gering- sten Wachstums am größten sei, und dass infolge dessen die Mark- strahlen nach der Zone des maximalen Wachstums hinübergedrängt würden. Tatsächlich verhält sich die Sache umgekehrt, und es kann daher auch nicht der Rindendruck sein, welcher den größern Reich- tum der Seite des geringsten Wachstums an Herbstholz veranlasst. — Aus der interessanten Arbeit Krabbe’s ergibt sich, dass die eigent- ständige Entlaubung tritt, das nachträglich entstehende Holz in der Umgebung der Wunde weit gefäßreicher wird, als im ersten Fall allein — ein Resultat, welches zu gunsten des Verf. spricht. Siehe Berichte d. deutsch. bot. Ges. I. Jahrg. Heft 5 S. 218 ff. 4) Monatsbericht der Berl. Akad. der Wiss. 1880. 2) Arbeiten des bot. Instit. in Würzburg. Bd. II, S. 194 (1879). 3) Ebenda, Bd. II, 4. Heft (1882). 24 370 Joyeux-Laffuie, Anatomie und Entwicklung von Oneidium celticum , liche Ursache der Jahresringbildung noch zu erforschen ist. Krabbe war übrigens nicht der erste, welcher die Sachs’sche Ansicht von der Ursache der Jahresringbildung einer schärfern Kritik unterzog. Vor wenigen Jahren hat Russow, gestützt auf seine Uutersuchungen über die Entwicklung des Hoftüpfels und der Membran der Holzzellen, einige sehr gerechtfertigte Bedenken gegen die Zulässigkeit jener An- schauung geäußert und die Vermutung ausgesprochen, dass die Jahres- ringbildung in erster Linie durch den im Herbst sinkenden Turgor der Cambiumzellen bedingt werde, der wiederum auf einer Verarmung des Plasmas an im Frühjahr reichlich vorhandenen „wasseranziehenden Verbindungen“ beruhen dürfte!). Durch Krabbe wissen wir nun mit ziemlicher Sicherheit, dass der Rindendruck für das Zustandekommen der Jahresringe nicht länger verantwortlich gemacht werden kann. Es wird nun die Ursache vielleicht im Cambium selbst zu suchen sein, was schon Nördlinger angedeutet hat?), und es bleibt abzuwarten, ob der oben mitgeteilten Ansicht Russow’s aus weitern Untersuchun- gen festere Stützen erwachsen. K. Wilhelm (Wien). J. Joyeux-Laffuie, Organisation et developpement de l’Oncidie (Oneidium celticum Cuv.). Arch. zool, exp. gen. t. 10. 1882, p. 225—383 avec 6 pl. Wie alle Gruppen von zweifelhafter systematischer Stellung hat die kleine Familie der Onchidiidae, amphibisch lebende Nacktschnecken, welche ihr Hauptverbreitungszentrum im indo-pazifischen Gebiet ha- ben, von jeher das Interesse der Malakozoologen auf sich gezogen. Gewöhnlich wurden sie trotz der opisthobranchen Lage des Herzens zu den Pulmonaten gestellt, da sie angeblich durch eine Lunge, die sich am Hinterrande des Körpers in der Nähe des Afters öffnete, atmen sollten. Es ist v. Ihering’s Verdienst, zuerst nachgewiesen zu haben, dass diese vermeintliche Lunge in Wahrheit eine Niere ist, welche aber doch zum Teil respiratorischen Funktionen dient. Die Hauptmasse des vorher als Lunge aufgefassten Organs ist Niere, nur der erweiterte und modifizirte Endabschnitt ist Lunge, und dieses Organ gewann für v. Ihering eine besondere Wichtigkeit, weil wir an ihm verstehen lernen, wie die Lunge der Stylommatophoren phylogenetisch entstan- den zu denken ist — nämlich durch Modifikation des Endabschnittes der Niere opisthobrancher Formen (daher sein Name „Nephropneusten“). 1) Bericht über die 134. Sitzung der Dorpater Naturforscher-Gesellschaft am 24. September 1881. (Neue Dorp. Zeitung 1881). — Bot. Zeitg. 1882 Sp. 182 (Referat). 2) Nördlinger, Deutsche Forstbotanik, I, S. 10. Joyeux-Laffuie, Anatomie und Entwieklung von Oneidium celticum, 371 Onchidium sollte den ersten Schritt dieser Umwandlung repräsentiren und wurde daher von ihm als Stammform der Nephropneusten, bezw. als denselben nahestehend betrachtet, wozu die amphibische Lebensweise und die unzweifelhafte Verwandtschaft mit den Opisthobranchiern gut zu stimmen schienen. Allerdings ließen sieh gegen diese Theorie schon damals schwere Bedenken geltend machen — Ref. erinnert nur an die in ihr vorausgesetzte Abstammung beschalter von nackten Formen —, die endgiltige Entscheidung musste aber verschoben blei- ben, bis uns erneute Untersuchungen über die noch sehr mangelhaft bekannte Anatomie und die ganz unbekannte Ontogenie der Gruppe genügenden Aufschluss gegeben haben würden. Diese Aufgabe ist jetzt im wesentlichen gelöst durch eine um- fassende monographische Bearbeitung des Onchidium celticum, welche Hr. Joyeux-Laffuie auf Anregung von Lacaze-Duthiers aus- geführt hat. Die anscheinend äußerst gründliche Arbeit berücksichtigt gleichmäßig Anatomie, Biologie und Embryologie, letztere freilich ohne Anwendung der Schnittmethode und ohne Eingehen auf die Keimblätterlehre und andere moderne embryologische Gesichtspunkte. Aus dem reichen Inhalte heben wir als für uns zunächst von Interesse hervor, dass die Lunge der Autoren für eine echte Niere erklärt wird, deren Zirkulation auch in der für die Molluskenniere charakteristi- schen Weise in die venöse Blutbahn eingeschaltet ist. Den Lungen- endabschnitt v. Ihering’s kennt Joyeux nicht, doch fungirt das Organ, wenn das Tier Luft atmet, als Lunge. Diese Atmung ist in- dess nur ein Notbehelf; die Hauptatmung bleibt die Wasser - Kie- menatmung, wie schon daraus hervorgeht, dass das Tier (experimen- tell nachgewiesen) beliebig lange Zeit (Monate) unter Wasser zu- bringen kann, aber durchaus nicht an der Luft. Als Kiemen fungiren die Rückenfortsätze, deren Bau und Zirkulationsverhältnisse damit auch vollkommen stimmen (für v. Ihering, gegen Semper). Aus der Anatomie des Verdauungstractus mag die Entdeckung eines Kie- fers hier genannt werden, wodurch der gleiche Fund von Binney bei Oncidiella bestätigt wird; im Geschlechtsapparat erregen zwei mächtige paarige Eiweißdrüsen unser Interesse. Die Entwicklungsgeschichte macht uns mit einem wohlausgebil- deten typischen Gastropodenvelum bekannt; die Perikardialverbindung der Niere besteht nur kurze Zeit bei der Larve, um dann spurlos zu verschwinden; es ist das eine Höhe der Differenzirung, die noch von keinem andern Mollusk bekannt geworden ist, denn auch bei Chiton, wo sie von Haller (Arb. Wien. zool. Inst. 4) gegen Sedgwick kürzlich bestritten wurden, sind sie vorhanden, wie Herr van Bem- melen, der darüber nächstens eine Notiz veröffentlichen wird, Ref. schon jetzt mitzuteilen gestattet hat!). Für Onchidium kann man diese 4) Mittlerweile im Zool. Anz. Nr, 142. 43 erschienen, 24° 372 Joyeux-Laffuie, Anatomie und Entwicklung von Oneidium celticum merkwürdige Tatsache wol als verbürgt betrachten, da sie auch ent- wieklungsgeschichtlich nachgewiesen ist; weitere Folgerungen lassen sich daran noch nicht knüpfen. Die Resultate, zu denen Verfasser kommt, sind folgende. Während die Anatomie des Verdauungstractus keine bestimmte verwandt- schaftliche Beziehungen erkennen lässt, schließen sich die Onchidien im Zirkulations- und Respirationssystem und in der Entwicklung (Velum, Abwerfen der Larvenschale ete.) eng an die Nudibranchien an. Dagegen bieten das Nervensystem und die Geschlechtsorgane mehr Beziehungen zu den basommatophoren Pulmonaten. Da für die Begrenzung der letztern Klasse dem Autor der physiologische Ge- sichtspunkt — die ausschließliche oder fakultative Luftatmung — un- bedingt maßgebend ist, so erklärt er sich trotz der anatomischen Bedenken doch für Beibehaltung der Onchidiidae bei den Pulmonaten und lässt nur ihre nähere Stellung innerhalb der Gruppe unent- schieden. Dieser Schlussfolgerung kann Ref. in keiner Weise beistimmen. Dass physiologische Gesichtspunkte für morphologische Betrachtungen nicht maßgebend sind, darüber ist heute kein Wort mehr zu verlieren; von dem selbstverständlich allein richtigen morphologischen Stand- punkte aus wäre aber auch wol Herr Joyeux zu andern Resultaten gekommen. Für den Ref. ist Onchidium ein — vielleicht in einzelnen Punkten aberranter — Nudibranchier, der ganz unabhängig von den Pulmonaten selbständig zur Luftatmung überzugehen im Begriff ist. Die Aehnlichkeit, welche das Nervensystem und die Geschlechtsorgane mit dem der Süßwasserpulmonaten bieten sollen, ist ganz oberfläch- licher Natur. Der Autor selbst vermag auch nicht ein charakteristi- sches Merkmal anzugeben, dessen Besitz nur Onchidium und den Pul- monaten zukäme; die allerdings sehr merkwürdige (schon Semper) bekannte Lage des Vas deferens in der Muskulatur des Fußes kann nieht als ein solches betrachtet werden, da diese Eigentümlichkeit mit keinem typischen Pulmonaten, sondern nur mit Vaginulus geteilt wird, einem Onchidium jedenfalls nahe verwandten Genus, das auch mit sehr zweifelhafter Berechtigung zu den Pulmonaten gestellt wird '). 1) Auch die Lage der Augen an der Spitze der Tentakeln bei Onchrdium, welcher Charakter mit den Prosobranchiern und stylommatophoren Pulmonaten, aber mit keinem Opisthobranchier geteilt wird, kann für eine Verwandtschaft mit den Pulmonaten nicht verwertet werden. Das lehren die höchst interes- santen ontogenetischen Daten, die wir Joyeux verdanken. Bei Onchidium entstehen die Augen auf der Körperoberoberfläche und werden von den viel später auftretenden Tentakeln passiv mit emporgetragen, während bei den stylommatophoren Pulmonaten zuerst die Tentakeln sich erheben und dann erst an ihrer Spitze die Augen sich bilden. So lehrt die ganz verschiedene Bil- dungsweise, dass das höhere Differenzirungsstadium, welches das Heraufrücken der Augen an die Spitze der Tentakeln bildet, in beiden Fällen ganz unab- hängig von einander erreicht worden ist. Joyeux-Laffuie, Anatomie und Entwicklung von Oneidium celticum. Alto) Dagegen stimmt Onchidium mit den Nudibranchien bezw. dem größten Teil derselben überein in der Lage des Herzens, in den gesamten Kreislaufsverhältnissen bis auf das kleinste, in dem Besitz von Rückenkiemen, in der medianen Lage des Afters, in dem Besitz eines Kaugerüstes im Magen, in dem Auftreten eines großen Velums und einer vergänglichen Larvenschale während der Entwieklung, — alles Charaktere, welche zum Teil sich nur bei dieser Klasse finden, mit der auch die äußere Erscheinung geteilt wird. Das Resultat dieser Gegenüberstellung kann nicht zweifelhaft sein; Onchidium ist &in Nu- dibranehier und nur noch seine spezielle Stellung innerhalb der Klasse muss vorläufig noch unentschieden bleiben. Auch v. Ihering hat die nahe Verwandtschaft von Onchidium mit den Nudibranchiern in seinem Werke über das Nervensystem der Mollusken schon richtig erkannt, und wenn er dennoch trotz mancher anatomischer Bedenken (Opisthobranchie ete.) die Onchidien bei den Pulmonaten ließ, so ge- schah das einzig und allein auf die eigentümlichen Anschauungen hin, die er sich über die Beziehungen der Niere der Önchidien zu der Lunge der Pulmonaten gebildet hatte. Letztern aber kann Ref. nicht zustimmen. Wo man auch immer für die Phylogenie der Pulmonaten anknüpfen mag, die Niere der Onchidien ist eine echte Niere und nur in Anpassung an die Luftatmung in einem Funktionswechsel be- griffen, welcher, auch wenn man das Organ als werdende Lunge be- trachtet, jedenfalls mit der analogen Anpassungserscheinung bei den Pulmonaten morphologiseh nichts zu tun hat. Wer mit Ref. Onchidium für einen Nudibranchier erklärt, für den gewinnt die Entwicklungsgeschichte noch weiteres Interesse als die erste, welche die Ontogenie eines solchen bis zum Ausschlüpfen aus dem Ei verfolgt. Hier ergibt sich die merkwürdige Tatsache, dass der Embryo bis zu dem Augenblicke, wo die Larvenschale abge- worfen wird, genau die Entwieklung eines Prosobranchiers durch- macht. Das Herz ist prosobranch, der anfangs median gelegene Anus ist auf die rechte Seite gerückt, wo auch die Nierenöffnung zu finden ist, und die Schale besitzt einen gut entwickelten Spindelmuskel. Mit dem Abwerfen der letztern wird plötzlich in den Opisthobranchier- typus eingelenkt. Der Spindelmuskel verschwindet, durch eigentüm- liche Wachstumsvorgänge kehrt sich die Lage des Herzens um, so dass es opisthobranch wird, und After und Nierenöffnung rücken wie- der nach hinten in die Medianlinie; ganz zuletzt (erst nach dem Aus- schlüpfen) erscheinen dann die Kiemen. Diese interessanten Tat- sachen phylogenetisch verwerten und die (allerdings weit höher dif- ferenzirten) Opisthobranchier direkt von prosobranchen Stammformen ableiten zu wollen, dürfte angesichts vieler damit schwer vereinbarer anatomischer Tatsachen mindestens verfrüht erscheinen; jedenfalls aber zeigen sie, dass die bei vielen Nudibranchiern deutlich hervor- tretende Tendenz, wieder zur bilateralen Symmetrie zurückzukehren, 374 Noorden, Entwicklung des Labyrinthes bei Knochenfischen. erst eine sekundäre Reaktion auf den Verlust der Schale ist. Wenn eine solche Tendenz bei den übrigen nackten Gastropoden noch nicht deutlich hervortritt, so beweist das eben, dass die Nudibranchier seit dem Verlust der Schale eine bedeutend längere Stammesentwieklung durchgemacht haben, oder mit andern Worten, dass sie bedeutend höher differenzirt sind. Ref. unterscheidet daher in der Entwieklung der Mollusken fol- gende drei Perioden, von welchen es noch zweifelhaft bleiben muss, wie weit sie auch phylogenetisch durchlaufen worden sind. I. Bis zum Auftreten der un- paaren Schale. Periode der bila- teralen Symmetrie. II. Die Schale teilt sich in zwei bi- lateral symmetrische Hälften und passt sich dadurch der bilateral - symmetri- schen Entwicklung der übrigen Organe an, welche daher durch sie nicht ge- stört wird. II. Die Schale bleibt unpaar und verursacht eine Störung in der bila- teral- symmetrischen Entwicklung aller Weichteile, welche sich ihr durch La- geverschiebung oder einseitige Unter- drückung paariger Organe anpassen. Muscheln. Dentalien, Prosobranchier, Pteropo- den, Heteropoden, Pulmonaten, Tecti- branchier. III. Die Schale geht verloren, die Weichteile streben wieder zur bilate- ralen Symmetrie zurückzukehren. Nudibranchier. Die Cephalopoden, deren vom Hinterende des Körpers abgeson- derte Schale mit der der übrigen Mollusken vielleicht gar nichts zu tun hat, sind bei dieser Zusammenstellung absichtlich übergangen worden. Brock (Göttingen). Carl von Noorden, Die Entwicklung des Labyrinthes bei Knochenfischen. Arch. f. Anat. und Entwicklungsgesch. Jahrg. 1883. 3. Heft. C. v. Noorden macht uns in dieser Schrift mit einer ganzen Reihe neuer, den bisherigen Erfahrungen teilweise direkt entgegen- stehender Beobachtungen bekannt. Nachdem die erste Anlage des Gehörorgans in der schon von frühern Forschern beschriebenen Weise durch Abschnürung eines in das Mesoderm eingewachsenen Ektoderm- bläschens entstanden ist, ändert sich die ursprünglich gleichbeschaffene Epithelauskleidung insofern, als eine allgemeine Abflachung der Epi- thelzellen erfolgt und nur an einer Stelle — am ventralen medialen Saum der Blase — die zylindrischen Zellen persistiren. Die Stelle Noorden, Entwicklung des Labyrinthes bei Knochenfischen. 35 ist die erste Anlage der Maculae acusticae. Die Otolithen entstehen als kleine Körnchen, welche frühzeitig beim Häring, spät bei Salmo- niden zu 2 Steinchen sich vereinen. Danach beginnen weitere Diffe- renzirungen des Epithels; es verdickt sich an drei Stellen zu ovalen Wülsten, welche — rein epitheliale Erhebungen — die ersten Anlagen der Cristae acusticae darstellend, schon vor dem Auftreten der Bogen- gänge vorhanden sind. Diese letztern entwickeln sieh nieht durch Aussackung der Ohrblasenwand, wie das für die höhern Tiere ange- nommen wird, sondern entstehen durch Einwachsen um die Ohrblase gelegener Gebilde. Die nähern Vorgänge sind folgende: Gleichzeitig mit dem ersten Erscheinen der Härchen auf den Cristae acusticae entwickelt sich am lateralen Umfang der Ohrblase ein Wulst, der an drei Stellen sich verdiekend und gegen das Öhrblasenepithel vor- wachsend dieses einstülpt. Den drei Erhebungen gegenüber entstehen drei Gegenwülste, welche den erstgenannten entgegenwachsend sich mit diesen über je eine Crista acustica hinweg vereinen. Aus der Vereinigung von Wülsten und Gegenwülsten sind vollständige Balken entstanden. Diese Beobachtungen bestätigen die in Vergessenheit ge- ratenen Mitteilungen von Carl Vogt. Die zwischen den Balken aus- gesparten Räume werden zu Bogengängen und Utrieulus, der Saceulus entsteht durch eine Ausbuchtung des letztern. Der Ductus endolym- phatieus scheint sich viel später zu entwickeln. Die Differenzirung in Bogenkanal und Ampulle geschieht wahrscheinlich durch Verenge- rung des Kanals und Weitbleiben des die Crista enthaltenden Ab- schnittes. Besonders bemerkenswert sind die histologischen Vorgänge. Die Balken entstehen nämlich nicht durch Epithelverdickung, nicht durch Bindegewebsbildungen, sondern sie bestehen aus einer nahezu homo- genen, kernlosen, nur von einzelnen Streifen durchzogenen Masse, welche nach v. Noorden eine Basalmembran, ein in besonders großer Menge geliefertes Absonderungsprodukt epithelialer Zellen ist. Ich kann das Vorhandensein dieser Masse auch an meinen Präparaten bestätigen. Die weitern Schicksale dieser Basalmasse sind sehr eigen- tümliche: Bindegewebszellen wandern in sie ein, die Basalmasse ver- fällt einer Gewebsmetamorphose, bald sind die Balken zu Bindegewebe geworden, das weiterhin in Knorpel umgewandelt wird. Gelegentlich dieser Untersuchungen hat von Noorden auch Be- obachtungen über die Entstehung des Knorpels am Schädel gemacht, welche ihn zu sehr bestimmten weittragenden Schlüssen veranlassen. Er fand bei Embryonen von Salmo trutta rechts und links von der Chordaspitze, der obersten Strecke der Chorda fest anliegend, dicht gedrängte Zellen angehäuft, welche sich uno continuo nach dem un- tern und hintern Rand der Gehörblase fortsetzen und auch deutlich ununterbrochen in die Kiemenbogen übergehen. Später kann man diese Zellenhaufen auch an andern Teilen des Schädels auftreten sehen, 376 Noorden, Entwicklung des Labyrinthes bei Knochenfischen. aber immer lässt sich an Serienschnitten der unmittelbare Konnex mit der Zellgruppe an der Chordaspitze nachweisen. An etwas ältern Fischen sieht man, wie um die Chorda herum diese Zellenhaufen sich in echtes Knorpelgewebe umwandeln. Die Verknorpelung tritt immer da zuerst auf, wo diese Zellen zuerst entstanden sind und pflanzt sich dann in derselben Folge, wie dieses knorpelbildende Gewebe weiter gekrochen war, in demselben fort. Daraufhin behauptet v. Noorden, dass am Schädel nirgends Knorpel entstehe, der sich nicht in dem oben erwähnten Zusammenhang mit dem die Chorda umlagernden Zellenhaufen befinde. Diese Behauptung gewinnt da- durch noch besondere Bedeutung, weil sie im Einklang mit einer von Hensen in einer Vorlesung entwickelten Betrachtung steht, nach welcher in der unmittelbaren Umgebung der Chorda, im Zusammen- hang mit der Scheide eine knorpelbildende Schicht erzeugt wird, welche dann kontinuirlich weiterkriecht in Rippen, Extremitäten u.s.w. und später Knorpel bildet, da wo derselbe gebraucht wird. Zunächst sei bemerkt, dass das zuletzt Referirte einer ganzen Reihe bei andern niedern und höhern Vertebraten gemachter Er- fahrungen widerspricht; wir sind aber auch in der Lage, die Angaben von Noorden’s an denselben Objekten prüfen zu können. Ich habe im vergangenen Jahre gleichfalls Untersuchungen über die Entwicklung des Kopfskelets bei Knochenfischen und zwar eben- falls bei Salmoniden angestellt, welehe von Noorden wol unbekannt geblieben sind — die Ergebnisse sind in der Würzburger Festschrift veröffentlicht!) — und welche zu ganz andern Resultaten geführt ha- ben. Vorgreifend will ich hier schon bemerken, dass die von v. Noor- den untersuchten Salmoniden zu alt waren, um die schwierige Frage nach den ersten Anlagen des Skelets zu entscheiden, und dass es von Noorden auch an einer genügenden Reihe älterer Embryonen gefehlt haben muss, denn die Knorpelbildung verhält sich ganz an- ders, als vonNoorden sie schildert. Richtig ist, dass man in einem gewissen Stadium an den Seiten der Chorda dicht gedrängte Zellen- haufen findet, welehe sich bis zum untern und lateralen Umfang der Gehörblase ausdehnen. (Ich habe dieses Gewebe, soweit es wirk- lich zu Knorpel wird, Vorknorpel genannt). Die Bezeichnung Chorda- spitze muss aber wegfallen, denn die Chordaspitze ist bekanntlich eine ganze Strecke vollständig frei und von weit auseinanderstehenden spindel- oder sternförmigen Bindegewebszellen umgeben. Dieser Zu- stand besteht auch noch nach der knorpligen Differenzirung und ist schon von Carl Vogt richtig abgebildet worden ?). 1) Zur Entwicklungsgeschichte des Kopfskelets der Teleostier im zweiten Bande der Festschrift zur Feier des 300jährigen Bestehens der Julius-Maximi- liansuniversität zu Würzburg, gewidmet von der med. Fakultät daselbst. 1882. 2) Embryologie des salmones Taf. 7 Fig. 167. Biedermann, Ursache der Oeffnungszuckung. DIT. Auch der Zusammenhang der Zellenhaufen mit den Anlagen der Visceralbogen lässt sich bestreiten. Man findet an genau senkrecht geführten Schnitten selbst noch jüngerer Lachsembryonen eine deut- liche Lücke zwischen Ohrknorpelanlage und derjenigen der Visceral- bogen (s. meine Tafel III Fig. 15). Dass der vorknorpelige Belag der Ohrkapsel vollkommen von dem parachordalen Vorknorpel ge- trennt sei, lässt sich nicht behaupten, auch nicht an ganz jungen Lachsembryonen. Soviel ist aber sicher, dass der beide Massen ver- bindende Strang nur ein sehr dünner ist. Die knorplige Differen- zirung des Schädels erfolgt nicht durch Auswachsen eines Herdes, sondern vollzieht sich an ganz getrennten Stellen. Jede Ohrkapsel erhält einen, jede zur Seite der Chorda gelegene Vorknorpelmasse zwei isolirte Knorpelherde, sodass abgesehen von den Rathke’schen seitlichen Schädelbalken zu einer gewissen Zeit sechs getrennte Knor- pelinseln am Schädel nachzuweisen sind. Von einer von der Chorda aus weiterschreitenden Verknorpelung kann deshalb keine Rede sein. Aber wenn man auch dieser Tatsache der isolirt auftretenden Knorpelherde, die ich durch zahlreiche Präparate festgestellt habe, mit dem Einwurf begegnen wollte, dass die knorpligen Differenzirungen doch in einem ursprünglich von der Chorda aus entstandenen Gewebe sich vollziehen, dass durch den Nachweis isolirt entstandener Knorpel- herde der Zusammenhang, die Abhängigkeit des Schädelknorpels von dem parachordalen Gewebe keine Alteration erleide, selbst dann könnte die Behauptung von Noorden’s keine Gültigkeit beanspruchen. Man braucht nur ca. 10 mm lange Lachsemhryonen zu untersuchen, um sich zu überzeugen, dass die „seitlichen Schädelbalken“ Rathke’s außer jeder Beziehung zur Chorda sich entwickeln. Die Schädelbalken sind selbst noch zu der Zeit, wo wirklicher Knorpel in ihnen entsteht, scharf getrennt von den parachordalen Zellenhaufen und stehen mit diesen in keiner, selbst nieht in vorknorpliger Verbindung. Damit fällt der letzte Halt, an den sich die Behauptung von Noorden’s noch anklammern könnte. Philipp Stöhr (Würzburg). Ueber die Ursache der Oeffnungszuckung. E. Hering, Ueber Nervenreizung durch den Nervenstrom (Wiener akad. Sitzungsber. LXXXV. Bd. III. Abt. 1882). — W. Biedermann, Ueber schein- bare Oeffnungszuekung verletzter Muskeln (Wiener Sitzungsber. LXXXV. Bd. IH. Abt. 1882). — P.Grützner, Ueber das Wesen der elektrischen Oeffnungs- erregung (Breslauer ärztliche Zeitschrift. 1882. Nr. 23). — R. Tigers tedt, 4) Ueber innere Polarisation in den Nerven. 2) Zur Theorie der Oeffnungs- zuckung. (Mitteilungen vom physiolog. Laboratorium in Stockholm. II. Heft.) L. Hermann, Ueber das Wesen der Oeffnungserregung (Pflüger’s Archiv XXXI. p. 99 #.). Nachdem zuerst Hering a. a. O. auf einen besondern Fall von 318 Biedermann, Ursache der Oeffnungszuckung. Interferenz zwischen dem Demarkationsstrom eines Nerven und einem künstlichen Reizstrom hingewiesen hatte, in welchem eine eigentlich durch Schließung eines Nervenstromzweiges bedingte Zuckung als durch Oeffnung eines schwachen Kettenstromes bewirkt erscheint und umgekehrt eine durch Oeffnung eines Nervenstromzweiges herbeige- führte Zuckung als die Folge der Schließung eines schwachen Ketten- stromes, so dass hier die Verwechselung einer Schließungszuekung mit einer Oeffnungszuckung und umgekehrt möglich wird, und nachdem Ref. das tatsächliche Vorkommen solcher „scheinbarer“, durch äußere oder innere Nebenschließung des Demarkationsstromes bedingter Oeft- nungszuckungen bei elektrischer Reizung verletzter Muskeln nachge- wiesen und zugleich auf die Bedeutung aufmerksam gemacht hatte, welche unter Umständen der infolge der Durchströmung sich ent- wickelnde, entgegengesetzt gerichtete Polarisationsstrom für die frag- liche Erscheinung besitzen dürfte (l. e. p. 158, vergl. auch biolog. Centralblatt Bd. HI Nr. 18 p. 564 ff.), versuchten fast gleichzeitig Grützner und Tigerstedt alle bei indirekter Muskelreizung zu beobachtenden Oeffnungszuckungen als Schließungszuckungen zu deuten. Ihrer Anschauung zufolge würde also das Verschwinden eines elektrischen Stromes an und für sich niemals als Erregungsursache wirken, jede sogenannte Oeffnungserregung wäre vielmehr in ihrem Wesen eine Schließungserregung, entweder bedingt durch äußere, beziehungsweise innere Nebenschließung des Demarkationsstromes, im Falle der Reizstrom in nächster Nähe eines künstlichen Querschnittes eintritt und jenen daher während seines Bestehens zum Teil kom- pensirt, oder ausgelöst durch den im Augenblick der Oeffnung des Reizstromes sich im Nerven selbst oder zugleich auch durch eine äußere Nebenschließung abgleichenden polarisatorischen Gegenstrom, im Falle der unversehrte Nerv in der Kontinuität unter Bedingungen gereizt wird, welche das Entstehen eines genügend starken negativen Polarisationsstromes ermöglichen. Dieser letztere spielt dann eben ganz dieselbe Rolle wie der Demarkationsstrom in dem ersterwähnten Falle. Nach Grützner und Tigerstedt hätte man demnach zwei (hinsichtlich ihrer Entstehungsursache) verschiedene Arten von „schein- baren“ Oeffnungszuckungen zu unterscheiden: 1) Die zuerst vom Ref. (a. a. 0.) bei direkter Reizung entnervter Muskeln in ihrer wahren Bedeutung erkannten „Querschnitts-Oeff- nungszuckungen“!) und 2) die durch das plötzliche Hervorbrechen des dem Reizstrom 4) Ref. hatte vorher schon die Abhängigkeit der Oeffnungszuckungen vom Querschnitt auch bei indirekter Muskelreizung konstatirt. Doch blieb die Deu- tung der betreffenden Tatsachen damals noch zweifelhaft (vergl. biolog. Cen- tralblatt I. Bd. S. 746 ff.). Biedermann, Ursache der Oeffnungszuckung. 379 entgegengesetzt gerichteten Polarisationsstromes bedingten scheinbaren Oeffnungszucekungen, zu welchen höchst wahrscheinlich alle seinerzeit von dem Ref. als „primäre Oeffnungszuckungen“ bezeichneten Zuckungsformen (nach Abzug der mit denselben hinsichtlich der Form und des zeitlichen Verlaufs durchaus übereinstimmenden und daher ursprünglich als gleichwertig betrachteten Querschnitts- Oeffnungs- zuekungen) gerechnet werden müssen (vergl. biolog. Centralblatt I. Bd. S. 746 ff.). Ob, wie Grützner annimmt, auch die vom Ref. (Wiener Sitzungsber. LXXXIII. III. Abt. u. biolog. Centralblatt I. Bd. S. 746) als „sekundäre“ bezeichneten, dem Ritter’schen Oeffnungstetanus gleichwertigen Oeffnungszuckungen, welche durch ihr oft sehr ver- spätetes Auftreten und eine höchst auffallende Abhängigkeit von der Schließungsdauer des Reizstromes charakterisirt sind, ebenfalls als „scheinbare“, durch den polarisatorischen Gegenstrom bedingte Oeff- nungszuckungen aufzufassen sind, erscheint Ref. nicht wahrscheinlich. Nach dem bisher Erwähnten und mit Rücksicht auf die in einem frühern Referate enthaltenen ausführlichern Erörterungen dürfte es überflüssig sein, hier nochmals auf das Wesen und die Entstehungs- bedingungen der Querschnitts- Oeffnungszuckungen einzugehen, und es erübrigt daher nur noch die Gründe zu erörtern, welche Grützner und Tigerstedt für die Annahme geltend machen, dass gewisse Formen von Oeffnungszuckungen durch den negativen Polarisations- strom verursachte Schließungszuckungen sind. Es ist eine beson- ders durch du Bois-Reymond’s und Hermann’s Untersuchungen sichergestellte Tatsache, dass, wenn einem Nerven oder Muskel oder auch Teilen des elektrischen Organs der Zitterfische (vergl. in letz- terer Beziehung Bd. I des biolog. Centralblatts S. 698) durch unpo- larisirbare Elektroden ein Kettenstrom zugeführt wird, sich nach Oeffnung desselben die von den Reizelektroden berührten Stellen elek- tromotorisch ungleichartig verhalten, auch wenn sie vorher völlig gleichartig waren, und zwar derart, dass in einem angelegten Bogen ein dem Reizstrom entgegengesetzt gerichteter („negativer“) Polari- sationsstrom nachweisbar ist, dessen Stärke von Intensität und Dauer des ursprünglichen Stromes wesentlich abhängt !). Es ist nun mit Rücksicht auf das früher Gesagte leicht ersicht- lich, wie dieser Strom bei genügender Stärke dieselbe Rolle wie der Demarkationsstrom spielen könnte und unter denselben Umständen 1) Außer dieser negativen Polarisation der Muskeln, Nerven und des elektrischen Organs ist durch du Bois Reymond auch das Vorhandensein positiver Polarisation an den drei genannten Gebilden konstatirt worden, so dass unter Umständen die Durchströmung zur Entstehung eines dem po- larisirenden gleichgerichteten Stromes Anlass gilt. In einem folgenden Referate wird auf diese Erscheinung und die diesbezügliche neueste Publika- tion von du Bois näher eingegangen werden, 380 Biedermann, Ursache der Oeffnungszuckung. wie dieser zur Entstehung scheinbarer Oeffnungszuckungen zu führen im stande wäre. In der Tat versuchte denn auch schon Peltier, welcher im J. 1836 die negative Polarisation durchströmter Froschgliedmaßen zuerst beobachtete und dessen Untersuchungen den Ausgangspunkt der diesbezüglichen Arbeiten du Bois-Reymond’s bildeten, die Oeffnungszuckung durch den Polarisationsstrom zu erklären. Indess machte bereits du Bois-Reymond gegen diese Auffassung den Um- stand geltend, dass doch „diese Ladungen, um einen Strom durch den Nerven hervorzubringen, allem Anschein nach eine geschlossene Kette brauchen dürften, diese Bedingung aber eben durch das Oeffnen ver- loren geht“). Auch Matteneei schloss sich der Meinung Peltier’s an, dass durch die (negative) Polarisirbarkeit des Nerven die Er- scheinung der Oeffnungszuckung erklärt werden könne, ohne jedoch beweisende Tatsachen beizubringen ?). Was den eben berührten Einwand du Bois-Reymond!’s betrifft, so hat derselbe seither an Bedeutung verloren, indem erfahrungs- gemäß feststeht, dass die im Muskel oder Nerven selbst stattfindende innere Abgleichung eines Demarkationsstromes zur Auslösung schein- barer Oeffnungszuckungen durchaus hinreicht. Unter der Voraus- setzung genügender Intensität wird man daher ein Gleiches auch hin- sichtlich des durch den Reizstrom erzeugten negativen Polarisations- stromes erwarten dürfen, und es kam nur darauf an, auf experimen- tellem Wege zu beweisen, dass gewisse Oeffnungszuckungen wirklich in der angedeuteten Weise zu stande kommen. Grützner stellte Versuche an mit Rücksicht darauf, ob es nicht etwa gelingen würde, Unterschiede hinsichtlich des Auftretens der Oeffnungszuckung bei indirekter Muskelreizung zu konstatiren, je nachdem dem polarisatorischen Gegenstrom Gelegenheit geboten wird, sich im Momente der Oeffnung des Reizstromes durch eine äußere gut leitende Nebenschließung abzugleichen, oder wenn eine solche fehlt und nur die innere Abgleichung im Nerven selbst möglich ist. In der Tat zeigte sich nun, dass sich, insbesondere bei Anwendung metallischer Elektroden, immer ein Unterschied im Sinne der theore- tischen Voraussetzung bemerkbar machte, indem die Oeffnungszuckung viel früher (d. i. bei schwächerem Reizstrom) auftrat oder stärker war, wenn eine äußere Nebenschließung für den Polarisationsstrom vorhanden war, als im andern Falle. Auch Hermann teilt neuer- dings analoge Versuche mit, welche er bereits früher (1875/76) mit gleichem Erfolge angestellt hatte, deren Ergebnisse jedoch nicht ver- öffentlicht wurden. Es geht aus diesen Tatsachen hervor, dass der polarisatorische Gegenstrom unter den gegebenen Bedingungen bei 1) Unters. über tier. Elektr. I. S. 381. 2) Comptes rendus 5. 65. 1867. Biedermann, Ursache der Oeffnungszuckung 381 der Auslösung der Oefinungszuckung mitbeteiligt ist, wenn sich auch keineswegs daraus schließen lässt, dass er dieselbe unter allen Um- ständen allein bedingt. Dieser Schluss scheint jedoch Grützner und Tigerstedt hauptsächlich durch den Umstand gerechtfertigt, dass alle jene Momente, welche das Entstehen beziehungsweise die Zu- nahme eines negativen Polarisationsstromes begünstigen, auch das Auftreten der Oeffnungszuckung befördern. Der normale lebensfrische und unversehrte Nerv zeichnet sich, wie seit lange bekannt ist, durch eine gewisse Resistenz gegenüber der Erregung durch Oeffnung eines elektrischen Stromes aus, so dass es meist ziemlich starker Kettenströme bedarf, um nach kurzer Schließungsdauer Oeffnungszuckungen auszulösen. Wenn jedoch durch einen hierzu genügend starken Strom einmal eine Oefinungszuckung ausgelöst wurde, wirkt, wie Ref. zeigte '), unmittelbar nachher auch das Verschwinden vorher nur bei Schließung wirksamer, schwacher Ströme erregend, vorausgesetzt, dass in beiden Fällen dieselbe Ner- venstrecke vom Strome durchflossen wird. Nach kurzer Zeit der Ruhe verschwindet dieser Reizerfolg wieder vollständig. Nach Grütz- ner und Tigerstedt würde nun dieses Verhalten so zu deuten sein, dass der durch den stärkern Strom in der durchflossenen Strecke erzeugte, nach Oeffnung des Reizstromes allmählich abklingende, nega- tive Polarisationsstrom dieselbe während seines Bestehens für Aus- lösung „scheinbarer“ Oeffnungszuckungen disponirt, wobei natürlich die Abgleiehung des Polarisationstromes bei der gewöhnlichen Art und Weise den Reizstrom zu öffnen lediglich eine innere im Nerven selbst stattfindende sein kann. Tigerstedt, weleher eingehendere Untersuchungen über den zeitlichen Verlauf der negativen Polarisation von Froschnerven sowie über deren Abhängigkeit von Intensität und Schließungsdauer des Reizstromes anstellte, kam hierbei zu folgenden Resultaten: 1) Innerhalb gewisser Grenzen der Stromstärke ist die (negative) Polarisation des Nerven der Stärke des Reizstromes direkt propor- tional. 2) Wenn der polarisirende Strom während ungleich langer Zeit anf den Nerven einwirkt, so nimmt die Polarisation zu; dieselbe steigt im Beginn schneller und später immer langsamer, schließlich äußerst langsam ihrem Maximum sich nähernd. 3) Wenn der polarisirende Strom geöffnet wird, erreicht die Po- larisation augenblicklich ihren höchsten Wert und sinkt danach un- aufhörlich herab; dieses Herabsinken geschieht im Beginn sehr schnell, später aber immer langsamer, so dass die Polarisation noch lange Zeit nach dem Oeffnen des polarisirenden Stromes anhält und nur asymptotisch dem Nullpunkte sich nähert. 1) Vergl. biolog. Centralbl. I. S. 746 ft. 382 Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen. In allen drei Punkten zeigt aber auch die Oeffnungszuckung Uebereinstimmung mit dem negativen Polarisationsstrom. Ref. machte ferner darauf aufmerksam, dass durch Einwirkung verdünnter Lö- sungen von Kalisalzen oder alkoholischer Kochsalzlösung motorische Frosehnerven derart verändert werden, dass in einem gewissen Sta- dium selbst sehr schwache Kettenströme nach ganz kurzer Schließungs- zeit Oeffnungszuckungen vom Charakter der Querschnitts - Oeffnungs- zuckungen auslösen und dass diese Veränderung durch Auslaugen der betreffenden Substanzen wieder vollständig beseitigt werden kann !). Tigerstedt fand nun, dass auch „die Polarisirbarkeit des Ner- ven bei Behandlung mit alkoholischer Kochsalzlösung steigt bis zu 1,5 mal ihrer ursprünglichen Stärke“ und erblickt in diesem Umstande eine weitere Stütze für die Auffassung der betreffenden Oeffnungs- zuckungen als durch den negativen Polarisationsstrom bedingte Schließungszuckungen. Endlich wäre nach Tigerstedt auch das frühere Auftreten der Oefinungszuckung bei Reizung des durchschnittenen Plexus ischiadieus gegenüber der Reizung peripherer Nervenstellen, welches vom Ref. und Grützner konstatirt wurde, auf eine leichtere Polarisirbarkeit des betreffenden Nervenabschnittes zurückzuführen. Indess dürfte hier doch wol der Demarkationsstrom die Hauptrolle spielen. Wenn man die Gesamtheit der angeführten Tatsachen überblickt, so kann es kaum zweifelhaft sein, dass in der Tat gewisse Formen von Oefi- nungszuckungen als durch den negativen Polarisationsstrom bedingte Schließungszuckungen zu deuten sind; für eine so weitgehende Ver- allgemeinerung jedoch, wie sie der von Tigerstedt an den Schluss seiner Arbeit gestellte Satz statuirt, dass „die Ursache der Oeffinungs- zuckung und aller beim Oeffnen eines polarisirenden Stromes stattfin- denden Erscheinungen der (negative) Polarisationsstrom und in ge- wissen Ausnahmen der Nervenstrom (beziehungsweise Muskelstrom bei direkter Muskelreizung Ref.) ist“, dürften die bisher vorliegenden Tatsachen doch wol kaum genügen. Biedermann (Prag). Sir John Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen. Beobachtungen über die Lebensweise der geselligen Hymenopteren. Mit 31 Abbildungen und 5 lithographirten Tafeln. Autorisirte Ausgabe. Internatio- nale wissenschaftliche Bibliothek. 57. Band. Leipzig, Brockhaus, 1883. XVII und 380 S. 8°. In elf Kapiteln übergibt der Verf. dem Publikum eine Zusammenstellung älterer und neuerer von ihm mit Ameisen, Bienen und Wespen angestellter Versuche, welche die Erforschung der geistigen Beschaffenheit und der Sin- neswahrnehmungen dieser Tiere zum Gegenstand haben. Wie uns körperlich 1) Vergl. biol. Centralblatt Bd. I. S. 746 ff. Lubbock, Ameisen, Bienen und Wespen. 383 die anthropoiden Affen am nächsten stehen, so sind uns in ihren Lebensver- richtungen die sozialen Hymenopteren durch ihre großen Gemeinwesen, die Arbeitsteilung der Individuen, ihre Industrie, ihren Ackerbau und ihre Vieh- zucht am nächsten verwandt. Die Vorzüglichkeit der von Lubbock angestellten und ausführlich be- schriebenen Versuche liegt einerseits in der großen Zahl analoger Fälle, an- dererseits in der langen Zeitdauer, die auf Beobachtung der gleichen Nester verwendet wurde, eine Dauer, welche in einem Falle sich durch acht Jahre erstreckt. Verf. erkannte die Ameisen als besser zu Experimenten geeignet, da sie ruhiger und weniger reizbar sind als die Bienen, und er spricht ihnen auch höhere geistige Fähigkeiten und eine größere Biegsamkeit des Geistes zu. Die deutsche Ausgabe bringt übrigens auch in der englischen Ausgabe nicht enthaltene Untersuchungen. Einige allgemein interessante Resultate seiner Beobachtungen sind bereits früher in diesem Blatt (Bd. II, Nr. 4, Bd. I, Nr. 7 und Bd. III, Nr. 7) mitge- teilt worden. Bezüglich der Ameisen, mit deren Beobachtung der weitaus größte Teil des Buches sich beschäftigt, hat Lubbock etwa folgendes fest- gestellt. Der Blumenwelt gegenüber zeigen sich die Ameisen weniger wichtig als die Bienen, sind vielmehr, weil sie selten Kreuzbefruchtung bewirken, den Blumen nachteilig. Im Gegensatz zu Forel haben die Ameisenköniginnen nach Lubbock’s Untersuchungen die Fähigkeit, ein Volk zu gründen und dieses besitzt den Instinkt, Larven aufzuziehen. Auch die Arbeiterinnen legen Eier; diese aber ergeben stets lauter Männchen. Zuwider der Auffassung von De- witz kommt den Ameisen das Vermögen zu, nach Belieben aus einem und demselben (Königinnen-) Ei eine Königin oder eine Arbeiterin zu ziehen. Während es längst bekannt ist, dass die südlichen Ameisen Sämereien ver- schiedener Art sammeln und Getreidemengen aufspeichern, konnte Lubbock (S. 49) für Lasius niger konstatiren, dass er bisweilen Veilchensamen zu un- bekanntem Zweck in seine Nester trägt, eine Gewohnheit, welche sonst bei nordischen Ameisen noch niemals beobachtet wurde. Wenn Lubbock bei dieser Gelegenheit bemerkt, dass es noch nicht bekannt sei, auf welche Weise die Ameisen das Keimen der Körner verhüten (S.50), so macht demgegenüber Ref. auf die Bedeutung der von den Ameisen produzirten freien Ameisensäure für Konservirung aufmerksam, welche bekanntermaßen Samen sogar auf die Dauer keimunfähig macht. Für einige Ameisen ist die Haltung von Sklaven Lebensbedürfniss. Polyergus- Individuen sterben ohne Sklaven in 2—3 Tagen Hungers; Lubbock erhielt jedoch isolirte Exemplare 3 Monate lang am Leben, wenn er ihnen täglich 2—3 Stun- den einen Sklaven zur Reinigung und Fütterung gab. Die Sinneswahrnehmun- gen der Ameisen übertreffen vielfach die unsrigen; Ameisen nehmen auch die uns unsichtbaren ultravioletten Strahlen wahr; auch ist Lubbock geneigt anzunehmen, dass die Ameisen Töne vernehmen, die wir nicht hören können, und dass sie einen hochentwickelten Geruchssinn besitzen. Zur Auffindung ihres Weges lassen sie sich weniger vom Gesicht und Geruch leiten als wir. Nach allem ist man außer stande, die Fähigkeiten der Ameisen von denen der Menschen der Art nach zu unterscheiden ; sie weichen nur dem Grade nach ab. Auch in der Entwicklung des Ameisengeschlechts erkennt Lubbock eine merkwürdige Analogie mit der unsrigen; er findet 3 Haupttypen heraus, wel- che den 3 großen Phasen in der Entwicklung des Menschengeschlechts, dem Jäger-, Hirten- und Ackerbaustadium entsprechen. F. Karsch (Berlin). 354 Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte. Einfluss der Salze des Seewassers auf die Entwicklung des Frosches. Nach einer von der Pariser Akademie der Wissenschaften in der Sitzung am 2. Juli d. J. von H. de Varigni gemachten Mitteilung hat sich ihm aus seinen Untersuchungen über die Einwirkung der im Seewasser enthaltenen Salze auf Froschlaich und auf Kaulquappen ergeben, dass von allen diesen Salzen das Chlorkalium den am meisten schädigenden Einfluss auf die Ent- ' wicklung des Frosches im Ei und als Larve ausübt. H. Behrens (Halle). Die 56. Versammlung deutscher Naturforscher u. Aerzte wird am 18., 19., 20. und 21. September in Fr-iburg i. B. tagen. Während dieser Zeit wird von Festlichkeiten und Bewirtungen Abstand genommen. Erst für den 22. September, für den Tag nach dem öffentlichen Schluss der Versammlung, ist ein Besuch des Bades Badenweiler in Aussicht genommen. Die feierliche Eröffnung findet Dienstag den 18. September in der ersten allgemeinen Sitzung statt, deren Anfang auf morgens 9 Uhr festgesetzt ist. Die Sektionssitzungen werden am Nachmittag des 18., am Morgen des 21. und an den Vormittagen und Nachmittagen des 19. und 20. September abgehalten. In einer zweiten allgemeinen Sitzung, den 21. September nachmittags 1 Uhr, wird die Versammlung geschlossen. Wie immer sind auch niehtdeutsche Gelehrte äußerst willkommen, Mitglied mit Stimmrecht ist jeder Schriftsteller in einem naturwissen- schaftlichen und medizinischen Fach Teilnehmer ohne Stimmberech- tigung kann jeder werden, welcher sich mit einem der genannten Fächer be- schäftigt oder für ein solches sich interessirt. Mitglieder- und Teilnehmerkarten berechtigen nach der Entrichtung von 12 Mark zu dem Bezug einer Damenkarte. Für jede Damenkarte mehr muss der Betrag einer Teilnehmerkarte erlegt werden. Zur Entgegennahme von An- meldungen wird das Anmelde- und Auskunftsbureau vom 1. September an be- reit sein und von diesem Termin an Mitglieder- und Teilnehmerkarten gegen Einsendung des Betrages verschicken. Vorläufige Anfragen und Mitteilungen nimmt der Geschäftsführer Dr. Ad. Claus entgegen. Memoires sur le Basiotique, un nouvel os de la base du cräne situ& entre l’oceipital et le sphenoide, presente a la societe d’anatomie pathologique de Bruxelles . par M. le professeur Paul Albrecht. En vente ä Bruxelles chez G. Mayoler libraire. Prix 3 Fr. 50 Cent. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut“ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. rn De Br Biologisches Oentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. \ 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. II, Band. 1. September 1883. Nr. 13. Inhalt: Wollny, Künstliche Beeinflussung der innern Wachstumsursachen. — Sachs, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie. — 4ruber, Kernteilungsvorgänge bei einigen Protozoen. — Scehiemenz, Herkommen des Futtersaftes u. s. w. der Biene. — Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz (Mit Abbil- dungen). — Schiffer, Ueber eine toxische Substanz im Harn, — Buchner, Lungentuberkulose und Erzielung von Immunität gegen Infektionskrankheiten. — Fränkel und Geppert, Wirkungen der verdünnten Luft auf den Organis- mus. — Detmer, Pflanzenphysiologie. — Lindeman, Tomicus typographus und Agaricus melleus im Kampfe mit der Fichte. — Giftapparat der Skor- pionen. — Das Eierlegen von Diplax rubieundula. — Sehlechter, Ver- erbung der Größe bei Pferden. — Zur Morphologie der Arterien. E. Wollny, Untersuchungen über die künstliche Beeinflussung der innern Wachstumsursachen. Forsch. a. d. Geb. d. Agrikulturphysik, herausg. v. Wollny VI (1883) S. 97—134. Es ist eine bekannte Tatsache, dass man bei verschiedenen Pflan- zen die Zahl der Stengel, beziehungsweise die Zahl der seitlichen Aus- zweigungen dadurch vermehren kann, dass man in der einen oder andern Weise das Wachstum der Haupttriebe zu verhindern oder zu beeinträchtigen sucht. Um zu prüfen, wie weit in einzelnen Fällen dies Resultat wirklich erreicht wird, und um ein Urteil darüber zu gewinnen, in wie weit solche künstliche Eingriffe in wirtschaftlicher Beziehung sich von Nutzen erweisen, hat Verf., im Anschluss an dies- bezügliche Untersuchungen von Kraus, einige Feldkulturversuche an- gestellt, deren Resultate hier vorliegen. Das Wachstum kommt, wie wir annehmen können, dadurch zu stande, dass durch Imbibition die Zellhaut über ihre Elastizitätsgrenze gedehnt und dadurch die Einlagerung neuer fester Moleküle zwischen die alten ermöglicht wird. Will man also das Wachstum der Triebe verlangsamen, so wird man dies zunächst durch Wasserentziehung erreichen können, wodurch der Turgor der betreffenden Pflanzenteile, der hydrostatische Druck innerhalb der Zelle verringert wird. Hierauf beruht es, dass man versucht hat, durch Anwelken der Saatkartoffeln 25 386 Wollny, Kinstliche Beeinflussung der innern Wachstumsursachen. die Zahl der an denselben gebildeten Triebe und dadurch die Pro- duktionsfähigkeit der aus denselben hervorgehenden Pflanzen zu er- höhen. Um dem Einwand zu begegnen, dass der Erfolg des Anwel- kens der Saatknollen nieht dem Anwelken an sich, sondern dem Aus- keimen der Knospen während der Trocknung zuzuschreiben sei, hat Verf. die Trocknung des Saatguts in zweifacher Weise vorgenommen, einmal bei mäßiger Zimmertemperatur (S—10°) im Lichte, wobei fast alle Kartoffelsorten mehr oder minder lange Lichttriebe entwickelt hatten, und andererseits bei höhern Temperaturen (30—55° C.) über einem Ofen oder in einem Trockenschrank, wobei wegen der starken Wasserabgabe keine Keimung eingetreten war. In beiden Fällen er- gab sich aus den Versuchen mit voller Deutlichkeit, dass durch das Anwelken der Saatknollen die Zahl der geernteten Knollen im Ver- hältniss zu gleich schwerem frischem Saatgut ganz erheblich erhöht wird, und dass in derselben Weise der Ernteertrag im Gewicht noch steigt, ferner, dass die von angewelkten Kartoffeln erzielte Ernte in der Mehrzahl der Fälle absolut eine größere, relativ eine geringere Zahl größerer Knollen enthält als diejenige von frischem Saatgut, und dass die durch Anwelken der Saatkartoffeln hervorgerufene Er- tragssteigerung im stärksten Grade bei den Pflanzen aus kleinem Saatgut hervortritt. Nur ein Punkt ist hierbei zu beachten. Selbst- verständlich kann von einer größern Ertragsfähigkeit nur dann die Rede sein, wenn die durch Unterdrückung des Haupttriebes zur Ent- wicklung gelangten Seitentriebe im Boden sich kräftig weiter ent- wickeln und große Knollen bilden können. Dies wird aber nur er- reicht werden können, wenn der Boden genügend feucht ist und feucht bleibt, um es den Pflanzen zu ermöglichen, durch Imbibition den zum Wachstum notwendigen hydrostatischen Druck innerhalb der Zellen, der durch das Anwelken herabgemindert war, wieder herzustellen und aufrecht zu erhalten. Das heißt, eine bedeutendere Steigerung der Ertragsfähigkeit durch Anwelken der Saatkartoffeln ist nur auf feuchtem Boden und bei feuchter Witterung zu erwarten. Auch hier- für lieferten die Versuche einen schlagenden Beweis, indem im Jahre 1877 infolge der trockenen Beschaffenheit des Bodens während der ersten Hälfte der Vegetationszeit in diesem Jahre das Produktions- vermögen der Pflanzen durch das Anwelken der Saatknollen entweder gar nicht oder nur in unbedeutendem Maße erhöht worden war. Einen verzögernden Einfluss auf das Wachstum übt ferner bei den meisten Pflanzen das Lieht aus. Das ist bekanntlich die Ur- sache der Erscheinung des sogenannten positiven Heliotropismus, d. h. dass in den meisten Fällen die beleuchtete Seite der Pflanzenteile langsamer wächst, und daher der ganze Pflanzenteil sich nach der Lichtquelle hin konkav krümmt. Demgemäß befördert auch Licht- mangel in erheblichem Grade das Längenwachstum der Stengel. Lichtzutritt drückt es herab; und in gleichem Verhältniss wird dann Wollny, Künstliche Beeinflussung der innern Wachstumsursachen. 387 auch die seitliche Sprossbildung, die Bestockung, in ersterm Falle nur eine schwache und mangelhafte sein und in dem Grade zunehmen, als die Pflanzen stärker beleuchtet werden. Den Lichtzutritt kann man nun in gewisser Weise durch diehteres oder minder dichtes Aus- pflanzen reguliren und es ergibt sich aus dem Gesagten ohne weiteres — was auch durch direkte Versuche des Verf. bestätigt wird — dass bei größerer Dichtigkeit des Standes die Pflanzen länger sein, sich aber schwächer bestocken werden. Hier spielen indess noch andere Einflüsse mit, die aber in derselben Richtung wirken. Wir haben schon vorhin erwähnt, dass eine kräftige Weiterentwicklung der Sei- tenachsen nur dann erwartet werden kann, wenn der Boden genügend Wasser enthält, um den zum Wachstum nötigen hydrostatischen Druck im Innern der Pflanzen aufrecht zu erhalten. In derselben Riehtung ist aber auch die Bodentemperatur von Einfluss, da mit steigender Bodenwärme sowol die Ausbreitung als auch die Wasseraufnahme der Wurzeln gesteigert wird. Versuche des Verf. haben nun gezeigt, dass der Boden umso kälter ist und um so mehr an Wasser erschöpft wird, je enger die Pflanzen stehen. Ersteres erklärt sich daraus, dass die Pflanzen den direkten Einfluss der Besonnung auf die Bodenober- fläche hindern und einen großen Teil der zugeführten Wärme für die Verdunstung verbrauchen; letzteres durch die außerordentliche Transpi- ration von Wasserdampf aus den oberirdischen Organen der Pflanze, welche die Verminderung der direkten Verdunstung aus dem Boden infolge der Beschattung durch die Pflanzendecke bei weitem überwiegt. Diese drei Ursachen, der Liehtmangel, die größere Kälte und die größere Trockenheit des Bodens, die mit einem dichtern Pflanzenstand verbunden sind, wirken also in gleicher Weise darauf hin, dass die Bestockung in diesem Falle schwächer ausfällt. Anlage und Entwicklung der Nebenachsen kann nun weiter da- durch gefördert werden, dass man durch Abmähen oder Abweiden das Wachstum der Haupttriebe aufhebt. Auch hier ist es nicht die Entfernung des Haupttriebes allein, welche für die Bestockung von Einfluss ist, sondern auch die Veränderungen, die der Boden durch das Abmähen erleidet. Wie ein minder diehter Pflanzenstand den Boden feuchter und wärmer erhält, so ist auch — und auch dies be- legt der Verf. durch die Ergebnisse eigens hierzu angestellter Ver- suche — der Boden unter abgemähten Pflanzen feuchter und wärmer als unter nicht abgemähten. Dass ein öfteres Abmähen der Futter- pflanzen in Rücksicht auf deren Reproduktionsfähigkeit große Vorteile gewährt, unterliegt danach keinem Zweifel. In der Praxis verbietet sich natürlich die Vermehrung der Schnitte über ein gewisses Maß hinaus deshalb, weil der bei öfterm Mähen erzielte Gewinn die mit letzterm verbundenen Kosten nicht decken würde. Dagegen weist Verf. darauf hin, dass die vielfach geübte Praxis, bei trockener Witte- rung die Aberntung der Futterpflanzen zu unterlassen, irrationell ist. 25° 388 Wollny, Künstliche Beeinflussung der innern Wachstumsursachen. Denn anstatt dass die Pflanzen, wie man glaubt, den Boden feucht erhielten, ergibt sich aus dem Obigen, dass tatsächlich grade das Umgekehrte stattfindet. Verf. hat nun auch versucht, ob es vielleicht möglich sei, bei den Kartoffeln die Stolonenbildung und damit die Zahl der Kartoffelknollen durch Abschneiden des Krautes in einem frühzeitigen Entwicklungszustande zu vermehren, erhielt aber ein dem vorausgesetzten entgegengesetztes Resultat: es trat Verminderung der Zahl und des Gewichtes der Knollen ein. Durch Abkeimen der Saat- knollen wurde zwar eine Vermehrung der Nebenachsen erzielt, aber die Größe der geernteten Knollen nahm in gleichem Maße ab, sodass trotz der größern Zahl der geernteten Knollen das Gesamterträgniss ein geringeres war. Auch das Entfernen der Spitze des Triebes wird vielfach vorge- nommen, um durch stärkere Säftezufuhr das Wachstum der Blätter, der Seitenachsen oder der stehen gebliebenen Organe zu fördern. So werden z. B. die Tabakspflanzen geköpft, damit die Blätter sich besser ausbilden. Der Mais wird entgipfelt, um eine bessere Ernäh- rung der Kolben und vollkommenere Ausbildung der Körner zu er- zielen. Allgemein wird das Entgipfeln bei der Weinrebe vorgenommen; nicht minder dürfte es beim Hopfen von Vorteil sein, obwol es hier seltener vorgenommen wird. Bei der Weberkarde kann durch Fort- nahme der Endtriebe je nach Bedürfniss das Wachstum der Seiten- triebe in beliebiger Weise ebenfalls geändert werden. Dass indess die fragliche Operation nicht überall mit Vorteil angewendet wird, bewiesen Versuche des Verfassers mit Erbsen, Bohnen und narboni- scher Wicke. Hier wurde zwar durch das Entgipfeln, wenn dasselbe nicht zu zeitig vorgenommen wurde, die Zahl der Seitentriebe vermehrt, aber der Körner- und zum Teil der Strohertrag war vermindert. Offen- bar ist hier dieser nachteilige Einfluss des Entgipfelns darauf zurück- zuführen, dass durch diese Operation ein Sillstand in der Vegetation und hierdurch eine Verkürzung der Hauptwachstumsperiode herbeige- führt worden war. Auch für den Mais war von Pellegrini aufgrund von ihm angestellter Versuche behauptet worden, dass das Entgipfeln von ungünstigem Einfluss auf die Entwicklung der Körner sei. Doch hatte Pellegrini nicht bloß die Fahne (den männlichen Blütenstand), sondern auch die obern' Blätter entfernt, was letzteres natürlich den Ertrag schädigen muss. Versuche des Verf. ließen dagegen deutlich erkennen, dass frühzeitige Fortnahme des männlichen Blütenstandes bei den meisten Maisvarietäten die Ausbildung der Kolben fördert und deren Reife beschleunigt, solange nur so viel Blütenstände un- verletzt bleiben, als zur Befruchtung der weiblichen Blüten der ent- gipfelten Pflanzen notwendig sind. Ed. Seler (Krossen a./O.). Sachs, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie. 389 Julius Sachs, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie. Zweite Hälfte (Titelbogen, Bogen 283—62 und Register) Fig. 241—455 in Holz- schnitt. Leipzig, Engelmann 1882. 8. Die vorliegende zweite Hälfte der Sachs’schen „Vorlesungen“ entspricht in jeder Weise den bedeutenden Erwartungen, zu welchen die erste Hälfte nach Inhalt und Form wol berechtigte (vergl. unsere Anzeige in Nr. 12 des Biol. Centralbl. 1882). Sie bringt zunächst den Schluss der Ernährungslehre, dann die Vorlesungsreihen über Wachs- tum, Reizbewegungen, Fortpflanzung. Die bahnbrechenden Leistungen des Verfassers grade auf dem Gebiete der Wachstums- und Reizbe- wegungsphysiologie, sein wissenschaftlicher und didaktischer Drang, die Dinge unter wenige große Gesichtspunkte einheitlich zu ordnen, sein Wunsch endlich, auch ein nichtbotanisches Publikum ununter- brochen zu fesseln, führen auch in diesem Teile der „Vorlesungen“ zur überwiegenden Entwicklung seines persönlichen wissenschaftlichen Standpunktes. Dabei überall neue Gedanken und Anregungen und eine ganz eigenartig geschickte Auswahl und Gruppirung des Stoffes. — Bo- taniker, Naturforscher oder naturwissenschaftliche Laie — jeder Leser dieser Vorträge wird dieselben mit dankbarer Befriedigung aus der Hand legen. M. R. A. Gruber, Ueber Kernteilungsvorgänge bei einigen Protozoen. Zeitschr. f. wiss. Zool. 38. S. 372—391. T. 19. A. Gruber hat seine frühern Studien über die Teilung ein- kerniger Rhizopoden und das Verhalten des Kernes bei derselben !) in neuerer Zeit auch auf vielkernige Formen, nämlich Actinosphaerium Eichhornii und Amoeba proteus (= A. princeps), ausgedehnt und ist dabei zu Resultaten von allgemeiner Bedeutung gelangt. Die frühern Forschungen an Süßwasser -Monothalamien hatten ergeben, dass der Kern der Rhizopoden ein echter Zellkern sei, und dass Kern- und Zellteilung unabhängig voneinander verlaufen können. Inbetreff der vielkernigen Sarcodina (Rhizopoda im weitern Sinne) lagen nur Be- obachtungen an Radiolarien vor ?); dagegen waren über die Kernver- mehrung bei vielkernigen Amöben und Heliozoen noch keine Unter- suchungen angestellt. Um Einsicht in die Kernteilungsvorgänge bei letztern zu er- langen, machte Gruber Studien an eigens für diesen Zweck konser- 4) Ref. s. Biol. Centralbl. 1. Jahrg. S. 79 u. 456. 2) R.Hertwig, Zur Histologie der Radiolarien, Leipzig 1876. — Ders., Der Organismus der Radiolarien, Jena 1879. — K. Brandt, Untersuchungen an Radiolarien. Mon.-Ber. Akad. Berlin 1881. 390 Gruber, Kernteilungsvorgänge bei einigen Protozoen. virten Tieren. Er tötete die Sonnentierchen mit Chromsäure (2°/,), die Amöben mit absolutem Alkohol, färbte mit Pikrokarmin und schloss endlich in Kanadabalsam ein. In den so hergestellten Präparaten von Aectinosphaerium suchte Verf. lange vergeblich nach Teilungsstadien der Kerne und kam des- halb anfangs zu der Ansicht, dass bei Actinosphaerium freie Kern- bildung stattfinde. Diese Annahme wurde noch dadurch wesentlich gestützt, dass er in drei Individuen von Actinosphaerium kleine Kerne fand, welche Uebergänge zu den gewöhnlichen Kernen des Sonnen- tierchens zeigten. Während die gewöhnlichen Actinosphaerium - Kerne in der Kernhülle ein stark liehtbrechendes, körnig erscheinendes Kern- plasma und mehrere Kernkörperchen enthielten, bestanden diese kleinen Kerne nur aus einem großen Nucleolus, der durch einen gar nicht oder kaum gefärbten Hof von der Membran getrennt war. Da Gru- ber außerdem Uebergänge der kleinen mononucleolären zu den großen polynucleolären Kernen fand, so nimmt er an, dass diese kleinen Kerne jüngere Entwicklungszustände der Actinosphaerium-Kerne seien. Die Annahme jedoch, dass durch freie Kernbildung die Vermehrung der Kerne erfolge, hat Verf. wieder fallen lassen, weil er keine noch frühern Wachstumstadien fand und außerdem auch in einem konser- virten Exemplare von Actinosphaerium zahlreiche in Teilung be- griffene Kerne beobachtete. Aufgrund langjähriger eigner Beobachtungen an Actinosphaerium möchte ich mir bier die Bemerkung gestatten, dass Gruber sich wahrschemlich in der Deutung der kleinen Kerne geirrt hat. Ich glaube mit großer Bestimmtheit annehmen zu dürfen, dass die kern- ähnlichen Gebilde, welehe sich von den echten Kernen des Aetino- sphaerium an konservirten Präparaten nur durch geringere Größe und gewöhnlich noch durch die Einfachheit und Solidität der zentralen Chromatinmasse unterscheiden, nicht Kerne, sondern Zellen sind, und zwar Entwicklungszustände des von mir beschriebenen Pythrum Ac- tinosphaerü!). Bei der außerordentlichen Aehnlichkeit dieser Gebilde mit den Actinosphaerium-Kernen kann eine Verwechslung sehr leicht stattfinden, besonders bei ausschließlicher Benutzung von konservirtem Material. In den Präparaten sind schon die gewöhnlichen einkernigen Zustände von Pythium den Kernen des Sonnentierchens äußerst ähn- lich, sodass man nur durch Untersuchung lebender Tiere und durch Feststellung der Entwicklungsgeschichte der betreffenden Körperchen sich mit Bestimmtheit davon überzeugen kann, dass sie mit Kernen, ja mit dem Aetinosphaerium überhaupt, nichts zu tun haben. Noch viel größer wird die Aehnlichkeit bei denjenigen Pythium - Zellen, die 1) Ueber Actinosphaerium Eichhornü. Halle 1877, — Untersuchungen an Radiolarien. Mon.-Ber. Ak, Berlin 1881. Gruber, Kermteilungsvorgänge bei einigen Protozoen. 391 nicht — wie das gewöhnlich geschieht — im einkernigen Zustande mit den unverdauten Resten der Nahrungsballen ausgeworfen werden, sondern noch innerhalb des Sonnentierchens zur Schwärmerbildung übergehen. Dabei nehmen sie an Größe zu und werden zunächst mehr- dann vielkernig und schließlich feinkörnig. Was die Größenverhältnisse betrifft, so sind die kernähnlichen Körperchen ge- wöhnlieh allerdings kleiner, häufig aber auch ebenso groß und zu- weilen sogar noch größer als die Actinosphaerium-Kerne. Der Durch- messer der letztern beträgt 0,012—0,2 (meist 0,014—0,017) mm, der der Pythium- Zellen 0,004—0,025 (meist 0,007—0,013) mm. Die aus- schließliche Verwendung von konservirten Actinosphaerien hat bezüg- lich der Unterscheidung von Pythium-Zellen und Actinosphaerium- Kernen zwei sehr erhebliche Uebelstände. Einmal werden die fett- artigen glänzenden Körperchen, die sich fast immer an der Innenseite der Zellwand von Pythium finden, bei Alkoholbehandlung aufgelöst, sodass die schon im Leben sehr kernähnlichen kleinen Zellen in den Präparaten den Kernen noch ähnlicher werden. Und zweitens wer- den bei der Abtötung die Actinosphaerium-Kerne, die im lebenden Tiere fast immer abgerundet polyedrisch sind, kugelig, so dass sie auch inbetreff der Gestalt sich nicht mehr von den immer kugeligen Pythium- Zellen unterscheiden. Das eingehende Studium des oben erwähnten Sonnentierchens, welches Teilungsvorgänge an den Kernen zeigte, ergab, dass die Kernteilung bei Actinosphaerium wahrscheinlich in folgender Weise verläuft: Die Kernkörperchen des zur Teilung sich anschickenden multinueleolären Kernes ordnen sich in zwei Glieder, bis sie schließlich zwei dem Durchmesser des Kernes parallele Reihen bilden. In letz- terem verschmelzen dann die Nucleoli, so dass zwei homogene Bän- der (Kernplatten) daraus entstehen. Die übrige tingirbare Substanz des Kernes und die Körnehen vereinigen sich um und zwischen den genannten Bändern, wobei ein Teil derselben vielleicht in die Nu- cleolenbänder aufgenommen wird. Letztere rücken dann immer weiter auseinander, und die zwischen ihnen gelegenen Körner ordnen sich dabei in parallelen Streifen an, die wol den Fasern der „Kernspindel“ entsprechen. Im Aequator des länglich ovalen Kernes wird eine Linie bemerkbar, die durch Körner der eben erwähnten Streifen gebildet wird und vermutlich bei der Scheidewandbildung eine Rolle spielt. Wahrscheinlich ziehen sich dann die beiden Nucleolenbänder zu einer Kugel zusammen, und die beiden Tochterkerne trennen sich — in einer bis jetzt noch nicht festgestellten Weise — voneinander. Gruber nimmt weiter an, dass die oben erwähnten mononueleolären kleinen Kerne die jungen Toch- terkerne seien, die sich durch Größenzunahme und Verteilung der Kernsubstanz zu definitiven polynueleolären Kernen ausbilden. Die allgemeinen Schlüsse, welche Gruber aus diesen Beobach- 392 Gruber, Kernteilungsvorgänge bei einigen Protozoen. tungen zieht, sind folgende: Dass es verhältnissmäßig so selten ge- lingt, Actinosphaerien mit in Teilung begriffenem Kern zu finden, macht einen sehr schnellen Verlauf der Kernteilung bei diesen und ähnlichen vielkernigen Organismen außerordentlich wahrscheinlich. Da Verf. ferner bei dem einen von ihm beobachteten Individuum nur etwa den dritten Teil (12) der sämtlichen Kerne in Teilung begriffen sah, so schließt er, dass nicht das Zellplasma den Anstoß zur Teilung geben könne. Von den bisher bekannten Teilungsvorgängen tierischer und pflanzlicher Zellkerne weicht die von Gruber entdeckte Kernteilung von Actinosphaerium in sehr bemerkenswerter Weise ab. Während sonst bei der Kernteilung die Kernkörperehen verschwinden und in dem Gerüste aufgehen, scheint bei den Kernen von Actinosphaerium das Entgegengesetzte stattzufinden: die Nucleolen bleiben bestehen und nehmen sogar allem Anscheine nach noch das verteilte übrige Chromatin des Kernes in sich auf. Den Grund für diese wesentliche Verschiedenheit sucht Gruber in dem Mangel eines Kerngerüstes bei Actinosphaerium. Er konnte in ruhenden Kernen während des Lebens keine Granulation erkennen und glaubt, dass die in konser- virten Kernen sichtbaren Körnchen dureh Gerinnungen im Kernsaft entstehen. Bei den pflanzlichen und tierischen Zellkernen, bei welchen hauptsächlich das Kerngerüst Träger des Chromatins ist, spielt das Kerngerüst bei Teilungsvorgängen die Hauptrolle, während bei Ae- tinosphaerium, „wo die geformten Träger des Chromatins einzig und allein die Nucleolen sind“, sich die Teilungsvorgänge an den Kern- körperchen abspielen. Ein anderer Unterschied von den bisher bekannten Teilungsvor- gängen besteht darin, dass die Kernmembran, die sonst bei indirekten Kernteilungen sich auflöst, hier die ganze Zeit hindurch erhalten bleibt. Daraus schließt Verf., dass ein Eindringen von umgebendem Zellplasma behufs direkter Beteiligung am Kernteilungsprozesse aus- geschlossen sei, „wenn auch immerhin eine Diffusion durch die Kern- membran nicht ganz unmöglich wäre.“ Bei der gewöhnlichen Zell- teilung ist wol die Auflösung der Kernhülle dadurch geboten, dass die beiden Kernhälften sehr weit auseinander rücken müssen, ehe die Teilung der Zelle stattfindet, während das hier, wo der Kernteilung keine Zellteilung folgt, nicht nötig ist. Endlich macht Gruber noch auf die sehr auffallende Erscheinung aufmerksam, dass an sich teilenden Aectinosphaerium-Kernen eine Art von Zellplatte auftritt, die sonst bei Tieren (ausgenommen Dieyemi- den) fehlt und nur bei den Pflanzen vorkommt. Bei letztern entstehen bekanntlich in der Zellplatte die neuen Zellwände; das Analogon der Zellplatte bei Actinosphaerium dient daher, wie Gruber annimmt, vielleicht zur Bildung der neuen Kernwände. „Demnach hätte in diesem Punkte der Teilungsvorgang des Actinosphaerium-Kernes Gruber, Kemteilungsvorgänge bei einigen Protozoen. 395 Aehnlichkeit mit dem einer Zellteilung und insbesondere einer Teilung bei pflanzlichen Zellen.“ Wie bei Actinosphaerium, so suchte Gruber auch in den konser- virten Präparaten von Amoeba proteus lange Zeit vergeblich nach Teilungszuständen der Kerne. Endlich fand er in einem Individuum, das 24 Kerne enthielt, 4 derselben in Teilung. Die Kerne lebender Amöben bestehen aus einer deutlichen Kern- membran, einer peripheren Lage dicht aneinander gedrängter Körn- chen und einer körnig erscheinenden stark lichtbrechenden ‘Masse, welche den größten Teil des Innenraumes ausfüllt. Bei konservirten Exemplaren hat insofern eine Aenderung stattgefunden, als die peri- phere Körnehenzone sich von der Membran zurückgezogen hat und von der ebenso stark gefärbten Zentralmasse (Nucleolus) nur durch einen schmalen Saum von Kernsaft getrennt ist. Gruber hält die homogenen liehtbrechenden Kügelchen, welche sich außer den eben beschriebenen differenzirten Kernen im Endo- plasma finden, nieht für Nuclei, weil sie später als die differenzirten Keme sich mit Pikrokarmin färben und „im Nelkenöl gewöhnlich ganz verschwinden.“ Hiergegen möchte ich mir den Einwand er- lauben, dass ich die homogenen Kügelehen aus folgenden Gründen dennoch für Kerne ansehe: 1) In jüngern Individuen von Amoeb«a proteus fehlen die differenzirten Kerne noch gänzlieh, nur homo- gene Kugeln sind vorhanden. 2) Dieselben färben sich in alten und in jungen Individuen mit Hämatoxylin, und zwar sowol in leben- den als in abgetöteten Exemplaren !). Der Farbstoff verschwand in den von mir beobachteten Fällen auch nach sorgfältigem Auswaschen nicht. 3) Sie sind in Ammoniak und in Sodalösung löslich, werden durch Alkohol koagulirt und sind dann unlöslich in den genannten Lösungsmitteln. Ich betrachte daher grade sie als die eigentlichen Zellkerne, während ich es bezüglich der differenzirten membranführen- den Kerne noch nicht für ausgemacht halte, ob sie sekundäre Zell- kerne oder Embryonalzellen (Fortpflanzungskörper) oder endlich Schmarotzer sind. Nach Schilderung der vier von ihm beobachteten sich teilenden Amoeba-Kerne entwirft Gruber folgendes Bild von dem Verlauf der Kernteilung: „Zuerst zerfällt der Nucleolus in zwei gleich große Stücke, welche anfangs noch nahe zusammenstoßen, dann aber weiter auseinanderrücken. Zwischen denselben, also im Aequator des Kernes, tritt eine Linie auf, in welcher sich die neue Rindenschicht für die Tochterkerne ablagert. An dieser Stelle wird der Zusammenhang locker, an der Peripherie trennen sich die Rindenzonen der Tochter- kerne bereits, während sie im zentralen Teile noch zusammenhängen, um sich schließlieh ganz voneinander loszulösen. Wie man an der 1) Vergl. Biol. Centralbl. 1. Jahrg. 8. 203. 391 Gruber, Kernteilungsvorgänge bei einigen Protozoen. durch die Reagentien abgehobenen Membran bemerkt, ist dieselbe noch nieht in Mitleidenschaft gezogen, denn sie ist noch vollkommen rund. Es scheint demnach, als ob sie erst sehr spät sich einschnüre und zur Vollendung der Tochterkerne führe, grade so, wie wir das bei Actinosphaerium gesehen haben.“ Auch bei Amoeba scheint, wie bei Aectinosphaerium, die Kern- teilung ungemein rasch vorüberzugehen. Den Teilungsvorgang fasst Gruber als „eine niedere Form indirekter Teilung“ auf, denn eine einfache „Durehsehnürung des Kernes ohne irgend eine bestimmte Metamorphose seiner Substanz“, wie Flemming die direkte Teilung charakterisirt, findet bei Amoeba nicht statt. Vielmehr bleibt hier die Membran bis zum Schlusse der Kermnteilung erhalten, und wenn auch von karyokinetischen Figuren nichts zu sehen ist, so wird doch das Innere nicht ohne weiteres durehgeschnürt, sondern die beginnende Teilung macht sich zuerst am Nucleolus bemerkbar. Dass die Kernteilung nicht in einfacherer Weise stattfindet, und dass namentlich die Kernmembran an der Teilung selbst sich nicht beteiligt, hat nach Gruber wol in mechanischen Schwierigkeiten seinen Grund. Die Teilung erfolgt, während das Endoplasma mit den darin umherrollenden Kernen in starker Strömung begriffen ist. „Nähme der sich teilende Kern die Hantelform an, so könnte in dem Wirbel von Körnern, Krystallen, Nahrungsballen ete. leicht eine Zer- reißung erfolgen.“ Diese Beobachtung schließt außerdem die Mög- lichkeit aus, dass das Protoplasma zu den Teilungsvorgängen im Kerne den Anstoß gebe. Gegen eine derartige Annahme spricht ferner der Umstand, dass nur 4 von 24 Kernen eines Exemplares Teilungstadien zeigten. Direkte Kernteilung ist bei Sarcodinen außer von F. E. Sehulze bei Amoeba polypodia noch von R. Hertwig bei Collo- zoum inerme (l. c.) konstatirt worden. Ich konnte Hertwig’s Ent- deckung bestätigen und hinzufügen, dass bei denselben Tieren außer der direkten auch in bestimmten Entwieklungszuständen (Schwärmer- bildung) die indirekte Kernteilung statt hat. Meines Wissens ist dies der erste und zugleich einzige Fall, in welchem bei einem Tiere direkte und indirekte Teilung nachgewiesen ist. Endlich hat Gruber.noch dureh Untersuchung konservirter Exem- plare einer kleinen nieht näher bestimmten Spezies von Amoeba fol- senden Verlauf der Kernteilung sehr wahrscheinlich gemacht: Im Nucleus, der nur aus einem Nucleolus und einer durch einen hellen Raum davon getrennten Membran besteht, schnürt sieh zunächst das Kernkörperchen in zwei Teile ab. Dieselben rücken nach den Polen hin auseinander, und im Aequator bildet sich eine Scheidewand, die Membran der Tochterkerne. Dann erfolgt die Abschnürung, und die beiden Stücke, jedes mit seinem Anteil an Chromatin, trennen sich voneinander. Schiemenz, Herkommen des Futtersaftes u. 8. w. der Biene, 395 Auffallenderweise waren die beiden Teile des Nucleolus häufig nicht gleich groß und nicht von gleicher Gestalt. So war zuweilen das eine Teilstück halbmondförmig, das andere mehr abgerundet. Außerdem fand er Amöben, die einen großen normalen und andere, die einen verhältnissmäßig sehr kleinen Nucleus besitzen. Daraus schließt Gruber, dass auf die Kernteilung die Teilung der Amöbe folge, und dass bei einem Zerfall des Kernes in ungleiche Stücke auch das Protoplasma nieht in gleiche Hälften geteilt wird. Auch diese Art der Kernteilung bezeichnet Verf. als indirekt, ‚weil sie sich zunächst nur am Kernkörperchen kundgibt. Karl Brandt (Neape)). P. Schiemenz, Ueber das Herkommen des Futtersaftes und die Speicheldrüsen der Biene, nebst einem Anhange über das Riech- organ. Zeitschr. f. wiss. Zoolog. XXXVIIL 1 Heft. Trotz unzähliger Schriften, welche über Körperbau und Lebens- weise der Honigbiene erschienen sind, blieb die Frage nach dem Ur- sprung der Flüssigkeit, womit die jungen Bienenlarven gefüttert wer- den, noch unentschieden. Dass dieser Saft von den Brutbienen aus dem Mund gebrochen wird, ist Tatsache. Was dessen Bildungsweise betrifft, wurde einerseits behauptet, es sei der regurgitirte Inhalt des Chylusdarmes, andererseits, es sei das Sekret der Speicheldrüsen, oder es beteiligen sich doch die Speicheldrüsen an dessen Bereitung. Bei den Bienen, wie bei andern Hymenopteren, ist der Honig- magen gegen den Chylusdarm durch einen mit komplizirtem Chitin- gerüst und besonderer Muskulatur versehenen Zwischendarm getrennt, welcher dem Kaumagen anderer Insekten, z. B. der Orthopteren, ent- spricht. An seinem vordern Ende bildet der Zwischendarm einen mit vier chitinösen Klappen versehenen Verschlusskopf, wodurch die Aus- gangsöffnung des Honigmagens geschlossen wird und nur durch Mus- keleinwirkung geöffnet werden kann. Die Anordnung und Wirkungs- weise dieser Muskulatur ist von S. genau untersucht und beschrieben. Nach hinten bildet der Zwischendarm in den Mitteldarm einen Vor- sprung, an welchem ein Hals- und ein Endzapfen zu unterscheiden sind; durch diesen Vorsprung, wie durch ein Ventil, wird jeder Rück- tritt des Inhalts des Chylusdarmes absolut unmöglich gemacht. — Die Entstehung des Futtersaftes aus dem Chylusdarm ist dadurch vollkommen ausgeschlossen. Verf. nimmt also an, der Futtersaft sei ein Produkt der Speichel- drüsen und unterwirft diese Gebilde einer genauern Forschung. Da es kaum möglich wäre das Sekret solcher Drüsen in genügender 396 Schiemenz, Herkommen des Futtersaftes u. s, w. der Biene. Menge zu sammeln, um dessen chemische Beschaffenheit zu prüfen, sucht S. durch Vergleichung verschiedener Bienengattungen und der verschiedenen Bienensorten des Stockes eine Einsicht in die beson- dern Funktionen der Drüsen zu gewinnen. Er unterscheidet fünf ver- schiedene Systeme der Speicheldrüsen. System I ist eine paarige acinöse Drüse: jede Zelle besitzt eine feine Chitinröhre, welche in der Zelle selbst unverästelt, aber mehr- fach gewunden verläuft: diese Zellenausführungsgänge münden in den gemeinschaftlichen Ausführungsgang der ganzen Drüse. Dieses System erreicht die höchste Entwicklung bei jungen Arbeitsbienen (Brut- bienen); bei alten Arbeiterinnen ist es atrophisch, bei Drohnen und Königinen rudimentär oder fehlend. Das Sekret reagirt sauer wie der Futterbrei. Keine andere Gattung zeigt diese Drüse so stark entwickelt wie Apis, obschon sie bei keiner Biene fehlt. — Es ist Meckel’s Gland. submaxillaris. System II und III sind auch paarig, haben aber eine gemein- schaftliche unpaare Mündung: die Sekretionszellen haben keine be- sondern Ausführungskanälchen; das Sekret reagirt neutral oder alka- lisch. — II liegt im Kopfe und hat eine traubige Form. Bei Arbei- terinnen und Königinnen ist sie fast gleich entwickelt, bei Drohnen ru- dimentär. Abgesehen von Bombus, Psithyrus, Megachile und Coelioxys fehlt diese Drüse den meisten untersuchten Gattungen. — III liegt im Thorax und ist bei Apis wie bei den meisten andern Gattungen aus verästelten Röhren zusammengesetzt. Ihre Entwicklung ist nach dem Geschlecht nicht sehr verschieden; sie fehlt keiner von den un- tersuchten Bienengattungen. An der Mündungsstelle des gemeinschaftlichen Ausführungsganges liegt bei Bombus und mehrern andern Bienen die kleine unpaare Drüse V, welche aber bei Apis fehlt. Das Drüsensystem IV kommt hier nicht in betracht und wird nicht weiter besprochen. Aus der Vergleichung der verschiedenen Speichel- drüsen ist es nach S. höchst wahrscheinlich und wol als gewiss zu be- trachten, dass der Futtersaft hauptsächlich dem sauern Sekret des Drüsensystems I entspricht. An der Einlenkungsstelle der Mandibeln liegt die kleine sack- förmige Drüse IV, die ein besonderes aromatisches Sekret liefert. Es ist das von Wolff früher als „Riechdrüse“ beschriebene Organ, welches nach letzterem Autor die Funktion haben soll, die von ihm im Anfangsteil der Mundhöhle als „Riechschleimhaut“ beschriebene Fläche zu befeuchten. S. weist nach, dass diese Drüse bei der Kö- nigin die höchste Entwieklung erreicht, während sie bei den Männchen rudimentär ist. Dieses Verhalten spricht entschieden gegen Wolff’s Auffassung, denn sollte diese Drüse wirklich im Dienste der Riech- funktion stehen, so dürfte sie beim Männchen wol am stärksten ent- wickelt sein. Dagegen hält es S. für wahrscheinlich, dass der Ge- Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz, 397 ruchsinn, wie es schon längst behauptet wurde, seinen Sitz in den Antennen habe, was er durch die Beschreibung verschiedener Nerven- endapparate zu unterstützen versucht. Einige dieser Nervenendigungen, welche wegen ihrer beschützten Lage für den Tastsinn überhaupt un- geeignet sind und beim Männchen viel zahlreicher vorkommen, als bei der Arbeiterin, sind höchst wahrscheinlich die echten Organe des Geruchs. — Es ist in der Tat recht schwer einzusehen, wie eine Drüse, die ein riechendes Sekret liefert, zur Befeuchtung eines Riechorgans dienen kann (Ref.). ; Interessante Ergebnisse lieferte die Entwicklungsgeschichte der Speicheldrüsen. S. fand, dass System III zum Teil, I und V durch- aus sich aus den Spinndrüsen der Larve entwickeln; I und IV er- scheinen erst im Puppenstadium als Neubildungen. C. Emery (Bologna). C. S. Roy, On the mechanism of the renal secretion. Proc. Camb. Phil. Soc. Vol. IV. Pt. 2 S. 110. Derselbe, The Physiology and Pathology of the Spleen. Journ. of Physiol. Vol. III 1882. S. 203. Wenige Tatsachen in der Physiologie stehen auf ebenso fest be- stimmter Grundlage, als das vollkommene Abhängigkeitsverhältniss, welches gesetzmäßig zwischen der Blutzufuhr zu einem Organ und seinem Grade funktioneller Tätigkeit besteht. In keinem Fall aber tritt dies deutlicher als bei der Niere hervor, und Ludwig’s Theorie über die sekretorischen Vorgänge in dieser Drüse entstand besonders aufgrund der experimentellen Bestimmung jenes Verhältnisses, wobei natürlich auch der Bau der Niere die nötige Berücksichtigung fand. Dieses Verhältniss wird ebenso deutlich bei solehen Drüsen, wie das Pankreas und die Speicheldrüsen es sind, bei denen wie bei der Niere das Vorhandensein eines Ausführungsganges es uns möglich macht, sorgfältig den Stand sekretorischer Ruhe oder Tätigkeit abzuschätzen, weleher Hand in Hand mit den Veränderungen in der Blutzufuhr geht. In den meisten Fällen gibt eine genaue Bestimmung des Zustandes der Gefäße einer Drüse uns einigen Aufschluss über den Stand der Absonderung und umgekehrt. Die Erforschung der Funktionen irgend eines Organs auf dem Wege des Studiums der Zirkulation in diesem Organ möge die indirekte Methode genannt werden, im Gegensatz zu der direkten Methode, mittels deren sein funktioneller Zustand durch Beobachtung der Schwankungen bestimmi wird, welche die Er- zeugnisse seiner Tätigkeit, wie sie der Ausführungsgang uns liefert, darbieten. Die Untersuchung ist natürlich dann eine besonders voll- ständige, wenn beide Methoden gleichzeitig angewendet werden. Nun 598 Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz. waren bisher die Mittel, den Zustand der Gefäße einer Drüse zu prü- fen, gewöhnlich auf Beobachtungen des Betrages an arterieller Blut- zufuhr, des venösen Abflusses und der Schwellung der Drüse, soweit diese mit bloßem Auge ersichtlich ist, beschränkt. Nur in wenigen Fällen, wo Drüsen dünn und durchscheinend sind, kann der Stand der Blutgefäße im Innern der Drüse selbst gleichzeitig unter dem Mikroskop geprüft werden. Irgend welche Verfeinerungen der experimentellen Methoden, welche den Beobachtungen der Veränderungen in dem Gefäßstande eines Organs größere Genauigkeit und Zuverlässigkeit zu verleihen im stande sind, werden somit unfehlbar das Interesse aller Physio- logen in Anspruch nehmen. Dies trifft ganz besonders für den Fall einer des Ausführungsganges entbehrenden Drüse wie die Milz zu, wo die direkte Beobachtungsmethode nicht anwendbar ist und nur die indirekte übrig bleibt. Dass das, was wir über die Milz wissen, nur so wenig ist, be- ruht hauptsächlich auf der Knappheit und Unvollkommenheit der Mittel, welche uns für die indirekte Untersuchungsmethode dersel- ben zur Verfügung stehen. Mit dem neuen Instrument, welches zu beschreiben hier meine Absicht ist, ist es indess möglich geworden, die Untersuchungsweise der Milz zu vervollkommnen nnd eine Reihe inhaltsreicher Tatsachen zu ermitteln, welche auf die normale Gefäß- beschaffenheit dieses Organs Schlüssse ziehen lassen. Auch werden weitere Forschungen unter verschiedenen, durch Versuche geschaffenen Bedingungen ohne Zweifel auf die physiologischen Funktionen dieser gegenwärtig noch einigermaßen unbekannten Drüse ein ganz neues Licht werfen. Selbst für die Niere, über welche die Physiologie ver- gleichsweise gut unterrichtet ist, ist die neue Methode an neuen und wichtigen Aufschlüssen fruchtbringend gewesen und lässt die Erwar- tungen noch weit hinter sich, wenn sie für die Untersuchung dieser Drüse unter pathologischen Bedingungen in Verwendung kommt. Von allen Methoden, deren man sich bediente, um Veränderungen in dem Volumen eines Organs nachzuweisen, übertrifft keine an Ge- nauigkeit diejenige, welche man als die plethysmographische kennt. Dieselbe scheint zuerst von Erman!), Marchand und We- ber?) angewendet worden ’zu sein, um Veränderungen im Volumen von Muskeln während der Kontraktion zu bestimmen, in der Folge von Piegu°®) und Chelius*) bei der Untersuchung des Pulses °). 4) Gilbert’s Annalen. Bd. XL. 1812. 8. 13. 2) Wagner’s Handwörterbuch d. Physiol. Bd. III. 2. Abt. 1846. 8. 53. 3) Compt. Rend. Acad. Se. T. XXII. 1846. S. 682 und Müller’s Archiv Jahrg. 1847. Journ. de l’Anat. et de la Physiol. 1872. Mars - Avril. 4) Vierteljahrsschr. f. d. prakt. Heilk. Bd. XXI. 1850. S. 103. 5) Es würde vielleicht geeigneter sein, die Bezeichnung „plethysmome- Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz. 399 Fick!) scheint der erste gewesen zu sein, welcher den von ältern Beobachtern gebrauchten Instrumenten einen registrirenden Apparat beifügte und dieselben somit in ausgesprochener Weise in das Be- reich der eigentlich graphischen Methode brachte. Ein Instrument, welches alle wesentlichen Züge seiner Vorläufer in sich vereinigte, wurde 1862 von Buisson konstruirt ?). Später wurde die in dieser Weise zuerst gebrauchte Methode unter dem Namen der „plethysmo- graphischen“ in einer Reihe von Untersuchungen über die Volumen- änderungen ausgeschnittener Organe angewendet (Niere und Leber), durch welche eine künstliche Zirkulation eingeleitet wurde, und in der Beobachtung der Volumenveränderungen des Vorderarms unter verschiedenen Bedingungen ?). Francois-Franek, welcher über denselben Gegenstand arbeitete, hat ebenfalls einige Aenderungen und Verfeinerungen an dem Plethysmographen angebracht #). Bei allen Instrumenten jedoch, welche von den bisher von uns erwähnten Phy- siologen gebraucht wurden, findet sich ein Nachteil, der darin be- steht, dass ihre Anwendbarkeit einigermaßen auf solehe Teile wie Hand oder Fuß oder auf ein losgetrenntes Organ beschränkt ist. Und dies ist auch bei dem von Roy’) zuerst konstruirten und von Gas- kell®), ein wenig veränderten Plethysmographen der Fall, welcher für das Studium der Kontraktionen des Froschherzens bestimmt war. Jetzt aber ist auch dieser Nachteil beseitigt. Dr. Roy hat eine neue Form des Plethysmographen konstruirt, welche für alle Organe (wie Niere und Milz) in situ Verwendung finden kann, ohne dass deren normale Blutzufuhr oder Nervenverbindung auf irgend eine Weise unterbrochen zu werden braucht. Mit Hilfe dieses Instruments können Zirkulation und vasomotorischer Mechanismus der Organe, sowie die Beziehung, in welcher jene zu dem regulatorisehen Mecha- nismus des allgemeinen Zirkulationssystems und zu dem funktionellen Zustand dieser Organe stehen, mit einer vorher unerreichbaren Ge- nauigkeit erforscht werden. trisch“ auf die von den genannten Forschern gebrauchte Methode anzuwenden, da der Wechsel des Volumens beobachtet und bestimmt wurde. 1) Unters. a. d. physiol. Labor. Zürich. Bd. I. S. 1. 2) Recherches sur la eirculation du sang ä l’aide d’appareils enregistreurs. These. Paris 1862. 3) Heger, Experiences sur la eirculation du sang dans les organes isol6s. These. Bruxelles. 1873. — Mosso, Ber. d. Sächs. Akad. 1874. Math. - Phys. Kl. S. 665. — Ders., Movimenti dei vasi sanguigni nell’ uomo. Ac. Sei. di Torino. Nov. 1875. — Ders., Sulle variazioni locali del polso nell’ antibraceio dell’ uomo. Torino. 1878. 4) Travaux du labor. de Prof. Marey. I. 1876. 8. 13. 5) On the influences which modify the work of the heart. Journ. of Phy- siol. Vol. I. 1878—1879. S. 452. 6) On the tonieity of the heart and blood-vessels. Journ, of Physiol. Vol. III. Nr. 1 (1889) S. 48. 400 Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz. Sowol vom rein physiologischen Standpunkt betrachtet, als auch im Hinblick auf graphische Methoden im allgemeinen ist es vielleicht von Interesse, einen kurzen Bericht zu geben von den Instrumenten, welche Dr. Roy in den an der Spitze unsers Artikels genannten Schriften erwähnt, und von den Resultaten, welche er mit diesen In- strumenten erzielte. Der vollständige Apparat setzt sich aus zwei Teilen zusammen, welche als Onkometer und Onkograph bezeichnet werden (von öyxos, Masse = Rauminhalt, Volumen). Der erste derselben ist ein Blech- behälter, welcher annähernd die Gestalt und Größe des einzuschließenden Organs hat, und der aus symmetrischen durch Scharniere mit einan- der verbundenen Hälften besteht. Jede dieser Hälften ist aus einer äußern und aus einer innern Schale hergestellt, von denen die letztere genau in jene eingepasst ist. Eine dünne nachgiebige mit Wasser angefeuchtete Membran!) wird über die innere Oberfläche der innern Schale der einen Hälfte des Onkometers anschließend ausgebreitet, ihr Rand rundum über den Rand dieser Schalenhälfte ausgelegt und zwischen der innern und äußern Schale dadurch festgeklemmt, dass diese letztern beiden fest zusammengeschraubt werden (Siehe Fig. 1). Dasselbe geschieht dann mit der andern Hälfte des Instruments. Auf diese Weise wird jede Hälfte des Onkometers in eine luft- dichte Kammer verwandelt, deren eine Seite durch die elastische Mem- bran, deren andere Seite aber durch die Metallwand des Instruments gebildet wird. Jede der luftdichten auf die eben beschriebene Weise hergestellten Kammern ist von zwei Löchern durehbohrt. Ein Paar dieser letztern, das heißt also je eine Oeffnung von jeder Hälfte, steht mit dem registrirenden Apparat, mit dem Onkographen, in Ver- bindung. Das andere Loch einer jeden Hälfte des Onkometers ist mit einem Röhrchen versehen, um das Entweichen der Luft zu er- möglichen, wenn die Hälften des Instruments nach der Einbringung des zu untersuchenden Organs mit Oel gefüllt werden. Die Ränder von jeder Hälfte des Onkometers, welche dem Scharnier gegenüber- liegen, sind ausgeschnitten, damit genügender Raum für die Durch- führung der Blutgefäße des in dem Instrument eingeschlossenen Or- gans übrig bleibt. Wendet man den Onkometer zum Beispiel zur Un- tersuchung der Niere an,. so wird dieses Organ von aller Verbindung, die nach dem Hilus allein ausgenommen, losgelöst; es wird dann zwi- schen die Membranen der beiden Hälften des Onkometers dergestalt eingebracht, dass die Blutgefäße aus dem Zwischenraum zwischen den Rändern des Instruments herausragen, und endlich wird Oel in die Kammern des Onkometers gefüllt. Eine Betrachtung unserer halbschematischen Figur aber wird die 4) Die betreffende Membran wird in Paris aus dem Peritoneum vom Kalb hergestellt und ist zum Verbinden der Stöpsel von Parfumflaschen im Gebrauch. Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz, 401 Konstruktion und Anlage des Apparats weit besser veranschaulichen, als eine Beschreibung mit Worten dies vermag!). Figur 41. Schematische Darstellung des Onkometers bei Untersuchung der Niere. Im Durchschnitt. K ist die Niere, im Durchschnitt gesehen, mit ihren in den Hilus des Organs eintretenden Blutgefäßen bei V. O0, C, und I,C, sind die äußere und die innere Metallschale, aus denen jede Hälfte des Instru- ments besteht, fest zusammengeschraubt durch die Schraube S. M ist die elastische Membran, welche der Oberfläche der Niere eng anliegt; ihre Ränder werden zwischen O, C, und I,C, festgehalten. Membran und Metallkapsel jeder Hälfte bilden die zwei Kammern a und B; von diesen ist letztere durch einen Metallstöpsel verschlossen, welcher die Oeffnung bei B ausfüllt, während die andere (a) durch das Rohr T mit dem registrirenden Instrument in Verbindung steht. Die an- dere Oeffnung C ist mit einem Hahn verschlossen, durch welchen die Kammer mit warmem Oel gefüllt werden kann, nachdem die Niere zwischen die beiden Membranen eingebracht und die andere Kammer B schon vorher teilweise mit Oel angefüllt worden ist. Die 1) Ich bin Dr. Michael Foster für die Erlaubniss, die beigegebenen Fi- guren zu benutzen, zu Dank verpflichtet; dieselben sind der letzten Ausgabe seines „Text-book of Physiology“ entnommen. 26 402 Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz, Menge des Oels in dieser letztern wird von der Größe der Niere oder des sonst im Apparat befindlichen Organs abhängen. Das Rohr, wel- ches von T weiterführt, ist aus kurzen Stücken Glasröhre hergestellt, die durch Kautschukrohr kurz miteinander verbunden sind; auf diese Weise gewinnt die Leitung gleichzeitig fast alle Vorzüge, welche so- wol ein festes als auch ein biegsames Rohr bieten. Das registrirende Instrument, der Onkograph, besteht im wesent- lichen aus einer zylindrischen Metallbüchse, deren oberes Ende offen und mit einem Randkranz versehen ist. Diese Oeffnung wird von einem Stück derselben Membran bedeckt, wie wir sie im Onkometer . hatten, und die Membran wird dadurch gehalten, dass der Randkranz fest gegen einen gegenüber befindlichen Metallring gepresst wird. Somit erhält man ein Metallgefäß, dessen obere Fläche aus einer elastischen Membran besteht. Auf dieser ruht ein dünner Kolben aus Hartkautschuk, welcher mit einem leichten registrirenden Hebel durch eine mit Gelenken versehene Stahlnadel verbunden ist, die ihrerseits durch Leitöffnungen hindurchgeht. Von unten her führt in die Metall- büchse ein Rohr, durch welches deren Innenraum mit dem Onkometer in Verbindung gebracht werden kann. Das Gefäß wird mit dem Oel gefüllt mittels einer durch einen Hahn verschließbaren Oeffnung. Jede Veränderung des Drucks im Innern des Instruments wird die an des- sen oberm Ende befindliche Membran steigen oder fallen lassen, und dies veranlasst alsdann ein gleichzeitiges Steigen oder Fallen des registrirenden Hebels. Die folgende schematische Zeichnung (Figur 2) wird die Einrichtung des Instruments klar machen. H N Figur 2. Schematischer Durchschnitt durch den Onkographen. B ist das Metallgefäß und N der Randkranz um dessen oberes Ende. Durch die Schraube C wird dieser fest gegen die untere Fläche des ringförmigen obern Endes des Gehäuses A gedrückt, sodass die Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz. 403 Ränder der Membran E festgehalten werden. Dist der dünne Gummi- kolben, welcher der Membran aufliegt und mit dem registrirenden Hebel H durch die Gelenknadel G verbunden ist, die ihrerseits durch Leitöffnungen bei F’ und F hindurchgeht. Durch das bei M einmün- dende Rohr K steht das Instrument mit dem Onkometer in Verbin- dung, und L endlich ist Rohr und Hahn zum Füllen des Instruments mit Oel. Wir nehmen nun an, das zu untersuchende Organ (Niere oder Milz) sei in den Onkometer eingebracht, die Kammern des letztern sowie diejenigen des Onkographen seien mit Oel gefüllt und mitein- ander verbunden. Es ist ohne weiteres klar, dass bei Volumenzu- nahme des Organs Oel aus dem Onkometer in den Onkographen hin- übergedrückt wird; das aber bewirkt, dass die Membran des Onko- graphen, auf welcher der Gummikolben aufliegt, sich erhebt und gleichzeitig zu einem Steigen des registrirenden Hebels Veranlassung gibt — und umgekehrt. Die besondern Vorzüge, welche diese Instru- mente besitzen, bestehen einmal darin, dass sowol äußerst geringe als auch sehr beträchtliche Veränderungen im Volumen des einge- schlossenen Organs mit derselben Leichtigkeit und Genauigkeit ver- zeichnet werden; zweitens aber darin, dass Volumenveränderungen des Organs keinen Wechsel hervorrufen in dem Druck des Oels, wel- ches in dem Onkometer enthalten ist und das Organ während der Untersuchung umgibt; drittens endlich darin, dass durch das Einbringen einer bekannten Menge Oel in den Apparat und durch Messung der resultirenden Steigung des Hebels eine genaue Bestimmung des abso- luten Betrags der Ausdehnung oder Zusammenziehung des Organs unter verschiedenen Umständen gemacht werden kann. Die folgenden Figuren werden hinlänglich die Beschaffenheit einer typischen Aufzeichnung erkennen lassen, wie sie durch die oben er- wähnten Instrumente bei Anwendung derselben auf Niere oder Milz erhalten wird und werden auch einige der wiehtigern Haupttatsachen erläutern, welehe die Untersuchung dieser Organe lieferte. lea mp Nrate rremi-ıK usniv’e Figur 3. Natürliche Größe, Bei Figur 3 ist die obere Kurve die mit einem Manometer er- 26 ® AOA Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz. haltene Kurve des Blutdrucks; die Kurve unter derselben ist von dem Onkographen nach Einbringung einer Niere in den Onkometer aufge- zeichnet. Die grade Linie ist diejenige, von welcher aus die Abseissen des Blutdrucks gemessen werden; sie entspricht einem mittlern Wert des wirklichen Blutdrucks von 115 mm Quecksilber. Die Linie da- runter ist von einem Zeitmesser aufgezeichnet worden, dessen aufein- anderfolgende Pausen eine Zwischenzeit von 3 Sekunden angeben. Da Dr. Roy über seine Untersuchungen an der Niere bisher nur einen vorläufigen Bericht veröffentlicht hat, so können wir hier nur einige der interessantesten Tatsachen daraus hervorheben, welche sich auf den Gefäßapparat der Niere beziehen. Zuerst zeigt die oben ge- gebene Kurve, wie außerordentlich empfindlich die Blutgefäße der Niere gegen Schwankungen im arteriellen Drucke sind; die Kurve entspricht fast vollkommen derjenigen des Blutdrucks, indem jeder einzelne Herzschlag ein deutliches Steigen und Fallen hervorbringt und die von den respiratorischen Druckschwankungen abhängigen Kurven alle deutlich ausgeprägt sind. Wenn die Traube-Hering’schen Kurven zur Beobachtung kommen, dann sieht man, dass das Volu- men der Niere nicht mit dem rhythmischen Steigen des Blutdrucks wächst; sondern im Gegenteil, die Niere zieht sich bei jedem Steigen des Blutdrucks zusammen und dehnt sich bei dem jedesmaligen Fallen desselben aus. So können die Nierengefäße also zu denen gerechnet werden, von deren Zusammenziehung und Ausdehnung die Traube- Hering’sche Kurve abhängig ist. Reizung der Medulla oblongata hat eine gewaltige Zusammenziehung der Nierengefäße zur Folge, welche auch bei Reizung der Eingeweide- oder Nierennerven beobachtet wird. Eine ähnliche Zusammenziehung kann auch reflektorisch durch Reizung des zentralen Endes eines sensorischen Nerven hervorgerufen werden, ganz unabhängig davon, ob der allgemeine Blutdruck in dem Augen- blick steigt oder sinkt. Selbst dann tritt dieselbe ein, wenn beide Eingeweidenerven an der Stelle durchschnitten werden, wo sie in die Bauchhöhle eintreten, woraus hervorgeht, dass der Reiz zur Zusam- menziehung vom Rückenmark auf andern Wegen als durch die Ein- geweidenerven sich fortpflanzen kann. Bloßes Durchsehneiden der letztern verursacht nieht immer eine Ausdehnung der Nierengefäße, sodass das Vorhandensein eines von irgendwelchen im Rückenmark liegenden Zentren abhängigen Gefäßtonus zweifelhaft wird. Kein An- zeichen sprach dafür, dass irgendwelche gefäßausdehnende Nerven- fasern von andern Teilen her zu den Nierengefäßen gehen. Versuche lehren, dass letztere ganz besonders reizbar gegen Veränderungen des Blutes sind, das sie durchströmt. Zum Beispiel verursachte die In- jektion auch einer kleinen Menge wie etwa 1—-2 cem Wasser in die Venen eines mittelgroßen Hundes eine anfängliche Zusammenziehung der Nierengefäße, welche schwankende Höhe und wechselnde Dauer hatte, der aber eine Ausdehnung folgte, welche viel länger als die Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz. 405 anfängliche Zusammenziehung anhielt. Harnstoff (5°/, Lösung) wirkt ebenso wie einige andere harntreibende Mittel. Auf der andern Seite bewirken Lösungen von Chlornatrium, salpetersaurem oder essigsaurem Kalium eine unmittelbare Ausdehnung der Nierengefäße, welcher keine Zusammenziehung vorausgeht. Das hanptsächlich Interessante bei den Wirkungen dieser harntreibenden Stoffe oder bei Wechseln in der ehemischen Zusammensetzung des Blutes ist das, dass ihre volle und normale Wirkung auch dann nicht ausbleibt, wenn alle in die Niere eintretenden Nerven vollkommen abgetrennt sind. Sie müs- sen darum entweder direkt auf die Wände der Nierengefäße einwir- ken, oder auf einen andern letztere beeinflussenden Mechanismus in der Niere selbst. Nach dem Vorstehenden kann es kaum bezweifelt werden, dass fernere und umfassendere Untersuchungen der Niere unter normalen oder pathologischen Verhältnissen Tatsachen von der größtmöglichen physiologischen und pathologischen Bedeutung an den Tag bringen werden. 2 —— be INNINIINNMMAMMANA ANNIKA LAN MMAnAMH MAIN Figur 4. Normale Milz-Kurve vom Hunde. Bei Figur 4 ist die obere Kurve diejenige der rhythmischen Zu- sammenziehung und Ausdehnung der Milz, während die auf dieselbe verteilten kleinern Kurven den Atembewegungen entspringen. Die untere Kurve verzeichnet den Blutdruck, und zwar entspricht Punkt a der Milzkurve dem Punkte b der untern, den Blutdruck aufzeich- nenden. Die Striehe auf der untersten Linie, auf der Zeitlinie, deuten Zeiträume von der Dauer einer Sekunde an. Ein Vergleich dieser Figur mit derjenigen der Nierenkurve lässt sofort eine fundamentale Verschiedenheit in der Gefäßbeschaffenheit beider Organe erkennen. Das Volumen der Niere bleibt der Haupt- sache nach dasselbe, wenn wir von jenen vergleichsweise unbedeuten- den Veränderungen absehen, die mit der mechanischen Ausdehnung der Nierenarterien, hervorgebracht durch den Puls und die Atembe- wegungen, zusammenhängen. Der Rauminhalt der Milz andererseits bleibt selbst für eine kurze Zeit selten beständig. Sich fortgesetzt vergrößernd und verringernd wechselt er unaufhörlich im einem Rhyth- 406 Roy, Neue Untersuchungsmethode von Niere und Milz. mus, welcher von Puls und Atmungstätigkeit vollkommen unabhängig ist, der aber eine ausgesprochene Beständigkeit bezüglich der Zeit- maße erkennen lässt. Bedenkt man indess den Unterschied, welcher in der Anordnung der Gefäße zwischen Niere und Milz besteht, so er- klärt sich dieser Gegensatz in den Aeußerungen beider Organe so- gleich. Ein großer Teil des Nierenblutes gehört zweifelsohne den Arterien an, und darum beeinflussen alle Veränderungen in der Be- schaffenheit der Gefäße das Volumen des Organs unmittelbar und plötzlich. In der Milz andererseits finden sich Arterien verhältnissmäßig spärlich, und der größte Teil des Blutes ist in den Kapillaren und in den Maschen des Milzgewebes enthalten. Die von Dr. Roy angestellten Versuche zeigen, dass die Hauptmasse des Milzblutes als fast von dem Arteriensystem abgeschnitten ange- sehen werden kann; er fand zum Beispiel, dass ein Absperren der Aorta für einige Sekunden keine plötzliche Verminderung im Volumen der Milz hervorruft, wie eine solche eintreten würde, wenn dasselbe mit den kleinern, unmittelbar mit dem Organ in Verbindung stehen- den Zuführungsarterien gesehähe. Darum muss man die rhythmische Zusammenziehung der Milz als abhängig betrachten von der ab- wechselnd eintretenden Zusammenziehung und Erschlaffung der Mus- kelelemente der Milzkapsel und der Trabeken, welche ohne Zweifel die gleichmäßige Zirkulation durch das Organ zum Zweck haben, da ja die Kraft des arteriellen Blutdruckes augenscheinlich hier eine so nebensächliche Rolle spielt. Ferner fand er, dass diese muskulöse Tätigkeit der Milz mit dem Nervensystem zusammenhängt. Reizung der Medulla oblongata, oder der peripherischen Endigungen der Ein- geweidenerven, oder der Vagi bewirkt unmittelbare und schnelle Kon- traktion dieses Organs, und zwar geht dieselbe zu rasch vor sich, als dass man glauben könnte, sie rührte von vasomotorischen Ein- flüssen dieser Nerven her. Dasselbe geschieht auch dann, wenn beide Vagi und beide Eingeweidenerven durchschnitten werden, so dass also die Reize auf andern Wegen als mittels dieser Nerven das Organ er- reichen müssen. Durchschneidung aller Nerven, welche von dem Cerebrospinalsystem zur Milz gehen, bringt kaum irgend welche Wir- kung auf ihre rhythmischen Zusammenziehungen und Ausdehnungen hervor, und es will somit scheinen, als ob dieses Organ irgend einen regulirenden Nervenmechanismus in seinem Innern selbst beherberge. Wie in der Niere, so steht auch in der Milz die Beschaffenheit der Ausdehnung oder Zusammenziehung mit der chemischen "Zusammen- setzung des dieselben durchströmenden Blutes in engem Zusammen- hang. Einige Stoffe (z. B. Kurare) rufen eine Ausdehnung, andere eine Kontraktion hervor. Bis jetzt ist dieses Verhältniss noch nicht vollkommen erforscht; aber ich stehe nicht an zu glauben, dass die zukünftigen Untersuchungen in dieser Richtung, welehe Dr. Roy an- zustellen beabsichtigt, wichtige und interessante Aufschlüsse geben Schiffer, Ueber eine toxische Substanz im Harn, 407 werden über die Natur der in der Milz zweifellos sich abwickelnden Veränderungsvorgänge und über die allgemein physiologische Bedeu- tung dieses Organs, von welchem wir augenblicklich nur die mangel- hafteste Kenntniss besitzen. Sheridan Lea (Cambridge). J. Schiffer, Ueber eine toxische Substanz im Harn. Deutsche med. Wochenschr. 1883. Nr. 16. Von Cl. Bernard stammt die Beobachtung, dass der Harn von Säugetieren an und für sich giftig auf Frösche wirkt. Weiter haben Gautier und Pouchet ein giftiges Alkaloid im normalen Harn ge- funden, das mit Gold- und Platinchlorid gut krystallisirende Salze geben soll, auch neuerdings hat Bocei vom menschlichen Harn gif- tige, kurareähnliche Wirkungen auf verschiedene Tierarten beobach- tet. Sch. hat zunächst die an und für sich giftigen Körper, die Kali- und Ammoniumsalze des Harns durch Weinsäure und essigsaures Na- tron, oder dureh Fällung des alkoholischen Auszuges mit Platinchlorid, oder durch Ueberführung jener in Sulfate und Aufnahme der einge- dampften Lösung mit Alkohol, in den die Sulfate höchstens in Spuren übergehen, abgeschieden; aber auch noch nach Abscheidung der Kali- und Ammonsalze wirkt der Harn vom Menschen, Hund und Kanin- chen auf Frösche giftig. Unter den hier zu beobachtenden Erschei- nungen kann man zwei Stadien unterscheiden: ein depressorisches, das durch Trägheit und Schwerfälligkeit der Bewegungen des Tiers, sowie durch Verlangsamung und schließliche Sistirung der anfangs beschleunigten Respiration charakterisirt ist, und ein irritatives, das mit ausgebreiteten fibrillären Zuckungen, klonischen und tonischen Krämpfen einhergeht und, wofern die Dosis stark genug war, unter tetanischen Konvulsionen zum Tode führt; dabei können die Herz- pulsationen, wenn auch erheblich verlangsamt, noch stundenlang den Tod des Tiers überdauern. Die lähmende Wirkung erfolgt durch Angriff der nervösen Zentralorgane und schreitet von da aus längs der Nervenstämme nach der Peripherie fort. Es ist daher die Be- zeiehnung der Wirkung als kurareähnlich durchaus unzulässig. Bei geringern Gaben des Harngiftes erholt sich der Frosch innerhalb mehrerer Stunden. Sehon eine verhältnissmäßig geringe Menge des Harngiftes erzeugt die lähmende Wirkung; mit dem Rückstand von 50 eem Menschenharn können 2-3 Frösche getötet werden. Kanin- chen sterben bei Injektion des Rückstandes von 1—1!/, Liter Menschen- harn in einem Anfall von sehr heftigem Tetanus. Bei der Aehnlich- keit der Giftwirkung mit der des Guanidins war an das Kreatinin, das Anhydrid der Methylguanidinessigsäure zu denken; indess zeigt der Harn auch nach Ausfällung des Kreatinins die toxische Wirkung. 408 Buchner, Lungentuberkulose u. Immunität gegen Infektionskrankheiten. Die Reindarstellung des giftigen Stoffes im Harn wollte bisher nicht gelingen; vermutlich gehört er in die Reihe der Fäulniss- oder Leichen- alkaloide, der sogenannten Ptomaine. Ein durchaus ähnliches Gift wie im Harn fand Sch. im Blut. Das alkoholische Filtrat von Kaninchenblut, eingedampft und mit Wasser aufgenommen, wirkt ebenfalls nicht nur auf Frösche, sondern auch auf gleichartige Tiere, auf Kaninchen giftig; nach Injektion des wässerigen Auszuges von 250 eem Kaninchenblut, das mit Alkohol ver- setzt, filtrirt und eingedampft war, ging ein Kaninchen nach 2 Stunden unter klonischen Krämpfen zu grunde. J. Munk (Berlin). H. Buchner, Eine neue Theorie über Erzielung von Immunität gegen Infektionskrankheiten. München. R. Oldenbourg. 1883. 40 8. H. Buchner, Die ätiologische Therapie und Prophylaxis der Lungentuberkulose. München und Leipzig. R. Oldenbourg. 1883. 161 8. Die beiden in der Ueberschrift genannten Broschüren Buchner’s haben einen großen Teil des Inhalts miteinander gemein, so dass es sich empfiehlt, sie auch einer gemeinsamen Besprechung zu unter- ziehen. — Buchner erblickt in der Erkenntniss der Pilze als Ursache von Krankheiten den größten Triumph, den die medizinische Wissen- schaft in unserm Jahrhundert errungen hat, findet aber, dass die praktisch therapeutischen Konsequenzen dieser theoretischen Erkennt- niss bisher in sehr unvollkommener Weise gezogen worden sind. Die nach dieser Richtung hin bisher hervorgetretenen Bestrebungen be- wegen sich auf falscher Fährte; sie erstreben entweder ein Schutz- impfungsverfahren oder die direkte Bekämpfung der Pilze durch in- nerliche Anwendung der Antiseptica. Schutzimpfungen gegen alle Infektionskrankheiten einzuführen erscheint unmöglich; jedenfalls würde man auf diese Weise immer nur ein kleineres Uebel gegen ein größeres eintauschen. Die innerliche Antisepsis aber ist geradezu schädlich, da die giftige Einwirkung der antiseptischen Stoffe die Gewebszellen weit früher und intensiver schädigt als die viel resi- stenteren Pilze. Die so überaus zahlreichen Fälle von Spontanheilung von Infektionskrankheiten beweisen nun, dass es Umstände gibt, un- ter denen das Fortschreiten einer Pilzvegetation im Körper unmög- lieh gemacht wird. Um so eher wird man darauf rechnen dürfen, unter günstigen Verhältnissen den Beginn einer Pilzvegetation ver- hindern d. h. Immunität erzielen zu können. Welcher Mittel bedient sich nun die Natur bei ihrer gewöhnlich so wirksamen Bekämpfung Buchner, Lungentuberkulose u. Immunität gegen Infektionskrankheiten. 409 der Pilze? Nach B. ist die Entzündung die Waffe des Organismus in diesem Kampfe. Er hat schon 1877 durch einen sehr bemerkens- werten, bisher aber leider nicht nachgeprüften Versuch die Richtigkeit dieser Anschauung erhärtet. Ein mit fauliger Fleischflüssigkeit im- prägnirter Faden wurde einem Kaninchen quer durch die Mitte des Ohres hindurchgezogen. Wenn nach einigen Stunden die betr. Stelle sich entzündet hatte, so wurde noch die Carotis der entsprechenden Seite unterbunden und dann in den obern Teil des Ohres etwas von der fauligen Flüssigkeit subkutan injizirt. Die Folge dieser Eingriffe ist Brand des Ohres; der Brand erstreckte sich aber nur über den oberhalb des Entzündungsherdes gelegenen Teil; die entzündete Stelle erwies sich als ein unübersteigbarer Schutzwall gegen die Bakterien, derart dass das unterhalb derselben gelegene Gewebe intakt blieb. Die Ent- zündung also, welche durch die Bakterien selbst bezw. ihre Lebenstätig- keit hervorgerufen wird, erweist sich als eine zweckmäßige Reaktion des Organismus, und in jedem Einzelfalle wird es sich darum handeln, ob diese entzündliche Reaktion in gewünschter Weise Platz greifen kann, oder ob die Pilzvegetationen so mächtig sind, dass sie die Ge- webszellen erdrücken und den Eintritt der Reaktion verhindern. Von diesem Standpunkt aus sucht nun B. die interessante Frage zu beant- worten, wie sich die Gewinnung von Immunität gegen eine Infektions- krankheit durch einmaliges Ueberstehen derselben erklären lasse. Mit vollem Recht bezeichnet er die bisher aufgestellten Hypothesen darüber als ungenügend. Er selbst denkt sich den Vorgang folgen- dermaßen: Wenn pathogene Pilze auf irgend eine Weise in den Kreis- lauf gelangen, so zirkuliren sie zunächst im Blut und bleiben schließ- lich in den verschiedensten Kapillarbezirken haften, um hier überall im Kampfe mit den Gewebszellen eine Ansiedelung zu versuchen. Nun werden sich aber die verschiedenen „Gewebsgruppen“ einem jeden Pilz gegenüber ebenso verschieden verhalten, wie etwa verschiedene Tierspezies. Die meisten Pilze werden nur in einer Gewebsart die Konkurrenz zu bestehen vermögen, in allen andern aber zu grunde gehen. In diesem einen Organ wird sich nun auch die reaktive Entzündung ausbilden; diese hinterlässt eine dauernde Veränderung, welche eine nochmalige Invasion von Pilzen verhindert, und da dieses be- treffende Organ für den betreffenden Spaltpilz die einzige Eingangspforte bildet, so ist durch diese rein lokale Veränderung die Immunität des Gesamtorganismus hergestellt. — Die Theorie ist ohne Zweifel geist- reich erdacht; leider aber steht sie mit bestimmten Tatsachen in Wi- derspruch und enthält in sich selbst gewisse Unklarheiten, auf welche hier hingewiesen werden muss. Zunächst ist es überhaupt keine all- gemeine Eigenschaft der Infektionskrankheiten, dass ein einmaliges Ueberstehen derselben vor Reinfektion schützt. Bei den akuten Exan- themen erleidet die Regel mindestens sehr häufige Ausnahmen, bei der Diphtherie existirt sie überhaupt nicht, bei Erysipel und Gonorrhoe 410 Buchner, Lungentuberkulose u. Immunität gegen Infektionskrankheiten. schafft die erste Infektion anscheinend sogar eine Prädisposition für spätere nochmalige Erkrankungen, bei Syphilis sind die Fälle von zweimaliger Infektion allerdings seltene Ausnahmen. Grade beim Erysipel, einer der bestgekannten Infektionskrankheiten, müssten sich nun aber eigentlich die Dinge nach dem Schema Buchner’s abspielen; hier müsste die Probe auf sein Exempel zu machen sein. Denn hier haben wir es mit einem Spaltpilz zu tun, der wirklich nur in einem Organ, in der Haut, vegetirt; wir sehen unter unsern Augen eine hef- tige Entzündung des befallenen Organs ablaufen und den Prozess ab- heilen; damit müsste nun nach B. das betreffende Organ, und damit der Gesamtorganismus, vor neuer Infektion geschützt sein. Aber grade das Gegenteil tritt ein; wo einmal ein Erysipel gewesen ist, dahin kehrt es mit hartnäckiger Vorliebe gern immer und immer wieder zurück. — Anders liegt die Sache bei der Syphilis; hier gehört eine heinfektion zu den Seltenheiten. Aber grade hier laufen die Dinge nicht nach dem Buchner’schen Schema ab. Der Syphilispilz kann alle Organe ergreifen, er ist an keines gebunden; aber ein Uleus durum an der Glans penis verhindert trotzdem das Haften einer Impfung am Oberarm. Das befallene „Organ“ hat mit der Erzielung der Immuni- tät nichts zu tun. Ueberhaupt besteht darin die große Unklarheit der Theorie B.s, dass er die Begriffe Gewebsart und Organ pro- miseue gebraucht. Die verschiedenen Organe bestehen aber bekannt- lich großenteils aus denselben Gewebsarten und ein Pilz, der in einer Gewebsart zu vegetiren vermag, findet dieselbe in den verschieden- sten Organen vor. Die Frage, warum und auf welche Weise das einmalige Ueberstehen mancher Infektionskrankheiten gegen eine noch- malige Infektion immun macht, scheint somit auch durch B.’s Theorie noch nicht beantwortet. Der von B. mit so großem Nachdruck her- vorgehobene Gedanken aber, dass die Entzündung ein Schutzmittel gegen die Bakterien darstelle, erscheint jedenfalls der Beachtung und experimentellen Prüfung wert. B. selbst hat außer dem oben mitge- teilten Versuche keine Tierexperimente weiter gemacht. Hingegen hat er die therapeutischen Konsequenzen dieses Gedankens gezogen und dem- gemäß eine Behandlung der Tuberkulose geprüft und in sechs schweren Fällen bewährt gefunden, die er angelegentlich zur Nachprüfung em- pfiehlt. Angesichts der Unmöglichkeit, durch direkte Antisepsis bei Behandlung der Infektionskrankheiten zum Ziele zu kommen, hat er nämlich das Heilverfahren der Natur nachzuahmen versucht. Arsen, Phosphor und Antimon, — von denen er aber nur das erste in An- wendung gezogen hat, — besitzen die Eigenschaft, die Ernährung der Zellen zu steigern, sie in den Zustand der Entzündung zu versetzen. Bei Anwendung großer Arsendosen, bei der akuten Arsenvergiftung, sehen wir als Wirkung dieser „entzündlichen“ Eigenschaft des Mittels akute Verfettung der verschiedenen Organe eintreten. Bei chronischer Einwirkung kleiner Gaben soll es nach B. nun gelingen, das Auftreten Fränkel und Geppert, Wirkungen d. verdünnten Luft auf d. Organismus. 411 schwerer Entzündungen zu vermeiden und die Zellen nur in das erste Stadium der Entzündung zu versetzen, d. h. ihre Ernährung und Lebenstätigkeit zu steigern. In diesem Stadium sollen sie besser als in der Norm befähigt sein, den Kampf mit den feindlichen Mikro- organismen aufzunehmen, ihre Invasion zu verhüten, bezw. ihre Wei- terverbreitung zu verhindern. Speziell für die Tuberkulose soll durch Darreichung des Arsens bei belasteten, bisher aber noch gesunden Individuen der Eintritt der Erkrankung verhindert, bei leichten Fällen Heilung, bei schweren Besserung des Leidens herbeigeführt werden. B. gibt von einer wässerigen Lösung von Acidum arsenicosum 1:2000 täglich 10 mg, indem er in wenigen Tagen bis zu dieser Dosis an- steigt. — An der Hand der vorhandenen Literatur über das Arsen plaidirt B. mit großer Wärme für die absolute Gefahrlosigkeit und vielfach erwiesene Nützlichkeit des Mittels. Neben den Erfahrungen der Arsenesser in Steiermark zieht er besonders die Aussagen von Heim, Romberg, Hebra und Isnard heran, die es alle angewandt haben — letzterer auch gegen Tuberkulose — und sich sehr aner- kennend darüber aussprechen. Die verschiedenen bekannten Wirkun- gen des Arsens, seine Giftigkeit, seine Heilkraft bei Malaria, bei Haut- krankheiten, bei Nervenkrankheiten, seine „ätzenden“ Eigenschaften, sie alle erklärt B. unter dem Gesichtspunkt der entzündungserregenden Wirksamkeit des Mittels. Ueber die Schicksale des Mittels im Or- ganismus, über die noch sehr wenig Sicheres bekannt ist, entwickelt B. eine Theorie, die noch zu wenig tatsächliche Unterlagen besitzt, um ernsthaft debattirt zu werden. Ueberhaupt scheint mir der unbe- streitbare Wert der B.’schen Arbeiten weniger in ihrem tatsächlichen Inhalt zu bestehen, als darin, dass sie, von originellen Gesichtspunkten ausgehend, dem Leser Anregung zum eigenen Denken geben. Es sind — eine Seltenheit in unserer medizinischen Tagesliteratur — theo- retische Arbeiten, aber die weitere Verfolgung des darin betretenen Weges dürfte vielleicht zu praktisch hochwichtigen Resultaten führen. &. Kempner (Berlin). A. Fränkel und J. Geppert, Ueber die Wirkungen der ver- dünnten Luft auf den Organismus. Berlin. Hirschwald 1883. 112 8. Die von den Verff. studirte Frage, welche nach mehreren Rich- tungen hin von höchstem Interesse ist, hat bisher noch nicht viele Bearbeiter gefunden, wahrscheinlich wegen der großen experimentellen Schwierigkeiten, welche die sehr zeitraubenden und kostspieligen Un- tersuchungen darbieten. Eine umfassende Darstellung des Gegen- standes findet sich in dem berühmten Buch: „La pression barome- trique“ von Paul Bert (1879). Die allgemeinen Gesichtspunkte waren 412 Fränkel und Geppert, Wirkungen d. verdünnten Luft auf d. Organismus. den Verff. durch dieses Werk gegeben; hinsichtlich der experimen- tellen Technik aber ist mancherlei an Berts Untersuchungen auszu- setzen. Man muss begründete Einwendungen erheben gegen die Art und Weise, wie Bert seine Versuchstiere fesselte, wie er ihnen Blut- proben entnahm, vor allem aber gegen die von Bert geübte gasana- lytische Methode. In allen diesen und vielen andern Beziehungen haben die Verff. durch höchst sinnreiche Anordnung ihres Apparates, für dessen Beschreibung auf das Original verwiesen werden muss, und durch Anwendung der von Geppert angegebenen Methode der Gasanalyse sich vor vermeidbaren Fehlern geschützt und einen hohen Grad von Exaktheit erreicht. — P. Bert hat gefunden, dass schon unterhalb eines Druckes von 57 em der Sauerstoffgehalt des arteriel- len Blutes sinkt. Verff. können diesen Satz nicht bestätigen; sie fan- den, dass bis zu einem Druck von 41 em der Sauerstoffgehalt des Blutes sich nieht nachweislich ändert. (In 5 von den 8 mitgeteilten hierher gehörigen Versuchen findet sich allerdings eine Verminderung gegenüber der Norm; dieselbe ist aber unbedeutend und wird von den Verff. als individuelle Schwankung aufgefasst. Ref.). Abgesehen von dieser Verschiedenheit in der Normirung des Grenzwertes stimmen Verff. aber jedenfalls mit Bert darin überein, dass schon bei Druck- verminderungen, die das tierische Leben in keiner Weise gefährden, eine Abnahme des Sauerstoffgehalts des Blutes zu konstatiren ist. Beim Druck einer halben Atmosphäre war dieselbe mitunter, aber nieht immer vorhanden. Verff. meinen, dass hier das Defizit durch eine Verstärkung der respiratorischen Tätigkeit ausgeglichen werden kann. Von !/, bis zu t/, Atmosphäre findet eine immer weiter gehende Verarmung des Blutes an Sauerstoff statt (bei 25,7 em Druck 9,8 °, gegen 19,45 °/, unter normalem Druck). Unter 25 cm sind Verff. nur in einem Versuche herunter gegangen, und dieser musste nach weni- gen Minuten wegen Asphyxie des Tieres abgebrochen werden. — Die Aenderungen im Verhalten der Blutkohlensäure gehen nicht denen des Sauerstoffs parallel und sind in hohem Grade inkonstant; offenbar sind für diese ganz andere Faktoren maßgebend. — Auf grund ihrer Versuche bestreiten Verff. die von Jourdanet und Bert gegebene Erklärung der Bergkrankheit als Folge der Sauerstoffverarmung des Blutes. Sie aceeptiren die Dufour’sche Theorie, welche die Er- scheinungen als Wirkungen der Ueberanstrengung ansieht. Die Symp- tome, welche von Luftschiffern geschildert werden, die in hohe Re- gionen gelangt sind, haben Verff. auch an ihren Tieren unter dem Einfluss entsprechender Verdünnungen beobachtet; hier handelt es sich in der Tat um Wirkungen des Sauerstoffmangels. Für die Erklärung der unvollständigen Sättigung des Blutes mit Sauerstoff ziehen Verff. sowol physikalische wie chemische Gründe in betracht. In ersterer Beziehung wird bei vermindertem Sauerstoffdruck in der Einatmungs- luft natürlich die Absorption des Sauerstoffs durch das Serum verlangsamt Detmer, Pflanzenphysiologie. 413 sein; in letzterer Beziehung wird der interessante Nachweis geliefert, dass die Dissoziationsspannung des Oxyhämoglobins bei Bluttem- peratur viel höher liegt, als bisher angenommen wurde. [Kurz vor Erscheinen des ref. Buches habe ich nachgewiesen, (Virchow’s Arch. Bd. 89 S. 290), dass unter normalem Druck schon bei Einatmung einer Luft von 16 °/, © Säugetiere regelmäßig eine Verminderung des Sauerstoffverbrauchs zeigen. Ref.|. — Der arterielle Blutdruck zeigte keine wesentliche Aenderung, so lange die Verdünnungen nicht an die das Leben gefährdende Grenze herabreiehten. — Die Prüfung der Stickstoffausscheidung in verdünnter Luft bot Verff. Gelegenheit, nochmals unter günstigsten Versuchsbedingungen die bekannten frühern Resultate Fränkel’s zu kontroliren. Letzterer hatte bekanntlich ge- funden, dass bei Herabsetzung der Sauerstoffzufuhr zu den Geweben eine Vermehrung der Harnstoffausscheidung stattfindet. Bei seinen damaligen Versuchen war aber von der verminderten Sauerstoffzufuhr eine Anhäufung von Kohlensäure in den Geweben nicht zu trennen gewesen, und man konnte mit Recht einwenden, dass vielleicht diese die Steigerung der Harmstoffausscheidung bewirke. Hier war nun Ge- legenheit geboten, indem man den im Stickstoffgleichgewicht befind- lichen Hund für längere Zeit unter einen Druck von ca. 25 cm brachte, die Wirkung der Sauerstoftentziehung in voller Reinheit zu studiren. Das Resultat war eine Bestätigung der Angaben Fränkel’s, indem eine beträchtliche Steigerung der Stickstoffausscheidung zwar nicht am Versuchstage selbst, wol aber an den zwei folgenden Tagen auf- trat. Verff. erklären diese verspätete Wirkung durch die Annahme, dass am Versuchstage unter dem Einflusse der Luftverdünnung Ver- dauung und Assimilation des Tieres nicht regelrecht funktionirt hätten. G. Kempner (Berlin). Detmer, Lehrbuch der Pflanzenphysiologie, Breslau. Trewendt. 1883. 380 8. Dieses seinem wesentlichen Inhalt nach schon in der Encyklopädie der Naturwissenschaften abgedruckte Lehrbuch verfolgt den Zweck, den Leser in das Studium der Pflanzenphysiologie einzuführen. Demgemäß behandelt es im allgemeinen in übersichtlicher Weise nach bekannter Anordnung (Emährung, Wachstum, Fortpflanzung) die wichtigsten Probleme derselben, ohne dabei wesentlich neues oder. abweichendes zu bieten. Dem Zweck des Lehrbuchs hätte es nach des Ref. Auffassung besser entsprochen, wenn an manchen Stellen theoretische Erörterungen über in Wirklichkeit noch nicht sicher be- kannte Erscheinungen unterblieben wären; auch dürfte an manchen Stellen eine gleichmäßigere Behandlung des Stoffes diesem Zwecke nicht entgegen ge- wesen sein (ich verweise z. B. auf den dritten Abschnitt der Wachstumsphy- siologie). Den gänzlichen Mangel an Abbildungen, deren Nutzen für die erste Orientirung ein nie zu unterschätzender sein dürfte, muss Ref. ebenfalls be- klagen, da namentlich dadurch für den Nichtfachmann ein Rückgreifen auf 414 Lindeman, Tomicus typographus u. Agaricus melleus im Kampfe mit d. Fichte, andere Quellen geboten ist. Ebenfalls fehlen genauere Angaben über die Me- thode der angeführten Experimente, die ein schnelleres Verständniss der durch sie erforschten physiologischen Vorgänge nicht unwesentlich erleichtern. Im ganzen sind demnach dem Buch mehrere erhebliche Mängel nicht ab- zusprechen, abgesehen von Einzelheiten, auf die hier nicht eingegangen wer- den kann. Als ein besonderer Vorzug muss andererseits hervorgehoben werden, dass eine Seite der pflanzlichen Physiologie darin eine ausführlichere Bearbeitung gefunden hat, als dies in den meisten vorhandenen Hand- und Lehrbüchern geschehen ist, wir meinen die chemische. Die speziellen Studien des Verf. geben ihm ein reiches und wertvolles Material in die Hand, dessen Verarbei- tung dem Buch, in wie engen Grenzen dies auch geschehen musste, vorzüglich zu statten gekommen ist. Fisch (Erlangen). K. Lindeman, Tomicus typographus und Agaricus melleus, als Verbündete im Kampfe mit der Fichte. Bull. Soc. Imp. Nat. Moscou 1882 Nr. 3. 1883 8. 189—194. Tomicus typographus, ein seit einem Jahrhundert berüchtigter Borkenkäfer, der noch vor einigen Jahren in den Wäldern Ungarns, Steiermarks und Böhmens ungeheure Verheerungen angerichtet hat, erregt dadurch eine allge- meinere Aufmerksamkeit, dass die Meinungen über die Tragweite seiner Wirk- samkeit diametral auseinandergehen. Die einen geben ihn für einen Verfolger gesunder Bäume aus, wogegen die andern seinen Einfluss für auf bereits kränkelnde oder gar tote Bäume beschränkt erachten. Lindeman ist es nun gelungen, durch Tatsachen das Gewicht einer größern Wahrscheinlichkeit der Ansicht zuzuführen, dass es sich bei den Angriffen des berüchtigten In- sekts lediglich um schon kranke Bäume handelt. Er machte bei seinen Studien im Walde des Fürsten Troubetzkoi unweit Moskau die bedeutsame Entdeckung, dass der Käfer die Fichte im Bündnisse mit einem essbaren Pilse, dem Aga- ricus melleus, überfällt und tötet, und zwar derart, dass der Pilz primär die gesunden Bäume angreift und krank macht, der Borkenkäfer dagegen sekun- där lediglich für schnelle und vollständige Tötung des vom Pilz ergriffenen Baumes Sorge trägt. Der pilzkranke Baum zeigt bis zur Höhe von etwa 7 Fuß über dem Erdboden Harzbeulen in Form nussgroßer, runder, brauner, in den Rissen der Rinde eingetrockneter Kugeln; die Tomicus-Gänge aber befinden sich nur an dem von Harzbeulen freien mittlern und obern Stammstück. Be- reits kranke und absterbende Bäume sind oft von Tomicus noch frei; tritt dieser aber massenhaft auf, so beeinflusst er momentan ein rapides Absterben der Bäume. Der Pilz selbst hat seinen Sitz am Wurzelende des Stammes, und tief unter der Erdoberfläche sitzen in Gestalt dieker schwarzer Schnüre die unter die Wurzelrinde eingedrungenen und zum Mycelium ausgewachsenen Rhizomorphen. Da sich der Borkenkäfer niemals ohne Gesellschaft des Pilzes an den Fichten findet, so scheint er durch den Geruch zu den erkrankten Bäumen geleitet zu werden. F. Karsch (Berlin). Giftapparat der Skorpionen. 445 Der Giftapparat der Skorpionen. Der Giftapparat der Skorpionen (Scorpio oceitanus) wird vom letzten Hin- terleibssegment gebildet, an dem zwei kleine Oeffnungen das Gift hervortreten lassen; es befinden sich dort nach den Untersuchungen von Joyeux-Laffuie zwei kleine, gleich große, symmetrisch gestellte Drüsen, jede in einer außen vom Chitinskelet bedeckten, innen mit gestreiften, dem Chitinskelet anhaften- den Muskelfasern ausgekleideten Höhlung; durch die Kontraktion dieser Mus- keln wird das Gift ausgedrückt. Die Wandungen der Drüsen bestehen aus zwei Schichten; die obere, aus feinem Zellgewebe und weichen Muskelfasern bestehend, ist auf der Außenseite mit Lamellen bedeckt, welche die ‘abson- dernde Oberfläche vergrößern; die untere besteht aus prismatischen Zellen, welche Protoplasma und in denselben die für das Skorpionengift charakteri- stischen Körnchen enthalten, die durch Essigsäure sichtbar gemacht werden. In diesen Zellen wird das Gift zubereitet und aus ihnen tritt es durch den Bruch der Zellwandungen in die Hauptgifthöhle des Organs. Die physiolo- gische Wirkung des Giftes ist sehr kräftig und steht im direkten Verhältniss zur angewendeten Menge; ein Tropfen tötet 7—8 Vögel oder einen Vogel sehr rasch, etwas langsamer ein Kaninchen; der hundertste Teil eines Tropfens reicht hin, eine Ameise zu töten. Es scheint dies Gift das Nervensystem zu beeinflussen; zweifellos wirkt es in heftigster Weise auf die gestreiften Mus- keln, indem es freiwillige wie Reflexbewegungen derselben hemmt. (Journal of the Royal Microscopical Society) Behrens (Halle). Ueber das Eierlegen von Diplax rubicundula. Ueber das Eierlegen von Diplax rubicundula berichtet Prof. Buchhout im American Naturalist (Mai 1883 pag. 548). An einem kleinen künstlichen Teiche mit Ufern aus Felsstücken, welche etwa um zwei Fuß die Wasserober- fläche überragten, hielten sich zahlreiche Individuen dieser Wasserjungfern auf, von denen um Mittag eine ganze Menge in der diesen Tieren eigentüm- lichen Art in Kopulation waren; sobald der Befruchtungsakt vorüber war, be- gann das Weibchen die Eier zu legen, während es noch mit dem Männchen zusammenhing; das Pärchen flog nämlich dicht über der Wasserfläche wenige Zoll vom Ufer hin und her, wobei das Weibchen das Ende seines Hinterleibes ein wenig ins Wasser tauchte. Indem dann beide vorwärts flogen, wurde das Hinterleibsende stark nach vorwärts gekrümmt, sodass es zu gleicher Zeit wie der Kopf des Männchens gegen die vertikale Uferwand stieß. Diese Bewe- gungen des Eintauchens des Hinterleibes und des Eierlegens wechselten mit großer Schnelligkeit ab. Zuweilen verunglücken die Versuche, das Wasser zu erreichen; dann werden sie rasch wiederholt, ebenso wie auch die Bewe- gungen zum Legen der Eier oft wiederholt werden, wenn sie zuerst erfolglos gewesen sind. Die Eier sind so klebrig, dass sie leicht haften. Die Zahl der bei jeder Bewegung abgesetzten Eier ist verschieden, oft tritt nur eins heraus, häufiger mehrere. Zuerst sehen sie perlweiß aus, nach einigen Stunden werden sie glänzend braun. Behrens (Halle). 416 Schlechter, Vererbung der Größe bei Pferden. Joh. Schlechter, Die Vererbung der Grösse auf die weiblichen Nachkommen bei Pferden. Oesterr. Monatsschrift für Tierheilkunde. 1883. Nr. 4. Der Verfasser hat in dem ungarischen Staatsgestüte Mezöhegyes 260 weib- liche Nachkommen von dort gezüchteten Pferderassen (englisch Vollblut und Halbblut, Araber, Lipizzaner, Norfolker und Normänner) gemessen und mit der Größe ihrer Eltern verglichen. Als Größenmaß diente die Höhe des Wider- ristes, mit dem Bandmaß gemessen. Es ergab sich, dass die durchschnittliche Größe der weiblichen Nachkom- men bei Pferden — ohne Rücksicht auf Paarungen von verschiedenen Rassen — näher der durchschnittlichen Größe der Mutter lag. Wenn von einer durchschnittlichen Größenvererbung abgesehen wird, so lag in den einzelnen Fällen die Größe der weiblichen Nachkommen näher der Mutter als dem Vater. In jenen Fällen, in welchen das Maß der Größe des Vaters jenes der Mut- ter bedeutend überragte, wurde auch der weibliche Nachkomme größer als die Mutter; er blieb aber kleiner, wenn der Vater nur um sehr wenig größer, gleich groß oder kleiner war als die Mutter. Die durchschnittliche Größe des weiblichen Nachkommen zweier gleich- großer Eltern, sowol gleicher wie verschiedener (gekreuzter) Rasse, war im allgemeinen etwas kleiner als jene der Eltern. Wurde die Größe des weiblichen Nachkommen durch den Vater bestimmt, so geschah dies bei jenen Paarungen am häufigsten, bei welchen der Vater der englischen Vollblut- oder Halbblutrasse angehört. Bei allen andern in Untersuchung gezogenen Rassen war ein besonderer Einfluss nich‘ bemerkbar, sondern es erwies sich als vollkommen gleichgiltig, welcher Rasse der Vater oder die Mutter angehört. Bei Paarungen von englisch Vollblutvätern mit arabischen Müttern wurden weibliche Nachkommen erzeugt, welche fast durchaus größer waren als das mittlere Maß der Eltern betrug; umgekehrt blieb dieses fast stets kleiner bei Paarungen ebensolcher Väter mit Normännermüttern. Unter diesen, aus der Mehrzahl der untersuchten Fälle abgeleiteten Regeln kommen jedoch mehrfache Ausnahmen vor, sodass Verfasser ein allgemein giltiges Gesetz, demzufolge sich in jedem einzelnen Falle schon von vornherein die Größe der weiblichen Nachkommen bei Pferden bestimmen lässt, nicht aufzustellen vermag. M. Wilckens (Wien). Zur Morphologie der Arterien. Bei der letzten Versammlung der American Association for the Advance- ment of Seience zu Montreal hielt Dr. Baker einen Vortrag, in welchem er durch Betrachtung des Blutgefäßsystems beim Embryo, sowie bei erwachse- nen Tieren der verschiedensten Art und beim Menschen die Theorie von der Segmentation des Körpers der Wirbeltiere bestätigt finden will, wenngleich nicht an allen Stellen des Wirbeltierkörpers die der Theorie entsprechenden Erscheinungen infolge des Einflusses ihnen entgegenwirkender Gesetze, so z.B. das der Konvergenzveränderlichkeit und dasjenige der Intersubstition, mit gleicher Klarheit hervortreten. Der durch mehrere kolorirte Abbildungen erläuterte Vortrag findet sich vollständig im Maiheft des American Naturalist. Behrens (Halle). Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Gentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie 8 herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 3 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. III. Band. Nr.. 14. 15. September 1883. Inhalt: Axel Blytt, Ueber Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung für die Zeitrechnung der Geologie und für die Lehre von der Veränderung der Arten (Mit 1 Tafel). — De Candelle und Asa ray, Die Urheimat der ge- meinen kultivirten Bohne und der Kokospalme. — Barfurti, Der phosphor- saure Kalk der Gastropodenleber. — ®livier und Richet, Mikroben in der Lymphe der Fische. — texenbaur, Lehrbuch der menschlichen Anatomie. — Lanzois und Lepine, Resorptionsvermögen des Dünndarms. — v. Lendenteld, Die Larvenentwicklung von Phoxichilidium Plumulariae. A. Blytt, Ueber Wechsellagerung und deren mutmassliche Be- deutung für die Zeitrechnung der Geologie und für die Lehre von der Veränderung der Arten. Der Gesellschaft der Wissenschaften in Christiania vorgelegt am 4. Mai 1883. Die geschichteten Gebirgsmassen sind überall auf der Erde aus Schichten von wechselnder Beschaffenheit aufgebaut. Ein solcher Wechsel der Gebirgsarten zeigt sich im ganzen Umfang der geologi- schen Sehichtenreihen, von den ältesten uns bekannten, den laurenti- schen, an bis zu den losen Bildungen der Gegenwart. Konglomerat wechselt mit Sandstein, Sandstein mit Schiefer, Schiefer mit Mergel, Mergel mit Kalk u.s.w. Die wechselnden Schiehten sind von äußerst verschiedener Dicke. Von mächtigen Flötzen, die nach vielen Metern messen, sehen wir dieselben einschwinden bis zu fast unmerkbar dünnen Schichten von wenigen Millimetern. Wenn man den Versuch macht, sich Rechenschaft zu geben über die Ursachen, welche diesen Wechsel hervorgerufen, so erkennt man, dass derselbe wesentlich auf dem Umstand beruhen muss, dass die ablagernden Strömungen bald stärker, bald schwächer gewesen sind, und dass infolge davon die Beschaffenheit der Ablagerung in den verschiedenen Zeiten sich verschieden gestaltet hat. Fragt man aber weiter nach dem Grunde für einen solehen Wechsel in der Kraft der Strömungen, so wird man zu der Annahme geleitet, dass hier ver- schiedenartige Ursachen sich geltend gemacht haben. War die Zufuhr 27 418 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. sehr groß, so werden bereits örtliche Verhältnisse und schnell vor- übergehende Veranlassungen eine Wechsellagerung von Schichten ver- schiedener Beschaffenheit haben hervorrufen können. An Orten aber, wo die Zufuhr langsamer vor sich ging, z. B. in größerer Entfernung von den Flussmündungen oder in weiterem Abstand vom Lande, wer- den derartige Verhältnisse sich nicht in der Schichtenfolge abspiegeln können, und wir werden uns hier. um den Erklärungsgrund für die Wechsellagerung zu finden, nach Perioden von längerer Dauer umzu- sehen haben. Bei der Betrachtung von Uebersichtsprofilen geologischer Schich- tenreihen erkennt man bald, dass das Verhältniss zwischen Meer und Land zu allen Zeiten periodischen Aenderun- gen unterworfen gewesen ist, und dass dieser Umstand sich im Wechsel der Schichten abgespiegelt hat. Süßwasserbildungen und Landformationen wechseln mit Brackwasser- und Meerwassergebilden, und unter den letztern begegnet man wieder einer Abwechslung von Strandbildungen und solchen, die tieferes Wasser voraussetzen. Je nach dem Vorrücken oder Zurückweichen der Uferlinie musste die Bildungsstätte der Schiehten bald über dem Meeresspiegel liegen, bald in seichtem, bald in tiefem Wasser. In den Uebersichten ganzer Schichtenreihen findet man Namen wie: Oxford- und Kimmeridge-Thon, bunter Sandstein, Eisenoolith, Portlandskalk u. s. w. Durch dergleichen Namen werden Schichten- gruppen bezeichnet, welche wesentlich aus den durch die Namen an- gedeuteten Gebirgsarten bestehen, und dieser Wechsel ist bedingt durch die oben erwähnten Aenderungen im Verhältniss zwischen Land und Meer. Außerdem findet sieh aber noch durch alle geologi- schen Schichtenfolgen hindurch ein Wechsel im Kleinen. Denn genauere Durchschnitte zeigen oft innerhalb jeder der besproche- nen Schichtengruppen eine weitere Wechsellagerung, insofern unter- geordnete Schichten einer andern Art sich wechsellagernd in die Berg- art einschalten, welche die Hauptmasse der Schichtengruppe ausmacht. Auch diese Wechsellagerung kann, wo es um Meeresbildungen sich handelt, zuweilen einer Verschiebung der Uferlinie zugeschrieben werden; ebenso mag hier vieles auf die Rechnung örtlicher Verhält- nisse zu setzen sein. Vom größten Teil dieser Wechsellagerung im Kleinen glaube ich jedoch, dass derselbe seinen Grund in einer nach längern Zeiträumen wiederkehrenden klimatischen Periode hat. In mehrern Abhandlungen und zuerst in meiner „Theorie!) der Einwanderung der norwegischen Flora“ habe ich nachzuweisen ge- 1) Vorgetragen in der Ges. d. Wissensch. in Christiania 1875, gedruckt in: Nyt Magaz. for Naturv, 1876 und englisch: Essay on the Immigration of the Norwegian Flora during alternating rainy and dry periods. Chria. 1876. Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 419 sucht, dass das Klima periodischen Aenderungen unterworfen ist, weil die Meeresströme im Lauf längerer Zeiträume abwechselnd an Stärke ab- und zunehmen. Wenn der warme nordatlantische Strom zunimmt, muss nämlich das Küstenklima tiefer ins Binnenland eindringen und infolgedessen die Regenmenge daselbst wachsen. Ich habe versucht nachzuweisen, dass diese Theorie gestützt wird nieht nur durch die Verbreitung der Pflanzen (denen ich immerhin auch die der Tiere noch hätte zufügen können), sondern auch durch den Bau der Torfmoore, sowie durch das Auftreten der Moränen des Binnenlandeises in aufeinander fol- genden Reihen; ferner, dass dieselbe die Erklärung liefert für das stufenweise Auftreten der Terrassen und Strandlinien und das Fehlen der Muschelbänke in gewissen Höhen, ohne dass man dabei zu Un- terbreehungen in dem sogenamnten Steigen des Landes seine Zuflucht zu nehmen braucht!); und endlich dass ein solcher Wechsel des Klimas auch in den Kohlenschichten der Vorwelt sich erkennen lässt. Seit- dem hat v. Riehthofen in seinem Werk über China?) den Nach- weis geliefert für eine periodische Aenderung der Regenmenge in der Zeit, in welcher sich der Boden der asiatischen Steppen, das soge- nannte „Löss“, bildete. Für ähnliche Aenderungen des Klimas sprechen auch Geikie’s Untersuchungen über die Gebilde der Eiszeit. E. Tietze?) hat diese Theorie benutzt, um die Wechsel- lagerung von Gips und Salz zu erklären, und meint, dass man bis- her möglicherweise die klimatischen Ursachen zur Erklärung der geologischen Phänomene zu wenig herbeigezogen habe. Wenn man dies alles zusammenfasst, wird man kaum länger an der Tatsache soleher Perioden zweifeln können. In unsern Bildungen aus der postglaeialen Zeit tritt diese Periode deutlich hervor in dem Durchsehnitt der Landbildungen, welche ich an mehrern Orten mitgeteilt habe*). In niedersteigender Reihe fin- det man hier folgende Schichten: Gegenwart (trockne Mooroberfläche mit moosüberwachsenen Wurzelresten), Torf, Wurzelschicht, Torf, Wurzelschieht, Torf, Wurzel- schicht, Torf, Dryasthon, Grundmoräne. In den höher gelegenen Gegenden trifft man diese Reihe der Landbildungen vollständig; in den niedriger liegenden sind die tiefern Schiehten durch Meeresbildungen ersetzt. Es ruhen z. B. viele Torf- schichten nicht auf Süßwasserthon, sondern auf Mergelthon, einer arkti- 4) Forhandlinger i Chria. Vid. nn 1881 Nr. 4. 2) China I Berlin 1877 3) Die geognostischen mie der Gegend von Lemberg in Jahrbuch der k. k. geol. Reichsanstalt. Wien 1882. 4) Siehe Tidsskrift for populäre Fremstillinger af Naturvidenskaberne Kjöbenhavn 1878. — Engler: Pflanzengeographische Jahrbücher 1881. — Chria, Vid-Selsk. Forh. 1882 Nr. 6. DI 420 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. schen Meeresbildung, und in noch größerer Nähe des Meeres findet man statt der ältern Torfschichten einen jüngern Meeresthon mit Ostrea u. s. w. unter dem Torfe. Wir ersehen hieraus, dass Meeresbildungen an "die Stelle der Süßwasserbildungen eintreten. Kjerulf hat unsere postglacialen Meeresbildungen beschrieben. Er unterscheidet von oben nach unten folgende Thonschiehten: Ziegel- thon, Muschelthon und en ‚ welcher letztere auf der Grund- moräne ruht. Der Mergelthon mit seinen arktischen Muscheln ist deutlich dem Dryasthon gleichzeitig; aber die Schaltiere des Muschelthons deuten auf ein milderes Klima. Kjerulf spricht von „Ueberschwemmungs- zeiten“ („Homtider“) und meint, dass eine solche der Bildung des Mergelthons gefolgt und dann wieder eine neue nach der Bildung des Muscheltones eingetreten ist, und dass in beiden eine Menge Sand durch die Thäler herabgeführt wurde’). In einer Abhandlung über die postglacialen Bildungen im mittlern Schweden stellt G. de Geer?) in Anknüpfung an die frühern Unter- suchungen H. v. Post’s folgende Schichtenreihe auf: Oberer Heidesand („Mosand“) Oberer grauer Thon („Gralera“\. Unterer grauer Thon („Gralera“). Unterer Heidesand. Mergelthon. Grundmoräne. Wir haben hier Verhältnisse, welche den norwegischen gleichen und sehen Sand und Thon miteinander wechseln. Wo ein solcher Wechsel sich findet, liegt die Ansicht nahe, dass der Sand während der Regenzeiten herabgespült wurde, der Thon dagegen sich unter rubigern Verhältnissen abgelagert hat. Der Thon tritt jedoch bis- weilen auch in Bänken ohne zwischengelagerte Sandschichten auf, wie dies bei Foss in der Nähe von Christiania der Fall ist. Hier war die Strömung offenbar zu schwach, um den Sand mitführen zu können, und die Grenzen zwischen den Thonbänken dürften unter solchen Umständen auf Unterbrechungen der Ablagerung in den trock- nen Zeiten zurückzuführen sein. Es ist nämlich einleuchtend, dass die Bildung von Sand- und Thonschiehten zu allen Zeiten stattfindet; nur der jedesmalige Ort der Ablagerung ist es, welcher nach der Regenmenge sich ändert. Bei Foss (in der Nähe von Christiania) liegt nach Kjerulf zu- 2 1) 8. Kjerulf: Com Skurings marker, Glacialformationen og Terrasser. Univ. Progr. Chria. 1871 8. = 2) Geol. För. i Stockh. Förh. 1882 S. 74. De Geer nimmt an, dass die Wechsellagerung auf A und Senkungen des Landes beruht. Eine bes- sere Erklärung gewähren vielleicht die Wechsel der Regenmenge. Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 491 Dez oberst Ziegelthon, darunter Muschelthon in drei dieken Bänken (zu- sammen 20 Fuss) und zuunterst Mergelthon und Sand. Der Ort liegt nur wenige Fuss über dem Meere und liefert eine vollständige Reihe unserer postglacialen Meeresbildungen. Wir haben hier, wie es mir scheinen will, eine Thonablagerung, die sowol nach der Art ihrer Schaltiere, als nach der Zahl der Schichten ein gleiches Alter mit den vorerwähnten Süßwasserbildungen haben muss, wie dies aus nachfolgender Zusammenstellung hervorgehen dürfte: x Ziegelthon Torf Muschelthon Torf Muschelthon Torf Muschelthon Torf Mergelthon Dryasthon. Der Wechsel troekner und regnerischer Zeiten scheint sich somit auch in den Meeresbildungen abzuspiegeln, und ich sehe es als wahr- scheinlich an, dass eine genauere Durchforschung unserer postglacialen Sand- und Thonschichten zu dem Ergebniss führen würde, dass die Uebereimstimmung, welche zwischen den Torfmooren und den Meeres- bildungen bei Foss sich nachweisen ließ, von durchgehender Geltung ist. Dieser periodische Wechsel von trocknen und feuchten Zeiten muss aber auch in den ältern Meeresbildungen zu spüren sein, Ja durch alle geologischen Formationen hindurch sich nachweisen lassen. Man weiß nämlich heute nach den Untersuchungen der Challen- ger-Expedition, dass Land und Meer im großen Ganzen immer einiger- maßen dieselbe Verteilung gehabt haben. Die Bildungen, welche man in den Abgründen des Meeres weit vom Lande entfernt aufgefunden hat, waren bis daher den Geologen vollständig unbekannt. Die Schich- ten, aus welchen die uns bekannten geologischen Formationsreihen sich aufbauen, sind demgemäß in der Nähe des Landes gebildet, so dass die periodischen Variationen der Regenmenge Einfluss auf ihre Bildung gehabt haben müssen. Wenn das Klima regnerischer wird, schwellen die Flüsse an. Große Flüsse liefern aber dem Meere mehr Ablagerungsmaterial als kleme. Der Schlamm unserer großen Flüsse lässt sich noch mehrere hundert Kilometer vom Lande ab verspüren. Wenn nun demgemäß die Wassermenge der Ströme im Lauf der Zeit abwechselnd sich vermehrte oder verminderte, so mussten während der Regenzeiten sich auskeilende Schichten gröberer Stoffe zwischen den feinern sich einlagern. Wenn der Fluss zeitweise Sand bis zu seiner Mündung mitführte, so musste hier Sand mit Thon wechsellagern, und weiter von der Mündung entfernt Thon mit Mergel u. s. w. Eine Schicht, welche sich zu einer fast unmerklichen Dieke aus- keilt, wird eine Bankbildung in den Schichten veranlassen, mit wel- 422% Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. chen sie wechsellagert. So rührt die Bankbildung der Kalksteine von einer fast unmerkbaren Schicht mechanisch gefällter Stoffe her, die sich zwischen die auf chemischem Wege niedergeschlagenen Kalk- bänke eingeschaltet hat!). Bankbildung kann auch entstehen durch eine zeitweilige Unterbrechung der Schichtenbildung, wie dies bei vielen bankartigen Torflagern der Fall ist und auch beim Löss vor- kommt, bei welchem letztern die Grenze zwischen den Bänken durch lagenweise geordnete Mergelknollen angedeutet wird. Während dieser zeitweiligen Unterbrechung wurde den ältern Schichten Zeit gegeben, wenigstens auf der Oberfläche eine Aenderung einzugehen, ehe die Bildung der neuen Schicht begann, und diese Abänderung der Ober- fläche gab später den Anlass dazu, dass Mergelknollen u. dgl. sich grade in diesen, für das durchsickernde Wasser weniger durchlässi- gen Schichten bildeten. Sollten vielleicht auch die Feuersteinlagen in der Kreide auf Aenderungen des Klimas während der Kreidebil- dung hindeuten ? Diese abwechselnden Schichten, welche, wie ich wol glauben möchte, sich auf den Wechsel von trocknen und regnerischen Zeiten zurückführen lassen, sind an Stellen, wo große Flüsse sich ins Meer ergossen haben, oft sehr mächtig und können eine Dicke von vielen Metern erreichen. Es gibt aber daneben an andern Stellen, wo die Zufuhr gering gewesen, auch Schichten, welehe nur eine geringe Mächtigkeit erreichen, oft nur von einigen Zentimetern und weniger noch, während ich doch annehmen möchte, dass auch diese denselben klimatischen Schwankungen ihren Ursprung verdanken. Ich glaube nämlich, dass man den Beweis liefern kann, dass auch die Bildung vieler dieser dünnen Schichten lange Zeiten in Anspruch genommen hat. Aus der Dicke der Schichten darf man überhaupt nicht auf die Länge der Zeit schließen, die zu ihrer Bildung gebraucht wird. Eine Schieht mit einer Mächtigkeit von mehrern Metern kann sich unter sehr günstigen Umständen in wenigen Jahren gebildet haben, wäh- rend an anderm Orte vielleicht ein Jahrtausend vergeht, ehe eine Schicht von einigen Zentimetern zu stande gekommen ist. Die Ver- steinerungen ändern sich oft sehr schnell beim Aufwärtssteigen in Schichtenfolgen von geringer Mächtigkeit, und unter solchen Verhält- nissen ist der Schluss berechtigt, dass die wechselnden Schichten trotz ihrer geringern Dicke lange Zeiten zu ihrer Bildung bedurft haben. Es geschieht ferner nicht selten, dass da, wo dünne Schichten von verschiedener Beschaffenheit miteinander wechsellagern, die eine Gebirgsart eine andere Zusammenstellung von Versteinerungen ein- schließt, als die andere. Dies beruht nun kaum darauf, dass gewisse Schichten besonders geschickt sind für die Erhaltung gewisser Tiere, 1) Pfaff: Sitzungsberichte der Akad. der Wissensch. Math. phys. Kl, München 1882, S. 551 fgg. Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 423 denn das Tierleben des Meeres ändert sich (nach O. Sars) mit der Beschaffenheit des Meeresbodens. Die Versteinerungen sind oft Reste von Tieren, welche an Ort und Stelle gelebt haben. Hieraus bereits ersieht man, dass die Schichten, mögen sie auch nur dünn sein, sich doch nieht sehr schnell haben bilden können, da ja eben doch ein so langer Zeitraum verstreichen musste, um das Tierleben am Ablage- rungsort nach der Natur des Meeresbodens sich verändern zu lassen, und da ja doch oft viele Generationen von Tieren während der Bil- dung jeder Schicht aufeinander gefolgt sind; denn die Schichten sind ja bekanntlich oft mit Versteinerungen überfüllt. Es kommt sogar vor, dass Schichten mit durchaus verschie- denen Tieren, die verschiedenen der sogenannten geologischen Zeit- abschnitte angehören, miteinander wechsellagern. So wechsellagern in den südöstlichen Alpen zwischen dem Perm und Trias permische Kalkschichten und triassische Schiefer miteinander, (Bellerophon-Kalk mit Werfener Schiefer) !). Ebenso wechsellagern in der Karstgegend bei Triest die obersten Kalkschiehten der Kreidezeit mit den ältesten eoeänen Gebilden 2). Hier dürfte auch der Ort sein, um an Barran- de’s3) sogenannte „Kolonien“ zu erinnern. Er hat nachgewiesen, dass in Böhmen Kalkknollenschiehten mit einer obersilurischen Tier- welt wechsellagernd sich zwischen die untersilurischen Schiefer und Quarzite einschalten. Im Gegenatz zu der von andern ausgespro- chenen Vermutung, dass diese merkwürdige Wechsellagerung spätern Schiehtenstörungen ihre Entstehung verdanke, hält Barrande mit Bestimmtheit daran fest, dass diese Schichtenfolge die ursprüngliche sei. Sowol die Gebirgsart der „Kolonien“, als die Art ihrer Ver- steinerungen ist somit verschieden von den Gebirgsarten und den Ver- steinerungen, mit welchen sie wechsellagern. Wo Schiefer und Kalk miteinander abwechseln, dürften die Schieferschichten auf ein wär- meres Meer, ein regnerisches Klima und größere Schlammzufuhr der Flüsse hindeuten. In solchem Fall müssen die Tiere, deren Einwan- derung mit der Ablagerung des Kalkes zusammentraf, ein nördlicheres Gepräge tragen, als die Fauna der Schiefer. Barrande bemerkt aber auch ausdrücklich, dass die obersilurische Tierwelt der Kalk- knollen eine Einwanderung von Nordosten her vorauszusetzen scheint, während die untersilurischen Tiere der Schiefer von Südwesten her kamen. Man hat versucht, die „Kolonien“ durch Aenderungen in der Verteilung von Wasser und Land sich begreiflich zu machen. Es will mir jedoch scheinen, dass eine Wechsellagerung wie die eben be- schriebene ihre naturgemäßeste Erklärung durch die Annahme fin- 1) Siehe Mojsisovies, Die Dolomitriffe Süd-Tyrols und Venetiens. Wien 1879. S. 36. 2) Siehe v Hauer, Die Geologie und ihre Anwendung. Wien 1875. S. 515. 3) Siehe Barrande, Systeme Silurien de la Boheme. I. 5.73. — v. Hauer l. e. S. 208—209. 2 ne 494 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 3 Fig1 Kurre lerErdhahnesezentrizutät für die letzten 3.AMilTion Time S! 313) Envischen ‚Je xwer senkrechten Strichen liegt eın Zeitraum vo - 3000,000 2,3020000 7 S S S S S SS 15000, 000 Wechs een ee en een =) MT 426 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. det, dass lange klimatische Perioden der Grund gewesen sind für die periodisch wechselnde Beschaffenheit so- wol der Gesteinschichten, als auch der sie bevölkernden Tierwelt. Außer der Verschiebung der Küstenlinie und dem Wechsel trock- ner und regnerischer Zeiträume gibt es aber auch noch andere Ur- sachen, die eine Wechsellagerung veranlassen können. Ich denke dabei an die früher schon erwähnten mehr örtlichen und vor- übergehenden Aenderungen der Verhältnisse In den Terrassen, welche sich unter dem sogenannten Aufsteigen Norwegens an den Flußmündungen bildeten, findet man oft eine Wechsellagerung von Sand und Grus in dünnen Schichten. Jede Terrasse entspricht einer der genannten klimatischen Perioden, und die Wechsellagerung innerhalb der einzelnen Terrassen ist daher auf periodische Ursachen kürzerer Dauer zurückzuführen, wie z. B. auf Eisgänge, Hochwasser und Achnliches. In den Bildungen der Eiszeit findet man oft Wechsel- lagerung von Grus und Sand; aber der Wechsel ist auch an ziemlich benachbarten Punkten ein verschiedener, da linsenartige Sandmassen sich hie und da eingelagert finden. Solche Wechsel müssen aus lo- kalen Ursachen erklärt werden. Der Mergelthon bildete sich während des Abthauens der binnenländischen Eisdecke. Die Zufuhr war da- mals eine sehr reiche, und die Thonlager zeigen eine Wechsel- lagerung von Sand und Thon von verschiedner Farbe in dünnen Schiehten, welehe oft kaum die Dieke von einigen Millimetern er- reichen. Es kann niemand in den Sinn kommen annehmen zu wollen, dass eine derartige Wechsellagerung eine lange Periode zu ihrer Bil- dung in Anspruch nimmt. Solche schnell gebildete Schichten bestehen gern aus gröberem Stoff, besonders Konglomerat und Sand, und pfle- gen gar keine oder doch nur wenige Versteinerungen zu enthalten, jedenfalls keine von solchen Pflanzen und Tieren, die an Ort und Stelle lebten. Der heftige Strom kann natürlich Pflanzen und Tier- reste von andern Orten herangespült und sie in den betreffenden Schichten abgelagert haben, aber derartige Reste treten zufällig auf, und ihr Vorkommen ist kein Zeugniss für eine ruhige langsame Bil- dung der Schicht, wie dies bei jenen Versteinerungen von Tieren der Fall ist, welche an Ort-und Stelle gelebt und gestorben !) sind. Wechsellagerungen der eben besprochenen Art bildeten sich nur {) In den Bildungen der Steinkohlenzeit findet man jedoch aufrecht stehende, bis 15 Fuß hohe Baumstämme, welche von Sand und Thon umgeben sind, wobei letztere sogar bisweilen wechsellagern. Es ist augenscheinlich, dass eine derartige Wechsellagerung Verhältnissen lokaler Natur ihren Ursprung ver- dankt, und dass die Zufuhr sehr reichlich gewesen sein muss, denn sonst wären die Stämme gefault, ehe sie begraben werden konnten. Grade diese reiche Zufuhr ist wol auch der Grund dafür, dass die Kohlenlager sich bis auf unsere Tage erhalten haben, Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 427 an Orten, wo die Zufuhr reichlich war, also auf dem Lande oder in der Nähe desselben. Solehe Ablagerungen werden deshalb aber auch der Zerstörung besonders ausgesetzt sein, wenn die Uferlinie sich verschiebt. Wo ein großer Strom viel Material in das Meer hinaus- führt, werden sich freilich mächtige Schichten in kurzer Zeit bilden können; wenn aber diese Schichten über das Meer gehoben werden, sind sie dureh ebendenselben Strom, der sie gebildet, einer raschen Zerstörung ausgesetzt. Sobald die Hebung der Terrasse ihren Anfang nimmt, beginnt der Strom mit der Verwüstung seines eignen Werkes, und es gibt wol kaum viele unserer Flussterrassen, welche bis in ent- fernte Zeiten ausdauern werden. Sehichten, welche in weiterer Entfernung von den Flussmün- dungen und ferner vom Lande abgelagert wurden, haben bedeu- tend größere Aussicht auf Erhaltung für spätere Zeiten. Ehe sie aus dem Meere auftauchen, werden sie nämlich bereits von andern Sehiehten bedeckt und dadurch besser gegen zerstörende Einflüsse geschützt sein. Es ist demgemäß nur eine wahrscheinliche Annahme, dass es besonders derartige langsam gebildete Schichten sind, aus welchen die Hauptmasse der geologischen Schichtenreihen sieh auf- baut, und dass demgemäß die Wechsellagerung in der Regel einer an längere Zeiträume gebundenen Periode ihre Ent- stehung verdankt. Aus meinen Untersuchungen der Torfmoore, welche mich zuerst auf diese Annahme wechselnder Klimate geführt haben, scheint es sich zu ergeben, dass die Perioden einigermaßen regelmäßig nach Verlauf einer bestimmten Zeit zurückkehren. Es trifft nämlich allzu- häufig ein, dass die Torfschiehten aus den verschiedenen Regenzeiten in demselben Moor gleich mächtig sind, als dass man sich hier auf ein Spiel des Zufalls berufen dürfte !). Demgemäß könnte man vielleicht die Erwartung hegen, auch in den Meeresbildungen eine ähnliche Abwechslung von ungefähr gleichen Schichten anzutreffen. Dies pflegt indess nicht der Fall zu sein. An den Mündungen der Flüsse wird die Bildung von Bänken und die wechselnde Strömung leicht die Regelmäßigkeit stören und, wenn die Schichten sich langsam bilden, haben auch die Verschiebungen der Küstenlinien Einfluss auf die Dieke der Schichten. Wenn der Meeres- stand längere Zeit hindurch unverändert bleibt, oder wo die Küste sehr steil abfällt, kann zwar der Wechsel auch in den Meeresschichten regelmäßig sich gestalten; aber in der Regel ist eben doch der Stand des Meeres veränderlich, und die meisten Küsten fallen flach ab. Moseley nimmt an, dass der Abfall der Festländer gegen die große Meerestiefe durchschnittlich nur einem Neigungswinkel von zwei Grad 1) 8. Jagttagelser over det sydöstl. Norges Torvmyre in Chria. Vi- densk. Selsk. Forh. 1882. Nr. 6. S. 23—35. 498 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. entsprieht. Deshalb rücken die Küstenlinien selbst bei geringern Höhenveränderungen vor und zurück, und mit jenen auch die Grenze, bis zu welcher Flüsse und Meeresströme Stoffe von einer gegebenen Beschaffenheit ins Meer hinauszuführen vermögen. In Süßwasser- und Landbildungen, bei welchen ein solches be- ständiges Sichverschieben der Küste nach einer gewissen Richtung nicht hat einwirken können, wird eine regelmäßige klimatische Periode eine regelmäßige Bankbildung oder Abwechslung von Schichten glei- cher Dicke veranlassen können (wie im Durchschnitt aa auf der Zeichnung Fig. 2). Im Meere aber ist dies anders. Durch die Verrückung der Küste entstehen auch unter regelmäßigen klimatischen Wechselperioden doch sehr unregelmäßige Schichtenwechsel, wie der Durchsehnitt bb (Fig. 2) dies erläutern kann. Derselbe geht von unten durch eine größere oder geringere Mächtigkeit einer bestimmten Gebirgsart. Nach oben hin schalten sich immer dieker und dieker werdende Schichten einer andern Gebirgsart ein. Die Schichten der letztern nehmen an Dieke zu, während die Schichten der ersten abnehmen; zum Schluss ver- schwindet die erste ganz, und der Durchschnitt zeigt eine reine Mächtigkeit der zweiten. Wechsellagerungen ähnlicher Natur habe ich in der Silurformation bei Christiania gesehen, und dass dieselbe in den Schiehtenreihen häufig vorkommt, ersehe ich daraus, dass die- selbe auch in den Lehrbüchern angeführt wird !). Ich glaube, dass eine derartige Schiehtenfolge ihre beste Erklärung in der Annahme findet, dass dieselbe ein Produkt aus der gesammelten Wirkung der Uferverschiebung und der Wechselfolge troekner und regnerischer Zeiten ist. Aenderungen in der Verteilung von Land und Meer können durch Faltungen der Schichten selbst herbeigeführt werden. Auf solehe Weise sind große Gebirgsketten gebildet und Meerwasser- sehiehten Tausende von Fußen emporgehoben worden. Es dürfte sich aber auch zeigen, dass kleinere Veränderungen in dieser Beziehung durch Schwankungen des Meeresstandes bewirkt werden können. E. Suess hat die Aufmerksamkeit auf letztgenannten Um- stand, als möglichen Erklärungsgrund, hingeleitet ?). Er weist nach, dass Terrassenland, d. h. Gegenden mit Terrassenbildungen, die von einem höhern Meeresstand in der Vorzeit herrühren, sowol in der alten, wie in der neuen Welt, und ebenso auf beiden Seiten des Aequators wesentlich in den höhern Breiten sich vorfindet. Ebenso I) Siehe Credner, Elemente der Geologie. Leipzig 1872. S. 236. A. Geikie, Textbook of Geology. London 1882. p. 4%. 2) $8.E. Suess, Ueber die vermeintlichen säkularen Schwankungen einzelner Teile der Erdoberfläche. Verhandl d K.K. Geol. Reichsanstalt. Wien 1880. STR Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 429 ersieht man aus den ältern Schichtenreihen, dass auch damals gleich- zeitige Verschiebungen der Küstenlinien über verschiedene Teile der Erdoberfläche hin in gleicher Richtung stattgefunden haben, was sich am leichtesten durch Aenderungen des Meeresstandes erklären lässt. Suess glaubt, dass das Meer zeitenweise in den niedrigern Breiten steigt, während es gleichzeitig unter den höhern sinkt, um dann später wieder den Polen zuzuströmen. Er nimmt aber auch an, dass dieses Steigen und Fallen in zahlreichen kleinen Oseillationen sich vollzieht, eine Annahme, welche er zweifelsohne durch das Auf- treten der Terrassen und Strandlinien begründet, welche aber mir überflüssig zu sein scheint, da ich gezeigt habe, wie diese Stufen durch den Wechsel trockner und regnerischer Zeiten sich erklären lassen. Diese Verschiebung der Küsten infolge der Veränderlichkeit des Meeresstandes wäre demnach auch eine periodische, so dass wir zwei Perioden anzunehmen hätten, welche dureh die ganze Reihe der geologischen Formationen sich hindurchziehen: die Schwankungen des Meeresstandes und die Aenderungen der Regenmenge. Die erste Periode erfordert längere Zeit und umschließt mehrere der letztern. Die kleinere Periode scheint an einigermaßen regelmäßig zurückkehrende Zeiträume geknüpft zu sein, aber die große ist unregelmäßig, denn sie umfasst nicht immer eine gleiche Anzahl der kleinern. Diese beiden Perioden gelangen aber nicht allein in dem Wechsel der Schiehtenfolge durch die Reihe der geologischen Formationen hinauf zum Ausdruck, sondern sie zeigensich auch im Wechsel der Versteinerungen. Denn jene Perioden sind es ja doch gewesen, welche schon seit den ältesten Zeiten die Wan- derungen der Tiere und der Pflanzen bedingt haben. Und da die Wanderungen wieder Aenderungen der Formen hervorgebracht haben, liefern jene Perioden eine der wichtigsten Ursachen zur Bildung neuer Arten und Weiterbildung der lebenden Wesen auf der Erde. Unter den langsamen Aenderungen des Klimas wandern ganze Gruppen von Tieren und Pflanzen langsam von Ort zu Ort, jenach- dem die klimatischen Grenzen sich verlegen. Diese langsame Wanderung trägt nun aber zunächst dazu bei, die For- men lange Zeit hindurch unverändert zu bewahren, was ich in einer frühern Abhandlung schon hervorgehoben habe !). Die Artgruppen wandern mit dem für sie passenden Klima, und solange dies der Fall ist, ist ja an den Lebensbedingungen derselben nichts geändert. Witterungsverhältnisse und Nebenbuhler bleiben die- selben. Es wird demgemäß nur geringe Veranlassung zur Bildung 1) Engler’s Jahrbücher 1881. IL. 1. S. 47. 430 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. neuer Formen sich ergeben, außer insofern, als die Arten derselben Gruppe an verschiedenen Orten sich etwas verschieden gruppiren können; aber selbst da, wo einzelne Aenderungen entstehen sollten, werden dieselben doch dureh Kreuzung mit der Hauptform wieder zu letzterer zurückkehren, da ja die langsame Wanderung immer mit Massen von Einzelwesen derselben Art gleichzeitig vor sich geht. Hierin sehe ich den Grund dafür, dass so viele noch lebende Arten in den präglaeialen Schichten sich finden, und dass seit der Eiszeit unter den nach Skandinavien eingewanderten Pflanzen kaum eine ein- zige Form sich gebildet hat, welche von allen andern so abweicht, dass sie von allen als das anerkannt wird, was man „eine gute Art“ nennt. Zufällige und plötzliche Wanderung eines vereinzelten Samenkorns oder Eies nach einer entfernten Gegend bewirkt dagegen oft die Bildung neuer Arten, wie dies aus dem Pflanzen- und Tierleben auf den ozeanischen Inseln zu ersehen ist '). Diese Inseln, welche nie durch Landverbindungen mit den großen Kontinenten verknüpft waren, haben ihre Tiere und Pflanzen durch zu- fällige Wanderungen erhalten, durch welche einmal dies, ein ander- mal jenes Ei oder Samenkorn den Weg dorthin fand. Die Einwan- derung kann nicht ganze Artgruppen und jedenfalls auch nur ausnahms- weise Mengen von Individuen umfasst haben. Die eingewanderten Formen kamen somit in neue Gesellschaft und unter neue Lebensbe- dingungen, aus welchen Aenderungen folgen mussten. Da die Einwan- derung nur einige wenige oder einzelne Eier und Samen betroffen hatte, war auch die Kreuzung mit der Hauptform ausgeschlossen. Des- halb sind denn auch diese ozeanischen Inseln so reich an eigen- tümlichen Pflanzen und Tieren. Die Pflanzen der Galäpagosinseln zeigen durch ihre Verwandtschaft mit Amerika, dass sie aus diesem Lande eingewandert sind; im neuen Vaterlande haben sie sich jedoch in so großem Maßstabe geändert, dass von den 310 Phanerogamen der Inseln nicht weniger als 174 denselben eigentümlich sind und sonst nirgends in der Welt sich wiederfinden. Einige dürften viel- leicht alte Formen sein, welche andern Orts im Kampf ums Dasein unterdrückt und ausgestorben sind; aber da dasselbe Geschlecht bis- weilen auf den verschiedenen Inseln mit verschiedenen Arten auftritt, sieht man deutlich, wie die Arten auf jeder Insel je nach den dort grade obwaltenden Verhältnissen sich abgeändert haben. Die Sand- wiehinseln haben 669 wildwachsende Gefäßpflanzen. Von diesen sind 500 (oder 74,6°/,) diesem Fundort eigentümlich ?) und sonst nirgends 1) S. Wagner, Die Darwin’sche Theorie und das Migrationsgesetz der Organismen. Leipzig 1868. — Hooker, Lecture on insular Floras. London 4866. — Darwin, Origin of Species. 2) 8. Engler, Versuch einer Entwieklungsgeschichte der Pflanzenwelt II. Leipzig 1882. S. 126. Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 431 in der ganzen Welt wiedergefunden worden. Nähere oder fernere Ver- wandte finden sich jedoch auf den entfernt liegenden Festländern, von welehen die Einwanderung vor sich gegangen ist. Zufällige Wan- derungen geben somit zur Bildung neuer Arten Veranlassung. Wenn man die Listen über die verschiedenen Artgruppen der norwegischen Flora durehmustert, wie ich dieselbe in der vorerwähnten Abhandlung in Engler’s Jahrbüchern gegeben habe, so wird man eine doppelte Bemerkung machen: einmal, dass ein sehr häufiger Fall der ist, dass man nahestehende Arten oder Formen findet, welche zu verschiedenen Gruppen gehören; dann aber auch, dass man ebenfalls oft nahestehende Arten sieht, welehe zu derselben Gruppe gehören. Nur ein paar Beispiele aus der großen Menge derselben mögen hier an- geführt werden, da ein Aufzählen sämtlicher zu weitläufig werden würde. So ersetzen folgende Formen in der Küstenflora die ent- sprechenden der Binnenlandsflora entweder ausschließlich oder teil- weise: Küste. Binnenland. Quercus sessiliflor«a Q. pedunculata Alnus glutinosa A. incana Centaurea nigra ©. Jacea Lonicera Perielymenum L. Aylosteum Primula acaulis P. veris Heracleum australe H. sibiricum Polygala depressa P. vulgaris Circaea lutetiana C. alpina Bei den Wanderungen kann es leicht geschehen, dass einzelne Formen in neue Gesellschaft kommen. Aber ebenso, wie die Einwanderer nach den ozeanischen Inseln sich änderten, weil sie unter neue Verhältnisse kamen, ebenso werden auch die Arten einer Gruppe sich ändern können, wenn dieselben ihre Genossen an einem bestimmten Ort über- leben und in die Gesellschaft neuer Einwanderer kommen. Wenn eine Art dem Aussterben nahe ist, die Verhältnisse aber im letzten Augenblick noch sieh zu bessern anfangen, entweder z. B. weil die Art beugsam ist und sich nach den Verhältnissen richten kann, oder weil das Klima und andere Verhältnisse wieder anfangen sich günstiger zu gestalten, so wird die Art eine neue Art werden können, weil nun die Lebensbedingungen andere geworden sind, als früher, und die Kreuzung mit der Hauptform ausgeschlossen ist '). So, glaube ich, lässt sich das Vorkommen nahestehender Arten in ver- schiedenen Gruppen erklären. Wenn nun eine so geänderte Form bei einem neuen Umschlag des Klimas später wieder mit ihren alten 4) In Kerner’s Abhandlung über die Arten des Genus Tubocytisus findet man vielleicht hierher gehörige Beispiele. 439 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. Kameraden zusammenkommt, wird dieselbe kaum wieder auf ihre alte Form zurückgeführt werden können, wenigstens dann nieht, wenn die Umwandlung in der Zwischenzeit eine so tiefgehende gewesen, dass sie die Kreuzung mit der Hauptform unmöglich gemacht hat!); es werden aber doch Aenderungen in andern Beziehungen eintreten, und so erhalten wir nahestehende Arten, welche derselben Gruppe angehören. Dass Veränderungen der Witterungsverhältnisse schon für sich allein die Bildung neuer Formen einleiten kann, scheint aus einer Abhandlung von F. Hildebrand?) hervorzugehen, in welcher dieser über den Einfluss berichtet, den ein ungewöhnlich kühler und feuchter Sommer mit darauffolgendem mildem Winter auf die Pflanzenwelt bei Freiburg in Baden ausgeübt hat. Pflanzen, welche die Blätter abwerfen und im Frühling vor der Blattentfaltung Blüte ansetzen, und welche vorzugsweise dem Binnenland angehören, wie Duphne Mezereum, behielten ihre Blätter weit länger als sonst. Die Blätter wurden dieker und saftvoller und würden sich wahrscheinlich bis zur Ent- wieklung der neuen Blätter gehalten haben, wenn nieht eine Frost- nacht sie endlich getötet hätte. Auch die Blumen öffneten sich im Spätherbst, ehe die alten Blätter abgefallen waren. Man hat ja auch immergrüne Daphne-Arten, und es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass eine laubweehselnde Art allein durch den Wechsel von trocknen und regnerischen Zeiten nach und nach in eine immergrüne über- gehen kann, und umgekehrt. Lonicera tatarica zeigte nach Hildebrand in jenem feuchten Sommer eine merkwürdige Abweichung von dem Gewöhnlichen. Die Blüten dieser Pflanze sitzen gewöhnlich je zwei und zwei zusammen, wie bei L. Xylosteum. Unter jenen ungewöhnlichen Witterungsver- hältnissen trieb dieselbe einige Schösslinge, auf welchen die Blüten sieh in kopfartigen Blütenständen entwickelten, grade wie bei 2. Peri- clymenum. Es besteht somit auch eine Möglichkeit dafür, dass Lo- nicera-Arten mit gepaarten Blüten, wie L. tatarica, L. Aylosteum u. 8. W., in einem feuchten Klima zu Arten mit in einen Kopf zusammenge- stellten Blüten, wie 2. Periclymenum, L. Caprifolium u. s. w. sich um- gestalten könnten. Es würde gewiss von hohem Interesse sein, wenn jemand in einem Treibhaus, in welehem man den ganzen Winter über die Luft feucht und mild erhalten könnte, Versuche anstellen wollte über die Aenderungen, welche unsere inländischen Pflanzen möglicher- weise erleiden könnten. Ich glaube somit, dass jene beiden Perioden zur Bildung von 2) Im entgegengesetzten Falle werden sich Kreuzungsformen bilden. So ist vielleicht Veronica media, Geum intermedium entstanden; möglicherweise auch Centaurea decipiens, Primula elatior, Circaea intermedia u. a. m. 3) Engler’s Jahrbücher IV, 1. 8. 1. Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 433 neuen Arten beitragen. Und da die zufällige Wanderung in die Ferne doch immer nur zu den Ausnahmen gehört, glaube ich auch, dass die erwähnten Perioden eine der wichtigsten Ursachen für die Aenderung der Formen abgeben. Diese Aenderungen erfordern aber Zeit. Bei jedem Umschlag des Klimas werden immer nur einzelne Arten an den geeigneten Orten in neue Gesellschaft geraten und sich dadurch än- dern. Seit der Eiszeit hat sich unter den nach Skandinavien einge- wanderten Arten kaum etwas mehr gebildet, als neue Abarten. Aber diese Einwanderer haben auch, seit sie dorthin gelangten, nur einen, oder höchstens einige wenige Wechsel zwischen trocknen und reg- nerischen Zeiten erlebt, so dass wir darum auch nicht erwarten kön- nen, jetzt schon eine große Veränderung zu spüren. Räumt man aber nur hinreichend lange Zeit ein, so werden auch bei langsamer Wanderung durch den Einfluss einer längern Reihe auf- einander folgender und abwechselnd trockner und reg- nerischer Zeiten doch schließlich ganze Gruppen von Pflanzen sieh ändern, einmal die eine Art, ein andermal die an- dere, bis endlich alle umgewandelt sind. Daher finden wir denn auch, wenn wir z. B. bis zur Miocänzeit zurückgehen, freilich wol immer noch die in der Gegenwart lebenden Geschlechter, aber eine Vertretung derselben durch größtenteils andere Arten, obwol die Wanderung der Hauptsache nach die ganze Zeit hindurch eine langsame gewesen ist, an welcher ganze Gruppen teilgenommen haben, und bei welcher die Arten mit Massen von Individuen von Ort zu Ort vorgerückt sind. Was hier gesagt wurde über den Pflanzenwuchs des Landes, gilt aber ebenso gut von allem Pflanzen- und Tierleben. Denn auch die Formen des Meeres sind ähnlichen Perioden unterworfen mit den daraus folgenden Wanderungen und Wandlungen. Eine Bestätigung der letzten Behauptung sehe ich darin, dass, wie G. OÖ. Suess erzählt, die Tierwelt des Meeres in der Regel bei seichterem Wasser und in der Nähe des Landes am reichsten an Formen ist, wie denn auch die Formen in dieser Region die größte Veränderlichkeit zulassen. In den tiefen Meeresgründen trifft man eine an Formen ärmere Fauna, aber festere Formen, von welchen einige sogar uralten Typen angehören. Bei den Untersuchungen der großen Meerestiefen in den letzten Jahren hat man Formen gefun- den, die Gruppen angehören, welche man längst für ausgestorben ge- halten hatte. Aehnliche Formen aus ältern Zeiten hat man (nach Suess) auch in den alten Tiefwasserbildungen gefunden, welche in den Alpen gehoben und gefaltet wurden. Der Grund jener Eigentüm- lichkeiten in den Formen des Tiefseelebens ist wol der, dass jene mehrfach besprochenen Perioden in den tiefen Meeresgründen nur eine schwache Wirkung äußern; und sofern es nun wirklich jene Perioden sind, welche die Aenderung der Formen bedingen, so ist es Ja ganz in der Ordnung, dass letztere in großen Meerestiefen sich 28 434 De Candolle u. Asa Gray, Die Urheimat der Bohne und der Kokospalme. auch längere Zeit hindurch unverändert erhalten müssen, als dies in der Nähe des Landes und überhaupt an seichtern Punkten der Fall sein kann !). (Schluss folgt.) Die Urheimat der gemeinen kultivirten Bohne (Phaseolus vul- garis) und der Kokospalme. Linne hatte Indien für die Heimat der gemeinen Bohne erklärt, und diese Angabe ist in die Lehrbücher und noch in die Flora von Britisch Indien vom Jahre 1879 übergegangen. Aber schon in seiner Geographie botanique raisonnde vom Jahre 1855 hatte Alphonse de Candolle darauf hingewiesen, dass dieser Annahme der Umstand ent- gegenstände, dass ein Sanskritname für die Pflanze fehlt, und dass sich nieht erweisen lässt, dass die Bohne in früher Zeit in Indien oder weiterim Osten kultivirt worden wäre. Er selbst hielt den Dolichos oder Phaselos der Griechen und Römer der Kaiserzeit für unsere Bohne und suchte die Heimat derselben irgendwo im nordwestlichen Asien. Neuerdings hat man indess Früchte und Samen der gemeinen Bohne, zusammen mit Samen und andern vegetabilischen Substanzen aus- schließlich amerikanischen Ursprungs in Gräbern des alten Totenfel- des von Ancon in Peru aufgefunden. Dies veranlasst denn auch De Candolle zu einer Aenderung seiner Ansichten. In seinem neusten Werke: Origine des plantes cultivees (Bibl. se. internat. tom. XLII. Paris. Bailliere Co. 1883.) setzt er auseinander, dass wir kein siche- res Zeugniss dafür haben, dass die Pflanze vor der Entdeckung Ame- rikas in Europa bekannt gewesen wäre, und dass unmittelbar nachher dieselbe gleich in mehrern Varietäten in den Gärten erscheint und von den Autoren erwähnt wird. Er führt ferner an, dass die meisten der verwandten Arten der Gattung in Südamerika einheimisch sind, und dass tatsächlich mehrere Sorten Bohnen vor der Ankunft der Spanier in Amerika kultivirt wurden. Trotzdem kann er sich nicht entschließen, unsere Bohne als amerikanisch zu bezeichnen und führt dieselbe vielmehr unter den drei Kulturgewächsen auf, bei denen er es unentschieden lässt, ob ihre Heimat in der alten oder neuen Welt zu suchen sei. In einer Besprechung von De Candolle’s Werk in dem ersten Wochenheft der neuen Zeitschrift „Seience“ (Cambridge Mass. U. S. A.) weist Asa Gray darauf hin, dass dievon De Candolle an- geführten Gründe doch sehr entschieden für einen amerikanischen Ursprung unserer Bohne sprechen. Mais, Bohnen und Kürbisse seien 4) Hier ist jedoch zu bemerken, dass Neumayr neuerdings sich dahin ausgesprochen hat, dass die Behauptung von dem größern Reichtum des tiefen Meeres an alten Typen, in Vergleich mit den Küstengegenden, bisher noch nicht als bewiesen angesehen werden darf. Barfurth, Der phosphorsaure Kalk der Gastropodenleber. 435 seit undenkliehen Zeiten in dem ganzen Gebiet vom Isthmus von Pa- nama bis nach Canada kultivirt worden. Wenn auch einige der Bohnen- sorten, die Oviedo im Jahre 1526 aus Nicaragua erwähnt, oder die De Loto auf seinem denkwürdigen Marsche von der Tampa Bay in Florida zum Mississippi (1539— 1542) überall angebaut fand, vielmehr der Speeies Phaseolus lunatus angehören dürften, so könnten doch die Bohnen, welche in gleich früher Zeit Jaques Carlier bei den ka- nadischen Indianern antraf, nur unserer Ph. vulgaris oder deren Zwerg- abart Ph. nanus angehört haben. Denn nur die Pflanzen dieser Spe- cies hätten in dem kurzen Zwischenraum zwischen den Frühlings- und Herbstfrösten daselbst Zeit zur Reife zu gelangen. Viel eher ist Asa Gray geneigt, für die Kokospalme, welche De Candolle früher der neuen und jetzt der alten Welt zuweist, die Frage ihres Ursprungs offen zu lassen. Sicher ist, dass die Pflanze in vorgeschichtlicher Zeit sich von einem Ufer des stillen Ozeans bis zum andern ausgebreitet hat. In welcher Richtung aber diese Aus- breitung stattgefunden hat, wird sich schwerlich je mit Sicherheit aus- machen lasseıı. Meeresströmungen gehen sowol in der einen wie in der andern Richtung. Für Amerika als Heimat der Kokospalme würde sprechen, dass sämtliche andere Arten der Gattung amerikanisch sind und dass die Conquistadoren an der pazifischen Küste ganze Wälder von Kokospalmen antrafen. Andererseits hätte ein so nütz- licher Baum, wenn er seit undenkliehen Zeiten in jenen Gegenden einheimisch gewesen wäre, schon in früher Zeit seinen Weg über die Landenge finden müssen. Tatsächlich ist aber die Kokospalme erst in neuerer Zeit an die atlantische Küste und nach den Antillen gelangt. Ed. Seler (Krossen a. O.). Der phosphorsaure Kalk der Gastropodenleber. Von Dr. D. Barfurth. Aus dem anatomischen Laboratorium in Bonn. In Bd. III Nr. 11 dieser Zeitschrift kritisirt Herr Dr. Joh. Frenzel die Resultate meiner Untersuchungen über die Gastropodenleber. Zur Abwehr dieses Angriffs einige Bemerkungen. Die „braunen geschichteten Kugeln“ habe ich nicht übersehen, sie bilden vielmehr seit längerer Zeit Gegenstand meiner weitern Un- tersuchung. Zu F.’s Kritik meiner Mitteilungen über die Ferment- und Leberzellen habe ich nichts zu bemerken. Frenzel’s Hauptangriff richtet sich gegen die Kalkzellen. Die in diesen Zellen enthaltenen glänzenden Kügelchen sollen nicht aus phosphorsaurem Kalk, sondern aus organischer Substanz bestehen und entgegen meiner Behauptung sehon im frischen Gewebe durch Säu- ren gelöst werden. F.’s Angabe, dass es ihm gelungen, mit konzen- 23 * 436 Barfurth, Der phosphorsaure Kalk der Gastropodenleber. trirten und verdünnten Säuren eine sofortige Lösung jener Kör- ner herbeizuführen, hat für die von mir bei Arion und Helix gefun- denen und in meiner Arbeit beschriebenen Kügelchen bei Anwendung verdünnter Säuren keine Giltigkeit. Man kann nach der landläufigen Methode mittels Ansaugen des Reagens durch Fließpapier!) lange Zeit, oft stundenlang, vergeblich auf die Lösung der Kügelchen war- ten, während sie sich im Schnitt eines gehärteten Präparats momen- tan lösen. Wenn die Löslichkeit im frischen Gewebe so leicht zu konstatiren wäre, warum haben denn die alten Beobachter, z. B. Meckel, die doch auch mit Reagentien umzugehen wussten, sie nicht gefunden? Warum habe ich selbst erst durch Berücksichtigung des verschiedenen Verhaltens frischer und gehärteter Gewebe gefunden und mit Sicherheit nachgewiesen, dass die Körner in verdünnten Säuren löslich sind? Indess brauche ich mich hierbei nicht länger aufzuhalten, da F. alle von mir angegebenen Reaktionen lediglich be- stätigt. Ich will aber F. an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, dass meine Körner von phosphorsaurem Kalk nicht durehsichtig sind und durch eine Jodlösung nicht braunschwarz gefärbt wer- den, überlasse ihm also die Untersuchung darüber, ob er nicht, wenig- stens zum Teil, andere Körner gesehen hat. F. gibt nun aber eine neue Reaktion an, die meine ganze Theorie widerlegen soll: Triealeiumphosphat ist in Oxalsäure unlös- lich, die glänzenden Körner in der Gastropodenleber sind in derselben löslich, folglich können sie nicht aus phosphorsaurem Kalk bestehen. Diese Schlussfolgerung ist hinfällig, weil die erste Prämisse falsch ist. Weder der kohlen- saure, noch der phosphorsaure Kalk ist in Oxalsäure un- löslich, wie F. behauptet. Was den kohlensauren Kalk anbetrifft, so geben schon die chemi- schen Lehrbücher an, dass die Kohlensäure durch Oxalsäure ausge- trieben wird. Man überzeuge sich aber durch eignen Versuch. Bringt man reinen kohlensauren Kalk in ein Reagensrohr und setzt Oxal- säure — etwa eine Lösung von 5 °/, — zu, so hört und sieht man 1) Diese Methode ist für die hier in betracht kommenden Gewebe ganz unzuverlässig und wird von mir nur noch zur Kontrolle angewandt. Man über- zeugt sich leicht, dass sich zwischen den Gewebsteilchen, die das Deckgläschen mit dem Objektträger verkleben, Straßen bilden, durch die das angesogene Reagens seinen Weg nimmt. Die frei schwimmenden Kügelchen werden weg- gerissen und entziehen sich der Beobachtung, die im Gewebe liegenden wider- stehen der Einwirkung des Reagens, wenn Schleim und Albuminate reichlich vorhanden sind, was ja freilich nicht bei allen Objekten der Fall zu sein braucht. Zuverlässige Resultate bekommt man nur, wenn man kleine Stück- chen oder Schnitte der frischen und der gehärteten Gewebe in niedrige mit dem Reagens gefüllte Zylindergläser bringt und nach kürzerer oder längerer Zeit untersucht, Barfurth, Der phosphorsaure Kalk der Gastropodenleber. 437 das Aufbrausen von Kohlensäure. Aber es bleibt ja ein Niederschlag! Ja wol, er besteht aber niebt mehr aus kohlensaurem, sondern aus dem gebildeten unlöslichen oxalsauren Kalk. Man filtrire, wasche aus, löse den Niederschlag in Salpetersäure und setze essigsaures Natron zu: es entsteht der bekannte in Essigsäure unlösliche Nieder- schlag von oxalsaurem Kalk. In bezug aufdas Triealeiumphosphat finden wir ein ähnliches Verhalten: die Oxalsäure löst ihn, wenn auch nicht so schnell wie eine anorganische Säure; auch Essigsäure löst ja den basisch phosphorsauren Kalk nur, wenn er frisch gefällt war, sonst langsam. Man mache nun folgenden, keineswegs überflüssigen Versuch. Eine kleine Menge von chemisch reinem Triealeiumphosphat wird mit Oxal- säure übergossen: es zeigt sich keine Veränderung. Dann filtrire man nach einiger Zeit und prüfe einen Teil des Filtrats mit Salpeter- säure und Ammoniummolybdänat auf Phosphorsäure: man bekommt keinen gelben Niederschlag und es scheint in der Tat, dass F. recht hatte mit seiner Behauptung, der phosphorsaure Kalk sei in Oxal- säure unlöslich. Nun füge man aber eine größere Menge Ammo- niummolybdänatzu und erhitze wieder: der gelbe Niederschlag, der die Anwesenheit der Phosphorsäure beweist, erscheint jetzt, weil die störende Wirkung der freien Oxalsäure durch den Uebersehuss des Reagens paralysirt wird. — Man übersättige ferner den Rest des Filtrats mit Ammoniak, füge etwas Ammoniumchlorid und dann Magnesiumehlorid hinzu: es entsteht der bekannte Nie- derschlag von Ammoniummagnesiumphosphat. Wem noch Zweifel an der Natur dieses Niederschlages bleiben, der wasche ihn aus, löse ihn auf dem Filter und setze der klaren Lösung etwas Am- moniummolybdänat zu. Beim Erhitzen bekommt man dann wieder den gelben Niederschlag von phosphorsaurem Ammoniummolybdänat. Ebenso, wie ieh es oben beschrieben habe, lässt sich dann auch in dem abfiltrirten Niederschlag wieder der neugebildete oxalsaure Kalk nachweisen. — Nach diesen Versuchen wollen wir uns also nicht mehr darüber wundern, dass der phosphorsaure Kalk in der Gastro- podenleber durch Oxalsäure gelöst wird und dass F. gelegentlich nach Zusatz von Oxalsäure Krystalle von oxalsaurem Kalk (8. 326) ge- sehen hat. F. gibt dann an, dass beim Erhitzen eines Zupfpräparats sich die Kügelehen schwärzten und die konzentrische Schiehtung sehr deutlich zeigten. „Wurde jetzt Salzsäure zugefügt, so wurden sie nicht gelöst, sie sind also verkohlt.“ Wenn Frenzel diesen Versuch zu Ende geführt und statt zu „verkohlen“ einfach verascht hätte, so würde er sich überzeugt haben, dass er keine verkohlte organische, son- dern nur eine mit Kohle überdeckte anorganische Substanz vor sich hatte. Ich habe einen Schnitt der Helix-Leber auf einer dünnen Glasplatte verascht und die Körner, natürlich vielfach zu- 438 Bärfurth, Der phosphorsaure Kalk der Gastropodenleber. sammengebaeken und in der Form verändert, überall wieder ge- funden. Ich möchte nun aber dem Leser noch einige neue Tatsachen mit- teilen. F. gibt zu, dass die Gastropodenleber viel „Phosphorsäure und Caleium“ (soll heißen phosphorsauren Kalk?) enthält; er behaup- tet aber, dass derselbe in der Leber gelöst sei, während ich ihn in der Form glänzender Körner, also ungelöst unter dem Mikroskop sehe. Ich habe nun ein Stück der Arion-Leber mit Wasser, ein an- deres mit Kochsalzlösung von 0,5 °/, 15 Minuten lang unter wider- holtem Umschütteln extrahirt und dann filtrirt. Eine Probe beider Filtrate gibt keine Phosphorsäurereaktion. Nun habe ich den Leberrest mehrmals mit Wasser abgewaschen und ihn dann einige Sekunden mit Salpetersäure unter Erhitzen extrahirt. Wenige Tropfen des filtrirten Extraktes geben eine sehr intensive Phos- phorsäurereaktion. Endlich habe ich dieselben glänzenden Kügelchen, die ich in der Leber nachgewiesen habe, auch im weißen Mantel der Sommertiere gefunden. Im Sommer findet im Mantel eine An- häufung dieser Kalkkörner statt, wie ich schon früher mitgeteilt habe. Eine am 16. Aug. d. J. gefangene Helix pomatia hatte einen sehr kalkreichen Mantelrand — ein „weißes Halsband“, wie der alte Ga- spard sagt. Dieses Halsband wurde in absolutem Alkohol gehärtet und zeigte in jedem Schnitte, in und zwischen den Gewebselementen und in dem geronnenen Schleim zahlreiche größere und kleinere glän- zende Kügelehen von phosphorsaurem Kalk, charakterisirt durch alle Reaktionen, die ich von den entsprechenden Kügelchen in der Leber angegeben habe. Außer diesen fanden sich dann in den großen Kalk- drüsen die von Leydig u. a. beschriebenen Körner von kohlen- saurem Kalk. Diesem mikroskopischen Befunde entspricht nun auch wieder die von mir angegebene Reaktion auf Phosphorsäure in den Geweben: ein hanfkorngroßes Stück liefert beim Erhitzen mit Salpeter- säure auf Zusatz von Ammoniummolybdänat einen gelben Niederschlag von phosphorsaurem Ammoniummolybdänat. Es ist nun nieht wol anzunehmen, dass diese Körner im Mantel „bei der Verdauung eine wichtige Rolle spielen.“ Zum Schluss noch einige an anderer Stelle ausführlicher zu be- sprechende Tatsachen. Die Leber der Gattungen Paludina, Limnaeus und Planorbis ent- hält keine Kalkzellen und gibt dementsprechend keine Phos- phorsäurereaktion. Die Leber der Gattungen Helix, Arion, Limax und Cyclostoma ist reich an Kalkzellen und gibt eine intensive Phosphorsäure- reaktion. Der Mantel einer am 14. Aug. d. J. gefangenen Helix nemoralis war durehscheinend, nicht weiß, enthielt sehr wenig Kalkkörner — Olivier und Richet, Mikroben in der Lymphe der Fische. 439 vom kohlensauren Kalk abgesehen — und sehr wenig Phosphor- säure. Die Fäces einer Helix pomatia (16. August) enthalten keine Kalkkörner und keine Phosphorsäure. — Ich glaube, dass hiernach für jeden physiologisch-chemisch geschulten Beobachter die Kalkfrage entschieden ist: da die Phosphorsäurereaktion stets an die Gegenwart der glänzenden Kügelchen gebunden ist und die letztern auch sonst alle Reaktionen des phosphorsauren Kalks zeigen, so müssen sie eben aus phosphorsaurem Kalk bestehen. Eine andere Frage ist die, in welcher Form und eventuell in welcher Verbindung dieser Kalk in der Leber vorhanden ist; diese Frage betrachte ich jetzt wie früher als eine offene. Mikroben in der Lymphe der Fische. Olivier und Richet haben durch Monate lang fortgesetzte Un- tersuchungen festgestellt, dass in der Lymphe der Fische Mikroben vorkommen, deren biologische Verhältnisse und Entwicklung sie noch weiter zu beobachten gedenken. Betrachtet man Lymphflüssigkeit vom Meeraal (Conger vulguris) oder der Kliesche ( Platessa limanda), so sieht man darin fast immer kleine kurze, bewegliche, deutlich ausgeprägte Bacillusstäbehen, welche sich durch Anilin und Eosin färben lassen, also die äußern Merkmale aufweisen, welche die Wissenschaft diesen Mikroben zuschreibt; es ist unmöglich, dass man sie mit andern Or- ganismen oder mit einem Krystallverwechseln könnte. Die Lymphflüssig- keiten sind besonders reich an solchen Mikroben, auch im Blute des Herzens sind solche vorhanden, jedoch gewöhnlich in weit geringerer Zahl. Wie in den meisten Fällen des Parasitenlebens herrscht in der Menge der vorhandenen Parasiten die größte Verschiedenheit je nach dem infizirten Individuum und der infizirten Art; am besten ließen sich die Bacilli beim Platteis (Platesst« vulgaris), beim Meeraal und bei der Rothfeder (Leueiscus rutilus) beobachten. Außer den Baeillen sind in der Lymphe und im Blut der Fische stets kleine glasartige, lichtbrechende Kügelehen vorhanden; darunter befinden sich wahrscheinlich Sporen und Mikrokokken. Die bloße mi- kroskopische Untersuchung lässt darüber jedoch noch keine Schlüsse zu. Weiter haben Olivier und Richet noch ein Diastaseferment in den Lymphflüssigkeiten der Fische entdeckt, welches der letztgenannte Forscher bereits früher in der Absonderung des Darmfells aufgefun- den hatte; die Lymphflüssigkeiten des Darmfells, wie des Herzbeutels und des Gehirns zeigen, mit Stärke gemischt, unter Zusatz oder ohne Zusatz von Aether oder Cyankalium, in wenigen Stunden einen merk- lichen Zuckergehalt; jedoch ist diese Eigenschaft nicht konstant, und es wirken daher in gewissen Fällen die Lymphflüssigkeiten nicht auf die Stärke ein. Man kann kaum annehmen, dass dieses Auftreten von 440 Gegenbaur, Lehrbuch der menschlichen Anatomie. Diastase eine der Lymphe anhaftende Eigentümlichkeit sei, sondern es ist viel wahrscheinlicher, dass die Diastase von Mikroben herrührt, wodurch eine weitere Stütze der Resultate der mikroskopischen Un- tersuchung gefunden sein würde. Die genannten Forscher haben noch Kulturversuche mit den Lymphmikroben angestellt und sind dadurch zu der Ueberzeugung gelangt, dass diese Mikroben nieht aus der Luft in die Tiere gelangt sein können; bei etwa achtzig Versuchen zeigten sich nur in zwei Fällen Fäulnisserscheinungen, und wenn auch das Fleisch dieser Fische von Baeillen wimmelte, konnte man mit demsel- ben doch nicht wie mit faulem Fleisch Kulturflüssigkeiten infiziren. Olivier und Richet glauben daher annehmen zu können, dass im- mer, oder wenigstens fast immer, in den Lymphflüssigheiten und des- halb auch im Innern der Gewebe der Fische Mikroben vorhanden sind. (Academie des sciences de Paris. Sitzung vom 9. Juli d. J.). H. Behrens (Halle). C. Gegenbaur, Lehrbuch der menschlichen Anatomie. Leipzig, Engelmann 1883. 984 S. mit 558 zum Teil farbigen Holzschnitten. Gegenbaur’s Lehrbuch, von denen, die um seine Vorbereitung wussten, längst mit Spannung erwartet, ist soeben erschienen. In welchem Sinne das umfangreiche Material der menschlichen Anatomie in demselben beurteilt und bewältigt werden würde, stand von vorn- herein für jeden fest, welcher dem siegreiehen Eindringen der Dar- win’schen Entwicklungslehre in Deutschland und den Arbeiten der Pioniere dieser Lehre gefolgt war. Zudem konnte auch der Ausdruck der Zustimmung, mit dem G. das Erscheinen in gleichem Geiste ab- gefasster Darstellungen, namentlich Schwalbe’s Neurologie, in seiner Zeitschrift begrüßt hatte, als Hinweis — wenn es dessen noch be- durfte — dafür dienen, in welehem Sinne er selbst eine solche Auf- gabe lösen würde. So wird denn in streng konsequenter Durch- führung einer in Darwin’s Lehre wurzelnden Anschauung der mensch- liche Organismus überall als das Produkt zahlreicher Umänderungen, die ihn im Laufe der Zeiten getroffen haben und denen er auch jetzt sich nieht entziehen kann, aufgefasst und dargestellt. Deshalb sind Ontogenie und vergleichende Anatomie die wissenschaftlichen Grund- lagen der menschlichen Anatomie (s. Einleitung). Im ersten Abschnitt handelt G. von den Formelementen und von dem ersten Aufbau des Körpers. Den Resultaten der neuern For- schungen über Kernstruktur und Kernteilung (Flemming) ist selbst- verständlich Rechnung getragen, der Ausdruck „Protoplasma“ aber, den Flemming durch die Bezeichnung „Zellsubstanz“ zu ersetzen vor- schlägt, noch beibehalten. @. unterscheidet, wie in seinem „Grund- riss der vergleichenden Anatomie“, vier Gewebe: Epithelialgewebe, Gegenbaur, Lehrbuch der menschlichen Anatomie. 441 Stützgewebe (Bindesubstanzen), Muskel- und Nervengewebe. Die Auf- stellung „zusammengesetzter Gewebe“ ist unzulässig, Bildungen dieser Art sind vielmehr als Organe anzusehen. Die Unterscheidung ge- wisser rein zelliger Gewebe als Endothelgewebe wird nicht nur für die zellige Auskleidung der Pleuro -Peritonealhöhle aufgegeben, son- dern überhaupt ganz fallen gelassen; auch die Zellen der Intima der Gefäße heißen Epithelien, und die Zellplättchenlage der Arachnoidea nennt G. „epitheloid“. [Hier scheint mir G. doch etwas zu weit zu gehen, wenigstens möchte ich Waldeyer’s Anschauung, die in seiner vortrefflich geschriebenen Abhandlung „Archiblast und Parablast“ niedergelegt und ausführlich begründet ist, einstweilen den Vorzug geben und somit die Coelomauskleidung den Epithelien zuweisen, für den Zellenbelag der freien Oberflächen im Bereiche der Blutbinde- substanzen aber auch ferner noch die His’sche Bezeichnung Endo- thelien beibehalten.] Muskel- und Nervengewebe werden als „animale Gewebe“ den „vegetativen“ (Epithel und Stützgewebe) gegenüberge- stellt. Wahrscheinlich sind die Formelemente des Muskel- und Ner- vengewebes als Abkömmlinge einer einheitlichen indifferenten epithe- lialen Anlage anzusehen. Der zwischen beiden Gewebsformen bestehende kontinuirliehe Zusammenhang erklärt sich bei dieser Annahme in be- friedigender Weise. Die „Bedeutung der Entwieklung“ der Individuen und ihre Beeinflussung von seiten des Moments der Vererbung wird am Schluss eines Abrisses der Ontogenie der Säugetiere und des Menschen in $. 46 überzeugend nachgewiesen. — Die Varietäten sind keineswegs alle als „Tierähnlichkeiten“ anzusehen; man muss viel- mehr von den „atavistischen“ Varietäten die „embryonalen“ wol un- terscheiden. Freilich fallen viele der erstern mit den embryonalen zusammen; denn die Ontogenie ist ja doch in vielen und sehr wich- tigen Stücken eine Rekapitulation der Phylogenie. (Skeletsystem.) Der speziellen Schilderung der Wirbelsäule, des Sternums, des Schädels, und ebenso der Blutgefäße, des Zentral- nervensystems u. s. w. wird eine entwicklungsgeschichtliche Skizze vorausgeschiekt. Es ist natürlich hier nieht der Ort, einen zusammen- hängenden Auszug des ganzen Buches zu geben; ich muss mich viel- mehr darauf beschränken, einzelne Punkte, an denen die charakteri- sirte genetische Auffassung besonders hervortritt, aus dem gedanken- reichen Werke hervorzüheben. — Den Variationen der Segmente des Achsenskelets liegt eine gemeinsame Erscheinung zu grunde, welche in einer Entwieklungsperiode sich abspielt, in der noch 18 Thoraco- Lumbalwirbel bestehen. Das Becken erleidet nämlich alsbald eine Verschiebung nach vorn; dabei assimilirt sich das Kreuzbein (einen oder auch zwei) vordere Wirbel, während es gleichzeitig Segmente an den Caudalabschnitt wieder abgibt. Bezüglich der Zahlenverhält- nisse reiht die Wirbelsäule des Menschen zwischen Aylobates und die übrigen Anthropoiden sich ein. Der ventrale, die Facies auricularis 442 Gegenbaur, Lehrbuch der menschlichen Anatomie tragende Abschnitt der Seitenteile oberer Saeralwirbel wird als Rip- penrudiment (Pars costalis) gedeutet. — Der Thorax der Neugebornen, namentlich aber des Fötus, erinnert wegen des Ueberwiegens des graden Durehmessers über den queren an die Thoraxform der Säuge- tiere. Im Laufe der postembryonalen Entwicklung desselben verkürzt sich im Zusammenhange mit der Erwerbung des aufrechten Ganges jener längere Durehmesser wieder. — Eine der Segmentirung der Wirbelsäule homologe Gliederung ist weder am fertigen Schädel, noch während seiner individuellen Entwicklung nachweisbar. Ueberall wird auf den Einfluss der Muskulatur, auf die OÖberflächenskulptur und die Gestaltung des Knochens überhaupt hingewiesen. Auch das anthropologisch Wichtige gelangt zur Geltung. (Muskelsystem.) Die Beurteilung des Muskelsystems muss von der nach Metameren (Folgestücken) gegliederten Seitenrumpfmusku- latur niederer Wirbeltiere ausgehen. An dieser Stammesmuskulatur lässt sich ein dorsaler und ein ventraler Abschnitt unterscheiden, und dieser Sonderung entspricht auch noch das Vorkommen eines Ramus dorsalis und ventralis, welche an den Spinalnerven aller Vertebraten bis herauf zum Menschen unterscheidbar werden. Der Muskulatur der Gliedmaßen dagegen kommt nur der Wert einer sekundären Bil- dung zu, die erst von der ursprünglichen (primären) Muskulatur des Stammes sich abgelöst und dabei den metameren Charakter eingebüßt hat. Wahrscheinlich repräsentirt der ventrale Abschnitt jener Stammes- muskulatur den Mutterboden der Extremitätenmuskeln; denn wir sehen die Extremitäten durchweg von ventralen Nervenästen versorgt. Von diesem Gesichtspunkt aus, indem man die Metamerie einerseits und die Versorgung durch dorsale oder ventrale Nervenäste anderer- seits der Beurteilung zu grunde legt, erscheint zum Beispiel die Mus- kelmasse, welche die Rückenfläche bedeckt, aus zwei sehr differenten Gruppen zusammengesetzt, von denen die oberflächliche, von ventralen Spinalästen und außerdem noch von einem Gehirnnerven versorgte Abteilung die Gliedmaßenmuskulatur darstellt, während die tiefere, metamer gegliederte Partie nach ihrer Innervation teils von ursprüng- lich ventraler Muskulatur abzuleiten ist (M. serratus post. sup. et in- ferior), teils als Rest der dorsalen Seitenrumpfmuskulatur (z. B. M. splenius, M. ileoeostaks und M. longissimus mit den bekannten, von Henle unterschiedenen Unterabteilungen) sich herausstellt. Nach dieser Betrachtungsweise erklärt sich auch ungezwungen das Auf- treten mancher Varietäten, z. B. des M. rhomboatloides (Macalister), den G. zum Splenius cervieis zieht, von dessen Hauptmasse er durch den Serratus posticus superior abgespalten wurde. Faseien, Sehnen- scheiden und Scehleimbeutel, alle diese Bildungen haben, um dies hier gleich einzuschalten, ihren gemeinsamen Ursprung im interstitiellen Bindegewebe. Sie sind Produkte der Wirkungen der Muskeln. Was ins- besondere die Faseien anlangt, so ist der Grad ihrer Ausbildung an Gegenbaur, Lehrbuch der menschlichen Anatomie. 445 mechanische Bedingungen geknüpft, während ihre Gestalt von der Form und dem Umfang des Muskels beeinflusst wird. Platysma und Gesiehtsmuskeln gehören innig zusammen; denn die letztern sind nur Differenzirungen des Kopfteils des Platysma, die zu den Oeffnungen im Integument bestimmte Beziehungen ge- wonnen haben. Der ursprüngliche Zusammenhang lässt sich an viel- fach nachweisbaren fleischigen Verbindungsbrücken erkennen. Der sehr häufig vorkommende M. transversus nuchae (F. E. Schulze) ist als eine zur Hinterhauptsgegend sich abzweigende Portion des Platysma anzusehen, der eimem bei Quadrumanen wol ausgebildet bestehenden Hautmuskel des Nackens homolog ist. Das Bestehen eines Plexus parotideus im Bereiche des Facialis weist noch auf eine stattgehabte Umlagerung der Muskulatur des Antlitzes hin. — Den Intereostalmuskeln morphologisch gleichwertig sind die beiden vordern Sealeni, ferner die Intertransversarii anteriores am Halse, sowie die beiden schiefen Bauchmuskeln und die Intertransversarii laterales der Bauchgegend. Der Transversus abdominis bildet die Fortsetzung des Transversus thoraeis. — Der Scalenus postieus gehört dem System der Levatores costarum an. Die vordere Gruppe der Hals- muskulatur (Omo- und Sternohyoideus, Sternothyreoideus) reiht sich dem Reetus abdominis an. Letzterer ist von den breiten Bauchmus- keln zu trennen; denn es bestehen Gründe für die Annahme, dass der zuletzt genannte Muskel ursprünglich weiter oralwärts gelagert war und erst mit den untern Gliedmaßen abwärts rückte. Auch die Ar- terienversorgung (durch einen Ast der hoch oben aus der Subelavia entspringenden A. mammaria interna) spricht dafür. Bei vielen Säu- getieren erstreckt er sich noch bis herauf zur ersten Rippe und ist dabei vom M. pectoralis major überlagert. Die Abdominalzacke des großen Brustmuskels stellt beim Menschen noch einen Rest jener ausgedehnten Beziehungen dar. — Das frühere Verhalten der Harnblase, die z. B. noch beim Neugebornen dem unterhalb der Douglas’schen Linie be- findlichen Abschnitt der Bauchwand auch in leerem Zustand anliegt, aber höher steht als beim Erwachsenen, wird als eines der Momente in Anspruch genommen, welche zu dem Auftreten und Persistiren des bekannten Ausschnitts in der Hinterwand der Rectusscheide Veran- lassung gaben. — Der häufig völlig fehlende, jedenfalls sehr unan- sehnliche M. extensor coceygis ist das Rudiment eines bei geschwänzten Säugetieren wol ausgebildeten M. extensor caudae; auch der M. eoe- eygeus (M. abduetor eoceygis) stellt eine solche verkümmerte Bildung dar. — Das Sehnenbündel, welches von der Endsehne des M. pero- neus brevis sich abzweigend in die Streeksehne der fünften Zehe über- geht, oder an der Dorsalfläche des fünften Metatarsale endet, erinnert, wie Bisehoff nachgewiesen hat, an den Befund, der am M. peroneus parvus gewisser Affen besteht. Die Sehne dieses Muskels, der zwi- schen Peroneus longus und brevis entspringt, verläuft hier tatsächlich 444 Gegenbaur, Lehrbuch der menschlichen Anatomie. zur Grundphalange der kleinen Zehe, um sich dort mit der Sehne des Extensor digit. comm. zu verbinden. (Darmsystem.) Vortrefflich bewährt sich die genetische Be- trachtungsweise auch bei der Schilderung der ziemlich komphzirt ge- bauten Leber, deren gesamtes gröberes und feineres morpholo- gisches Verhalten ohne diese Betrachtung, die namentlich zwei Punkte, die Anlage des Organs in Form zweier blindsackähnlicher Ausbuch- tungen und das später auftretende Netzwerk von Epithelialschläuchen betont, unverständlich bleibt. Der beliebte Vergleich der Furchen an der untern (ehemals hintern) Leberfläche mit einer H-förmigen Figur wird mit Recht verlassen. Vorderer und hinterer Schenkel der rechten Längsfurche, welche nichts weiter als Eindrücke angelagerter Teile vorstellen, werden der linken Längsfurche, der Hauptfurche, welche die beiden Lappen voneinander scheidet, besser nicht an die Seite gestellt. Die weibliche Harnröhre ist beim Manne ohne Aequivalent; sie mündet dort in den weiblichen Sinus urogenitalis (Vestibulum va- ginae), während der beim Manne als Harnröhre (Urethra) bezeichnete Kanal den entsprechenden Sinus urogenitalis selbst vorstellt, der zum Canalis urogenitalis späterhin sich auszog. (Gefäßsystem.) Die Stärke der Muskelwand an den verschie- denen Abschnitten des Herzens ist von der Größe der Leistung des- selben abhängig. So erklärt sich die geringe Entwicklung der Mus- kelschicht an den Vorhöfen im Vergleich zu derjenigen der Kammern, sowie die Verschiedenheit, die am erwachsenen und fötalen Herzen in dieser Beziehung zwischen den beiden Kammern selbst obwaltet. Bei jenem ist der linke, bei diesem der rechte Ventrikel mit mäch- tigern kontraktilen Wandungen versehen, wie ja auch beim Er- wachsenen die linke, beim Fötus die rechte Kammer (dureh Vermitt- lung des Duetus Botalli) das ausgedehntere Arteriengebiet beherrscht. Die Atrioventrieularklappen sind Ditferenzirungen der ursprünglichen, aus einem spongiösen Muskelnetz bestehenden Kammerwandung. — Varietäten der großen Arterienstämme des Vorderarms betreffen nach G.’s Erfahrungen am häufigsten (?°/,, der Fälle) die A. radialis. Es erklärt sich dieses Verhalten aus dem oberflächlichen Verlaufe dieser Schlagader, „deren Reeurrens viel leichter in Anastomose mit einer höher gelegenen Arterie treten kann“ (?), wie ja überhaupt alle Ver- laufs- und Ursprungs-Anomalien aus der Entwicklung und allmäh- liehen Ausbildung untergeordneter anastomotischer Zweige abzuleiten sind. (Nervensystem.) Die fundamentale Bedeutung der genetischen Methode tritt besonders überzeugend an der von G. gegebenen Dar- stellung der Morphologie des Gehirns hervor, die ohne diese Betrach- tungsweise, man darf wol sagen, ein Buch mit sieben Siegeln bleibt. Die Hirnnerven werden in zwei voneinander durchaus verschiedene Kategorien getrennt. Die beiden ersten (N. olfactorius und N. op- - Gegenbaur, Lehrbuen der menschlichen Anatomie. 445 tieus) bilden die eine Abteilung; der III. bis XII., die wieder in die beiden Unterabteilungen der Trigeminus- und der Vagusgruppe zer- fallen, stellen die andere dar. Die letztern lassen noch den Typus der Spinalnerven deutlich (N. trigeminus z. B.) oder unbestimmter erkennen, oder lassen sich doch wenigstens auf Portionen von solchen beziehen, während die zuerst aufgeführten durchaus eigenartig sich verhalten. Facialis und Acusticus repräsentiren zusammen einen Spinalnerven; der Ramus anterior wird von dem Facialis, der R. posterior von dem Acustieus dargestellt. — Der Grenzstrang des Sympathieus beginnt am Halse mit dem Ganglion cervicale supremum; der N. carotieus ist nur ein Ast, keine Fortsetzung des Grenzstranges. Wenn daher am Kopfe ein eigentlicher Grenzstrang also auch fehlt, so ist dort we- nigstens ein Grenzstrang-Ganglion vorhanden, nämlich das G. sphe- nopalatinum. Vielleicht ist auch das G. oticum als ein solches zu deuten. Einem Werke gegenüber, das wie G.s Lehrbuch auf so festen unerschütterlichen Fundamenten ruht und so folgerichtig in allen seinen Teilen sich aufbaut, wird die Kritik nur an Einzelheiten, die weit entfernt sind, der wissenschaftlichen Bedeutung des Ganzen Eintrag zu tun, etwas zu bemängeln finden. Schwerlich wird man bei der prägnanten Kürze, mit welcher der Stoff vorgetragen wird, etwas ge- strichen haben wollen; eher wird man hier und da, wo es sich um Punkte von physiologischem oder praktischem Interesse handelt, den Autor, der oft genug in seinem Buche zeigt, wie er auch diesen Be- dürfnissen mit Erfolg zu genügen weiß, etwas zu kurz finden. Die Architektur der Spongiosa z. B. scheint mir etwas zu knapp behan- delt zu sein; auch das Gesetz von der Richtung des Verlaufs der Ernährungslöcher (Schwalbe) hätte formulirt werden können (S. 100). Die Recessus im Bereiche des parietalen Peritoneums sind nicht er- wähnt, ebenso die nieht unwichtige Ossifikationslücke der Lamina tympanica, die während der ersten Lebensjahre besteht (s. Aeby’s übersichtliche Figur 83 in dessen Lehrbuche). Das Synonymum für die Bezeichnung Sulcus Jacobsonii, nämlich Suleus tympanieus, wird entweder gestrichen, oder durch den freilich etwas längern Namen Suleus nervi tympaniei ersetzt werden müssen, weil jener Ausdruck schon für den Trommelfellfalz vergeben ist (S. 173 und 174). Auf- fallend erscheint die Angabe, dass „das Jacobson’sche Organ beim Menschen verschwunden“ sei. Ich wüsste nicht, welche andere Deu- tung man den von Kölliker (Ueber die Jacobson’schen Organe des Menschen 1877) nachgewiesenen kurzen, zylindrischen Kanälchen, die, hinten blind geschlossen, am untern vordern Teil der Nasenscheide- wand münden, geben könnte. Der Umstand, dass diese Gebilde in offenbarer Rückbildung begriffen sind, erklärt die geringe Ausdehnung ihrer Wandung. Nimmt man nun noch die Annahme einer schein- baren Verschiebung infolge von Wachstumsdifferenzen benachbarter 446 Gegenbaur, Lehrbuch der menschlichen Anatomie. Teile zu Hilfe, so wird es leicht verständlich, dass die Kanälchen die Stenson’schen Gänge nicht mehr erreichen. Prüfen wir zum Schluss noch, wie sich die von Gegenbaur in seinem Lehrbuche der menschlichen Anatomie vertretene Auffassung zu dem Standpunkte verhält, von dem soeben H. v. Meyer in dem an dieser Stelle (Biol. Centralbl. Bd. III Nr. 12) veröffentliehten Auf- satze „Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart“ Kunde gegeben hat. Gegenbaur hält sich vor allem an die genetische Methode, erklärt also Formen wieder durch Formen, die gewordene fertige Form natürlich durch die sich entwickelnde, die komplizirte abgeleitete durch die einfache primäre. Gleichzeitig werden auch, soweit die Verhältnisse dem Verständniss des Anfängers zugänglich erscheinen, die Leistungen der Organe berücksichtigt, so bei den Gelenken, den Muskeln u. s. w., und es wird endlich der Einfluss der Funktion auf die Formverhältnisse nachgewiesen. Ueberall ist also das Verständniss der Form das Ziel, auf dessen Ver- wirklichung bingearbeitet wird. Für H. v. Meyer steht die „physiologische Grundansehauung für die Behandlung des anatomischen Materials“ in erster Linie. Neben dieser Betrachtungsweise erkennt er allerdings noch eine „zweite Methode, die Formen verstehen zu lernen“ an, eben die „gene- tische Anatomie“, welehe auf „Embryologie und Zootomie“ sich stützt. Es besteht also in bezug auf das Ziel zwischen den beiden Au- toren keine Meinungsverschiedenheit. Beide, und mit ihnen wol alle Anatomen, sind darüber einig, dass man auf das Verständniss der Formen hinzuwirken habe; beide bedienen sich wesentlich derselben Betrachtungsweisen, und nur in dem Grade der Wertschätzung jeder dieser Methoden differiren sie, indem bald die morphologische, bald die physiologische Anschauung in den Vordergrund tritt. Der Unter- schied gleicht sich noch mehr aus, wenn man in Erwägung zieht, dass die Entwieklungsgeschichte und die vergleichende Anatomie uns nicht nur ursprüngliehere morphologische Zustände unserer Or- gane kennen lehrt, sondern damit im Zusammenhang — ich erinnere nur an die Kiemenbogen höherer Wirbeltiere und des Menschen — auch ursprüngliche funktionelle Beziehungen derselben. Es handelt sich also in letzter Instanz für beide Anschauungen um die Erforschung der stetigen und ununterbrochenen Wechselwirkung zwischen der Form der Organe und ihrer Funktion, da beide ohne einander nicht bestehen können. Wer sich die Aufgabe stellt, dieser überaus wichtigen Frage an Organen näher zu treten, an denen diese Wechselwirkung unter unsern Augen täglich sich vollzieht (z. B. an den Gelenken, den Muskeln, den Drüsen u. a.), der wird die „physiologische Anschauung“ zur Führerin nehmen. Er wird bei derartigen Untersuchungen schon auf eine Reihe von Ein- Lannois und Lepine, Resorptionsvermögen des Dünndarms. 447 richtungen stoßen, die, ursprünglich infolge von Anpassung erworben, gegenwärtig regelmäßig vererbt werden, gewisse Muskelfortsätze des Skelets, selbst knorplig vorgebildeter Teile zum Beispiel. Wer voll- ends jenen Kausalnexus zwischen Form und Funktion auch an den embryonalen und rudimentären Organen (Keimblätter, namentlich En- toderm, Coelom, Kiemenapparat, Ductus Botalli, Urniere, Wolt’sche und Müller’sche Gänge, Chorda dorsalis u. s. f.) aufzuklären bestrebt ist, der wird sich der genetischen Methode zuwenden. Dass bei solchen Studien häufig genug rein histologische Fragen, also Fragen, die auf Aggregate gleichartiger Zellen und ihrer Deri- vate sich beziehen, zu behandeln sein werden, liegt auf der Hand. Man ist daher überrascht, in H. v. Meyer’s Artikel auf den Satz zu stoßen, es sei die „Histologie, d.h. die Lehre von dem Bau und dem Leben der Elementarteile, ebensowenig Anatomie, als die Kenntniss der Baumaterialien Architektur oder hüttenkundige Kenntnisse der Metalle Maschinenlehre.“ Oder sollte eine Untersuchung, die in dem Neuromuskelgewebe der Hydroiden (Kleinenberg) eine epitheliale Differenzirung erkennen lässt, in der nicht nur das „Baumaterial“, sondern auch die „Architektur“ des später so ausgebildeten motori- schen Nervensystems und der Muskulatur gleichsam in nuce vorliegt, nicht doch in das Gebiet der Anatomie fallen? B. Solger (Halle a. S.). Lannois et Lepine, Sur la maniere differente dont se comportent les parties superieure et l’inferieure de l’intestin grele au point de vue de l’absorption et de la transsudation. Arch. de physiol. norm. et path. III. serie I. p 92—111. Zur Entscheidung der Frage, ob den einzelnen Teilen des Dünn- darms ein verschiedenes Resorptionsvermögen zukommt, sind Verff. an nicht narkotisirten Hunden in folgender Weise vorgegangen. Nach Oeffnung der Bauchhöhle in der Linea alba wurde am Dünndarm ein oberes dem Duodenum benachbartes und ein unteres Segment nahe dem Coeeum durch je zwei Fadenschlingen abgegrenzt, die Segmente am obern und untern Ende angeschnitten, mittels hindurchleiten von 0,7 prozentiger Kochsalzlösung gereinigt, oben und unten durch die Fadenschlinge geschlossen und mit einer Lösung der zu prüfenden Substanz, deren Gehalt zuvor genau bestimmt war, gefüllt; dann die Bauchwand sorgfältig vernäht, das Versuchstier frei gelassen und nach Verlauf variabler Zeit durch Verbluten getötet. Alsdann wurde der Inhalt der beiden Schlingen entleert und die Menge der darin noch vorfindlichen, nicht resorbirten Substanz bestimmt. Um die beim Hunde sehr erheblichen Unterschiede in der Kapazität zwischen den obern und untern Dünndarmpartien möglichst auszugleichen, wurde das untere Segment stets länger genommen als das obere, und zwar be- 448 Lendenfeld, Larvenentwicklung von Phoxichilidium Plumulariae. trug jenes in der Regel 0,15 em in der Länge. Die auf diesem Wege erhaltenen Resultate lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Von eingeführter Pepton- und Traubenzuckerlösung resorbirt der obere Dünn- darmabschnitt in der nämlichen Zeit (25—70 Minuten) ungefähr ?/;, der untere nur etwa die Hälfte. Noch ausgesprochener ist der Unter- schied im Resorptionsvermögen für Oelemulsionen. Bei Salzlösungen (Kochsalz, Jodkalium) ist die Resorptionsdifferenz weniger ausge- sprochen. Führt man zugleich mit einem der angeführten Stoffe eine kleine Quantität (0,005— 0,01) Natriumsulfat ein, so ergibt sich ebenfalls, dass die Resorption im untern Dünndarmsegment geringer ist als im obern. Zusatz einer größern Menge Natriumsulfat, etwa 0,06 g, erzeugt im obern Abschnitt eine reichliche, häufig blutig tingirte Transsudation. Man kann die Unterschiede im Resorptionsvermögen des untern und obern Abschnitts sofort dadurch aufheben, dass man vor der Ein- führung der zu prüfenden Stoffe die Darmepithelien durch eine Injek- tion von 4dprozentigem Alkohol ertötet. J. Munk (Berlin). R. v. Lendenfeld, Die Larvenentwicklung von Phoxichilidium Plumulariae n. sp Zeitschr. f. wiss Zoolog. XXXVII. 2. Heft Es ist durch die Beobachtungen von Gegenbaur, Semper, Dohrn u.a. festgestellt, dass die sechsbeinigen Larven mehrerer zur Gattung Phoxichrlidium zugehöriger Pantopoden, in einem sehr unvollkommenen Zustand ausschlüpfend, in den Gastrovaskularraum von Hydroidpolypen gelangen, wo sie durch Rück- bildung der rankenförmigen Extremitäten II und III zunächst in ein zwei- beiniges Stadium übergehen und als Endoparasiten ihre übrige Entwicklung durchlaufen. Bei der neuen australischen Art schmarotzt die Larve ebenso auf einem Hydroidpolypen, aber auf ganz andere Weise. Die Larve verlässt das Ei be- reits im zweibeinigen Stadium, welches nur kurze Zeit dauert; aber schon in diesem Zustand dient die enorme und (wie immer bei Pantopoden) scheren- förmige Extremität I zur Befestigung des Tiers an den Stiel eines Polypen. — Bald sprossen die Extremitäten II und III, und die sechsbeinige Larve hängt mit den Scheren am Polypenstiel, während der Schnabel in der Mundöffnung des Wirtpolypen steckt. Die Tentakeln des Polypen werden rückgebildet und das Pantopod durchläuft seine ganze Entwicklung, sich vom flüssigen Inhalt des Gastrovaskularraums nährend. Dieser Entwicklungsmodus scheint Verf. nicht direkt auf den für die europäischen Formen bekannten zurückgeführt werden zu können; vielmehr mögen sich beide aus einem nicht parasitischen oder nur oberflächlich parasi- tischen Zustand entwickelt haben. GC. Emery (Bologna). Einsendungen für das „Biologische Gentralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard E Besold in Erlangen, — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Oentralblati unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. \ 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. II. Band. 1. De 1883. Nr. 15. Inhalt: Axel Blytt, Ueber Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung für die Zeitrechnung der Geologie und für die Lehre von der Veränderung der Arten (Schluss). — Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. — Soraier, Studien über Verdunstung. A. Blytt, Ueber Wechsellagerung und deren mutmassliche Be- deutung für die Zeitrechnung der Geologie und für die Lehre von der Veränderung der Arten. (Schluss). In den beiden oben (in voriger Nummer) erwähnten Perio- den, dem Steigen und Fallen des Meeres auf der einen und der wechseln- den Stärke der Meeresströmungen auf der andern Seite, und in der von diesen Faktoren abhängigen Wechsellagerung liegt nun nach mei- ner Ueberzeugung der Schlüssel für dieZeitreehnung der seologie. Diese Perioden lassen sich nämlich durch die ganze Reihe der geologischen Schiehten hindurch verfolgen, und es hat daher alle Wahrschemlichkeit für sich, dass die Ursachen der- selben allgemeinerer Natur sein werden. Wir haben nun aber bereits bemerkt, dass die große Periode unregelmäßig verläuft, während die kleine nach einem bestimmten Zeitraum wiederzukehren scheint. Es liegt deshalb nahe, an die zwei astronomischen Perioden zu denken, mit deren Hilfe man bereits früher die Tatsachen der Geologie hat erklären wollen. Bieten sich uns doch in der Tat zwei Perioden dar, wie wir sie brauchen: eine größere und dabei unregelmäßige Periode, diejenige der Variation der Erdbahnexzentrizität, und eine kleinere und dabei einigermaßen regelmäßige, diejenige des Umlaufes des Aphels und Perihels. Nachdem das Bisherige bereits niedergeschrieben war, kam mir der Gedanke, mit Benutzung der Croll’schen Kurve für die Exzen- 29 450 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. trizität der Erdbahn ?) hypothetische geologische Schichtenreihen zu konstruiren, um zu untersuchen, ob dieselben ein natürliches Aussehen annehmen würden. Dabei verfuhr ich in der folgenden Weise. Sollte die Wechsellagerung wirklich von den beiden astronomi- sehen Perioden abhängig sich zeigen, so mussten es jedenfalls die Aenderungen der Exzentrizität sein, welche den Wechsel des Meeres- standes hervorriefen, während der Umlauf des Perihels als Ursache des Wechsels von troeknen und regnerischen Zeiten anzunehmen sein wird. In der beifolgenden Fig.1 (8.424 und 425 in voriger Nummer) sieht man die von Croll berechnete Kurve für die Aenderungen der Exzentrizität in den letzten drei Millionen Jahren. Auf der horizon- talen Linie am Fuß der Kurve sind Zeiträume von der Dauer von 21.000 Jahren angegeben. Letzteres nämlich ist der Mittelwert für die Umlaufszeit des Perihels; eine genauere Berechnung der Dauer jedes einzelnen Umlaufs ist nach Geelmuyden bei der immer noch herr- schenden Unsicherheit über die Masse der Planeten kaum tunlich. Die größern und dauernden Veränderungen in der festen Erd- masse gehen, wie man allgemein annimmt, sehr langsam vor sich und können daher vorläufig unberücksichtigt gelassen werden. Ich setze nun voraus, dass der Stand des Meeres unter den höhern Breiten mit der Exzentrizität steigt und fällt?). Ferner gehe ich davon aus, dass wirklich die 21 000jährige Umwanderung des Perihels die be- dingende Ursache ist für den Wechsel der trocknen und regnerischen Zeiten 3). Dies sind freilich bloße Voraussetzungen, deren wir uns jedoch bedienen wollen, um zu untersuchen, ob die Wechsellagerung 4) Siehe: Climate and Time. London 1875 p. 313. Herr Observator Geel- muyden hat durch Vergleichung der Croll’schen Kurve mit neuern Unter- suchungen derselben Art gefunden, dass der Verlauf derselben wahrschein- lich von genügender Genauigkeit ist, um eine Grundlage für geologische Be- trachtungen abzugeben. 3) Diese Voraussetzung gründet sich auf die Bemerkung, dass sowol der Meeresstand unter den höhern Breiten, als auch die Exzentrizität in der spä- tern Zeit sich im großen Ganzen in der Abnahme befunden haben. Järavallen in Schonen und der Carsethon in Schottland sind Meeresbildungen, welche beide ungefähr 20—30 Fuß über dem Meere liegen und auf Torf ruhen, der wieder von Meeresbildungen unterlagert wird. Solche Verhältnisse deuten auf eine Oszillation des Meeres hin, und eine ähnliche Oszillation scheint ungefähr gleichzeitig auch in Amerika stattgefunden zu haben. Diese Oszillation könnte der Ausbuchtung der Exzentrizitätskurve entsprechen, welche ungefähr 20 000 Jahre in der Vergangenheit zurückliegt. 3) Croll u. a. meinen, dass der Umlauf des Perihels eine solehe Wirkung hat, jedenfalls wenn die Exzentrizität der Erdbahn eine bedeutende ist. Ich kann mich jedoch nicht mit Croll einverstanden erklären, wenn er annimmt, dass die gegenwärtigen Verhältnisse unser Klima feuchter machten, als es sonst gewesen ist. Siehe unten. Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 451 in irgend welchem Abhängigkeitsverhältniss zu jenen astronomischen Perioden steht. Mit Benutzung der Kurve kann man nämlieh unter den genannten Voraussetzungen verschiedene geologische Schiehtenreihen konstruiren, jenachdem man den Ort der Ablagerung höher oder niedriger ge- legen sich denkt. Hat der Ort, an welehem die betreffenden Schichten gebildet werden, eine solche Lage, dass er bei einem Meeresstand, weleher der mittlern Exzentrizität entspricht, grade in der Meeres- fläche liegt oder durch Dämme vom Meer abgesperrt wird, so wird für die Teile der Kurve, welehe niedriger liegen, entweder eine Lücke in der Schiehtenreihe eintreten müssen, oder man wird Lagunen- und Siißwasserbildungen einzufügen haben; so oft dagegen die Kurve höher steigt und das Meer den Ablagerungsort überschwemmt, wer- den Meeresbildungen anzunehmen sein, und zwar entweder Strandbil- dungen oder, bei den höchsten Punkten der Kurve, Bildungen etwas tieferer Gewässer. Liegt der gedachte Punkt dagegen von vornherein so, dass er auch bei der niedrigsten Exzentrizität vom Meere über- schwemmt ist; so wird man für die höhern Teile der Kurve Bildungen tiefern Wassers einzuführen haben. Indem man also voraussetzt, dass das Meer mit der Kurve sinkt und steigt, während der Umlauf des Perihels eine Wechsel- lagerung im kleinen bedingt, lassen sich geologische Sehichten- reihen zeichnen; nur darf man bei seichtern Becken nicht vergessen darauf Rücksicht zu nehmen, dass letztere durch die Schiehtenbildung sich auffüllen. Diese auf Grundlage der Kurve gezeich- neten Schichtenreihen sehen aber ganz so aus, als wenn sie nach der Natur gezeichnet wären. Ein Geolog würde sie für echt halten. Wir sehen nämlich, wenn die Exzentrizität sich langsam in einer bestimmten Richtung ändert, eine durch viele Perioden des Perihels fortlaufende Wechsellagerung auftreten, bei welcher die eine der alternirenden Gebirgsarten in immer dünner wer- denden Schichten erscheint; wo dagegen die Aenderung der Exzen- trizität rasch fortschreitet, erhalten wir einen plötzlichen Uebergang zwischen Schichten von verschiedener Beschaffenheit, die ganz oder wenigstens zum größten Teil der Wechsellagerung entbehren, was ganz den natürlichen Verhältnissen entspricht. Für Orte, von denen man annimmt, dass sie weit von der Küste oder den Flussmündungen entfernt, oder tief unter dem Meere liegen, wird man mächtige Schich- tenfolgen von einigermaßen gleichartiger Beschaffenheit erhalten können, mit einem Wort: diese künstlichen Schichtenreihen haben in allem und jedem ein natürliches Aussehen. Der günstige Ausfall dieses Versuches ermunterte mich nun auch zu untersuchen, ob ich diese künstlichen Schiehtenreihen in der Natur wiederzufinden vermöchte. Denn, wenn wirklich die beiden astrono- mischen Perioden den vorausgesetzten Einfluss auf die Wechsellage- 29° 452 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. rung ausüben, so müssen ja alle geologischen Sehnitte in den Teil der Kurve einpassen, welcher die Aenderungen der Exzentrizität wäh- rend der Ablagerungszeit der Schichten darstellt und zwar in der Weise, dass Landbildungen oder Süßwasserbildungen, Strand oder Tiefmeerbildungen aufeinander folgen, jenachdem die Kurve steigt oder fällt, und in jeder dieser aufeinander folgenden Bildungen muss der Schnitt grade soviel Wechsellagerungen nachweisen, als Perihel- umläufe auf den betreffenden Kurventeil fallen. Wenn man genaue Schnitte von längern ununterbrochenen Schichtenreihen zur Verfügung hat, lässt sich in dieser Weise leicht ermitteln, ob die Wechsellage- rung von den beiden astronomischen Perioden abhängig ist. Wir wollen nun mit Hilfe der Kurve eine Schichtenreihe kon- struiren und zusehen, ob wir dieselbe in der Natur wiederfinden kön- nen. Auf der Kurve (Fig. 1) ist die horizontale Lmie nn angegeben. Wir denken uns ein Becken, welches beim Sinken der Kurve unter diese Linie nicht austrocknet, sondern nur durch Dämme vom Meere abgesperrt wird. Während dieser Absperrung vom Meere werden also hier Lagunenbildungen oder, sobald das Becken einen Ablauf bekom- men hat, Süßwasserbildungen abgelagert werden. Für einen derartig belegenen Punkt werden wir, unter der Vor- aussetzung, dass das Becken gleich nach seiner Absperrung vom Meere Abfluss erhält, von e bis i folgende Schichtenreihe erhalten. Süßwasserbildung mit einigen wenigen Wechsellagerungen, Salzwasserbildung mit 4 Wechsellagerungen, . Süßwasserbildungen mit 4 Wechsellagerungen, Eine Schieht mit Seetieren, . Süßwasserbildung mit 6 Wechsellagerungen, . Salzwasserbildung mit 11—12 Wechsellagerungen, . Süßwasserbildung mit 6-7 Wechsellagerungen, Eine Schieht mit Seetieren, Süßwasserbildung mit 2 Wechseln, Salzwasserbildung mit 3 Wechseln, 11. Süßwasserbildung mit 3 Wechseln. Sind nun aber die Voraussetzungen, nach welchen diese Schichten- reihe konstruirt wurde, wirklich die riehtigen, so wird möglicherweise eine ähnliche Schiehtenfolge in der Natur sich wiederfinden. Die Schiehtenreihe müsste, wie aus der Kurve zu ersehen, unge- fähr 1'/,—2!/, Millionen Jahre in der Vergangenheit zurückliegen. Wir dürften somit uns nicht allzuweit von der Gegenwart entfernen, um das zu finden, nach dem wir suchen. Die Tertiärbecken bei Paris, London und Wien sind nun wol von den Geologen dieser Städte genau untersucht; aber von längern zusammenhängenden Schnitten ohne Lücken in der Schiehtenfolge, bei welchen jede einzelne der wechselnden Schichten notirt ist, habe ich bisher nur einige wenige ausfindig machen können, . Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 45: Die zwei genausten Schnitte, welche ich gefunden, stammen aus dem Pariser Becken, der eine, von Vasseur und Carez!) aufgenom- men, bezieht sich auf die Terrasse de la Seine a la Frette, der an- dere, von Dollfus und Vasseur?) ausgearbeitet, gibt die Verhältnisse an der Eisenbahn bei Mery-sur-Oise. Beide gehen durch eoeäne und oligocäne Schiehten. Ich werde hier nur den Sehnitt von Mery-sur- Oise einer nähern Besprechung unterwerfen, da derselbe der Zeit nach sowol weiter zurück als auch weiter vorwärts reicht, als der andere. Der Schnitt von la Frette zeigt übrigens dieselben Wechsel, wie der entsprechende Teil desjenigen von Mery. Der Schnitt bei Mery beginnt von unten an beim Calcaire grossier und geht dureh die Sables moyens, Gypse marin und palustre, Sables d’Etampes bis zu den Gres de Fontainebleau und Meulieres de Mont- moreney hinauf. In dem untern Teil der Schiehtenreihe (an der Basis und in dem obersten Teil des Caleaire grossier) finden sich ein paar Strandbildungen mit Rollsteinen, die auf Lücken in der Schiehtenfolge schließen lassen. Der größte Teil des Schnittes, die Sehiehten 93— 232, scheint jedoch eine fortlaufende und ununterbrochene Sehiehten- folge darzubieten. Letztern Teil werde ich jetzt näher besprechen. Man findet eine Wiedergabe desselben am Schlusse dieser Abhandlung. In dieser langen Schichtenreihe sieht man Salzwasserbildungen wiederholt mit Brackwasser- und Süßwasserbildungen abwechseln, und innerhalb dieser sich ablösenden Schichtengruppen bemerkt man wieder einen Wechsel der Schiehten im kleinern Maßstab, der darauf hindeutet, dass die Meeresströmungen und die Regenmenge in den Zeiträumen, in weleben diese Verschiebungen der Uferlinien stattfanden, gleichzeitig einer Reihe von periodischen Veränderungen unterworfen gewesen ist. Die Sables moyens beginnen mit Strandbildungen, Salzwasser- und Brackwasserbildungen, welche durch sechs Wechsel von Kalk und Kalksandstein hindurchlaufen (Sehieht 89—111, die Kurve von e bis d). Darüber erscheint Caleaire de St. Ouen: erst Süßwasserschichten (112—127) mit vier Wechseln von Mergel und hartem Kalk (die Kurve von dbis e), darauf die Schieht 128, ein grüner Mergel mit Salzwasser- tieren (die Kurve bei e), und zuoberst wiederum Süßwasserschichten mit sechs Abwechslungen von Mergel und Kieselkalk (die Schichten 129—142, Kurve e bis f). Diese Schiehtengruppe (112—142) lässt sich demnach in dem tiefliegenden Teil der Kurve zwischen d und f ein- passen in der Art, dass die Schicht mit den Salzwassertieren grade mit dem höchsten Punkt bei e zusammenfällt. Von f bis g verläuft die Kurve während 11—12 Perihelumläufen 4) Bulletin de la Socist& G&ologique de France. ser. III tome IV. Paris 1876 p. 471. 2) Bulletin de la Societe Geologique de France. ser. II tome VI Paris 1878 p. 243. 454 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. oberhalb der horizontalen Linie nn. Auf die Süßwasserbildungen folgt aber im Schnitt von Mery auch in der Tat eine Reihe von Salz- wasserbildungen mit 11—12 Wechseln, erst von Sand und Sandstein, dann von Mergel und Kieselkalk, und später von Mergel und Gips. (Schicht 143—189). Von g bis h liegt die Kurve während 6—7 Perihelumläufen unter der horizontalen Linienn. Nach dem Salzwassergips folgen im Schnitt zuerst 12 Wechsel von Mergel und Gips ohne Versteinerungen, da- rauf verschiedene Süßwasserbildungen, zuerst eine 8 m mächtige Gipsschicht mit Süßwassertieren und dann Wechsel von Mergel und Thon (Sehieht 190—209) mit im ganzen 6—7 Wechseln. Folgen wir der Kurve von h bis i, so sehen wir dieselbe wäh- rend eines Perihelumlaufs über die Horizontale sich erheben, dann während zweier Umläufe wieder unter dieselbe herabsinken, um da- rauf während 3 Perihelperioden die Linie wieder zu übersteigen und schließlich wieder zurückzusinken. In Uebereinstimmung hiermit wechseln auch die Bildungen bei Mery (Schicht 210—232). Wir haben nämlich zuerst Brackwasserbildungen mit zwei Wechseln von Mergel, Thon und Kieselkalk, darauf eine Süßwasserbildung (Caleaire de Brie), weiter Salzwasserbildungen mit drei Wechseln von Mergelkalk, Sand und Thon, und endlich wieder eine Süßwasserbildung. Wir haben demnach unsere künstliche Schiehtenreihe wirklich in der Natur wiedergefunden. Dieser Schnitt, welcher einen sehr bedeutenden Teil der Tertiär- zeit umfasst, zählt also im ganzen nur 46 Wechsellagerungen, und wenn man den Caleaire grossier mitrechnet, steigt die Zahl auf ungefähr 70. Zieht man dabei in betracht, dass sich während der Bildung dieser 70 Wechsellagerungen große Aenderungen sowol im Tier- und Pflan- zenleben, als auch in der Verteilung von Land und Meer wiederholt stattgefunden haben, so sind wir zu dem Sehluss genötigt, dass diese Wechsellagerung ihre Entstehung einer Periode von langer Dauer zu verdanken hat. Wir sehen ferner, wie auffallend die Kurve und der Sehnitt einander sich anschmiegen. Jedesmal, wo die Kurve die Horizontale überschreitet, zeigt der Schnitt Meeresbildungen, und wo die Kurve unter die Horizontale herabsinkt, treten im Sehnitt regelmäßig Süßwasserbildungen auf. In jeder dieser abwechselnden Schichtengruppen liegen ebensoviel Wechsellagerungen vor, als Perihel- umläufe auf den Teil der Kurve fallen, welcher der betreffenden Sehiehtengruppe entspricht. Zusammenhängende Schnitte aus der Tertiärperiode, von der Länge der beiden eben erwähnten, sind nicht leicht zu finden. Mir sind bisher keine außer den obigen zu Gesicht gekommen. Die soeben nachgewiesene Uebereinstimmung zwischen den Voraussetzungen und der Wirklichkeit erscheint mir aber dennoch merkwürdig genug, um die Veröffentlichung zu verdienen. Der berechnete Teil der Exzentri- Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 455 zitätskurve wiederholt sich selbst in großen Zügen nach einer Zeit von ungefähr 1650 000 Jahren und in gewisser Weise auch nach einer Zeit von 1300000 Jahren. Es scheint also auch hier eine Periodizität von sehr langer Dauer zu bestehen. Es ist daher wol möglich, dass eine geologische Schichtenreihe an verschiedenen Stellen sich der Kurve anschließen kann. Die erwähnten eocänen und oligocänen Schichten fügen sich aber bei keinem andern Teil der berechneten Kurve ein und lassen sich auch kaum weiter in die Vergangenheit zurückverlegen, wenn man anders nach den aus dem spätern Teil der Tertiärzeit und aus der Quaternärzeit bekannten Schichtenreihen schließen darf. Als ein günstiges Ergebniss unsers Versuches ist es jedenfalls zu bezeichnen, dass der behandelte geologische Schnitt un- ter den angeführten Voraussetzungen in die Kurve sich einordnen lässt; denn es liegt darin eine Aufforderung zu weitern Untersuchungen darüber, ob möglicherweise die Gestalt und die Umdreh- ungsgeschwindigkeit der Erde kleinen Veränderungen unterworfensein könnte, und ob solehe Aenderungen aus den Aenderungen der Gestalt der Erdbahn sich würden ableiten lassen. Dies ist jedoch eine Frage, deren Beantwortung außerhalb des Bereiches meines Wissens liegt. Prof. Mohn sagt, dass die Meteorologen sich noch nicht in den Stand gesetzt sehen, den mutmaßlichen Einfluss zu bestimmen, den die Wanderung des Perihels auf das Klima ausüben dürfte, da man noch nicht die Gesetze ermittelt hat, nach welchen sich die Verteilung des Luftdrucks über die Erdoberfläche regelt. Croll meint, dass die Halbkugel, deren Winter in die Sonnennähe fällt, ein wärmeres Meer und reichlichern Regen als diejenige haben wird, deren Winter in die Sonnenferne trifft. Gegenwärtig hat nämlich die nördliche Halbkugel ihren Winter in der Sonnennähe, und es ist zugleich der Nordostpassat schwächer als der Südostpassat. Der stärkere Südostpassat soll nun aber, nach Croll, mehr Wasser nach der nördlichen Halbkugel her- übertreiben und dadurch das Klima der letztern wärmer und feuchter machen. Es ist hierbei aber, meines Erachtens, ein sehr wichtiger Umstand außer acht gelassen. Unser mildes Klima rührt nämlich vor allem von dem warmen nordatlantischen Strom her. Dieser wird aber nicht durch den in viel südlichern Breiten wehenden Südost- passat bedingt, sondern durch die herrschenden Südwestwinde. Je stärker der Südwestwind ist, desto reichlicher bespült das warme Wasser unsere Küsten, und desto milder und feuchter wird unser Klima. Wir leben gegenwärtig auf der nördlichen Halbkugel in einer troeknen Zeit. Die trocknen Oberflächen unserer Torfmoore bezeugen dies und beweisen somit, dass Croll’s Ansicht nicht mit den wirk- lichen Verhältnissen übereinstimmt. Nach 10500 Jahren werden je- doch unsere Winter in die Sonnenferne fallen. Da könnte unser Klima vielleicht milder und feuchter sich gestalten, als in der Gegenwart. 456 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. Wenn wir die Wechsellagerung zur Bestimmung des wahrschein- liehen Zeitpunkts für den Abschluss der Eiszeit anwenden, so ergibt sich uns, dass letztere im südlichen Norwegen vor 80.000 bis 90 000 Jahren zu Ende gegangen ist (Kurve bei o). Ein Blick auf die Kurve zeigt, wie unbedeutend dieser Zeitraum im Vergleich mit der Zeit ist, welche seit der Periode vergangen, in der die eocänen und oligoeänen Schiehten des Pariser Beekens wahrscheinlich sich bildeten. Außer den gemutmaßten Aenderungen des Meeresstandes, welche periodisch sind und aus dem Grunde wol kaum jemals sehr bedeutende Dimensionen annehmen werden, bewirkt ebenfalls die Faltung der Schichten eine Aenderung der Verteilung von Wasser und Land. Die feste Oberfläche der Erde hat sich im Lauf der Zeiten gefaltet, sodass Schiehten, welche sich im Meere bildeten, Tausende von Fußen ge- hoben wurden, während andere Gegenden sich vielleicht in die Tiefe des Meeres hinabsenkten. Diese Faltungen, deren Grund man bisher in der Abkühlung und Zusammenziehung der Erde gesucht hat, haben ebenfalls eine hervorragende Rolle in der Entwicklungsgeschichte der Erde und der lebenden Wesen gespielt und die mächtigsten und nach- haltigsten Aenderungen in der Beschaffenheit der Länder, ihren klima- tischen Verhältnissen und ihrem Tier- und Pflanzenleben hervorgerufen. Ich glaube daher nicht, dass Croll reeht hat, wenn er meint, die Eiszeit allein aus astronomischen Gründen erklären zu können. Ich nehme vielmehr mit Wallace u. a. an, dass dieselbe ihren unmittel- baren Grund in geographischen Verhältnissen gehabt hat. Die Färöer und Island besitzen keine eigentümlichen Arten, wie jene ozeanischen Inseln sie aufweisen, sondern die Pflanzen dieser Gebiete gleichen fast ganz den europäischen. Es wird schwer fallen dieses Verhältniss anders zu erklären, als durch die Annahme, dass die unterseeische Bank, welche durch die norwegische Nordmeerexpedi- tion nachgewiesen wurde, einst über dem Meeresspiegel gelegen hat!). Ueber diese konnten Pflanzen und Tiere einwandern. Eine Hebung des Meeresbodens um ungefähr 300 Faden (600 m) würde jene Bank aus dem Meer auftauchen lassen. Island ist das Land der Vulkane, und auf dem vulkanischen Sizilien sind Schichten mit noch lebenden Seetieren so hoch gehoben worden, dass, nach Jeffreys’ Meinung, die Hebung auf einen Wert berechnet werden muss, der jene 300 Faden mebr- fach übertrifft. Es sind somit auch nach der Entstehung der jetzt lebenden Arten tatsächlich größere Veränderungen vor sich gegangen, als die, welche zur Herstellung einer Landverbindung mit Grönland nötig wären. Es ist also durchaus keine gewagte Voraussetzung, 1) Siehe genaueres hierüber in meiner vorerwähnten Abhandlung in Eng- ler’s Jahrbiüchern und in einem Referat über dieselbe von Dr, Drude im „Ausland“. 23. April 1883. Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 457 wenn man die ehemalige Existenz einer solehen Landverbindung an- nimmt. Will man dieselbe aber zur Erklärung der Verbreitung der jetzt lebenden Arten benutzen, so darf man dieselbe nicht (wie Wal- lace) in die Tertiärzeit verlegen, aber auch nicht (wie J. Geikie) in die postglaziale Zeit. Denn mit der Landverbindung würde die Eiszeit wahrscheinlich wiederkehren. Die Landverbin- dung würde nämlich den warmen Meeresstrom vom nordatlantischen Meere absperren und letzteres m ein Eismeer verwandeln. Unsere Gletscher würden anwachsen und nach und nach unser Land mit einem Binnenlandseise, gleich dem grönländischen, überziehen, und noch lange, nachdem das Meer jene Landbrücke zwischen Grönland und Europa wieder überspült hätte, würde immer noch das Eis große Strecken bedecken, da ja die Eisbedeckung eines ganzen Landes nicht so rasch wegschmelzen kann. Die erwähnte Annahme einer in der Vorzeit existirenden Landverbindung würde also drei voneinander unabhängige Tatsachen erklären: die Beschaffenheit der Pflanzen und Tiere) Is- lands und der Färöer, das Vorhandensein der unterseeischen Land- verbindung und die Eisbedeekung Skandinaviens in der Eiszeit. Der- artige Veränderungen in der Verteilung von Land und Meer, wie die, welche wir zuletzt besprochen, können aber ihren Grund doch wol nur in Faltungen der festen Erdoberfläche haben. Geologischer Schnitt durch eocäne und oligocäne Schich- ten bei der Eisenbahn bei Mery-sur-Oise zwischen Val- mondois und Bessancourt (Seine et Oise) von G. Dollfus und G. Vasseur (Bull. Soc. Geol. de France. ser. III vol. VI. Paris 1878 8. 243 ff.) Die Wechsellagerung infolge des Wechsels von trocknen und regnerischen Zeiten ist durch die römischen Zahlen angedeutet, von denen je eine eine Pe- riode bezeichnet. Marine und Brackwasserbildungen (Schicht 89—111). 89. Sandiger Thon mit Rollsteinen 0,05 Meter 90. Sand ohne Stein 1,30 91. Steiniger Sand mit gerollten Versteinerungen 0,50 I. 92. Sandstein 0,40—0,70 93. Sand mit Rollsteinen 1,60 94. Sand im Uebergang zu Sandstein, ohne Steine 2,40— 3,00 II. 95. Sandstein 0,50 96. Kalksand mit schieferiger Schichtung 1,70 97. Feiner Sand 2,50 III. 98. Sandstein 0,40—0,50 99. Schwarzer lignitischer Sand 0,10 100. Sand 0,35 —0,40 IV. 101. Sandstein 0,07 102. Sand 0,09 458 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche v: Yyıls IE III. Lv. VI. 103 104. 105. 106. 107. 108. 109. 110. 114. 112: >13. 114. 115. 116. 117. . Sandstein Sand Sandstein Harter Kalk Kalksand Mergel Abwechslungen von sehr dünnen Thon- und Sand- schichten mit schwarzem Kiesel Mergelkalk Lignitischer Thon Süßwasser (Schicht 112—127). Mergelkalk Harter Kalk in zwei Bänken, der bisweilen eine Zone von loserem Kalk umschließt Loserer Kalk Mehr oder weniger harter Mergelkalk in 2 bis 3 Schichten Harter Kalk Mergel Quarz Mergel . Mergel . Mergel Harter Kalk mit einem Mergelband in der Mitte Mergel . Dunkleres Band (Mergel?) Mergel . Harter Kalk . Kieselkalk . Sandiger gehärteter Mergel . Sandstein Marin (Schicht 128). . Sandiger Thon Süßwasser (Schicht 129—142). . Loser Kalk . Harter Kalk . Mergel . Mergelkalk . Ziemlich harter Mergel . Kieselkalk . Mergelkalk . Kieselkalk . Kalk . Mergel . Kieselkalk . Kieselkalk . Thon . Kieselkalk Marin (Schichten 143—196). 3. Sandstein Bedeutung. 0,13 0,30 0,09 0,17 0,15 0,03 0,15 0,15 0,02 0,24 0,32 0,30—0,40 0,98 0,38 0,05 0.03 0,32 0,01 0,11 0,16 0,07 0,02 0,15—0,25 0,05 0,07 0,15—0,20 0,15 0,25 0,07 —0,20 0,05—0,18 0,10— 0,15 0,05— 0,12 0,10—0,16 0,20 0,30 — 0,50 0,45 0,15 0,00—0,10 0,06 0,25 —0,30 0,05—0,20 0,07 0,20 Axel Blytt, Wechsellagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 459 144. Sand L, Schicht gehärteter Knollen Sand « I. Schicht gehärteter Knollen 3 Sand DET. sehärtete Schicht 145. Mergel 0,00—0,20 146. Thon 0,03 IV. 147. Kieselkalk 0,20—0,50 148. Mergel 0,00—0,07 149. Mergel 0,15—0,30 150 Kieselkalk 0,00—0,10 V. 151. Quarz 0,03—0,07 152. Kieselkalk 0,20 - 0,30 153. Mergel mit Gips 1,00 154. Thon 0,05 155. Mergel mit Gips 0,60 156. Mergel mit Gips 0,06 157. Gips 0,42 VI. 158. Gips 2 159. Mergel 0,20 160. Gips 0,10 - 0,12 VI.161. Gips 0,59 162. Mergel 0,36 163. Gips (mit Mergelbändern von verschwindender Mäch- tigkeit) 0,54 164—170. Gips 2,00—2,31 VI. 171—176. Gips 0,75 177. Mergel IX. 178—181. Gips 122. Mergel X. 183—186, Gips 187. Mergel mit Menilitkiesel XI. 188. 189. 190. Mergel mit Gips Mergel Mergel mit Gips 0,08—0,10 0,67 0,03 1,00 0,52 0,40 al 0,20 Zweifelhafte Schichten ohne Versteinerungen (Schicht 191—195) weiterhin Süßwasserschiehten (Sehieht 196— 209). I. 191. Gips 0,10 192. Mergel 0,12 193. Mergel mit Gips 0,80— 0,90 II. 194. Gips 0,10 195. Mergel mit Gips 0,25 196. Mergel 0,03 III. 197. Massiver Gips mit Sißwassertieren, ohne Spur von regelmäßigen Schichten 8,00 198. Mergel mit sehr schmalen Gipsbändern 3.40 199. Kalkmergel 0,62 200. Mergel 0,65 201. Mergel 0,22 460 Axel Blytt, Wechesllagerung und deren mutmaßliche Bedeutung. 202. Thon 0,02 IV. 203. Kalkmergel 0,50 204. Thoniger Mergel 0,65 V. 205. Kalkmergel 1,16 206. Thonmergel 1,50—1,70 VI. 207. Thonmergel, nach oben und unten zu rostfarbig 0,07 208. Thonmergel (wie 206) 1,40 V11.209. Mergel mit rostfarbigen Bändern 0,32 Brackwasser (Schichten 210—217). 210. Mergel, rostfarbig 0,45 211. Mergel mit mehreren sehr dünnen versteinerung- führenden Gipsbändern 0,80 212. Thon 0,25 I. 213. Mergel (wie 211), mit rostfarbigen Bändern 1,42 14. Mergel, mit einer Schichtunregelmäßiger Granulationen 1,00 15. Thon 0,11—0,15 II 216. Kieselkalk 0,07 217. Thon 0,15 — 0,20) Süßwasser (Schicht 218—220). 218. Thon mit zahlreichen sandigen u rostfarbigen Bändern 0,40 I. 219. Kieselkalk (calcaire de Brie) bisweilen in zwei Bändern 0,12 220. Mergel mit sandigen Bändern und zwei kalkhaltigen Schichten 0,78 Marin (Schieht 221 —230). 221. Kalkmergel 0,45 222. Thon, an der Unterseite sandig, nach oben zu kalkhaltig 0,45 225. Thon, sandig und kalkhaltig 0,30 I. 224. Mergelkalk, sandig 0,15—0,20, 225. Kalkhaltiger Sandstein 0,40 226. Sand 0,15 DE Sandstein 0,05 227. Thon 0,12 III. 228. Sandiger Kalkmergel 0,30 229. Thon 0,50 250. Sandiger Thon 0,25 2531. Etwas sandiger Thon 0,20 232. Sand mit einzelnen Thonschichten ; sichtbar 2,00 Ueberdeckt 2-3 m, wo nichts zu sehen ist. Süßwasser (Schicht 233). 235. Ungeschichteter Thon, besonders nach unten zu mit Blöcken von Kieselkalk; siehtbar 4,00 234. Diluvium 0,15 Diese Schichten werden auf folgende Schichtengruppen zurückgeführt: Sables de Beauchamp, de Mortefon- Eoecäne: taine etc. Schichten 89—111 Sables Moyens Calcaire de St. Ouen B 112—142 Sables de Monceaux a 143—145 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 461 Mergel mit Pholadomya h 146—154 ‘ipsmasse 3. 1,5—158 Gypse marin. Mergel mit Lucina 159 Gipsmasse 2. a 160— 196 Gipsmasse 1. “ 197 4 Blauer Mergel 198 - 204 Gypse palustre. 22 5 y p Weißer. Mergel Mr 205—209 Grüner Mergel ä 210—217 Sables Caleaire de Brie 5 218 — 220 d’Etampes. Marnes et molasse marine B- Da Sables de Fontenay 5 232 Gres de Fontainebleau ga Meulieres de Montmoreney Vligocäne: | : Is Axel Blytt (Uhristiania). Harvey und seine Vorgänger. Invicta semper veritas discipulum do- euit superare magistrum. Harvey an Paul Marquart Schlegel (Opp. ed. 1766. p. 615). Meine kleine Abhandlung über die Geschichte der Entdeckung des Blutkreislaufs, Jena 1876, hat, dank den beigefügten Anmer- kungen des Herrn Professor Dr. Preyer, eine weitere Beachtung gefunden, als ich hätte erwarten dürfen. Um so mehr fühlte ich mich verpflichtet, meine Studien fortzusetzen, und ich bin darum gern der Aufforderung des Herausgebers dieser Zeitschrift nachgekommen, aufgrund meiner neuen Quellenstudien das letzte Ergebniss in einer gemeinverständlichen Form zusammenzufassen. Hat doch die Frage, wer der Entdecker des wichtigsten physio- logischen Vorgangs, des Blutkreislaufs, sei, dadurch seit den letzten Jahrzehnten besondern Reiz gewonnen, dass man vier Männern zugleich als den Entdeekern ein Monumentum aere perennius errichtet hat. Ja diese Denkmäler der Pietät sind selbst wieder zur interna- tionalen Ehrenstreitsache geworden, indem die Spanier mit Stolz auf- sehen zu Michael Servet’s Entdecker-Denkmal im Museo antropo- logico zu Madrid; die italienischen Monumente zu Bologna den Carlo Ruini, zu Pisa und Rom den Andreas Caesalpino feiern; Har- vey aber zu London in der Sydenham Soeiety, zu Hempstead in der Kirche und zu Folkestone als der erste und einzige monumental ver- ewigt ist. Wem gebührt nun die Palme? Oder haben mehrere An- teil? Wir wollen es unbefangen untersuchen. Kap. I. Die Alten. Unsere Zeit ist eine Zeit der wissenschaftlichen Gerechtigkeit und der Ehrenrettungen. 462 Henri Tollin, Harvey und seine. Vorgänger. Mit Freuden soll man es daher begrüßen, wenn Huxley, Geof- froy, Ceradini u. a. den Erasistratus, Aristoteles, Galen bei unserm autoritätenfeindlichen Geschlecht wieder zu Ehren bringen. Erasistratus kannte elf Klappen, drei in der Oeffnung, durch welche die Hohlvene mit der rechten Herzkammer, drei, durch welche die Vena arteriosa mit derselben Herzkammer sich verbindet; drei in der Oeffnung der Aorta in die linke Herzkammer; zwei bei der Oeff- nung der Arteria venosa in dieselbe Herzkammer. Wenn also der Inhalt des Herzens flüssig ist, gleichviel ob Blut oder Luft, so kann er sich nur nach einer Riehtung bewegen, nämlich von der Hohl- vene durch die rechte Herzkammer und nach den Lungen zu durch die Vena arteriosa, aus der Lunge aber durch die Arteria venosa in die linke Herzkammer und von dort durch die Aorta zur Verteilung in den Körper. Der Zweck der Klappen und die Riehtung der Bewegung war gegeben für „das Flüssige“. Dass dies Flüssige auch in den Arterien Blut sei, wusste Era- sistratus nicht. Er glaubte, im den Arterien sei nur Luft und er konnte daher nicht auf den Gedanken eines Blutkreislaufs kommen. Galen hatte widersprechende Beobachtungen gemacht. Gemein- hin, nämlich bei den Leichen, hatte er in den Arterien kein Blut ge- funden, sondern Luft. Bisweilen aber, nämlich bei den Vivisektionen, traf er auch in den Arterien Blut. Auch in der linken Herzhöhle entdeckte er Blut. Ebenso in den Lungen. Er stellte deshalb die Theorie auf, dass etwas Blut (aliquid, portio sanguinis) von der rechten Herzkammer durch die Lunge in die linke Herzkammer gehe. Hätte er erkannt, dass die Arterien des lebendigen Körpers immer Blut führen und dass nicht ein winziger Teil Blut, sondern alles Blut den Weg dureh die Lungen nimmt, so wäre schon Galen auf den Gedanken des Blutkreislaufes gekommen. Nun aber hielt er daran fest, dass der Hauptinhalt der Venen Blut, der Hauptinhalt der Arterien Luft sei; dass die Arterien in sich selbst eine Attraktiv- und Repulsivkraft besitzen, dass die von außen aufgenommene, in den Lungen zu Geist (Pneuma) verfeinerte Luft es sei, was dem Blute seine Bewegung gebe, und dass die ganze Menge des so in Fluss gesetzten Blutes dureh die mitt- lere Herzwand, mittels unzähliger kleiner unsichtbarer Poren, aus der rechten in die linke Herzkammer auf dem kürzesten und graden Wege hindurchdringe. Als den Sitz der Blutbereitung, das eigentliche Laboratorium, betrachtet er die Leber. Die Leber sei auch das Zentrum aller Venen, wie das Herz das Zentrum aller Ar- terien, das Hirn das Zentrum aller Nerven sei. In der Leber entsteht der natürliche Geist, der sich dureh die Venen, im Herzen der Lebensgeist, der sich durch die Arterien, im Hirn der seelische Geist, der sich durch die Nerven dem Körper mitteilt. Aus der Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger, 465 Speise und dem Tranke bereitet der Magen jenen Nahrungssaft (Chyli), den er durch die Eingeweidevenen und die Pfortader an die Leber mitteilt. Aus diesem Nahrungssaft bereitet die Leber das Blut, welches nun als Nahrungsstoff für sämtliche Teile des Körpers dient. Das nährende Blut führt die Leber nach Herz, Lunge und Hirn mit- tels der Hohlvene und der arteriösen Vene. Zu den untern Teilen abwärts führt die Leber das nährende Blut mittels der übrigen Venen. Damit nun aber das Blut nicht zu träge und der Geist nicht zu wild werde, findet ein fortwährender Austausch statt zwischen Venen und Arterien in ihrem ganzen Lauf. Durch unsichtbare Mündehen (Anastomosen) oder Schleusen teilen nämlich an allen bei- derseitigen Berührungspunkten die Venen etwas Blut an die Ar- terien und die Arterien etwas Luft an die Venen mit. Das Herz erscheint mitten im Leibe als jene Lebenslampe, deren Oel das Blut ist, und deren Licht angefacht wird durch die eingeatmete Luft. Aber das Hauptorgan bleibt die Leber. Nach Aristoteles ist nicht die Leber das Organ der Blutberei- tung und der Sitz der Lebenswärme, sondern das Zentralorgan des Leibes ist das Herz. Bekanntlich hat das Herz zwei Kammern und zwei Vorhöfe, oder, wie die Franzosen sagen, Ohren. Dieser Vierteilung gegenüber hat die Dreiteilung des Aristoteles bei den modernen Physiologen oft An- stoß erregt. Huxley aber (Nature 1879. 6. Novb.) erinnert daran, dass Ari- stoteles seine Herzbeobachtungen stets nur an erstiekten Tieren gemacht habe. Bei erstickten Tieren aber fände man nur drei Herz- höhlen, indem die mit Blut erfüllte Vena cava inferior, der rechte Vorhof, die Vena cava superior und Vena anonyma eine feste Säule (eontinous column) bilde, an die das Herz wie eine Art Anhang be- festigt wäre. Gefährlicher wurde für Aristoteles die Annahme, dass alle Blut- gefäße des Leibes zuletzt in blinde Endigungen sich verlieren. Eine Uebertragung des Blutes von der Vene in die Arterie und von der Arterie in die Vene war ihm undenkbar, und somit lag ihm die An- nahme einer Kreisbewegung des Blutes völlig fern. Bedenkt man nun, dass der Oberherrscher der alten Medizin, Hippokrates, das Schwergewicht seines Ansehens dafür einlegte, dass die Ursache allen Lebens, die eingepflanzte Wärme, ihren Träger nicht im Blut habe, sondern in dem Pneuma, einem luftartigen Stoff, der sich durch alle Adern bewegt: so wird man verstehen, dass bei allen Schülern Galen’s von einem Blutkreislauf keine Rede sein konnte. Das Wort Cireulatio sanguinis braucht zwar Thomas Aquin (r 1274); aber nieht in dem Sinne einer Bewegung im Kreise, son- dern in dem Sinne einer mit jedem Pulsschlag immer wieder erneuten fortlaufenden Bewegung des Blutes vom Herzen aus durch die Venen- 464 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. bächlein in die Glieder, grade wie sein Meister Aristoteles von dem Euripus-ähnlichen, fortwährenden Ebben und Fluten des in den Venen rastlos sich bewegenden Blutstromes redet. So gehen drei Irrtümer von dem Altertum auf das Mittelalter hinüber Kuda bis inHarvey’s Tage hinein: 1) dass die Arterien im wesentlichen nur Luft enthalten 2) dass die mittlere Herzwand überall siebartig durchlöchert sei 3) dass die Venen das Blut vom Herzen den Gliedern zuführen. Ihr Vertreter ist der Vater der Physiologie, Claudius Galen. Und der Mann von Pergamos herrscht unangefochten bis auf Vesal. Ja auch Männer wie der fein- sinnige Bischof Nemesius von Emesa, der Freund Dante’s Ceceo d’Aseoli, der berühmte Anatomenkönig Mundinus, der größte Scholastiker Thomas Aquin, der unvergleichliche Satiriker Fran- gois Rabelais, die anatomischen Celebritäten Andreas Laguna der Spanier und Amatus Lusitanus, der portugiesische Jude — auf dem Gebiet des Blutkreislaufes bleiben sie alle einfach bei den Hy- pothesen des Pergameners stehen. Aristoteles hat alles beobachtet, Galen hat alles erklärt, Mundinus hat alles bewiesen, das war ein Dogma, ein Evangelium ?). Kap. Il. Michael Servet. ?) Der erste, der bewusst und entschieden dem Vorurteil der Jahr- tausende entgegentrat und mit anatomischen Gründen alle drei Irr- tümer bekämpfte, war Vesal’s Mitschüler, Michael Servet (1511— 1553). Servet war einer der vielen Polyhistoren des sechszehnten Jahrhunderts. Jurist zu Toulouse 1528, Amanuensis des kaiserlichen Beiehtvaters zu Bologna 1530, epochemachender theologischer Schrift- steller zu Basel 1531 und 1532; Herausgeber des Ptolemaeus und Gründer der vergleichenden Geographie zu Lyon 1555 und 1541; Stu- diosus der Medizin unter Champier, dann zu Paris 1536—1538, und zugleich als Magister artium astronomischer, astrologischer, meteoro logischer und mathematischer Dozent, 1537 Herausgeber einer medi- zinischen Schrift, die fünf Auflagen erlebte; Schüler des Jakob Syl- vius, des ersten Entdeckers der Venenklappen, des Johann Fernel, den Harvey so oft zitirt, und des Günther von Andernach, des berühmten Kenners des griechischen Galen, als scharfsinniger medi- zinischer Gelehrter und geschickter Anatom von Freund und Feind gefeiert; 1540—1542 Arzt zu Charlieu, 1542—1553 Leibarzt des Erz- bischofs von Vienne und Primas von Frankreich, wurde er als Ver- fasser des Buchs „von der Herstellung des Christentums“ am 27. Ok- 1) Vgl. meine Abhandlung: Ueber das Studium der Medizin 1340—1533 in Virchow’s Archiv. 1880. S. 47—78. 2) Meine Servet-Studien sind zum Teil in Gütersloh bei C. Bertelsmann, zum Teil bei Habel und H. R. Mecklenburg, Berlin, zum Teil in Zeitschriften erschienen, Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 465 tober 1553 zu Genf durch Calvin auf dem Scheiterhaufen von Chanipel verbrannt — im der Philosophie ein Vorläufer Spinoza’s, in der Theologie ein Vorläufer Schleiermacher’s, in der Geographie ein Vorläufer Humboldt’s, in der Physiologie ein Vorläufer William Harvey’s. Man hat Servet zum Träumer gemacht. Das Gegenteil ist die Wahrheit. Alles was der Spanier geworden ist, alles das wurde er nur, weil er ein Mann der Beobachtung war, ein Mann des Experi- ments auf jedem Gebiete, das er betrat!). In seiner Schrift über die Syrupe beruft er sich nicht nur immer wieder auf seine Er- fahrungen in der Therapie, sondern auch auf die Chemie und Alchymie. In seiner Verteidigung der Astrologie gegen den Dekan der medizi- nischen Fakultät beruft er sich auf einen von ihm beobachteten Venus- durchgang durch den Mars und auf von ihm angestellte und richtig eingetroffene meteorologische Wettervorhersagungen. Im Ptolemaeus beruft er sich auf seine eignen Reiseerfahrungen in verschiedenen Ländern, auf seine Erfahrungen mit dem Astrolabium bei den Be- stimmungen der geographischen Lage; er erwähnt, dass er den König von Frankreich Kröpfe habe berühren sehen: ob sie geheilt worden seien, habe er nicht geschen. Den protestantischen Fürsten hält er vor, er habe (zu Bologna) gesehen, wie die Fürsten den Papst auf ihrem Nacken getragen und der Kaiser ihm die Füße geküsst habe. Den protestantischen Theologen hält er vor, er habe mit eignen Ohren gehört, wie Luther den Glauben anders und anders Melanchthon, anders Oecolampad und wieder anders Dr. Paulus (Phrygio) erklärt habe. Den Scholastikern hält er vor: geboren werden und ein Sohn sein ist eine Handlung des Fleisches. Den Kosmologen rät er sehr, neben dem Bericht der Bibel zu Rat zu ziehen die Entstehung der Welt selbst (ipsa mundi genesis). Den Anhängern der athanasiani- schen Trinität hält er vor: zeigt mir in der Bibel ein Jota, wo jenes Wort der Sohn Gottes genannt wird. Dem Calvin hält er vor: leugne, dass du ein Mörder bist, und ich werde es dir durch die Tat be- weisen. Den Psychologen hält er vor: da bewege sich der denkende Geist, wo wir ihn beim Denken sieh bewegen gefühlt haben, nämlich in den Schläfen. Den Philosophen hält er ‘vor: alles was in der Welt ist, ist in irgend einer Form wahrnehmbar. Den Betern hält er vor: Jede Anbetung Gottes setzt eine Gottesschau voraus. Kurz überall befolgt er seinen Grundsatz, die Erfahrung ist die Mutter der Wahrheit 2). So fußt er auch in der Physiologie auf seiner anatomischen Er- fahrung. Er lehrt 1546: I) Ne speeulationi relinqueremus, sed ut experientia certa veritatem in- dagare possimus (Ptolem. ed. 1555 fol. 148 a). 2) Experientia mater rerum omnium et sapientia (Ptolem, fol. 7 b). & 10) 466 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 1) Das Blut aus der rechten Herzkammer in die linke geht nicht durch die mittlere Herzscheidewand, wie die Masse glaubt: denn die Herzscheidewand ist fest und ohne Gefäße. Ob etwas (aliquid) den- noch durchsickern könne, stelle er anheim. 2) Vielmehr wählt das Blut einen Umweg, um auf höchst künst- liche Weise, vermöge einer langen Leitung durch die Lungen, aus der rechten Herzkammer in die linke zu gelangen. 3) In den Lungen, wohin die eingeatmete Luft durch die Luft- röhre geführt wird, vermischt sich die eingeatmete Luft mit dem herausgearbeiteten dünnen, feinen, hellroten Blute, welches die rechte Herzkammer der linken mitteilt. 4) Von den Lungen wird das Blut zubereitet, hell gemacht. und von der arteriösen Vene (jetzt heißt sie Lungenarterie) ın die venöse Arterie (jetzt heißt sie Lungenvene) hinübergegossen. 5) Das ganze Gemisch von Luft und dünnerem Blut wird von der linken Herzkammer durch Ausdehnung (Diastole) angezogen und dient dem Herzen als Lebensgeist. 6) Dieser Lebensgeist aber wird zuletzt von der linken Herz- kammer nach und nach in die Arterien des ganzen Körpers über- geleitet. 7) Von den Arterien endlich wird durch die Anastomosen dieser Lebensgeist mitgeteilt den Venen, ganz ähnlich wie bei der Ueberleitung von den Venen in die Arterien sich eine neue Art Gefäß findet aus Vene und Arterie. Bewiesen wird dieser Vorgang, den man als Lungenkreislauf zu bezeichnen pflegt, 1) nicht aus Galen, denn Galen selbst habe das nicht be- merkt, wie man aus einem Vergleich vom 6. und 7. Buch „vom Ge- brauch der Teile“ ersehen könne; sondern 2) aus der Anatomie, falls man darin Uebung habe. Dass Servet solche hatte, bezeugt ihm, neben seinem Lehrer Günther von Andernach, schon 1537 sein Widersacher Joh. Tagault zu Paris, damals Dekan der medizinischen Fakultät; 3) aus der Induktion des Beobachters, nämlich: a) aus der bedeutenden Größe der arteriösen Vene (Lungen- arterie), welche wegen der bloßen Ernährung des Herzens weder der- artig, noch so groß gemacht worden wäre, noch vom Herzen selbst eine solche Gewalt des reinsten Blutes in die Lungen senden würde; b) aus der Tatsache, dass, da doch im Embryo die Lungen selbst anderswoher ernährt zu werden pflegen, zur Stunde der Geburt das Blut vom Herzen zu einem neuen Gebrauch in die Lungen aus- gegossen werden muss, und noch dazu so reichlich ; c) aus dem Umstand, dass von den Lungen zum Herzen durch die venöse Arterie (Lungenvene) nicht einfache Luft gesandt wird, Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 467 sondern mit Blut vermischte: also geschieht die Mischung in den Lungen; d) aus der Farbe: denn die helle Farbe wird dem luftförmigen Blute erst durch die Lungen gegeben, nicht durch das Herz; e) aus der Raumverteilung, insofern in der linken Herzkammer kein Raum ist, der fähig wäre, eine so große und so reichliche Ver- mischung zu fassen; noch auch findet da eine genügende Durchar- beitung statt, um das Blut hellrot zu machen; f) aus der Tatsache, dass die mittlere Scheidewand des Her- zens der Gefäße und Hilfsmittel entbehrt und daher ungeeignet ist zur Ueberleitung und Verarbeitung des Blutes. Dem Blutkreislauf im gebornen Menschen stellt nun Servet gegenüber den Blutkreislauf im ungebornen, dem Fötus. 1) Das Herz ist das erste, was lebt, die Quelle der Wärme mitten im Körper. 2) Nach der Leber und nach dem das Leben gebenden Herzen strecken sich vom Leib der Mutter her des Fötus Nabelgefäße, wie wir in der Anatomie wahrnehmen. 3) Vom Herzen selbst der Mutter nehmen ihren Ursprung die Arterien, die mittels der Nabelschnur in den Fötus selbst hinein- gehen und den Lebensgeist in ihn einflößen. 4) Im Mutterleibe gibt es weder Einatmung noch Ausatmung: erst in der Stunde der Geburt beginnt der Mensch zu atmen. 5) Der Embryo ist nur ein Teil der Mutter und der Lebensgeist wird ihm durch die Nabelarterien eingeführt: ein Zweig, der durch die Geburt erst übergepflanzt wird, dass er Baum sei. Erst bei der Geburt werden die Kindesbänder der Kotyledonen gelöst. 6) Des Embryos Lebensgeist wird bis dahin durchaus nicht in seinem Herzen erzeugt, sondern nur von dem allein kann die Rede sein, der von der Mutter eingegossen wird. Kap. II. Ergebniss aus Servet. Es ist unleugbare Tatsache, dass bis zum 3. Januar 1553 der Weg der großen Menge des Herzblutes aus der rechten Herz- kammer durch die Lunge in die linke Herzkammer niemals in einem Druckwerk gelehrt worden ist. Der Verfasser des Druckwerks, in dem jene unerhörte, anti-galenische Lehre vorgetragen wird, der Spa- nier Michael Servet-y-Reves, Villanovanus, ist also der Ent- decker jenes physiologischen Vorganges, der einen Halbkreis be- schreibt, den man aber gewohnt ist, mit ungeschiektem Namen als den kleinen Blutkreislauf oder den Lungenkreislauf zu be- zeichnen. Und Servet hat auch die Gründe angegeben, auf denen sein Induktionsbeweis beruht. Unter diesen Gründen fehlen einige der wiehtigsten, die später nachgetragen werden. Gesehen hat ja Servet den Lungen-Halbkreislauf so wenig wie Harvey. Sehen 30* 468 . Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. konnte ihn erst Malpighi, weil dem Servet wie Harvey das Mi- kroskop fehlte, ohne das man den Uebergang des Blutes aus den Venen in die Arterien und aus den Arterien im die Venen nicht sehen kann. Bis auf Malpighi haben alle Entdecker nur daran ge- glaubt, ohne den Okularbeweis führen zu können. Ob Michael Servet auch den eigentlichen Kreislauf, d. h. die Rückkehr des Blutes aus der rechten Herzkammer auf dem Wege durch den ganzen Körper zurück zu eben derselben Stelle der rech- ten Herzkammer geahnt hat, das lässt sich weder leugnen, noch be- haupten. Nicht behaupten, weil hier das entscheidende Wort: „Rück - kehr des Blutes zur Stelle seines Ausgangs“ feblt!). Nicht leugnen, weil in seiner Beschreibung nichts steht, was dem wider- spräche. Denn dass bei ihm, wie beiGalen und Harvey, die Leber als eigentlicher Sitz der Blutbereitung erscheint — bekanntlich be- gräbt erst Thomas Bartholin (7 1680) die Leber — ist für den Kreislauf als solchen von nebensächlicher Bedeutung. Inbetreff der drei vom Mittelalter aus Galen ererbten phy- siologischen Irrtümer stellt Michael Servet sich folgendermaßen. 1. Servet nimmt nicht an, dass die Arterien nur Luft ent- halten, sondern behauptet, sie enthalten Blut, und zwar das aus der rechten Herzkammer entsprungene, auf dem Lungenwege verfeinerte, mit Luft gemischte Blut. Das Blut ist ihm der Sitz der Seele. Im Blut ist das Leben. Von der rechten Art der Blutmischung hängt nicht bloß die Gesundheit, sondern sogar des Verstandes Schärfe und die Güte des Gemüts ab. Statt der drei Geister, die von Aphrodi- saeus her das Mittelalter beherrschten, oder, wie wir sagen würden, statt der drei Lebenskräfte, kennt er nur zwei: Blut und Nerven- erregung, und zwar venöses Blut, dessen Sitz ihm noch die Leber, arterielles Blut, dessen Sitz ihm das Herz, und Nervenerregung, de- ren Sitz ihm das Hirn ist. Er bewegt sich also in der Gedankenreihe Harvey’s von 3 zu 1. Mit seiner Behauptung, dass auch in den Ar- terien Blut sei, opponirt er nicht dem Galen, weil er, als tüchtiger Galenkenner, weiß, dass bisweilen auch Galen dasselbe lehrt?). Den Geistern oder Lebenskräften gibt er nieht den Abschied, indem er — und mit ihm Harvey — daran festhält, dass ohne die Geister Blut kaum den Namen des Bluts verdiene, sondern Leichengerinnsel sei und erst durch die Geister von oben jene Kraft erhalte, welche das natürliche Blut über sich selbst erhebt. 2. Servet nimmt nieht an, dass die mittlere Herzscheidewand durehlöchert sei. Da er aber weiß, dass in dem Fötus bis zur 1) Und doch lag grade ihm der Gedanke so nahe, da er Restitutio p. 160 ausdrücklich lehrt: semper enim unumquodque revertitur ad ori- ginem suam. 2) Bekanntlich hat Galen darüber eine besondere Abhandlung geschrieben, Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 469 Stunde der Geburt der Blutkreislauf eine ganz andere Riehtung nimmt, nämlich durch die Herzseheidewand hindurch, so wagt er, noch nicht mit Mikroskop bewaffnet, auch nicht gradezu abzuleugnen, dass auch nach der Geburt noch etwas durehsehwitzen könnte. Und dass diese Möglichkeit bei Ausnahmegebilden Ausgewachsener Wirk- liehkeit ist, weiß jeder Anatom. 3. Servet nimmt nicht an, dass die Venen das Blut nach den Teilen des Körpers hinführen. Vielmehr lehrt er ausdrücklich, dass dies Aufgabe der Arterien ist. Er tritt aber auch nieht ausdrück- lich und namentlich dem landläufigen Irrtum entgegen, als täten das die Venen. Er schildert richtig die Anastomosen bei der Verbin- dung der Arterienenden mit den Venenanfängen. Aber er versäumt es ausdrücklich und namentlich gegen jenen bekannten Wahn Galen’s zu protestiren, dass die Arterien, wo immer sie mit den Venen sich im Leibe berühren, beiderseits kleine Oeffnungen hätten, dureh welche überall im Leibe aus den Arterien etwas Luft in die Venen, aus den Venen etwas Blut in die Arterien überfließe, und dass eben jene blind vorausgesetzten Oeffnungen, die in Wirklichkeit gar nieht existiren, die Anastomosen seien. So ist bei Servet zwar der Weg des Blutes durch die Lungen klar gezeichnet, wenn auch noch nieht mit allen möglichen Beweisen festgestellt. Der Weg des Blutes aber aus den Teilen zur rech- ten Herzkammer zurück ist, falls angedeutet, dunkel. Wenn man also Kreislauf im eigentlichen Sinne des Worts, wie man dies tun sollte, von der Rückkehr des Blutes aus der rechten Herzkammer dureh den ganzen Leib nach eben dieser Herzkammer braucht, so hat Michael Servet den Kreislauf des Blutes nieht beschrieben, viel- leicht auch nicht geahnt, sondern nur den Halbkreislauf durch die Lungen. Kap. IV. Einfluss Michael Servet’s auf die physiologische Wissenschaft. Melanchthon’s Ausspruch, dass Michael Servet durch seine Werke häufig große Bauten in Trümmer gelegt hat (saepe magnas traxit ruinas), ist von den Physiologen unbeachtet geblieben. Und doch, wo er nur hintrat, wirkte er aufsehenerregend. Ein höchst interes- santer Beleg ist sein Prozess gegen die medizinische Fakultät von Paris, welcher die gesamte Universität zur Seite trat, und von dem der medizinische Decan, Joh. Tagault berichtet, er habe halb Paris in Aufregung gebracht!) Ein anderer Beleg war seine erste medizinische Schrift, die er als Studiosus medieinae zu Paris herausgab, und die fünf Auflagen erlebte. Ein dritter Beleg sein Wiener und Genfer Prozess, von denen lange die katholische und 1) S. meine Abhandlung: „Servet’s Pariser Prozess“ in Rohlf’s Archiv f, d. Gesch. der Medizin. Bd. III S. 783 fg. 470 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. evangelische Theologie sprach. Wenn nun dieser frühberühmte Schü- ler jener drei Männer, die Harvey so gern zitirt, schon als Student sich erfolgreich mit Anatomie beschäftigt und als Demonstrator bei der Sektion eines menschlichen Leichnams, wie sein Feind, der Dekan, berichtet, eine große Hörerschar um sich versammelt sah; wenn wir unter diesen Pariser Hörern den Leibarzt des Königs, Joh. Thi- bault, den Primas von Frankreich, Pierre Paulmier und viele Italiener zu seinen Füßen bemerken, so brauchte er nur in den Hörsälen und auf der Anatomie der Eeole de medecine zu Paris, brauchte in seiner dreijährigen Praxis zu Charlieu und in der elfjähri- gen als Leibarzt des Erzbischofs zu Vienne, so oft eine Sektion statt- fand, auf seine neue Entdeckung hinweisen, und die Entdeckung musste sich verbreiten, musste sich auch nach Italien verbreiten, noch ungedruckt. Gedruckt findet sieh aber die Entdeckung (weder De trinitatis erroribus noch de Trinitate, noch auch in den drei medizinischen Schriften Servet’s — universa ratio syruporum, apologia pro Sym- phoriano Campegio in Leonardum Fuchsium, apologetica disceptatio pro astrologia adversus quendam medieum'!) — sondern) in der Re- stitutio Christianismi, die er am 3. Jan. 1553 aus der Presse zu Vienne in die Welt gehen ließ, nachdem er seit 1546 sie unter seinen Freun- den (Caelius Curio u. a.) und Feinden (Calvin, Melanchthon, Leonh. Fuchs [+ 1566]) handschriftlich verbreitet hatte. Ein logischer Unsinn spukt hier in den meisten Schriften über unser Thema. Man schließt, weil es heute nur noch 2 (es soll heißen 3: das Pariser, Wiener, Edinburger) echte Exemplare der Re- stitutio gibt, so habe es zu jeder andern beliebigen Zeit auch nur 2, bezw. 3 Exemplare der Restitutio gegeben. Vom 3. Januar 1553 bis 27. Oktober 1553 liefen durch die Welt, wie Servet zu Genf beschwört, tausend Exemplare der Restitutio. Am 27. Oktober 1553 wurde in Genf ein Exemplar verbrannt. Von den übrigen 999 Exemplaren wurde in Vienne ein Exemplar am 23. Dezember 1553 verbrannt. Dass, was im Vienner Prozess als fünf Ballen weißes Papier bezeichnet wird, nicht fünf Ballen weißes Papier gewesen seien, ist oft behauptet, aber nie bewiesen worden. Die Fabel, dass in Frankfurt a. M. von den 998 übrig gebliebenen Exemplaren der Restitutio auch nur eines verbrannt worden sei, hat nie irgend eine geschichtliche Bestätigung gefunden. Vielmehr leidet sie an großer Unwahrscheinlichkeit?). Dass aber schon 1531 und dann 1539, darauf 1542, dann 1553 4) Von mir neuentdeckt und herausgegeben, Berlin bei H. R. Mecklenburg 1880. 2) 8. meinen Aufsatz über Cassiodorus de Reina im Bulletin de la Soeciet& du Protestantisme frangais. Sept. 1882. Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 41 Servet’s Bücher ganz besonders gern und zahlreich nach Italien gingen, nach Padua, Venedig, Mailand, Vicenza, Rom, Bologna, Nea- pel, beweisen die dahin gerichteten ausdrücklichen Zeugnisse Calvin’s, Melanehthon’s, Bullinger’s, Zanchis u. a.; die neuen Ausgaben seiner Schrift über die Syrupe bei Vinecentius Valgrisius in Venedig 1545 und 1548; die zahlreichen alten Abschriften Servetanischer Werke, die man noch heute grade in Italien findet, und endlich die große Schar seiner italienischen Anhänger. Ich nenne unter diesen nur Santes Pagnini, Marrini, Biandrata, Gribaldo, Camillo Renato, Occehino, Gentile, Paolo Aleiati, Lelio, Camillo, Darius und Fausto Soeini, Franeisco Negri, Jacobo de Chiari, Fran- eisco de Ruego, Nicolao Paruta, Giulio Trevisana, Tur- riano, Camulio, Sadoleti, Ludovico Fieri, Gianandrea di Paravicini, den Grafen Celso Massiliano Martinengo und die Fürsten Petrucei. Nicht zu übersehen ist auch, dass Servet im Ge- folge seines Königs die Kaiserkrönungsreise grade durch Italien machte (1530), zu Paris, wo so viele Kollegien waren, grade im Col- legio der Lombarden wohnte, gegen den Dekan der Fakultät als Zwischenhändler seiner italienischen Freunde sich bediente und, wie er vor dem Genfer Gericht bekennt, beschlossen hatte, sein Leben als Arzt in Italien, nämlich in Neapel zu beschließen. Auf die Frage: konnte Servet’s Entdeckung des Blutweges durch die Lungen auf die anatomisch-physiologische Welt von Einfluss sein, antworten wir daher mit einem entschiedenen Ja. Gingen doch von den 998 unverbrannten Exemplaren der Restitutio eine große Zahl, vielleicht die größte, grade nach Italien und wir fügen hinzu: insbe- sondere nach Padua. Horacio Caelio Curione, jener Turiner Edelmann, dessen merk- würdige Abschrift von Servet’s Restitutio wir noch besitzen (viele halten sie für das Original von 1546) war in Padua wie zu hause. Der erste Arzt, der Servet’s Lehre öffentlich in der Kirche vertrat, Giorgo Biandrata, hatte sich längere Zeit in Padua aufgehalten. Die Städte, nach denen Servet 1553 vorzugsweise im Genfer Prozess gefragt wird, sind Venedig und Padua. Und der von Günther neben ihm gerühmte Pariser Mitschüler Servet’s und Mitsektor Andreas Vesal, der noch 1543 von der Undurehdringlichkeit des Septum keine Ahnung hat, 1555 aber sie aus Servet als eine unverstandene, unverdaute, neue Wahrheit herübernimmt, stand zwei- mal nacheinander als Professor der Anatomie in Padua als Realdo Colombo’s Lehrer und Vorgänger. Jetzt werden wir verstehen, warum fast alle in Servet’s Gefolge auftretenden Entdecker des Blutkreislaufs aus Padua kommen; warum sie in Padua eine besondere anatomische Schule bilden; warum in Padua Harvey die ersten Anregungen zu seiner „Entdeckung“ empfing. Warum sie aber den Villanovaner nicht kennen, kann den nicht 412 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. wundernehmen, der die religiös-sittlichen Verhältnisse jener rauhen Zeiten kennt. Michael Servet war wegen Leugnung der heiligen Dreieinigkeit dem Scheiterhaufen übergeben worden. Der ealvinischen Kirche gra- tulirte die Jutherische ') durch den Mund des sonst so milden Melanch- thon zu dieser frommen und ewig denkwürdigen Tat. Die katholische Kirche, aus deren erzbischöflichem Gefängniss der Villanovaner ent- flohen war, verbrannte ihn in effigie und setzte seine Restitutio chri- stianismi auf den Index. Noch hundert Jahre nach Harvey war es in der Christenheit aufs strengste verboten, des grimmen Ketzers Schriften zu lesen oder aueh nur zu besitzen. Und es war em heili- ger Ernst mit diesen Verboten der katholischen wie der protestanti- schen Inquisition. Zitirte man unter solehen Umständen Servet's Restitutio, so wurde man, wenn nicht verbannt und verbrannt, so doch verdächtigt, verfolgt und belästigt durch das ganze Leben, oder, dass ich Harvey’s euphemischen Ausdruck gebrauche, man erregte die Streitsucht. Zitirte man Servet nicht, so behielt man unter Katho- liken, Lutheranern und Calvinisten den Ruf eines guten Christen und erwarb sich obenein den Ruhm des ersten Entdeekers. Wer bewies sich da stark genug, dieser Doppelversuchung zu widerstehen? Kap. V. Matteo Realdo Colombo. Auch der große Vesal hatte seines spanischen Mitschülers Re- stitutio gelesen. Er sprach dem Servet die augenscheinliche Un- durchdringlichkeit der mittlern Herzwand nach. Aber er verstand sie nicht. Noch 1555 lässt er den größten Teil des Blutes durch die Poren durchschwitzen, die nie jemand gesehen hat, weil sie nicht vor- handen sind. Undan den Blutweg aus den Venen in die Arterien und aus den Arterien in die Venen glaubt er nicht, weil er ihn, ohne Mi- kroskop, nicht schen kann. Glaubt Caspar Hoffmann dem Harvey nicht, was beide nicht sehen konnten, warum sollte Vesal (nicht dem Galen, der war Autorität, sondern) seinem Mitschüler blindlings glauben ? Vesal’s Schüler Colombo sah jenen Blutweg ebenso wenig. Er aber glaubte daran. Und es gehörte eiserner Mut dazu, (mit Servet) gegen die ganze Welt sich zu diesem Glauben zu bekennen. Wir achten diesen Mut bei dem Paduaner. Matteo Realdo Colombo?), um das Jahr 1516 in der Nähe von Cremona geboren, kam etwa in seinem zwanzigsten Lebensjahre zu Jo. Antonio Plato, mit dem Zunamen Lonigo, dem berühmten Chi- rurgen von Venedig, und begeisterte sich in dessen Schule für die I!) S. mein Charakterbild M. Servet’s, Berlin bei Habel 1876, französisch von Dardier, englisch im Christian Life, ungarisch von Dominie Simen. 2) S meine Abhandlungen in Pflüger’s Archiv 1880 Bd. 22 S 262— 290. Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 413 Anatomie. Im Herbste 1542 wurde er beim Abgang seines Lehrers Vesal zu dem Vikariat der anatomischen Professur in Padua be- rufen, wo er als Magister artium dozirte und dabei fleißig Anatomie studirte. Später wurde er Ordinarius. Im Jahre 1545 steht er in der- selben Stellung zu Pisa, 1546 in Rom. Im Jahre 1559 erscheinen seine 15 Bücher Anatomie. Ueber das Jahr seines Todes differiren die Angaben zwischen 1559, 1564 und 1577. In seiner „Anatomie“ (de re anatomica Libri XV) schildert er auch den Blutkreislauf durch die Lungen. Er schildert ihn in einem Buche (L. VII), das unmöglich vor dem Jahre 1557 verfasst sein kann. Und er schildert ihn mit den Ausdrücken Servet’s, dessen Buch am 3. Januar 1553 in 1000 Exemplaren durch die Welt ge- laufen, in Italien verschlungen worden war. Ja er berührt an der Stelle, wo er vom sogenannten kleinen Kreis- lauf redet, seinen Vorgänger so deutlich, wie es bei einer feuergefähr- liehen Berührung einem Freund der Kardinäle und eines ketzerfresse- rischen Papstes überhaupt nur möglich war und es seine Entdecker- eitelkeit erlaubte). Ueber Servet geht Colombo nicht hinaus. Auch bei ihm ist der Sitz der Blutbereitung die Leber. Auch bei ihm handelt es sich um die Erzeugung der Lebensgeister. Auch bei ihm findet sich in der linken Herzkammer ein Gemisch von Luft und Blut. Doch hat er einen dreifachen Vorteil vor Servet voraus: 1) seine „Anatomie“ wurde weder verbrannt noch verboten, wie Servet’s Buch; 2) er trug seine „Entdeckung“ in einer „Anatomie“ vor, wo sie die Mediziner leicht finden konnten, Servet die seine in einem biblisch- theologischen Buch über „die Wiederherstellung des Christentums“; 3) er bestätigte sie durch Vivisektionen (viva animalia) 2), bei denen er wahrnahm, dass grade dann, wenn das Herz in die Höhe ge- zogen wird und anzuschwellen schien, es zusammengezogen wurde; wenn es hingegen sich ausdehnt, es nachlässt und sich nach unten beugt, und zu der Zeit sagt man, das Herz „ruhe.“ In einem aber steht Colombo dem Servet nach: bei Servet kann man zweifelhaft sein, ob er den großen Kreislauf gekannt hat. Bei Colombo ist es unzweifelhaft, dass er ihn nicht gekannt hat. Bei Servet geht das Blut aus den Arterien in die Venen und so in den ganzen Körper. Bei Colombo geht das Blut, wie bei Galen, vom Herzen durch die Venen in die Teile. Colombo hatte, nach Vesal, etwas Plumpes, Bäurisches, Ober- 1) S. meine Abhandlung: „Colombo’s Anteil“ in Virchow’s Archiv 1883 Bd. 91 S. 53—62. Colombo’s Missverständniss des „longa via“ des Servet ist höchst charakteristisch. 2) S meine Abhandlung „Colombo’s Vivisektionen* in Pflüger’s Archiv 1880 5. 349—360, eine Schrift, in der ein Ausdruck Anlass gegeben hat zu Friedrich Goltz’ Streitschrift „Wider die Humanaster“, Strassburg 1883. 474 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. flächliches (rustieus, seiolus): aber seine heilige Liebe zur Wahrheit und zur Natur und seine Freiheit von alten und neuen Autoritäten macht ihn uns ehrenwert, macht ihn dem großen Harvey ähnlich. Unerklärt ist bis heute, woher es kam, dass, während Servet’s Restitutio von Calvin, Beza, Melanchthon, Bullinger, Alesius, Wigand,Postell und vielen andern Zeitgenossen gelesen, ausgeschrie- ben und zitirt wurde, Realdo Colomb o’s Werke so späte und spärliche Verbreitung fanden. Zitirt doch sein Schüler -Valverde über die Blut- richtung beim Aderlass nicht Colombo’s Buch, sondern seine un- gedruckten Vorlesungen. Guido Guidi aber, der, ohne es zu nennen, auf Colombo’s Buch anspielt, pfliehtet ihm in Sachen des Blutkreis- laufs bei den Vivisektionen grade keineswegs bei und wird selbst erst 1611 herausgegeben!). Auch der berühmte Aranzi (+ 1589), Harvey’s Quelle, legt auf Colombo’s Ansicht (cui parum tribuo) wenig Gewicht. Ob die Zeitgenossen den Colombo, der den Mund gern recht voll nimmt, darum so wenig beachteten, weil man in ihm des großen Vesal kleinlichen Neider und des genialen Servet feigen Plagiator erkamte? Kap. VI. Andreas Cesalpin. Servet hat den großen Kreislauf nicht gelehrt, indem er von der Rückkehr des Blutes aus den Teilen dureh die Venen in eben die rechte Herzkammer, von der es ausgegangen war, nichts sagte. Co- lombo lehrt, dass das Blut aus dem Herzen durch die Venen in die Teile hinströmt, grade wie Galen. Cesalpin lehrt die Rückkehr, die Rückkehr in eben dieselbe Herzkammer, von der das Blut aus- gegangen ist. Jetzt ist der eigentliche (sog. große) Kreislauf da. Darum spielt Cesalpin in der Geschichte dieser Entdeckung eine so bedeutende Rolle (1569). Andreas Öesalpin’s Leben ist ein unentdecktes Land. Weiß man doch wenig mehr von ihm, als dass er, zu Arezzo um 1519 ge- boren, zu Pisa Student, dann Professor der Medizin und Vorsteher des botanischen Gartens, darauf Leibarzt Papst Clemens VIII. und Professor an der Sapienza in Rom gewesen ist, verketzert wurde we- gen theologisch-freisinniger Ansichten, förmlich revozirte und dann unbehelligt ‚blieb, bis er im 84. Lebensjahre am 23. Februar 1603 verstarb. Es gibt zu denken, dass der erste Entdecker des kleinen Blut- kreislaufs Leibarzt des Primas von Frankreich, der erste Demonstra- tor desselben durch Vivisektionen Leibarzt der Kardinäle, der Ent- decker des großen Kreislaufs Leibarzt eines Papstes, der Repräsentant 1) S. meine Abhandlung: „Die Italiener“ S. 74 fg. in Virchow’s Archiv 1883 Bd. 93, Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 475 der gesamten Herz- und Blutbewegung Leibarzt zweier Könige war. Und doch diese Könige, Päpste, Kardinäle und Erzbischöfe, wie viele Leibärzte haben sie gehabt, die für immer begraben sind. Dabei wa- ren alle diese vier fürstlichen Leibärzte autoritätenfreie, freisinnige Männer. Und wie Servet’s Schrift von den Syrupen bei seinen Leb- zeiten fünf Auflagen erlebte, seine berühmteste Schrift aber kaum ein Jabr nach dem Erscheinen verbrannt wurde, so haben auch einige Schriften Cesalpin’s mehrere Auflagen erlebt, sind aber nicht da- durch für die Nachwelt wichtig geworden. Wie wenig man noch kurz vor Cesalpin’s Tode erkannte, worauf es ankam, zeigt das Register zur 1593er Venediger Ausgabe seiner Hauptschrift, „der peripatetischen Fragen“. Da findet sich im ganzen Register nicht einmal das Wort Kreislauf (eireulatio), noch auch die Sache. Beim Herzen (cor) fehlt es, beim Blute (sanguis) fehlt es, bei den Arterien und Venen fehlt es. Nicht einmal dass die Herzscheidewand fest ist (septum), wird im Register erwähnt oder auch nur angedeutet. Auf dem Gebiet des Blutkreislaufs lag für den Herausgeber nicht Cesalpin’s Bedeutung (quae notatu digna visa sunt in toto volumine). Doch die Cesalpin-Register sind ähnlich schlecht, wie das Harvey- Register in der Prachtausgabe von 1677, nach dem fast alle Harvey- Forscher gearbeitet haben. Im Cesalpin-Index sind aus all seinen Werken nur 19 Stellen aus Aristoteles, 5 aus Hippokrates, keine aus Galen ausgehoben. So gewinnt es den Anschein, als hätte sich Cesalpin um den Galen gar nieht mehr gekümmert. Indess bloß in den beiden Büchern von den Kräften der Medikamente (de medica- mentorum faecultatibus) smd es im ersten 40 Stellen, im andern 23, in denen Cesalpin den Galen berücksichtigt, also auf 49 Folien 63 mal. In der „medizinischen Fragen“ erstem Buche wird Galen 91 mal, im zweiten 136 mal zitirt. Hippokrates wird im ersten gedachten Werke (8—+4) 12 mal, Aristoteles nur (16 + 3) 19 mal, im letztern Werke Hippokrates (29 + 78) 107 mal, Aristoteles aber (8 + 16) 24 mal erwähnt. Schon daraus erhellt, dass Cesalpin als Arzt kein solch blinder Aristoteliker ist, wie man ihn verschrieen hat, abgesehen davon, dass er sich nieht verheimlicht, Aristoteles stimme nicht überall mit der Bibel, in solehen Fällen aber des Philosophen Schlüsse für Trug- schlüsse hält!). Allerdings diene ja in der Philosophie Aristoteles nun schon seit zwei Jahrtausenden als Führer. Dass Aristoteles auch in der Medizin ihm grade an den ent- scheidenden Stellen als Führer gedient hat, werden wir gleich sehen. Grade so nämlich, wie Petrus Lombardus und seine Nachfolger, 1) Nam sicubi ab iis, quae in sacris diviniori modo revelata nobis sunt, discedat, minime cum illo sentio, fateorque in rationibus deceptionem esse, 476 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. die Scholastiker, aus Aristoteles Zweifel anregen, um sie aus Aristo- teles, Augustin und der Bibel zu beantworten, so regt auch Cesalpin auf botanischem, philosophischem und medizinischem Gebiete Zweifel an (dubitatio, quaestio) und beantwortet sie dann aus Aristoteles, Ga- len und Hippokrates, unter Zuhilfenahme seiner anatomischen Er- fahrungen. Kap. VII. Gesalpin’s Lehre vom Blutkreislauf. Cesalpin hatte oft strangulirte Verbrecher sezirt, frisch, wie sie vom Galgen kamen. Um solche Verbrecherleichname gab es oft Neid und Streit, ja nicht selten blutige Köpfe. Man sah in der Schleunigkeit der Sektion einen besondern Gewinn. Streifte er doch bei eben noch lebenden Verbrechern bisweilen an die Vivisektion. Desgleichen hatte er an Tieren Vivisektionen geübt, immer aber nur, nachdem er sie betäubt und eingeschläfert, um ihnen den Schmerz zu nehmen. Die bei Erstickten und Schlafenden gemachten Erfahrun- gen nun verwertet er, als medizinischer Scholastiker, um eine zweifel- hafte Stelle des Aristoteles zu erläutern. Mit Aristoteles und Galen nimmt Cesalpin an, dass die fortwährende Blutbewegung (continwus motus sanguinis) im Leibe von der fortwährend neuen Erzeugung der Lebensgeister (spiritus ani- malis) durch Einatmung und Ausatmung der Luft mittels der Lunge und der Arterien resultire. Nun aber wird bei den plötzlich Erstick- ten (repentina strangulatio) und auch im Schlafe die Luft gehindert, so schnell und reichlich durch die Lunge und Arterien zu dringen, wie sie eigentlich sollte. Dadurch entsteht bei Erschlaffung der Ar- terien eine Anschwellung der Venen (oppletis venis). Und zwar schwel- len die Venen unter dem (von dem durch Luftzufluss durch die Ga- lenischen Anastomosen zur Zeit nieht gehinderten) Blutstrom so sehr an, dass sie auf ihrem Wege nach den Gliedern des Leibes zersprengt werden würden, falls nicht, wie zu vermuten steht (forte) und bei den Aderlässen der Schlafenden sich zeigt, das Blut aus den Ve- nen zurückströmte nach dem Herzen zu und so eine Art Rück- lauf oder Kreislauf eintritt, wie Aristoteles sagt (de somno): Es ist nötig, dass die Ausdünstungen (der Lebenswärme) irgendwohin gedrängt werden, um darauf verändert und verwandelt zu werden, wie das Schwarze Meer (sieut Euripum‘. Denn der tierischen Wärme ist es natürlich nach oben zu steigen: sobald sie aber oben angelangt ist, muss sie wieder zurückkehren und dringt nach unten. „So lehrt Aristoteles. Um nun diese Stelle zu erläutern (pro eujus loci explicatione) muss man folgendes wissen. Die Gänge des Herzens sind von der Natur so angelegt, dass von der Hohlvene die Einführung geschieht in die rechte Herzkammer, von wo der Ausgang freisteht in die Lunge. Aus der Lunge aber gibt es einen andern Eingang in die linke Herzkammer, von wo der Henri Tollin, Harvey und seme Vorgänger. AT Ausweg freisteht in die Arteria aorta, indem einige Membranen an den Thüren der Gefäße angebracht sind, welche den Rückgang hin- dern. Und so findet eine fortwährende Bewegung aus der Hohlvene durch das Herz und die Lungen in die Arteria aorta statt. „Während nun aber beim Wachen (in vigilia) die Bewegung der Lebenswärme die Richtung nach außen nimmt, nämlich nach denSinneswerkzeugen hin(adsensoria), so kehrt sich im Schlafe die Richtung nach innen, nämlich nach dem Herzen zu (ad cor). Man muss annehmen (putaudum est), dass beim Wachen viel Geist und Blut (multum spiritus et sauguinis) zu den Arterien geführt wird, von wo der Weg zu den Nerven geht!); dass aber beim Schlafen (in somno) dieselbe Wärme durch die Venen zurückkehre zum Her- zen, nicht durch die Arterien: denn der natürliche Eingang in das Herz wird durch die Hohlvene gegeben, nicht durch die Arterie. Als Anzeichen können die Pulse dienen, welche bei den Aufwachenden stark, heftig, schnell und häufig werden durch eine gewisse Erschüt- terung (quadam vibratione), während des Schlafes aber klein, träge, spät und selten sind. Denn während des Schlafes geht wenig Lebens- wärme in die Arterien; sie stürzt aber gewaltiger hinein, sobald wir aufwachen. Die Venen aber verhalten sich entgegengesetzt; denn sie schwellen an beim Schlafe, und beim Wachen werden sie dünner, wie der sehen kann, welcher die in der Hand befindlichen beobachtet. Denn es geht im Schlaf die Lebenswärme aus den Arterien über in die Venen mittels der Gemeinsamkeit der Oeffnungen |per oscu- lorum communionem d. h. durch die (von Galen vorausgesetzten) so- genannten Anastomosen] und von dort zum Herzen. „Wie nun aber das Ueberströmen des Blutes nach oben (ad su- periora) und das Zurückströmen nach unten (ad inferiora) ähnlich dem Schwarzen Meere zu Tage liegt im Schlaf und Wachen, so liegt diese Art Bewegung (hujusmodi motus) auch zu Tage, sobald in irgend einem Teile des Körpers ein Verband angelegt oder auf andere Weise die Venen geschlossen werden. Denn sobald der Durch- fluss gestört wird, schwellen die Bächlein dort an, wo sie herzu- fließen pflegen. Vielleicht (forte) strömt zu der Zeit (eo tem- pore) der künstlichen Sperrung dureh den Verband das Blut nach sei- nem Ursprung zurück, damit es nicht, abgeschnitten, erlösche (ne intereisus extinguatur). Denn nicht jede beliebige Unterbindung der Venen (venarum interceptio) verursacht eine Erstickung, sondern wenn diejenigen unterbunden werden, welche zum Haupte führen we- gen der Vorzüglichkeit und Größe.“ „Und es scheint wol wert be- achtet zu werden (speceulatione dignum), warum (propter quid) bei Aderlässen die Venen anschwellen jenseits des Verbandes, nicht diesseits (non ceitra): was aus Erfahrung die kennen, die zur 1) Grade wie bei Servet, Colombo ete., nach Galen. 478 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. Ader lassen!); denn sie legen den Verband diesseits des Ortes an, wo die Ader springen soll, nicht jenseits, weil die Venen jenseits des Verbandes anschwellen, nicht diesseits. Das Gegenteil aber müsste der Fall sein, wenn die Bewegung des Blutes und Geistes (sanguinis et spiritus) von den Eingeweiden aus in den ganzen Körper vor sich ginge; die Anschwellung der Venen müsste dann diesseits des Ver- bandes eintreten.“ (Quaest. med. L. II. q. 17 f. 233 sq.). Es handelt sich also bei Cesalpin um Ausnahmen und künst- liche Blutsperrungen: die Ausnahme durch den Schlaf, die Ausnahme durch die Erstiekung und die Ausnahme durch den Verband beim Aderlass. Und dieselbe Betrachtung wie bei der medizinischen Frage, wo- her es komme, dass bei der Bräune (angina) die Erstiekung häufiger durch Ueberfüllung der Venen eintrete als durch Verschluss der Kehl- öffnung, knüpft Cesalpin in den peripatetischen Fragen wieder ganz scholastisch an des Aristoteles These an, dass durch die Atmung kein Geist von außen in das Herz gelassen werde. Dem Galen entgegen, dessen Schlüsse er für absurd erklärte, pflichtet er dem Aristoteles bei?), dahin, dass alle Arterien mit dem Herzen zusammen ein Ganzes bilden (totum quoddam). Er zitirt zu dem Zweck neun Stellen aus dem Aristoteles und folgert (igitur), dass vom Herzen aus eine fortwährende Bewegung (motus eontinuus) nach allen Gliedern hin sich erstrecken müsse, da ja auch eine fort- währende Erzeugung des Geistes stattfindet (quia continua est spiri- tus generatio). Es tritt aber bei dieser Bewegung das Pulsiren mehr zu Tage in den Arterien als in den Venen, weil der Geist von den Arterien getragen wird (fertur). Denn es gesteht Aristoteles ete. So gibt es denn (fit) auch eine Bewegung aus den Venenin das Herz (ex venis in cor), mdem die Wärme (des Herzens) die Nah- rung an sich zieht, und es gibt zugleich (simul: eine Bewegung aus dem Herzen in die Arterien, weil nur dahin der Weg offen steht we- sen der Lage der Membranen (propter membranarum positionem): ein und dieselbe Bewegung (idem motus) öffnet beide Türen, nämlich die der Vene ins Herz (venae scil.in cor) und die des Herzens in die Arterien. „Die Venen liefern die Nahrung; die Arterien nehmen den Geist der Flamme auf. Durch das Recht (jure) der großen Arterie wird die Thür gegen die Bewegung des Geistes nach dem Herzen geschlossen, 1) z. B der spanische Tierarzt Francesco de la Reyna, welcher in seinem 4552 erschienenen Werke die Frage ganz im Sinne Galen’s beantwortet und der sonderbaren Ansicht huldigt, dass in den oberflächlichen Venen das Blut vom Herzen zu den Teilen, in den tiefen Venen aber das Blut von den Teilen zum Herzen fließe. ef. Ercolani: Carlo Ruini, Bologna 1373 p. 56 sq. 118. 2) Cum igitur haec omnia absurda sint, dicendum est, Aristotelis senten- tiam veriorem esse, Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 479 damit nicht durch des Geistes Fülle die Wärme ausgelöscht werde: die Thür aber der Vene stemmt sich der Bewegung aus dem Herzen entgegen, damit nicht durch der Nahrung Fülle die Flamme des Herzens erlösche“ (Quaest. Peripat. L. V. quaest. 4 f. 121b sq.). Hier taucht aber ein neuer Zweifel auf. Wenn die Atmung uns gegeben ist, um die Wärme im Herzen zu erhalten und es vor der- jenigen Fäulniss zu bewahren, welche bei der Erstiekung einzutreten pflegt, dann erscheint es notwendig, dass die äußere Luft in das Herz eindringe und wieder heraus. Obenein (amplius) scheint Aristo- teles den Eintritt des Geistes in das Herz zuzugeben. Indess das ist doch nur Schein etc. (fol. 124a). „Mit gutem Vorbedacht schloss daher die Natur die ätherische Fackel ein in des Herzens Kammern durch Umgebung mit einem diehten Körper dergestalt, dass sie ihm zum Ausfluss Kanäle berei- tete, die sie aufs beste mit doppelter Wand umgab, damit jene Fackel nieht früher erlösche, als bis sie die ihr von der Natur aufgetragenen Werke erfüllt hätte. So wird viel Feuer bewahrt zur Spannung und Kräftigung des Körpers und doch wegen der Kleinheit der Oeffnungen nicht erstickt, indem wegen der Abkühlung dieses Blutes um seinen Ursprung hin es nicht stärker erglühen darf, als not tut. Das er- sieht man deutlich bei den Erstiekten (in suffocatis): denn ihre Venen werden sehr aufgetrieben, das Gesicht schwillt an ete. „Auch zeigt die Erfahrung (experimento) deutlich, dass das Herz keiner Abkühlung bedarf. Denn sobald du, nach Spaltung des Perikardiums, das Herz, ohne die übrigen Teile zu verletzen, bloß legst in kalter Luft oder unter Besprengung mit kaltem Wasser, ver- geht es sehr schnell; am warmen Orte aber erhält es sich länger. Denn das Herz will gewissermaßen feurig sein (ignitus), um fort- während die Kochung des Blutes und Erzeugung des Geistes (spiritus generationem continuam) zu bewirken (fol. 125a). „Deswegen (ideirco) schöpft die Lunge durch die den Arterien ähnliche Vene aus der rechten Herzkammer feuriges Blut, teilt es durch die Anastomose (per anastomosim) der Arteria venalis mit, welche nach der linken Herzkammer strebt, und temperirt es, indem unterdessen kalte Luft durch die Luftröhrenkanäle, welche sich neben der Arteria venalis hinziehen, ohne mit ihr, wie Galen annahm, durch Oeffnungen in Verbindung zu stehen, hindurchgelassen wird. Diesem Kreislauf des Blutes — hier das Wort sanguinis ceirculatio — aus der rechten Herzkammer durch die Lungen in die linke Herz- kammer entspricht durchaus die anatomische Wahrnehmung. Denn zwei Gefäße gibt es, welche in die rechte Herzkammer, zwei hin- wiederum, welche in die linke auslaufen. Von den beiden aber liegt dem einen nur die Einführung ob, dem andern nur die Ausführung, indem die Klappen mit dieser Bestimmung eingerichtet sind (mem- branis eo ingenio constitutis). Das eine einführende Gefäß ist die 4S0 Sorauer, Studien über Verdunstung. große Vene zur rechten, Hohlvene genannt; das kleine aber zur linken führt aus der Lunge ein; auch hat es nur einen Ueberzug, wie die andern Venen. Das ausführende Gefäß aber auf der linken ist die große Arterie, welche Aorta heißt, die kleine aber zur rech- ten geht lungenwärts“ (fol. 125). Auch in der bekannten Stelle von den Pflanzen lehrt Cesalpin: in den Tieren sähen wir, dass die Nahrung (alimentum) durch die Venen zum Herzen geführt wird (per venas ad cor) wie zur Feueresse und, nachdem die Nahrung dort die letzte Vollkommenheit erreicht hat, durch die Arterien. (Fortsetzung folgt.) Paul Sorauer, Nachtrag zu den Studien über Verdunstung. Forsch. a. d. Geb. d Agrikulturphysik herausg. v. Wollny VI 1883. 8. 79— 96. Verf. war in frühern Abhandlungen zu dem Resultat gelangt, dass das verdunstende Wasser nur zum Teil solches sei, welches unzersetzt den Pflan- zenleib durchwandert und allein als mechanisches Transportmittel gedient hat, dass ein anderer Teil desselben durch Oxydationsvorgänge im Pflanzenkörper neu entstanden sei und zu der Energie dieser Oxydationsvorgänge in bestimmter Be- ziehung stehe. Diese Anschauung hatte sich ihm aus der Beobachtung ergeben, dass die Pflanze die Fähigkeit hat, ihre Transpiration unter Umständen zu vermindern, unter denen eine mechanische Verdunstung gesteigert wird und umgekehrt, und dass die Verdunstung im allgemeinen eine um so größere ist, je mehr Trockensubstanz die Pflanze bildet. Weitere Beweise für die Richtig- keit dieser Anschauung lieferten ihm einige neuere Versuche. Er fand nämlich, dass bei teilweiser Entlaubung einer Pflanze die übrig bleibende Blattfläche eine erhöhte relative Verdunstungstätigkeit entwickelte, und dass unter opti- malen Produktionsverhältnissen, d. h. bei weder zu diluirter noch zu konzen- trirter Nährstofflösung, die absolute Verdunstungsmenge zwar groß ist, aber die relative, auf das Gramm neugebildeter Trockensubstanz bezogene Wasser- abgabe sehr klein ist. Beides erklärt sich ihm dadurch, dass eine verhältniss- mäßig große Belaubung pro Flächeneinheit weniger zu arbeiten hat, um ein bestimmtes Quantum Trockensubstanz herzustellen, als eine kleinere Blatt- fläche. Er berechnet durch Division der Blattfläche durch die Gesamttrocken- substanz die Menge von gem Blatt, die nötig gedacht werden kann zur Her- stellung von 1 g Trockensubstanz und vergleicht sie mit der Quantität Wasser, welche der gem Blattfläche verdunstet und findet. dass die Verdunstungsgröße parallel geht der Assimilationsenergie der Pflanze, und dass beide umso ge- ringer sind pro gem Blattfläche, je größer der gesamte Blattapparat ist, wel- cher der Pflanze zur Herstellung von 1g Trockensubstanz zur Verfügung steht. Ed. Seler (Krossen a./O.). Einsendungen für das „Biologische Gentralblatt“ bittet man an die „Redaktion, irlangen, physiologisches institut‘ zu richten. N erlag von Eduard Besold i in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in ‚ Erlangen, Biologisches Üentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. II. Band. 15. Oktober 1883. Nr. 16. Inhalt: Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger (Fortsetzung). — Müller-Hett- lingen, Gaivanische Erscheinungen an keimenden Samen. — Timm, Be- obachtungen an Phreoryctes Menkeanus Hoffmr. und Nais. — Haswell, Phosphoreszenz und Atmung bei Ringelwürmern. — Wilheim Müller, Mas- senverhältnisse des menschlichen Herzens. — Hooper, Versuche über die Dehnung der Stimmbänder. — Scudder, Eine riesige Stabheuschrecke aus der Kohle. Harvey und seine Vorgänger. (Fortsetzung.) Kap. VII. Ergebniss aus Gesalpin. 1) Cesalpin lehrt ohne jede Frage den großen Blutkreislauf, d. h. den Ausgang des Blutes aus der rechten Herzkammer in die Lunge, aus der Lunge in die linke Herzkammer, aus dieser in die Arterien, aus den Arterien in die Teile, aus den Teilen mittels der Anastomosen der Arterien in die Venen, aus den Venen durch Magen und Leber in die rechte Herzkammer wieder zurück. 2) Indess nimmt Cesalpin diesen Blutkreislauf nicht als die Regel an. Insbesondere findet er keine Rückströmung aus allen Tei- len nach dem Herzen bei dem wachenden und gesunden Tiere, son- dern nur bei den Schlafenden und der Erstickung Ausgesetzten und beim Aderlass. 3) Selbstredend hat auch bei dem Schlafenden oder der Er- stickung Ausgesetzten und beim Aderlass Cesalpin den Uebergang des rückströmenden Blutes aus den Arterien in die Venen nicht gesehen, weil auch damals noch das Mikroskop nicht entdeckt war. 4) Seine Auffassung des physiologischen Hergangs ist daher we- der aus der Erfahrung noch aus der Induktion geboren, sondern aus der Hermeneutik und der Exegese; jene Stellen über die Rückkehr des Blutes aus den Teilen zum Herzen sind exegetische Hypothesen: so wenig sein Eigentum noch in das Ganze verarbeitet, dass man fast al 482 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. vermuten könnte, sie rührten nicht von ihm selbst her, er habe sie anderswo entlehnt. 5) Ihren besondern Anlass verdankt Cesalpin’s Blutkreislauf- Hypothese der Stelle des Aristoteles „Ueber den Schlaf“ Kap. 3, welche man bisher nicht verstanden hatte, Cesalpin aber so ver- steht, dass des Menschen Herz der Flut und Ebbe des Schwarzen Meeres gleicht: beim Wachen fluten die Arterien und ebben die Venen; beim Schlafen ebben die Arterien und fluten die Venen. Und überfluten würden die Venen und zerspringen, wenn nicht der Feuer- strom, wie alle Wärme, nach oben tendirte und von den Extremitäten zum großen Teil (multum) nach dem Herzen, von dem er ausgegangen, zurückströmte. 6) Aristoteles ist für Cesalpin der Mann, welcher in allen nicht die Kirchenlehre betreffenden Dingen der Wahrheit am nächsten gekommen ist. Darum kann es nicht Aufgabe des (scholastischen) Mediziners sein, über den göttlichen Aristoteles hinauszugehen, son- dern nur den ÖObermeister der Naturkunde durch scharfsinnige Be- obachtung der Natur zu erläutern. Aristoteles lehrt, dass das Herz der Ursprung wie der Arterien, so der Venen und der Nerven sei; folglich ist dem so (Quaest. peripat. L.V.Q. 3). Aristoteles lehrt, bei der Atmung sei der Ursprung der Bewegung des Herzens Wärme; folglich ist dem so (Qu.5). Aristoteles lehrt, die Seele ist nicht in einzelnen Teilen des Körpers, noch ganz im ganzen, sondern ganz im Herzen; folglich ist dem so (Qu. 7). 7) Nun aber gehen von der Leber nach drei Richtungen Venen aus, von dem Herzen nur nach zwei: es fehlt im Herzen eine große Vene, welche das wolzubereitete Blut verteilen könnte in alle Teile des Leibes!). Die im Herzen mündende Hohlvene taugt dazu nicht, da ja die drei in ihr vorhandenen Klappen zwar den Eingang des Blutes aus der Leber in das Herz gestatten, nicht aber den Ausgang (egressus nequaquam). Folglich hat Galen auch recht, indem er in der Leber das Blut bereiten lässt (vim altricem primo possidet hepar). Dem scholastischen Mediziner von Arezzo ist es, wie wir gesehen haben, nicht so sehr um neue Entdeckungen als vielmehr darum zu tun, den großen Galen mit dem göttlichen Aristoteles zu vereini- gen. Das geschieht folgendermaßen: das Blutbereitungsorgan für die untern Teile ist die Leber allein; durch die Venen strömt das Blut bei allen Wachenden und Gesunden, grade wie Galen sagt, den Gliedern zu. Für die obern Teile aber, insbesondere Lunge und Hirn, ist neben der Leber das Herz, wie Aristoteles will, das Blutberei- tungsorgan. Durch die Hohlvene geht daher das nährende Blut aus den Gliedern dem Herzen zu. Für das dicke Blut genügen die feinen 1) altera esset vena quae coctum sanguinem reciperet. Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 485 Venen, es zusammenzuhalten; für das im Herzen verfeinerte Blut indess müssen diekhäutigere Gefäße, die Arterien da sein, damit das im Herzen geistartig gewordene Blut fest zusammengehalten werden könne. Damit nun aber in den Venen das Blut nicht zu dick und in den Arterien nicht zu dünn sei, wird mittels der kleinen „Parallelöffnungen“ (anastomoses) überall da, wo Venen und Ar- terien nebeneinander herlaufen, etwas Nahrung (alimentum) in die Arterien und etwas Feuergeist (spiritus flammae) in die Venen hin- übergeführt, wie denn auch die Herzklappen nicht ganz fest- sehließen und durch die mittlere Herzwand auf dem graden Wege aus der rechten Herzkammer in die linke hindurch Blut sehwitzt. Bei den Erstickten, den Schlafenden und dem Aderlass kehrt alles Blut aus den Gliedern durch die Venen zum Herzen zurück, wie durch sein Bild vom Euripus schon Aristoteles angedeutet hat. Kap. IX. Cesalpin’s Verhältniss zu seinen unmittelbaren Vorgängern. Es ist eine weit verbreitete Legende, dass Cesalpin Colombo’s Schüler gewesen sei. Noch allgemeiner wird geglaubt, er habe Ser- vet's Wiederherstellung nicht gelesen. Beides sind willkürliche Annahmen. Wir sahen oben, wie absurd der Schluss ist, weil es heute nur noch drei echte Exemplare der am 3. Januar 1553 in 1000 Exemplaren verbreiteten Schrift Servet’s gibt, so habe es auch zu Cesalpin’s Zeiten nur 3 Exemplare gegeben; weil 2 Exemplare der „Wiederherstellung“ nachweisbar verbrannt worden sind, so seien auch alle andern 998 Exemplare verbrannt worden. Ebenso absurd ist der andere Schluss. Weil Colombo in Pisa Dozent gewesen und auch Cesalpin einmal in Pisa gelebt hat, darum müsse der spätere Cesalpin des frühern Colombo Schüler gewesen sein. In Pisa war Colombo von Herbst 1545!) bis Mittsommer 1546. Mir ist keine Stelle bekannt, in der urkundlich bewiesen würde, dass grade in die- ser selben Zeit Cesalpin sich m Pisa aufgehalten hätte. Auch zi- tirt Caesalpin den Colombo nicht, obwol kein Grund vorhanden war, grade den Schützling Papst Paul IV. zu übergehen, dessen bäu- risches Wesen nie den geringsten Argwohn von Ketzerei erregt hat. Dagegen entdeckten wir Gründe genug, weswegen der Leibarzt des Papstes Clemens VIII. den Servet, selbst wenn er ihn auswendig ge- wusst hätte, nicht zitiren konnte. Ueberdies hatte Servet, der Feind der orthodoxen Christenheit, das papistische Rom die Bestie der Bestien genannt und den Papst in 60 Zeichen öffentlich als den Anti- ehristen geschildert. Und um so größer war hier die Gefahr, weil Servet und Cesalpin viel Verwandtes hatten; Universal-Genies und scharfe Beobachter auf allen Gebieten, die sie betraten, wurden beide 1) 5. meine Abhandlung über Matteo Realdo Colombo 8. 282 in Pflüger’s Archiv 1880 Bd. 22. 5a ASA Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. ganz gelegentlich auch Entdecker; Servet in der Geographie, Astro- nomie, Theologie, Meteorologie, Physiologie; Cesalpin in der Bo- tanik und Physiologie. Schüler des Aristoteles und Galen und ihren Lehrern voraneilend auf den Pfaden, die sie sorgfältig geprüft, huldigten sie inder Philosophie den Grundsätzen, die man später als Cartesianismus und Spinozismus bezeichnete. Wegen der freiern Tendenz auf Umsturz aller Religionen, ja selbst auf Atheismus verklagt, zeigten sie beide überall im Leben eine aufrichtige biblische Frömmigkeit; zugetan jener scholastisch-philologischen Richtung, welche die Zweifel benutzt, um die Wahrheit zu ergründen, liebten es beide, mit dem Wahrscheinlichen sich zu begnügen, weil das Unumstößliche doch nicht zu finden sei, und wo sie den Autoritäten folgen mussten, stiegen sie so hoch als möglich zu den Quellen hinauf und lehnten sich gern unmittelbar an den griechischen Urtext an. Scheint es uns doch, als ob wir Servet läsen. wenn Cesalpin schreibt: „Es ist geschehen, dass um einiger Barbaren Kommentarien (zu Aristoteles) willen sich ein solcher Nebel (über Aristoteles) niedergelassen hat, dass die Philosophie in unentwirrbare Irrtümer geraten ist (in errores inextricabiles). Ja so geartet sind die Sitten unserer heutigen Philo- sophen, dass sie diejenigen, die sie am wenigsten verstehen, am mei- sten bewundern!), und dass sie, um den Sinn der Griechen verstehen zu lernen, nicht bei den Griechen selbst anfragen, sondern bei den barbarischen Auslegern“?). Und wieder ist es, als ob wir Servet hörten, wenn Cesalpin mitten in seinen wissenschaftlichen Werken zu beten anfängt und sofort weiter argumentirt, noch vor dem Amen: „ich aber bete zu Gott dem Allgütigen und Allmächtigen, dass Er mich vor derartigen Irrtümern behüten wolle (pracaveat) und mit je- nem Licht, mit dem er die menschlichen Gemüter zu erleuchten pflegt, mich zur lautern Wahrheit leiten möge. Eine schwierige Aufgabe freilich habe ich ja angetreten, aber doch eine so gern übernommene?°). Denn obwol die eingewurzelten Meinungen, die schon so lange in die Schulen der Peripatetiker eingedrungen sind, aus den Gemütern derer, denen sie so viel sauern Schweiß gekostet, nicht wieder ausge- rottet werden können (extirpari): so habe ich doch um derer willen, welche nach Wahrheit streben und von dem Gifte der Gottlosen noch nicht angesteckt sind, der vollern Arbeit mich nicht entziehen wollen. Verdammen werden vielleicht viele diese Unternehmung, indem es verwegen erscheinen könnte, zu wähnen, dass ich das sehe, was jene so scharfsinnigen und so berühmten Schriftsteller nicht gesehen haben (non viderunt). Darauf antworte ich: überflüssig ist es, das nieder- 1) Ut quos minus intelligunt, magis admirentur. 2) Präfat. Quaest. peripat. 3) Man vergleiche Servet’s Einleitung in der Restitutio. S. „Lehrsystem Michael Servet’s, Gütersloh Bd, IL“ Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 485 zuschreiben, was schon niedergeschrieben ist“!). — Und in bezug auf seinen Stil, ist es nicht als vernähmen wir Servet’s Expektorationen, wenn Cesalpin gesteht: „Ich bin dieser Aufgabe nachgegangen in einem Stile, der gleich weit entfernt ist von stolzem Gepränge und von gemeinen und alltäglichen Redewendungen. Denn die Nacktheit, in der die Wahrheit ihre ganze Schönheit zeigt, scheint mir keiner W ort- verhüllungen noch anderer Redeschminke zu bedürfen“?). Und wie der aragonische „Gotteslästerer“ stellt auch der Mann von Arezzo die heilige Schrift als wissenschaftliches Wahrheitsprinzip obenan: „Denn wo etwa Aristoteles“ sagt Cesalpin „von dem, was auf eine noch göttlichere Weise die heiligen Schriften uns offenbart haben, abweichen sollte, da stimme ich ihm keineswegs (minime) bei und gestehe zu, dass Trug in den Schlüssen sei. Doch halte ich es für jetzt (in praesentia) nicht für meine Aufgabe das darzutun, sondern überlasse es denen, welche sich zu einer höhern Theologie bekennen“ ?). Der ganze Cesalpin, nicht die Stellen über den Blutkreislauf, macht den Eindruck, dass er die Restitutio Servet’s gelesen, ver- standen und sich angeeignet hat. Cesalpin selbst, nicht seine Ent- deekung, erscheint in der Gefolgschaft des spanischen Denkers, der dem System von Arezzo das Wesen und auch die Form aufgedrückt hat. Indess jede Art ausdrücklicher Hinweisung auf den verbrannten Antitrinitarier fehlt in den Blutkreislaufsstellen. Denn das Durch- schwitzen des Blutes durch die mittlere Herzwand könnte er aus Vesal, das Endigen der Arterien in Nerven aus dem Aristoteles, den Weg von etwas Blut durch die Lungen aus Galen und Colombo und anderes dem Servet ähnliche aus andern entlehnt haben. Auch stellt er immerhin den Aristoteles so hoch über alles, dass, was die- ser nicht kannte, ihm von nebensächlicher Bedeutung erscheint; ein Umstand, aus dem ich mir auch*) erkläre, warum bei Cesalpin’s Kreislauf die Entdeckung Servet's von der Undurchdringlich- keit der mittlern Herzwand so gut wie gar keine Rolle spielt. Insofern handelt ja auch der Herausgeber der Werke von 1593 ganz im Sinne des scholastizirenden Cesalpin, wenn er im Sachregister alles mögliche heraushebt, aber die gewagte exegetische Hypothese von einem Kreislauf des Blutes mit Stillschweigen übergeht. 1) Diese Praefatio Quaestionum peripatet. erinnert lebhaft an Servet’s Praefatio seiner Restitutio. 2) Aus diesem Stile hat Servet fast ein Dogma gemacht. 3) Iis qui altiorem Theologiam profitentur, relinquo. 4) Möglich ist es auch, dass, als Cesalpin das verbotene Buch durchlas, er eilen musste, um nicht entdeckt zu werden. Exzerpte aber würden ihn verraten haben. Hm [0,0] (oF) Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. Kap. X. Des William Harvey Zwischenmänner. Es ist eine willkürliche, auf nichts gegründete, wenn auch land- läufige Annahme, als habe Harvey die Werke der ersten Entdecker, also des Michael Servet und des Andreas Cesalpin nicht zu Gesicht bekommen können oder, wo er sie gesehen, verschmäht. Denn nichts in aller Welt hinderte ihn, jene Werke fleißig zu lesen, und, was ihn daraus anzog, auswendig zu lernen. Er zitirte Vesal, zitirtte Colombo, zitirte Aranzi, zitirte Aquapendente. Nur den vermaledeiten spanischen Ketzer und seinen Waffengefährten zitirt er nicht. Ist er vor der direkten Berührung dieser Sünder zurückgebebt? Unmög- lieh wäre es nicht. Indess selbst unter denen, die eine direkte Be- rührung Harvey’s mit Servet und Caesalpin für unmöglich halten, nehmen manche doch Zwischenmänner an, durch welche der be- rühmte Brite indirekt aus den Werken jener ersten Entdecker sei es geschöpft haben müsse, sei es doch geschöpft haben könne. Als solehe Zwischenmänner figuriren Fabricius de Aquapen- dente, Sarpi, Aranzi, Ruini, Rudio. Sehen wir sie unsnäher an. Dass Hieronymus Fabricius de Aquapendente (1537—1619), der berühmte Paduaner Anatom, als Harvey 1599—1602 in Padua studirte, sein Lehrer gewesen ist, hat Harvey selbst nie geleugnet. Noch kurz vor seinem eignen Tode nennt er ihn als den, welchen er sich zum Anleiter (praemonstrato- rem) erkoren habe. Er zitirt ihn aber schon in seiner Meisterschrift von der Herz- und Blutbewegung 5mal, in seinem Werk über die Erzeugung der Tiere dagegen 124 mal. Nun entdeckte oder beschrieb doch nachweisbar zuerst Aqua- pendente (1574) einen Vorgang, der da deutlich bewies, dass durch die Natur selbst die Blutbewegung aus den Gliedern zum Herzen gefördert, aus dem Herzen zu den Gliedern gehindert wird. Das sind die Venenklappen. Ihre Höhlung nach dem Herzen und Wölbung nach den Gliedern bildet er vortrefflich ab; doch kommt es ihm nicht in den Sinn, wozu das wol dient? Betreffs der Arteria venalis und der Vena arterialis huldigt er den galenischen Vorurteilen und sieht daher die Bestimmung der Klappen darin, dass sie den zu heftigen Blutandrang hemmen und der gefährlichen Erweiterung der Venen vorbeugen sollen. Soweit also Aquapendente selbst in betracht kam, nützten Venenklappen für die Entdeckung des großen Kreislaufs nichts. Ob er den kleinen Kreislauf gekannt hat, können wir mit Bestimmtheit nicht sagen, weil er über das Herz nichts hinterlassen hat. Dass er, der über alle Teile des Körpers gelesen, nie in seinem langen Leben über das Herz etwas vorgetragen habe, möchten wir seinem weltberühmten britischen Schüler nicht glauben. Für den Blutkreislauf als Zwischenmann zwischen Harvey und Servet-Colombo-Cesalpin können wir also Aquapendente nicht gelten lassen. Henri T'oollin, Harvey und seine Vorgänger. 487 Wir kommen nun zu seinem venetianischen Freund und Konkur- venten, Harvey’s Mitschüler, Fra Paolo Sarpi Servita, auch Paulus Venetus genannt. Am 14. August 1552 zu Venedig geboren, Provinzial- und bald Generalprokurator seines Ordens, venetianischer Gesandter beim Papst, dann ebenfalls Professor zu Padua, klassischer Geschichtsschreiber des Konzils von Trident, einer der bedeutendsten Männer, die es je gegeben hat (+ 1623), redet er in einem berühmt gewordenen kleinen Stück eines Briefes von dem Gebrauch der Klappen im tierischen Körper und soll eine eigne, von Bartholin zu Venedig in Augenschein genommene Schrift über den Blutkreislauf herausgegeben haben. Ob der erste Entdecker der Venenklappen Jakob Sylvius, Etienne, Aquapendente, oder sein Schüler Sarpi gewesen ist, lässt sich heut nicht mehr festsetzen. Sarpi’s Anteil hängt von Be- stimmung der Abfassungszeit jenes Briefes ab. Sarpi’s Art war es ja, was er von andern gehört, zu notiren, selbständig durchzu- denken und an der Hand seiner Experimente die Wahrheit zu er- proben. So wird es wahrscheinlich, dass er von seinem ältern Freund das tatsächliche Vorhandensein der Venenklappen gehört, ihren wirk- lichen Zweck aber schon vor Aquapendente erkannt hat. Doch schreibt Gassendi 1641 dem Harvey die Aeußerung zu, Sarpi der Servit sei der erste Entdecker (primus inventor) der Venenklappen, von denen er, Harvey, vorher etwas (aliquid) durch Fabrieio ge- hört habe. Ueber den Blutlauf huldigt er anfangs den galenistischen Auffassungen. „Das Tier, sagt er in seinen Pensieri naturali, ist nichts anderes als ein Komplex von drei Pflanzen mit drei Wurzeln; die Wurzeln sind die Leber, das Herz und das Hirn, die Pflanzen sind die Venen, Arterien und Nerven; der Magen mit den Speisen, die er enthält, ist der Erdboden.“ Betreffs seiner nieht wieder aufgefundenen spätern Abhandlung über den Blutkreislauf stehen sich zwei Traditionen schroff gegen- über. Nach der einen hat Harvey dem venetianischen Gesandten in London für seinen venetianischen Freund sein eignes Manuskript von der Herz- und Blutbewegung übergeben. Aus dieser Schrift habe Sarpi sich Auszüge gemacht. Und so sei es gekommen, dass, als 1623 Sarpi starb, fünf Jahre vor der Veröffentlichung von Har- vey’s erster Schrift Fra Fulgencio unter den Manuskripten seines Freundes Fra Paolo auch eine über den großen Blutkreislauf gefunden habe. Nach der andern Tradition hat Sarpi aus sich selbst den großen Blutkreislauf gefunden, Harvey aber das Manuskript Sarp!'s auf Schleichwegen erhalten und nun bis fünf Jahre nach Sarpis Tode gewartet, um dann jene Sarpi’sche Entdeckung zu Frankfurt a.M. als seine eigne drucken zu lassen. Harvey’s Charakter (s. unten) widerspricht dem nicht schlechthin. A488 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. Ein definitives Urteil muss hier ausstehen, bis sich Sarpi’s ge- dachte Schrift etwa widerfindet. Aber ist es nicht möglich, dass Sarpi, Polyhistor und Mann der Kollektaneen, jene Blutkreislaufs- ideen, die er doch so geheim hält, aus andern gewonnen habe? Ge- fahrlos konnte er sie entnehmen aus Colombo oder aus Cesalpin. Warum aber hält er sie so geheim? Warum knüpft er, statt an Colombo, an Servet’sMitschüler Vesal an? Warum ausdrücklich an Servet’s Hauptthese: die Seele des Menschen wohnt im Blut? Auffallend ist, wie der Inhalt von Servet’s Restitutio auch bei Sarpi faktisch eine solche Zustimmung gefunden hat, dass man auf eine Kongenialität schließen muss. Und in der Tat trägt nicht nur Sarpis privates Denken, z. B. seine Lehre von der Seele, ein ausgesprochen servetanisches Gepräge, sondern auch öffentlich wurde er als Leugner der Dreieinigkeit, Spötter über die persönliche Realität des heiligen Geistes, Antichrist und Atheist ausgeschrieen. Grade wie einst der Villanovaner der gerichtlichen Astrologie, Ketzerei und Kirchenspaltung angeklagt, um seiner Freisinnigkeit willen mehr- fach verfolgt, verbannt und mit dem Tode bedroht, durch Scharfsinn, Menschenkenntniss und Gelehrsamkeit überall einflussreich, von der geistbeschränkten Inquisition Italiens gefürchtet wie ein anderer Luther, gemieden wie der Antichrist, berührt er sich geistig weit mehr mit dem Manne, bei dessen Verbrennung zu Genf er ein Jahr alt war, als mit seinem englischen Mitschüler, fünf Jahre vor dessen Erstlings- werke er starb. Ob er für Harvey ein Vermittler mit Servet-Colombo-Cesal- pin gewesen, lässt sich demnach nicht mehr oder noch nicht wieder bestimmen. Anders steht es mit Giulio Cesare Aranzio'), der zwar schon 1589, als Harvey elf Jahre alt war, gestorben ist, und dessen Ob- servationes anatomicae 1587, als Harvey neun Jahr alt war, er- schienen, der aber doch von Harvey drei mal namentlich zi- tirt wird (de generatione animalium). Aranzi geht nicht über Colombo hinaus, ja er zweifelt sogar, ob der Blutweg durch die Lungen absolut feststeht? Aber dieser Weg scheint ihm höchst wahr- scheinlich, und er weist sehr hübsch auf dieselben Gründe hin, die Harvey später aufnahm; die Weite der arteriösen Vene, ihre gün- stige Lage, ihre Klappen, die den Eintritt gestatten, den Austritt ver- bieten; die zur bloßen Ernährung der Lunge übergroße Menge des Blutes, den Bedarf der Natur, auf der andern Seite des Herzens auch Blut zu haben, die Tatsache, dass in der Lunge die Venenarterie sich gradeso verzweigt, wie die Arterienvene; die Weite der Gefäße des Herzens; die Tatsache, dass, so oft er die venösen Arterien ge- 1) Vgl. S. 75 fg. in Virchow’s Archiv 1883 meinen Aufsatz „die Italiener und die Entdeckung des Blutkreislaufs“. Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 489 öffnet hätte, sie immer dasselbe Blut geführt hätten, wie sich im Herzen befand; die Zweckmäßigkeit der Klappen der venösen Arterie, ihre ganze Struktur, die nicht wie die Luftröhrenäste oder wie die große Schlagader, sondern wie die Hohlvene sei. Wir können nicht zweifeln, dass Harvey über die Wege des Blutes aus Aranzi ge- lernt habe. Aranzi aber weist auf Colombo hin. Wir kommen nun zu Carlo Ruini, dem man als dem Entdecker des Blutkreislaufes ein Denkmal in Bologna gesetzt hat, wie dem Michael Servet in Madrid, dem Cesalpin zu Pisa, dem William Harvey in London und zu Hempstead. Carlo Ruini!) (+ 3. Febr. 1598) Tierarzt und Senator zu Bologna, ein Enkel des berühmten Rechtslehrers gleichen Namens zu Padua, gab 1598 ein Buch heraus über „die Anatomie und Krankheiten des Pferdes“, welches im Jahre 1603, als Harvey Padua verließ, zu Frankfurt a. M., wo Harvey sein Meisterwerk erscheinen ließ, in Peter Offenbach’s deutscher Uebersetzung zum zweiten mal ver- öffentlicht wurde?). Ist nun in diesem Buche von dem großen Kreis- lauf als einem Vorgang beim wachenden und gesunden Tiere die Rede, so würde Ruini der eigentliche Entdecker und alle Wahrscheinlich- keit vorhanden sein, dass Harvey seine Weisheit aus Ruini ge- schöpft habe. Nun aber sagt uns jene Stelle nichts von der Rückkehr des Blu- tes durch die Venen zum Herzen; folglich kennt Ruini den großen Blutkreislauf nicht. Doch selbst den kleinen kennt er weniger genau als seine Vorgänger Cesalpin, Colombo, Servet. Die so wich- tige Undurcehdringlichkeit der mittlern Herzscheidewand spielt bei ihm keine Rolle. Die rechte Herzkammer hat nicht die alleinige Aufgabe, wie er meint, die Lungen zu ernähren. Die Be- gleitung des Blutes durch Luft in der Arteria venalis ist ein Rück- schritt gegen die Verarbeitung des Blutes mit der eingeatmeten „Luft“ zu einem neuen Gemisch von feinerm Blut bei Servet-Colombo. Das Blut der Arteria venalis soll sich in die Lunge verteilen, während es in Wahrheit aus der Lunge kommt. Anderer Irrtümer nicht zu gedenken. Ruini, der Tierarzt, scheint die lateinischen Werke von Servet, Colombo, Cesalpin nicht zu kennen. Und seine eignen Erfahrungen brachten ihn nicht so weit, als der Spanier schon 1546 gelangt war. Daher konnte auch Harvey aus ihm weniger lernen, als aus jenen dreien, und wir können Ruini nicht zu Harvey’s Zwischenmännern zählen. 1) Ueber ihn siehe S. 70—123 in Ercolani: Carlo Ruini. Bologna 1873. 164 Seiten. 2) Das Buch erlebte allein in Italien 6 Auflagen. Uebersetzt wurde es in das Französische 1647 und 1734, in das Deutsche 1603 und 1715 (1767), in das Englische 1683 und 1720. 490 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. Aber wie steht es nun um Eustacehio Rudio (7 1611), Har- vey’s Paduaner Lehrer? Gab er doch schon 1587 seine Schrift „über die Kräfte und Fehler des Herzens“ und 1600 die andere „über den gesunden und krankhaften Zustand des Herzens“ heraus. Dankt ihm Harvey den kleinen Blutkreislauf und den Gebrauch der Herzklappen? Allerdings lehrt Rudio den Lungenweg des Blutes. Und er lehrt ihn fast mit den Ausdrücken Colombo’s und Cesalpin’s, aber ohne einen von beiden zu nennen. Die schon von Servet, Vesal, Colombo aufgegebenen Poren der mittlern Herzwand führt Rudio (mit Ce- salpino) förmlich wieder ein. Doch auch was sonst Rudio über den kleinen Kreislauf lehrt — den großen kennt er ja nicht — ist keineswegs neu, wol aber weiter von der Wahrheit entfernt, als was Harvey lernen konnteaus Vesal, Servet, Colombo, Cesalpin. Mag er immerhin dem großen Harvey zuerst den Gebrauch der Herzklappen gelehrt haben, was er lehrte, war zum Teil falsch, ja weniger richtig, als das, was er in denen selbst gelesen hatte, die er ausschrieb. Die Worte, die er beim anonymen Ausschreiben des Colombo hinzufügt, sind immer gemeine Lehre Galen’s, aber immer irrig. Kurz, Rudio macht den Eindruck, als handle es sich bei ihm vor allem darum guter Galenist zu sein und auf Galen alle neuern Ent- deckungen wieder zurückzuführen, als stände es aber mit seinen eig- nen Beobachtungen und Experimenten äußerst schwach. Entdecker ist Rudio nicht, sondern ungeschickter Plagiator. Je mehr er aber öffentlich von den Paduaner Studenten als solcher ausgepocht wurde, um so mehr musste auch der zu seinen Füßen sitzende scharfsinnige Brite auf den hingewiesen werden, den Rudio vornehmlich ausschrieb, auf Matteo Realdo Colombo. Und inso- fern ist Rudio für Harvey ein Zwischenträger und Wegweiser auf der Straße zu den Entdeckern gewesen. Wäre überhaupt Harvey fähig, andere gedankenlos auszuschrei- ben, so hätte er sicher zum Original sich nicht einen solchen Unglücks- pinsel gewählt. Und wenn bei Harvey bisweilen dieselben Bilder wiederkehren, wie bei Rudio — das Herz nennen beide die Sonne des Mikrokosmos, wie der König die Sonne seines Makrokosmos sei — so schreiben das und manches andere Rudio 1600, Harvey 1628 ihren gemeinsamen Lehrern, den Hippokrates, Galen, Aristoteles nach, ganz davon abgesehen, dass beide ihre gleichen Bilder in ganz ver- schiedenem Sinne brauchen. Fassen wir das Ergebniss unserer Untersuchung zusammen, so müssen wir gestehen, dass die Frage nach Harvey’s Zwischenmännern problematisch bleibt. Rudio kann ihn auf Colombo, Aquapen- dente auf Cesalpin, Sarpi und Aranzi auf Servet hingewiesen haben. Er kann aber auch ebenso gut direkt auf jene Schriften ge- stoßen sein in Padua, wo grade des Cesalpin, Colombo und Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 491 Servet Werke verbreiteter waren als sonst wo auf der Erde. Denn die Paduaner Schule war es, die sich als ihren größten Schüler den William Harvey erzog. Kap. X. William Harvey). Als William Harvey, am 1. April 1578 zu Folkestone in Kent geboren, 1598—1602 in Padua studirte, dann in London seit 1615 im College of Physician’s seine anatomischen Vorlesungen hielt, darauf Anfang 1623 zum Stellvertreter des Leibarztes König Jakob I. ernannt wurde, ja noch als er 1628 zu Frankfurt a. M. sein Erstlingswerk „über die Bewegung des Herzens und des Blutes“ herausgab: da waren Servet und Vesal, Colombo und Cesalpin, Valverde und Reina, Faloppio und Eustaechi, Aranzi und Ruini, Amatus Lusitanus und Laguna, Sarpi und Fabricio und Rudio welt- berühmte Anatomen; von dem jungen Briten wusste außerhalb Eng- lands kein Mensch etwas. Doch auch in England war er bis 1628 nie von irgendwem zitirt oder in irgend einem Buche berücksichtigt worden. Jetzt änderte sieh alles. Aber so wenig hat die Legende recht, sein Meisterwerk habe ihm die Kundschaft geschmälert und die Laufbahn verdorben, dass erst seit dem Erscheinen seiner Exereitatio Harvey bekannt, genannt, geehrt, begehrt, berühmt, reich und fast vergöttert wurde. Freilich ging das nicht so schnell, wie man sich heute denkt. Im Anfang hielt man ihn für verrückt, weil er einen Kreislauf lehrte, dessen letzten und eigentlichen Grund er nie anzugeben vermochte, weil er seine Hypothese auf die Uebertragung durch Anastomosen gründete, die weder er selbst noch sonst wer damals gesehen; und weil er mit seinem ganzen Buch, härter als je einer vor ihm, anrannte gegen die allgemeine öffentliche Meinung seit den Tagen Galen’s. Noch als er 1633 mit dem Earl of Arundel die Reise zum deutschen Kaiser machte, wagte er keine der medizinischen Autori- täten aufzusuchen, als Kaspar Hoffmann, der seine Schriften eben- falls zu Frankfurt a. M. herausgegeben hatte. Und die lange Unter- redung mit dem berühmten Gegner endete, indem jeder bei seiner Meinung blieb. Harvey’s Verbindung mit dem Hofe lässt ihn uns auch in den feindlichen Expeditionen gegen Schottland und im Bürgerkriege gegen das Parlament auf der Seite seines Königs finden, was ihn ja beim Volke nicht sonderlich beliebt machte, auch den Verlust eines Teils seiner Bücher und Manuskripte zur Folge hatte. Wie um ihn dafür zu trösten, erteilte ihm das königlich gesinnte Oxford das Ehren- diplom eines Doktors der Medizin und 1645 durch Wahl sogar die Rektorwürde. 1) S. meine "Abhandlungen in Virchow’s Archiv 1880. Bd. 81 S. 114—157 und in Pflüger’s Archiv 1882 Bd, 28 8. 581—630. 492 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. Als aber das königlich gesinnte Oxford im Juli 1646 von den Parlamentstruppen eingenommen wurde, verließ Harvey den Hof und siedelte nach dem parlamentarisch gesinnten London über. Ueber die baldige Hinrichtung seines Königs dringt aus Harvey’s Munde zu uns kein Schmerzenslaut. Lebte er doch in der Fülle. Seine reichen Brüder nahmen sich seiner an. Jahrzelinte hatte er sich mit dem Ei und der Erzeugung der Tiere beschäftigt. Das Werk wollte und wollte nicht fertig werden. Da nahm ihm sein Freund Dr. Ent die Handschrift fort und ließ sie 1651 drucken (de generatione animalium). Dies ganz nach altem Geschmack ohne Tafeln und mit fast unzähligen Bücherzitaten hergerichtete Buch, nach Willis’ Urteil kein Meisterstück, gefiel dem Kollegium der Lon- doner Aerzte so außerordentlich, dass man dem Kenter in der Halle zu London eine Statue errichten ließ. Die stolze Inschrift setzt ihn an die Stelle der Gottheit, indem sie behauptet, erst Harvey habe dem Blut die Bewegung, erst Harvey den Tieren das Leben gegeben (dedit). Aus Dankbarkeit für diese Vergötterung ließ Harvey auf seine Kosten an die Halle emen schönen Anbau auf korinthischen Säulen machen zum Versammlungssaal und Bibliothekszimmer, für das er auch die Bücher schenkte. Für das Museum fügte er zahl- reiche interessante Gegenstände und chirurgische Instrumente hinzu. Bei der Einweihung am 2. Februar 1653 gab er dem Kollegium ein Festmahl. Nun wählte ihn das Kollegium (1654) zu seinem Präsidenten. Um seiner Altersschwäche willen lehnte er ab, und bat, doch den Dr. Prujean, den vorjährigen Präsidenten, wiederzuwählen. Harvey setzte nun (1656) dem Kollegium zwei Summen aus, die eine als Gehalt des Bibliothekars, die andere zur Stiftung einer feierlichen Jahresrede auf Woltäter des Kollegium. So wurde Harvey selbst der Stifter der ihn alljährlich verherr- lichenden Harveian Oration. Er erntete alle Ehren, die einem Sterb- lichen werden können. Zuletzt litt er an der Gicht. Lebensmüde starb er den 3. Juni 1657. Zu Hempstead in Essex liegt er begraben. Die Hempsteader Inschrift lügt auch, wenn sie behauptet, „die fortwährende Bewegung des Blutes habe nach so vielen Jahrtausenden er zuerst gefunden, er allein die Erzeugung der Tiere von der falschen Philosophie be- freit.“ Kap. XII. Harvey’s Charakter. Wenn auf jemandes Kosten öffentlich gelogen wird, so ist das ein übel Ding. Aber nicht immer ist es seine Schuld. Hat er es weder veranlasst noch geduldet, so kann sein Charakter makellos sein. Wie steht es um den Charakter William Harvey’s? Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 493 Harvey’s Charakter, wie wir ihn aus seinen Büchern und Briefen kennen, passt nicht in das gebräuchliche Schema eines Entdeckers, ebensowenig in das eines Plagiators. Der hat nicht den Charakter eines Plagiators, der, wie Harvey, alles, was er gelesen, aufs sorgfältigste an der Natur prüft und der, so gern er auch Bücher zitirt, doch grade sich am liebsten reden hört, so dass er, ohne Nennung des Fremden, nicht einen Satz her- übernehmen würde. Aber der hat auch nicht den Charakter eines Entdeckers, der, wie Harvey, so kleinlich denkt, dass er neben sich auf einem von so vielen Celebritäten bearbeiteten Gebiete keinen an- dern gelten lassen will; auf einem ihm fremden Gebiet aber (dem Lauf des Chylus) die wahren Entdecker (Aselli, Peequet, Rud- beck, Thomas Bartholin) zurückzudrängen und lächerlich zu machen sucht '); bis er am Ende seines Lebens, nachdem ihm, als dem Entdecker, Statuen gesetzt sind, privatim eingesteht, dass irgendwo bei den Alten (alieubi apud veteres) die Blutkreislaufslehre sich fin- den möge (1651, VI. Cal. April. an Paul Marquart Schlegel) und dass auch nicht alle Modernen vor ihm im Irrtum gewesen seien ?). Man hat so viel gefabelt von dem Entdecker, wie er sein muss und diesem Schema dann ohne weiteres Harvey’s Charakter ange- messen: das Resultat war, dass sein Bild gründlich verzeichnet wurde. Harvey soll das Beispiel gewesen sein eines unabhängigen, au- toritätenfreien, nur auf Experimenten ruhenden Forschers, nach wel- chem Baco, „Harvey’s Schüler“, seine Theorie ausgebildet habe im Novum Organon. Man vergaß, dass Baco als Kanzler und Philosoph die höchste Berühmtheit erlangt hatte, ehe irgend wer von einem gewissen William Harvey etwas wusste, und dass Baco, Har- vey’s Meister, mehrere Jahre begraben lag, ehe Harvey’s erste Schrift erschien ?). Und der wirkliche Harvey, so entschieden er auch alles an seinen eigenen Experimenten prüft, verheimlicht doch nirgends seine Hochachtung vor den Männern der Vorzeit und vor dem ganzen Altertum; er würdigt ihre Dogmen; er weist seine Schüler und seine Leser auf die hin, die uns jene Wahrheitsfackel vorangetragen haben, damit wir durch ihr Licht in die Geheimnisse des Wissens eindringen könnten. 1) Non opus esse, ut novum iter, venas lacteas, inquiramus etc. Imo vero, priusguam Asellarius libellum suum evulgaret, canaliculos illos candidos lactisque copiam observavimus (ed. 1766 p. 621 ef. p. 415). 2) Alierdings hatte er anfangs (de motu cordis) nur behauptet, quae hac- tenus scripta sunt, minus firma esse, da pene omnes hucusque anatomieci cum Galeno im Irrtum gewesen sind (p. 9). Auch gestand er schon damals, forsan sunt aliqui qui antea aut Galeni auctoritate, aut Columbi aliorumque ra- tionibus adductis, assentire se dieant mihi (p. 47). 3) 1620 kam Baco’s novum organum heraus, 16238 Harvey’s de motu cordis, 494 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. Und diese Hochachtung vor der Gelehrsamkeit der vergangenen Zeiten ist bei ihm keine Phrase, sondern sie beruht auf einer um- fassenden Lektüre. Wenn wir Harvey’s Briefe und seine nur im Manuskript vorhandenen ersten Vorlesungen bei Seite lassen, so wird allein in den drei von ihm uns aufbewahrten Schriften unter den Alten Plinius 11mal, Hippokrates 24mal, Galen 58mal, Aristoteles 280 mal mit Namen angeführt. Galen trägt bei Harvey das Bei- wort: der überaus geistvolle, gelehrte, göttliche, der große Mann, der Vater der Medizin; Aristoteles das Beiwort: der höchste Ge- setzgeber der Philosophie und allerfleißigste Naturforscher. Von den Modernen zitirt Harvey unter andern den Realdo Colombo, Ser- vet’s Ausschreiber, 3mal und nennt ihn „einen weisen und auch ge- schiekten Zergliederer“, den Jean Fernel, Servet’s Pariser Lehrer, 5mal; den Vesal, Servet’s Mitschüler, 6mal und nennt ihn „den Göttlichen“, den Aldrovandus 14mal, den Fabricius de Aqua- pendente 128mal und nennt ihn „seinen Wegweiser, einen höchst erfahrenen und berühmten, greisen Anatomen“. Ja dieser Harvey, der auch den Plato und Erasistratus, den Averro&s und Avicenna, den Jakob Sylvius und Duval, den Antonius Ulmus und Columella, den Caspar Bauhin und Botal, den Fracastori und Andreas Laurentius, den Sennert und Volcher Coiterus, den Haller und Aemilius Parisanus, den Andreas Laurentius und Riolan zitirt, dieser Harvey ist ein solcher Bücherwurm, dass er in dem Bürgerkrieg, der sein Vaterland aus tausend Wunden bluten machte, nichts so sehr beklagt, als den Verlust seiner Bücher und in der entscheidenden Schlacht bei Edge- worth, ein Buch in der Hand, hinter dem Zaun sitzend getroffen wird, bis eine neben ihm einschlagende Kanonenkugel den aufgewir- belten Sand ihm in das Gesicht spritzt... . Alles aber, was er in den Büchern fand, diente ihm nur zum An- trieb, seine Kenntniss des tierischen Körpers durch neue Experi- mente zu erweitern. Wir sehen ihn im Gefolge seines Königs auf Jagdpartien zahllose tragende Hirschkühe zergliedern, um die Stadien in der Zeugung der Tiere zu studiren. Wir treffen ihn mitten im Bürgerkriege zwischen König und Parlament in der Zurückgezogen- heit einer befreundeten ‘Villa täglich neue Hühnereier nach den Ent- wicklungsfortschritten des Embryo untersuchend. Und wieder in sei- nen Studienpausen beobachten wir den vom Podagra schon arg ge- plagten Mann bei seinem Bruder, einem reichen Grossisten, im dunkeln feuchten Keller bis tiefin die Nacht ausharrend neben dem Fasse Wein. Dass Harvey, der unvergleichliche Anatom, jemals irgend eine bedeutende Praxis als Arzt gehabt, dass er jemals glückliche Kuren durchgeführt hätte, davon meldet die Geschichte kein Wort. Von Patriotismus oder auch von glücklichem Familienleben weiß selbst die Fabel nichts. Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger 495 Neidisch, kleinlich, unfähig fremdes Verdienst anzuerkennen, ja fast „dazu geboren, die Lehren anderer herabzusetzen, zu verkleinern und zu zerstören“, gegen Riolan höhnisch und stolz, gegen Aqua- pendente streitsüchtig und wortklaubernd, gegen Descartes schul- meisterliceh, gegen Aselli und Peequet blind, gegen Kaspar Hoff- mann sophistisch, gegen d’Argent prablerisch und unwahr, unge- recht gegen seine Vorgänger auf den drei Gebieten, wo er Ent- deckungen gemacht haben will (Blutkreislauf, Embryologie, Chylusge- fäße), gegen den König kriechend, endete er, der schon bei Lebzeiten Vergötterte, damit, dass er ein Menschenhasser wurde. Indess wenn er auch als Mensch, als Gatte, als Bürger, als Patriot, als Arzt wenig zu empfehlen, bei aller Klugheit und Vorsicht kein liebenswürdiger, kein musterhafter Charakter scheint, so wird damit doch keineswegs sein unsterbliches Verdienst als Anatom und einziges Genie als Physiologe geschmälert. Der Charakter ist bis zu einem gewissen Grade unabhängig von den Leistungen. Nur Mangel an Geschiehtskenntniss und Erfahrung kann behaupten, dass alle edel- sinnigen Charaktere auf die Nachwelt große Leistungen hinterlassen hätten, kleinliche Charaktere impotent gewesen wären auf den Ge- bieten des Staats, der Kirche, der Kunst oder der Wissenschaft. Ueberdies ist auch die Wissenschaft etwas Sittliches. Wer für die Kunst und Wissenschaft etwas leistet, der begeht eine anerkennens- werte sittliche Tat. Wir würden daher völlig missverstanden werden, wollte man meinen, wir hielten Harvey’s sittlichen Charakter für verächtlich. Einen verächtlichen Charakter würden selbst zwei solche Könige wie Jakob I. und Karl I. von England nicht an ihrem Hof gehalten, würden nicht zwei Kollegien wie das der Aerzte von Ox- ford und von’ London zu ihrem Präsidenten gewählt, würden nicht durch zwei Jahrhunderte so viele ehrenwerte Aerzte und Professoren als einen der verehrungswürdigsten Briten gefeiert haben. Kleinlich als Mensch, ist Harvey als Anatom und Physiologe auch uns überaus verehrungswürdig und bewundernswert. Kap. XIII. Harvey’s vermeintliche Verdienste. Da auch um den Lebensbaum von Harvey’s Leistungen sich die Wucherpflanze der Legende geschlungen hat, so müssen wir diese Schmarotzer erst entfernen, ehe wir des Baumes Früchte genießen. Wir müssen erst zeigen, was Harvey nicht geleistet hat, und wenn es hundert Jubilanten behaupten. Dann erst können wir seine wirk- lichen Verdienste und Leistungen würdigen. 1. Harvey hat nicht, wie so viele behaupten, zuerst den großen Blutkreislauf gesehen. Er hat ihn überhaupt nie gesehen. Er hat daran geglaubt. Er hat ihn geschlossen. Gesehen hat man ihn zuerst nach Harvey’s Tode. 2. Harvey hat nicht den Wahn von der Blutbereitung durch 496 Müller-Hettlingen, Galvanische Erscheinungen an keimenden Samen, die Leber beseitigt. Er hat an die Leber geglaubt wie alle seine Vorgänger. Erst nach seinem Tode hat Bartholin das Leichenbe- gängniss der Leber gefeiert. Den zu ;einer Zeit entdeckten Chylus- kreislauf hat Harvey nie zugegeben und nie verstanden. 3. Harvey hat nicht die Geister aus den Arterien verjagt. Er bekennt sich zu den Geistern, die dem Blut erst Leben und Kraft geben, in seinen Vorlesungen wie in seinem Meisterwerk, in seinen Streitschriften wider Riolan wie in seinem großen Werk von der Erzeugung der Tiere. Nur als deus ex machina will er die Geister nicht benutzt wissen !). Allein ohne Geist sei das Blut kein Blut mehr, sondern eine kraftlose, verdorbene Masse. Erst das sternen- hafte geistige Element sei es, was die Dinge sich selbst über- treffen lasse, wie es auch die Zeugung bewirke und das Blut belebe. 4. Harvey hat den letzten eigentlichen Grund, weswegen das Blut läuft, weder dem Riolan, noch dem Kaspar Hoffmann, noch dem Marquart Schlegel, noch sonst wem anzugeben vermocht. Er hielt ihn für ein Geheimniss der Gottheit. 5. Harvey hat die Vorgänge des Blutkreislaufes, die er so musterhaft beschrieben, nicht zuerst entdeckt, sondern er hat sie gelernt aus den sorgsam an der Natur geprüften Büchern, die er zitirt, und aus andern, die er nicht zitirt. (Fortsetzung folgt.) Müller-Hettlingen, Galvanische Erscheinungen an keimenden Samen. Pflüger’s Archiv für die gesamte Physiologie XXXI. 193—214. Aufgrund der jetzt festgestellten Tatsache, dass die Reizbe- wegungen von bestimmten Pflanzen mit elektrischen Eigenwirkungen verbunden sind (Dionaea muscipula und Mimosa pudica), stellt sich Verfasser die Aufgabe zu untersuchen, ob auch bei den Wachstums- und Krümmungsreaktionen der Pflanze elektromotorische Wirksamkeit nachzuweisen ist. Die von L. Hermann gefundene Tatsache (Pflüger’s Archiv XXVII. 288), dass die Wurzelspitze keimender Samen sich elektronegativ ver- hält gegenüber der Samenschale, konnte der Verfasser bestätigen und erweitern. Untersucht wurden die Samen von Vicia faba, Zea Mais und Biota orientalis, als Repräsentanten der drei Hauptgruppen des Phanerogamenreiches. Die Methoden waren die gewöhnlich von der Tierphysiologie verwendeten. Bei Ableitung von je zwei Oberflächen- punkten des Keimlings wurden Spannungsunterschiede beobachtet, die sich in dem folgenden allgemeinen Satz zusammenfassen lassen: 1) Die berühmte Stelle kommt nicht in „de motu cordis“ vor, sondern Exereit. II in Joh. Riolanum (Opp. ed. 1776 p. 115 sq.). Müller-Hettlingen, Galvanische Erscheinungen an keimenden Samen, 497 „Denkt man sich die eine der ableitenden Elektroden beständig an die Cotyledonen angelegt, während man mit der andern successive von den übrigen Stellen des Keim- lings hypereotyl oder hypocotyl ableitet, so tritt immer eine elektromotorische Kraft auf, die sich herleitet von der Elektropositivität der Samenschalen bezw. Cotyle- donen gegenüber der Elektronegativität aller übrigen Teile des pflanzlichen Keimlings, und zwar ist diese Kraft um so geringer, je näher den Cotyledonen die wan- dernde Elektrode hypercotyl oder hypocotyl angelegt wird.“ „Von zwei Wurzelpunkten ist demnach die der Wurzelspitze nähere Stelle elektronegativ gegenüber der entferntern. Die Span- nungsdifferenz zwischen Wurzelspitze und Cotyledonen übertrifft in den meisten Fällen die zwischen ersten Laubblättern und Cotyledonen, so dass der vom Scheitel und der Wurzelspitze abgeleitete Strom in der Pflanze aufsteigend gerichtet ist.“ Bei weiter entwickelten Keimlingen der Vicia fuba (erste Laub- blätter, Nebenwurzeln zweiter Ordnung) zeigt häufig nicht mehr die Hauptwurzelspitze die größte Negativität, sondern irgend ein anderer Punkt derselben, insbesondere die Uebergangsstelle vom hypocotylen Stengel in die Wurzel, oder auch irgend eine Nebenwurzel. Die beobachteten elektromotorischen Kräfte schwanken zwischen 0,1 bis zu einigen Tausendsteln eines Daniel. Die Fragen nach Aenderung der beobachteten elektromotorischen Kräfte bei fortschreitender Entwicklung, bei Untersuchung unter varirten äußern Verhältnissen und der Einfluss von Verletzungen an Wurzeln und Samenlappen wurden vorderhand nicht in die Unter- suchung eingezogen. Auf eine Erklärung der besehriebenen Erscheinungen verzichtet der Verfasser einstweilen gänzlich. Als zweiten Teil seiner Untersuchungsergebnisse beschreibt Müller die Wirkung galvanischer Ströme auf das Wachstum von Keimlingen. Ein Vorversuch hatte ergeben, dass keimende Lepidium- Samen, die regellos auf einem feuchten, von einem galvanischen Strome durchflossenen Flanelllappen lagen, so beeinflusst wurden, dass sie mit der Wurzelspitze dem negativen Pol sich zukehrten (also ein Zweig des äußern Stromes im Keimling von den Cotyledonen zur Wurzel floss). Elfving (Botanische Zeitung 1882, Seite 258 u. 274) hatte bei transversaler Durchströmung von Keimlingswurzeln die ent- gegengesetzte Krümmung (d. i. die Wurzelspitze dem positiven Pole zu) beobachtet. Dabei trat immer Absterben der Wurzelspitze ein. Diese Elfving’sche Krümmung erklärt Müller nach besonderer Va- riation der Versuche für eine Absterbeerscheinung bei transversaler Durchströmung der ganzen Wurzel. 32 498 Timm, Beobachtungen an Phreoryctes Menkeanus Hoffmr. und Nais, Die genauere Analyse der oben angegebenen Reaktion der Wur- zeln auf den galvanischen Strom ergab dem Verfasser folgendes: Bei Durehströmung des ganzen keimenden Samens (Hauptaxe hori- zontal) krümmten sich zunächst die Wurzeln geotropisch nach unten; sobald sie die stromleitende Unterlage (feuchten Flanell) berührten, trat dazu eine zweite Krümmung, die Müller die galvanotro- pische nennt: es richtete sich die Wurzelspitze in die Richtung des äußern Stromes und zwar dem negativen Pole zu. Dadurch dass Müller Lepidium-Samen erst in vertikaler Lage (ohne äußern Strom) Wurzeln treiben ließ und dann in horizontaler Stellung die richtende Wirkung der Schwerkraft und des Stromes beobachtete, konnte er nachweisen, dass die Krümmung in der wachsenden Region der Wurzel erfolgt. Wurden die Samen durch ein untergelegtes Glimmer- oder Glasblättchen sorgfältig isolirt, so dass nur die geotropisch sich krümmende Wurzelspitze eben den feuchten vom Strome durchflos- senen Flanell berührte, so trat genau dieselbe Krümmung durch den Strom wie eben beschrieben ein. Nun hat Darwin festgestellt, dass die Wurzel die Eigenschaft besitzt, auf leichte chemische oder mecha- nische Insulte, die die Wurzelspitze treffen, mit einer Krümmung in der wachsenden Region zu antworten, welche ein Wegwenden der ganzen Wurzel vom Orte der Verletzung bezweckt. Weiterhin hat zuerst Elfving (l. ec.) angegeben und Müller bestätigt, dass im allgemeinen ein den Keimling axial durchsetzender (äußerer) galva- nischer Strom schädlich auf das Wachstum wirkt, und dass speziell der von den Cotyledonen zur Wurzelspitze fließende galvanische Strom weniger schädlich ist, als der entgegengesetzt (also im Keimling auf- wärts) gerichtete. Danach erscheinen Müller die Darwin’sche und die von ihm beobachtete galvanotropische Krümmung verwandt, und er definirt den Galvanotropismus einstweilen folgendermaßen: „Keimen Samen frei auf einer horizontalen Strom- ebene, so krümmen sich die Wurzeln auf die transver- sale Durchströmung der Wurzelspitze hin so, dass die von der Ebene in den Keimling eintretenden Strom- zweige von den Cotyledonen zur Wurzelspitze gerichtet sind, so dass oder weil der absteigende Stromzweig für die Pflanze weniger nachteiligist, als ein gleich starker aufsteigender“ Kunkel (Würzburg). Rudolf Timm, Beobachtungen an Phreoryctes Menkeanus Hoffmr. und Nais. Ein Beitrag zur Kenntniss der Fauna Unterfrankens. Arbeiten des zool. In- stituts in Würzburg. Bd. VI. Taf. 8. Alle Untersuchungen unseres bedeutenden Histologen Leydig zeichnen sich durch die ungemeine Exaktheit aus, mit der sie von Timm, Beobachtungen an Phreoryetes Menkeanus Hoffmr. und Nais. 499 Anfang bis zu Ende durchgeführt worden sind. Nur selten erfahren seine Beobachtungen eine durchgreifende Korrektur oder werden nach dieser und jener Seite hin ergänzt. Geschieht es wirklich, so darf man dann wol stets sagen, dass diejenigen, denen es gelang Leydig zu korrigiren oder zu ergänzen, zu den geschiekten und beachtens- werten Mikroskopikern zu rechnen sind. Letzteres gilt von dem Ver- fasser oben genannter Arbeit, der die schöne Untersuchung jenes Forschers „Ueber Phreoryctes Menkeanus Hofimr. ete.“ nach manchen Seiten hin vervollständigen konnte. Die Exemplare, welche Timm zu seinen Beobachtungen benutzte, stammten aus einem Brunnentrog des Dorfes Haselbach am Fuße des Kreuzbergs in der Rhön; sie wurden teils frisch, teils in Reagentien und teils mit Hilfe der Schnittmethode auf ihre histologischen und anatomischen Verhältnisse untersucht. Die Cuticula hebt sich, wenn man den getöteten Wurm in Wasser oder verdünnten Spiritus legt, leicht von dem dicken Hautmuskelschlauch ab und kann dann in größern Stücken heruntergezogen werden. Ihr Querschnitt zeigt eine deutliche Scehichtung und die Flächenansicht ein System sich kreu- zender Linien, die zur Längsachse des Tieres unter einem Winkel von ca. 45° stehen. Diese Zeichnung rührt von einzelnen Fasern her, aus denen sich die verschiedenen Schichten der Cuticula zusammensetzen. Jene Elemente, welche von F. E. Schulze entdeckt wurden und nach den Angaben von Mojsisovies beim Regenwurm sich in longitudinale und zirkuläre gliedern sollen, wurden von Walter Voigt bei Branchiobdella und andern Discophoren beobachtet. Die größten Lücken, welche sich in regelmäßiger Lagerung in der Cuti- cula finden, sind die Ausmündungsöffnungen der Borstenfollikel; außer- dem aber bedürfen noch die Mündungskanäle der Hautdrüsen (Makro- poren) und die dichtgedrängt stehenden Mikroporen der Erwähnung. Die Cutieula von Phreoryctes ist, da sie in Kalilauge sich leicht löst, nicht cehitinöser Natur. Bedeutend widerstandsfähiger gegen dieses Reagens sind die längsfaserigen Borsten, obgleich auch sie nach längerer Einwirkung der Lauge angegriffen werden. Ihre Entstehung erfolgt ebenso wie bei andern Oligochaeten in Epidermisfollikeln. An ihrer Ausscheidung beteiligen sich mindestens drei Follikelzellen [wodurch auch wahrscheinlich der längsgeschichtete Bau bedingt ist]. Die Epidermis besteht im allgemeinen aus einem kubischen Epi- thel, welches indess an bestimmten Stellen fast stäbchenförmig wird. Zwischen diesen verschiedenen Zellen schieben sich, hinter dem Gehirn beginnend, in jedem Segment gewöhnlich zwei „Hautdrüsengürtel“ ein, welche ringförmig den Körper umfassen. Im Kopflappen finden sich die sezernirenden Elemente, in gewöhnlicher Form und Größe, nur an der ventralen Seite, während sie wenig weiter nach hinten, in der dorsalen Wand der Mundöffnung, eine außerordentlich starke Entwick- lung erreichen. a 500 Timm, Beobachtungen an Phreoryctes Menkeanus Hoffmr. und Nais. Auffallend gut ausgebildet ist die Muskulatur der Leibeswand, des Schlundkopfes und der Dissepimente. Die Elemente der Ring- und Längsmuskulatur bestehen ähnlich wie bei den Hirudineen größten- teils aus Muskelröhren. Was die allgemeine Anordnung betrifft, so ist hier dem von v. Leydig darüber Gesagten nichts hinzuzufügen ; nur mag bemerkt werden, dass Timm in jedem Segment die Ring- muskellage in der ventralen Mittellinie an einer bestimmten Stelle un- terbrochen fand, dort nämlich, wo ein eigentümliches mit dem Bauch- mark in Verbindung stehendes Sinnesorgan in die Epidermis eintritt. Auch die Längsmuskelzüge werden außer an verschiedenen Stellen im Vorderende des Körpers in jedem Segment beiderseits der Mittellinie von einem Nervenast durchsetzt, dessen Endigungen in der Ringmus- kulatur zu suchen sind. Zu dem System der Ring- und Längsmus- kulatur kommen noch hinzu die Radialmuskeln, welche die Leibes- höhle durchziehen, die Dissepimente, deren Fasern teils ringförmig an- geordnet sind, und Muskelbündel, welche Bauch- und Rückenfollikel derselben Seite miteinander verbinden. Der Kopf hat seinen beson- dern ziemlich komplizirten Bewegungsapparat. Die Muskulatur des Körperschlauches besteht zum größten Teil aus Röhrenmuskeln, doch finden sich auch, namentlich im Borsten- muskelsystem, vereinzelte bandförmige Elemente. Zwischen beiden Extremen entdeckt man Fasern, welehe den Uebergang von einer Form zur andern vermitteln. Die radial und schräg verlaufenden Muskeln gehen zum größten Teil von der Ringmuskulatur ab, während sich die der Borstenmuskeln, deren ventrale Systeme besser entwickelt sind als die dorsalen, auch zum Teil von der Längsmuskulatur ab- zweigen. Die Hauptmasse des muskulösen Schlundkopfes besteht aus röhren- förmigen Elementen und verläuft in denselben drei Richtungen, welche wir schon bei der Körpermuskulatur kennen lernten, nur mit dem Un- terschiede, dass hier die Ringmuskeln der innern, die Längsmuskeln der äußern Partie des Schlundkopfes angehören. Die Fasern der Längsmuskelschicht gehen in acht Retraktoren über. Der Mund mit dem Oesophagus setzt sich durch seine eigentüm- liche Muskulatur, sein Epithel und den Mangel der Chloragogenzellen scharf vom Mitteldarm ab, welcher letztere unmerklich in den End- darm und dieser wieder ebenso unmerklich in die Epidermis des Kör- perschlauches übergeht. Der Eingang in den Verdauungskanal bildet eine relativ große Querspalte und setzt sich nach innen in den eigentlichen Schlund fort, dessen Querschnitt zwei nach oben gerichtete Einstülpungen erkennen lässt, zwischen denen im Epithelialgewebe stark ausgebildete Haut- drüsen dieht gedrängt stehen. Die zylindrischen Epithelzellen ver- flachen sich, je weiter man sie nach hinten verfolgt, immer mehr und sehen endlich im Schlundkopfe, von einem vordern Papillenring ab- Timm, Beobachtungen an Phreoryetes Menkeanus Hoffmr. und Nais. 501 gesehen, in ein schön ausgebildetes Plattenepithel über. Jener ist nach Leydig als Epithelialbildung anzusprechen und besteht aus nur einer Schicht langer Zellen, deren große ovale Kerne dem Outieular- saum näher als dem Grunde der Zellen liegen. Vielleicht kann man jenes Gebilde als Geschmacks- oder Tastorgan ansehen, wenngleich besondere hinzutretende Nerven nicht beobachtet wurden. Trotzdem wäre es möglich, dass derartige Verbindungen wirklich vorhanden sind, da der Schlundkopf von einem reichen Nervengeflecht durch- setzt ist. Diesem ersten Teil des Verdauungstractus folgt ganz plötzlich der eigentliche Darm, dessen Wand sich aus vier Schichten zusam- mensetzt: der Epithelschieht, der Gefäßschicht, einer dünnen Muskel- lage und der das Ganze einhüllenden Schicht von Chloragogenzellen. Die reich entwiekelte zweite der genannten Lagen steht nach v. Ley- dig mit dem großen Rückengefäß in direkter Verbindung, und was die Funktion der vierten anbelangt, so bezweifelte schon derselbe Forscher, dass sie der Leber höherer Tiere gleichwertig zu setzen sei. Timm bemerkt mit Recht, dass die Chloragogenzellen, wie auch Ref. bei andern Würmern nachzuweisen vermochte, mit dem Darm funk- tionell direkt gar nichts zu tun haben, da sie keineswegs in diesen selbst, sondern vielmehr in das ihn umspinnende Gefäßnetz einmünden. Wahrscheinlich haben sie die Aufgabe, der Nährflüssigkeit unbrauch- bare Zersetzungsprodukte zu entziehen. Die hiermit beladenen Zellen lösen sich dann los, gelangen in die Leibesflüssigkeit, woselbst sie wahrscheinlich zerfallen, und nun werden jene Zerfallsprodukte durch die Segmentalorgane als überflüssige und dem Körper weiterhin schäd- liche Auswurfsstoffe nach außen befördert. Was v. Leydig bezüglich der Verbindung des Darmgefäßnetzes mit dem Rückengefäß vermutete, erhebt T. zur Gewissheit, da er auf Quer- und Längsschnittsserien den unmittelbaren Zusammenhang bei- der konstatiren konnte und bestätigt ferner die Angaben jenes For- schers, dass die in der Leibeshöhle sich hin und her windenden Ge- fäßsehlingen nur dem Bauchgefäß angehören. Die intensiv rote Blutflüssigkeit des Phreoryctes enthält ebenso wie diejenige mancher anderer Anneliden vereinzelte Zellen. Im übrigen schließt sieh Ver- fasser im ganzen den von v. Leydig vertretenen Ansichten an, so dass es hier nicht nötig sein wird, weiteres über das Gefäßsystem zu berichten. Die genaue Kenntniss des Nervensystems von Phreoryctes ist von T. namentlich in morphologischer Beziehung in mehr als einer Hin- sieht wesentlich gefördert worden. Vom Vorderrande des sogenannten Gehirns, welches lebhaft an dasjenige der Enchytraeiden erinnert, be- geben sich in die Muskulatur und an die Epidermis des Kopflappens jederseits drei Nervenäste, vom Schlundring nach außen und innen je zwei. Die Kommissuren treten zu Beginn des Bauchmarks zum drei- 502 Timm, Beobachtungen an Phreoryctes Menkeanus Hoffmr. und Nais. eckigen Unterschlundganglion zusammen, das ein ganz feines und ein stärkeres Paar von Nervenverästelungen aussendet. Der fibrilläre Teil der Bauchganglienkette gliedert sich, wie vielleicht bei allen Anne- liden, in zwei seitliche Stränge; was die sonstige Gliederung des Bauchmarks anlangt, so ist zu bemerken, dass sie in jedem Segment zwei Ganglienanschwellungen zeigt, welche im Schwanzende beson- ders scharf ausgeprägt sind. Diesen beiden Verdiekungen entsprechen drei Paare von ihnen sich abzweigender Nervenfäden, von denen zwei Paare der hintern Anschwellung angehören; das letzte sendet jeden- falls einen ventralen Zweig an den Rand des benachbarten Dissepi- ments. Vom eingeschnürten Mittelstück des Bauchmarks gehen ferner noch zwei feine nervöse Fäden ab, die sich zwischen Ring- und Längsmuskulatur ausbreiten. In der ventralen Mitte jedes Ganglien- knotens entspringt ein bis jetzt bei Oligochaeten noch nicht beschrie- bener unpaarer Nervenfaden, der indess nach gleichzeitiger Unter- suchung des Ref. sich in ähnlicher Form auch bei Lumbriculus findet und überhaupt eine weitere Verbreitung haben dürfte. Jener Nerv vermittelt den Uebergang zu einem Organ, das von Timm seiner eigentümlichen Beschaffenheit halber wol mit Recht als neues Sinnes- organ angesprochen wird. „Dieses Organ besteht seiner Hauptmasse nach aus einer lappigen, in der dorsalen Mitte etwas muldenförmig vertieften Zellmasse, die sich zwischen dem Bauchmark und dem ven- tralen Muskelfelde ausbreitet. — Die Verbindung dieses Organs, wel- ches als Bauchorgan bezeichnet werden soll, mit der Epidermis wird hergestellt durch eine aus nervösen Fasern bestehende Brücke, welche in der Längsausdehnung des Tieres durch unregelmäßige Zwischen- räume unterbrochen wird. Die Fasern dieser Brücke durchsetzen Längs- und Ringmuskulatur und divergiren an der letztern, um sich dann in der Epidermis zwischen und in den — eigentümlich modifi- zirten — Zellen derselben zu verteilen.“ Mit diesem Organ glaubt Timm die von Ratzel beschriebenen Sinnesorgane in der ventralen Mittellinie von Criodrilus und Lumbri- eulus nicht vergleichen zu können, da sie weder segmentweise auf- treten, noch eine Verbindung mit dem Bauchmark nachgewiesen wer- den konnte. [Was diese Einwendungen anbetrifft, so konnte eine segmentale Verbindung der Ganglienkette mit der Epidermis für den letztgenannten Wurm vom Ref. bewiesen werden, wodurch nicht allein konstatirt wäre, dass ein ähnliches Organ sich auch bei andern Oli- gochaeten findet, sondern wir würden mit großer Wahrscheinlichkeit beide als physiologisch gleichwertige Organe direkt mit einander ver- gleichen dürfen.] Als interessante Tatsache ist noch anzuführen, dass die Hautdrüsen des Körperschlauches grade dort fehlen, wo die aus dem betreffenden Organ austretenden Nervenfibrillen in die Epidermis eintreten. Ganglienzellen und fibrilläre Punktsubstanz des zentralen Ner- Timm, Beobachtungen an Phreoryetes Menkeanus Hoffmr. und Nais. 503 vensystems unterscheiden sich nicht wesentlich von denjenigen der übrigen Oligochaeten, etwas indess fehlt der Bauchganglienkette des Phreoryctes, das sonst wol meist vorhanden sein wird, nämlich die so- genannten Primitivnervenfasern v. Leydig’s oder das Neurochord Vej- dovski’ss, während wieder das Neurolemm sehr deutlich ausgeprägt ist und aus zwei Lagen besteht, die noch eine dritte Schicht, eine äußerst feine Längsmuskulatur, zwischen sich fassen. Vom Neuro- lemm geht ein Stützgewebe aus, dessen quer verlaufende Hascen häufig unter einem Winkel gegen einander geneigt sind. Die von Semper bei Würmern entdeckte „Seitenlinie“ fand T. bei Phroryetes ebenfalls, wenn auch nur in undeutlicher Ausprägung, wodurch denn auch wol veranlasst wurde, dass eine direkte Verbin- dung mit dem Schlundring, wie sie Semper bei Naiden und Ref. bei Lumbriculus unzweifelhaft nachzuweisen vermochten, bei diesem Wurm nicht aufgefunden werden konnte. In jedem Körpersegment befinden sich beiderseits von der Mittellinie je ein von „Fettgewebe“ einge- hülltes Segmentalorgan, dessen pantoffelföürmige bewimperte Oeffnung nicht in demselben Segment liegt, in welchem sich die Ausmündung befindet, sondern in dem je vorhergehenden. Jede Randzelle der Ein- mündung trägt eine große Wimper, die selbst in Lackpräparaten noch deutlich zu erkennen ist. Die Mündungen der Exkretionskanäle lie- gen dicht vor den Oefinungen der ventralen Borstenfollikel. An dieser Stelle erweitert sich der Kanal etwas zwiebelförmig und besitzt ein schönes Zylinderepithel, während seine weiter ins Innere des Körpers gelegenen Wandungen aus einer einfachen Zelllage mit undeutlichen Grenzen gebildet werden. Eine Zellgruppe, die derjenigen der Mün- dungsöffnung des Segmentalorgans sehr ähnlieh ist, liegt hinter der Austrittsstelle der Borsten, ohne dass es indess gelungen wäre, zu gleicher Zeit hier das Ende eines ausführenden Kanals zu bemerken. Leider ist auch T. gleichwie seiner Zeit v. Leydig nicht in der Lage die Geschlechtsorgane beschreiben zu können, da es ihm nicht gelang reife Tiere aufzufinden. „Die kräftig entwickelten Dissepi- mente bestehen aus je zwei bindegewebigen, von dem allgemeinen die Längsmuskulatur überziehenden Peritoneum abgelösten Membranen, die mit zerstreuten Kernen besetzt sind. Zwischen diesen Membranen breitet sich eine starke, aus bandförmigen Elementen bestehende Ringmuskulatur aus.“ Die Periviszeralflüssigkeit ist nur in geringer Menge vorhanden und enthält spärliche Chyluskörperchen. In dem zweiten Teil der Arbeit bespricht der Verf. kurz die von ihm in der Umgebung von Würzburg gesammelten Naiden, unter denen sich zwei neue Arten befinden, und stellt diesem speziellern Teil eine treffliche Auswahl der bezüglichen Literatur voran. — Zu den Cutieulargebilden rechnet T. augenscheinlich auch die Borsten, da sie in diesem Kapitel einer eingehenden Besprechung namentlich 504 Timm, Beobachtungen an Phreoryetes Menkeanus Hoffwr. und Nais. ihres morphologischen Baues unterzogen werden. [Obgleich diese Ansicht nicht näher begründet ist, vielmehr im Gegensatz zu den An- gaben anderer Forscher steht, welche die Borsten als Mesodermalge- bilde betrachten, so ist doch in jüngster Zeit durch Beobachtungen Vejdovski’s und des Ref. für andere Würmer unzweifelhaft nach- gewiesen, dass sie ektodermalen Ursprungs sind, somit wol mit Recht, da sie von einer oder mehrern Zellen ausgeschieden werden, als Cutieulargebilde bezeichnet werden können.| Die neue Art Nuis ha- mata erhält ihren Namen „wegen der langen säbelförmigen, mit zahl- reichen einseitswendig gestellten Widerhaken bewaffneten Rücken- borsten.“ Die Matrix der Cutieula besteht aus ziemlich kubischen Zellen, welche hin und wieder lange Tastborsten aussenden und sich verschiedenartig, nämlich in die gleichmäßig verteilten Hautdrüsen von bekanntem Bau oder in die langstäbehenförmigen Drüsen des Clitellums modifiziren können. — Ueber die Muskulatur ist von T. wesentlich neues zum Bekannten nicht hinzugefügt, und auch in bezug auf die Seitenlinie kann nur die Richtigkeit der Semper’- schen Entdeckung, dass sie in direkter Verbindung mit der Schlund- kommissur steht, konstatirt werden. — Das Nervensystem hat die allbekannte Form; nur Nais hamata zeigt insofern geringe Unter- schiede, als das Gehirn nieht so scharf wie bei den übrigen Naiden in zwei Hälften getrennt ist, sondern eine kompaktere Form besitzt, welche ungefähr derjenigen der Enchytraeiden nahe kommt; auch zeigt die wenigstens in ihrer Anlage sonst allgemein in zwei Stränge gesonderte Fasersubstanz des Bauchmarks „keine Spur einer Doppel- gliederung.“ — Ebenso wie bei Phreoryctes konnte auch für alle un- tersuchten Naiden ein den Verdauungskanal umspinnendes Darmge- fäßnetz nachgewiesen werden, das mit dem Rückengefäßstamm in direkter Kommunikation stand. Das Blut hat bald eine körnige farb- lose, bald eine homogene bräunliche Beschaffenheit, welcher Unter- schied von individueller Natur zu sein scheint. Auch hier wurden freie Zellen beobachtet, die sich indess nur recht spärlich vor- fanden. — Der Verdauungsapparat hat die allgemeine Form, nur mag als merkwürdige Erscheinung ein dorsalwärts vom Oesophagus lie- gender birnförmiger Blindsack erwähnt werden, und ferner, dass die Chloragogenzellen sich’ gegen den Mitteldarm zu in „Speicheldrüsen“ modifiziren, die sich von jenen durch den Mangel der gelben Konkre- mente und auch dadurch unterscheiden, dass sie direkte Anhänge des Oesophagus zu sein scheinen, also nicht durch das Gefäßnetz von den wimpernden Zellen des Darms getrennt sind. — In der Leibesflüs- sigkeit kann man zweierlei verschiedene „Lymphkörperchen“ unter- scheiden, 1) runde körnige Zellen, die sich häufig zu größern Ballen zusammenlegen, und 2) in geringerer Anzahl vorhandene elliptische, durchaus klare Körper. Von geschlechtsreifen Tieren wurden in nennenswerter Anzahl Haswell, Phosphoreszenz und Atmung bei Ringelwürmern. 505 nur solche von der Art N. elinguis in dem brackigen Wasser eines Ausflussgrabens der Kissinger Soole erbeutet. „Die Samenleiter mün- den in eine ventrale Vertiefung zu beiden Seiten eines medianen, der Clitelliumdrüsen entbehrenden Zellpolsters, das aus einem queren Spalt hervorragt.“ Rechts und links erheben sich die Genitalborsten. Das äußere Ende des Spermadukts bildet die bekannte blasenförmige Er- weiterung, während das innere Ende sich mit einem Wimpertrichter in die Leibeshöhle öffnet. „Die Hoden bilden zwei große hintereinan- der liegende Säcke, von denen der hintere zum Teil in das Ovarium eingesenkt ist.“ In diesem findet man 1—2 große und mehrere kleine im Auswachsen begriffene Eier. — Die zweite neue Art aus der Nai- dengattung nennt T. Nais lurida; er fand sie in einem Tümpel zwi- schen Großlangheim und Haid. Ein Verzeichniss der gesammelten Naiden schließt die Arbeit; es sind im ganzen 15 Arten, deren Namen hier noch genannt werden mögen: Nais proboscidea Müll., N. longiseta Ehr., N. hamata Timm, N. barbata Müll., N. elinguis Müll., N. ser- pentina Müll., N. appendiculata d’Udek., N. Zurida Timm, N. unei- nata Oerst., Dero digitata Müll., Chaetogaster diaphanus Gruith., Ch. Mülleri d’Udek., Ch. Limnaei Bär, Aeolosomu quaternarium Ehr. und Ae. lacteum Leydig. C. B. Phosphoreszenz und Atmung bei Ringelwürmern. Haswell hat die Beschaffenheit und die Funktionen der Elytra näher untersucht, welche eine der charakteristischen Eigentümlich- keiten der Aphroditaceen bildet. Danach dient dieselbe einmal als Schutzmittel, weiter zur Produktion phosphoreszirenden Lichts, zur Vermittelung von Empfindungen, zur Atmung und endlich zur Entwick- lung der Eier. Die Bedeutung der Elytra als Schutzmittel ist in einigen Fällen die wesentlichste; so ist diese Schale bei /phione äußerst fest und bedeckt den ganzen Rücken mit einem vollständigen Panzer; in an- dern Fällen dagegen tritt diese Bedeutung weit weniger hervor. Werden verschiedene Polynoe-Arten im Dunkeln gereizt, so läuft auf der Elytra ein Aufleuchten phosphoreszirenden Lichts entlang; jede Schuppe leuchtet wie ein glänzender Schild, und in der Mitte ist ein dunkler Fleck sichtbar, der als Befestigungsstelle der Schuppe des lichtentwickelnden Gewebes entbehrte. Die Erregung setzt sich von Segment zu Segment fort, so dass bei hinreichend starkem Reiz die ganze Elytra leuchtete; es fallen dann einzelne Schuppen ab und blei- ben weiter leuchtend hinter dem sich rasch fortbewegenden Tiere zu- rück. Die Arten, bei welchen diese Phosphoreszenzerscheinungen auf- treten, sind durch die Schnelligkeit ihrer Bewegungen und durch die 506 Wilhelm Müller, Massenverhältnisse des menschlichen Herzens. Leichtigkeit, mit der die Schuppen abfallen, ausgezeichnet; es scheint nicht unmöglich, dass die Phosphoreszenz eine Sehutzvorrichtung ist, indem die abfallenden leuchtenden Schuppen die Aufmerkshmkeit der Verfolger in der Dunkelheit, in welcher die Polynoiden gewöhnlich leben, von dem verfolgten Tier ablenken sollen. Dass die Elytra als Organ für einen gewissen Sinn tätig ist, scheint sowol aus der Menge der in ihr enthaltenen Nerven, als aus der in manchen Fällen beobachteten Anwesenheit von Fasern und an- dern Fortsätzen, die als Endorgane der Nervenzweige wirken, hervor- zugehen. Bei Aphrodite und Hermione verrichteten die Schuppen nach den Beobachtungen von Williams und Quatrefages bei der Atmung wichtige mechanische Dienste. Bei diesen Gattungen ist die Rücken- fläche mit einer Schicht filziger Haare bedeckt, welche sich von bei- den Körperseiten gegen einander strecken und so einen vorn und hin- ten offenen Kanal einschließen, dessen Boden die Rückenfläche des Körpers mit der Elytra und den Bronchialtuberkeln bildet. Die ge- nannten Autoren meinen nun, dass die rhythmische Bewegung der Elytra, durch welche beständig ein Wasserstrom über die Rücken- fläche hingetrieben wird, die stete Erneuerung des Wassers über den Bronchien und damit die nötige Sauerstoffzufuhr für das Tier bewirke. Bei den Arten, welche jener filzähnlichen Rückendecke entbehren, scheint diese Tätigkeit der Elytra zu fehlen. So hat Haswell bei Polyno& und verwandten Gattungen gefunden, dass die Elytra völlig bewegungslos ist, wenn das ganze Tier in Ruhe ist. Endlich hat die Elytra noch für die Entwicklung gewisse Bedeu- tung, da unter ihren Schuppen die aus den Eileitern unter sie gelang- ten Eier mittels einer klebrigen Flüssigkeit so lange haften bleiben, bis die Embryonen hinreichend entwickelt sind; wahrscheimlich voll- zieht sich dort die Befruchtung der Eier. (Journal of Royal Miero- scopical Society). H. Behrens (Halle). Wilhelm Müller, Die Massenverhältnisse des menschlichen Herzens. Hamburg und Leipzig 1883. Leop. Voss. 8. 220 8. Aufgabe der Untersuchung, deren Ergebnisse Verf. in diesem Werke mitteilt, war die Feststellung der gesetzmäßigen Beziehungen zwischen der Masse des menschlichen Herzmuskels und der Masse des menschlichen Körpers einerseits und zwischen der Masse der einzelnen Herzabschnitte andererseits. Die Notwendigkeit einer Gesetzmäßig- keit in diesen Beziehungen erhellt aus der Tatsache, dass das Herz eine Kraftmaschine ist, welche die im menschlichen Körper vorhan- Wilhelm Müller, Massenverhältnisse des menschlichen Herzens. 507 denen Arbeitsmaschinen mit dem erforderlichen Material zu versorgen hat. Selbstverständlich muss eine so wichtige Einrichtung nach be- stimmten Gesetzen entsprechend den Anforderungen des Organismus konstruirt sein. Innerhalb gewisser Grenzen, deren Ueberschreitung sich mit der Erhaltung des Lebens nicht verträgt, richtet sie sich bei demselben Individuum nach dessen wechselnden physiologischen Zu- ständen und in verschiedenen Individuen nach deren eigentümlicher Ausbildung. Letztere ist eine Folge teils der erblichen Anlage, teils der sozialen Stellung; beide bedingen die der Eigenart des Indivi- duums entsprechende relative Ausbildung der einzelnen Organe. Der Einfluss der letztern auf die Masse des Herzmuskels wird nach ihrem Gefäßreichtum und Stoffwechselbedürfniss verschieden stark sein und die durehschnittliche Größe der Anforderungen des Körpers an den Herzmuskel wird je nach dem Vorwiegen oder Zurücktreten der ein- flussreichen Organe verschieden, individuell, wie bei demselben Indi- viduum zeitlich wechselnd sich gestalten. Gesetzmäßige Beziehungen sind daher nur aus einer großen Reihe von Einzelbeobachtungen zu erkennen. Diese können wir aber immer nur anstellen, nachdem das Leben, ohne unser Zutun, sein Ende erreicht hat. Die Zahl der ge- waltsamen Todesfälle ist nun eine zu geringe, während die „natür- liehen“ Todesarten einen mehr oder weniger von der Norm abweichen- den Körper hinterlassen. Hierdurch werden die gesetzmäßigen Be- ziehungen zwischen Herz- und Körpermasse verdunkelt. Ihre Existenz dagegen ist (gegenüber Peacock u. a.) über allen Zweifel erhaben. In dieser Weise etwa entwickelt Verf. in der Einleitung seine Grund- gedanken, um sodann zu emer theoretischen Erörterung über Beobach- tungsmaterial und Fehlerquellen, sowie deren Eliminirung zu schreiten. In dem zweiten Kapitel kritisirt der Verf. die bisherigen Versuche, die Aufgabe zu lösen. Unter anderm wendet er sich gegen Beneke (vgl. dieses Centralbl. Bd. II S. 143 ff.), dem er vorwirft, klimatisch und ethnisch differentes Material, nämlich das Marburger und Wiener, zusammengeworfen und ferner die Fetthülle des Herzens mitgewogen zu haben. Vor allem aber werde die Beweiskraft der Beneke’schen Ergebnisse dadurch vermindert, dass B. die Volumen- oder doch Ge- wichtsbestimmung der Leichen unterlassen und in ganz unzulässiger Weise das Herzvolumen zur Körperlänge in Beziehung gesetzt hat. Das Beobachtungsmaterial der vorliegenden Untersuchung besteht in 1481 Leichen, die 1877—1881 in und bei Jena sezirt wurden. Auf das männliche Geschlecht entfallen 782, auf das weibliche 699 Indi- viduen. Alle Lebensalter, vom embryonalen Zustande bis zum 90. Jahre, sind vertreten. Der größte Teil der Sektionen wurde nicht an klini- schem oder poliklinischem Material, sondern an der in der Stadt Jena und deren nächster Umgebung verstorbenen sesshaften Bevölkerung angestellt. Von den überhaupt in Jena verstorbenen Individuen wur- den in den fünf Jahren 1877—1881 sezirt: 70, 75, 78, 80, 81 °/,! 508 Wilhelm Müller, Massenverhältnisse des menschlichen Herzens. Hierdurch erhalten die Untersuchungen des Verf. einen sehr viel höhern Wert, als alle ähnlichen frühern, welche an dem fluktuirenden zusammengeworfenen Material der Krankenhäuser angestellt worden sind. Auf die Methode der Sektion und der Berechnung kann hier nicht eingegangen werden. Es sollen hier nur die Ergebnisse, welche in- folge der überaus peinlichen Sorgfalt der Untersuchung, in anbetracht des großen und homogenen Materials und mit Rücksicht auf die theo- retischen (mathematischen) Verhältnisse einen hohen und sichern wis- senschaftlichen Wert besitzen, kurz mitgeteilt und erörtert werden. Nur das Eine soll hier bezüglich der Methode noch besonders hervor- gehoben werden, dass Verf. sich der Seriationsmethode bediente. Auch hierbei findet die Gesetzmäßigkeit in den arithmethischen Mitteln ihren kürzesten Ausdruck. Bei der Erörterung so fundamentaler Verhält- nisse, wie sie Verf. behandelt, ist es jedoch wichtig, außer den Mit- telzahlen auch die Art der Verteilung der einzelnen Werte kennen zu lernen, und Verf. gibt deshalb für die wichtigern Verhältnisse auch die Grundzahlen, und zwar in Form von Reihen an. Eine auf- fallend diehte Gruppirung bestimmter Werte in einem Gliede ist auch äußerlich (durch gesperrten Druck) markirt. Diese dem „typischen Mittel“ Morselli’s entsprechende Gruppirung nennt Müller „die Gruppe der Maximalfrequenz“. Die hauptsächlichsten Ergebnisse des Werkes sind folgende. Die Masse des Herzmuskels nimmt — wie dies von neuem be- stätigt wird — mit der Masse des Körpers zu. „Die größere Werkstätte bedarf eines kräftigern Motors“. Die Zunahme findet nicht proportional dem Zuwachs an Körpermasse statt, sondern in einem stetig abnehmenden Verhältniss. Der Körper ändert mithin, während er seine Masse vergrößert, seine Eigen- schaften in einer Weise, welche eine Ersparung an Motorkräften gestattet. Um eine Erklärung dieser Tatsache zu gewinnen, prüft Verf., ob in einer mit der Massenzunahme erfolgenden Veränderung der einfachen physikalischen Eigenschaften des menschlichen Körpers ihre Ursache gesucht werden kann. In betracht kommen hier die Oberflächenentwick- lung und die Körperlänge. — Ein Einfluss der Oberflächenent- wicklung wird erst am Ende des zweiten oder im Verlaufe des dritten Lebensmonats nachweisbar. Die Körperlänge dagegen übt, wie dies auch die theoretische Erörterung a priori ergab, einen nach- weisbaren Einfluss auf die Größe der vom Herzen zu leistenden Ar- beit und damit auf die Masse des Organs nicht aus. In scharfem Gegensatz zu dem Einfluss der Länge steht jener des Körperge- wichts; hier ergibt sich mit zunehmender Körpermasse ein Anwachsen der absoluten wie Verminderung der proportionalen Gewichte. — Von einiger Bedeutung ist das Geschlecht. Bei Embryonen aller- dings und bei Kindern unter 5 Jahren ist ein Einfluss desselben noch nicht vorhanden, oder doch nicht sehr nachweisbar. Von da ab je- Wilhelm Müller, Massenverhältnisse des menschlichen Herzens. 509 doch bildet sich bei den beiden Geschlechtern eine Verschiedenheit der Anforderungen, welche der Körper an das Herz stellt, heraus. Das Proportionalgewicht des weiblichen Herzens verhält sich zu dem des männlichen durchschnittlich wie 0,92:1. Hierzu tritt aber noch der Einfluss des Lebensalters. Wie schon Peacock, Boyd und Beneke nachwiesen, erfolgt während der Entwieklung zur Geschlechts- reife, d. h. vom 16.—20. Jahre, eine rasche Zunahme der absoluten Herzmasse bei beiden Geschlechtern, und die Proportionalgewichte zeigen, dass diese Zunahme keine einfache Folge der Zunahme ist, welche während der Pubertätsentwicklung die Körpermasse überhaupt erfährt. Vom Beginn des dritten Jahrzents nimmt die absolute Masse des Herzens bis zum 7. Decennium langsam zu, von da an wieder ab. Die proportionalen Gewichte dagegen steigen bis zum Ende des Le- bens fortwährend an (gegen Beneke, vgl. ]l. c.). Der Rückgang der absoluten Herzmasse im 8. und 9. Lebensjahrzehnt erklärt sich aus der Beteiligung des Herzens an dem allgemeinen Altersschwund, das entgegengesetzte Verhalten der proportionalen Gewichte aus der Un- gleichheit des Grades, in welchem diese Beteiligung an der Herz- masse einerseits und der übrigen Körpermasse andererseits stattfindet. Auch die Verteilung der Herzmuskulatur auf Vorhöfe und Ventrikel ändert sich im Laufe des Lebens. Die Anforderun- gen, welche die Herzkammern an die Muskulatur der Vorhöfe stellen, nehmen während des Embryonallebens erst rascher, dann langsamer ab. Im ersten Lebensjahr sind sie etwas größer, später aber, bis zum Eintritt der Geschlechtsreife, stetig abnehmend, sodass um diese Periode ein Minimum eintritt. Bis zum Lebensende erfolgt dann wie- der eine dauernde Zunahme. Den Grund dieser ebenso gesetzmäßigen wie bisher ganz unbekannten Veränderungen sucht Verf. in einer ge- setzmäßig mit den Jahren vor sich gehenden Veränderung in der Er- regung der Herzkammernerven: „Die Erregbarkeit der Herzkammer- nerven erreicht zur Pubertätszeit ein Maximum, und nimmt von da nach vor- und rückwärts mit den Jahren ab.“ — Die Herzkammern besitzen um die Zeit der Geburt, also dann, wenn die Anpassung ihrer Masse an die neuen Kreislaufsverhältnisse stattfindet, ein Maxi- mum an Muskelmasse. Dann erfolgt eine allmähliche Abnahme der Ventrikelindices (Verhältniss von Ventrikel- zu Körpermasse) bis zur Pubertät und ein Stillstand bis zum 5. Decennium, schließlich wieder Zunahme. Der Herzmuskel hat sonach vom Ende des zweiten bis zum Anfang des fünften Jahrzehnts — also in der Zeit, in welche die für die Erhaltung der Art notwendige Geschlechtsfunktion der Hauptsache nach fällt oder fallen sollte — seine größte Leistungsfähigkeit. Der folgende Abschnitt des Werkes behandelt die Verteilung der Vorhofsmuskulatur auf die beiden Vorhöfe. Die Schlüsse, welche Verf. aus seinen Tabellen zieht, sind folgende. An der abso- .luten Massenzunahme, welche den Vorhöfen des Herzens im Gegen- 510 Hooper, Versuche über die Dehnung der Stimmbänder. satz zu allen andern Körperorganen bis in das 8. Lebensdecennium zukommt, beteiligen sich deren sämtliche Abschnitte Die Verteilung der Vorhofsmuskulatur auf die beiden Vorhöfe ist vor der Geburt eine andere als nach derselben. Während des ganzen Embryonallebens überwiegt die Muskelmasse des rechten Vorhofs. Dies ändert sich infolge der Geburt, indem während des ersten Lebensmonats der rechte Vorhof so viel an Masse verliert, dass im Beginn des zweiten Monats die Masse der beiden Vorhöfe annähernd die gleiche ist. Dies Ver- halten bleibt während des ersten Lebensjahres bestehen. Vom zwei- ten Lebensjahre an wird die Masse des linken Vorhofs von der des rechten im Wachstum überholt, sodass zur Zeit der Pubertät die wäh- rend des ganzen Lebens bestehende, etwa 5,5 %/, betragende Differenz zugunsten des rechten Vorhofs ausgebildet ist. Das gegenseitige Verhalten der beiden Ventrikel gestaltet sich ziemlich umgekehrt wie das der Vorhöfe. Während nach Scheidung der beiden Kammern anfangs dem linken Ventrikel die größere Ar- beitsleistung zugewiesen ist, wird im weitern Verlauf des Intrauterin- lebens der rechte Ventrikel mehr herangezogen, sodass sich zur Zeit der Geburt die zu leistende Arbeit ziemlich gleichmäßig auf beide Ventrikel verteilt. Vom zweiten Lebensjahre an verhält sich die Masse des rechten Ventrikels zu der des linken etwa wie 1:2 (genauer 0,507:1). Diese Proportion bleibt bis an das Lebensende bestehen und ist bei beiden Geschlechtern fast genau dieselbe (0,508 Mann; 0,506 Weib). Auf die Veränderungen durch pathologische Vorgänge kann hier nicht eingegangen werden. Die Frage, ob die Schwangerschaft die normalen Beziehungen zwischen Herzmasse und Körpermasse verändern, beantwortet Verf. aufgrund von Untersuchungen an 32 Schwangern und Wöchnerinnen im ganzen negativ. Das Herz erfährt infolge der Schwangerschaft höchstens eine Massenzunahme, welche der Massenzunahme des Kör- pers proportional ist. Eine geringfügige relative Zunahme erfährt der linke Ventrikel. Die Angaben Larcher’s sind demnach stark über- trieben. K. Bardeleben (Jena). F. H. Hooper, Experimental Researches on the Tension of the Vocal Bands. Vorgetragen in der Jahresversammlung des amerikanischen laryngologischen Vereins zu New-York den 23. Mai d. J. — Separatabdruck aus Archives of Laryngology. Verfasser behandelt 1) die Wirkung des Muse. Thyreocrieoi- deus und 2) den Einfluss des exspiratorischen Luftstromes auf die Dehnung der Stimmbänder. Hooper, Versuche über die Dehnung der Stimmbänder. 511 Als Versuchstiere dienten Hunde, die vor einer horizontal rotiren- den Trommel in passender Stellung lagen und in tiefer Aethernarkose gehalten wurden. Mittels leichter Stifte, die in die Kehlkopfknorpel eingesteckt waren, konnte man sowol die absolute als die relative Bewegung dieser Gebilde genau aufschreiben. Um die Wirkung des Musc. Thyreoericoideus zu erkennen, reizte man den N. laryng. sup., während die Federn die Stellung der beiden Knorpel notirten. Wie die beigegebenen Kurven verdeutlichen, wird der Cart. ericoidea bei jeder solchen Reizung kräftig nach oben gezogen, während die Thyreoidea beinahe oder ganz unbeweglich bleibt. Es ist also die Wirkung des betreffenden Muskels genau das Gegenteil von der in den meisten Lehr- und Handbüchern der Physiologie beschriebenen, da die Tbyreoidea ein Punetum fixum bildet, dem die beweglichere Crieoidea sich nähert. Infolge dessen ist H. der Meinung, dass die Benennung „thyreo-ericoideus“ tür besagten Muskel vorzuziehen sei. Dies Resultat stimmt auch zu den ältern Beobachtungen von Magendie, Longet u.a., die bei den neuern Autoren zu wenig Be- rücksichtigung gefunden haben. Die zweite Reihe von Versuchen bespricht das Verhältniss zwi- schen dem hohen Luftdruck in den Lungen, wie er beim Singen hoher Töne vorkommt, und der Spannung der Stimmbänder. Zu diesem Zwecke wurde die Luftröhre eines soeben getöteten Hundes in der Nähe der Bifureationsstelle durehschnitten und eine T-Röhre ins obere Stück fest eingebunden. Eine Oeffnung dieser Röhre stand mit einem Fiek’schen Manometer in Verbindung, um den angewandten Luftdruck zu notiren. Die partielle Verschließung der Glottis, wie sie unter solchen Umständen im Leben vorkommt, wurde durch Tamponiren mit Watte und Gips oberhalb der Stimmbänder nachgeahmt. Diesel- ben Stifte, die zu den vorigen Versuchen gedient hatten, schrieben die Stellung der Knorpel neben der Manometerkurve auf. Hierbei zeigte sich, dass die von unten eingeblasene Luft den Kehlkopf als Ganzes hebt, da die Ringknorpel auseinander getrieben werden, während der in die Cricoidea gesteckte Stift höher steigt, als der zur Thyreoidea gehörige. Es werden also die beiden Knorpel gegeneinander gescho- ben und zwar so, dass die vordern Teile sich nähern, mit andern Worten so, dass die Stimmbänder gedehnt werden. Nach H. ist die Ursache dieser Dehnung im Bau des Kehlkopfes zu suchen, da die Bewegung, die zur Streckung der Stimmbänder führt, den Raum im Kehlkopf vergrößere, weil die Verkürzung von oben nach unten durch die Verlängerung von vorn nach hinten überkompensirt werde. Diese Ansicht konnte Verf. durch den umgekehrten Versuch in überzeugender Weise bestätigen. Fixirt man nämlich den Kehlkopf durch genaue Tamponade des Pharynx und Oesophagus, während die zwischen dem 2. und 3. Ringknorpel durehschnittene Trachea mit einem Manometer in Verbindung steht, so kann man die Aenderungen 512 Scudder, Eine riesige Stabheuschrecke aus der Kohle. im Rauminhalt des Kehlkopfes bei Dehnung der Stimmbänder genau notiren. H. fand, dass Reizung der Museuli thyreocricoidei eines kleinen kurarisirten Hundes eine Raumzunahme des Larynx von 0,15 cem bewirkte. Somit scheint der Beweis geliefert zu sein, dass der er- höhte Luftdruck beim Singen hoher Töne von großem Einfluss auf die Stimmbandspannung ist. H. P. Bowditch (Boston). Scudder, Eine riesige Stabheuschrecke aus der Kohle. In dem vierten, am 2 März d. J. ausgegebenen Heft der neuen ameri- kanischen Zeitschrift Science gibt Samuel H. Scudder die Abbildung einer riesigen Stabheuschrecke (walking-stick), welche von Charles Brongniart in der obern Kohlenformation von Commentry Dpt. Allier aufgefunden und unter dem Namen Titanophasma Fayoli in den Comptes rendus vom 11. De- zember vor. J. beschrieben worden ist. Andere kleinere Arten derselben Gruppe sind aus demselben Becken bekannt geworden, von denen eine vor fünf Jahren von Brongniartunterdem Namen Protophasma Dumasiü beschrieben worden ist. Diese Funde sind, wie Verf. hervorhebt, aus einem doppelten Ge- sichtspunkte interessant. Einmal nämlich, dass wir den morphologisch so ausgeprägten Formen der „wandelnden Aeste“, die man sich naturgemäß nur als das Endglied einer langen Entwicklungsreihe vorstellt, schon in so früher Zeit begegnen. Dann aber haben die Hinterflügel dieser Insekten, die man bei einigen Exemplaren von Protophasma noch in Verbindung mit dem Leibe angetroffen hat, eine Beschaffenheit, die ganz an die von Neuropteren erinnert, sodass die losgelösten Flügel derselben, die man vielfach in Kohlenlagern beider Erdhälften aufgefunden hat, auch stets als Neuropteren (Dietyoneura, Paolia, Haplophlebium) beschrieben worden sind. Wie dadurch diese alten Stabheuschrecken von den lebenden Formen der Gruppe beträchtlich abweichen, so scheint sich andererseits in ihnen eine Verbindung zwischen den zwei ge- trennten Ordnungen der Orthopteren und Neuropteren herzustellen. Nach brief- licher Mitteilung Brongniart’s besitzt derselbe übrigens allein aus dem Kohlen- becken von Commentry über 550 Stücke von Arthropodenresten, und unge- fähr ebensoviel, meint Verf., dürften die Kohlenlager Amerikas ergeben haben, sodass wir noch weitern interessanten Enthüllungen über die alte Insekten- fauna unserer Erde entgegensehen dürfen. Ed. Seler (Krossen). Mit einer Beilage der Verlagsbuchhandlung Joh. Ambr. Barth in Leipzig. Die Herren Mitarbeiter, welche Sonderabzüge zu erhalten wün- schen, werden gebeten, die Zahl derselben auf den Manuskripten an- zugeben. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut“ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen, Bioloeisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Im. Band. 1. November 1883. Nr. 17; Inhalt: Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger (Schluss). — E. du Bois-Rey- mond, Ueber sekundär-elektromotorische Erscheinungen an Muskeln, Nerven und elektrischen Organen. — Romiti, Ueber eine sehr seltene Varietät des Nasenbeins. — ruber, Bemerkungen über die Kerne von Actinosphaerium und Amoeba proteus. — Müllenhoff, Entstehung der Bienenzellen. — Behrens, Saftzirkulation der Pflanzen. Harvey und seine Vorgänger. (Schluss.) Kap. XIV. Harvey’s Stillschweigen über die eigentlichen Entdecker. Harvey zitirt den Galen, Aristoteles, Erasistratus, Vesal, den Realdo Colombo, Aranzi und Fabricius de Aquapendente. Er zitirt nicht den Cesalpin und den Michael Servet. Und er kannte sie doch. Er konnte sie kennen; denn ihre Werke waren viel verbreitet, ganz besonders verbreitet in Padua, wo Harvey vier Jahre studirte. Er musste sie kennen; denn Harvey jagte nach Büchern, aus denen er lernen konnte: er verschonte keines, das ihm je zu gebote stand, und prüfte es an der Wahrheit der Natur. Er hat sie gekannt. Denn er braucht ganz dieselben Argumente wie jene, und er braucht sie in derselben Form. Doch auch als Denker folgt er deutlich ihren Spuren. Harvey ist Aristoteliker grade wie Cesalpin. Er ist Freidenker bei aller seiner aufrichtigen Frömmigkeit, grade wie Servet, zu geschweigen, dass der größte englische Harvey-Kenner der Neuzeit, Robert Willis, ihn gradezu zum Antitrinitarier und Socinianer stempelt. Wie Michael Servet überall, wo er dazu im stande ist, in der Theologie, Philosophie, Psychologie, Geographie, Astronomie, Meteoro- logie, Mathematik, zur Klärung und Prüfung der hergebrachten Mei- nung die Experimente, die Sektionen, die Beobachtung heranzieht 33 514 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgäuger. und für alle Wissenschaften Erfahrungsgrundsätze obenan stellt: so William Harvey. Aber neben dem Realen halten beide mit eiserner Zähigkeit an der Welt der Ideale fest. Und da ist es auffallend, wie der große englische Experimentator sich immer grade dann statt zu den Realien zu den Idealen bekennt, wo es vor ihm Servet getan. Ueberdies nennen beide die Gottheit mit dem damals ungewohnten Namen die Weltseele, beide brauchen gar gern den Ausdruck „die vorsehungsvolle Natur“ (natura provida, providentia naturae); beide glauben, dass diese Unterwelt ein treues Abbild und eine Rückwir- kung der Oberwelt ist!), beide sehen in des Menschen Seele ein erdiges und ein sterniges Element, beide wollen und können vom bewegten Blut den bewegenden himmlischen Geist nicht trennen; beide unterscheiden Wasser, Luft und Feuer als die obern Elemente von der Erde als dem untern Element. Physiologisch schreiben beide gegen Aristoteles dem Weibe bei der Fötusbildung eine wichtige Rolle zu, dem Fötus aber, ohne Hilfe des Weibes, eine selbständige bewegende Kraft. Und wie Servet, nachdem er die Kräfte des Herzens und des Hirns gezeigt, daran erinnert, dass im Hirn nur durch eine ideale Kraft die Vor- stellung und der Gedanke entsteht, von den Arterien des Verstandes und dem Pulsiren der Seele redet und dann bei der Darstellung des fötalen Lebens darauf zurückkommt, dass das erste bei der Erzeu- gung nicht Vater noch Mutter noch auch das Ei ist, sondern die feu- rige Kraft des Samens, ein Symbol der Idee, der Seele, des gött- lichen Lichts, jenes Liehts, das Aristoteles und Galen vergeblich gesucht hätten: gradeso zieht William Harvey die Erzeugung der Vorstellung im Hirn vermöge der Geisteskraft (vi animi) heran, um daraus sein Theorem herzuleiten, dass der Fötus im Mutterleibe nicht durch den Samen des Mannes, noch durch den Samen des Weibes, noch auch durch das Ei entstehe, sondern durch das Geistbild (phan- tasma), dessen Kraft und Energie das Ei hervorrufe. Denn, sagt Harvey, die Natur und Ordnung der Erzeugung übertrifft weit die Fassungskraft der vernünftigen Seele. Ist sie doch gradezu wun- derbar und göttlich, mehr als irgend wer im Denken oder Sinnen begreifen kann (Opp. ed. 1766 p. 551). Daher ist diese Spekulation nicht ohne Nutzen für jene Philosophie, die da lehrt, dass alles aus nichts entstanden sei (p. 337). Bei der Erzeugung bemerkt man so recht den allgütigen, ewigen, allmächtigen Gott, dessen Winken die Natur dient; alle sterblichen Dinge aber laufen auf tausend Weisen 4) Mundus inferior superioribus lationibus adeo continuus est, ut omnes ejus motus et mutationes inde originem sumere et gubernari videantur. Pro- fecto in mundo isto res inferiores et corruptibiles superioribus aliis et in- corruptilibus subserviunt (Opp. Harvei ed, 1766 p. 529). Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 515 ganz von selbst dem Verderben zu (p. 338. 358. 370. 384. 418 sq. 529). Diejenigen nun, welche bloß die Materie als Ursache ansehen, oder den mehr oder minder freiwilligen oder zufälligen Zusammenlauf der Elemente, oder eine verschiedenartige Ineinanderfügung der Atome, berühren das nicht, was die Hauptsache in den Werken der Natur ist: denn sie übersehen die bewirkende Ursache, die Gottheit, deren Wink die Natur dient, und verweigern dem himmlischen Bau- meister die Ehre (p. 220). Denn es gleicht der Aufnahme und Vor- stellung im Gehirn die Aufnahme und Empfängniss in der Gebär- mutter. Es gibt in der Gebärmutter oder im Ei eine Gestalt oder Form des Hühnchens, in derselben Weise wie in dem Künstler (in artiicee — Servet’s Lieblingsvergleich in der Restitutio) der Plan seines Werkes vorhanden ist, in dem Hirn des Architekten (Ser- vet auch wählt diese Spezifikation) der Plan (ratio) des Hauses. Daher wird auch nach dem Coitus nichts körperliches in der Gebär- mutter zu finden sein (p. 602 sq.). Denn des ewigen Schöpfers gött- licher Gedanke (mens) prägt sich den Dingen ein und erzeugt in dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen das Bild seiner selbst (p. 600). Durch diesen göttlichen Wink, welcher der Natur aller Dinge einwohnt (numen infusum — ein echt servetanischer Gedanke), wird jedes Einzelne geleitet. Dabei soll man nicht herumstreiten, welcher Name dieser ersten Ursache (primum agens) zu geben sei, ob göttlicher Sinn, wie Aristoteles, oder Weltseele, wie Plato, oder die naturirende Natur oder mit den Heiden Saturn oder Ju- piter, oder vielmehr, wie es uns geziemt (decet), der Schöpfer und Vater alles dessen, was im Himmel und auf Erden ist (420 ef. 385). Und wie nun in der großen Welt alles des Allvaters (Jovis) voll ist (echt servetanisch), so grade leuchtet aus dem Körper des Hühn- chens und aus seinen einzelnen Bewegungen und Handlungen der Finger Gottes (digitus dei) oder der Wink der Gottheit hervor (p. 419). Und auch darin liegt bei der Zeugung der Tiere ein größeres und göttlicheres Geheimniss (majus et divinius mysterium, ein echt ser- vetanischer Ausdruck), dass das Ganze früher hingestellt und be- schlossen wird (decernitur), als seine Teile, die Mischung früher als die Elemente (p. 355). „Und wenn auch unsere ganze Vernunft und Einsicht aus der Einsicht Gottes, die in ihren Werken wirkt, herfließt“ — so lehrt Servet immer — „so ist doch derjenige Teil der Seele gewissermaßen noch vorzüglicher und göttlicher und dem Bilde der (schaffenden) Gottheit ähnlicher, der einen Menschen her- vorbringt [quae hominem fabrieat (384 sq.)]. Zuerst ist eine bloße Vorstellung da, grade wie alle die Meinungen, die wir heute hoch- schätzen, ursprünglich bloße Ideen und Einbildungen (imaginationes) waren, bis sie durch sinnlich wahrnehmbare Experimente und Er- kenntniss der notwendigen Ursachen bestätigt werden und vollern Glauben gewinnen“ (p. 596 sq.). Alles das sind servetanische 39° 516 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. Gedanken, die bei Harvey wiederkehren. Ja wie bei Servet alle Zeugung des Menschen theologisch, psychisch und physiologisch aus der Zeugung des vorbildlichen Menschen, Christus, erklärt wird, so auch hält nach Harvey die gebräuchliche Zählung der Schwangerschaftsmonate die Zeit Christi, unseres Heilandes, des vollkommensten Menschen, fest, die er im Mutterleibe zu- gebracht hat. Und die klugen Frauen, welche bei ihren Rechnungen diese Norm unterlegen, haben sich selten getäuscht (p. 548 sq.). . . . Mit Michael Servet so innig übereinstimmend in der Embryo- logie, Physiologie, Theologie, Astrologie, Philosophie, hat William Harvey den Servet nicht genannt, weil er ihn nicht nennen durfte, wollte er nicht gegen sich „schlimmen Streit heraufbe- schwören“; weil er ihn nieht nennen durfte bei Todesstrafe. Und ähnlich stand es, wenn auch nicht so schlimm, mit Cesalpin. Als Gegner der Kirchenlehre von der Trinität unter zustimmen- dem Jauchzen der ganzen Christenheit war der Spanier auf dem Genfer Scheiterhaufen verbrannt worden. Cesalpin, Freidenker wie Servet, Freund des Trismegistus und Vorläufer des Spi- noza, konnte nur durch Widerruf sein eigenes Leben retten. Anders Matteo Realdo Colombo. Klerikal gesonnen, Freund mehrerer Kardinäle und Schmeichler des inquisitorisch gesinnten Papstes Paul IV. war sein Andenken wolgelitten am englischen Hofe, an jenem gefährlichen Hofe, dessen Königin eine eifrige Katholikin, dessen König ihr innerer Bundesgenosse war. Verächter des pro- testantischen Volkes, Feind aller Puritaner und mehr noch der Freiden- ker, systematischer Anhänger eines strammen bischöflichen Regiments, ist Harvey’s königlieher Gönner der Mann, der die renitenten Parla- mentsmitglieder in den Kerker warf, das Strafverfahren gegen Wie- dertäufer und Antitrinitarier aufs äußerste verschärfte und dem Blut- bad, das Irlands Katholiken unter den Protestanten anrichteten, Bei- fall zulächelte. Bekanntlich musste er 1649 selbst das Schafott be- steigen. Ein Leibarzt, der unter einem so tyrannischen Fürsten gewagt hätte, zu Cesalpin oder gar zu Michael Servet sich zu bekennen, er würde grade so sicher hingerichtet worden sein, wie Harvey’s Zeitgenosse, der sächsische Reichskanzler Nikolaus Crell am 23. Oktober. 1591 zu Dresden nach zehnjähriger Festungs- haft wegen Irrlehre hingerichtet wurde. Und Crell war nicht einmal Freidenker, sondern ein Protestant, der den Mut hatte, nach Christo, und nicht nach Luther oder Calvin heißen zu wollen. Das protestantische England mit dem unabhängigen Forscher- geist, aus dessen freiem Wesen die Harvey-Jubilanten Harvey’s große Entdeckungen sich erklären, existirte zu Harvey’s Zeiten nicht. Und auch später lange noch nicht. Harvey starb am 3. Juni 1658. Und noch 1662 am Bartholomäustage zwang der Sohn des hin- gerichteten ersten Karl, König Karl I., durch seine Uniformitäts- Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 517 akte zweitausend englische Geistliche, ihre Stelle niederzulegen, weil sie nicht in jedem der 39 Punkte auf den Glauben des ka- tholisirenden Königs sich verpflichten wollten. Selbst stille Gebets- vereine in den Dachstuben galten als staatsgefährliches Verbrechen. Die Irrlehrer wurden verbannt. Und kein Verjagter durfte seinem Dorf oder irgend einer englischen Stadt je wieder näher als fünf englische Meilen kommen. Zwölf Jahre nach Harvey’s Tode, 1670, wurde die Kar auke, akte noch verschärft. Ja noch zwanzig Jahre nach Harvey’s Tode durfte a in England wagen, öffentlich zu Männern wie Cesalpin und Michael Servet zu halten. Bis 1828 hat Karl II. Uniformitätsakte geherrscht, welche alle Nonkonformisten vom Parlament und Staatsdienst aus- schloss, also auch vom Amt eines königlichen Leibarztes, an dem Harvey so viel gelegen war. Unter dem Sohn von Harvey’s Gönner haben wegen Weigerung, sich eidlieh dem Staatsglauben zu unterwerfen, 80000 Engländer alle Arten von Verfolgungen leiden müssen: 8000 allein büßten um des Gewissens willen ihren Glauben im Gefängniss. Karl II. Nachfolger aber, Jakob II., trat offen zur katholischen Kirche über, um den letzten Rest des freien Glaubens durch strenge Regierung ohne Parlament aus England auszutilgen. Zwar brachte sein Eidam, der herrliche Wilhelm von Ora- nien, dreißig Jahre nach Harvey’s Tode für England eine neue Zeit herauf. Für einige Dissidenten gab er 1689 die berühmte Dul- dungsakte. Aber freie Denker, wie den Peter Bayle, ließ er (1693) ihres Amts entsetzen und die Partei Servet’s, die Socinianer, schloss er ausdrücklich von jeder öffentlichen Duldung aus. Es haben manche Harvey’s Charakter bis in den Himmel er- hoben, grade wie die Legende Harvey’s Mutter zur besten aller Frauen gemacht hat, darum weil — man von ihr nichts weiß. Allein eine Prädestination zum Märtyrer hat doch niemand bei dem Manne finden können, der seinen Glauben immer möglichst geheim hielt und seinen königlichen Woltäter im Stich ließ, sobald das Glück die Fahnen des Königs verlassen hatte. Kein Wunder also, dass Har- vey, selbst wenn er sie auswendig gewusst hätte, den Cesalpin und Michael Servet nicht nemnt. Kap. XV. Harvey’s Verdienst. Die alte physiologische Geschichtsschreibung ist gewöhnt, die Geschichte der Entdeckung des Blutkreislaufs in zwei große Teile zu teilen: die Jahrtausende vor Harvey und die moderne Zeit, oder die Geschichte des Wahns und die Geschichte der Wahrheit. Vor Har- vey Faselei, Träume, Hypothesen, Autoritätsglauben. Seit Harvey Experiment, Vivisektion, Natur, nackte Wirklichkeit. 518 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. Diese historische Schule ist veraltet. Heute weiß man, dass vor Harvey der Blutkreislauf bekannt war. Harvey, der große Harvey, ist nicht der Mann, welcher, wie seine Monumente verkünden, die Erzeugung der Tiere enthüllt hat. Er hat aber auch den Blutkreislauf nicht entdeckt. Er hatin jenem wichtigen physiologischen Vorgange die einzelnen Stationen des Blutweges durch den tierischen Körper »icht zuerst, ja keine einzige dieser Stationen zuerst entdeckt. Mehr noch, das was den Kreislauf erst zum Kreislauf macht, den wirklichen fortwährenden Uebergang des Blutes aus den Arterienenden in die Ve- nenanfänge hat er nie im Leben gesehen. Die Anastomosen, von denen er redet, dem alten galenischen Ausdruck einen neuen Sinn gebend, diese wirklich vorhandenen Mündungen hat Harvey ebensowenig gesehen, wie Galen die fälschlich vorausgesetzten Ana- stomosen in dem ganzen Parallellauf von Venen und Arterien gesehen, oder wie Vesal die fälschlich vorausgesetzten Poren in der mittlern Herzscheidewand gesehen hat.. Es war eine Sache des Glaubens, ein Induktionsbeweis für die, welche selbst alles sehen wollten, für Bartholin, Kasp. Hoffmann, Riolan den Jüngern, Marquart Schlegel ohne Beweiskraft, weil sie oder solange sie ebenso wenig das Mikroskop kannten, wie Harvey selbst. Aber wie die alte Schule veraltet ist, so ist die moderne Schule unreif, welche Harvey zu einem feigen Plagiator und elen- den Compilator stempeln möchte und in ihm einen Prahler sieht, der in fremden Federn dahergeht, ohne etwas anderes zu leisten, als fremdes Gut aufzustapeln, um es der Welt als eignes zu zeigen. Male sibi consuluit iste Anglus. Kein einziger der VorgängerHarvey’s hat den großen Kreislauf, den eigentlichen Kreislauf bei dem wachen und gesun- den Menschen so dargetan, dass kein Zweifel obwalten könne. Bei allen seinen Vorgängern von Vesal-Servet-Colombo bis Cesalpin-Fabricio-Rudio gibt es für die Leser Zweifel, wolberechtigte, wissenschaftliche Zweifel, ob ihre Worte so oder anders oder noch anders zu verstehen sind, ob die Autoren diesen oder jenen Vorgang beim Blutkreislauf wirklich gekannt oder nicht gekannt, verstanden oder nur geahnt haben. Bei Harvey und durch Harvey allein, bei Harvey und durch Harvey zuerst liegt der Vorgang mit solcher Augenscheinlichkeit zu Tage, dass jeder Nachdenkende sich sagen musste: diese unwahrnehmbaren Mündungen (imperceptibiles anastomoses), sie müssen vorhanden sein. Und Marcellus Malpighi aus Crevaleuore bei Bologna (7 1694 zu Rom) bewies und zeigte ihr Vorhandensein in der Lunge und in den Arterienenden wie in den Venenanfängen beim mikroskopisch unter- suchten Frosch, vier Jahre nach Harvey’s Tode (1661). Durch das ganze Mittelalter waren bei jeder Sektion und Vivi- Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 519 sektion zwei miteinander tätig: als Seetor der Chirurge, als De- monstrator der Arzt. Ohne den Sector konnte der Demonstrator nichts zum Augenschein bringen, ohne den Demonstrator der Sector kein Verständniss erzielen. Alles eigentlich Physiologische bei den Sektionen und Vivisektionen fiel nieht dem Chirurgen, sondern dem Arzte zu. Die Vorgänger Harvey’s haben ihm Chirurgendienste ge- leistet: ihre Sektionen und Vivisektionen hat er selbst alle und immer von neuem wiederholt. Ihre physiologischen Darlegungen hat er nur als Hypothesen gelten lassen, die als solche geprüft und immer wie- der geprüft werden müssen. Und nachdem er die eignen Sektionen und Vivisektionen zum klaren Abschluss gebracht, ist er als Meister- Demonstrator aufgetreten. Und da hat er den physiologischen Beweis des Blutkreislaufes so kräftig und schlagend durchgeführt, dass er zuerst und er allein ihm die Stimme der gelehrten Welt, Ja jedes nachdenkenden Menschen zu erobern wusste. Wenn wir daher behaupten: Harvey war nicht der Entdecker, sondern der De- monstrator des Blutkreislaufes, so liegt uns nichts ferner, als den großen Briten damit erniedrigen zu wollen. Es lässt sich nun einmal nichts mehr an der Tatsache ändern, dass der kleine Blutkreislauf 82 Jahre vor Harvey durch Michael Servet, der große 59 Jahre vor Harvey durch Andreas Cesalpin entdeckt worden sind. Aber wenn der große Büchergelehrte und viel- belesene Bücherzitator aus Kent das wusste, wie er es weiß, so wäre es für ihn kein Verdienst, sondern eine Schande gewesen, alle Bemühungen, Beobachtungen und Experimente seiner Vorgänger, der Servet, Colombo, Valverde, Ruini, Rudio, Arranzi, Sarpi, Ruef, Cesalpin, Fabricio de Aquapendente unbe- nutzt gelassen zu haben. Es ist sen Verdienst, jedes, auch das geringste, was vor ihm seit Aristoteles und Galen über den Blut- kreislauf geschrieben worden war, gelesen, erwogen, geprüft, geklärt und so harmonisch Glied an Glied, Zelle an Zelle zusammengefügt zu haben, dass durch ihn und seit ihm ein physiologisch leben- diges Ganzes vor uns steht, ein lebendiges Ganzes, das nichts mehr an sich trägt von dem Fragmentarischen, Torsoartigen, Traumhaften der Gebilde seiner Vorgänger. Der Blutkreislauf war bis auf Harvey vielen als ein Gespenst erschienen: seit Harvey’s Meisterschrift von 1628 ist er Leben und Wahrheit. Kap. XVI. Harvey’s Meisterschrift. Die Widmungen. In der Widmung seiner Meisterschrift nennt Harvey das Herz mit Aristoteles den Regenten aller Teile des Leibes, die Sonne der kleinen Welt, das Prinzip des Lebens. So sei der König die Sonne der großen Welt. Und König Karl, den Harvey (nicht die Weltgeschichte) als tugend- und gnadenvoll preist, nennt er den neuen Lebensglanz, das wahrhafte Herz seines Jahrhunderts. Darum 520 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. widme er ihm die Schrift über das Herz, da es für einen König sich lohne, sein eigen Herz zu erkennen und ein Königsherz das göttliche Muster seiner königlichen Macht sei. Auch einen Verteidiger des Glaubens entblödet sich Harvey nicht den Mann zu nennen, welcher durch seine Glaubensverfolgungen verhasst, als Feind des Vaterlandes hingerichtet wurde (1649). Man darf bei der Charakteristik das nicht übersehen. Um sich nach allen Seiten hin zu sichern, reiht Harvey an seine erste Widmung eine zweite, die ihm ebenso nützlich wer- den musste, die an den Vorsitzenden des Kollegiums der Aerzte von London „den sehr berühmten und weisen Dr. Argent, seinen besondern Freund und an die andern gelehrten Aerzte, seine sehr geliebten Kollegen.“ Er behauptet hier, dass er häufig in seinen Vorlesungen seit neun Jahren seine neue Theorie von der Bewegung und den Funktionen des Herzens vorgetragen und siegreich bewiesen habe ?). Diese Theorie war von allen begehrt?) und von vielen gefordert worden. Jetzt, wo er sie dem Druck übergibt, fordert er seine Kol- legen als weiland Augenzeugen seiner Vivisektionen auf, ihm in der Verteidigung der Wahrheit beizustehen, da er gegen die immer noch allgemein angenommene Ansicht auftreten müsse. Seit- dem sie ihm beigestimmt, fürchte er nicht für einen Verwegenen zu gelten, da sonst „kein Kollegium so reich sei an bedeutenden Ge- lehrten.“ Die Geschichte freilich wusste bis auf Harvey von eng- lischen Celebritäten auf medizinischem Gebiete nichts. „Er habe in seiner Abhandlung sich nicht spreizen wollen mit dem Anführen von Namen der verschiedenen Anatomen, um seine Gelehrsamkeit zu erweisen.“ — Wir müssen das mit Renzi sehr be- dauern. Es wäre jedenfalls ehrlicher gewesen und praktischer, wenn auch weniger ehrenvoll. „Er wolle sich nur auf die Zergliederungen berufen und auf die Prüfung der Natur selbst.“ Nun, diesem Grund- satz hält er nicht Treue, da er in dieser einen kleinen Schrift den- noch zweiundachtzig mal andere gedruckte Werke zitirt. Und er weiß es selbst. Denn er korrigirt sich: „den alten Autoren habe er die ihnen für ihre Untersuchungen schuldige Ehre erwiesen. Ihre Nachfolger habe er übergangen?), um nicht Streitigkeiten hervorzurufen. Würde es sich doch nicht schicken, mich in Wettstreit einzulassen mit denen, die mir in dem Stu- 1) Sieveking und Willis haben diese handschriftlich vorhandenen Vor- lesungen gesehen und exzerpirt. Die Ausbeute für den Blutkreislauf ist aber gleich Null. Harvey liebt es über sein Ich den Mund voll zu nehmen. 2) Das ist wieder sehr übertrieben. Im Anfang wollte niemand etwas davon wissen. 3) Das ist nicht wahr. Er zitirt auch hier viele Moderne. Nur grade von den Entdeckern des Blutkreislaufs keinen außer Colombo. Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 591 dium der Anatomie vorangegangen sind und es mich ge- lehrt haben.“ Wir bedauern, außer vor Colombo und Fabricio nicht hier auch eine Verbeugung Harvey’s zu finden vor Servet und Cesalpin, Sarpi und Rudio. Wusste doch Harvey ganz genau, was er zu tun hatte. Denn, ehe man das Herz studirt und die Arterien, ihre Bewegungen, ihre Pulsschläge, ibre Geschäfte, ihre Rolle im Haushalt, ist es nötig, so beginnt er die Vorrede, die Werke der Vorgänger zu prü- fen und die allgemein verbreiteten Ansichten in Rechnung zu nehmen. Man muss das bestätigen, was richtig, umgestalten, was falsch ist, die Wahrheit suchen mit Hilfe anatomischer Zergliederungen, zahlreicher Erfahrungen und sorgfältig angestellter aufmerksamer Beobachtungen. Er zeigt dann in der Vorrede, dass alles, was bisher seit Aristoteles, Erasistratus und Galen bis auf Colombo, Hoffmann und Riolan über die Bewegungen des Herzens und seine Funktionen geschrieben wurde, voller Ungewissheit ist. Und darin hat er vollauf recht. Nur schade, dass er dabei nicht zeigt, was man bei Servet und Cesalpin bestätigen, was umge- stalten, was beseitigen müsse !). Kap. XV. Harvey’s Meisterschrift. Die Hypothesen. Im Werke selbst zeigt Harvey zunächst, wie er zur Abfassung dieses Buches gekommen sei. Bei den häufigen Vivisektionen habe ihn oft die Schnellig- keit der Herzbewegungen so in Staunen gesetzt, dass er nicht gewusst habe, wann die Zusammenziehung, wann die Ausdehnung des Herzens stattfnde? Auch sei bei manchen Tieren das Herz so klein, dass er sich in der größten Verwirrung befunden habe bei der Beobachtung seiner Bewegungen. Zuletzt habe er gedacht, jene Herz- bewegungen seien für uns ebenso unbekannt, als für Aristoteles die Ursache der Ebbe und Flut in dem schwarzen Meere. Ja das Herz sei in seiner Bewegung ein Geheimniss für jeder- mann, außer für Gott. Er habe daher lange nicht gewusst, welcher Meinung der verschiedenen Autoren er beipflichten solle. Endlich habe er den Faden gefunden, der ihn aus diesem unentwirrbaren Labyrinth herausführen sollte. Indess seine Ansicht habe den einen gefallen, den andern zu großem Anstoß gereicht. Darum müsse er sie nun begründen (Kap. T). Harvey schildert nun die bei den Vivisektionen beobachteten Bewegungen des Herzens. Wenn man, sagt er, die Brust eines noch lebenden Tieres öffnet, und die Kapsel, welche sie unmittelbar 1) Uebrigens hat Richet recht, wenn er in der Konfusion dieser Vor- rede die Rückwirkung der Konfusion der dargestellten Ansichten sieht. Den- noch war mehr Ordnung möglich. 599 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. umgibt, entfernt, so sieht man sofort, dass das Herz bald in Bewe- gung ist, bald unbewegt. Und dieser Augenblick der Tätigkeit ist von dem Augenblick der Untätigkeit deutlicher zu unterscheiden bei den Tieren mit kaltem Blut, wie z. B. den Fröschen, Schnecken, Fischen. Auch bei den andern Tieren werden sie offenbarer, sobald das Herz zu sterben beginnt. Die Bewegungen werden dann lang- samer, seltener. Im Zustand der Ruhe ist das Herz weich, flach, matt. In betreff seiner Bewegung sind vier Erfahrungen zu re- gistriren. „li. Es erhebt sich, stellt sich aufrecht, so dass es eine Spitze bildet, und in dem Augenblick schlägt es so stark gegen die Brust, dass man den Schlag an der Außenwand des Brustkastens fühlen kann. „2. Alle seine Teile ziehen sich zusammen: es scheint sich zu verengen, weniger breit und spitzer zu werden, wie man das bei den Kaltblütern am besten beobachtet. „3. Nimmt man das Herz eines noch lebenden Tieres in die Hand, so fühlt man, dass es in dem Augenblick, wo es sich bewegt, här- ter wird, grade wie man die Muskeln des Vorderarms sich ver- härten und widerstandsfähiger werden fühlt, sobald sie die Finger in Bewegung setzen. „4. Auch wird bei den Kaltblütern das Herz im Augenblick der Zusammenziehung bleicher; sobald die Zusammenziehung aufgehört hat, rötet es sich wieder. „Daraus erhellt deutlich, dass es sich mit Herzbewegung ähnlich verhält wie mit der Muskelbewegung. Und es liegt nahe, daraus zu schließen !), dass im Augenblick, wo das Herz sich zusammenzieht und die Herzwände sich verhärten, dass in dem Augenblick grade die Herzhöhlen sich verengen und daher das Blut herausjagen, was sie enthielten; dass aber in dem Augenblick das Herz seine Röte wie- dergewinnt, wo das Blut zurückkehrt in die Kammern. Durch die plötzliche Zusammenziehung wird das Blut, das sich in den Kam- mern befand, gewaltsam herausgetrieben. Der Herzschlag gegen den Brustkasten findet also statt im Augenblick der Zusammenziehung (systole) des Herzens und nicht, wie man gemeinhin glaubt, im Au- senblick der Ausdehnung (diastole). Das Herz ist tätig grade dann, wenn es sich zusammenzieht und seine muskulösen Wände verdichtet. Aber während die muskulösen Fibern der Herzwände alle kreisförmig sind, so gibt es noch eine andere Art muskulöser Fibern, die hori- zontal liegen und zwar innerhalb der Herzkammern. Und es ist ein wunderbares Schauspiel, wenn diese zungenförmigen kleinen Fibern zugleich sich zusammenziehen und etwas wie ein Netz bilden in der innern Herzwand, welches mit großer Kraft das Blut heraustreibt (Kap. II). 4) Nicht, sagt Harvey, ich habe es gesehen, sondern ich schließe es. Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 525 Von den Bewegungen des Herzens geht er nun über auf die bei Vivisektionen beobachteten Bewegungen der Arterien. „1) Im Augenblick wo das Herz sich spannt, zusammenzieht und gegen die Brust schlägt (systole), in demselben Augenblick dehnen und erweitern sich die Arterien (diastole) und findet ihr Puls- schlag statt. Ebenso geht der Pulsschlag der arteriösen Vene und ihre mit den Arterien des Körpers gleichzeitig stattfindende Erweite- rung in dem Augenblick vor sich, wo sich die rechte Herzkammer zusammenzieht und das Blut, das sie enthielt, herausjagt. „2) Sobald die linke Herzkammer sich zu bewegen aufhört und sieh nicht mehr zusammenzieht, hört der arterielle Puls auf; wenn sie sich nur schwach zusammenzieht, geht der arterielle Puls kaum merklich. Dasselbe findet statt betreffs der rechten Herzkammer und der arteriösen Vene. „3) Wenn irgend eine Arterie eingeschnitten oder durchlöchert ist, spritzt das Blut mit Kraft aus der Wunde in dem Augenblick, wo die linke Herzkammer sich zusammenzieht. Desgleichen wenn die arteriöse Vene eingeschnitten ist, spritzt das Blut mit Kraft heraus in dem Augenblick, wo die rechte Herzkammer sich zusammenzieht. „Ferner so oft man eine Arterie einschneidet, bemerkt man, dass das Blut immer in einem Augenblick nahe bei der Wunde, im andern Augenblick weiter ab von der Wunde aufspritzt; und der stärkere Wurf entspricht immer der Ausdehnung der Arterie und der Zu- sammenziehung des Herzens, d. h. dem Augenblick, wo das Herz ge- gen den Brustkasten schlägt. „Daraus folgt, dass die Ausdehnung der Arterien immer der Zu- sammenziehung des Herzens entspricht. Die Herzkammern dehnen sich aus, weil sie sieh anfüllen, grade wie ein Schlauch oder eine Blase. Keineswegs füllen sie sich an, weil sie sich ausdehnen, etwa wie ein Blasebalg. Auch hier also ist die allgemeine Meinung irrig. In demselben Maße als die Herzkammern mit Kraft sich zu- sammenziehen, in demselben Maße wird der Pulsschlag der Arterien kräftiger, voller, häufiger, schneller. Der Rhythmus der Pulsschläge entspricht durchaus dem Rhythmus der Zusammenziehungen des Her- zens. Und der Pulsschlag sämtlicher, auch der äußersten Arterien findet durchaus in demselben Moment statt, wie das Gegenschlagen des Herzens gegen den Brustkasten, was übrigens schon Aristoteles bemerkt hat. Der arterielle Puls ist niehts anderes als die Eindrän- gung (impulsio) des Blutes in die Arterien (Kap. III). Von der Bewegung der Arterien geht Harvey über zur Bewe- gung und den Funktionen der Vorkammern. „Bei den Vivisektionen gewahrt man, dass die Bewegung des Herzens nicht durchaus, aber fast in derselben Zeit stattfindet, als die Bewegung der Vorkammern. Ganz besonders bei den Kaltblütern und bei den sterbenden Tieren gewahrt man einen Zeitunterschied 524 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. in der Bewegung der Vorkammern ‘und der der Kammern selbst. Schon Galen hat beobachtet, dass beim Sterben die linke Kammer zuerst zu schlagen aufhört, dann die linke Vorkammer, darauf die rechte Kammer, endlich die rechte Vorkammer. Wenn die Kammern keinen Pulsschlag mehr aufweisen, pulsiren noch die Vorkammern. Zuerst ziehen sich die Vorkammern zusammen und dann erst das Herz selbst. So oft die Vorkammern sich zusammenziehen, werden sie bleicher besonders an den Stellen, wo sie mit wenig Blut in Berührung stehen, an ihren Enden und in der Nachbarschaft der Kammern. Auch im Ei, wie Aristoteles sah, und im Fötus bewegen sich und sind gerötet die Vorkammern, wenn die Kammern selbst noch bleich und bewegungslos verharren. Streng genommen, sollte man also nicht sagen, das Herz ist das erste, was lebt und das letzte, was stirbt, sondern die Vorkammern sind es. Merkwürdigerweise haben fast alle Tiere ein Herz, auch die ganz kleinen, wie die Krebse und Schnecken. Auch bei den Wespen und Fliegen habe ich es, sagt Harvey, mit Hilfe einer Lupe beobachtet. Aber bei den blutlosen Tieren schlägt das Herz außerordentlich langsam. Während des Win- ters hört bei solehen Tieren, wie ich bei der Schnecke beobachtet habe, sagt Harvey, das Herz zu schlagen auf, so dass dieser Tiere Leben dann dem Leben der Pflanze gleicht. Alle Tiere aber, die ein Herz haben, haben auch vor den Herzkammern Vorkammern oder etwas dem ähnliches (Kap. IV) „Durch diese Beobachtungen fand ich“ sagt Harvey „endlich den Mechanismus und den Nutzen der Herzbewegungen. „Die Vorkammer zieht sich zuerst zusammen. Durch ihre Zu- sammenziehung drückt sie das Blut, das sie enthielt, und da sie der Ausläufer der Venen ist, der Sammelplatz und der Behälter für das Blut, so kann sie auf diese Weise alles Blut hineintreiben in die rechte Herzkammer. Sobald nun die Herzkammer angefüllt ist, richtet sich das Herz auf und zieht alle seine Muskeln zusammen; die Herzkam- mern verengen sich und es findet eine Schlagbewegung statt. Infolge dieser Schlagbewegung wird das Blut von der rechten Vorkammer hinübergeführt in die Arterien. Die rechte Herzkammer schickt näm- lich das Blut in die Lungen durch jenes Gefäß, das man arteriöse Vene nennt, welches aber dureh seine Struktur, seinen Gebrauch und seine Anlage eine Arterie ist. Die linke Herzkammer schickt das Blut in die Aorta und mittels der verschiedenen Arterien in alle Teile des Körpers. „Diese beiden Bewegungen, die in den Vorkammern und die in den Kammern, folgen sich so schnell, so harmonisch und so rhythmisch, dass es wie eine einzige Bewegung erscheint, besonders bei den Heiß- blütern, deren Herz sich so schnell bewegt. So sind die Herzbewe- gungen gewissermaßen ein Verschlucken des Blutes der Venen durch die Arterien. Und der Nutzen des Herzens ist, den Durch- Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 595 o gang des Blutes nach den Extremitäten mittels der Arterien zu be- wirken, so dass der Puls, den wir in den Arterien fühlen, nichts anderes ist als die Eindrängung (impulsio) des aus dem Herzen ver- jagten Blutes. „Man hat das vielfach übersehen, weil man die Beziehungen des Herzens zur Lunge nicht kannte. Und diese hinwiederum übersah man, weil man die Anatomie bloß auf den Menschen beschränkte, statt alle Tiere zu Hilfe zu ziehen und insbesondere lebend. „Bei den Tieren, die keine Lunge haben, z. B. bei den Fischen, ist der Uebergang des Blutes der Venen durch das Herz in die Ar- terien sehr einfach. Aehnlich verhält es sich bei denjenigen Tieren, die zwar eine Lunge haben, aber nur eine Herzkammer, wie bei den Kröten, Fröschen, Schlängen, Eidechsen. Auch bei den Embryonen der Lungentiere mit zwei Herzkammern geht der Blutlauf direkt von der rechten in die linke Herzkammer. Denn da die Lungen im Mut- terleibe noch nicht zu arbeiten haben, so behandelt die Natur noch beide Herzkammern wie eine, was den Botal einst und mich selber früher, sagt Harvey, in Irrtümer verleitet hat. „Bei den edlern Tieren aber, sobald sie erwachsen sind, hat die Natur für zweckmäßig gefunden, jene breiten Anastomosen zu schließen und das Blut enen Umweg zu führen durch die Lungen. Warum das die Natur für zweckmäßig hielt, darüber hat Harvey seine eignen Gedanken, die er einmal in einer besondern Abhandlung ver- öffentlichen will. Vielleicht, meint er hier, geschieht es, um das Blut durch die eingeatmete Luft zu erfrischen und so die Siedehitze, die Erstickung oder dergleichen zu vermeiden. Jedenfalls ist es eine Tatsache, dass bei dem Erwachsenen die Scheidewand zwischen der rechten und der linken Herzkammer ohne alle Poren ist, ja dich- ter und fester als irgend ein Teil des Körpers außer den Knochen und Nerven (Kap. VI vgl. Vorrede). Harvey zeigt nun zuerst, dass das Blut aus der rechten Herz- kammer den Weg durch die Lunge und von da durch die Lungenvene (arteria venosa) nehmen kann und darauf, dass es grade diesen Weg nehmen muss. „Da die Lungenporen beim Atmen sich fortwährend öffnen und schließen, so muss das Blut, welches bei der Zusammenziehung der rechten Herzkammer herausgestoßen wird, schwammartig durch die Lunge eingesogen werden, wie schon Colombo darauf hingewiesen habe wegen der Weite und ganzen Anlage der Lungengefäße und we- gen des Vorhandenseins desselben Blutes in diesen Gefäßen wie in der Lungenvene und in der linken Herzkammer. Und selbst Galen hat schon das Eindringen von einem Teil Blut aus der rechten Herz- kammer durch die Lungenarterie (vena arteriosa) in die Lungenvene (arteria venosa) und von da in die linke Herzkammer zugegeben und diesen Weg bewiesen aus den drei halbmondförmigen Klappen in 526 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. der Oeffnung der Lungenarterie (vena arteriosa), welche das einmal dort eingedrungene Blut nicht wieder zum Herzen zurücklassen. Sonst müsste ja, sagt Galen, das Blut, was eben erst in die Lunge einge- drungen ist, gleich wieder zurücklaufen und einen unnützen Weg ge- macht haben, wie das immerwährende Ebben und Fluten in dem Schwarzen Meere, eine Bewegung, die dem Blute und der Atmung sicher nicht heilsam wäre. Darum hat der Schöpfer die Klappen ge- macht, die einen, welche das in das Herz gedrungene Blut hindern, sofort wieder zu entfliehen; die andern, welche das aus dem Herzen ausgestoßene Blut verhindern, wieder zurückzukehren. Auch Harvey gesteht, dass er jene Poren in der Lunge nie gesehen hat, ja er hält sie für unsichtbar. Dennoch glaubt er daran, dass es einen fortwährenden Lauf des Blutes aus der Hohlvene in die Aorta durch die damals nur noch vorausgesetzten Lungenporen gebe. Warum auch würde sonst beim Menschen und bei den edlern Tie- ren die Natur zwei Herzkammern gemacht haben, da doch, sagt Harvey, bei allen lungenlosen Tieren für jenen Blutweg eine Herz- kammer genügt, wenn nicht die Natur wollte, dass das Blut durch die Lunge geführt werde (Kap. VII). „Dass nun ein Teil Blut durch die Lungen geht, möchten wol gewisse Autoren, gestützt auf Galen’s Zeugniss und Colombo’s Gründe, annehmen. Wenn ieh nun aber bei diesem Blutweg durch die Venen in die Arterien von der Masse des Blutes rede, könnte ich mir mit dieser neuen und ungewohnten Meinung“ — aber Servet lehrte sie doch sehon 1546 — „die Eifersucht mancher, ja die Feindschaft aller zuziehen, so sehr wird das allgemeine Vorurteil uns zur andern Natur, besonders wenn die Scheu vor einem hohen Altertum damit verbunden ist. „Nun habe ich aber bei den Vivisektionen und bei den Ader- lässen gefunden, dass die Natur nicht jenen Gefäßen eine so große Ausdehnung und einen so reichen Blutinhalt umsonst gegeben haben kann. Und indem ich nachdachte über den wunderbaren Me- chanismus der Klappen, der Fibern und der ganzen Struktur des Herzens und über die Sehnelligkeit der Bewegung von so viel Blut, sah ich ein, dass die Venen, bei der fortwährenden Blutspende an die Arterien bald sich erschöpfen und blutleer werden müssten, und dass die von den Speisen in der Leber (vgl. Kap. VII) präpa- rirten Säfte nicht so schnell neues Blut in genügender Masse dem Herzen wieder zuführen könnten, und dass die Arterien, wenn sie das Blut unaufhörlich in soleher Menge aufnehmen, ohne es wieder abzu- geben, brechen müssten. Und darum schloss!) ich auf eine fort- währende Rückkehr des Blutes aus den Arterien in die Venen und aus den Venen wieder in die rechte Herzkammer. Und ich fragte 4) Nieht: ich suchte und fand, beobachtete und sah. hr Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 597 mich, ob diese Rückkehr nicht ein wirklicher Kreislauf sei, grade wie Aristoteles redet von dem Kreislauf der Atmosphäre und der Regen, und wie die Sonne im Kreislauf sich bald von der Erde ent- fernt, bald sieh ihr nähert (!)!). Ebenso wahrscheinlich wird dureh die Bewegung des nahrhaften Blutes jeder Teil unseres Körpers er- nährt, erwärmt und belebt. An den Extremitäten angekommen, er- kaltet und gerinnt das Blut und wird träge. Da geht es denn zu seinem Ursprung zurück?), zum Herzen, wie zu dem göttlichen Schöpfer und Beschützer des Körpers, um dort seine Vollkommenheit wiederzuerlangen. Dort findet es jene natürliche Wärme, welche der Schatz alles Lebens und so reich an Lebensgeistern (spiritus vitales) ist. Von da geht es in die Extremitäten zurück. Und die Sehnelligkeit dieses Kreislaufs hängt ab von den Bewegungen und Pulsschlägen des Herzens. „So führt die Arterie das Blut vom Herzen weg in die Glieder, die Vene das Blut von den Gliedern weg zum Herzen; die Arterie kommt vom Herzen, die Vene geht zum Herzen. Die Alten freilich nannten die Arterien auch Venen. Und in vielen Tieren un- terscheidet sich die Struktur der Vene durch nichts von der Struktur der Arterie (Kap. VII)“. Kap. XVII. Harvey’s Meisterschrift. Der Beweis der Hypothesen. Im neunten Kapitel beweist Harvey den Blutkreislauf, indem er die erste seiner bisher aufgestellten. drei Hypothesen durch die Er- fahrung bestätigt. Harvey’s erste Hypothese lautete, das Blut, welches die Zu- sammenziehung des Herzens herausdrängt, wird aus der Hohlvene nach den Arterien in so großer Menge übergeführt, dass die Nah- rungsmittel dazu nicht ausreichen würden, um so weniger als die Gesamtheit des Blutes diesen Weg in sehr kurzer Zeit macht. „Nehmen wir aus Vernunftgründen oder aus Erfahrung an, die linke Herzkammer enthalte 1, 2 oder 3 Unzen Blut. In einem Leichnam fand ich dort über 3 Unzen. Nehmen wir ferner an, dass das Herz bei der Zusammenziehung irgend einenTeil Blut verliert, wie denn in der Tat die Herzkammer nach der Zusammenziehung stets weniger Blut hat, als vorher. Also ein gewisser Teil Blut geht in die Aorta, wie wir das bei jeder Zusammenziehung sehen. Wahr- scheinlich geht also in die Aorta der 4., 5., 6. oder doch wenigstens 8. Teil des Blutes, das in der Herzkammer war. Bei jeder Zu- sammenziehung des Menschenherzens wird also etwa 1 Unze oder drei Drachmen oder doch 1 Drachme Blut in die Aorta gehen. 4) Und doch war Copernicus schon Zeitgenosse Luther’s gewesen! 2) Wie Servet 1546 schrieb: unumquodque revertitur ad origimem suam (Restitutio S. 160). 598 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. „Nun aber zählt das Herz des Menschen in der halben Stunde 1000 Pulsschläge oder Zusammenziehungen, bei einzelnen sogar 2000, 3000 bis 4000 Pulsschläge. Multiplizirt man diese mitder Zahl der Drach- men, so ersieht man, dass in der halben Stunde aus dem Herzen in die Aorta mindestens 3000 Drachmen Blut übergehen, d. h. bedeu- tend mehr Blut, als im gesamten Körper sich befindet. Ebenso gehen beim Hammel in der halben Stunde 3!/, Pfund Blut aus dem Herzen, während sich in seinem ganzen Körper nicht mehr als 4 Pfund Blut befinden, wie ich mich dessen selbst überzeugt habe. „Nehmen wir nun, statt der halben Stunde, einen ganzen Tag, so erhellt, dass das Herz an die Arterien weit mehr Blut überführt, als es im stande ist den Tag über aus der Speise sich zu ersetzen. „Und die Masse des rechts empfangenen und links wieder abge- gebenen Blutes entspricht bei den verschiedenen Tieren immer der Struktur des Herzens, wie ich darüber reiche Erfahrungen ge- sammelt habe. Die Schnelligkeit des Blutwechsels hängt ab vom Tem- perament, vom Alter, von äußern Umständen und innern Gründen, vom Schlaf und der Ruhe, von der Nahrung, der Uebung, den Leiden- schaften u. dgl. m. „Deshalb genügt bei den Vivisektionen, wie schon Galen be- merkt hat, !/, Stunde, um alles Blut aus den Arterien, aus den Venen herauslaufen zu lassen, wie klein auch die Arterie sein mag, die man öffnet. Auch brauchen die Schlächter, wenn sie dem Ochsen die Halsadern geöffnet haben, um ihn zu töten, kaum !/, Stunde, bis er sieh ganz ausgeblutet hat. Beim Hunde ist eine wunderbar kurze Zeit dazu nötig. Unterbindet man aber die Aorta an dem Punkte, wo sie aus dem Herzen hervorgeht, und öffnet man dann irgend eine Arterie, so findet man alle Arterien blutleer und alle Venen blutüberfüllt [während sonst bei jedem Aderlass das Blut hoch aufspritzt aus den Arterien und kaum gelinde träufelt aus den Venen]. Bei den Leich- namen hingegen, wo die Lunge und das Blut nicht mehr in Tätig- keit sind, findet man daher fast kein Blut in den Arterien und so sehr viel Blut in den Venen, fast kein Blut in der linken Herz- kammer und so sehr viel Blut in der rechten. Und dieselbe Er- scheinung findet sich bei dem Fötus, weil seine Lunge nicht atmen und daher das Blut nicht anziehen kann (Kap. IX). „Man hat eingeworfen, auch ohne Kreislauf, bloß durch die Nah- rung allein, könne so viel Blut in die Arterien laufen. Gebe doch bloß durch die Nahrung allein eine Kuh den Tag über 3, 4, 7 Nös- sel Milch; eine Frau dem Kinde oder auch den Zwillingen den Tag über 1, 2, auch 3 Nössel. Ja aber ebenso viel und mehr Blut gibt das Herz in einer oder zwei Stunden“. Ganz besonders interes- sant ist der Experimentalbeweis, den Harvey beibringt aus dem Her- zen der lebendigen Schlange, an dem er zwei Todesarten nachweist: die Blutleere, die da erschöpft, und den Blutüberfluss, der da erstickt, Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 529 je nachdem man bald die Hohlvene unterbindet, bald wieder die Aorta an dem Punkte, wo sie im Herzen münden (Kap. X). Harvey’s zweite Hypothese war, dass das Blut durch die Arterien allen Teilen des Körpers sich mitteilt und zurückkommt durch die Venen; dass die Arterien vom Herzen ausgehen, um das Blut dem Körper zuzuführen, während die Venen der Rückweg des Blutes sind nach dem Herzen bin; dass aber die Mitteilung des Blutes aus den Arterien in die Venen stattfindet in den Ex- tremitäten des Körpers, sei es durch kleine Schleusen (anasto- moses), seies durch Einfilterung in die Poren des Gewebes. Man darf nicht vergessen, dass hier die Lupe, nicht bloß Harvey’s Gesicht versagt. Daher dies Schwanken, dies entweder oder, dies Zweifeln. Um nun die zweite Hypothese zu beweisen, macht Harvey zu- nächst aufmerksam auf den Unterschied zwischen dem losern und festern Verband. Zieht man die Bänder scharf an, wie bei den Amputationen, Kastrationen, Fleischgeschwülsten, Warzen, so hindert der Verband durchaus den Zufluss der nährenden Elemente und der Wärme. Bei dem lockern Verband hingegen werden keine Schmerzen verursacht und die Arterien schlagen noch schwach weiter unterhalb des Verbandes. Dieses Verbandes bedient man sich bei dem Aderlass. „Man mache z. B. das Experiment an dem Arm eines Men- schen. Man wähle einen magern Arm, an dem man die Venen sieht. Der Körper muss aber auch in den Extremitäten gut erwärmt sein, damit sich dort eine größere Menge Blut befinde und die Pulse kräf- tiger schlagen. „Ist der Kreisverband so vollständig, wie man es irgend ertragen kann, angelegt, so hört der Puls unterhalb des Verbandes voll- ständig zu schlagen auf. Oberhalb des Verbandes aber schlägt die Arterie, ja sie schwillt an, wie ein gehemmter Strom, der das ihm gebotene Hinderniss zu überwinden trachtet. Die Hand aber erkaltet nach einiger Zeit und kein Teilchen Blut dringt in sie hinein. Lässt man nun den Verband ganz allmählich nach, so genügen 10—12 Pulsschläge, um eine so große Masse Blut nach der Hand zu führen, dass diese anschwillt und sich färbt. Hält man nun in dem Augen- blick, wo man den Verband nachlässt, den Finger auf die Arterie, so wird man fühlen, wie die Pulsschläge zurückkehren in dem Maße, als das Blut leise in dieHand zurückkehrt. Und mit den Puls- schlägen wird die Person, der man den Arm verbunden hat, die Wärme und das Blut in die Hand zurückkehren fühlen. „Der enge Verband bringt die Arterien oberhalb des Verbandes zum Anschwellen, der loekere Verband bringt die Venen unterhalb des Verbandes zum Anschwellen, nicht aber die oberhalb des Ver- bandes. Ein enger Verband hindert durchaus den Lauf des Blutes, nicht bloß in den Venen, sondern auch in den Arterien. Ein leich- 34 530 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. ter Verband hindert nur das Zurückströmen des Blutes durch die Venen. Nimmt man den Verband ganz ab, so hört die Geschwulst auf, die dunkle Farbe der Hand schwindet und der, dem der Arm lange verbunden war, wird fühlen, wie ihn das kalte Blut mit einem Schauer durchrieselt von der Hand nach dem Ellenbogen und nach dem Herzen zurück. „Dadurch ist der Beweis erbracht, dass das Blut von den Ar- terien in die Venen läuft. „Wenn wir daher beim Aderlassen das Blut mit Gewalt hervor- spritzen lassen wollen, so legen wir den Verband an oberhalb und nieht unterhalb des Ortes, wo wir zur Ader lassen wollen. Käme das Blut aus den Venen oberhalb, so würde dieser Verband ein Hin- derniss sein und keine Hilfe. Legen wir den Verband unterhalb an, so kommt das Blut nur tropfenweise. Oeffnet man aber irgend eine Vene des Oberarms mit einem Skalpirmesser, so fließt aus der Wunde fast alles Blut des ganzen Körpers heraus (Kap. XI). „Aus alledem erhellt, dass das Blut fortwährend durch das Herz geht. Die Kraft des Aufspritzens kommt von der Kraft des Pulses und des Herzens: denn das Herz ist es, was ihm den Anstobß gibt. Und da das Blut, wollte man es nach einem Aderlass mit Hef- tigkeit ausströmen lassen, binnen einer halben Stunde fast ganz die Arterien und die großen Adern entleeren und Lipotomie oder Synkope zur Folge haben würde, so ist es vernünftig anzunehmen, dass binnen einer halben Stunde jene große Quantität Bluts durch das Herz fließt aus der Hohlvene in die Aorta. Da nun schon so viel Unzen Blut durch einen einzigen Arm laufen während zwanzig oder dreißig Pulsschlägen und entsprechend viel durch den andern Arm und durch die beiden Venen zu beiden Seiten des Halses und durch alle andern Venen des Körpers, und da die Venen es sind, welche fortwährend den Lungen und den Herzkammern eine neue Quantität Blut zuführen, so muss ein wirklicher Kreislauf stattfinden. Auch könnten weder die Nahrungsmittel so schnell so viel Blut schaffen, noch auch wäre zur bloßen Ernährung der Gewebe so viel Blut nötig. Merkwürdig ist auch, dass, wenn der Verband noch so richtig angelegt und die Ader mit dem Skalpirmesser noch so richtig geöffnet ist, jene Er- scheinung nicht eintreten wird, sobald den Patienten plötzlich Furcht oder Schreek oder Ohnmacht befällt. Das Blut spritzt dann nicht mehr, sondern tröpfelt leise; denn das Herz schlägt matt und hat keine Kraft, das Blut auszustoßen und den Verband durchdringen zu können. Aus demselben Grunde stehen die Monde und Blutflüsse der Frauen still. Sobald der Mut zurückkehrt und die Schlagkraft des Herzens wieder zunimmt, schlagen die Arterien von neuem (Kap. XII)!). 1) Die zweite und die dritte Hypothese sind hier bei Harvey nicht ge- hörig auseinander gehalten. Eigentlich hat es die zweite nur mit den Arterien, die dritte nur mit den Venen zu tun (8. Kap. IX im Anfang). Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 531 Die dritte Hypothese Harvey’s, dass das Blut durch die Venen aus den Extremitäten zum Herzen zurückkehrt, und dass die Venen grade diejenigen Gefäße sind, welche das Blut aus den Extremitäten zum Zentrum führen, beweist er aus der Form und dem Nutzen der von dem berühmten Hieronymus Fabrieius de Aqua- pendente oder schon von Jakob Sylvius entdeekten halbmondförmi- gen Venenklappen, die man für einen äußerst feinen Teil der in- nern Haut der Venen ansehen könne, der etwas in die Gefäße her- vorspringt; sie befinden sich in einer bestimmten Entfernung von- einander, sagt Harvey, und nicht immer an derselben Stelle bei den verschiedenen Individuen. Angelehnt an die Seitenwände der Vene, haben sie ihren Gipfel nach dem Ursprung der Vene gerichtet und sehen nach dem Licht des Gefäßes hin; sie hindern das Blut durch- aus, von dem Ursprung der Vene in ihre Verzweigungen oder von einer großen Vene in eine kleine abzufließen. Und wir müssen hin- zufügen, sagt Harvey, dass man in den Arterien keine Klap- pen findet. Am zahlreichsten sind sie immer an den Verzweigungs- stellen der Venen. „Für die Bewegung nun nach dem Zentrum hin beugen sieh diese Klappen leicht herunter, verhindern aber vollständig die entgegenge- setzte Bewegung. Auch wo sich zwei solcher Klappen gegenüberlie- gen, da halten sie mit ihren Säumen ganz fest aneinander, so dass man weder mit dem Auge noch mit dem Stilett die geringste Oeffnung bemerkt, sobald sie sich schleusenartig erheben. Aber sobald sie sich senken, lassen sie das Blut mit der größten Leichtigkeit hindurch. „So hindern sie durchaus, dass das Venenblut vom Herzen zu- rückfließt m den Kopf, oder in die Füße, oder in die Arme, oder aus den großen Venen in die kleinen. Dem Blut aber, das von den kleinen Venen in die großen läuft, lassen sie breite und leichte Bahn. Harvey macht das nun anschaulich durch vier Abbildungen eines über dem Ellenbogen verbundenen Armes. „So ist denn der Zweck dieser Venenklappen derselbe, als bei den drei halbmondförmigen Klappen an der Mündung der Aorta und der arteriösen Vene: nämlich die Mündung zu verstopfen und das einmal eingelassene Blut nicht wieder zurückzulassen (Kap. XI). „Somit ist aus Schlussfolgerungen und durch Vorweisungen be- wiesen, dass das Blut durch Lungen und Herz geht, dass es heraus- getrieben wird durch die Zusammenziehung der Herzkammern, dass es von dort in alle Teile des Körpers gejagt wird, dass es in die Poren der Gewebe!) und in die Venen eindringt, dass es darauf durch die Venen von der Peripherie in das Zentrum dringt und von den kleinen Venen in die großen, und dass es so endlich wieder in die Hohlvene und in die rechte Herzkammer gelangt. Und da die Menge 4) Hier also zieht Harvey diesen Weg vor statt der Anastomosen. 34* 532 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. des Blutes, welche vom Herzen in die Arterien niedersteigt und in den Venen zum Herzen wieder aufsteigt, viel größer ist, als es die Speise beschaffen und ebenso größer, als es zur Ernährung der Teile dien- lich sein könnte, so muss man notwendig schließen“ — nicht: man sieht es — „dass es bei den Tieren eine fortwährende Kreisbe- wegung des Blutes gebe, und dass es Aufgabe des Herzens ist, durch seine Zusammenziehung diese Bewegung zu veranlassen (Kap. XIV). Kap. XIX. Harvey’s Meisterschrift. Die Folgen der Hypothesen. „Auch lassen sich ohne die Annahme eines solchen Kreislaufes einige allgemein angenommene Meinungen nicht rechtfertigen. „Do sagt schon Aristoteles, dass alles Leben Wärme, alle Wärme Bewegung ist, dass das Herz das Prinzip des Lebens und der Herd der Wärme sei. Da nun in den Extremitäten das Blut sich immer wieder abkühlt und, sobald es stillsteht, gerinnt, so muss es fortwährend sich bewegen und zum Herde der Lebenswärme zurück- kehren. „Beim Erfrieren gleichen die Glieder bisweilen denen der Leich- name. Das Blut steht still. Durch eine Rückkehr des Blutes, wel- ches die Wärme vom Herzen den Gliedern wieder zuträgt, kehrt allein das Leben zurück. Und wie könnten sie neues Blut aufnehmen, wenn sie nicht das kalte zuvor zum Herzen zurückgeschickt hätten, um als Austausch das neue warme, von den Geistern beseelte Blut zu erhal- ten. Solange das Herz nicht erkaltet ist, kann jeder Körperteil wie- der zu neuem Leben sich erwärmen. „Nun hat das Herz nicht nur in der Arterie und der Kranzvene das Blut in sich, das es zur eignen Ernährung bedarf, sondern es ist auch der Aufbewahrungsort des Blutes für den ganzen Körper in seinen Kammern und Vorkammern. Alle andern Organe haben ihre Blutgefäße nur für sich selbst. Es ist die Heilquelle für alle Teile des Körpers. Der Teil hat aber immer die Tendenz, zum Ganzen zurückzukehren, wie sich bei der geringsten Ursache zeigt, bei der Kälte, der Furcht, dem Schreek und ähnlichen Erregungen. Dagegen bedarf es immer wieder eines gewaltigen Stoßes, um es vom Mittelpunkt in die Teile zu treiben. Und diesen Stoß gibt die Zusammenziehung des Herzens (Kap. XV). Harvey geht nun über zu den Konsequenzen des Blutkreis- laufs und nutzt sie aus als ein Argumentum a posteriori, indem er für eine große Anzahl sonst unerklärlicher Vorgänge den Blutkreislauf als Erklärung beibringt, wie z.B. für die Ansteckungskrankheiten (Ve- nerie), die Vergiftung durch Schlangenbiss oder durch einen tollen Hund, die Tertialfieber, die äußerlich angebrachten und doch innerlich wirkenden Medikamente. Dabei beharrt er bei der Ansicht, dass in den mesen- terischen Kapillarvenen es zwei entgegengesetzte Bewe- gungen gebe, die des Chylus nach oben, die des Blutes nach un- Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 535 ten, und sieht darin eine woltätige Vorsehung der Natur, in Anleh- nung an Aristoteles. Obwoler, wenn er die mesenterischen Venen öffnete, nie Chylus fand, sondern dasselbe Blut wie in den übrigen Venen, so glaubt er doch an das Vorhandensein des Chylus in diesen Venen und meint, dass die Natur darum die Leber diesem Chylus auf den Weg gesetzt hat, damit in den Meandern dieses Organs der Chylus aufgehalten und vollständig ausgebildet werde (Kap. XVI). Im letzten Kapitel bestätigt er den Blutkreislauf durch anatomi- sche Bemerkungen. „Es gibt Tiere ohne Herzen, wie z. B. die Verwesungswürmer, die Austern, die Muscheln, die Schwammtiere und alle Tierpflanzen. Sie brauchen kein Herz um ihre Nahrung anzunehmen, zu verarbeiten und abzuwerfen. Das ganze Tier ist gewissermaßen Herz. „Die geringe Größe der meisten Insekten hindert uns, sie näher kennen zu lernen.“ Man darf eben nicht vergessen, dass Harvey kein Mi- kroskop gekannt hat. „Doch kann man, fährt er fort, mit Hilfe einer Lupe bei den Bienen, Fliegen, Krabben eine Pulsation bemerken, auch, soweit die Körper durchsichtig sind, einen schwarzen Punkt bemerken. Bei den blutlosen und kaltblütigen Tieren, wie den Schnecken, Muscheltieren, Crustaceen, gibt es ein pulsirendes Organ wie eine Herzvorkammer ohne Herzkammer. Die Pulse gehen sehr langsam und man kann sie nur im heißesten Sommer bemerken. In der Kälte scheinen diese Tiere zeitweise gar nicht mehr zu leben. So gleichen sie bald den Tieren, bald den Pflanzen, wie die Insekten im Winter ein Pflanzen- leben führen. Zweifelhaft ist es bei den Tieren, die Blut haben, wie die Frösche, Schildkröten, Schlangen, Blutegel. Doch haben die größern Tiere und besonders die, welche wärmeres Blut führen, für ihre Nahrung und größere Kraftentwieklung einen Beweger nötig, und sie besitzen daher, wie Aristoteles lehrt, alle ein Herz, wenn auch nur mit einer Vorkammer und einer Herzkammer. „Die noch größern, heißblütigen und vollkommenern Tiere haben ein starkes, fleischernes Herz nötig, um ihren Bewegungen eine größere Sehnelligkeit und Gewalt zu geben. Und um ihre Speisen besser zu verdauen, bedürfen sie der Lungen und einer zweiten Herzkammer. Und da nimmt denn immer die linke, am besten ausgebildete Herzkammer, von der der eigentliche Herzstoß kommt, grade den Mittelpunkt des Körpers ein. Die rechte Herz- kammer ist die Dienerin der linken, um deren willen das ganze Herz gemacht ist. Auch ist die Dieke der rechten dreimal geringer, als die der linken. Doch hat die rechte Herzkammer eine größere Höhlung, weil sie nicht nur dasselbe Blut wie die linke aufnehmen, sondern noch obenein die Lunge ernähren muss, während bei dem Embryo das alles anders sich verhält. Sobald aber die Lunge in Tätigkeit treten muss, verschließt sich das ovale Loch zwischen den beiden 534 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. Herzkammern; der arterielle Kanal, die Herzkammern hören auf, eine Einheit zu bilden, und jeder der Herzkammern fällt ihre eigen- artige Aufgabe zu. Die rechte Herzkammer wirft das Blut nur in die Lunge, während die linke es dem ganzen Körper mitteilt. „Ueberdies gibt es im Herzen fleischerne Zünglein und viele fibrige Verknotungen, die Aristoteles Nerven nennt, und die, wie kleine Muskeln, bei der Zusammenziehung mitwirken und dem Ausstoß des Blutes eine größere Kraft verleihen. Bei all den Tieren, welche diese kleinen Herzmuskeln besitzen, sind sie zahlreicher und stärker in der linken Herzkammer. Beim Menschen finden sich diese Mus- keln auch zahlreicher in den Kammern als in den Vorkammern. Bei einzelnen Individuen fehlen jene Muskeln in den Vorkammern ganz. Bei den kräftigern Individuen sind sie zahlreicher, besonders bei den Landarbeitern, seltener bei den feinen Damen. Bei den kleinen Tie- ren, deren Herzkammern zart sind, fehlen diese Fibern ganz, wie z. B. bei den kleinen Vögeln, den Schlangen, den Fröschen, den Schildkröten, bei dem Rebhuhn, dem Huhn und bei den meisten Fischen. Bei bestimmten Tieren hat die linke Herzkammer solche fibrige Ver- knotungen, die rechte nicht: wo nämlich die Lunge schwammig ist und weich, wie bei der Gans, dem Schwan und den andern größern Vögeln, dringt das Blut leicht in die Lunge, obne dass ein kräftiger Anstoß not tut. Die linke Herzkammer hat solche Muskeln, weil es einer größern Kraft bedarf, um das Blut nach dem ganzen Körper zu versenden. „Gleichermaßen bedarf es bei einem zartern Körper nicht solcher Muskelkraft zur Verteilung des Blutes überallhin, als bei einem kräf- tig gebauten, widerstandsfähigern, bei dem alle Gewebe derber sind. „Auch sind die Herzkläppchen in der linken Herzkammer größer und stärker, als in der rechten und schließen fester, um ja das Zu- rückströmen des ausgestoßenen Blutes zu verhindern. „Auch finden sich überall Vorkammern, wo es Herzkammern gibt, um durch die Zusammenziehung den Anprall des Blutes zu ver- stärken, grade wie man beim Ballspiel den Gummiball weiter bringen kann, wenn er aufstößt, als durch einfachen Wurf. Auch geschehen alle Bewegungen der Tiere zuerst an einer Stelle des Körpers und vollziehen sich durch eine Zusammenziehung. So wird durch Zusam- menziehung der Vorkammern das Blut in die Kammern getrieben, durch Zusammenziehung der Herzkammern in den Körper. Auch weist schon Aristoteles darauf hin, dass Nerv von vevo (ich falte, ziehe zusammen) herkommt. Aristoteles hat die Muskeln gekannt, nicht aber ihre eigentlichen Funktionen. „So hat die göttliche, vollkommene Natur, die nichts vergeblich tut, den Tieren kein Herz gegeben, die keines bedurften und hat es nicht eher geschaffen, als bis seine Funktionen nötig wa- ren. Und jedes Tier dringt immer durch dieselben Stufen, Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. 535 jagewissermaßendurchdieverschiedenen Organisationen der Tierleiter!), indem es nacheinander Ei, Wurm, Foetus wird und in jeder dieser Phasen seine Vollendung erreicht?). Und Hippokrates hat recht, wenn er das Herz einen Muskel nennt, da das Herz die Funktion eines Muskels ausübt. Und Galen hat recht, wenn er im Herzen die verschiedenartigsten Fibern, aufrecht- stehende, transversale, schräge unterscheidet; aber mit jeder Herzbe- wegung verändern sie ihre Richtung. Auch hat Aristoteles recht, wenn er dem Herzen die Kraft eines Regulators zuschreibt; das Herz existirt vor der Leber und vor dem Hirn, gleichsam wie ein inneres Wesen, das vor allen Organen schon Leben hat; das übrige ist gewissermaßen sein Werk. Es ist das Oberhaupt des Staates, der Fürst, der alles ins Leben ruft und beherrscht, das Prinzip aller Macht. „Auch ist es merkwürdig, dass, je näher die Arterien dem Her- zen liegen, sie in ihrer Struktur um so mehr von den Venen sich un- terscheiden; um so kräftiger und fiberreicher sind sie. Je weiter sie dagegen vom Herzen abliegen, um so zarter sind sie, und um so schwerer können sie durch ihre Wände von den Venen unterschieden werden. Ganz natürlich: denn je näher sie dem Herzen liegen, desto stärker ist der Anprall, den sie auszuhalten haben. Auch nimmt der Anprall ab, je kleiner die Verzweigungen der Arterienstämme werden, so dass die letzten Kapillarverzweigungen wie Venen erscheinen. Auch fühlt man in ihnen den Puls nieht mehr. Nur bei besondern Erregungen fühlen wir in den Zähnen, den Geschwülsten, den Fingern die Pulse noch. „Ueberall stehen die Organe zueinander in richtigem Verhältniss. Bei den Fischen, Vögeln, Schlangen und derartigen Tieren, wo die Herzkammern zart sind, ohne Fasern, ohne Klappen, mit dünnen Wänden, da unterscheiden sich auch in der Dicke ihrer Wände die Arterien kaum von den Venen. „Und wenn die arteriöse Vene im allgemeinen die Struktur einer Arterie und die venöse Arterie im allgemeinen die Struktur einer Vene hat, so geschieht das darum, weil in Wahrheit, entgegen der landläufigen Meinung, aus dem Gebrauch und der Anlage erhellt, dass jenes eine Arterie, dieses eine Vene ist“?). „Alle diese anatomischen Beobachtungen und noch manche andere, die ich gemacht habe, bestätigen den Blutkreislauf; einen Vorgang, der für alle Teile der Medizin, für die Physiologie, Pathologie, Semio- tik, Therapeutik von den weitgreifendsten Folgen ist und der eine Menge von Zweifeln löst“ (Kap. XVII ef. XVD. 4) Ein schon servetanischer Gedanke. 2) Harvey ist Darwin’s Vorläufer. 3) Bekanntlich nennt man heute die Arteria venalis Lungenvene, die Vena arteriosa die Lungenarterie. 536 Henri Tollin, Harvey und seine Vorgänger. Kap. XX. Ergebniss. William Harvey hat, nur mit der Lupe bewaffnet, so großes geleistet, dass man nicht ausreden kann, was dieses Genie geleistet haben würde, wenn ihm, wie Malpighi, das Mikroskop zur Ver- fügung gestanden hätte. Aber der Entdecker des Blutkreislaufes ist Harvey nicht, wie sehr er auch, verführt durch die Gunst zweier Könige und die fast abgöttische Verehrung seiner Nation, sich einzu- reden suchte, dass er es sei. Und er hat es sich selbst eingeredet und zuletzt daran geglaubt, weil dieser Glaube nur zu bald das Dogma seiner Nation geworden war. Aberin den Augenblicken, wo er unbefangen ist, gesteht er zu, dass einige vor ihm, durch Galen’s Ansehen und des Columbus und anderer Gründe bewogen, die Wahrheit über die Blutwege gelehrt und der Meinung beige- pflichtet hätten, die er jetzt die seine nenne; ja dass manche lange vor ihm einen Blutkreislauf gekannt hätten, vermöge dessen fort- während Blut aus den Arterien in die Venen und aus den Venen zum Herzen zurückkehrt; dass er selbst die Bücher derer gern und fleißig gelesen, die uns die Fackel der Wahrheit vorangetragen hätten, den alten Autoritäten willig die ihnen gebührende Achtung zolle und nur darumdieModernennichtalle ausdrücklich genannthabe, um nicht Anlass zu Streitigkeiten zu geben; und dass er es sei, der den vor!) ihm entdeckten Blutkreislauf deutlicher, ge- ordneter, völlig der Wirklichkeit entsprechend (distineta valde, ordinata et verissima) und auf festen und notwendigen Grundlagen aufgeführt habe. Wir konstatiren esnoch einmal, Harvey, der Verfasser von „De motu eordis et sanguinis“ 1628, hat nicht den kleinen Blutkreislauf entdeckt. Den entdeckte Servet 1546. Harvey hat nicht den großen Blut- kreislauf entdeckt. Den entdeckte Cesalpin 1569. Harvey hat nieht die Venenklappen entdeckt. Die entdeckten Jakob Sylvius, Sarpi undam genauesten Aquapendente 1574. Harvey hat nicht die durchscehlagenden Beweise für den Blutkreislauf gegeben. Die gaben Servet, Colombo, Valverde, Aranzi, Ruini, Rudio, Sarpi, Cesalpin und Aquapendente. Harvey hat den Kreis- lauf des Blutes nie gesehen. Den sah Malpighi mehrere Jahre nach Harvey’s Tode (1661). Streng genommen hat auch Harvey nicht den Kreislauf be- schrieben, sondern einen doppelten Halbkreislauf. Ob in den Lungen und in den Extremitäten die Arterienenden mit den Venen- anfängen in Verbindung stehen durch Anastomosen, oder aber durch Einfilterung in die Poren des Gewebes, das hat er nie zu ent- scheiden gewagt, da die Lupe ihre Dienste ihm hier verweigerte. 1) 8. 586 Pflüger’s Archiv 1882 ist die Stelle verdruckt. Du Bois-Reymond, Sekundär-elektromotorische Erscheinungen. 537 Und doch, wenn zwei Halbkreise plötzlich aufhören, ohne nachweis- bare Fortsetzung, so ist kein wirklicher, kein geschlossener Kreis da. Aber darum bleibt Harvey doch einunvergleichliehes Genie. Denn „durch die Genauigkeit und Gründlichkeit der Induktion, durch die Geschicklichkeit, den Fleiß und die Reichhaltigkeit der Experi- mente, durch die Sorgfalt und Feinheit der Beobachtungen, durch den Scharfsinn und die Schneidigkeit der Beweisführung, dureh die Klar- heit und Wahrheit der gezogenen Schlüsse, durch die Neuheit und Wichtigkeit der eingeschobenen Reflexionen, vor allem durch den ein- heitlichen Zusammenhang des Ganzen“ hat William Harvey, der große Praemonstrator regius eireulationis sanguinis, die Bewegung des Herzens und des Blutes aus einer Hypothese dunkler Möglichkeit zu der klarsten Wahrscheinlichkeit, aus den Winkeln einzelner entlegener Studirstuben auf den Schild der öffentlichen Meinung, aus einer individuellen Ansicht einzelner Bevorzugter zu einem überall sanktionirten Dogma erhoben. Und in diesem Sinne kann man wol sagen: „Ohne die Schule von Padua, ja ohne Erasistratus, Aristo- teles, Galen, Servet, Vesal, Colombo, Cesalpin, Aqua- pendente kein Harvey, ohne Harvey aber keine Entdeckung des Blutkreislaufs.“ Henri Tollin (Magdeburg). E. du Bois-Reymond, Ueber sekundär-elektromotorische Er- scheinungen an Muskeln, Nerven und elektrischen Organen. Sitzungsberichte der k. preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. XVI. 1883. S. 343—404. Bereits in frühern Referaten fanden gelegentlich gewisse elek- tromotorische Erscheinungen Erwähnung, welche unter dem Einflusse eines fremden Stromes in der durchflossenen Strecke von Muskeln, Nerven und dem elektrischen Organ der Zitterfische sich entwickeln und von du Bois-Reymond als „sekundär-elektromotorische Er- scheinungen“ bezeichnet werden. Sie stellen im wesentlichen Polari- sationsströme dar, welche entweder „negativ“, d. i. dem erzeugenden Strome entgegengesetzt gerichtet, oder „positiv“ sind, d. i. mit dem- selben gleiche Richtung haben. Während die erstern bereits länger bekannt sind und zuerst von Peltier im J. 1836 beobachtet wur- den, wurde eine positive Polarisation als Folge elektrischer Durch- strömung erst von du Bois-Reymond nachgewiesen. Sie bildet eine charakteristische Eigentümlichkeit der genannten tierischen Ge- bilde im lebenden Zustande, während negative Polarisation auch an toten organischen und anorganischen Objekten vorkommt und hier von du Bois-Reymond eingehend untersucht wurde. Peltier verglich die von ihm beobachtete negative Polarisation 538 Du Bois-Reymond, Sekundär-elektromotorische Erscheinungen. durchströmter Froschgliedmaßen mit der Polarisation der Metalle und hielt die Ausscheidung von Wasserstoff und Sauerstoff an der Aus- und Eintrittsstelle des Stromes in die tierischen Teile für die Ursache der Spannungsdifferenz. Du Bois-Reymond fand dagegen später jeden beliebigen Abschnitt der intrapolaren Strecke eines längsdurchströmten Muskels oder Nerven nach Oeffnung des polarisirenden Stromes in gleichem (negativem beziehungsweise positivem) Sinne elektromo- torisch wirksam und vertritt daher die Ansicht, dass es sich hier hauptsächlich um sogenannte „innere Polarisation“ handelt. Wie schon erwähnt wurde, kommt die Fähigkeit, negative innere Polarisation anzunehmen, zahlreichen organischen und anorganischen porösen mit einem Elektrolyten getränkten Körpern zu. Der polari- sirende Strom teilt sich dann zwischen der schlechter leitenden trän- kenden Flüssigkeit und dem porösen Gerüst, wobei das letztere durch ausgeschiedene Jonen polarisirt wird. „Jedes der unzähligen Zwi- schenplättehen wirkt nun elektromotorisch im umgekehrten Sinne von dem, in welchem es durchflossen wurde.“ Aus der Superposition aller dieser Partialströme geht dann der durch einen angelegten Bo- gen sich ergießende Stromzweig hervor. Jede gleichlange Strecke eines solchen regelmäßig gestalteten (etwa zylindrischen) Körpers wirkt im allgemeinen nach der Durehstömung gleich stark sekundär elektromotorisch. Besteht nun zwischen den an Muskeln, Nerven und dem elektrischen Organ zu beobachtenden sekundär elektromotorischen Erscheinungen und den Polarisationserscheinungen an toten organi- schen oder anorganischen Objekten eine unmittelbare Analogie? Die im Folgenden mitzuteilenden Tatsachen werden zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Um die Polarisationserscheinungen an Muskeln oder Nerven zu untersuchen, bediente sich du Bois in der Regel des gehörig ange- spannten M. gracilis und M. semimembranosus, beziehungsweise der bei- den Ischiadiei eines Frosches. Je ein Paar unpolarisirbarer Elektro- den dienten einerseits zur Zuleitung des polarisirenden Stromes, an- dererseits zur Ableitung des Polarisationsstromes. Die letztern wur- den in der Regel zwischen jenen innerhalb der intrapolaren Strecke angelegt. Durch eine besondere Vorrichtung war es möglich, die „Schließungszeit“, d. i. die Zeit, während welcher der polarisirende Strom durch das Polarisationsobjekt gesandt wird, von 0,001—20 Se- kunden zu verändern. Dieselbe Vorriehtung vermittelte zugleich die Schließung des Bussolkreises nach Oeffnung des Säulenkreises nach möglichst kurzer und gleicher Zeit. Die sekundär elektromotorischen Wirkungen, welche unter den erwähnten Versuchsbedingungen an Muskeln beobachtet werden, hängen sehr wesentlich ab von der Dichte und Dauer des primären Stromes und erscheinen wegen der beständigen Interferenz negativer und positiver Wirkungen zunächst sehr verworren. „Bei Stromdichten Du Bois-Reymond, Sekundär-elektromotorische Erscheinungen. 539 unter der von 2 Grove und bei ganz kurzer Schließungszeit erscheint überhaupt keine an der Bussole bemerkbare Polarisation. Die ersten Spuren, welche man bei 1 Daniell und 1 Sekunde Schließungszeit auftreten sieht, sind negativ. Die ersten positiven Spuren dagegen kommen erst bei 2Grove und ungefähr 0,3 Schließungszeit zum Vor- schein.“ Bei wachsender Schließungszeit erreicht die positive Polari- sation rasch ein Maximum, um dann langsamer abzunehmen und in negative Polarisation überzugehen, welche dann ihrerseits bis zu einem Maximum zunimmt. Als „kritische“ Schließungszeit bezeichnet du Bois jene, für welehe die positive Polarisation in die negative übergeht. Die stärkste positive Polarisation wurde bei den Versuchen an dem genannten Muskelpaare durch 0,075 lange Schließung von 20 Grove, die stärkste negative Polarisation bei 10‘ langer Schließung eines Grove beobachtet. Kurz dauernde Stromstöße (Induktionsschläge) er- zeugen stets nur positive Polarisation. Sowol die positive als auch die negative Polarisation sind sehr nachhaltig und überdauern unter Umständen die Oeffnung des pri- mären Stromes von 20 Min. und mehr. Erfolgt diese letztere um die kritische Zeit, so beobachtete du Bois nicht selten doppelsinnige Ablenkungen, und zwar meist zuerst negativer, dann positiver Polari- sation entsprechend. Es hat dieses Verhalten darin seinen Grund, dass vom Augenblick der Schließung an stets beide Polarisationen gleichzeitig vorhanden sind, aber nach verschiedenem Gesetze wachsen, „indem die negative Polarisation mehr der Schließungszeit proportional zunimmt, die positive zuerst schnell, dann langsam ansteigt.“ Durch Versuche, bei welchen abwechselnd die obere und untere Hälfte regel- mäßiger Muskel durchströmt und auf ihren Polarisationszustand ge- prüft wurde, hält es du Bois-Reymond für erwiesen, dass „die obere Hälfte in aufsteigender, die untere in absteigender Richtung stärkere positive Polarisation zeigt.“ Abgestorbene Muskeln zeigen zwar noch Spuren negativer innerer Polarisirbarkeit, die erst durch Kochen gänzlich vernichtet werden; positive Polarisation kommt dagegen, wie schon erwähnt, ausschließ- lich lebenden Muskeln zu. Auch während des Tetanus ist die Fähig- keit der Muskeln polarisirt zu werden beträchtlich vermindert. Die sekundär-elektromotorischen Erscheinungen an Nerven stim- men in allen wesentlichen Punkten mit den am Muskel beobachteten überein. Auch hier sind stets zwei Polarisationen gleichzeitig vor- handen, welche in gleicher Weise von Stromdichte und Schließungs- dauer abhängen. In neuester Zeit stellte auch Tigerstedt Versuche über Nervenpolarisation an, deren Resultate bereits mitgeteilt wurden'). Mit Rücksicht auf die oben erwähnte Beobachtung der stärkern positiven Polarisirbarkeit regelmäßiger monomerer Muskeln in der 1) Biolog. Centralblatt III, Band, 1883. S. 381. 540 Du Bois-Reymond, Sekundär-elektromotorische Erscheinungen. Richtung von der Mitte nach den Enden zu, untersuchte du Bois Reymond die Polarisation motorischer und sensibler Wurzeln der Spinalnerven, da es nicht unmöglich schien, dass die intramuskulären Nerven bei jener Erscheinung im Spiel sein konnten, und in zentri- fugaler Richtung stärkere positive Polarisation annehmen als in der andern. In der Folge blieb zwar eine derartige ursächliche Be- ziehung der intramuskulären Nerven zu dem beobachteten Verhalten der positiven Polarisation von Muskeln durchaus zweifelhaft, doch glaubt du Bois-Reymond den Satz als wahrscheinlich bezeichnen zu dürfen, dass in den motorischen Nerven die positive Polarisation in absteigender, in den sensiblen in aufsteigender Richtung überwiegt, beidemal im Sinne der physiologischen Innervationswelle. Ebenso überwiegt auch in der elektrischen Platte des Zitterwelses die posi- tive Polarisation im Sinne des Schlages !), und daher scheint du Bois- Reymond die Annahme eines nähern Zusammenhanges zwischen der positiven Polarisation und der Richtung, in welcher normaler Weise die Kontraktionswelle in regelmäßigen Muskeln fortschreitet (von der Mitte nach den beiden Enden hin), nicht ungerechtfertigt. Aus der Gesamtheit der mitgeteilten Tatsachen ergibt sich zur Genüge, dass weder die positive noch auch die negative Polarisation von Muskeln, Nerven und dem elektrischen Organ mit der innern Polarisation feuchter poröser Körper auf eine Linie gestellt werden kann. Nicht nur die Abhängigkeit der positiven Polarisation vom Lebenszustande der Gewebe, sondern auch die Art und Weise, in welcher dieselbe von Stromdichte, Schließungs- und Oeffnungszeit ab- hängt, beweist dies. Aber auch die negative Polarisation der ge- nannten tierischen Teile bietet ungeachtet der größern Uebereinstim- mung mit rein physikalischer innerer Polarisation bemerkenswerte Verschiedenheiten dar. Es gehört hierher insbesondere die vollstän- dige Verniehtung der Polarisirbarkeit von Muskeln und Nerven durch Kochen, sowie die Tatsache, dass mit wachsender Schließungszeit ein Maximum der negativen Polarisation eintritt. — Du Bois-Reymond gelangt zu dem Schlusse, „dass in den positiv polarisirbaren Gebilden nicht dem primären Strome gleichge- richtete elektromotorische .Kräfte erzeugt, sondern dass die Träger schon vorhandener elektromotorischer Kräfte (elektromotorische Mo- lekel) dem primären Strome gleichgerichtet werden.“ Biedermann (Prag). 4) Vergl. über Polarisationserscheinungen am elektrischen Organ biolog. Centralbl. Bd. I. S. 689. Romiti, Ueber eine sehr seltene Varietät des Nasenbeins. 541 G. Romiti, Di una rarissima varietä delle ossa nasali e di alcune varietä nervose e muscolari. Estratto dagli Atti della R. Accademia dei Fisiocritieci. Ser. III Vol. III Siena, 1883. Con un tävole. Der Verf. beschreibt verschiedene seltene Varietäten vom Menschen. 4. Einen Fall von rudimentären Oss. nasi bei einer 30jährigen Italienerin. Das linke Nasenbein war um 2 mm vom Stirnbein abgedrängt durch den Pro- cessus frontalis oss. maxillaris superioris, das rechte Nasenbein erreichte aber noch mit einer scharfen Spitze den erstgenannten Knochen. Von europäischen Schädeln sind analoge Beobachtungen sehr selten (Sandifort 1777 bei einem Weibe und einem Kinde; Köhler 1795 bei einem Kinde; J. F. Meckel 1809 einseitig bei einem Kinde). Bei andern Rassen, Negern, Buschmännern, ist die Varietät öfter beobachtet worden, ferner bei verschiedenen Affen; man darf denselben daher einen atavistischen Charakter zuschreiben. Trotz der ausgedehnten Substituirung der Nasenbeine durch die Stirnfortsätze beider Oberkiefer bot die äußere Form der Nase in dem beschriebenen und abgebil- deten Falle nichts besonderes dar; die Ossa lacrymalia waren bipartita. 2. Bei einem erwachsenen Manne bildete linkerseits der N. radialis eine Ansa um ein abnormes Muskelbündel, welches sich vom lateralen Rande des M. latissimus dorsi abgelöst hatte, um an die Kapsel des Schultergelenkes sich zu inseriren. An der Kreuzungsstelle mit dem Radialnerven war jenes Muskelbündel sehnig geworden, es inserirte sich in der Höhe des obern Ran- des des M. subscapularis. Ein dem abgebildeten entsprechender Fall ist noch nicht beobachtet worden, wol aber abnorme Muskelbündel des M. latissimus mit Insertionen am Olecranon, der Schultergelenkkapsel u. s. w. — In einem andern Falle sah Verf. bei einem Manne einen Muskel von der Crista oss. ilium und den vier untersten Rippen entspringen und sich an den Humerus mit der Sehne des M. latissimus dorsi inseriren. 3. Von der hintern Fläche des vierten Rippenknorpels entspringt ein Muskelbündel und inserirt sich schräg an den Knorpel der zweiten Rippe. Es scheint den M. episternalis posterior zugerechnet werden zu können, welchen der Verf. früher beschrieben hatte (1879): entspringend vom Manubrium sterni geht derselbe zum dritten oder vierten Rippenknorpel dicht neben dem Sternum. 4, Verschiedene Varietäten der sogenannten Ansa n. hypoglossi werden aufgezählt. Sie lag einmal hinter und unter der V. jugularis interna in der Gefäßscheide der A. carotis communis. Die Aeste zu den Mm. sternothyreoi- deus und sternohyoideus wurden vom N. hypoglossus direkt abgegeben (rech- terseits). Einmal endlich wurde jene Schlinge von einem aus dem Ganglion jugulare n. vagi kommenden Ast, ferner einem Zweige aus der Ansa cervica- lis I und dem R. descendens n. hypoglossi gebildet. Der genannte Zweig ana- stomosirte mit dem N. hypoglossus, es fehlte aber sehr seltener Weise jede direkte Verbindung zwischen letzterm und dem N. vagus. Bekanntlich ist die sogenannte Ansa suprahyoidea, d. h. eine Anastomose von R. lingualis der Nn. hypoglossi beider Seiten, innerhalb des M. genio- hyoideus oder zwischen letzterm und dem M. genioglossus für ein Homologon des Schlundringes wirbelloser Tiere gehalten werden; der Verf. stellt sich auf Seiten der Gegner dieser Ansicht und hebt die Beobachtung des Ref. hervor, wonach jene in etwa 10°/, vorkommende Schlinge keine Ganglienzellen enthält. Schließlich werden vom Verf. künftige Arbeiten aus seinem Institute in 542 Gruber, Kerne von Actinosphaerium und Amoeba proteus. Aussicht gestellt; über das Verhalten des Pericranium in der Schläfengegend von Martini (Rivista elinica di Bologna, Apr. 1883), wonach dasselbe teils vor, teils hinter dem M. temporalis sich erstreckt. Ferner über den sogenannten N. depressor beim Menschen und bei Tieren, worüber in neuester Zeit schon mehrere Untersuchungen vorliegen. Ref. hat mehrfach versucht für den Nerv den alten Namen R. cardiacus n. vagi zu konserviren. Möchten wir bald über die in Aussicht gestellten Mitteilungen referiren können; die obigen betreffen, wie man sieht, seltene und genetisch interessante Varietäten. W. Krause (Göttingen). Bemerkungen über die Kerne von Actinosphaerium und Amoeba proteus. In diesem Centralblatt (Jahrg. III Nr. 13) hat kürzlich K. Brandt ein Referat meiner Arbeit über „Kernteilungsvorgänge bei einigen Protozoen“ (Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 38) veröffentlicht, welches mich zu einigen Bemer- kungen veranlasst. Brandt äußert nämlich Zweifel über die Richtigkeit zweier Punkte in besagter Arbeit; er glaubt, dass diejenigen Gebilde, welche ich bei Actinosphaerium als eben aus der Teilung hervorgegangene Nuclei be- zeichnete, sowie die von mir beschriebenen Kerne der Amoeba proteus anders zu deuten seien Was den ersten Einwand betrifft, so war ich wol geneigt, einem so ausgezeichneten Kenner des Actinosphaerium, wie Brandt es ist, darin recht zu geben und jene besagten Körper für Exemplare des von ihm entdeckten Parasiten, Pythium Actinosphaerii‘), zu erklären. Doch machte mich die Durchmusterung meiner Präparate wieder schwankend, und ich bin jetzt überzeugt, dass die auf meiner Figur 3 dargestellten Kugeln, an welchen ich das allmähliche Wiederauftreten der Nucleoli zeigte, doch Kerne sind. Ich fand noch ein Exemplar, wo außer wenigen unzweifelhaften Kernen die- selben Gebilde zu sehen waren, und zwar immer in den von den Pseudopodien- netzen gebildeten Maschen, wie dies bei den Nuclei immer der Fall ist, wäh- rend als Hauptsitz des Pythium Actinosphaerii sein Entdecker die Nahrungs- vakuolen des Sonnentierchens angibt. Schon der Umstand ließ mich an der Auffassung, als hätten wir hier parasitische Gebilde vor uns, nicht festhalten, dass dann die betreffenden Actinosphaerien nur ganz vereinzelte Kerne im Innern hätten, viel weniger, als man es sonst je beobachtet. Wenn übrigens die Kernteilung in der Weise sich abspielt, wie ich es beschrieben habe, und wie es aus den Bildern der sich teilenden Kerne tatsächlich hervorgeht (Fig. 4 h), so nämlich, dass auf jeden Tochterkern eine homogene Masse chromatischer Substanz kommt, umgeben vön einem hellen Hof, so müssen auch Zustände vorkommen wie diejenigen, welche Brandt für Parasiten hält. Leichter wird es mir werden, die Zweifel über die Kernnatur der bei Amoeba proteus beschriebenen Gebilde zu heben, welche schon vor mir ganz ebenso von Bütschli dargestellt und als Kerne gedeutet worden sind?). Es Unters. an Radiolarien. Mon. Ber. d. königl. Akad. der Wiss. Berlin. April 1881. 2) O0. Bütschli, Studien über die Entwicklung der Eizelle ete. Abh. der Senkenb. naturf. Ges. Bd. X. 1876. Milllenhoff, Entstehung der Bienenzellen. 543 genügt hier zu erwähnen, dass man sehr häufig, ja am öftesten, Exemplare findet und zwar ganz kleine sowol wie große (die von mir in den Figuren 10 und 11 abgebildeten sind solche), wo außer besagten Körpern effektiv keine andern sich rot färbenden Bestandteile zu sehen sind, man also diese Amöben für kernlos erklären müsste, wollte man die fraglichen Kugeln als Parasiten deuten. Wenn Brandt auch weiter die Möglichkeit erwähnt, es möchten die- selben „sekundäre Zellkerne“ oder „Embryonalzellen (Fortpflanzungskörper)*“ sein, so ist es mir nicht klar, was er unter diesen Begriffen verstehen kann. Die „homogenen Kügelchen“, die Brandt für die eigentlichen Kerne hält, kenne ich wol, und dieselben sind auf manchen meiner Präparate zu sehen. In dem Passus meiner Arbeit, den Brandt in seinem Referate erwähnt, hatte ich mich ungenau ausgedrückt; die Körper, von welchen ich sprach, sind ho- mogene stark lichtbrechende Kugeln von mir unbekannter Konstitution, die bei Anwendung der Reagentien vollkommen verschwinden !). Ich erwähnte dieselben, weil sie am lebenden Tier zuerst in die Augen fallen und leicht als Kerne gedeutet werden könnten. Jene andern homogenen Kügelchen färben sich, wie Brandt richtig be- merkt, gleich den Nuclei intensiv und enthalten sicher chromatische Substanz. Da ich sie aber nie ausschließlich in den Amöben vorfand, die andern kom- plizirtern Kerne dagegen nie fehlten, so muss ich letztere für die eigentlichen Nuclei halten?). Ueber die Bedeutung der kleinen Kügelchen kann ich nichts angeben und will nur bemerken, dass eine derartige Zerteilung der Kernsub- stanz auch bei höhern Protozoen, den Infusorien, vorkommt, wie ich dies dem- nächst zu zeigen gedenke. A. Gruber (Freiburg i. B.). K. Müllenhoff, Ueber die Entstehung der Bienenzellen. Berliner Entomolog. Zeitschrift, 27. Bd., 1883, S. 165—170. Verfasser versucht den vielbewunderten, durch einen sehr zusammengesetz- ten Instinkt der Architekten erklärten, so kunstvollen Wabenbau unserer Honigbiene (Apis mellifica L.) auf rein mechanische Gesetze zurückzuführen und nimmt damit die schon im vorigen Jahrhundert (von dem französ. Ingenieur Lalanne u. a.) begonnenen Versuche zur Erlangung eines wissenschaftlichen Verständnisses der Bienenkunst wieder auf. Wenn sich eine Anzahl Bienen unter dem für den Anbau der Wabe be- stimmten Brett anhängen, so geschieht es in der Weise, dass sie zwei Reihen bilden, und dass die Köpfe der Individuen der einen Wabenseite denen der andern entgegengestellt sind. Alle Individuen drängen nun, ein Wachsklümpchen 4) Ich hatte gesagt (a a. 0. S. 382), die Nuclei nehmen „am raschesten den Farbstoff“ auf (nämlich rascher als das übrige Plasma), und aus dieser nicht ganz präzisen Ausdrucksweise erklärt sich der Irrtum Brandt’s, als hätte ich erwähnt, jene lichtbrechenden Kugeln färbten sich später als die Kerne. Sie färben sich vielmehr gar nicht. 2) Ich bemerke hier, dass manchmal auch letztere infolge anderer Einwir- kung der Reagentien als homogene Kugeln erscheinen können, 544 Behrens, Die Saftzirkulation der Pflanzen. zwischen den Oberkiefern haltend, möglichst weit nach vorn und oben, und so wird durch den beiderseitigen Druck aus den zahlreichen Wachsklümpchen eine Wachsplatte gebildet, ‘welche dem Druck der verschiedenen Bienenköpfe entsprechend zunächst unregelmäßig gebogen erscheint. Der Druck der ver- schiedenen Köpfe gegen einander findet nun in der Weise statt, dass jeder einzelne in die Lücke zweier von der andern Seite entgegenstemmenden Köpfe gedrängt und, nach der Seite des kleinern Widerstands ausweichend, nach un- ten hinabgedrückt, also genau in die Mitte dreier gegenüberstehender Köpfe eingekeilt wird — eine Tätigkeit, welche die mechanische Entstehung der so zweckmäßig geformten Mittellamelle der Wabe, der Böden der horizontalen Zellen zur Folge hat. Die Prismenseiten werden gleichfalls durch den Druck der sechs den zylindrischen Leib einer jeden Biene umlagernden Bienenindivi- duen derselben Wabenseite in ähnlicher Art hervorgebracht. Indem auch hier die einzelne Biene möglichst stark nach oben drückt, ihr Brustkasten aber dicker ist, als der schlankere Hinterleib, so erhält jedwede Zelle eine zwar schwache, für die erfolgreiche Eintragung des Honigs jedoch notwendige Nei- gung gegen die Mittellamelle, eine Neigung, welche auch für die Königin zur Ablage des Eies Bedingung ist. In Wirklichkeit schafft also die Biene nur zylindrische Hohlkörper aus Wachs, das durch die schnelle Atmung und die bei rastlosem Drücken erzeugte hohe Temperatur äußerst plastisch geworden ist, und das nach genau denselben mechanischen Gesetzen zur kunstreichen Wabe sich umformt, nach denen auch zwei in parallelen Rahmen aufgehängte Systeme zahlreicher Seifenblasen sechsseitige Prismen bilden. Nach denselben Gesetzen entstehen an den Berührungsflächen der beiden Systeme Maraldi’sche Pyramiden, und es verbinden die Zellen der Honigbiene mit dem geringstmög- lichen Aufwande von plastischem Wachs große Festigkeit, größte Raumbe- nutzung und gleichmäßige Größe. Ein Kunstprodukt der Bienen allein ist ein- zig die ganz kunstlose Königinnenzelle, ein am Grunde halbkugelig vertiefter, vertikaler Hohlzylinder, zu dessen Konstruirung plastisches Material von den Architekten verschwendet wird. F. Karsch (Berlin). Die Saftzirkulation der Pflanzen. Die Saftzirkulation der Pflanzen zeigt nicht bloß in gemäßigten Klimaten zwei tägliche Maxima, ein äußerst deutliches am Morgen, ein anderes am Nach- mittag, sondern es ist dies, wie die von Marcano in Caracas (Venezuela) gemachten Beobachtungen erwiesen haben, auch dort, wo doch die täglichen Wärme- und Luftdruckveränderungen fast gleich Null sind, der Fall. Aus den Beobachtungen Marcano’s geht ferner hervor, dass zwar zur Regenzeit die Saftmenge größer ist als zur heißen Zeit, jedoch weniger infolge größerer Wasserabsorption durch die Wurzeln, als durch die der Blätter.” (Academie des sciences de Paris. Sitzung vom 30. Juli d. J.). H. Behrens (Halle). Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in , Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Üentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. II. Band. 15. November 1883. Nr. 18. Inhalt: Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. — Dewitz, Ueber das verschiedene Aussehen der gereizten und ruhenden Drüsen im Zehenballen des Laubfrosches.. — Metschnikoff, Untersuchungen über die mesodermalen Phagoeyten einiger Wirbeltiere. — Gottschau, Ueber die Neben- nieren der Säugetiere. Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. Die älteste systematische Bearbeitung der Gruppe von Organismen, welche wir jetzt unter dem Namen der Spaltpilze zusammenfassen, stammt bekanntlich von Ehrenberg. In seinem 1838 erschienenen Werk über „die Infusionstierchen“ beschreibt er eine Anzahl der wichtigsten Spaltpilzformen als besondere Familie Vibrionia und teilt diese Familie in fünf Gattungen ein, von welchen übrigens nur die vier ersten zur Zeit von Interesse sind. (Die fünfte Gattung Spirodis- cus nennt er selbst unsicher und wir können sie hier füglich außer Acht lassen). Die von Ehrenberg angegebenen Unterscheidungs- merkmale sind folgende: Gliederfäden gradlinig, unbiegsam: Bacterium. Gliederfäden gradlinig, schlangenförmig, biegsam: Vibrio. Gliederfäden gewunden, biegsam : Spirochaete. Gliederfäden gewunden, unbiegsam: Spirillum. Dieses Ehrenberg’sche System vereinigte die zu jener Zeit be- kannten Spaltpilzformen in übersichtlicher und klarer Weise und schien zunächst wegen seiner durchsichtigen Anordnung ganz beson- ders geeignet, auch für die Klassifizirung neuer Formen die Grund- lage zu bilden. Jedoch ergab sich bald, dass die in demselben zur Unterscheidung benutzten Charaktere mit den vorhandenen technischen Hilfsmitteln in vielen Fällen gar nieht, oder doch nur sehr schwer festzustellen seien. Die Gattungen sollten nach der Form der einzel- nen Organismen bestimmt werden, und zwar nach der Form, welche 35 546 Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. dieselben nicht im ruhenden, sondern im bewegten Zustand darboten, nach der Starrheit oder Biegsamkeit des Körpers während der Be- wegung. Aber grade in diesem Punkt ist es (sogar jetzt noch bei den verbesserten optischen Apparaten) außerordentlich schwer, sich vor Irrtümern zu schützen, da die mit großer Schnelligkeit um ihre Längsachse rotirenden Fäden, sobald sie etwas gekrümmt sind, täu- schend so aussehen, als wenn sie Schlangenbewegungen vollführten, auch wenn ihr Körper ganz starr und unverändert bleibt. Ehren- berg selbst ist (wie Cohn nachwies) einem solchen Irrtum unterlegen, denn die von ihm als Vidrio bezeichneten Gebilde sind nicht grade und biegsame, sondern krumme und unbiegsame Stäbchen. Vielleicht wegen dieser praktischen Schwierigkeiten wurde das Ehrenberg’sche System von spätern Forschern wenig beachtet, und war gegen den Anfang der zweiten Hälfte unsers Jahrhunderts, als sich das In- teresse namentlich der pathologischen Forschung den Spaltpilzen in erhöhtem Maße zuwandte, nahezu in Vergessenheit geraten. Es fehlte somit an einer gemeinsamen Grundlage für die verschiedenen Unter- suchungen, an einem brauchbaren Verständigungsmittel, und die Folge war eine mit der Zahl der Untersuchungen und Resultate proportional steigende Verwirrung. Fast jeder Autor schuf sich für die von ihm gefundenen oder genauer beobachteten Formen seine eigne Nomen- klatur, unbekümmert um die von andern Seiten aufgestellten Bezeich- nungen für ähnliche oder selbst gleichartige Gebilde. So gestaltete sich die Lehre von den Spaltpilzen zu einer Anhäufung unzusammen- hängender Beobachtungen mit einer Unzahl untereinander nicht ver- einbarer Bezeichnungen, welche das Studium dieses Kapitels der Bio- logie zu einem der unerquicklichsten und schwierigsten machten!). Unter diesen Verhältnissen war es ein ganz besonders verdienstliches Unternehmen, dass Cohn (a. a. OÖ.) im Jahre 1872 es versuchte, die bisher gewonnenen Resultate in ein wenn auch nur provisorisches System zusammenzufassen und damit eine Verständigung unter den verschiedenen Forschern anzubahnen. Cohn stützte sich auf das alte Ehrenberg’sche System, dessen vier Gattungen (mit etwas modifizirter Charakteristik in bezug auf die Gattung Vibrio) er beibehielt, erweiterte dasselbe jedoch durch Hinzufügung von zwei neuen Gattungen. Die von ihm für die Be- stimmung der einzelnen Formen gewählten Unterscheidungsmerkmale waren folgende: 1) Vergl. hierzu die Bemerkungen in Cohn’s erstem Aufsatz, Beiträge z. Biologie d. Pflanzen, I, S. 132, wo er unter anderm folgende von verschie- denen Autoren angewandte Namen aufführt: Microphytes, Microzoaires, Toru- lacees, Monades, Mycoderma, Mierozyma, Bacteridium, Micrococcus, Leptothrix, Mycothrix, Mierosporon, Zoogloea, Microsphaera ete. Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. 547 a) Zellen zeitweilig zu Schleimfamilien vereinigt. rund: Sphaerobacteria Gattung Micrococeus länglich: Microbacteria Gattung Bacterium'). b) Zellen niemals zu Schleimfamilien vereinigt. fadenförmig: Desmobacteria Faden grade: Gattung Bacillus Faden wellenförmig gebogen: Gattung Vibrio x spiralförmig gewunden: Spirobacteria Spirale biegsam: Gattung Spirochaete Spirale starr: Gattung Spirillum. Wie leicht ersichtlich liegt in diesem Cohn’schen „System“ nicht etwa bloß eine Vermehrung der Ehrenberg’schen Gattungen um zwei neue solche, sondern insofern auch eine wesentliche Verbesserung, als die zur Unterscheidung dienenden Charaktere, sich nicht auf die Form des Einzelwesens beschränken, und als daneben vor allen Dingen das Verhalten einer größern Summe von Einzelindividuen und ihre Fähig- keit, sich unter gewissen Verhältnissen zu Schleimfamilien zu vereini- gen, als grundlegend für die Unterscheidung der Gattungen Beachtung gefunden hat. Dass trotz dieses offenbaren Fortschrittes und trotz der Klarheit der Anordnung, welche sie mit dem Ehrenberg’schen System gemein hat, diese Cohn’sche Einteilung an manchen Stellen (namentlich bei den Botanikern des Auslandes, aber auch bei man- chen deutschen Forschern) von Anfang an auf Widerspruch stieß, soll hier nieht verhehlt werden; aber immerhin waren die gegneri- schen Stimmen nur vereinzelte, und bei der großen Mehrzahl der Forscher, besonders aber bei den Lehrenden und Lernenden, fand es als lang entbehrtes Verständigungsmittel begeisterten Anklang. Seine rasche Verbreitung, seine Aufnahme in die verbreitetsten Lehr- bücher, in die verschiedensten wissenschaftlichen und populären Auf- sätze etc. beweisen dies hinlänglich; und auch heutzutage würde man ohne Anwendung der Cohn’schen Terminologie in weitern wissen- schaftlichen Kreisen kaum auf ein Verständniss rechnen können. Und doch müssen wir jetzt aufgrund der Tatsachen, welche durch weitere Untersuchungen seither zu Tage gefördert wurden, unumwunden zu- gestehen, dass der Cohn’schen Einteilung nur noch in dem oben an- gedeuteten Sinn ein wissenschaftlicher Wert beizumessen ist. *) Gegenüber den, wenigstens in medizinischen Kreisen, hin und wieder auftauchenden irrigen Anschauungen dürfte es angebracht sein, ganz besonders darauf aufmerksam zu machen, dass Cohn als Grundlage zur Unterscheidung zwischen Bacterium und Bacillus nieht die verschiedene Länge der Stäb- chen, sondern die Fähigkeit oder Unfähigkeit Schleimfamilien zu bilden ange- nommen hat. 35* 548 Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. Es sind im wesentlichen drei Grundsätze, von denen Cohn aus- ging. Einmal, dass die Bacterien ausschließlich durch Querteilung in einer Richtung des Raumes (S. 138) sich vermehrten, dass also bei der Gleichförmigkeit der Vermehrungsvorgänge diese letztern nicht wie bei höhern Pflanzen zur Begründung der Gattungen benutzt wer- den könnten; zweitens dass in der Form und Größe der Einzelglieder ein konstantes, zur Unterscheidung der Gattungen (wenn auch nicht der Arten) ausreichendes Merkmal gegeben sei, drittens dass die Fähigkeit, durch Vergallertung ihrer Membranen Schleimfamilien zu bilden, nur den zwei ersten Gattungen zukomme, und dass dieselben dadurch scharf von den übrigen geschieden seien. Alle drei sind zur Zeit nicht mehr haltbar. Was zunächst die Vermehrung anbetrifft, so erscheint es genug- sam bewiesen, dass die Wachstumsvorgänge bei den verschiedenen Bacterienarten keineswegs so konform sind, wie Cohn annahm. Neben der einfachen Querteilung in einer Richtung des Raumes mit Bildung von Gliederketten finden wir bei einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Bacteriaceen andere Wachstumsarten, und zwar in so man- nigfaltiger Form, dass gradezu alle Möglichkeiten erschöpft scheinen. Wir beobachten Teilung in zwei Richtungen des Raumes mit Bildung von tafelförmigen Kolonien, wobei die Teilstücke bald in regelmäßigen quadratischen Plättehen angeordnet bleiben [.Bacterium merismope- dioides!) Fig. 1a?)], bald unregelmäßig gelagert sind [tafelförmige Zooglöen der Essigmutter und vielerandererFormen(Fig.1b)]. Wir finden ferner Teilungen in allen drei Richtungen des Raumes mit denselben beiden Varianten, regelmäßige Anord- nung der Teilstücke in würfel- förmigen Kolonien (Sarcına Fig. 2a) und wnregelmäßige Anhäufung zu runden, oblongen oder anders gestalteten Ballen (Fig. 2b; besonders deutlich an den Kolonien von Ascococeus und den Üoecen- zuständen der Beggiatoen); und selbst im Innern des einzelnen Fadens beobachtet man bei den höhern Bacterienformen neben dem Wachs- tum in der Längsachse mit Bildung von flach zylindrischen Gliedern Teilung dieser letztern in den beiden andern Richtungen des Raumes, 1) Zopf (Die Spaltpilze. Breslau 1883. S. 56). — Aehnliche Anordnung zeigen bekanntlich auch vielfach die in der Vaccine- und Variolalymphe vor- kommenden Coccenformen, und auch die „Pneumonie-Coccen“ treten nach des Verf. Erfahrung vielfach, namentlich bei Züchtung außerhalb des Körpers, in solchen vierteiligen Tafeln auf. 2) Die Abbildungen sind unter Benutzung der Werke von Cohn und Zopf gezeichnet, Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. 549 so dass aus ihnen je vier in der Querrichtung des Fadens angeord- nete Teilstücke entstehen (von Cohn zuerst bei Orenothrix beobach- tet Fig. 3). Aber auch das Wachs- tum oder die Teilung in einer Richtung des Raums ist durchaus nicht bei allen Formen und unter allen Verhältnissen ein gleicharti- ger Vorgang. Selbst bei einer und derselben Form (mit Aus- nahme der niedrigsten, deren Fadenglieder stets runde Gestalt haben) begegnen wir hier zwei mindestens physiologisch streng zu son- dernden Vorgängen. Einerseits sehen wir die (an und für sich schon länglichen aber kurzen) Fadenglieder unter günstigen Ernährungs- verhältnissen zu langen graden oder gewundenen, scheinbar unge- gliederten Fäden auswachsen, andererseits beobachten wir wieder einen Zerfall der so gebildeten Fäden in kleinere Teilstücke. Da die Fäden, obwol sie in frischem Zustande ganz homogen aussehen, doch in Wahr- heit aus zahlreichen kurzen Gliedern zusammengesetzt sind, wie sich durch Reagentien leicht nachweisen lässt‘), so könnte man diesen spätern Zerfall einfach als notwendige zweite Phase eines einheitlichen Wachstumprozesses auffassen. Für eine ganze Anzahl solcher Teilun- gen dürfte das insofern zutreffend sein, als es sich nur um eine Ab- lösung der schon vorher angelegten Segmente, sei es einzeln oder sei es in kürzern Ketten, handelt. Hierbei bleibt jedoch dieser Prozess in sehr vielen Fällen nicht stehen; wir sehen vielmehr die Segmen- tirung noch weiter fortschreiten, das einzelne Fadenglied selbst wird wieder noch in mehrere (zwei oder vier) Teilstücke zerlegt, welche sich von ihrer Mutterzelle durch ihre runde Gestalt un- terscheiden, d. h. der Faden zerfällt in Coccen (Goni- 1 5 dien Fig. 4)?). Auf die Bedeutung dieser bis zur Go- | f 5 nidienbildung fortschreitenden Teilung werden wir später Ä 8 noch zurückkommen. | 5 Zunächst müssen wir hier noch zweier weiterer | | : : Tatsachen gedenken, welche insofern für den Biologen ein ganz besonderes Interesse bieten, als sie den Beweis liefern, dass das ganz homogene und unsern Augen überall gleichmäßig struktur- los erscheinende Protoplasma der Bacterien doch keineswegs überall die gleiche biologische Dignität besitzt; es ist das das einseitige Wachstum, und die Bildung von Dauersporen. Das erstere, das 1) Als ganz besonders bequem zur Darstellung dieser Gliederung empfehle ich die Anwendung von Methylenblau in wässriger Lösung; wenn man dieselbe auf lebende Fäden, z.B. von gezüchtetem Milzbrand, von Oladothrix dichotoma ete. etwa !/, Stunde einwirken lässt, erhält man ungemein scharfe Präparate, welche sich auch einige Zeit konserviren lassen. 2) Vergl. die bei Zopf a. a. O0. S. 5 angeführte Literatur. 550 Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. einseitige Wachstum, .bei welchem ein Ende des Fadens, die Basis, in der Entwicklung stehen bleibt, während das entgegengesetzte Ende als Spitze weiterwächst, findet sich bei allen höhern Bacterienarten. Es wurde zuerst von Cohn an der Cladothrix di- Fig. chitoma (Fig. 5)') beobachtet und ist bei dieser N \f 90 _ Form am leichtesten zu konstatiren, weil hier durch N \ Kr seitliches Ausweichen einzelner Fadenglieder in 5 / _+r dem Spitzenteil des Fadens und späteres Wachs- EN tum derselben in demselben Sinne wie der Haupt- 14 faden Pseudoverzweigungen gebildet werden, so [ dass die ganze Fadenkolonie ein zierlich baum- förmiges Ansehen bekommt. Das einseitige Wachs- tum wurde später auch für Deggiatoa und Leptothrix festgestellt; es führt hier jedoch nicht zur Bildung von Pseudoverzweigungen, sondern das Spitzenende des Fadens markirt sich häufig durch geschlängelten Verlauf, während die Basis gestreckt erscheint, oder es besitzt eine beträchtlichere Breite als die letztere. Noch auffallender tritt die ver- schiedene Dignität des Protoplasmas bei der Bildung von Dauersporen hervor. Bei den bisher besprochenen Teilungsformen, namentlich auch bei dem Zerfall der Fäden in Gonidien, erscheinen alle entstehenden Teilstücke gleichwertig, gleich widerstandsfähig gegen schädliche Einflüsse von außen, und gleich vermehrungsfähig. Ganz anders bei der Sporenbildung. Hier wird nur ein Bruchteil des in dem einzelnen Fadenglied enthaltenen Protoplasmas zur Bildung des Keimes ver- wandt; derselbe ballt sich bald an dem einen Ende, bald in der Mitte des Gliedes zu einem runden oder oblongen Klümpehen zusammen, welches allein als Spore persistirt, während die übrige, meist bedeu- tend größere Menge des Protoplasmas zu grunde geht, oder sich nur an der Bildung der dicken stark lichtbrechenden Kapsel beteiligt, welche jede einzelne Spore einhüllt (Fig. 6). Ein anderer Teil dieser Umhüllungsmasse dürfte übrigens, wenigstens bei manchen For- men, auf die äußere die Fadenglieder einhül- lende Membran zurückzuführen sein, welche überhaupt in dem Lebenseyklus der Spaltpilze, und zwar namentlich durch ihre Neigung zu vergallerten, eine bedeutsame Rolle spielt. Das führt uns auf den oben erwähnten dritten Grundsatz der ältern Cohn’schen Einteilung, nämlich die Annahme, dass nur ganz bestimmten Bacterienformen die Fähigkeit innewohne, durch Ver- gallertung ihrer Membranen Schleimfamilien (Zooglöen) zu bilden. Auch diese Annahme ist dureh die weitern Forschungen nicht be- stätigt worden. Eshat sich herausgestellt, dass solche Gallertbildung 1) Beiträge zur Biologie der Pflanzen. I. 3. 8. 185. Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. 551 bei den allerverschiedensten Formen und Arten der Bacterien, die höchst entwiekelten nieht ausgeschlossen, eintreten kann, ja wir dür- fen schon jetzt mit größter Wahrscheinlichkeit es aussprechen, dass die Fähigkeit zur Zooglöenbildung überhaupt keiner einzigen Bac- terienart abgeht. Namentlich sind es die durch fortgesetzte Teilung der Fadenglieder entstehenden Coecenformen der höhern Bacterien- arten, welche große Neigung zeigen, unter Zusammenfließen ihrer Membranen zu einer gemeinsamen Gallert- hülle in Kolonien sich zu sammeln. Bald bilden diese Kolonien runde oder unregel- mäßige Haufen, bald zeigen sie ganz cha- rakteristische Formen, wie z. B. die hohl- kugelförmigen, netzähnlich durchbrochenen Zooglöen der Beggiatoa roseopersicina, wel- che von Cohn als Olathrocystis beschrieben wurden (Fig. 7)!). Aber auch von den Faden- zuständen sind Formen mit Gallerthülle be- kannt, welche zum Teil so auffallende und von dem gewöhnlichen Bacterientypus ab- weichende Gestalt darbieten, dass sie von ihren ersten Beobachtern für besondere neue Arten gehalten wurden |Zoogloea ramigera (Fig. 8)?), Myconostoc (Fig. 9)?)]- Ein Rückblick auf die hier bisher an- geführten Tatsachen ergibt ohne weiteres, dass durch dieselben auch derjenige von den drei der Cohn’schen Einteilung zu grunde liegenden Sätzen, welchen wir noch nicht besonders besprochen haben, wider- legt wird, der Satz nämlich, dass Größe und Form der Einzelglieder für die Bestimmung der Gattungen ein ausreichendes Charakte- ristikum bilde. Schon die bis zur Coccenbildung fort- gesetzte Teilung der Fadenzustände liefert selbst bei gradlinigen Fäden Stäbehen von sehr verschiedener Länge, neben den kugli- gen Zellen, also Formen, welche in die bei- den Cohn’schen Gattungen Baeillus und Micrococcus verteilt werden müssten, — und dirAn, ar 018-157. 3) Itzigsohn, Sitzungsberichte d. naturf. Freunde zu Berlin 19. Nov. 1867. 3), Cohn a. 2. 0.-8. 183. 552 Neelsen. Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze, bei den schraubenförmigen Fäden resultiren durch die fortgesetzte Teilung neben den Coccen und Bacillenformen noch mehr oder weni- ger gebogene Stücke, die also dem Cohn’schen Genus Vibrio oder Fig.ı. Spirillum entsprechen würden (Fig. 10). Damit ist aber die Zahl der möglichen Formverschieden- heiten noch lange nicht erreicht. Wir sehen bei derselben Art von Bacterien je nach den äußern Verhältnissen Schwärmzustände in verschiedenen Formen (Coecen, Bacillen, Spirillen, Spirochaeten) und gallertbildende Ruhezustände bald in den Formen gewöhnlicher Coccen- bezw. Bacterien- zooglöen, bald in andern bei der Cohn’schen Einteilung überhaupt nicht berücksichtigten Ge- stalten, als Ma a , als Clathrocı ystis-Form, als Chroococcus-ähn- liches Gebilde auftreten, kurz wir finden eine Mannigfaltigkeit der äußern Erscheinung, welche dem Blicke des Beobachters zunächst nicht wie der Förmenkreis einer einzigen Pflanze, sondern wie Ent- wieklungsstadien ganz verschiedener kaum in verwandtschaftlichen Beziehungen stehender Pflanzenarten sich darstellte !). Dass die von ihm aufgestellte Einteilung, welche er ja selbst nur als provisorische bezeichnet hatte, den Fortschritten der Baeterien- forschung gegenüber unzureichend sei, wurde von Cohn selbst sehr bald erkannt, und er stellte deshalb schon drei Jahre später ein neues erweitertes System auf (Beiträge zur Biologie d. Pflanzen I. 3. S. 202), in welchem er die Spaltalgen und Spaltpilze als große ge- meinsame Familie der Schizophyten unterbrachte. Dass eine solche Vereinigung ehlorophyllhaltiger und ehlorophyllloser Organismen we- gen der auffallenden morphologischen Aehnlichkeiten in der Anord- nung und Form der Zellen sowie in den Wachstums- und Vermeh- rungsvorgängen wol berechtigt sei, wird wol niemand leugnen können. Und doch bildete dieselbe wol das Haupthinderniss für eine weitere Verbreitung dieses Systems in den Kreisen der Bacterienforscher. Wenn man berücksichtigt, dass die Bacterienuntersuchung wenigstens bisher zum weitaus größten Teil in Händen von Aerzten, also nicht speziell botanisch gebildeten Männern lag, so erscheint es begreiflich, dass ein System, dessen Verständniss eine Menge speziell botanischer Fachkenntnisse erforderte und also umfangreiche Vorstudien auf einem dem Arzt ferner liegenden Gebiet notwendig machte, vielfältig auf passiven Widerstand stieß. Man ließ das neue System unbeachtet 1) Vergl. die Arbeiten von Cienkowski, zur Morphologie der Bacterien (Memoires d. l’acad. d. sciences A St. Petersbourg VII. Serie Bd. 25. 1877). — Warming, Vidensk. Meddelelser f. d. naturhist. Forening. Kjöbenhavn 1875. — Neelsen, Studien über d. blaue Milch. (Beiträge z. Biol. d. Pflanzen 3d. III. 2. — Zopf, Zur Morphologie d. Spaltpflanzen (referirt in Biol. Cen- tralblatt Bd. III Nr. 6). Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. 553 und zog es vor, so gut es ging, mit der durch die erste Einteilung Cohn’s gegebenen Terminologie sich zu behelfen. Natürlich würden ja solche rein äußerliche Gründe die Einführung des betreffenden Sy- stems nur vorübergehend verzögert, aber nicht endgiltig verhindert haben, wenn dasselbe gegenüber den frühern wesentliche Verbesse- rungen aufgewiesen hätte. Das ist jedoch (wenigstens soweit es sich auf Baeterien bezieht) nicht der Fall, sondern es stellt sich vielmehr nur als eine Erweiterung der ersten Einteilung dar, welche auf ganz die gleichen Grundsätze gebaut ist. Wir finden hier dieselben sechs Familien wieder, welche in der ersten Einteilung aufgeführt sind, und zwar mit den gleichen Unterscheidungsmerkmalen, neben 9 neu auf- genommenen Familien (Sareina, Ascococcus, Leptothrix, Crenothrix, Beggiatoa, Streptococcus, Myconostoc, Cladothrix, Streptothrix). Eine eingehende Kritik der für die Trennung dieser vielen Arten ange- gebenen Charaktere würde hier zu weit führen; ich kann dieselbe um so eher unterlassen, da schon die bloße Aufzählung der Namen genügt, um den Nachweis zu führen, dass das System mit unsern jetzigen Kenntnissen über Spaltpilze unvereinbar ist; es sind in den- selben ja eine ganze Anzahl von Formen als getrennte Familien auf- geführt, welche nur verschiedene Entwicklungszustände einer Gattung darstellen ?). Dass unter diesen Verhältnissen das Bedürfniss nach einer den neuern Erfahrungen entsprechenden systematischen Einteilung der Bacterien vorliegt, dürfte wol von niemand bestritten werden, und es wird deshalb jeder Versuch ein solches System aufzustellen in den Fachkreisen lebhaftem Interesse begegnen. Ein solcher Versuch ist ganz neuerdings von Zopf?) gemacht worden. Unter Ausschaltung der noch ungenügend beobachteten Formen teilt Zopf die Spaltpilze in folgende vier Gruppen: 1) Coceaceen. Sie besitzen nur die Coccen und die durch An- einanderreihung von Coccen entstehende Fadenform Genus: Leuconostoc. 2) Bacteriaceen. Sie weisen vier Entwieklungsformen auf: Coecen, Kurzstäbchen (Bacterien), Langstäbchen (Baecillen) und Fä- den (Leptothrixform). Letztere besitzen keinen Gegensatz von Basis und Spitze. Typische Schraubenformen fehlen. Genera: Bacterium. Clostridium. 1) Um ein Beispiel als Beleg anzuführen, würde der oben geschilderte Entwicklungsceyklus von homogenen langen Fäden bis zu den Coccenformen je nach dem Stadium, in welchem sich die Pflanze befindet, den Cohn’schen Familien Leptothrix, Bacillus, Streptococcus bezw. Bacterium und Mierococcus entsprechen. - 2) In dem die Spaltpilze behandelnden Abschnitt der Encyklopädie der Naturwissenschaften. Auch als Separatabdruck unter dem oben zitirten Titel erschienen, 554 Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. 3) Leptotricheen. Sie besitzen Coceen, Stäbchen, Fadenfor- men (welche einen Gegensatz von Basis und Spitze zeigen) und Schrau- benformen. Genera: Leptothrix, Beggiatoa, Orenothrix, Phragmidiothrix. 4) Cladotricheen. Sie zeigen Kokken, Stäbchen, Faden- und Schraubenformen. Die Fadenform ist mit Pseudoverzweigungen ver- sehen. Genus: Oladothrix. Das Zopf’sche System fasst die zur Zeit bekannten Tatsachen in klarer Uebersichtlichkeit zusammen; es setzt an Stelle einer Unzahl von mehr oder weniger mangelhaft charakterisirten Einzelformen einige wenige Gruppen von Organismen, welche durch die Gesamt- summe der während ihres Lebenseyklus möglichen Einzelformen cha- rakterisirt werden. Das entspricht jedenfalls den Prinzipien der bo- tanischen Systematik!) und ermöglicht einen sehr bequemen Ueber- blick über das zur Zeit gewonnene, an und für sich ja schon recht umfangreiche Material. Damit dürfte den Anforderungen genügt sein, welche man billigerweise an eine systematische Zusammenstellung auf so unfertigem und lückenhaftem Gebiet stellen kann. Zopf schaltet ausdrücklich die ungenauer bekannten Bacterienformen aus und fügt nur die genauer untersuchten seinem System ein; er beansprucht aber keineswegs in demselben eine Form geschaffen zu haben, in welche sich voraussichtlich sämtliche, oder doch die Mehrzahl der vorhan- handenen Spaltpilzarten werde einschalten lassen — und wer könnte auch bei unsern jetzigen Kenntnissen wagen, nur mit annähernder Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, wohin uns die Wege der Unter- suchung in Zukunft noch führen werden. Trotzdem, und wenn wir 1) Auffällig und von den Prinzipien abweichend erscheint allerdings der Umstand, dass Zopf in seinem System eine so charakteristische Fortpflanzungs- art wie die Bildung der Dauersporen gar nicht berücksichtigt; zumal da die- selbe, soweit die bisherigen Erfahrungen reichen, keineswegs der gesamten Familie der Spaltpilze eigentümlich erscheint, vielmehr nur bei den beiden untersten Gruppen, den Coccaceen und Bacteriaceen, beobachtet worden ist. Wenn es durch weitere Untersuchungen bestätigt wird, dass die Sporen- bildung bei den Leptotrieheen und Cladotricheen nicht vorkommt, so würde darin wol das wichtigste und wesentlichste Merkmal zur Trennung dieser Gruppen von den oben erwähnten zu suchen sein. — Mir persönlich ist das wahrscheinlich, namentlich aus dem Grund, weil ich weder selbst bei den Spr- rillum- Vibrio- und Baeillus-Formen von Oladothrix und Beggiatoa Sporen- bildung habe beobachten können, noch solche irgendwo erwähnt finde (auch Zopf in seiner Morphologie der Spaltpflanzen spricht nicht davon). — Dass es sporenbildende Vibrio- und Spirillum-Formen gibt ist ja zweifellos, aber dieselben dürften mit den Leptotricheen und Cladotricheen nicht in geneti- schem Zusammenhang stehen, sondern Morphen einer zur Zeit noch unbekann- ten Spaltpilzform darstellen, welche wol als neue Gruppe den Bacteriaceen anzureihen sein würde, Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. 555 auch vorderhand in dem Zopf’schen System nichts weiter sehen dür- fen, als eine Sammlung und übersichtliche Anordnung der zur Zeit bekannten aber in der Literatur verstreuten Tatsachen, werden wir ihm doch die Anerkennung zollen müssen, dass es auch für neue und weitere Untersuchungen von hohem Wert ist, namentlich durch die aus ihm sich ergebende präzisere Fragestellung. Ganz besonders auf dem Gebiet der pathologischen Baeterienforsechung dürfte sich dieser Wert bemerkbar machen. Wir werden uns in Zukunft nicht mehr begnügen mit der einfachen Feststellung derjenigen Form, welche wir im erkrankten Körper antreffen und derjenigen, welche wir durch Züchtung auf einem einzelnen Medium erhalten, sondern uns die Frage vorlegen, ob nieht dieselbe Polymorphie, wie wir sie bei den bekann- ten Bacterienarten finden, auch bei dem neu entdeekten noch unbe- kannten Organismus vorhanden sei, ob nicht in andern Medien außer- halb des Körpers und auch innerhalb des Körpers m andern Phasen der Krankheit andere Formen vorkommen. Die Frage an sich ist nicht neu, sie ist nicht erst durch die Zopf’schen Arbeiten angeregt, sondern hat sich schon längst jedem Pathologen aufgedrängt ange- sichts der vielen Lücken, welche auch bezüglich der bestbeobachteten Krankheiten unsere Kenntnisse noch darbieten. Der Vorteil aber, welcher aus dem Zopf’schen System erwächst, ist der, dass es uns Analogien bietet und aufgrund derselben eine präzisere Fassung der Frage gestattet. Nachdem wir wissen, dass die Spirochaete plicatilis, die Spiro- chaete des Mundschleims, keine Sporen erzeugt, sondern Schwärmsta- dien einer Leptotrichee darstellt, welehe nur durch Uebergang in die Coccenform zum Ruhezustand gelangt, werden wir auch bei der Re- eurrens-Spirochaete das vergebliche Suchen nach fruktifizirenden For- men und Sporen aufgeben können und zunächst versuchen, nach Ana- logie der erwähnten Formen der aus den Spirochäten resultirenden Coceen habhaft zu werden, sowie nachforschen, ob dieselben nicht unter gewissen Verhältnissen zu ähnlichen Fadenzuständen auswachsen können, wie die ihnen in der Form gleichen und genauer bekannten Organismen. Wir werden nicht mehr, wie das unter dem Bann früherer Anschauungen wol geschehen konnte, voneinander abweichende Be- funde bei verschiedenen Stadien derselben Krankheit!) a priori als unvereinbar ansehen, sondern, gestützt auf die Analogie anderer den beobachteten ähnlicher Bacteriaceen, die Frage in Erwägung ziehen, ob wir es nicht vielleicht doch mit entsprechend den verschiedenen Verhältnissen verschiedenen Morphen desselben Organismus zu tun 1) Wie z. B. die wechselnden Befunde bei Typhus, bei welchem wol jedem Beobachter aufgefallen ist, dass man keineswegs immer die Eberth’schen Kurzstäbehen, sondern in manchen Fällen statt derselben zweifellose Coccen- formen, oder aber längere gegliederte Fäden antrifft. 556 Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. haben!). Dass durch diese neu gewonnenen Gesichtspunkte besonders die Arbeit der pathologischen Bacterienforschung vereinfacht und er- leichtert sei, wird allerdings niemand behaupten wollen. Im Gegen- teil, je größer der zu erforschende Formenkreis sich gestaltet, um so schwieriger wird es, denselben exakt und in beweiskräftigen Methoden festzustellen, und wir werden doppelte Vorsicht bei allen pathologisch- mykologischen Untersuchungen anwenden müssen, um uns vor Irr- tümern zu bewahren. Eine Hauptschwierigkeit liegt in der Erledigung der Frage, wel- che von Zopf zunächst (und mit gutem Grunde) mit Stillschweigen übergangen worden ist, die Frage nämlich, wie sich die verschiedenen Morphen zueinander verhalten. Dass der (namentlich bei den höhern Spaltpilzarten, den Beggiatoen ete.) überraschend reichhaltige Formen- kreis nicht einen einheitlichen Entwicklungseyklus darstellt, welchen die Fflanze während ihres Lebens notwendig durchlaufen muss, etwa wie das Insekt die Formen des Eies, der Larve, der Puppe und des reifen Tieres, liegt auf der Hand. Jede Züchtung unter konstanten Bedingungen lehrt uns ja, dass der Organismus der Bacterien im stande ist, sich Generationen hindurch auf einige wenige Glieder der Kette zu beschränken, ohne an seiner Lebensenergie irgendwie Ab- bruch zu leiden. Nur unter wechselnden Lebensverhältnissen kommt die Polymorphie zum vollendeten Ausdruck, erscheinen uns die Bac- terien, um mit Lankester zu reden, als ein Proteusgeschlecht. Wir können diesem Forscher rückhaltlos beistimmen, wenn er die Poly- morphie der Spaltpilze gegenüber den wechselnden Formen, welche uns der Entwicklungseyklus irgend eines höhern Organismus zeigt, in folgender Weise charakterisirt. „The forms of a Protean species are aseriesof adaptations; the forms exhibited in the development of a species from its egg are a series of hereditary recapitu- lations.“ — Eine Reihe von Anpassungen ist es, die uns in dem For- menreichtum der Spaltpilze entgegentritt, ein Wechsel der Gestalt, nicht ausschließlich durch innere dem Organismus erblich eingepflanzte Kräfte bedingt, sondern durch äußere Verhältnisse herbeigeführt und ebenso wie diese eine gesetzmäßige Reihenfolge nicht innehaltend. 1) Als eine Stütze für die oben ausgesprochene, natürlich zur Zeit nur hypothetische Auffassung könnte die Tatsache angeführt werden, dass in neuerer Zeit selbst in bezug auf gut bekannte pathogene Spaltpilze, deren Formenbeständigkeit nahezu als bewiesen gelten konnte, Beobachtungen ver- öffentlicht worden sind, nach denen auch bei ihnen bisher nicht bekannte Mor- phen gefunden seien, welche, falls sich ihr Vorkommen durch weitere Unter- suchungen bestätigen sollte, den von Zopf für die Bacteriaceen angegebenen Formenkreis um die zur Zeit noch fehlenden Glieder ergänzen würden. (Vergl. Archangelski, Beitrag zur Lehre vom Milzbrandeontagium. Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1833 Nr. 15 und Klebs, Weitere Beiträge zur Geschichte d. Tuberkulose. Archiv f. experimentelle Pathologie Bd. XVII Heft 1 u. 2). Dee ee a u ee a nn ee — Neelsen, Neuere Ansichten über die Systematik der Spaltpilze. 557 Ganz ungesetzlich und regellos werden wir uns aber diese Serie von Anpassungen dennoch nicht denken dürfen; nicht etwa so, als ob das Einzelindividuum im stande wäre, je nach den äußern Ver- hältnissen gestern als Vidrio, heute als schwärmender Coccus, morgen als Spirochaete aufzutreten. Es sind nicht Einzelindividuen, welche dureh Formwechsel sich den wechselnden Lebensbedingungen anpas- sen, sondern Generationen. Die verschiedenen Formen bilden Glieder verschiedener Entwicklungseyklen vom Keim bis wieder zum Keim, und die einzelnen Phasen dieser Entwicklungseyklen laufen mit der- selben Gesetzmäßigkeit ab, wie die Entwicklungsformen eines jeden höhern Organismus. Es gibt da weder einen sprungweisen Uebergang aus einem Stadium in das andere mit Außerachtlassen der notwendi- gen Zwischenformen, noch ein Durchbrechen des Kreises; — und durch das Stadium des Keimes (bezw. eines dem Keim analog zu setzenden Ruhezustandes)!) kann die Pflanze in den einzelnen Entwicklungs- eyklus eintreten und diejenigen Individuen, welche einmal die Bahn betreten haben, müssen dieselbe wieder bis zum Keim durchlaufen, oder zu grunde gehen. Die so gebildeten Keime haben zwar die Fähigkeit, sich zu andern Formen auszubilden, als ihre Mutterzellen waren, jedoch nur, wenn sie unter andere Verhältnisse geraten; blei- ben die Verhältnisse dieselben, so müssen sie ungezählte Generationen hindurch den gleichen Entwieklungsgang durchmessen. Diese absolute Gesetzmäßigkeit innerhalb der einzelnen Formen- kreise erklärt uns unschwer den scheinbaren Widerspruch der hier ausgeführten Anschauung mit den Resultaten der Züchtung auf festem Nährboden. In dem geronnenen Serum, der erstarrten Gelatine, zwingen wir dem Organismus ganz gleichmäßige und konstante Lebensbedingungen auf; wir nehmen ihm die Möglichkeit, durch Schwärmbewegung bald sauerstoffreiche, bald sauerstoffarme, bald wärmere, bald kältere Schichten aufzusuchen; wir bringen ihn in ein Medium, in welchem weder eine ausgiebige Diffusion der gebildeten Zersetzungsprodukte in die Umgebung stattfinden, noch auch Strömungen auftreten können, welchem also alle die Bedingungen fehlen, die selbst in einer ur- sprünglich gleichmäßig zusammengesetzten Flüssigkeitsmenge einen lokalen Wechsel der physikalischen und chemischen Eigenschaften herbeiführen — und wir sehen ihn mit der größten Beständigkeit einen einzigen Cyklus durchmachen, welcher in der hundertsten und zweihundersten Generation sich nicht anders gestaltet, als in der er- 1) Die vom Verf. (Studien über die bl. Mileh) zuerst mit bezug auf das Bacterium cyanogenum ausgesproche Ansicht, dass die aus der Teilung der Fadenformen hervorgegangenen Coccen einen solchen Ruhezustand, „Gonidien* repräsentiren, ist neuerdings durch Kurth (Botanische Zeituug 1883 Nr. 23— 26) für das Bacterium Zopfii experimentell bewiesen worden. 558 Dewitz, Drüsen im Zehenballen des Laubfrosches. sten. Daraus werden wir aber nicht den Schluss ziehen dürfen, dass dieser Cyklus nun auch alle für den Organismus möglichen Formen umfasse (selbst dann nicht, wenn eine verschiedene stoffliche Zusam- mensetzung des festen Nährbodens keine wesentlichen Abweichungen bedingt), sondern wir werden erst dann die Zahl der möglichen Formen als bekannt ansehen dürfen, wenn wir den gleichen Organismus in ver- schiedenen flüssigen Medien beobachtet und die hier auftretenden Mor- phen studirt haben. Es könnte vielleicht auf den ersten Blick scheinen, als ob die Forschung bei dieser Art der Untersuchung Gefahr liefe, auf Irrwege zu geraten und wol gar bei der Ansicht zu stranden, dass aus allem alles werden könne; jedoch faktisch existirt eine solche Gefahr für den besonnenen Beobachter nieht. Wir haben ein souveränes Mittel zur sichern Kontrolirung der Züchtungen in der Rückversetzung der gezeichneten Formen in die ursprünglichen Lebensverhältnisse, — in der Impfung pathogener Organismen auf den tierischen Körper, der Impfung zymogener Formen auf die betreffenden chemischen Stoffe, indem wir uns an den Satz halten, dass eine jede Spaltpilzform, auch die vielgestaltigste, wenn sie unter denselben Bedingungen vegetirt und dieselbe physiologische Tätigkeit ausübt, immer die gleiche Form darbieten muss, unbeeinflusst durch die Entwieklungseyklen, von wel- chen die zur Aussaat benutzten Keime stammen. F. Neelsen (Rostock). Ueber das verschiedene Aussehen der gereizten und ruhenden Drüsen im Zehenballen des Laubfrosches. Von H. Dewitz. Schon mehrfach hat man nach dem Vorgange Heidenhain’s das verschiedene Aussehen ruhender und elektrisch gereizter Drüsen konstatirt. Am schärfsten tritt diese Verschiedenheit wol nach Be- handeln mit Farbstoffen hervor. Beschäftigt mit der Untersuchung der das Klettern ermöglichen- den Drüsen in den Zehenballen des Laubfrosches versuchte ich, diese Drüsen dadurch zu reizen, dass ich ein auf einer Glasplatte sitzendes Tier an einem Hinterfuß einige Zeit festhielt und sich ab- mühen ließ, aus dieser unangenehmen Lage zu entkommen. Es streckte die Vorderbeine weit vor, befestigte sie durch das an den Zehen- ballen abgeschiedene Sekret!) und suchte den Körper nachzuziehen. 4) Dass der Laubfrosch an den Zehen keine Saugscheiben trägt, sondern sich durch eine Flüssigkeit befestigt, ist zuerst von v. Wittich festgestellt; und zwar wirkt sie nach genanntem Autor infolge der Kapillarattraktion. Dewitz, Drüsen im Zehenballen des Laubfrosches. 559 Da dieses nicht gelang, so wiederholte es diese Bemühungen so- lange, als ich es festhielt. Besonders eignen sich zu diesem Experiment wilde Tiere, welche ihre ganze Körperkraft zusammennehmen, um zu entfliehen. War das Tier etwas matt, und bemühte es sich nicht zu ent- fliehen, so zog ich es einige Zeit auf der Glasplatte an einem Hin- terbein umher, wobei es durch Anheften der übrigen Beine sich am Glase festzuhalten suchte. Schnitt ich dann die Ballen der Zehenspitze der Vorderbeine ab, so gelang es in den allermeisten Fällen bei der spätern Präparation, aufs deutlichste den Unterschied zwischen diesen gereizten und an- dern nicht gereizten Drüsen eines zweiten Individuums wahrzunehmen. Die Beine des gereizten wurden mit denen eines vor der Ampu- tation ruhig sitzenden Laubfrosches zusammen in dieselbe Härtungs- und Färbungsflüssigkeit (!/,°/, Chromsäure, Pikrokarmin) gelegt und auch miteinander in Paraffin eingebettet. Die gereizten und nicht gereizten Ballen machte ich durch kür- zeres und längeres Abschneiden kenntlich. An Schnitten konnte ich dann aufs schönste die Unterschiede wahrnehmen. In der der Epidermis sich anlegenden Cutis liegen auf der Ober- seite des Zehenballens wie auf dem ganzen Körper die kugligen Schleimdrüsen eingebettet. Zwischen ihnen zeigen sich die größern, mit gelblichem, körnigem Inhalt erfüllten Drüsen, die „Körnerdrüsen“ Engelmann’s). Bei letztern habe ich nie ein Drüsenepithel wahr- genommen, höchstens zeigten sich noch die Kerne. Während die vordere Hälfte des Ballens von einem maschigen Bindegewebe eingenommen wird, liegen in der hintern Hälfte in Bindegewebe eingebettet die das zur Befestigung dienende Sekret ab- sondernden Drüsen. Sie sind lang gestreckt ?) und münden auf der Sohle aus. Sie sind hier an Stelle der Schleimdrüsen getreten und nur eine modifizirte Form derselben. Die das Epithel zusammensetzenden Zellen sind sehr regelmäßig, klein und von gedrungener Gestalt. Betrachtet man das Drüsenepi- 1) Die Hautdrüsen des Frosches. Archiv f. d. gesammte Physiologie. Pflüger. Bd. V. 1872. 2) Auch beim Wasserfrosch fand ich die sonst kugligen Schleimdrüsen in den Zehenspitzen langgestreckt, so dass wir annehmen müssen, auch hier die- nen die Drüsen einem gleichen Zweck. Freilich sind sie viel kürzer und spärlicher als beim Laubfrosch., Doch wird dieser Apparat auch bei der geringen Ausbildung dem Tier schon einigen Nutzen gewähren, wenn es aus dem Wasser auf glatte Steine springt. Ebenso finden sich in den Zehenspitzen von Salamandra atra nach Leydig schlauchartige Drüsen, so dass dieser Apparat vielen Amphibien eigentümlich zu sein scheint, wenngleich er nur bei den Laubfröschen so entwickelt ist, dass die Tiere an senkrechten Flächen emporklettern können, 560 Metschnikoff, Phagocyten einiger Wirbeltiere. thel von der Fläche aus, so sieht man, dass die Zellen meistens sechskantig sind. Der Kern liegt am Grunde der Zelle, zeigt mehrere Körperchen in sich und ist von kugliger oder ellipsoidischer Gestalt. Isolirt man die Zellen, indem man feine in Paraffin ange- fertigte Schnitte, frische Drüsen, oder solche, welche in 5°/, neutralem chromsaurem Ammoniak 24 Stunden mazerirten, zerzupft, so sieht man, dass sie an ihrer Basis in ein oder zwei spitze Fortsätze aus- laufen. Pikrokarmin färbt die Zellen mit Ausnahme ihrer Kerne nur schr wenig. Alle Zellen zeigen genau denselben schwach rötlichen Farbenton. Ganz anders gestalten sich die Verhältnisse bei den nach obiger Methode gereizten Drüsen. Es liegen da tief kirschrote Zellen neben und zwischen solchen, welche von der roten Farbe nur schwach an- gehaucht sind. Erstere haben also das das Färben verhindernde Sekret von sich gegeben, während letztere noch vor diesem Akte stehen. Von der Fläche aus betrachtet zeigt sich das Epithel als schönstes Mosaik, bei dem dunkel kirschrote Steinchen zwischen hell rosafarbenen liegen. Wir ersehen hieraus, dass nicht alle Zellen einer Zehenballen- drüse zu gleicher Zeit tätig sind. Aehnliche Verhältnisse nahm Biedermann!) sehr oft bei der elektrisch gereizten Zungendrüse des Frosches wahr, indem ein und dieselbe Drüse alle Stadien der Veränderung zeigte, schleimleere Zellen zwischen mehr oder weniger schleimhaltigen. Also auch durch diese einfache Manipulation kann man die Drü- sen im Zehenballen des Laubfrosches zu energischer Tätigkeit an- treiben und die morphologische Verschiedenheit der gereizten und nicht gereizten Drüsen wahrnehmen. Untersuchungen über die mesodermalen Phagocyten einiger Wirbeltiere. Von Dr. Elias Metschnikoff. Mit dem Namen Phagocyten habe ich vor kurzem?) sämtliche Zellen bezeichnet, welche im stande sind, in ihr Inneres feste Nahrung aufzunehmen und nach Möglichkeit zu verdauen. Am vollständigsten hat sich die Phagocytennatur im Bereiche des Mesoderms erhalten, 1) Ueber morphologische Veränderungen der Zungendrüsen des Frosches bei Reizung der Drüsennerven. Sitzungsber. d. kais. Akad. d. Wissensch. Wien. Bd. 86. 1882. S. 14. 2) Unters. über die intrazelluläre Verdauung bei wirbellosen Tieren in Claus, Arb. aus dem Zool. Inst. zu Wien Bd. V, Heft II, S. 141 fi. Taf. XIL, XIV. Metschnikoff, Phagoeyten einiger Wirbeltiere. 561 wo wir eine große Anzahl amöboider Zellen finden, welche fremde Stoffe und abgestorbene oder nur abgeschwächte Elemente des eignen Körpers auffressen. In der Pathologie hat sich bereits ein umfangreiches Material über diese Fähigkeit der weißen Blutkörperchen angesam- melt; nur wollte man bis jetzt noch nicht anerkennen, dass die Auf- nahme fremder Körper eine Nahrungsaufnahme und die Zerstörung der aufgenommenen Substanzen (z. B. roter Blutkörperchen) einen Verdauungsakt repräsentiren. Die an Wirbellosen gewonnenen Re- sultate und vor allem der Nachweis, dass die amöboiden Mesoderm- zellen bei Spongien eine große Rolle im Verdauungsgeschäfte spielen, sowie dass bei Bipinnara, Phyllirhoe u. a. solehe Zellen eventuell als Verdauungsorgane fungiren, führten zu dem Schlusse, dass auch im Bereiche des Wirbeltiermesoderms eine intrazelluläre Nahrungsauf- nahme stattfinden muss. Als ein besonders günstiges Objekt, um diese Schlussfolgerung zu konstatiren, muss der Batrachierschwanz angesehen werden. Von den ersten Stadien seiner Atrophie an kann man in ihm eine große Anzahl amöboider Zellen finden, in deren Innerm ganze Stücke von Nervenfasern und Muskelprimitivbündeln enthalten sind. Man braucht nur ein Stück eines in Atrophie begriffenen Schwanzes in Blutserum oder in Augenflüssigkeit zu zerzupfen, um sogleich eine Menge solcher Zellen zu erhalten. Wenn sich die letztern eine Zeit lang in Ruhe befinden, so senden sie eine Anzahl feiner Ausläufer ab, wobei sie eine gewisse Aehnlichkeit mit Actinophrys und andern Heliozoen auf- weisen. Nur an einigen Larven von Bombinator konnte ich die Vor- gänge am unversehrten Schwanze beobachten und dabei konstatiren, dass im Beginne der Metamorphose neben einigen Schwanzmuskeln amöboide Zellen sich anhäufen, welche allmählich ganze Stücke von Primitivbündeln umwickeln, um sie dann vollständig aufzufressen. Einige Zeit behalten die Muskelbruchstücke noch ihre normale Struktur bei; die Querstreifung geht aber später verloren und sie zerfallen allmählich in rundliche stark lichtbrechende Körper. In der Leibeshöhle der in Verwandlung begriffenen Batrachier fand ich gewöhnlich eine bedeutende Anzahl ganz ähnlicher Amöboid- zellen wieder, die aber keine Muskelfragmente, sondern nur rundliche Körper enthielten. Ich glaube zu dem Schlusse berechtigt zu sein, dass die die Atrophie des Schwanzes besorgenden Phagoeyten zu- nächst in die Bauchhöhle gelangen, um von dort in das Lymph- be- ziehungsweise Blutgefäßsystem übergeführt zu werden. Die Atrophie der Kiemen lässt sieh nicht so leicht verfolgen; indess kann man auch bei der Verwandlung dieser Organe große vollgefressene Phagocyten in genügender Menge in ihnen vorfinden. Es stellt sich also heraus, dass bei der durchgreifenden Meta- morphose der Batrachier die Phagoeyten eine ebenso wichtige und aktive Rolle spielen, wie ich es für Bipinnarien und Auricularien 36 562 Metschnikoff, Phagocyten einiger Wirbeltiere. nachgewiesen habe. Die Erfahrungen der Pathologen sprechen auch dafür, dass bei den Vorgängen der sogenannten aktiven Atrophie der Muskeln und Nerven den Wanderzellen dieselbe Rolle zukommt. Um mir Gewissheit darüber zu verschaffen, ob auch bei Wirbel- tieren die Phagocyten im stande sind parasitische Baecterien aufzu- fressen, habe ich bei Fröschen eine künstliche Septicämie durch Ein- spritzen von faulem Blut unter die Haut erzeugt. Die weißen Blut- körperchen der erkrankten Tiere enthielten eine verschiedene Anzahl beweglicher und bewegungsloser Bacillen, welche im Innern von Va- kuolen eingeschlossen waren. Besonders reichlich fand ich diese Sep- ticämiebacillen in den Milzphagocyten, was mit der bekannten An- nahme der Pathologen übereinstimmt, nach welcher die weißen Blut- körperchen die in ihnen enthaltenen schwerlöslichen oder unlöslichen Körper gewöhnlich in die Milz transportiren. Solche Tatsachen dürften die Vermutung rechtfertigen, dass die Milz gewissermaßen ein pro- phylaktisches Organ repräsentirt, dessen Rolle grade in der Be- seitigung der krankheiterregenden Ursachen liegt, ähnlich wie ich es für die Nematocalyces der Plumularien angenommen habe. Damit stimmt auch der von Bacelli gemachte Befund!) überein, nach welchem der frische Milzsaft geronnenes Eiweiß aufzulösen im stande ist. Die bekannte Erfahrung, dass viele entmilzten Tiere ungestört leben können, harmonirt vollkommen mit der Vermutung, dass die Milz keine hervorragende physiologische Rolle ausübt, sondern als ein gegen krankheiterregende feste Stoffe (vor allem gegen Bacterien- keime) reagirendes Organ fungirt. Es wäre daher interessant, die Resistenzfähigkeit der entmilzten Tiere mit derjenigen der normalen zu vergleichen, wobei nicht außer acht gelassen werden darf, dass noch manchen andern Organen, wie z. B. den Lymphdrüsen und dem Knochenmarke, eine ähnliche prophylaktische Bedeutung zugeschrieben werden muss. Da meine Beobachtungen an wirbellosen Tieren mich zu der Schlussfolgerung führten, dass das wesentlichste und genealogisch ursprüngliche Moment der Entzündungsvorgänge in der Ansammlung von Phagocyten behufs des Auffressens der festen Reizstoffe besteht, so musste ich vor allem die Frage aufwerfen, inwiefern die Befunde an Wirbeltieren damit in Einklang gebracht werden können. Als bestes Untersuchungsobjekt fand ich die Schwanzflossen der Larven von Triton und andern Batrachiern. Nach dem Berühren eines Punktes der Schwanzflosse einer Larve von Triton ceristatus mit einem kleinen Stück Höllenstein und nach sofortiger Abspülung mit Kochsalzlösung kann man die reaktiven Entzündungsvorgänge ziemlich leicht be- obachten. Die bekannten Erscheinungen seitens der Gefäße sind hier 1) Studien über die Funktionen und die Pathologie der Milz. Virchow’s Archiv Bd. 51. 1870. 8. 141. Metschnikoft, Phagocyten einiger Wirbeltiere. 563 viel schwächer als bei Froschlarven ausgesprochen, was wol dadurch erklärt werden kann, dass bei Triton-Larven nur dünne Gefäße in der Sehwanzflosse verlaufen, so dass bei der bedeutenden Größe der Blutkörperchen die letztern nur mit großer Mühe durch die Gefäß- wand passiren können. Dagegen sind die Triton-Larven ein be- quemes Objekt, um sichere Resultate über die reaktive Rolle der Bindegewebszellen bei der Entzündung zu erhalten. Diese Zellen sammeln sich an der entzündeten Stelle an und fressen die ihnen zu- gänglichen festen Körper auf. So sah ich, dass die sternförmigen Bindegewebszellen rote Blutkörperchen, Karmin- und Pigmentkörnehen verzehren. In den Fällen, wo solche Zellen nur sehr geringe Mengen von Fremdkörpern aufnehmen, behalten sie ihre sternförmige Gestalt bei, nur einige geringe Aenderungen in den feinsten Ausläufern auf- weisend; in den Fällen dagegen, wo mehr Fremdkörper aufgefressen werden, ziehen sich die feinern Pseudopodien ein, die Zelle verliert dabei mehr oder weniger ihre sternförmige Gestalt und zeichnet sich zugleich durch raschere Beweglichkeit aus. Meine Beobachtungen führten mich zu dem Resultate, dass eine scharfe Grenze zwischen sogenannten fixen oder sternförmigen und wandernden Bindegewebs- elementen durchaus nicht existirt. Die stark vollgefressenen Zellen ziehen endlich ihre sämtlichen oder meisten Ausläufer ein, nachdem sie sich in einen rundlichen oder ovalen Klumpen verwandelt haben. Es ergibt sich somit aus meinen Untersuchungen, dass die Binde- gewebszellen der Schwanzflosse von Triton-Larven entschieden zu den Phagocyten gerechnet werden müssen und als solche bei der Entzündung reagiren. Eine Vermehrung soleher Elemente durch Tei- lung habe ich an entzündeten Larven einigemal beobachten können. Dieser Vorgang, den man mit den bekannten Kernfiguren in allen Stadien am lebenden Tiere leicht verfolgen kann, kommt indess verhältnissmäßig zu selten vor, als dass man ihm eine große Bedeu- tung im Entzündungsprozesse beilegen könnte. Bei den Kaulquappen spielt die Auswanderung der weißen Blut- körperchen eine viel größere Rolle als bei Triton-Larven, obwol auch bei ihnen die Bindegewebszellen bei der Entzündung mitbeteiligt sind. Meine Beobachtungen sprechen für die Ansichten derjenigen Forscher, welche, wie neuerdings v. Recklinghausen, eine aktive Auswan- derung der weißen Blutkörperchen annehmen. So sah ich einigemal eine typische Auswanderung aus solchen Kapillaren erfolgen, in denen das Blut vollständig bewegungslos war. Der Prozess wurde durch Austreiben von Fortsätzen eingeleitet, was im ruhenden Medium die weißen Blutkörperchen auch bei verschiedenen Wirbellosen gewöhn- lich zu tun pflegen. Die Phagocyten sammeln sich auch hier um die Stelle des Ent- zündungsreizes an, welchen letztern ich bei Kaulquappen durch ein fein ausgezogenes, Zinnober oder Karmin enthaltendes Glasröhrchen 36 * 564 Metschnikoff, Phagocyten einiger Wirbeltiere. hervorbrachte, und fressen alles auf, was ihnen zugänglich ist. Ge- wöhnlich verharren sie in diesem Zustande mehrere Tage und Wochen lang. Wenn einige vollgefressene Phagocyten dabei zu grunde gehen, so werden sie von andern verzehrt, so dass man nicht selten eine einkernige große Zelle findet, in deren Innerm ein oder zwei tote, kernlose Phagocyten liegen. Zur Bildung von wirklichen sogenannten Riesenzellen, d. h. vielkernigen Plasmodien, kommt es dabei gewöhn- lich gar nicht. Die letztern habe ich überhaupt bei den von mir un- tersuchten Amphibienlarven nur in sehr seltenen Fällen beobachtet. Aus meinen Erfahrungen muss ich hier noch folgendes hinfügen. Erstens, dass ich in mehrern Fällen die reichlichste Auswanderung bei entzündeten Kaulquappen nicht unmittelbar in der Nähe des Glas- rohres, sondern etwas entfernt von ihm fand, und zweitens, dass ich niemals eine merkliche Ansammlung des Transsudates, dagegen stets eine Anhäufung von Phagocyten konstatiren konnte. Aus der letztern Tatsache ziehe ich die Schlussfolgerung, dass die sogenannte seröse Entzündung eine verhältnissmäßig spät erworbene Erscheinung darstellt, während die Ansammlung der Phagocyten etwas mehr Pri- märes in der Entzündungsreaktion aufweist. Meine sämtlichen Erfahrungen, sowol an Wirbellosen, als aueh an Amphibien, lassen sich schwerlich mit der herrschenden Theorie der Entzündungsprozesse, nach welcher das Wesen der letztern in einer Erkrankung der Gefäßwand besteht, in Einklang bringen. Ich glaube vielmehr, dass der Schwerpunkt der Entzündung im Kampfe der Phagocyten gegen den festen krankheiterregenden Stoff liegt, mag der letztere eine abgestorbene oder abgeschwächte Zelle, ein Spaltpilz oder ein anderer Fremdkörper sein. Bei den Wirbellosen, wo genug Phagocyten vorhanden sind, erfolgt die Reaktion ohne jede Beteiligung seitens der Gefäßwand; die letztere wird nur bei Wirbel- tieren in Anspruch genommen, wo die extravaskulären Phagocyten meistens nicht hinreichen. Dieses Heranziehen der weißen Blutkör- perchen erfolgt, meiner Vermutung nach, durch die Vermittlung der Bindegewebszellen und der Gefäßendothelien, deren Zellen bekanntlich noch eine gewisse Beweglichkeit und Kontraktilität behalten haben. Durch den Reiz werden zunächst die Bindegewebsphagocyten be- troffen, welche, wie oben gezeigt wurde, bei der Entzündung sich durchaus nicht passiv verhalten und ihre Pseudopodien mehr oder weniger einziehen. Die dabei erfolgende Veränderung kann auf die lebende Endothelwand einwirken und schließlich einen solchen Zu- stand derselben erzeugen, welcher nicht nur die aktive Auswanderung der Hämophagocyten, sondern auch die passive Diapedesis der roten Blutkörperchen begünstigen wird. Nach dieser Hypothese muss zwischen dem Reizkörper und dem Blutgefäße eine lebendige Kette angenommen, werden, ‚welche auch dann die aktive Reaktion seitens der, Hämophagocyten ermöglieht,, ‚wenn, diese, weit entfernt: vom. Ent- Gottschau, Nebennieren der Säugetiere, 565 zündungsreize sind, z. B. bei der Keratitis. Die Glieder dieser Kette sind: 1) Bindegewebsphagocyten, 2) Endothelzellen der Gefäßwand und 3) weiße Blutkörperchen. Wenn der hier in kurzen Zügen geschilderte Gesichtspunkt falsch, die Theorie dagegen, nach welcher das Wesen der Entzündung in der Läsion der Gefäßwand und der darauf erfolgenden passiven Ex- travasation der Blutelemente besteht, richtig ist, so ist zu erwarten, dass in den Fällen, wo der Reiz sich im Blute selbst befindet, die Auswanderung nicht ausbleiben, sondern in der dem Reize entgegen- gesetzten Riehtung erfolgen wird. Derartige Fälle werden bei solchen Bacterienkrankheiten verwirklicht, wo die Parasiten im Blute selbst leben. Indess sehen wir, dass z. B. bei der oben erwähnten Septi- cämie der Frösche, wo die Blutgefäße durch eine Unzahl beweglicher Bacillen direkt gereizt werden, es zu einer merklichen Extravasation gewöhnlich gar nicht kommt. Die weißen Blutkörperchen, ohne die Gefäßwand zu verlassen, fangen die krankheiterregenden Baecterien im Blute auf, um sie nach Möglichkeit zu beseitigen. Auch kreisen im Recurrensanfall ganz unglaubliche Mengen von Spirillen mehrere Tage lang im Blute, „ohne, wie es scheint, die Blutbewegung, oder Herz und Gefäße im geringsten zu stören“ !), was jedenfalls mehr mit der oben entwickelten Hypothese, als mit der herrschenden Ent- zündungstheorie übereinstimmt. Auch ist es bekannt, dass ein Blut- gerinnsel, wenn es außerhalb des Gefäßes liegt, eine entzündliche Reaktion hervorruft, d.h. Phagocyten anzieht, während ein einfacher Trombus, welcher direkt auf die Gefäßwand einwirkt, keine Ent- zündung notwendig erzeugt, wahrscheinlich deshalb, weil genug Pha- goeyten im Blute selbst zirkuliren. Von diesem Standpunkt aus be- trachtet kann der Kampf zwischen Phagoeyten und Reizkörper, wenn er mitten im Blute erfolgt, als eine Art Hämitis aufgefasst werden. Ueber die Nebennieren der Säugetiere. Ueber die Struktur, embryonale Entwicklung und physiologische Funktion der Nebenniere sind in neuester Zeit verschiedene Arbeiten erschienen, deren Ergebnisse in nachstehendem kurz mitgeteilt wer- den sollen. Da der Verfasser selbst seit längerer Zeit eingehende Beobachtungen über das Organ angestellt hat, welche an anderer Stelle ausführlich bekannt gegeben werden, so möchte es vielleicht in- teressiren, auch gleich diese Befunde den übrigen Ergebnissen an die Seite gestellt zu sehen, zumal dieselben wesentlich von den andern abweichen. 1) Cohnheim, Vorles. üb. allgemeine Pathologie. 2. Auflage. Bd. I. 1882. S. 475. 566 Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. Je weniger über embryonale Entwicklung des Organs geschrieben ist, um so mehr ist die Zahl der Arbeiten über Struktur und Funktion angewachsen, und dennoch ist von Struktur und Entwicklung nur sehr wenig bekannt, über eine Funktion dagegen noch gar nichts. Frühere Beobachter embryonaler Nebennieren sind Remak, von Brunn, Meckel und von Kölliker!). Nach ihnen findet man beim Hühnchen die erste Anlage am fünften Tage (vonBr.)\, beim Ka- ninchen am zwölften (von K.). Mark und Rindensubstanz werden verschieden angelegt, diese entsteht aus dem Mesoderm, jene aus Ele- menten des Sympathieus. Die Marksubstanz soll dann im Verlaufe der Entwicklung erst allmählich in das Zentrum der Rindensubstanz gelangen, indem diese die Marksubstanz umwächst. Nach dem Schwanze zu sind, wie von Kölliker angibt, beide Nebennieren in ein Organ verschmolzen, und in dieser Vereinigung liegt ein großer Ganglien- knoten. Dass die Bildungen schon früh im Embryonalleben eine be- deutende Größe erreichen und z. B. beim Menschen anfangs größer sind, als die Nieren, im dritten Monat ebenso groß, ist gleichfalls be- kannte Tatsache. Von drei neuern Arbeiten, welche sich mit der Entwicklung der Nebenniere befassen, sind zwei, welche dieselbe bei Reptilien und Elasmobranchiern behandeln. Auch diese will ich der Vollständigkeit wegen gleich mit in den Bereich der Betrachtungen ziehen: Braun?) untersuchte Embryonen an Reptilien und kommt zu folgenden Schlüssen: a) Die Anlage der Nebenniere tritt als Verdiekung der lateralen Seiten in der Wand der untern Hohlvene resp. ihrer hintern beiden Aeste auf. ? b) Die Anlage ist, wie es scheint, ursprünglich ununterbrochen und beginnt erst nach der Entstehung der Vena cava inferior. c) Die mesodermale Anlage liegt später dorsal und ist Substantia corticalis der Säuger; hingegen entsteht der ventral gelegene Teil oder die Marksubstanz der Säuger aus der Sympathicusanlage, also aus dem Ektoderm. Balfour schreibt in seiner vergleichenden Embryologie: „In Elasmobranch Fishes we thus have a series of paired bodies derived from the sympathetie ganglia, and an unpaired body of mesoblastie origin. In the Amniota these two bodies unite to form the compound suprarenal bodies, the two constituents of which remain, however, distinet in their development. The mesoblastie eonstituent 1) Bezüglich der vor dem Jahre 1879 bekannt gegebenen Schriften über die Nebennieren verweise ich auf eine Arbeit von Räuber, welche als Inaugu- raldissertation „Zur feinern Struktur der Nebennieren“ Berlin 1881 erschienon ist und eingehende Literaturangaben enthält. 2) Braun: „Ueber Bau und Entwicklung der Nebenniere bei Reptilien“. Arbeiten d. Zool. Inst. zu Würzb,. Bd. V. Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. 567 appears to form the cortical part of the adult suprarenal body, and the nervous ceonstituent the medullary part.“ Mitsukuri!) sucht gleichfalls nachzuweisen, dass die Rinde aus dem Mesoblast, das Mark aus dem peripheren Teil des sympathischen Systems sich entwickelt und erst später von der Rinde umwachsen wird. So scheint nach den Ergebnissen sämtlicher Forscher festzustehen, dass Rinden- und Marksubstanz zwei verschiedene Bildungen sind, welehe aus ganz verschiedenen Anlagen hervorgehen. Völlig zweifel- los ist die Annahme aber dennoch nicht, und es finden sich grade in diesem Punkte in der Arbeit von Braun und namentlich in der von Mitsukuri noch verschiedene nicht ganz aufgeklärte Stellen. Mitsukuri hebt selbst hervor, dass die Medullarsubstanz in engem Zusammenhange mit der nervösen Masse stehe, und dass er beide dureh Zerzupfen nicht habe trennen können, dass aber dennoch in der Marksubstanz keine einzige typische Ganglienzelle enthalten sei. Er meint ferner, zwischen nervöser Masse und Marksubstanz sei bei Kaninehenembryonen ein bedeutender Unterschied im mikroskopi- schen Bilde vorbanden, und „die einzige Folgerung, zu der er kommen könne, sei die, dass dieser Teil des peripberischen sympathischen Systems (die Marksubstanz) sich schon zeitig durch eine enorme Ent- wicklung von Bindegewebszellen und durch eine völlige Abwesenheit von Ganglienzellen von dem andern Teil (eigentlichem Sympathicus) unterscheide, und dass dies alles die Vorbereitung zur Bildung in Marksubstanz sei.“ Ein Grund, dass Mark und Rinde zwei durchaus von einander verschiedene Gebilde sind, ist M. ebenso wie den frühern Forschern die völlig verschiedene Reaktion beider Substanzen auf Chromsäurebehandlung; das gleiche Verhalten aber von Ganglienzellen und Marksubstanz gegen Chromsäure auch in der embryonalen Anlage (nieht nur beim erwachsenen Tier) ein Beweis mehr für den gleichen Ursprung beider. Im spätern Teile dieser Abhandlung werden wir sehen, weshalb auf die verschiedene Chromsäurereaktion von Rinde und Mark kein so großes Gewicht zu legen ist. Was ferner den Zusammenhang von Marksubstanz und nervösen Elementen betrifft, so ist es nie leicht, manchmal unmöglich, Nervenmassen von einschließendem Bindegewebe zu befreien, und die Folgerung, welche M. ausspricht, weist wol selbst, wenn auch etwas undeutlich, darauf hin, dass es mit der Identität von Marksubstanz und Sympathicus doch noch etwas fraglich ist. Dazu kommt, dass die beigegebenen Abbildungen alles andere eher vorstellen können, als überzeugende mikroskopische Bilder. Verfasser dieses hatte es sich schon vor einigen Jahren zur Auf- 4) Mitsukuri „On the Development of the Suprarenal Bodies in Mammalia*, Journal of Microscopical Science. London New Series Nr. 85. 568 Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. gabe gestellt, die Nebennieren der Säugetiere einer eingehenden Un- tersuchung zu unterziehen. Die Beobachtungen an erwachsenen Tieren wurden vor längerer Zeit in kurzen Zügen bekannt gegeben!', die Un- tersuchung von Embryonen dagegen erst kürzlich zu einem vorläufigen Abschluss gebracht. Als Repräsentanten für drei verschiedene Tierspecies: für Dick- häuter, Wiederkäuer und Nager wurden Embryonen von Schwein, Schaf und Kaninchen in vielen Exemplaren untersucht, und von ihnen immer Schnittserien in verschiedenen Richtungen, meist horizontal, in einzelnen Fällen frontal und sagittal angefertigt. Die Resultate, zu denen meine Untersuchungen mich geführt haben, sind nun folgende: Die Nebennierenanlage entsteht nie vor der Existenz der Vena cava inferior; sie tritt bilateral auf, rechts m der Wandung der Vena cava, links an der Vena renalis oder spermatica interna und zeigt sich zuerst als ein Haufen von Kernen, die ein ähnliches Bild hervorrufen, wie die hinter der Aorta gelegenen Sympathicusanlagen. Es ist hier- nach bei Säugern und Reptilien die erste Anlage völlig gleich, da auch Braun die nahe Beziehung zwischen Nebennierenanlage und Wandung der Vena cava mehrfach betont. Schon von den ersten Anfängen an scheint die Anlage an einer Stelle die Wandung der Vene zu unterbrechen, und es macht sich be- reits bei geringem Wachstum der Anlage die Kommunikation eines Gefäßes der Nebenniere mit der Vena cava geltend. Dabei ist die Abgrenzung des Organs gegen die umliegenden Gebilde medianwärts meist scharf markirt, lateralwärts aber schwer zu erkennen. Wäh- rend nach der Mitte zu die Bindegewebszüge namentlich in frühern Stadien der Entwicklung eine sehr deutliche mehr oder minder scharfe Grenze gegen die Ganglienzellenanlage bilden, ziehen die- selben an der äußern Seite der Nebenniere in ganz dünner Lage zwischen ihr und der Geschlechtsdrüse hin, so dass es häufig bei der Aehnlichkeit der ersten Zellenanlagen schwer ist, eine genaue Grenze zu ziehen. Es ist unter solchen Umständen leicht erklärlich, dass abge- sprengte Stücke der Nebennierenanlage bei der Wanderung der Ge- schlechtsorgane nach unten völlig oder nur eine Strecke weit mitge- nommen werden können, und derartige Vorgänge sind denn auch in neuester Zeit von Marchand?) bei weiblichen Neugebornen beobachtet worden. M. fand im freien Rande des breiten Mutterbandes kuglige Gebilde von 1—3 mm Durchmesser und von gelblicher Farbe. Sie lagen stets in der Gegend des Venengeflechts, aus welchem die Vena sper- 1) Gottschau „Ueber Nebennieren der Säugetiere, speziell über die des Menschen.“ Sitzungsber. d. Würzb. Phys. med. Gesellsch. 1882. 2) Marchand „Ueber accessorische Nebennieren im Ligam. latum“ Archiv f. path. Anat. u. Phys. Bd, XXI Hft. 1. Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. 569 matica int. hervorgeht, zwischen den Blättern des Lig. latum und rag- ten über den freien Rand und die vordere Fläche desselben vor. In einem Falle traf er derartige Körperchen beiderseits unterhalb der Niere neben dem untern Teil der Ven. spermat. int. Weitere Fund- orte solcher abgesprengter Teile sind aber auch nach Rokitansky der Plexus solaris und renalis, ferner liegt zuweilen ein so abgeschnürter Teil der Nebenniere unter der Kapsel der Niere, „ja es kann sogar ein großer Teil der Nebenniere flach auf der Niere unter der Kapsel ausgebreitet sein.“ Die Mitte dieser accessorischen Nebennieren ist nach M. blassgrau oder graugelblich, doch nie von Marksubstanz ein- genommen. Dahingegen findet radiärer Verlauf der zelligen Elemente nach der Mitte zu statt, und eine mehr knäuelförmige Anordnung in der Peripherie. Bei Neugebornen männlichen Geschlechts, wo solche accessorische Nebennieren im Samenstrang sich finden müssten, hat M. bisher vergeblich geforscht. In der weitern Ausbildung der Nebennierenanlage macht sich bei Schwein und Schaf (bei Kaninchen nicht so deutlich) schon sehr früh eine ausgesprochene reihenartige Anordnung der innern Zellen geltend, während die äußere Schicht noch weiter das Bild von vielen aneinander gereihten ersten Anlagen bietet, also schon sehr ähnlich ist den gewohnten Befunden bei erwachsenen Tieren. Im Zentrum zieht sich von der Vena cava nach dem Rücken ein weites venöses Gefäß, das in der Mitte des meist birnenförmigen oder gestreckt ovalen Schnittes liegt, und dureh seine enorme Weite in noch sehr frühen Stadien des Embryonallebens auffällt. Zugleich mit der reihenartigen Anordnung der Zellen werden die Konturen derselben schärfer (namentlich beim Schwein), ihre Größe wächst, und die Farbe wird mehr bräunlichgrau. In der Mitte des Organs können die Reihen zusammenhängen oder frei in das Lumen des Gefäßes hineinragen. Meist sind sie in letzterm Falle von Endo- thel umgeben, doch scheint solches an einzelnen Stellen auch zu fehlen. Man findet dabei im Zentrum, namentlich wenn dasselbe nicht von einem einzigen Venenstamm durchzogen wird, vermehrtes Bindegewebe, ferner Zellen, die etwas größer und blasser als die übrigen Zellen der Reihen mit blassem Kern sind, dennoch den letztern sehr ähnlich sehen und nicht sowol getrennt von ihnen, als auch inmitten derselben ge- funden werden. Außer diesen Zellen sieht man auch vereinzelt kleine Massen von Detritus, die in ein Lumen hineinragen, und, wenn auch selten, einzelne nicht ganz zerstörte Zellen. Die Anlage des Sympathieus wird in der Nähe der Nebenniere erst nach der vollendeten Nebennierenanlage bemerkt und hängt an- fangs in keiner Weise mit derselben zusammen. Sie ist bei allen drei Tierarten konstant und zeigt sich stets als ein vom Dorsum nach vorn zwischen beide Nebennieren wachsendes Gebilde. Die Ele- mente dieser Sympathieusanlage ähneln, wie ich schon oben bemerkte, 570 Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. sehr denjenigen der Nebenniere. Die geringen Unterschiede sind folgende: Die Kerne der Sympathieusanlage sind wenig dunkler gefärbt und mit ihren Kernkörperchen schärfer konturirt, während die Kerne der Nebennierenanlage im ganzen etwas größer sind und ein matteres Aussehen erkennen lassen. Die sympathischen Elemente vermehren sich sehr schnell und füllen (z.B. bei Schaf und Schwein) den Raum zwischen beiden Organen bald fast völlig aus, bleiben aber dennoch in der Hauptsache immer durch Bindegewebe von ihnen getrennt. Nur an einzelnen Stellen, namentlich nach dem Schwanze zu treten Ausläufer in die Nebenniere, die als dünne Stränge eindringen, da- gegen nicht als große Massen von der Nebennierenanlage umwachsen werden, wie Mitsukuri behauptet. Nach dem Schwanze zu umgreift ferner das Ganglion beiderseits die Nebenniere, immer noch getrennt von ihr, und dieses Umwachsen führt bei Horizontalschnitten leicht zu der Annahme, dass die Nebennieren durch nervöse Masse vereinigt seien. Verschiedene Frontalserien bewiesen mir aber die Unrichtigkeit dieser Behauptung. Im großen ganzen boten die am weitesten vorgeschrittenen Em- bryonen — es wurden bei Kaninchen nur bis 18 Tage alte, vom Schwein solche bis 50 mm Länge, vom Schaf solche bis 23 mm Länge untersucht — das Bild der Nebenniere erwachsener Tiere ohne Mark- substanz. Dabei fanden sich aber in den innersten Teilen der Reihen Elemente, welche ich allein als Marksubstanz ansehen muss, wenn auch von einer Marksubstanz im gebräuchlichen Sinne nicht die Rede sein kann. Dieselbe entwickelt sich erst später, sei es im Embryonal- leben, sei es erst nach der Geburt zu der gewöhnlichen Ausdehnung. Da die Zellen der Sympathicusanlage nie sehr zahlreich in den em- bryonalen Nebennieren gefunden wurden, und, wenn sie in Haufen lagen, immer vom Bindegewebe eingeschlossen waren, so liegt die Wahrschemlichkeit nahe, dass der Sympathieus nichts mit der Bildung der Marksubstanz zu tun hat, zumal schon in diesen Stadien verein- zelt morphologische Elemente sich zeigen, welche, völlig verschieden von nervösen Elementen, sehr ähnlich sind denen, welche später in großer Menge das Mark bilden. Diese Elemente unterscheiden sich von den andern in der Reihe liegenden Zellen nur durch ihre und ihres Kernes vermehrte Größe, sowie durch ein mehr trübes Aussehen, und scheinen aus den eigentlichen Rindenzellen hervorgegangen zu sein. Die Struktur der ausgebildeten Nebenniere im erwachsenen Tiere will ich hier nicht näher erörtern, sondern nur das hervorheben, was bisher als Hauptstreitfragen immer wieder Gegenstand eingehender Untersuchungen gewesen ist. Einen wesentlichen Streitpunkt bildet das Verhalten von Nervenmasse, namentlich von Ganglienzellen zu dem Organ, und hier machen sich besonders zwei Meinungen geltend, Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. 571 von denen die eine die Ganglien und Nerven als integrirenden Teil der Nebenniere, ja vielleicht in ihr entstehend betrachtet, die andere die nervösen Elemente nur als accessorische Gebilde ansieht. Beide Ansichten stimmen aber darin überein, dass Mark und Rinde völlig verschiedene Substanzen seien. Dass Nerven und Ganglienzellen in der Marksubstanz mehr oder minder reichlich vorkommen, ist von allen bisher untersuchten Tieren behauptet worden. Umsomehr musste es den Verfasser wundernehmen, dass bei verschiedenen Tieren, sowol bei schon früher untersuchten (Kaninchen), als aueh bei mehrern, die neu zur Untersuchung heran- gezogen wurden (z. B. Fledermaus u. a.) keine Ganglienzellen zu sehen waren, wol aber Zellen, welche, den Ganglienzellen sehr ähn- lich, zur Verwechslung mit ihnen geführt zu haben scheinen. Diese Zellen zeichnen sich durch ihre Größe, bräunliche Farbe und großen Kern vor den andern Zellen der Rinden- und Marksubstanz aus und gehen unzweifelhaft aus den Rindenzellen hervor, ohne dass ihre nervöse Natur nachzuweisen wäre. Auch Mitsukuri gibt an, unter vielen Schnitten der Kaninehennebenniere nur einen einzigen mit einer Ganglienzelle gefunden zu haben. Nach meinen Untersuchungen an dreizehn verschiedenen Tierarten bin ich der Ueberzeugung, dass die nervösen Elemente der Nebenniere nur accessorische Gebilde sind, welche allerdings in naher Beziehung zu ihr zu stehen scheinen, und wenn sie nicht in ihr selbst liegen, doch immer dieht an ihr gefun- den werden und stets Nerven in das Innere des Organs entsenden. Gehen wir nun näher auf die Struktur des Nebennierenparen- chyms ein, so finden wir in frühern Beobachtungen fast ausschließ- lich die Anordnung der Zellen ins Auge gefasst und ihr Verhalten gegen Färbemittel. Darin, dass Mark und Rinde eine völlig ver- schiedene chemische Reaktion bekunden, sind alle bisherigen Forscher einig und leiten aus diesem Umstand auch den Beweis ab für die Verschiedenheit beider Substanzen, ja für die Verschiedenheit ihrer ursprünglichen Anlage. Meine eignen Beobachtungen ließen mich im Anfange gleichfalls mein Hauptaugenmerk auf die Anordnung der Zellen richten, da diese in der von Arnold Zona retieularis und Zona glo- merulosa genannten Gegend große Verschiedenheiten zeigen, besonders aber im Mark sehr wechselnde Bilder vorführen. Je länger ich Tiere ein und derselben Art (Kaninchen) und den Menschen untersuchte, umsomehr kam ich zu der Ueberzeugung, dass jene Verschiedenheiten der Zell- lagerung nicht in generellen Unterschieden beruhen können, sondern fast allein in funktionellen, da dieselben auch bei ein und derselben Art, wenn man genügend viele Individuen untersucht, angetroffen werden. Andere Verschiedenheiten fand ich dagegen bemerkens- werter, welche weniger in die Augen springend, und zum Teil auch schon anderweitig beschrieben, mir ein Hinweis auf die Art der Funk- tion zu sein scheinen: Schon Creighton macht darauf aufmerksam, 572 Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. dass in der Zona glomerulosa die Zellen häufig so dicht gelagert sind, dass hier bei gefärbten Präparaten ein dunkler Saum von Kernen stark in die Augen springt. Auch mir war die Erscheinung auffällig, und ich fand nun bei eingehender Untersuchung, dass sie nicht nur in der Zona glomerulosa, sondern auch in der äußern Schicht der Zona fascieulata sich zeige. Hier rührt sie entschieden von eng gelagerten zylindrischen, selten kubischen Zellen her, während in der Zona glomerulosa häufig eigentliche Zellen nicht gefunden werden, sondern Nester von Kernen in Protoplasma eingebettet. Derartige Nester liegen aber nicht nur zwischen Zona faseieulata und Neben- nierenkapsel, sondern auch in der Kapsel selbst und sind hier von kugligen oder langgestreckten Hohlräumen begrenzt, welche vom Bindegewebe gebildet werden. An der innern Fläche der Kapsel sind es gleichfalls wieder Kapseln von mehr oder minder starkem Bindegewebe, welehe die Kernnester einschließen. Die Umgrenzung des Bindegewebes ist aber nicht immer ganz geschlossen, sondern in vielen Fällen nach dem Mark zu unterbrochen und hier zeigt sich dann ein Zusammenhang mit den übrigen Rindenzellen, mögen die- selben in Haufen oder in Reihen gelagert sein. Der Uebergang von formlosem Protoplasma mit eingestreuten Kernen in einzelne geson- derte Zellen findet dann meist allmählich statt, und auch die Zell- grenzen treten erst nach und nach schärfer hervor. Dieses Auftreten von Zellindividuen trifft man nicht notwendig erst außerhalb der kapsel- artigen Einhüllung an, sondern man kann es auch sehr häufig schon in ihr beobachten. Nach der Marksubstanz zu wachsen die Zellen der überall vorhandenen Zona fascieulata und erhalten eine mehr grau granulirte Färbung. In der Zona retieularis wird dieselbe bei einzelnen Tieren, ganz besonders aber beim Menschen eine bräun- liche, da eine braune Substanz die Zellen entweder gleichmäßig oder in öltropfenartig glänzenden großen und kleinen Tropfen von im Durchschnitt 1 » Durchmesser durchsetzt. Ein weiterer Unterschied dieser Zellen gegen die andern Rindenzellen beruht, abgesehen von ihrer Lagerung, in ihrer Größe: Sie können grade so groß sein, als die ihnen zunächst gelegenen der Zona fascieulata, andererseits aber auch größer und kleiner. Dabei werden hier nieht selten Partien gefunden, in denen die Zellgrenzen nieht mehr zu erkennen sind und dem Auge ein Protoplasmahaufen sieh darbietet, in welchem unregel- mäßig verstreute Kerne gelagert sind; doch liegen hier die Kerne weiter zerstreut, als die in den äußersten Rindenschichten beschrie- benen. So wechselnd das Bild der Marksubstanz bei verschiedenen Tieren auch beobachtet wird, so gleichmäßig gestalten sich doch die ein- zelnen Elemente, welche dasselbe zusammensetzen und welche nach ihrem mehr oder minder zahlreichen Vorkommen und durch ihre ver- änderte Lagerung die Verschiedenheiten hervorrufen. Fast überall Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. 573 ist in der Marksubstanz im Verhältniss zur Rindensubstanz das Binde: gewebe vermehrt; dasselbe durchzieht in unregelmäßigen Dieken und in den verschiedensten Richtungen das Innere und birgt in seinen Zwischenräumen nervöse Gebilde, Gefäße und Zellelemente. Die letz- tern bilden in den meisten Fällen den Hauptbestandteil des Markes und ich habe folgende Befunde bei ihnen konstatiren können: 1) Beobachtet man die schon in der innersten Rindenschicht von mir erläuterten Protoplasmahaufen mit Kernen, welche im Innern des Organs am zahlreichsten sind, doch nicht wie Mitsukuri meint, allein das Mark ausmachen. Das Protoplasma ist aber hier nicht selten sehr geschwunden, so dass die Zellkerne sehr eng aneinander liegen. 2) Bemerkt man Zellen, welche, von gleicher Gestalt wie die innersten Rindenzellen, ein helleres Aussehen zeigen als diese und sich gegen Färbemittel auch anders verhalten. Hämatoxilin färbt sie z. B. bei den meisten Tieren dunkelblau. 3) Weist diese Gegend auch häufig sehr kleine Zellen auf, welche wiederum in einzelnen Fällen in der innern Rindenschicht beobachtet werden, an dieser Stelle aber auch mit verändertem chemischen Ver- halten. Die Lagerung aller dieser zelligen Bestandteile ist ebenso wie ihr Verhältniss zueinander sehr wechselnd. In den allermeisten Fällen sind sie unregelmäßig durcheinander geworfen, so dass es meist schwer wird, bei der nicht selten tief dunklen Färbung des Proto- plasmas ihre Grenzen zu unterscheiden. Liegen sie dagegen in Reihen, so ist die Unterscheidung weniger schwer, doch ist der letzte Befund ziemlich selten. Am wenigsten oft sieht man Bilder, wie sie Räu- ber einmal beim Menschen und ich einmal beim Kaninchen beobachtete, wo an der Wandung von größern Venen Zylinderzellen eine neben die andere gereiht standen, und der Kern in dem der Gefäßwandung abgewendeten Teile der Zelle steekte. Ferner darf ich nicht uner- wähnt lassen, dass in einzelnen Bildern jene Protoplasmahaufen und auch einzelne Zellen der Marksubstanz und innersten Rindenschicht keine nachweisliche Begrenzung gegen das anliegende Gefäßlumen erkennen ließen, sondern dass sie in dasselbe hineinragten. Ob solche Befunde Kunstprodukte sind oder nicht, muss ich vorläufig noch un- entschieden lassen. Noch habe ich den Zusammenhang von Rinde und Mark näher zu beschreiben: In den meisten mikroskopischen Bildern sind beide Substanzen namentlich durch Färbung scharf voneinander geschie- den. Prüft man aber die Grenze genauer, so bemerkt man in den allermeisten Fällen, dass die Elemente der einen Substanz, sei es ein- zeln, sei es in größern Partien sich inmitten der Elemente der andern eingestreut finden, und dass nicht selten der Uebergang der einen Zellart in eine andere durch Zwischenstufen vermittelt wird. 574 Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. Legen nach den eben geschilderten Befunden schon die mikros- kopischen Bilder gehärteter Organe die Vermutung nahe, dass die innern Rindenzellen und die Zellen der Marksubstanz von geringerer Festigkeit sind, als die äußern Rindenzellen, so wird diese Vermutung zur Gewissheit, wenn man von frischen Nebennieren die bestimmten Regionen zerzupft. In der äußern Rindensubstanz erhält man nämlich viele unversehrte Zellen, welche häufig in langen Reihen noch an- einander liegen. In der innern Rindenschicht wiegen mehr körnige stark lichtbrechende Massen vor mit vielen dazwischen liegenden Kernen und Zellen, und die Marksubstanz zeigt ein ähnliches Bild, wie die innere Rindensubstanz, nur dass in ihr noch viel mehr jene stark lichtbrechenden Körnehen und Kerne (4—6 u Durchmesser) zu sehen sind. Nach allen diesen Beobachtungen war ich persönlich der Ueber- zeugung, es mit einem Organe zu tun zu haben, das nicht nur im Embryonalleben, sondern auch beim erwachsenen Tiere sich in steter Funktion befinde. Die Art derselben zu ergründen musste die nächste Aufgabe sein. Nach langen Versuchen, welche ohne Resultat ver- liefen, kam ich auf den Gedanken, Nebennieren trächtiger und nicht trächtiger Kaninchen vergleichend gegenüberzustellen. Das Resultat war merkwürdigerweise, dass die Nebennieren trächtiger Tiere beim Kaninchen in allen Durchmessern durchschnittlich kleiner waren als die an nicht trächtigen und männlichen, und zwar zeigte sich mikros- kopisch der Unterschied in der Verringerung des Markes und der innern Rindenschicht mit gleichzeitiger Verbreiterung der äußern Zone mit den enggelagerten Zellen. Ein solcher Befund musste mir Beweis sein für die Richtigkeit meiner Annahme, es mit einem funktioniren- den Organe zu tun zu haben. Zufällig bemerkte ich ferner unter den vielen Fällen, in welchen ich die Nebennieren entfernte, zweimal in dem Blut der Vena cava einen weißlichen Streifen. Trotzdem ich bei der Untersuchung dieser Erscheinung mikroskopisch nichts auffälliges fand, ging ich neuer- dings noch einmal auf die Sache ein und untersuchte bei frisch ge- schlachteten Kaninchen das aus der Nebennierenvene auf Druck heraustretende Blut. Der Druck darf nur gering sein, da sonst die Substanz des Organs selbst zerdrückt wird. So fertigte ich ver- schiedene Präparate an, bei welchen ich jedesmal die aus einer oder mehrern Venenöffnungen hervortretenden Tropfen auf den Objektträger tupfte und entweder in Wasser und Glyzerin oder in Salzwasser untersuchte. Noch andere Präparate wurden schnell ge- trocknet und ergaben gleichfalls gute Bilder. In den ersten Tropfen, die auch schon makroskopisch ein weißliches Aussehen zeigten, waren zwischen den Blutkörpern kleine stark lichtbrechende Körnchen ein- zeln oder in größern Haufen zerstreut, dieselben fanden sich auch oft zu 10—20 in einer völlig kugelrunden Protoplasmamasse eingebettet, Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. 575 welche die Größe eines weißen Blutkörperchens hatte, und somit auch das Aussehen, als ob jene Körnchen in einem solchen Blutkörperchen gelegen wären. Außerdem waren mehr Kerne oder weiße Blutkör- perehen sichtbar als gewöhnlich, und sehr vereinzelt Zellen von ovaler oder eckiger Begrenzung und grau granulirtem Inhalt, in dem auch jene lichtbrechenden Körnchen sich bemerkbar machten. Je mehr Präparate ich bei gleichem Fingerdruck entnahm, um so blasser respek- tive weißer wurde die austretende Flüssigkeit, und zugleich zeigten sich die schon in den ersten Präparaten neu gefundenen Gebilde ver- mehrt, während die Zahl der roten Blutkörperchen sich bedeutend verringerte. Schließlich sah man dasselbe Bild, welches man beim Zerzupfen der Marksubstanz erhält, nur ohne Bindegewebe und ner- vöse Elemente. Derartige mikroskopische Bilder fand ich bei allen untersuchten Kaninchennebennieren, nur bei der einen in stärkerm, bei der andern in schwächerm Maße. Die soeben beschriebenen Elemente der Nebenniere halte ich für das Sekret derselben, welches auf der Grenze zwischen Rinden- und sogenannter Marksubstanz und in letzterer selbst ausgeschieden wird. Nach meiner Ueberzeugung geht hier ein Prozess vor sich, bei wel- chem entweder in den Zellen ein Stoff chemisch ausgeschieden wird, welcher ins venöse Blut übergeht, oder bei welchem die Zellen selbst zugrundegehen und entweder unversehrt oder nach ihrem Zerfall ins Blut übergeführt werden. Hand in Hand mit diesem Vernich- tungsprozess geht in der äußersten Rindenschicht eine stete Neubil- dung von Zellen vor sich, welche allmählich in die Reihen von außen nachrücken und schließlich ins Mark gelangen. Das letztere sehe ich daher nur als übrig gebliebene, noch nicht verbrauchte Rindensubstanz an, und halte diese Ansicht auch aufrecht gegenüber dem Einwurf, dass sie sich anders gegen Färbemittel verhalte. Denn dass bei einer chemischen Ausscheidung aus dem Protoplasma der Zelle zugleich auch ein anderes chemisches Verhalten derselben gegen Reagentien beobachtet wird, ist eine bekannte Sache. Weleher Art der ausgeschiedene Stoff ist, wird erst eine ein- gehende mikrochemische Untersuchung lehren, und dann vielleicht auch der endlose Streit entschieden sein, ob Pigment gebildet oder nur abgelagert wird, ein Streit, der noch in neuester Zeit Verfechter und Gegner dieser Ansichten aufweisen kann, indem eine Arbeit von Aufreeht'!): „Ueber Morbus Addisonii“ für die Herkunft des Pig- mentes im menschlichen Körper aus der Nebenniere plaidirt, C. Bur- ger?) dagegen in einer gleichfalls vor kurzem erschienenen Abhand- lung die entgegengesetzte Ansicht verteidigt. Letzterer weist auf- 1) Aufrecht, Pathologische Mitteilungen. Magdeburg 81. I. Heft. 2) Burger, Die Nebenniere und der Morbus Addison. Rerlin 1883, bei Hirschwald, 576 Gottschau, Nebennieren der Säugetiere. grund eigner physiologischer Experimente und Beobachtungen mit gleichzeitiger Zusammenstellung anderer bisher veröffentlichter Tat- sachen unter anderm nach, dass die Nebennieren keine für das Leben wichtige Funktion hätten und auch mit Bronzehaut im Morbus Addison in keinem Zusammenhang stünden. Was schließlich noch die Zeit anbelangt, in welcher die Funktion der Nebenniere statthat, so glaube ich, dass das Organ unausgesetzt in Tätigkeit ist, zu einzelnen Zeiten, wo eine stärkere Abgabe von Stoffen im Körper eintritt {z. B. bei Schwangerschaft), allerdings in stärkerm Maße als gewöhnlich, und dass diese vermehrte Abgabe im Innern, selbst bei vermehrter Neubildung außen, ein Kleinerwerden des Organs zur Folge haben kann, andererseits aber auch ein Größer- werden, je nachdem Abgabe oder Neubildung prävaliren. Das Klei- nerwerden kann aber auch unter gewöhnlichen Verhältnissen durch zu geringe Neubildung, so bei nicht genügender Stoflzufuhr bedingt sein, eine Behauptung, welche ich aus den neuerdings bei schlecht genährten Tieren beobachteten kleinen Organen folgere. Bei dieser soeben versuchten Erklärung der Bedeutung der Ne- bennierenelemente halte ich auch eine andere Einteilung und Be- nennung der verschiedenen Regionen für zweckmäßig, und so bezeichne ich die äußerste Schicht der abgekapselten Protoplasmamassen mit ihren Kernen als Zona bulbosa, die an dieselbe sich schließende, in welcher die Zellindividuen deutlicher auftreten, als Zona germinativa. Die Zona fasciculata folgt dann nach innen und wird allmählich im innern Teil und im sogenannten Mark zur Zona consumptiva. Nach allen im Vorhergehenden verzeichneten Beobachtungen wird jedenfalls der Nachweis des allmählichen Anwachsens der Mark- substanz im spätern Embryonalleben das nächste Ziel weiterer Forschungen sein, und Reizversuche des Organs im lebenden Tiere werden der Physiologie den Weg zeigen, auf welchem sie zur Kenntniss der chemischen Bestandteile gelangen kann. M. Gotischau (Basel). Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn in Braunschweig. (Zu beziehen durch jede Buchhandlung ) Soeben erschien: Welcker, Prof. Ilermann, Schiller’ s Schädel und Todten- maske, nebst Mitteilungen über Schädel und Todtenmaske Kant’s. Mit einem Titelbilde, 6 lithograpbirten Tafeln und 29 in den Text eingedruckten Holzstichen. gr. 8. geh. Preis 10 Mk. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Gentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. \ 34 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Be can. 1. Dezember 1883. Nr. 19. Inhalt: Fisch, Beiträge zur Kenntniss der Chytridiaceen. — Gruber, Ueber die Ein- flusslosigkeit des Kerns auf die Bewegung, die Ernährung und das Wachstum einzelliger Tiere. — Dewitz, Ueber die Bildung des Insektenfühlers. — Tizzoni, Experimentelle Studie über die partielle Regeneration und Neubil- dung von Lebergewebe. — Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. — Pflüger, Ueber den Einfluss der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen. — Ribot, Die Krankheiten des Willens. — Roux, Ueber die Zeit der Bestim- mung der Hauptrichtungen des Froschembryo. C. Fisch, Beiträge zur Kenntniss der Chytridiaceen. Dieser in den Sitzungsberichten der physikalisch -medizinischen Sozietät zu Erlangen erscheinenden Abhandlung entnehmen wir fol- genden Auszug: Die neuern Forschungen der Mykologie haben unsere Kenntniss von den verwandtschaftlichen Beziehungen der verschiedenen Pilzformen zu einander so weit gefördert, dass sich mit ziemlicher Sicherheit der Gang einer Hauptreihe feststellen lässt; und das voraussichtliche Resultat fernerer Untersuchungen wird darin bestehen, kleinere seit- lich abliegende Gruppen an sie anzuschließen. De Bary hat als wichtigste Glieder dieser Reihe, die als von grünen Chlorophyllalgen sich abzweigend gedacht werden muss, die Peronosporeen, Erysipheen und Ascomyceten bezeichnet, letztere mit Anschluss der Uredineen und der gesamten Basidiomyceten. Ein Moment, welches diesen ver- schiedenen Stufen den Charakter von Gliedern einer Reihe gibt, ist das allmähliche Schwinden der geschlechtlichen Funktionen, das Apo- gamwerden. Für die Gruppe der Ascomyceten hat Verf. in einer frühern Arbeit diese Verhältnisse nachgewiesen und zusammengefasst; dass es ihm gelungen ist, auch für einen andern Formenkreis, den der Chytridiaceen, die gleiche Entwicklungsrichtung festzustellen, dürfte besonders geeignet sein, den phylogenetischen Spekulationen, auf denen unser heutiges Pilzsystem aufgebaut ist, einen immer höhern Grad von Wahrscheinlichkeit zu verleihen. 37 578 Fisch, Beiträge zur Kenntniss der Chytridiaceen. Indem im Folgenden auf die Anführung jeden Details verzichtet wird, muss Verf. sich auf die wichtigsten Tatsachen beschränken. Unter dem Namen Chytridiaceen ist bisher eine Menge kleiner chlorophyllloser Organismen zusammengefasst worden, einzig und allein vielleicht mit Rücksicht auf die niedrige Organisation und das Fehlen anderer Anknüpfungspunkte. Es sind kleine, ein- bis wenig- zellige Pilze, die teils in abgestorbenen, teils in lebenden Pflanzen- teilen vegetiren, aber auch tierische Substrate nicht verschmähen, wie man sie z. B. nicht selten auf faulenden Insektenlarven im Wasser findet. Gemeinsam dürfte allen, so weit sie genauer bekannt sind, die Bildung von Schwärmsporen und bestimmten Dauerzellen sein; indess sind auch das nicht einmal Charaktere, die eine Zusammen- fassung rechtfertigen würden. De Bary hat sich, auf gewichtige Gründe gestützt, entschlossen, sie vorläufig als seitliche Abzweigung der Peronosporenstufe aufzufassen und durch Uebergänge ihnen un- sere Brandpilze anzuschließen. In wie weit des Verf. Beobachtungen dafür sprechen, wird anderwärts gezeigt werden. Bemerkt sei an dieser Stelle nur vorläufig, dass die ebenfalls von de Bary ange- regte Frage, ob in den Chytridiaceen nur ein einheitlicher Formen- kreis vorliege, oder ob heterogene Organismen sich unter ihnen ver- stecken, vom Verf. entschieden zu gunsten der erstern Annahme be- antwortet werden muss. Ref. geht jetzt zu einer knappen Darstellung der neuen Be- obachtungen über, um dann im Umriss (die Begründung muss im Original verglichen werden) die Folgernngen daran anzuschließen. Untersucht sind Angehörige dreier Formenkreise, die als Genera be- zeichnet werden können, und die alle in ihrer Lebensweise darin über- einstimmen, dass sie in grünen Wasserpflanzen parasitiren und deren Zugrundegehen bewirken.. Der ersten Gattung gibt Verf. den Namen Reessia. In absterbenden Wasserlinsen findet man sie, die Zellen aller Parenchymteile erfüllend. In ihren Anfangsstadien stellt sie sich dar als nackte, amöboid sich fortbewegende und gestaltwechselnde Proto- plasmamasse. Ein Kern ist nicht mit Sicherheit als solcher zu er- kennen, wolaber liegen dem fein granulirten Plasma einzelne größere stark lichtbrechende Körperchen eingebettet. Dieser amöboide Zu- stand, während dessen- das Pflänzchen sich fortwährend auf Kosten des Inhalts seiner Nährzelle vergrößert, währt oft mehrere Tage. Allmählich wird die Bewegung träger und träger, die Masse rundet sich zu einer Kugel (dem Zoosporangium) ab und umgibt sich sofort mit einer Membran; die lichtbrechenden Körperchen verschwinden, das ganze Protoplasma nimmt ein völlig. homogenes Aussehen an. An einer Stelle beginnt ebenfalls gleichzeitig die Membran eine Aus- stülpung zu treiben, die sich zu einem Schlauch verlängert, der je nach der verschiedenen Lage der Nährzelle in der Wasserlinse ver- schiedene Länge erreicht. Sehr komplizirte Umlagerungen im Innern Fisch, Beiträge zur Kenntniss der Chytridiaceen. 579 des Zoosporangiums führen sodann zur Bildung von einigen kleinen Sehwärmsporen, die durch den Schlauch austreten und ins umgebende Wasser gelangen. Sie unterscheiden sich im Bau wenig von den be- kannten Chytridiaceenzoosporen, ihr Protoplasma ist ziemlich körnig. Die ganze Entwicklung bis zu diesem Stadium nimmt im Durchschnitt 1—3 Tage in Anspruch. Mit großer Schnelligkeit fahren die Schwärmsporen im Wasser umher, bis nach einiger Zeit die Bewegung sich verlangsamt; zu je zwei nähern sie sich mit dem eilientragenden Vorderende, haften an einander und verschmelzen völlig, so dass bald das Kopulationspro- dukt eine mit zwei Cilien versehene Zelle darstellt, die nur noch träge sich bewegt und sich bald auf der Membran einer gesunden Lemna- Zelle festsetzt. Sie umgibt sich mit einer dünnen Haut und beginnt bald durch die Zellmembran der Lemna-Zelle einen Fortsatz in diese zu treiben, durch den in ungefähr 4 Stunden das Protoplasma des Parasiten in die Nährzelle überfließt. Der Kern der Schwärmsporen verschwindet dabei. — Langsam wächst nun der Parasit heran, nach- dem er sich mit einer Zellhaut umgeben; er bildet sich allmählich zur Dauerspore um, einer diekwandigen, mit einem großen oder mehrern kleiunern zentralen Oeltropfen versehenen Zelle, die ihrerseits durch Zoosporenkeimung Gelegenheit zur Bildung neuer Zoosporangien gibt und so den neuen Entwicklungsgang einleitet. Ueber die nötige Ruhe- zeit hat Verf. keine Erfahrung; jedoch dürfte dieselbe nicht lang sein. Ein regelmäßiger Wechsel zwischen Zoosporangien- und Dauersporen- bildung findet nicht statt. Dies in kurzem die Entwieklungsgeschichte des Pilzes. Wesent- lich ist vor allem das Vorhandensein einer Sexualität. Eine zweite vom Verf. untersuchte Form gehört der Gattung Chytridium an, die der ganzen Gruppe ihren Namen gegeben hat. Ueber die Arten dieser Gattung ist viel geschrieben worden; jedoch bisher lag in keinem einzigen Falle auch nur eine annähernd vollstän- dige Untersuchung ihrer Entwicklungsgeschichte vor. Die vom Verf. untersuchten parasitiren ebenfalls in Lemna und in Spirogyra und stim- men in allen wesentlichen Punkten vollständig überein. Ihre vegetativen Zustände unterscheiden sich von denen der Reessia dadurch, dass sie, abgesehen von den jüngsten Stadien, zu allen Zeiten von einer festen Membran umgeben sind. Eindringende Zoosporen (das Eindringen geht wie bei Reessia vor sich) erzeugen in den Zellen der Nährpflanzen zunächst Zoosporangien, die in gleicher Weise wie die frühere Form einen Halsfortsatz treiben und durch diesen die Zoosporen entlassen. Das Wesentliche beruht darin, dass die auf diese Weise frei gewordenen Zoo- sporen nach kürzerm oder längerm Umherschwärmen nicht kopuliren, sondern einzeln allmählich zur Ruhe kommen und auf den Zellen der Nährpflanzen sich festsetzen. Sie dringen in dieselben ein und er- zeugen hier direkt jene allbekannten Ohytridium-Dauersporen, deren 31° 580 Gruber, Einflusslosigkeit des Kerns einzelliger Tiere. Beschreibung hier weggelassen werden kann. — Hiermit ist endlich die Frage nach der Sexualität der Gattung Chytridium gelöst und die Möglichkeit zu endgiltiger Anknüpfung geboten. Im ganzen ebenso verhält sich die ebenfalls genau untersuchte Gattung Rhizidium, welche sich vor Chytridium nur durch das Vor- handensein eines ziemlich reichlichen, vielfach verzweigten Myceliums auszeichnet, sowol an den Zoosporangien als an den Dauersporen. Schließlich sei noch die systematische Verwertung der soeben skizzirten Tatsachen kurz angedeutet. Verf. verknüpft zunächst die drei untersuchten Gattungen zu einer Reihe, die mit Reessia anfängt und in Rhizidium die höchste morphologische Ausbildung erreicht. Bei dem vollkommenen Uebereinstimmen aller vegetativen und morpho- logischen Eigenschaften ist an dieser Verwandtschaft nicht zu zweifeln, und es ist ersichtlich auch hier ein Apogamwerden eingetreten, wie es in analogen Fällen ganz ähnlich sich nachweisen lässt. Die Reihe ist eine durchaus natürliche, ohne weiteres in die Augen springende. Rhizidium bildet nach Verf. sodann die Brücke zu den Cladochytrien und von da vielleicht zu den Ustilagineen, während an Reessia leicht und ungezwungen die Saprolegnienschmarotzer Olpidiopsis, BRozella und Woronina sich anreihen, deren Verwandtschaft mit den Synchy- trien von Fischer dargethan ist (s. dies. Centralblatt Bd. II Nr. 3). So erhalten wir eine vorläufige Uebersicht über diese bisher ziemlich unentwirrte Pilzgruppe, die im einzelnen sich verschieben mag, deren Gerippe aber als ein ziemlich festes anzusehen ist. C. Fisch (Erlangen). Ueber die Einflusslosigkeit des Kerns auf die Bewegung, die Er- nährung und das Wachstum einzelliger Tiere. Von Dr. A. Gruber, außerordentl. Prof. der Zoologie in Freiburg i. Br. Im Anfang dieses Jahres habe ich einige Beobachtungen an kern- losen Exemplaren von Actinophrys sol veröffentlicht!), über die ich in diesem Blatte mir kurz zu referiren erlaube, nachdem ihrer auch an andern Orten Erwähnung getan wurde?) und ich seither in der Lite- ratur einen weitern Beleg für solehe Vorkommnisse gefunden habe. Der Sachverhalt ist in Kürze folgender: zu öftern malen wurde bei Actinophrys sol eine Vereinigung größerer Exemplare mit viel klei- 1) Beobachtungen über einige Protozoen. Zeitschr. für wiss. Zoologie. Bd. 38. Heft 1 (s. auch Zool. Anz. Nr, 118). 2) Vergl. Kosmos, Ueber die physiol. Bedeutung des Zellkerns. Jahrg. VI. S. 210. j Gruber, Einflusslosigkeit des Kerns einzelliger Tiere. 581 nern beobachtet und zwar so, dass die letztern von den Pseudopodien der andern erfasst, herangezogen und schließlich wie eine zur Nah- rung dienende Beute in den Körper des größern Heliozoons aufge- nommen wurden. Nach sofortiger Tötung und Färbung solcher Exem- plare zeigte sich, dass nur die großen Actinophrys einen Kern be- saßen, die kleinen dagegen kernlos waren. Man hat dieselben folg- lich als Splitter anzusehen, welche sich von andern Individuen abge- löst hatten, ohne einen Anteil von Kernsubstanz mitzubekommen. Merkwürdigerweise verhalten sie sich aber trotzdem wie vollkoimmene Individuen, indem sie Pseudopodien treiben und einziehen, Nahrung aufnehmen und in Vakuolen einschließen, und indem die pulsirende Blase wie beim normalen Tiere arbeitet; ja auch eines Wachstums sind sie fähig, denn ich erhielt einmal ein Präparat einer kernlosen Actinophrys, die im Begriffe stand, mit einem ausgewachsenen kern- haltigen Individuum zu verschmelzen, von dem sie sich durchaus in niehts unterschied, so dass man sie ohne Anwendung von Reagentien für ganz normal gehalten hätte. Hier hatte also jedenfalls ein Wachs- tum stattgefunden, da ja ein Ausschnitt aus dem peripheren Proto- plasma einer Actinophrys — also ein kernloser Splitter — ursprüng- lich immer nur einen kleinen Bruchteil eines ausgewachsenen Indivi- duums darstellen kann. Das Vorkommen solcher kernloser und trotzdem doch lebens- fähiger einzelliger Tiere habe ich noch bei Amöben konstatiren kön- nen und sogar bei Infusorien. Es kamen mir viele Exemplare einer Oxytricha (wahrscheinlich O. fallax) zu Gesicht, bei denen sowol der Kern als auch die Tiere selbst im Zerfall begriffen waren, und es fan- den sich bei ihnen mehreremals solche Zerfallstücke, welche wieder eine regelmäßige Gestalt angenommen hatten und munter umherschwammen, dabei aber, wie sich bei der Färbung herausstellte, keine Spur eines Kerns enthielten. Hiermit stimmt eine Beobachtung überein, welche schon früher von Balbiani gemacht worden war, auf die ich aber erst jetzt auf- merksam gemacht wurde). Es finden sich nämlich nach Balbiani manchmal Individuen von Paramaecium aurelia, welche eines Kernes vollkommen entbehren, wie man durch Anwendung von Reagentien ganz sicher nachweisen kann. Dieselben sollen in der Weise ent- stehen, dass, wenn bei der Teilung der Kern in zwei Stücke zerfallen ist, diese nicht in die Tochterindividuen auseinanderweichen, sondern beide in eines zu liegen kommen, während das andere kernlos bleibt. Balbiani macht darauf aufmerksam, dass Bütschli einen ähn- lichen Fall bei Paramaecium putrinum beschrieben hat, bei welchem 4) Die betreffende Bemerkung findet sich in der Wiedergabe von Bal- biani’s Vorlesungen über Protozoen am College de France. „Les Organismes unicellulaires.* Journal de Micrographie,. T, 5. 1881. 8. 259. 582 Dewitz, Ueber die Bildung des Insektenfühlers. aber wenigstens noch ein Nebenkern vorhanden war. Die Stelle aus Bütschli’s Arbeit, welche Balbiani im Sinne hatte, ist jedenfalls folgende!): „Hieran schließt sich denn auch der merkwürdigste Kon- jugationszustand von P. putrinum, welcher mir zu Gesicht kam. Je- des der konjugirten Tiere enthielt einen in der Entwicklung zu einer Kapsel begriffenen Nucleolus, jedoch nur das eine einen noch unver- änderten Kern; das andere hingegen entbehrte jeden Rudimentes eines Nucleus.“ Balbiani schließt aus diesen Tatsachen, „que ce noyau n’a pas une influence tres grande sur la vie individuelle, mais il en est tout autrement quant & la reproduction“, und ich selbst habe aus meinen Beobachtungen gefolgert, „dass der Kern keine Bedeutung für die- jenigen Funktionen des Zellkörpers hat, welche nicht direkt in Be- ziehung zur Fortpflanzung stehen, also zur Bewegung (Pseudopodien- bildung), zur Nahrungsaufnahme, zur Exkretion (Pulsation der kon- traktilen Vakuole) und zum Wachstum.“ Ueber die Bildung des Insektenfühlers. Von J. Dewitz, stud. rer, nat. In dem Kapitel, wo Graber in seinen „Insekten“ die postem- bryonale Entwicklung behandelt ?), versucht er daraus, wie man den Schmetterlingsfühler in der zur Verpuppung reifen Raupe findet, auf den Hergang der Entwicklung des Fühlers zu schließen. Er ist der Ansicht, dass die Ansatzstelle des Fühlers am Kopfe der Raupe von unten nach dem Scheitel der Raupe rücke und der Fühler sich dadurch verlängere. Bei Untersuchungen, die ich an Raupen von FPieris Brassicae an- gestellt habe, fand ich die Verhältnisse ganz anders. Wie bei den Gliedmaßen der meisten Insekten mit vollkommener Verwandlung, die daraufhin untersucht sind, geschieht die Bildung des Schmetterling- fühlers durch Einstülpung der Matrix. Wenn man durch den Kopf einer halberwachsenen Raupe einen Längsschnitt so legt, dass der Raupenfühler der betreffenden Seite am abgeschnittenen Stück verbleibt, so lässt sich aus diesem ein langgestrecktes sackartiges Gebilde herauspräpariren, welches an der Basis des Raupenfühlers sitzt. Diese beiden Anhänge der beiden Raupenfühler sind die Anlagen der beiden Schmetterlingsfühler. Sie liegen unter den Nähten des Clypeus. Der Sack hat sich dadurch gebildet, dass die Matrix an der 1) Bütschli, Studien ete. Separatabzug aus d. Abh. d. Senkenb. naturf. Ges. Bd. X. 1876. S. 98. 2) V, Graber, Die Insekten. Teil I. 2. Hälfte. S. 507. Tizzoni, Studie über Regeneration und Neubildung von Lebergewebe. 583 Basis des Raupenfühlers (wo die Matrix des Kopfes in den Raupen- fühler hineinragt) in das Innere des Kopfes sich hineinstülpt, und dass die entstandene Falte durch Wachstum immer tiefer wird. Daraus folgt, dass der Sack doppelwandig ist. Bei jungen Raupen sind beide Wände gleich stark und liegen dicht aneinander. Später wird die äußere dünn und durchscheinend, so dass man die Falten der innern Wand erblickt. Diese nämlich faltet sich mit zunehmendem Wachs- tum, wodurch bedeutend an Raum gewonnen wird. Der Querschnitt ist bei noch kleinen Säcken kreisrund, bei ältern oval. . Weil der Sack in der angegebenen Weise durch Einstülpung entstanden ist, muss er unten offen sein. Diese Oeffnung ist bei jungen Raupen weit, später wird sie eng. Es wuchern durch die- selben in das Innere des Sackes verschiedene Gewebe hinein, beson- ders Tracheen, von denen hauptsächlich die Bildung der Gewebe im Fühler Ds scheint. Dem Wesen der Matrix zufolge muss zwischen den beiden Wän- den eine Chitinhaut liegen, da sich die Raupe verschiedentlich häutet und die Matrix bei einer Häutung überall auf ihrer Oberfläche Chitin ausscheidet. Die Chitinhaut ist aber so zart, dass es sich nicht fest- stellen lässt, ob sie aus: zwei Lamellen besteht, was zu erwarten wäre. Doch haben sich die beiden Lamellen wol so aneinander gelegt, dass eine innige Verbindung stattgefunden hat. Bei ältern Stadien macht die Chitinhaut die Biegung der innern Wand mit und geht in die Falten derselben hinein. Wie sich aus diesem Sacke mit doppelter Wandung der Fühler herausbildet, habe ich noch nicht genügend feststellen können. Es scheint aber, dass sich die äußere Wand zusammenzieht und durch diese Ausstülpung das innere Gebilde als zukünftiger Schmetterlings- fühler freigelegt wird. Experimentelle Studie über die partielle Regeneration und Neu- bildung von Lebergewebe. Von Guido Tizzoni. Bei einem an der Milz eines Hundes ausgeführten Versuch wurde zufällig der untere Rand eines Leberlappens verletzt. Dieser Ver- letzung folgten Vorgänge, welche interessante Aufschlüsse über die Fähigkeit der Leber zu partieller Regeneration und zu Neubildungen gaben und darum hier besprochen werden sollen. Unter partieller Regeneration oder Reproduktion ver- steht Verf. im allgemeinen die Wiederherstellung eines Organs in der Weise, dass verletzte oder abgetragene Teile durch Bildung neuer Elemente, welche dem übrigen Organ in Struktur, Form und Funktion 584 Tizzoni, Studie über Regeneration und Neubildung von Lebergewebe. vollkommen gleichen, bis zur ursprünglichen normalen Größe des be- treffenden Organs ersetzt werden. Unter Neubildungen dagegen will Verf. solche verstanden wissen, welche in ihrem anatomischen Charakter wol auch dem ursprünglichen Organ entsprechen, aber außerhalb des normalen Umfangs desselben entstehen. Die sechs Monate nach der oben erwähnten Operation ausge- führte Sektion des Tiers ergab folgende Tatsachen. Das große Netz war mit der Leber an der verwundeten Stelle derselben fest verwachsen; die Wunde war großenteils durch eine Neubildung geschlossen, welche alle makroskopischen Charaktere des Organs erkennen ließ, und welche in der Gestalt einer 20 mm langen dreieckigen Zunge über das große Netz sich ausdehnte. Mit der Leber hing dieselbe durch eine 5 mm breite und 2 mm dicke Basis zusammen. In der Mitte verlief mit zahlreichen Verzweigungen ein starkes, dem großen Netz angehöriges Blutgefäß, während ein diese Gefäße umschließendes, nach den Rändern der ganzen Bildung hin dünner werdendes Gewebe alle äußern Merkmale einer normalen Leber darbot. Wegen ihrer Lage außerhalb der Grenzen der Leber war diese Neubildung einmal einer genauern Untersuchung in sehr günstiger Weise zugänglich, und außerdem war der Fall darum besonders in- teressant, weil die Ränder derselben, also ihre Wachstumszone, ver- schiedene Entwicklungsstufen erkennen ließen. Durch die sowol an der regenerirten Leber, als auch an den Neubildungen in der Umgebung derselben sorgfältig ausgeführte histo- logische Untersuchung lassen sich folgende Schlüsse ziehen. Bei mechanischer Reizung des Leberparenchyms tritt eine kräftige Wucherung der Leberzellen ein, und zwar bleibt diese nicht nur auf die gereizte Stelle beschränkt, sondern dehnt sich, allmählich geringer werdend, bis in gewisse Entfernung von derselben aus. Unter ge- wissen Bedingungen kann eine solche Wucherung nach einer Ver- letzung der Leber eine Reparation derselben herbeiführen, ja mitunter auch Neubildung von Leberzellen und Gallengängen über die nor- malen Grenzen der Leber hinaus veranlassen. Der histologische Vorgang der Leberneubildung ist mit dem der Regeneration identisch. Die experimentell hervorgerufene Neubildung vollzieht sich in einer der Embryonalentwieklung ähnlichen Weise. Solide Zellstränge (Remak’s Leberzylinder), als Abkömmlinge aktiv wuchernder Leberzellen, dringen in das Bindegewebe ein, welches die Ränder der Wunde verbindet, ungefähr ebenso, wie von einer Epithelialgeschwulst des Rete Malpighii Epithelstränge das Binde- gewebe der Lederhaut durchsetzen. (In unserm Fall gehört das Binde- gewebe dem großen Netz an, welches mit der Wunde verwachsen war.) Diese aus grobkörnigem, mit Gallenpigmentkörnern und zahl- reichen Kernen versehenem Protoplasma gebildeten Leberzylinder sind Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. 585 in allen Richtungen leicht geschlängelt, schicken zahlreiche Aeste aus und endigen mit unregelmäßigen oder kolbenförmigen Verdiekungen. Bald nach ihrer Entstehung setzen sie sich von dem umgebenden Bindegewebe durch einen engen Hohlraum ab, welcher die erste An- lage von Gallenwegen darstellt. Eimige der Zylinder zerfallen in mehrere kleinere Züge von Leberzellen, welche als untereinander ver- zweigte Zellstränge das System der Lebertrabekeln darstellen. Die Stränge stellen zunächst ein weiteres Maschenwerk dar, zwischen denen dichtes Bindegewebe eingelagert ist, reihen sich jedoch nach und nach immer enger aneinander durch Bildung von neuen Sprossen und Zylindern, die dann den gleichen Umwandlungen unterliegen. In andern Zylindern wird die Protoplasmamasse schließlich hohl, während das übrig bleibende Plasma zu Epithelzellen sich differenzirt, welehe allmählich Charakter und Verteilung der prismatischen Zellen der Gallengänge annehmen. Auf diese Weise entstehen verzweigte Röhren (Gallengänge), welehe mit den Lebertrabekeln in Verbindung stehen und deren Absonderungsprodukte aufnehmen. Letztere ge- langen von den Leberzellen in die Ursprünge der Gallengänge oder in die engen Spalträume, welche die neugebildeten Leber- zylinder umgeben. Das große Netz jedoch, welches, falls es mit der Wunde der Leber verwächst, dieselbe verschließt, nimmt an der Leberneubildung durchaus keinen Anteil, abgesehen von der Bildung von Blutgefäßen. Es stellt nur ein Stroma dar, in welchem die Neubildung vor sich geht. Dieses Bindegewebe ist arm an weißen Blutkörperchen. Es besitzt den Charakter eines fibrösen Gewebes und ist von den neu- gebildeten Zylindern und Leberzellen immer durch enge Spalträume getrennt. Im regenerirten bezw. neugebildeten Teil der Leber gibt es keine echte Einteilung in Aeini. Die Lebertrabekeln haben gewöhnlich die gleiche Richtung wie die Bindegewebestränge, zwischen denen sie gebildet wurden. Außerdem findet noch eine Gruppeneinteilung durch dickere bindegewebige Scheidewände statt, in welchen weite, meist venöse Blutgefäße und größere Gallengänge verlaufen. In den gefäßreichen Teilen der Neubildung schließen die Leber- trabekeln wie beim Embryo viel Blut in ihren Maschen ein, bleiben aber von der Gefäßwand durch den mehrfach erwähnten engen Spalt- raum getrennt. Histologisch stimmt die völlig entwickelte Leberneu- bildung in allen ihren Teilen (Leberzellen, Gallengängen) mit den entsprechenden Teilen der normalen Leber überein. Ueber Milchsekretion. Die Milehdrüse baut sich aus kleinsten Drüsenläppchen auf; zwischen diesen wird ein Bindegewebe angetroffen, in welchem zahl- 586 Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. reiche Blut- und Lymphgefäße sowie Nerven verlaufen. Jedes Läpp- chen besitzt einen kleinen Ausführungsgang; dieser vereinigt sich mit benachbarten Ausführungsgängen zu immer größern Kanälen, und end- lich mündet eine beschränkte Anzahl von großen Gängen in einen Sammelraum, die Milchzisterne, ein, welcher durch den Zitzenkanal mit der Außenwelt kommunizirt. Bei der mikroskopischen Untersuchung stellen die Drüsenläppehen Bläschen dar; man trifft eine dünne Grundmembran an, die auf ihrer Innenfläche mit einer Schicht von Zellen besetzt ist. Letztere sind platt, liegen wie Pflastersteine nebeneinander und bergen in ihrem In- nern einen Kern und eine Anzahl kleiner Fetttröpfehen. Diese Zellen nun spielen eine außerordentliche physiologische Rolle: sie stehen mit der Milchbildung in einem so innigen Zusammenhange, dass man sie geradezu als „Milchzellen“ bezeichnen kann. Heidenhain beson- ders hat es jedem Zweifel entrückt, dass die Zellen einen wesentlichen Anteil an der Milchbildung nehmen; er fand bei der Milchsekretion den Leib der Zellen mehr und mehr schwinden, indem Teile des Zell- leibes in das Sekret übergehen; er zeigte, dass die Milchzellen im höchsten Entwieklungsstadium hohe, mit Nährstoffen geschwängerte Gebilde darstellen, die weit in das Lumen des Bläschens hineinragen und der Wand desselben in der Regel mit breiter Basis aufsitzen, während sie nach anhaltender Tätigkeit ganz flach erscheinen. Zwi- schen diesen beiden extremen Zuständen kommen alle Uebergangs- formen vor. Die Milch kann man als eine wässerige Lösung von Eiweißstoffen, Milchzucker, Salzen und Extraktivstoffen auffassen, in denen zahlreiche Fetttröpfehen suspendirt erscheinen. Natürlich kann es sich bei der Milchsekretion nur hinsichtlich der Bildung der organischen Bestand- teile um eine spezifische Drüsentätigkeit handeln, und es drängt sich hier zunächst die Frage auf, ob die gesamten oder nur ein Teil dieser Bestandteile Zerfallsprodukte der Drüsenzellen sind. Bei dem gegenwärtigen Stande der Sekretionslehre sind wir nicht im stande, diese Frage direkt zu beantworten; indess müssen wir an der Anschauung, dass die gesamten organischen Bestandteile den Drüsenzellen entstammen, entschiedenen Anstoß nehmen. Ich kannte eine Kuh, die täglich 32 Liter einer vorzüglichen Milch produzirte. Veranschlagt man den Durchschnittsgehalt dieser Milch an Eiweiß- stoffen, Zucker und Fett auf 10 °/,, so würde das Tier täglich 3,2 kg dieser Substanzen abgegeben haben. Nun enthält die ganze Drüsen- masse — Bindegewebe, Blut- und Lymphgefäße, Muskelfasern und Nerven eingeschlossen — nach Fleischmann höchstens 1,16 kg fester Bestandteile, und es müsste daher die Regeneration der Drüsen- substanz im Laufe eines einzigen Tages das dreifache dieses Gewichtes betragen, sollten die Drüsenzellen allein die organischen Milchbestand- teile liefern, Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. H87 Beschäftigen wir uns nunmehr mit der Frage nach der Abstam- mung der wichtigern Bestandteile der Milch, so müssen wir zunächst berücksichtigen, dass dieses Sekret regelmäßig 3 Eiweiß- körper — Casein, Albumin und Pepton — enthält. Das Casein stellt die Hauptmasse des Milcheiweißes dar; es wird an keiner andern Stelle als im Euter angetroffen, und dieser Umstand spricht dafür, dass seine Bildungsstätte in der Milchdrüse selbst gesucht werden muss. Es ist bisher nicht entschieden worden, ob die Bildung im Leibe der Drüsenzellen selbst oder erst im Sekret erfolgt und gleich wenig sind uns die Muttersubstanzen des Caseins bekannt. Die von Kemmerich vertretene Anschauung, dass in der fertigen Milch eine Umwandlung von Albumin in Casein erfolge, wel- chen Vorgang Dänhardt unter dem Einflusse eines durch Glyzerin extrahirbaren Fermentes stattfinden lässt, muss ich nach den Ergeb- nissen meiner Unteruchungen entschieden als unrichtig bezeichnen und auf analytische Fehler zurückführen. Durch Digeriren der Milch bei Körperwärme erleidet das Casein keine Zunahme und das Albumin keine Abnahme, wie Kemmerich will, sondern es wird umgekehrt durch diesen Prozess ein nennenswertes Quantum Casein zerstört. Das Casein ist überhaupt nach meinen Untersuchungen der am wenig- sten stabile Eiweißkörper der Milch. Bereits in der kuhwarmen Milch des Euters gerät es unter die Bedingungen des Zerfalls, und ich glaube aus diesem Verhalten mit Sicherheit schließen zu dürfen, dass die Bildungsstätte des Caseins nieht im Sekrete selbst, sondern in den Drüsenzellen zu suchen ist. Es dürfte am besten unsern gegenwärti- gen physiologischen Kenntnissen angepasst sein anzunehmen, dass in den Drüsenzellen die Caseinbildung auf Kosten von Eiweißstoffen des Blutes erfolge. Das Albumin ist nur in geringer Menge — in zahlreichen von mir ausgeführten Analysen schwankte der Gehalt zwischen 0,27 und 0,44 °/, — in der Milch enthalten. Während sich der Casein- und Peptongehalt der Milch von der mehr oder weniger frischen Beschaffen- heit dieses Sekrets abhängig zeigt, ist der Albumingehalt weit stabiler. Er erleidet durch Digeriren bei Körperwärme keine erkennbare Ein- buße, und selbst beim Stehenlassen der Milch bis zum Eintritt der Ge- rinnung ist der Albuminverlust so gering, dass es berechtigt ist, die- sen Körper als den stabilsten Eiweißkörper der Milch zu bezeichnen. Da es nicht bekannt ist, dass es sich in seinen Eigenschaften von dem Serumalbumin unterscheidet, so wird gegen die Annahme seiner direkten Abstammung aus der Blutbahn nichts einzuwenden sein. Das Pepton wurde von mir als regelmäßiger Bestandteil der frischen Milch erkannt; in zahlreichen Bestimmungen zeigte diese einen Peptongehalt von 0,08—0,19 °/,. Dieses Pepton kann nicht aus dem Blute stammen, da ich es in dieser Flüssigkeit entweder gar nicht oder doch nur in sehr minimalen Mengen antraf. Auch ist es 588 Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. nicht wahrscheinlich, dass es in den Drüsenzellen selbst gebildet wird, sondern alle Tatsachen sprechen dafür, dass es erst im fertigen Se- kret auftritt und dass seine Muttersubstanz das Casein ist. Infolge eines Digerirens der Milch bei Körperwärme erleidet nämlich das Casein eine merkliche Einbuße, während das Pepton unter den glei- chen Verhältnissen eine nennenswerte Zunahme erfährt. Der Umfang dieser Zu- und Abnahme zeigt sich der Dauer des Digerirens pro- portional. Bei Einwirkung der gewöhnlichen Zimmerwärme findet die- selbe Veränderung, jedoch weit langsamer statt. Der Peptongehalt kann derartig anwachsen, dass er dem Albumingehalt fast gleich- kommt; in einem Falle stieg er auf 0,33 °/,, während der Albumin- gehalt nur 0,34 °/, ausmachte. Das Pepton geht durch einen fermen- tativen Umwandlungsprozess aus dem Casein hervor und scheint keineswegs das einzige Produkt desselben zu sein, da sich die Pepton- zunahme stets merklich geringer zeigt als die Caseinabnahme. Das Ferment wird durch Siedehitze zerstört, büßt aber durch angemessenen Zusatz von Salieyl- und Carbolsäure seine Wirksamkeit nicht ein und erinnert in dieser Hinsicht an die eiweißverdauenden Fermente. Ein Nachweis, dass es mit Pepsin identisch sei, wollte mir nieht gelingen. Weit dürftiger noch sind unsere Kenntnisse von dem Ursprunge und der Absonderung des Milehzucekers. Dieser Körper ist bisher nur in dem Sekrete der Milchdrüse nachgewiesen. Ob er aus dem Blutzucker hervorgehen kann, muss bei seinem sehr reichlichen und im prozentischen Mengenverhältniss annähernd konstanten Vorkommen gegenüber dem sehr geringen und schwankenden Gehalte des Blutes an Zucker für unwahrscheinlich gelten; jedenfalls kann der Blutzucker kaum in einem nennenswerten Umfange an der Milchzuckerbildung beteiligt sein. Die Tatsache, dass die Milch auch bei reiner Fleisch- kost noch einen reichliehen Zuckergehalt zeigt, hat man zu gunsten einer Abstammung des Milchzuckers von Albuminaten geltend gemacht (Heidenhain); mit welchem Rechte, muss die Zukunft lehren. Entschieden am besten unterrichtet sind wir von der Absonde- rung des Milchfettes. Die Erkenntniss, dass die Milebdrüse eine enge genetische Be- ziehung zu den Talgdrüsen der Haut besitzt, in Verbindung mit dem Umstande, dass man die Colostrumkörperchen für Reste von Drüsen- zellen hielt, hat lange Zeit hindurch der Ansicht die Herrschaft ge- lassen, dass die Milchabsonderung der Bildung des Hauttalges analog verlaufe, und dass es sich hier wie dort um eine fortschreitende Wucherung der Drüsenzellen handle, die dann in dem Maße, als sie sich dem Drüseninnern nähern, der Verfettung und dem Untergang anheimfallen. Heidenhain hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass diese Anschauung unhaltbar ist. Er betont, dass das Epithel der Milchdrüse nur einschichtig ist, dass Zellen, welche gleich den Colostrumkörperchen vollständig mit Fetttröpfehen durchsetzt sind, Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. 589 innerhalb des Epithels der Drüsenbläschen gar nicht zum Vorschein kommen, dass vielmehr in den Drüsenzellen nur eine ganz mäßige Anzahl von Fetttröpfehen beobachtet wird. Letztere sind zur Zeit des höchsten Entwicklungsstadiums der Milchzellen hauptsächlich in demjenigen Teile des Zellleibes anzutreffen, welcher am weitesten nach dem Hohlraum des Drüsenbläschens hin gelagert ist. Bei der Sekretion nun wird dieser Teil der Zelle samt den in ihm sitzenden Fetttröpfehen abgestoßen, der im Zerfall begriffene Zellleib löst sich in der abgesonderten Flüssigkeit, und die Fetttropfen werden nunmehr frei. Zuweilen hängt hierbei den Fetttröpfehen noch ein Stück Proto- plasma kappenartig an, das allmählich aber auch gelöst wird. Die Colostrumkörperchen, denen man seit der Beobachtung Stricker’s, dass dieselben befähigt sind, mittels amöboider Bewegun- gen Fetttröpfehen auszustoßen, einen so hohen Wert für die Milch- sekretion beilegte, lässt Heidenhain von gar keiner Bedeutung für die Absonderung sein; er weist vielmehr darauf hin, dass auf der Grundmembran des Drüsenbläschens niemals zellige Gebilde ange- troffen werden, die sich mit den Colostrumkörperchen vergleichen lassen, und er hält es kaum für zweifelhaft, dass diese Körperehen im genetischen Zusammenhang stehen mit eigentümlich entwickelten Drüsenzellen, die grade zur Zeit der Colostrumbildung besonders häufig angetroffen werden. Diese Zellen sind rund, hell oder doch nur matt graulich und bergen einen meistens exzentrisch gelegenen Kern. Sie werden nun neben den mit Fetttröpfehen ganz und gar durch- setzten Colostrumkörperchen in dem fertigen Drüsensekrete ge- funden und enthalten nicht selten vereinzelte Fetttropfen. Heiden- hain nimmt an, dass die hellen Zellen von der Drüsenwand abge- stoßen werden, dann erst Fetttröpfehen aus dem Sekrete aufnehmen und in einem mit Fetttröpfehen vollgepfropften Zustand die Colo- strumkörperchen darstellen. Für diese Anschauung spreche der Ver- such, dass man 24 bis 48 Stunden nach der Injektion einiger Kubik- zentimeter Milch in den dorsalen Lymphsack eines Frosches die weißen Blutkörperchen mit Fetttropfen beladen antreffe. Einige seien so ganz und gar damit erfüllt, dass sie von den Colostrumkörperchen nicht zu unterscheiden seien. Bemerkt seinoch, dass bereits Langer längst vor Heidenhain beobachtet hatte, dass die größern Fetttröpfehen in den Milchzellen besonders nach dem Hohlraume des Drüsenbläschens hin gelagert sind. Es ließ die Milchkügelehen durch Bersten der Zelle frei werden und sprach letzterm die Fähigkeit zu, wiederholt Fetttröpfehen zu produ- ziren und aus ihrem Innern auszustoßen. Hinsichtlich der Abstammung des Milchfettes ist noch anzuführen, dass eine Bildung desselben auf Kosten des Zellenleibes heute, wo die Physiologie bereits zahlreiche Beispiele für ein Hervorgehen von Fett aus Eiweiß gebracht hat, gar nicht mehr bestritten werden kann. 590 Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. Auch sprechen hierfür die Ergebnisse von Fütterungsversuchen. Durch letztere ist auch dargetan, dass das Fett der Nahrung keinen Einfluss auf das Mengenverhältniss des Milchfettes bekundet. Die Milehabsonderung erfolgt nun keineswegs kontinuirlich, sondern tritt in der Regel erst kurze Zeit vor der ersten Geburt auf. Das bis dahin welke Euter wird nach und nach turgeszent, und die Drüsensubstanz fühlt sich jetzt fest und körnig an. Die mit diesem Vorgange verbundenen feinern anatomischen Veränderungen sind bis- her ebensowenig Gegenstand methodischer Forschung gewesen wie die Veränderungen, welche das Erlöschen der Drüsentätigkeit gegen Ende der Laktationsperiode begleiten. Uebrigens ist die Gravidität kein durchaus notwendiges Erforderniss für den Eintritt der Laktation; es ist häufiger beobachtet worden, dass jungfräuliche Tiere, oft schon in frühester Jugend und längere Zeit hindurch, so viel Milch abge- sondert haben, dass sie regelmäßig gemolken werden konnten. Ham- mon beobachtete 1858 ein neugebornes Fohlen, welches eine große Menge Milch produzirte. Das zunächst im Euter gebildete Sekret steht hinsichtlich seiner physikalischen, chemischen und morphologischen Beschaffenheit der eigentlichen Milch ziemlich fern; es wird als Colostrum bezeichnet. In seinem Aeußern erinnert es an die Synovia, da es gelb und zäh- flüssig wie diese ist. Dabei enthält es ungemein viel — oftmals weit über 20 %, — Trockensubstanz, die zum überwiegenden Teile aus Albumin besteht. Der Milchzuckergehalt ist nur sehr gering, desglei- chen der Fettgehalt. Weiter werden große Mengen der eben bereits beschriebenen Colostrumkörperchen angetroffen. Das Sekret verliert nun bald immer mehr von diesem eigentümlichen Charakter und nähert sich in seiner Beschaffenheit der normalen Milch, und wenige Tage nach der Geburt schon liefert die Drüse ein Maximum an Milch, welches bei guten Kühen nicht selten 25 bis 30 Liter im Tage ausmacht. Einige Wochen nun hält sich die Absonderung auf diesem Maximum, um dann allmählich in dem Grade nachzulassen, dass gegen Ende des 10. Monats noch ’/, bis !/, der ursprünglichen Milchmenge ausgeschieden wird. Es werden übrigens gar nicht selten Kühe angetroffen, die auch um diese Zeit noch ein sehr bedeutendes Milchquantum liefern, die gar nicht „trocken gemolken“, sondern bis zum nächsten Kalben fortgemolken werden können. Durch Kastration kann man der Laktationsperiode, die bei Kühen gewöhnlich etwa 10 Monate umfasst, eine größere Ausdehnung geben. Die Milchergiebigkeit der Kuh pflegt bis zum fünften Kalben zuzunehmen, um dann allmählich abzusinken. Sie hängt in erster Linie keineswegs von der Fütterung, sondern von der Individualität und Rasse ab. Nicht allein in der Menge, sondern auch in der Quali- tät zeigen die Rassen bemerkenswerte Differenzen; so geben die Höhen- rassen z. B. ganz allgemein weniger aber fettreichere Milch als die Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. 591 Niederungsrassen. Eine gute Milchkuh liefert im Jahre an Milch mindestens das Fünffache ihres Körpergewichts, bei 400 kg also minde- stens 2000, bei 500 kg mindestens 2500 Liter Milch. Ganz unge- wöhnlich große Milchergiebigkeit bekundete die „schwarze Jette“, eine Kuh des Grafen Pinto, welche in einem Jahre 8015 Liter, durch- schnittlich also täglich 22 Liter Milch lieferte. Beachtenswert für die Beurteilung der Milchsekretion sind auch Schwankungen in der Zusammensetzung der Milch. Un- tersucht man die Milch eines und desselben Gemelkes, so findet man die zuerst gewonnene Milch weit ärmer an Trockensubstanz als die zuletzt gemolkene. Eine nähere Analyse ergibt alsdann, dass diese Verschiedenheiten nicht durch tiefgehende Differenzen in der Zusammensetzung, sondern lediglich durch eine Verschiebung des Fett- gehaltes bedingt werden. Dieselbe ist so erheblich, dass die zuerst dem Euter entzogene Milch vollständig der abgerahmten gleicht, wäh- rend die letzten Milchportionen in ihrer Zusammensetzung dem Rahm nahestehen. In einem meiner Versuche enthielten die ersten 50 ccm Milch 0,52, die letzten 100 cem desselben Gemelkes aber 8,11 °/, Fett; Franz Hofmann teilt Zahlen mit, die den Fettgehalt der letzten Milch mit 10,70 und 11,20 ja selbst mit 13,10 und 13,20 °/, angeben. Ab- gesehen von dieser Differenz zeigt die erste Milch in ihrer Zusammen- setzung keine durchgreifende Verschiedenheit von der letzten. Ich teile hierüber den nachfolgenden Versuch mit: Aus den beiden Hinterstrichen einer holländischen Kuh werden zusammen etwa 3 Liter Milch gewonnen; hiervon werden die ersten und letzten 500 eem in besondern Gefäßen aufgesammelt, mit Eis ge- kühlt und sofort analysirt. 100 g Milch enthalten: Erste Milch Letzte Milch Trockensubstanz 9,20 g 13,66 g Casein 2254, 2,107, Albumin 0,29 „ 022, Pepton DKL, 0,12 „ Fett 079, 5,60 „ Milebzucker 3.06 5; 4,96 „ Asche 0695 0,66 „ Auf 100 g fettfreies Drüsensekret bezogen, stellt sich das Ver- hältniss folgendermaßen Casein 2,27 8 2,21 g Albumin 0,29 „ 0,29 „ Pepton 010 5 Ep 042, Milchzucker 5,10: ; Balz Asche 0,69 „ 9704, Die Verschiebung des Fettgehaltes suchte man früher durch die Annahme eines in der Zisterne und den großen Drüsengängen statt- 599 Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. findenden Aufrahmungsprozesses zu erklären; als sich aber dieses Verhalten nicht allein bei den Tieren mit hängendem Euter, sondern auch bei der Frau zeigte, da ließ man eine derartige Erklärungsweise ganz fallen und sagte: beim Strömen der fertigen Milch nach der Zi- sterne hin zeigen die Fetttröpfehen, besonders die größern, starke Neigung, sich den Wandungen der Milchkanälchen anzulegen. Wäh- rend also die gelösten Milchbestandteile und die kleinern Fetttröpf- chen schneller der Zisterne zustreben, kugeln sich die größern Milch- kügelchen in träger Wanderung die Wandung der Kanäle entlang und sammeln sich hier durch Adhäsion in einem beträchtlichen Um- fange an. Ganz besonders muss das der Fall sein, wenn gegen Schluss der Melkperiode das Euter schon bis zu einem gewissen Grade gefüllt ist und der Milchstrom nur noch langsam fließt. Während man in der Neuzeit einzig und allein diesen Verhält- nissen die Verschiebung des Fettgehaltes zuschrieb, konnte ich nach- weisen, dass daneben im Euter der Kuh tatsächlich auch eine Auf- rabmung stattfindet, von der freilich nur ein Teil der Milch betroffen zu werden scheint. Gelegentlich des Notschlachtens einer ziemlich milchergiebigen Kuh, die unmittelbar vorher möglichst vollständig ausgemolken war, gewann ich die Ueberzeugung, dass es auch dem geschicktesten Melker nicht möglich sei, das Euter vollständig zu entleeren, dass vielmehr ein nennenswerter Rest einer äußerst fett- reichen Milch in den feinern Kanälen zurückbleibe. Es musste nun von hervorragendem Interesse sein zu erfahren, wie dieser un- gemein fettreiche Milchrest, der infolge starken Adhärirens seiner Fettkügelehen das Lumen der kleinen Kanälchen bis zu einem ge- wissen Grade verlegte, dem nachrückenden Sekrete einer neuen Melk- periode gegenüber sich verhalte. Zu dem Ende wurde eine gute Milchkuh durch die Hand eines sehr geschiekten Melkers so vollständig wie nur möglich ausgemolken, und es wurden hierbei die ersten 50 und die letzten 100 cem Milch aus den Hinterstrichen besonders aufgesammelt. Erstere Probe ent- hielt 0,52, letztere 8,11 °, Fett. In bestimmten kurzen Zwischen- räumen wurden nunmehr kleine Proben aus den Hinterstrichen ge- nommen und wie die oben genannten auf ihren Fettgehalt untersucht: 30 eem Milch, 1 Stunde nach vollst. Ausmelken gew., enth. 7,98 °/, Fett, 40 ,„ n 2 hi) b) h) ” n ” 2858 nn 50 ) 4 ” n n 2) n „ 2327 5 Nach Ablauf von 6 Stunden wurden die Hinterstrichen möglichst vollständig entleert, und es besaß nunmehr die erste Milch einen Fett- gehalt von 1,97, die letzte einen solchen von 4,75 °,., Wären die Milchproben nicht in der beschriebenen Weise gewonnen, sondern hätte man die Milch ruhig bis zur neuen Melkzeit im Euter gelassen, so würde die nach dem Ausmelken zuerst gewonnene Probe nicht einen Fettgehalt von annähernd 8 °/,, sondern allerhöchstens einen Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. 593 solchen von 1 °/, gezeigt haben. Der fettreiche Milchrest, der auch bei dem geschiektesten Ausmelken in der Drüse verbleibt, wird also durch die nachrückende neugebildete Milch in die Zisterne geschwemmt und kann aus diesem Behälter etwa 1 Stunde nach dem Melken ziem- lieh rein gewonnen werden. Geschieht das nicht, so vermengt er sich in der Zisterne mit der neugebildeten Milch, die Fetttröpfehen dieses Gemenges steigen nunmehr in die Höhe, und nach Ablauf einer genü- genden Frist wird statt des äußerst fettreichen Milchrestes eine Flüs- sigkeit erhalten, die in ihrer Zusammensetzung vollständig an Mager- len erinnert. Vermutlich wird auch die in den weiten Milchgängen stauende Milch von einer ähnlichen Aufrahmung befallen. Die Ergebnisse der Analysen von erster und letzter Milch haben unlängst zu einer energischen Bekämpfung der besonders von land- wirtschaftlichen Schriftstellern mit Nachdruck vertretenen Anschauung geführt, dass neben einem gewissen Quantum kontinuirlich abgeson- derter Milch der größte Teil eines Gemelkes erst unter dem Einflusse des mechanischen, durch die Hand des Melkers ausgeübten Reizes gebildet werde. Martiny glaubt durch Feststellung der in der Drüse einer geschlachteten Kuh von bekannter Milchergiebigkeit befindlichen Milchmenge den Beweis geliefert zu haben, dass etwa ?|, der Ge- samtmilch erst unter den Händen des Melkers gebildet werden und Fleischmann will sich davon überzeugt haben, dass die Hohlräume des Euters gar nicht soviel Milch zu fassen vermögen, als beim Mel- ken guter Milehkühe gewonnen wird. Was Martiny’s Anschauungen betrifft, so muss zugegeben werden, dass die genaue Bestimmung der Milchmenge im Euter einer frisch getöteten, deren Milchergiebigkeit zu lebzeiten genau ermittelt war, sehr wol zur Beantwortung der erwähnten Streitfrage dienen kann; aber bei der außerordentlich ge- ringen Milchergiebigkeit seines Versuchstiers — die Kuh lieferte bei achtstündigen Melkzeiten überhaupt nur 1!/, Liter Milch — ist die von Martiny benutzte Methode der Milchbestimmung (Oeffnen und Aus- drücken der Milchgänge) als äußerst unzuverlässig zu bezeich- .nen. Wie ganz und gar unstatthaft es aber ist, aus der bloßen Sehätzung des Lumens der entleerten Drüsengänge post mortem einen Schluss auf deren Fassungsvermögen intra vitam zu unternehmen, haben Franz Hofmann und ich näher dargetan, und wir baben unab- hängig von einander Versuche ausgeführt, deren Ergebnisse mit der oben erwähnten Annahme der Milehbildung nicht in Einklang zu bringen sind. Findet nämlich unter den Händen des Melkers tatsächlich eine rapide Milchbildung statt, so kann nach allen Kenntnissen, die wir von den Sekretionsvorgängen überhaupt besitzen, unmöglich eine gleichmäßige Mischung des ganzen Gemelkes von Anfang bis zu Ende sowol zwischen den organischen — abgesehen natürlich vom Fett — als den anorganischen Bestandteilen bestehen. Während die Arbeit Hofmann’s nun darin gipfelt, dass das Verhältniss der aus dem 38 594 Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion Stickstoffgehalte ermittelten Eiweißmenge, des Zuckers, der Asche und ihrer wichtigsten Bestandteile bei gebrochenem Melken ein in allen Milchproben konstantes ist, liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit in dem Nachweise, dass das Verhalten der eiweißartigen Substanzen, welches ja — es sei nur an die Speichelsekretion erinnert — beson- ders geeignet erscheinen muss, einen Einblick in die sekretorische Tätigkeit der Drüse zu gewinnen, durchaus nicht für die Annahme spricht, dass ein erheblicher Teil der Milch erst während des Melkens entsteht, dass vielmehr alle Tatsachen darauf hinweisen, dass die ganze Masse der Milch gleichmäßig und allmählich gebildet wird. Es sind noch anderer Schwankungen in der Zusammen- setzung zu gedenken, welche die Milch eines und desselben Tieres selbst bei gleichmäßiger Fütterung zeigt. Es findet sich nämlich regelmäßig, dass die Morgenmilch den größten und die Mittagmilch den geringsten Wassergehalt besitzt, während die Abendmilch zwi- schen diesen beiden Extremen sich befindet. Da die Absonderung der spezifischen Sekretbestandteile allgemein eine größere Unabhängigkeit vom Blutstrome zeigt als diejenige der nicht spezifischen, so dürften diese Schwankungen aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine größere Muskelruhe während der Nachtzeit bezw. während des Nachmittags zurückzuführen sein. In der Zeit vom Abend bis zum frühen Morgen und dann wieder am Nachmittage liegen die Tiere mit unter den Leib gezogenen Gliedmaßen da, die ganze willkürliche Muskulatur befindet sich in Ruhe und wird nur mit einem Minimum an Blut ge- speist; der Hauptstrom des Blutes ergießt sich zu dieser Zeit durch den Drüsenapparat und dieser wird dementsprechend befähigt, ein weit größeres Quantum von nicht spezifischen Sekretbestandteilen — speziell von Wasser — abzusondern als bei Tage, wo der Bewegungs- apparat größere Anforderungen an den Blutstrom stellt. Eine weitere Schwankung in der Zusammesetzung der Milch zeigt sich von der Laktationsdauer abhängig. Verfügen wir zwar zur Zeit noch nicht über systematische, die ganze Laktationsdauer umfassende Untersuchungen, so steht doch soviel fest, dass der pro- zentische Gehalt der Milch an Trockensubstanz — speziell auch an Fett — mit der Zunahme der Laktationszeit abnimmt. Das für die Erklärung der Tagesschwankungen in Anspruch ge- nommene Verhalten des Blutstrromes scheint mir auch den Schlüssel dafür zu liefern, warum die Haltung der Tiere einen so außeror- dentlichen Einfluss auf die Milchsekretion ausübt, und warum es zur Erzielung einer recht bedeutenden Milchmenge erwünscht ist, den Tieren möglichst viel Ruhe zu geben. Denn bewegen sich die Tiere, so wird die Körpermuskulatur weit reichlicher mit Blut gespeist als zur Zeit der Ruhe, und dieses Plus an Blut wird von den andern Or- ganen, speziell auch von den drüsigen Gebilden abgelenkt, die daher in ihrer Sekretion gestört werden. Schmidt-Mülheim, Ueber Milchsekretion. 595 Ein Einfluss der Nahrung auf die Milchsekretion tritt ganz unverkennbar hervor; er ist jedoch vielfach bedeutend überschätzt worden. Bei ungenügender Nahrung nimmt die Tätigkeit der Milch- drüse ab und der Gehalt der Milch an organischen Bestandteilen sinkt; bei reichlicher Nahrung aber steigert sich der Gehalt an Trockensubstanz sowol als der ganze Milchertrag. Indessen treten diese Schwankungen nur innerhalb verhältnissmäßig weiter Grenzen hervor; es ist ganz falsch zu glauben, dass bei einem Futterwechsel schon nach einigen Stunden eine Aenderung in der Quantität und Qualität der Milch zu bemerken sei. Die Milchdrüse ist vielmehr mit großer Zähigkeit bestrebt, ihrem Sekrete eine möglichst gleichmäßige Zusammensetzung zu bewahren, ein Verhalten, welches bei dem schäd- lichen Einfluss, den Schwankungen in der Zusammensetzung der Muttermilch auf das Junge ausüben, einer teleologischen Erklärung leicht zugänglich ist. Von allen Nährstoffen bekundet uun das Eiweiß noch den erheb- lichsten Einfluss auf die Milchproduktion. Steigerung des Nahrungs- eiweißes lässt sowol die Milchmenge als den Gehalt der Milch an organischen Bestandteilen — speziell an Fett — anwachsen. Wie bedeutend eine solche Steigerung unter Umständen sein kann, geht aus einer von Weiske an einer Ziege ausgeführten Versuchsreihe hervor. Die Ziege erhielt in einer ersten Fütterungsperiode täglich 1500 g Kartoffeln und 375 g Strohhäcksel; sie lieferte dabei täglich 739 g Milch mit einem Fettgehalt von 2,71°/,. Als dem Tiere in einer folgenden Fütterungsperiode die gleiche Nahrung bei Zusatz von 250 g Fleischmehl verabreicht wurde, gab es 1054 g Milch mit 3,14°/, Fett. Die täglich gelieferte Fettmenge war also von 19,96 auf 33,21 g gestiegen. Ein Einfluss der stickstofffreien Nährstoffe auf die Milchpro- duktion ist weit weniger scharf ausgesprochen, und es sei namentlich betont, dass eine reichliche Fettfütterung nicht im stande ist den Fettgehalt der Milch zu vermehren. Die ungemein schwierige Frage nach dem Einflusse des Ner- vensystems auf die Milchsekretion ist durchaus noch nicht end- giltig entschieden. Es liegen nur zwei Versuchsreihen (Eckard, Röhrig) vor, deren Ergebnisse aber nicht übereinstimmen. Sicher nachgewiesen ist bisher nur eine reflektorische Nervenwirkung, welche von den zahlreichen in den Zitzen verlaufenden sensibeln Nerven- fasern aus erfolgt. Hiermit steht im Einklange, dass man die Tätig- keit der Milehdrüse durch häufige und regelmäßige mechanische Reizung der Zitzen derartig anregen kann, dass es auf diesem Wege oftmals gelingt, aus den rudimentären Drüsen männlicher Tiere, be- sonders der Ziegenböcke, Milch zu erhalten. Schmidt-Mülheim (Iserlohn). 38* 596 Pflüger, Ueber den Einfluss der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen. E. Pflüger, Ueber den Einfluss der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen. Archiv f. d. ges. Physiol. Bd. 31. S. 311—318. Bd 32. S. 1—79. Die Eier der Frösche sind bekanntlich aus einer dunkel pigmen- tirten und einer weißen Hemisphäre zusammengesetzt. Wirft man sie vor der Befruchtung ins Wasser, so nehmen sie irgend welche be- liebige Lagen an, indem die dunkle Hemisphäre sich, sei es nach oben, sei es nach unten, sei es nach irgend einer Seite wendet. Es bildet mit andern Worten die Achse des Eies, welche die Mitte der schwarzen Oberfläche mit derjenigen der weißen verbindet, jeden be- liebigen Winkel mit der Richtung der Schwerkraft. Sobald indess die Befruchtung stattgefunden hat, richten alle Eier in kurzer Zeit die schwarze Hemisphäre aufwärts, die weiße abwärts, es stellt also die Eiachse sich vertikal. Durch diese vertikale Achse gehen sodann die beiden ersten Furchen, während die dritte diese unter einem rechten Winkel schneidet. Man hat nun bisher als selbstverständlich ange- nommen, dass zwischen der Eiachse und den Teilungsrichtungen eine wesentliche Beziehung bestehe derart, dass die durch die Schneidungs- linie der beiden ersten Furchungsebenen dargestellte Achse immer und notwendig zusammenfallen müsse mit der Eiachse. Pflüger hat sich dagegen die Frage vorgelegt, ob diese Beziehung denn auch wirklich bestehe, oder ob nicht vielmehr die ersten beiden Teilungen nur deshalb durch die Eiachse gehen, weil diese mit der Richtung der Schwerkraft zusammenfällt. Um dies zu entscheiden, hat er eine große Anzahl höchst interessanter Versuche angestellt und mit bewundernswertem Scharfsinn durchgeführt. Er sann auf ein Mittel die Drehung der Eier zu verhindern und fand dies in der Eigenschaft der frisch aus dem Eileiter genommenen Eier, dass ihre gallertige Hülle dem Glase anklebt, wenn man nur wenige Tropfen besamtes Wasser zusetzt und nach einigen Sekunden alle Flüssigkeit wieder abgießt. Auf diese Weise befestigte er Eier mit jeder beliebigen Richtung der Ei- achse an Uhrschälchen und beobachtete nun das Eintreten der ersten Furchungen. Dabei fand er nun, dass die erste Teilung nicht mehr wie unter den normalen Umständen nach der Achse des Eies geschah, sondern stets senkrecht stand, also der Richtung der Schwerkraft folgte, mochte die Eiachse mit dieser einen noch so großen Winkel bilden. Dasselbe gilt für die beiden folgenden Teilungen, von denen die zweite gleichfalls senkrecht, die dritte senkrecht auf den beiden ersten steht. Nach der Feststellung dieser höchst überraschenden Tatsache war es zunächst die Aufgabe, sich davon zu überzeugen, dass aus den Eiern, deren Furchungs- oder sekundäre Achse nicht mit der Ei- oder primären Achse zusammenfiel, auch wirklich Kaulquappen hervor- gingen. Dies ist in der Tat geglückt: Pflüger hat aus solchen Pflüger, Ueber den Einfluss der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen. 597 Eiern Larven gezogen, bei denen der Kopf, Rücken und obere Teil des Schwanzes weißgelb wie die weiße Hemisphäre des Eies, der Bauch dagegen mehr oder weniger pigmentirt war. Allmählich glich sich durch Ausbreitung des Pigments auf den Rücken der Unterschied aus. Pflüger formulirt nach seinen Beobachtungen das Resultat in folgendem Satz: „Ein und dasselbe Ei kann sich bei der ersten Entwicklung in sehr verschiedenen Riehtungen teilen, je nachdem man willkürlich den Winkel wählt, den die Eiachse mit derRichtung der Schwerkraft macht. Schließlich entwickeln sich aus diesen Eiern doch nor- male Tiere.“ Es ist allerdings nieht ganz gleichgiltig, welchen Wert dieser Winkel hat. Die obere Hemisphäre darf einen größern weißen als schwarzen Teil zeigen; war sie indessen ganz weiß, so wurden die Embryonen abnorm und starben; ja bei Eiern, welche ihre weiße Hemisphäre grade aufwärts kehrten, trat überhaupt die Furehung nicht ein. Die Ursache der letztern Erscheinung ist mög- licherweise die Existenz einer Mikropyle und zwar am schwarzen Pole; diese würde bei der genannten Stellung des Eies gegen die Unterlage gestemmt und dadurch verschlossen sein. Ist diese Annahme richtig, so muss eine Veränderung der Lage des Eies natürlich eine Befruchtung ermöglichen. Das ist nun tatsächlich der Fall: nach Zusatz einer größern Wassermenge, welche das Ei vom Glase abhob, trat regelmäßig die Furchung im Verlauf einiger Zeit ein. Um den Modus der Einwirknng der Schwerkraft genauer zu er- mitteln, suchte nun Pflüger festzustellen, ob die Schwere nur in den Momenten wirkt, wo sich die Teilungen vollziehen, oder aber kon- tinuirlich die Organisation beeinflusst. Er ordnete zu diesem Behufe seine Versuche folgendermaßen an. Eier mit schief liegender Eiachse wurden einige Minuten vor dem Auftreten der zweiten Furche so ver- lagert, dass die sekundäre Achse mit der Richtung der Schwerkraft einen Winkel bildete. In diesem Falle trat die Furchung genau so ein, wie wenn die Lage nieht verändert worden wäre. Es kann dem- nach die Arbeit, welche die Schwere in der Zeit zwischen der ersten und zweiten Furchung im Ei verrichtet hat, nicht mehr dadurch be- seitigt werden, dass man dieselbe Kraft nach Ablauf der Frist auf kurze Zeit in anderm Sinne wirken lässt. [Es ist aber hierbei offen- bar zu beachten, dass das Ei sich in der Zeit zwischen je zwei Furchungen nicht in Ruhe befindet, sondern dass inzwischen die Teilung desselben sich durch die Teilung des Kerns vorbereitet. Nachdem einmal die Kernspindel gebildet ist und eine bestimmte Richtung angenommen hat, wird die Furchung dieser entsprechend eintreten müssen. Ref.]| Wenn dagegen die Eier eine Stunde nach der Befruchtung gedreht werden, so wird die zweite Furchung durch diese Drehung beeinflusst und geschieht so, wie sie der letzten Lage des Eies entspricht. Noch leichter gelingt der Nachweis für die 598 Pflüger, Ueber den Einfluss der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen. dritte Furche, die durch einen dem obern Ende der Furchungsachse nähern Parallelkreis geht. Wurde das am Uhrgläschen klebende Ei nach der zweiten Furchung umgekehrt, so trat die dritte Furche in der Nähe des jetzt nach unten gewandten Endes der Furchungsachse auf, also als wäre das Ei nicht gedreht. Erfolgte die Umkehrung hingegen schon eine Stunde nach der Befruchtung, so erschien sie auf der jetzt obern Hemisphäre, die mithin im Laufe der verstri- chenen Zeit die Eigenschaften der ursprünglich obern angenommen hatte. Auch die bekannte Erscheinung, dass die Zellenentwicklung bei normaler Eilage auf der obern, schwarzen Hemisphäre rascher fort- schreitet als auf der untern weißen, so dass die erstere bald viel mehr Teilprodukte enthält als die letztere, erweist sich nach Pflü- ger’s Untersuchungen als ein Einfluss der Schwere. Die Zellen ent- wickeln sich auf der obern Fläche nicht deshalb rascher, weil diese schwarz ist, sondern weil sie die obere ist. Denn wenn die Eiaxe mit der Richtung der Schwerkraft einen Winkel macht, so dass die obere Hemisphäre teils weiß teils schwarz ist, so zeigt sich, dass symmetrisch um die Furchungsachse die Energie der Zellteilung ganz die gleiche ist, mag es sich um Vorgänge in der schwarzen oder weißen Hemisphäre handeln. Diesen Tatsachen entsprechend gelingt es durch Umkehrung der Eier den Prozess auf der bisher untern und langsam sich entwickelnden, nun nach oben gekehrten Seite so zu - beschleunigen, dass derjenige auf der entgegengesetzten überholt wird. Nachdem auf diese Weise sicher gestellt war, dass die Schwer- kraft die Teilungen des Eies je nach der künstlich hergestellten Richtung der Eiaxe in sehr verschiedenen Richtungen verwirklichen kann, erwuchs dem Verf. die Aufgabe zu entscheiden, ob die Or- ganisation des werdenden Tieres ebenso ohne Beziehung zur Eiachse steht wie die Ebenen der ersten Furchungen. Pflüger konstatirt in dieser Beziehung durch eingehende Schilderung mehrerer Fälle, dass „nicht blos die Primitivwülste, soweit aus ihnen das Rücken- mark u. s. w. hervorgeht, sondern auch die Gehirnanlage auf der weißen Hemisphäre entstehen kann. Danach scheint die Schlussfol- gerung unvermeidlich, dass das zentrale Nervensystem und entsprechend alle’andern Organe sich bei abnorm ge- richteten Eiern aus jedem beliebigen Teile der Eisub- stanz entwickeln können.“ Es entsteht nun die Frage, ob die Schwerkraft auch im stande ist, den Ort zu bestimmen, wo ein be- stimmtes Organ entsteht. Pflüger forscht daher zunächst nach einer Beziehung zwischen der Medianebene des Embryos bei nicht verti- kaler Richtung der Eiachse und dem System der primären und sekun- dären Meridiane. Da bei abnorm gerichteten Eiern die erste Fur- chungsebene nicht zum System der primären, sondern der sekun- dären Meridiane gehört, so sollte man erwarten, dass bei den aus Pflüger, Ueber den Einfluss der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen. 599 solchen Eiern hervorgehenden Embryonen auch die Medianebene zum sekundären System zu rechnen sei. Denn der Verf. fand mit Roux („Ueber die Zeit der Bestimmung der Hauptrichtungen des Frosch- embryo.“ Referat siehe weiter unten S. 608), dass bei Eiern mit vertikaler Eiachse die Ebene des ersten Furchungsmeridians und die Medianebene des Embryos zusammenfallen. [Rauber ist es hingegen durch seine Untersuchungen („Furchung und Achsenbildung bei-Wirbeltieren“. Zool. Anz. 1883. Nr. 147. S. 463) wahrscheinlich geworden, dass die erste Furchung des Froscheies nicht die Längs- achse, sondern die Querachse bezeichnet. Ref.| Im Gegensatz dazu fand Pflüger aber, dass bei Eiern mit nicht vertikaler Eiachse die Ebene der ersten Furchung nieht mit der Medianebene des Embryos iden- tisch war, sondern mit ihr die verschiedensten Winkel bildete. Die Medianebene des Embryos gehört bei abnorm gelagerten Eiern vielmehr zum System der primären Meridiane, grade so wie es unter normalen Verhältnissen der Fall ist. Verf. zieht daraus und aus der Tatsache, dass Unregelmäßig- keiten in der Furchung, z. B. starke Exzentrizität der Furchungsachse, später ausgeglichen werden, den Schluss: „die Furchung soll das Bildungsmaterial in kleine Bausteine verwandeln, und es ist ziemlich gleichgiltig, in weleher Reihenfolge die vorschreitende Zerkleinerung sich vollzieht.“ Wenn aber die Medianebene des Embryos sowol bei normal als auch bei abnorm gerichteten Eiern zum System der primären Meri- diane gehört, so liegt die Vermutung nahe, dass bestimmte Teile des Embryos auch nur auf demselben primären Parallelkreise entstehen, welches auch immer die Richtung der Eiachse war. Es müsste also z. B. das Rückenmark entweder stets auf der schwarzen — wie die bisherigen Beobachter angaben — oder stets auf der weißen — wie Pflüger beobachtet hatte — Hemisphäre entstehen. Es galt dem- nach, den Ort der Bildung des Rückenmarks sicher festzustellen, und das Resultat der eingehenden Darlegung der Beobachtungen des Verf. lautet im Gegensatz zu der bisherigen Ansicht, dass sich das Rückenmark immer aus der weißen Hemisphäre ent- wickelt. Er verfolgte, um dies nachzuweisen, die Ortsverän- derungen der Rusconi’schen Oeffnung und fand, dass dieselbe nach ihrer Entstehung von einer Stelle des Eiäquators auf dem Eimeridian nach der gegenüberliegenden Stelle des Aequators durch die weiße Hemisphäre wandert, ohne dass die Achse des Eies sich bewegt, sodann aber durch eine Rotation des Eies um eine horizontale wieder an ihren ursprünglichen Ort gelangt. Wenn mithin feststeht, dass das Zentralnervensystem immer sich aus der weißen Hemisphäre entwickelt, so könnte man geneigt sein zu schließen, dass doch ein bestimmtes Organ sich nur aus einem bestimmten Teile des Eies zu entwickeln vermöge, unabhängig von 600 Pflüger, Ueber den Einfluss der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen. der Schwerkraft, dass mit andern Worten die aus den ersten Be- obachtungen hervortretende Gleichwertigkeit aller Teile oder die „Isotropie“ der Eier — wie Pflüger’s Kunstausdruck lautet — nicht existirt. Pflüger sucht indessen darzutun, dass es sich trotzdem anders verhält, dass nämlich wenigstens eine bedingte Isotropie besteht. In diesem Sinne macht er zunächst die Tatsache geltend, dass auch bei Eiern mit abnorm gerichteter primärer Achse die Rus- eoni’sche Oeffnung niemals auf der obern Hemisphäre entstand, obwol mehr als 1000 Eier beobachtet worden sind. Die Eier haben das deutlich erkennbare Bestreben, wenn sie mit geneigter Eiachse fixirt sind, sich aufzurichten, d. h. diese Achse vertikal zu stellen, in- dem sie um eine horizontale Achse rotiren. Einige Zeit nach der Be- fruchtung schwindet diese Tendenz, und das Ei gelangt zur Ruhe, und zwar ehe die Vertikalstellung erreicht ist; ja Pflüger be- obaehtete, dass selbst ein Zurücksinken in die Furchungsachse statt- fand, wenn er versuchte, nachträglich die Eiachse aufzurichten. Wenn aber die Teilungsprodukte auf der obern Hemisphäre so klein ge- worden sind, dass man sie nur noch eben mit bloßem Auge unter- scheiden kann, so tritt eine neue Rotation in derselben Richtung ein, die indessen abermals das Ziel, die Vertikalstellung der primären Achse, nicht erreicht. Die Rusconi’sche Oeffnung entsteht immer als horizontaler Spalt dieht unter dem tertiären Aequator in dem Bereiche, wo er die weiße Hemisphäre durchzieht und wird gehälftet von dervertikalenMeridianebene, welchedieprimäreEiachse enthält. Die Entstehung der Rusconi’schen Oeffnung oder des Gastrulamundes (Blastoporus) ist also an die weiße Hemisphäre ge- bunden; in dieser aber ist der Ort unabhängig von der primären Achse, vielmehr bestimmt durch die Neigung der primären Achse gegen die Richtung der Schwerkraft. Und so gelangt Pflüger zu dem Satze: „Die Medianebene des Embryos ist bei Eiern mit geneigter Achse die des vertikal stehenden primären Meridianes und also identisch mit der Vertikalebene, welche die Mitte der Rusconi’schen Oeffnung und die Eiachse enthält. Weil dieser Satz für jede willkürlich gewählte Riehtung der primären Achse gilt, so folgt, dass alle primären Meri- diane gleichwertig sind. Derjenige, dessen Lage der Richtung der Schwerkraft folgt, ist der die Organisation bestimmende. Auf der einen Seite der lotrecht stehenden primären Medianebene entsteht die rechte, auf der andern die linke Hälfte des Organismus. Denkt man sich den primären Meridian in zwei Hälften geteilt durch die primäre Achse, so dass also jede Hälfte halb der schwarzen, halb der weißen Hemisphäre entspricht, so sind diese beiden Hälften wieder gleichwertig. Die Embryonalanlage wird aber stets gefunden auf derjenigen Hälfte des lotrechten primären Meridianes, welche bei schief liegender primärer Achse die obere ist. Abermals entscheidet Pflüger, Ueber den Einfluss der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen. 601 die Beziehung zur Richtung der Schwerkraft. Die einzelnen Teile einer Meridianhälfte können nun nicht als gleichwertig betrachtet werden. Niemals sah ich die erste Entstehung der Rusconi’schen Oeffnung und des zentralen Nervensystems auf der schwarzen He- misphäre. Sie entstehen stets vom weißen Gürtel des tertiären Aequa- tors aus. Hier ist der Krystallisationspunkt der spezialisirten Or- ganisation. Von hier aus entsteht der Kopfteil des Nervensystems stets in der Richtung nach dem schwarzen, der Steißteil in der nach dem weißen Pol.“ h Aus diesem Verhalten leitet Pflüger nun eine Hypothese über die molekulare Struktur der Eisubstanz und die Einwirkung der Schwerkraft auf dieselbe ab. Danach hat die Eisubstanz eine „meri- diale Polarisation“. Der Verf. stellt sich „auf jeder Meridian- hälfte eines Eies in der Richtung dieser Linie polarisirte für alle Hälften gleichwertige Molekülreihen vor. Die Schwere allein be- stimmt vermöge der Richtung der Eiachse, welche dieser Molekülreihen die herrschende wird. Es ist diejenige, welcher allein im Ei die aus- gezeichnete Eigenschaft zukommt, in einem vertikalen primären Meridian zu liegen.“ Die bevorzugte Molekülreihe soll auf Kosten der übrigen Eisubstanz wachsen, wie die Hinterbeine einer Kaulquappe auf Kosten des Schwanzes. Pflüger denkt sich also, „dass das befruchtete Ei gar keine wesentliche Beziehung zu der spätern Organisation des Tieres besitzt, so wenig als eine Schneeflocke in einer wesentlichen Beziehung zur Größe und Gestalt der Lawine steht, die unter Umständen aus ihr sich entwickelt. Dass aus dem Keime immer dasselbe ent- steht, kommt daher, dass er immer unter dieselben äußern Bedingungen gebracht ist.“ Dagegen soll den po- larisirten Molekülgruppen doch die Fähigkeit innewohnen, einem neuen Organismus den Ursprung zu geben. Sie müssen aber durch die Einwirkung der Schwerkraft bevorzugtern, sonst gleichwertigen Molekülgruppen ihre nächste Bestimmung aufopfern, und Pflüger nimmt nun an, sie würden zum Aufbau der Geschlechtsorgane ver- braucht. Hier sollen sie, wie die Muskeln den Nährstoff in Muskel-, die Nerven in Nerven-, die Drüsen in Drüsensubstanz verwandeln, Moleküle identischer Organisation aus dem Nährmateriale prägen. „So begreift man, warum aus dem Ei ein Organismus entsteht, der dem der Eltern gleicht, und warum das Kind Molekülgruppen erzeugt identisch denen, aus welchen es selbst entstand.“ J. W. Spengel (Bremen). 602 Ribot, Die Krankheiten des Willens. Th. Ribot, Les Maladies de la Volonte. Paris, Germer Bailliere et Cie 1883. 180 8. in 8°, Schon die Aehnlichkeit der Titel deutet an, dass hier ein Seiten- stück zu dem frühern Werke des Verfassers „Les Maladies de la Memoire“!) vorliegt. In der Tat versucht derselbe und zwar mit gleichem Erfolg die erprobte biologische Methode auch auf das Gebiet des Willens anzuwenden. Zwar stellen sich dem Unternehmen des Verfassers hier bedeutendere Schwierigkeiten entgegen, schon dadurch, dass der Begriff des „Willens“ ein viel unbestimmterer ist als der des Gedächtnisses. Eine andere Schwierigkeit scheint aus dem Problem der Willensfreiheit hervorzugehen, aber der Verfasser bemerkt mit Recht, dass die Psychologie wie jede andere experi- mentelle Wissenschaft sich aufs strengste versagen muss von VOrn- herein nach den ersten Ursachen zu forschen, und dazu gehört auch das Problem des freien Willens. Die Grenzen der innern und äußern Erfahrung müssen auch die Grenzen unserer Untersuchung sein, wenn nicht unfruchtbare metaphysische Spekulationen an die Stelle biologischer Resultate treten sollen. Die Einleitung ist der Physiologie des Willens gewidmet. Der „Wille“ enthält zwei Elemente, einmal das bewusste „ich will“, welches nur einen Bewusstseinszustand ausdrückt, und einen sehr verwickelten psychophysischen Mechanismus, welchem die Fähigkeit zukommt Bewegungen zu erregen und zu hemmen. Jeder Bewusstseinszustand hat das Bestreben sich in Bewegung umzusetzen. Bei dem neugebornen Kinde sehen wir nur Reflexe, deren Uebermaß durch die Erziehung unterdrückt und eingeschränkt werden muss. Es sind dies Bewegungen, welche die Art im Laufe der Zeit erworben hat, und welche sich durch Vererbung fixirt haben. Mit diesem Material ist der Wille ausgerüstet. Eine zweite Stufe ist die Begierde; psychologisch betrachtet ein Bewusstseinszustand, unterscheidet sie sich physiologisch in ihrer Wirkung aber wenig von zusammengesetzten Reflexen. Für diesen Zustand liefern Kinder und wilde Völkerschaften ausgezeichnete Bei- spiele. Endlich drittens kann auch die Idee Ursache der Bewegung sein, und zwar unterscheidet man nach der Intensität drei Stufen, von denen die ersten die stärksten sind ; sie treiben zur Ausführung mit einer an re- flektorische Tätigkeit grenzenden Heftigkeit. Fixe Ideen, Leidenschaften gehören hierher. Die zweite Gruppe ist für uns die wichtigste, es ist der Wille im gewohnten Sinne des Wortes; die Handlung erfolgt nach kürzerer oder längerer vernünftiger Ueberlegung. Die geringste Bewegungstendenz zeigen die abstrakten Ideen, indem dieselben nach 4) Paris 1881, vgl. Biolog. Centralbl. Bd. I, $S. 61 u Bd. II, S. 768. Ribot, Die Krankheiten des Willens. 603 dem Gesetze der Assoziation weniger mit dem Bewegungsmecha- nismus als mit andern Bewusstseinszuständen verknüpft sind. Durch den Unterschied der sogenannten gelehrten von den praktischen Leuten wird uns dieser Grad verdeutlicht. Der Wille kann aber außerdem eine Hemmung bewirken, und auch hier gibt es ebensowol unbewusste, reflektorische, als auch absichtliche Hemmungen. Am Schluss dieser Besprechung betont der Verfasser den all- mählichen Uebergang von Reflexen zu den höchsten Willensakten. Der Anfang liegt tief unterhalb des Bewusstseins; es ist eine Grund- eigenschaft aller belebten Materie auf Reize zu reagiren und Bewe- gungen auszuführen, welche schon das Protoplasma der niedrigsten Tier- und Pflanzenzelle erkennen lässt. Analog dem Gedächtniss ist auch der Wille nur ein spezieller Fall, und zwar die höchste Ent- wicklungsstufe dieser organischen Reaktionsfähigkeit, der Willensakt eine Reaktion des Individuums, des „ich“. Mit dem ersten Kapitel beginnt die Hauptaufgabe des Werkes, die Besprechung der Pathologie des Willens; zuerst die Lähmung des Willens, indem der Antrieb zur Handlung fehlt. In dem ersten der zahlreichen Beispiele, mit welchen der Verfasser die ein- zelnen Zustände illustrirt, ist die Lähmung Folge einer Monomanie. Der Wille der Person ist nur darauf gerichtet zu „wollen“, aber ohne Erfolg. Der Kranke steht oft stundenlang vor dem Entschluss sich anzukleiden, ein von ihm verlangtes und ihm dargereichtes Glas Wasser zu nehmen. Ein zweiter kann infolge des Missbrauchs von Opium sich nicht entschließen, ein von ihm bereits fertig gestelltes und sogar schon mit einer Dedikation versehenes Werk herauszu- geben, ja nicht einmal ein Billet, eine Antwort von nur wenigen Zeilen zu schreiben. Ein dritter kann den Entschluss auszugehen, seinen Namenszug zu schreiben nicht zur Ausführung bringen, obwol ihm keinerlei Bedenken entgegenstehen. In allen diesen Fällen ist der physiologische Mechanismus völlig intakt, ebenso ist die Absicht vor- handen, die Vorbereitungen sind alle getroffen, aber der Entschluss kann nicht ausgeführt werden; es fehlt die Verbindung des Willens mit dem Bewegungsmechanismus. In andern Fällen wird die Tat verhindert durch einen Antago- nismus. Der Kranke, welcher beispielsweise zuerst durch einen toben- den Volkshaufen eingeschüchtert ist, kann sich nicht aufraffen allein über die Strasse zu gehen, sondern bleibt auf der Strasse unbeweg- lich stehen. Es gehören hierher die Erscheinungen der sogenannten „Platzangst“, wie sie unter andern von Westphal!) beschrieben sind. Der Kranke ist nicht im stande mitten über einen Platz zu gehen, da er glaubt das Ende nicht erreichen zu können; es wird 1) Archiv für Psychiatrie, II. 604 Ribot, Die Krankheiten des Willens. ihm leichter, wenn er um den Platz herum an den Häusern entlang geht. Ebenso werden hier die unter dem Namen „Grübelsucht“ be- schriebenen Fälle angeführt. Eine sehr intelligente Frau kann nicht auf die Strasse gehen, ohne sich ernstlich die Frage vorzulegen: wird auch nicht jemand aus irgend einem Fenster grade vor meine Füße herabstürzen? wird es ein Mann oder eine Frau sein? wird sich diese Person verwunden oder gar töten? soll ich dann um Hilfe rufen, oder fliehen, oder ein Gebet sagen? wird man auch glauben, dass ich an dem Tode unschuldig bin? u. s. w. — Ein an- derer hat die krankhafte Furcht sich durch Berührung mit andern Gegenständen zu verunreinigen, er wagt es daher nicht Geldstücke, den Thürknopf, den Fensterriegel zu berühren. Unter dem Titel „L’exce&s d’impulsion“ werden sodann im zweiten Kapitel Zustände besprochen, in denen die vernünftige Ueber- legung zu schwach ist, Handlungen zu veranlassen oder zu verhin- dern; Triebe niederer Ordnung haben die Herrschaft. Es gibt Kranke, welche vor den Augen der Leute Selbstmordversuche machen, ohne nachher eine Erinnerung daran zu haben; dieser fast kopf- oder besser hirnlose Zustand scheint besonders bei Hysteri- schen und Epileptikern häufig zu sein. — In andern Fällen geschieht die Tat mit Bewusstsein, der Wille unterliegt nach kürzerem oder längerem Kampfe. — Ein von Mordsucht geplagter Chemiker konnte sich nur dadurch vor der Ausführung eines Verbrechens schützen, dass er sich beide Hände fesseln ließ. — Ein Melancholiker wird von der Selbstmordsidee verfolgt; er erhebt sich nachts, um seinen Bruder zur Hilfe gegen sich selbst anzurufen. --— Ein junger Mann von 16 Jahren wird von der Idee verfolgt, seine eigne Mutter, die er sehr liebt, zu töten. Er gesteht es ihr und verlässt den Ort, um Sol- dat zu werden, kann aber kaum dem Triebe widerstehen, zurückzu- kehren; er wechselt abermals seinen Aufenthaltsort und verfällt dort auf ein anderes Opfer. Freiwillig verlässt er sein Vaterland, erfährt aber zufällig durch einen Landsmann, dass die Person, an deren Er- mordung er dachte, schon gestorben sei. Er kehrt zurück, findet sie doch noch am Leben und glaubt sich jetzt nicht anders schützen zu können, als wenn er sich freiwillig zeitlebens in eine Irrenanstalt begibt. Man kann hier ganz allmähliche Uebergänge konstatiren vom durchaus gesunden Zustande, der vielleicht nur bisweilen durch einen an sich ungefährlichen wunderlichen Einfall oder eine fehlerhafte Gewohnheit gestört wird, bis zu den fixen Ideen und Zwangsvorstellungen !). Ein Kranker bildet sich ein, dass er ein Verbrechen dem Papier anvertrauen und dies verlieren könne. Er sammelt infolge dessen alle Papierschnitzel, die er irgendwo findet, und bewahrt dieselben in seiner Wohnung sorgfältig auf, obwol er 1) Westphal, Ueber Zwangsvorstellungen. Berlin 1877. Ribot, Die Krankheiten des Willens. 605 volles Bewusstsein für die Lächerlichkeit seines Treibens hat. Es zeigt dieser Fall aufs deutlichste, dass die Herrschaft des Willens keineswegs selbstverständlich, sondern vielleicht nur ein glücklicher Zufall ist. Der bewusste Wille ist gleichsam der Gipfelpunkt einer Entwieklungsreihe; in diesen Krankheitsformen haben wir eine Rück- ‚bildung, indem niedere Stufen den Sieg davontragen. Auf die physiologischen Gründe derartiger Zustände wird einmal durch die künstlichen und vorübergehenden Lähmungen des Willens mittels Gift und zweitens durch chronische Lähmungen infolge von Verletzungen des Gehirns etwas Licht geworfen. Am bekann- testen sind die Erscheinungen vorübergehender Vergiftung durch Al- kohol, Opium u. dgl., bei welchen auf eine anfängliche Ueberreizung bald eine entsprechende Erschlaffung des Willens folgt. Zahllose Ausschreitungen, Gewalttätigkeiten und Verbrechen aller Art sind die Folge dieses Zustandes. Durch verschiedene Forscher !) ist konsta- tirt, dass die psychische Reaktionsfähigkeit durch den Einfluss des Alkohols verlangsamt wird. — Man kennt ferner zahlreiche Fälle, in denen durch einen Messerstich, infolge eines Abszesses, eines heftigen Schlages oder Sturzes die erste und zweite Stirnwindung des Gehirns verletzt wurde. In allen diesen Fällen, von denen Ferrier u. a. berichten, erlischt der Wille fast total und der Mechanismus der Reflexe beherrscht den Körper allein. Das dritte Kapitel bespricht die Erschlaffung der willkür- lichen Aufmerksamkeit. Wir finden hier zunächst einen von Carpenter?) geschilderten höchst interessanten Fall. Ein geistig sehr begabter Schriftsteller findet einen Verleger, welcher ihm eine nicht unbedeutende Summe für den Verlag einiger von ihm rezitirten Gedichte verspricht. Allein da ihm die Willenskraft fehlt, die ihm von der Natur verliehenen Gaben zu seinem Vorteil auszunutzen, zieht er es vor für seine täglichen Lebensbedürfnisse zu betteln, als auch nur einen einzigen Vers aufzuschreiben. Auch in seinem Aeußern kennzeichnet sich der Typus eines schlaffen, unentschlos- senen Menschen. In der Unterhaltung ist es ihm nicht möglich auf einfache ihm vorgelegte Fragen zu antworten, sondern er ergeht sich in transzendentalen Redensarten und schweift von dem besprochenen Gegenstande fortwährend auf andere Gebiete ab. Während dieser Zustand durch eine gesteigerte intellektuelle Aktivität, gleichsam eine psychische Wucherung charakterisirt ist, sind auch krankhafte Zu- stände entgegengesetzter Art beobachtet, meist als Vorläufer weiterer Geisteskrankheiten. Der Kranke kann sich nicht sammeln, seine ge- wöhnlichen geistigen Verrichtungen vorzunehmen, zu lesen, einen Brief 1) Exner in Pflüger’s Archiv 1873. — Kräpelin in W. Wundt’s philo- sophischen Studien. S. 573 ff. — vgl. auch auch Biolog. Centralbl. Bd. I. 8.728, 2) Mental physiology, S. 266 ft. 606 Ribot, Die Krankheiten des Willens. zu schreiben u. s. w. — Wie in den frühern Fällen handelt es sich auch hier um Reflexe, indem auch die Aufmerksamkeit als ein psy- chischer Reflex betrachtet werden muss. Der Wille ist hier insofern beteiligt, als er überflüssige Bewusstseinszustände unterdrückt (di- minuer la diffusion inutile, e’est augmenter la concentration utile). Im vierten Kapitel behandelt der Verfasser die Herrschaft der Launen. Der Charakter der Hysterie ist das beste Beispiel. Mit unglaublicher Schnelligkeit wechselt Freude und Trauer, Lachen und Weinen; fortwährend verändert, phantastisch oder launisch, redet die Hysterische in einem Augenblick mit staunenswerter Geschwätzig- keit, um sich im nächsten stumm und schweigsam zurückzuziehen. „Die versteht es nicht zu „wollen“, sie kann es nicht und will es auch nicht“ (Huchard). Bei einer erwachsenen Person von durchschnittlicher Willenskraft können wir drei Stufen der Aktivität unterscheiden. Zu unterst die automatischen Tätigkeiten, angeborne und angewöhnte Reflexe; darüber solche, welche aus dem Gefühl, den Begierden und Leiden- schaften entspringen, und endlich noch höher stehen die vernünftigen Handlungen. Der launische Charakter der Hysterischen ist der Typus für den fast völligen Ausfall der hemmenden wie treibenden Kraft der letztern, die beiden untern Stufen sind allein vorhanden. Nicht selten kommt noch eine fixe Idee hinzu, welche hemmend auf ge- wisse Tätigkeiten wirkt. Die eine weigert sich zu sprechen, die an- dere zu essen. Die Hysterische bleibt Wochen, ja Monate lang im Bett liegen, indem sie sich einbildet nicht gehen und stehen zu können. Die physiologische Ursache wird in einer krankhaften Veränderung der motorischen Zentren gesucht werden müssen. Schließlich bringt das fünfte Kapitel die Zustände der Ekstase und des Somnambulismus, in denen ein völliger Ausfall der eignen Willenstätigkeit angenommen werden muss. Der ekstatische Zustand tritt entweder von selbst ein als Folge einer natürlichen Anlage, oder durch künstliche Mittel. Die religiöse Literatur des Orients, besonders Indiens, ist voll von Dokumenten, aus denen man eine Art von Hilfs- und Handbuch ausziehen könnte, um die Ekstase herbeizuführen: sich ganz still verhalten, fest den Himmel oder einen leuchtenden Gegenstand, oder auch die Nasen- spitze, ja sogar den Nabel anstarren (wie die Mönche vom Athos) u. s. w. Das Aussehen der Ekstatischen ist in vielen Beziehungen charakteristisch. Sie bleiben unbeweglich, mit ausdrucksvollen Mienen ; die Augen sind weit geöffnet, sehen aber nicht; die Empfindlichkeit ist erloschen, das ganze Bewusstsein ist mit außerordentlicher Inten- sität auf eine einzige Vorstellung konzentrirt. An dem Beispiel der heiligen Therese wird dieser Zustand der Verzückung eingehender geschildert. Man unterscheidet zwei Kategorien. In der ersten bleibt die Beweglichkeit bis zu einem bestimmten Grade, indem der Eksta- Ribot, Die Krankheiten des Willens. 607 tische durch seine Bewegungen die Passionsgeschichte oder andere heilige Handlungen nachahmt. Die zweite ist die der vollkommenen Ruhe; alles ist auf die Vorstellung einer Idee konzentrirt, auf den Gott der heiligen Therese oder auf das Nirwana der Buddhisten. Das ganze „ich“ ist auf diese eine Idee, diese einzige Vision redu- zirt; eine Wahl, ein Wollen kann daher nicht stattfinden. Wir haben hier den interessanten Fall eines psychologischen Antagonismus: „was der Gedanke an Kraft gewinnt, geht dem Willen verloren“. Den Zustand des Somnambulismus oder Hypnotismus zu erklären ist zwar mehrfach versucht worden, doch kann keiner der Erklärungs- versuche als erwiesen betrachtet werden. Auch bezeichnet man mit diesem Namen nicht überall dasselbe. Zunächst findet man unter dieser Bezeichnung einen lethargischen Zustand beschrieben, verbun- den mit vollständiger geistiger Trägheit. Das Bewusstsein ist er- loschen, die Tätigkeit der Reflexe gesteigert. Auf das Wort des Magnetiseurs erhebt sich der Hypnotische, geht, setzt sich, sieht Ab- wesende u. s. w.; der eigne Wille ist vollständig vernichtet, die durch den Einfluss des Magnetiseurs hervorgerufene Idee herrscht allein in dem schlafenden Bewusstsein. Der Kranke ist nichts als ein auto- matischer Mechanismus, welchen man spielen lässt. Daneben kommen auch Fälle vor, in denen mit einer gewissen Ueberlegung gehandelt wird, in denen eine Wahl zwischen zwei Handlungen stattfindet, also ein Wille ausgeübt wird, d. h. eine wenn auch nur dumpfe und be- schränkte Reaktion des Individuums. Auch werden Fälle berichtet, in denen sich der Kranke dem Willen des Magnetiseurs widersetzte: er lässt sich willig als Matrose oder Offizier verkleiden, sträubt sich aber unter Thränen gegen das Kleid des Priesters. Die Erschei- nungen des künstlich hervorgerufenen hypnotischen Zustandes sind analog. Am Schlusse dieser höchst interessanten mit Klarheit und echter Wissenschaftichkeit durchgeführten Untersuchungen zieht der Ver- fasser einige allgemeine Schlussfolgerungen. Wie die ganze Anlage des Werkes lebhaft an die frühere Abhandlung über das Gedächtniss erinnert, so entspricht dem auch das Resultat. Auch hier zeigt sich bei Krankheiten dieselbe rückschreitende Bewegung. Zunächst gehen die höhern, mehr willkürlichen und zusammengesetzten Akte verloren, welche das Individuum erst später erworben hat, nachher die weniger willkürlichen und einfachern, also die schon früher vor- handenen, zum Teil schon ererbten Reflexe — ein Gesetz, welches mit dem im Jahre 1868 von Hughlings Jackson in Uebereinstimmung mit der Lehre von Herbert Spencer gefundenen übereinstimmt. Es würde zu weit führen, die zahlreichen Belege hierfür an dieser Stelle zu wiederholen. _ Noch auf einen Punkt von allgemeinem Interesse mag hier am Schlusse hingewiesen sein. Die Zustände der Unentschlossenheit, 608 Roux, Bestimmung der Hauptrichtungen des Froschembryo, Willensschwäche ete. beweisen, dass die Handlung nicht notwendig von dem „Willen“ abhängt, sondern von motorischen Zentren, die ebensowol unter dem treibenden oder hemmenden Einfluss anderer Kräfte, unwiderstehlicher Triebe, stehen. Das bewusste „ich will“ ist ein Bewusstseinszustand, welcher an sich noch nicht von Wir- kungen begleitet ist. Es konstatirt das Vorhandensein eines psychi- schen Zustandes, aber es ist nicht selbst Ursache; es ist wie das Urteil eines Gerichtshofes, das Resultat einer vorhergegangenen leb- haften Debatte, auf welche wichtige und nachhaltige Ereignisse folgen. Es ist selbst nur eine Wirkung, ohne eine Ursache zu sein. K. Fricke (Bremen). W. Roux, Ueber die Zeit der Bestimmung der Hauptrichtungen des Froschembryo. Eine biologische Untersuchung. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1883. Mit 4 Fi- guren. 283 Seiten. Roux hat durch Einstechen von Nadeln in die Gallerthülle oder durch das natürliche Anhaften derselben an die Gefäßwandung festzustellen gesucht, ob bei den Eiern von Rana fusca und Rana esculenta ein konstantes Richtungs- verhältniss zwischen den ersten Furchen und den Hauptachsen des Embryos besteht und ist dabei zu dem Resultat gelangt, dass die Ebene der ersten Furche im wesentlichen mit der künftigen Medianebene zusammenfällt, wäh- rend die zweite Furche, welche exzentrisch gebogen ist und den Eikörper in zwei ungleich große Abschnitte teilt, so gerichtet ist, dass sie eiuen größern Kopfabschnitt von einem kleinen Schwanzabschnitt trennt. Es sind mithin „alle Hauptrichtungen des Embryo schon zur Zeit der Bildung der zweiten Furche normirt; und daraus folgt, dass die embryonale Entwicklung in diesen Beziehungen von Anfang an ein festes System von Richtungen ist, welches keine Unterbrechung zeigt, und wo dem Zufall nichts mehr zur Bestimmung überlassen bleibt.“ J. W. Spengel (Bremen). Veranlasst durch einige hervorragende Zoologen habe ich, unterstützt durch den Rat und das Urteil persönlicher Bekannter Darwin’s, eine Büste Darwin’s modellirt, und will dieselbe, falls sich eine genügende Beteiligung finden sollte, einem größern Kreis durch Abgabe von Gypsabgüssen zugänglich machen. Da eine Büste Darwin’s bisher in Deutschland noch nicht existirte, glaube ich auf eine für das Unternehmen lohnende Beteiligung rechnen zu können. Der Preis für eine lebensgrosse Gyps-Büste Darwin’s beträgt inkl. Ver- packung 60 Mark und ich bitte diejenigen Herren, die bis Weihnachten auf einen Abguss reflektiren, ihren werten Namen und Adresse an die Lorentz’sche Buchhandlung in Leipzig, Augustusplatz 2, abzugeben, die den Vertrieb der Büsten in Kommission genommen hat. Christian Lehr der Jüngere Bildhauer in Leipzig, Thal-Strasse 15. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen, Biologisches Gentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal _ Prof. der Physiologie in Erlangen. \ 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. ie: Inhalt: Klebs, Ueber die Organisation einiger Flagellatengruppen und ihre Beziehun- gen zu Algen und Infusorien. — Fraisse, Neuere Beobachtungen über Re- generation. — Bülow, Die Keimschichten des wachsenden Schwanzendes von Lumbriculus variegatus nebst Beiträgen zur Anatomie und Histologie dieses Wurmes. — Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarkes. — Albrecht, Das Basioceipital bei Anuren. — Albrecht, Proatlas bei Hatteria punctata. — Ray-Lankester, Eröffnungsrede der biologischen Sektion auf der British Association for the Advancement of Science. II. Band. 15. Dezember 1883. Georg Klebs, Ueber die Organisation einiger Flagellatengruppen und ihre Beziehungen zu Algen und Infusorien. Separatabdruck aus den Untersuchungen des bot. Instituts von Tübingen. I, 2 mit 2 Tafeln und 130 Seiten. Die Frage nach der Grenze des Tier- und Pflanzenreichs ist in den verflossenen Jahrzehnten mit besonderer Lebhaftigkeit auf dem Gebiete der Flagellaten diskutirt worden, jenen mikroskopisch kleinen einzelligen Organismen, die sich mit Hilfe von einer oder mehrern Cilien frei im Wasser bewegen. Unter der Fülle verschiedener For- men sind wol am bekanntesten die farblosen monadenartigen Wesen und die grünen Euglenen. Die mannigfachen Wandlungen in den An- schauungen über die Unterschiede des pflanzlichen und tierischen Le- bens spiegeln sich am deutlichsten in der jedesmaligen Auffassung der systematischen Stellung der Flagellaten wieder. Man strebte früher danach, einen prinzipiellen Unterschied zwischen Tier und Pflanze aufzufinden und nach ihm die Flagellaten bezüglich ihrer Stellung zu beurteilen. Einer nach dem andern jener Charaktere, die wie das Chlorophyll, der Zellstoff, die Cilie, die kontraktile Blase Tiere und Pflanzen trennen sollte, haben sich dann aber als etwas beiden ge- meinsames erwiesen. Der letzte Bearbeiter aller Flagellaten Stein betrachtet in dem dritten Teile seines großen Infusorienwerkes vom Jahre 1878 noch als spezifisch tierische Charaktere den Kern, den Mund und die kontraktile Blase und zieht infolgedessen zu seiner 39 610 Klebs, Ueber die Organisation einiger Flagellatengruppen. Gruppe eine Reihe Formen, die wie z. B. die Volvoeineen schon seit längerer Zeit als echte Algen anerkannt sind. Dass diese von Stein angeführten Charaktere zu einer Grenzbestimmung nicht taug- lich sind, braucht bei den heutigen Anschauungen nicht besonders dargelegt zu werden. Immer enger offenbart sich durch die neuern Forschungen die Verwandtschaft von Tieren und Pflanzen, nicht bloß in wesentlichen Lebenserscheinungen, sondern auch in mannigfachen morphologischen Beziehungen. Allmählich gehen vielfach beide inein- ander über, so dass eine Grenze zu setzen immer nur mit mehr oder minder Willkür geschehen können wird. Für jene Organismen, die auf der Grenze stehen, erhebt sich vor allem die Frage, an welche andern Organismen von genau bekannter Stellung, seien es Tiere oder Pflan- zen, schließen sie sich ihrer ganzen Organisation und ihrer Entwick- lungsgeschichte nach am nächsten an. Im allgemeinen ist die Lebens- geschichte der Flagellaten noch sehr in Dunkel gehüllt, woher es kommt, dass die entgegengesetztesten Ansichten über ihre Stellung, ihre Tier- oder Pflanzennatur bis auf die heutige Zeit sich gegenüberstehen. Aufgabe der vorliegenden Abhandlung ist es, von einigen Formen- eruppen derselben ein Bild ihres Baues und Lebens zu geben und im Anschluss daran ihre Beziehungen zu Tieren und Pflanzen klarzulegen. Den Hauptteil der Arbeit nimmt die Monographie der Euglena-arti- gen Organismen ein, die eine wol charakterisirte Gruppe bilden. Die wichtigsten Momente in ihrer Organisation sind wol folgende. Im allgemeinen erscheinen die Euglenen in der Form länglich spindelförmiger Körper, die aber auch häufig plattgedrückt, bandför- mig sind; sie befinden sieh meist in freier Vorwärtsbewegung, nur kurze Zeit während der Teilung ruhend. Die Bewegung wird meist durch eine Cilie bewirkt. Viele Arten haben außerdem die Fähigkeit Gestaltsveränderungen zu zeigen, die sogenannte Metabolie. Doch ist der Grad der Energie in diesen Bewegungen sehr verschieden je nach den Arten, und es finden sich sehr allmähliche Uebergänge zu voll- kommen starren Formen. Die äußerste Peripherie des Euglenenkörpers wird von der Membran eingenommen, einer besondern nach außen und innen scharf abgesetzten Schicht, welche sich nicht wie die Zell- haut der PflanzenzeHen durch Salzlösungen von dem Cytoplasma trennen lässt (jedoch durch Druck und Alkohol), und welehe auch keine Cellulosereaktionen zeigt. Vielmehr besteht die Membran neben einer unverdaulichen Substanz aus eiweißartigen Stoffen, die durch Fäulniss oder Peptonisirung herausgelöst werden können. Der Gehalt an ‘sol- chen verdaulichen Stoffen ist übrigens je nach den Arten graduell verschieden, und auch in andern Eigenschaften wie Quellungs- fähigkeit und Farbstoffeinlagerung sehen wir in der Reihe der Arten eine gradweise Verschiedenheit sich zeigen. Bei Euglena viridis ist (die Membran stark quellbar, färbt sich leicht und wird fast vollständig N Klebs, Ueber die Organisation einiger Flagellatengruppen. 611 durch Pepsin verdaut, während bei Phacus pleuronectes Quellung, Fär- bung und Verdaulichkeit kaum merkbar vorhanden ist. Bei allen Euglenen besitzt die Membran eine mehr oder minder ausgebildete Struktur in Form von spiraligen Streifen, die bisweilen deutlich als Verdiekungen auf der Oberfläche hervortreten. Stein betrachtet die Streifen als Muskel- fasern, mit denen sie aber nichts zu tun haben. In manchen Fällen hat die Membran ein Eisensalz eingelagert, infolgedessen sie gelb bis braun gefärbt erscheint. Eine besondere Eigentümlichkeit besitzt die Membran am vordern Ende des Körpers, indem sie hier im das Innere eine trichterförmige Falte sendet, die ohne Grenze allmählich in das Cytoplasma übergeht und verschwindet. Stein, der diesen Membran- triehter zuerst deutlich beobachtet hat, fasst ihn als Schlundrohr auf; doch hat er, soviel bis jetzt bekannt, keine Bedeutung fur die Ernäh- rung, da diese wie bei den Pflanzen erfolgt. In dem vordern Teile des Körpers befinden sich noch mehrere andere wiehtige Organe der Euglenen, vor allem die von Carter ent- deckte kontraktile Blase, welehe nicht selten in Mehrzahl vorhanden ist. Sie verhält sich in vieler Beziehung anders als die bisher ge- nauer bekannten Blasen der Infusorien. Sie entsteht allerdings wie diese durch Zusammenfluss kleiner Vakuolen, mündet dann aber bei ihrer Systole in eine große bei allen Euglenen sich findende Vakuole, in die Hauptvakuole ein, die schon Ehrenberg gesehen und als Gehirn gedeutet hat. Nach der Verschmelzung der Hauptvakuole mit einer der pulsirenden Blasen, der „Nebenvakuolen“, zieht sich die erstere etwas zusammen, es entstehen neue Vakuolen an ihrer Peripherie, münden in sie und so geht es fort. Die Hauptvakuole muss jeden- falls nach jeder Verschmelzung Flüssigkeit wieder ausstoßen, doch nach weleher Seite ließ sich bisher nicht nachweisen, wahrschemlich nach außen. Die Hauptvakuole zeigt ferner die Eigentümlichkeit, bei langsamer Einwirkung verdünnter Salzlösungen sich stark zu er- weitern. Das ganze System der pulsirenden Vakuolen erweist sich als ein gewissermaßen selbständiges Organ. Bei Einwirkung von Druck, hoher Temperatur, Alkaloiden pulsiren die Vakuolen noch fort, wäh- rend Cytoplasma und andere Organe des Körpers schon deutliche Zeichen von Krankheit und Absterben zeigen. Bei geeigneter Höhe des Druckes und der Temperatur stehen die Bewegungen des Plasmas still, Kern und Chlorophylikörper fangen an zu degeneriren, nur die Vakuolen pulsiren noch; aber schließlich hören auch sieauf. Bei Rückkehr des Lebens sind sie aber die ersten, welche lebendig werden; ja bei Individuen, bei denen das Leben nach Aufhören des Druckes bezw. Sinken der Temperatur nieht mehr zurückkehrte, traten noch deut- liche Pulsationen der Vakuolen auf, die sich also wie das Herz eines getöteten Frosches verhalten. Ueber die Funktion dieser merkwürdi- gen Organe ist nichts sicheres bekannt. 612 Klebs, Ueber die Organisation einiger Flagellatengruppen. Das Cytoplasma der Euglene zeigt nichts besonderes, als dass es bei einzelnen Arten in gleitender Bewegung ist. Der Kern, stets in der Einzahl vorhanden, ist zusammengesetzt aus gleich- mäßig dieken, dicht miteinander verflochtenen Fäden; in manchen Fäl- len ist eine Kernmembran nachweisbar. Auch der Kern lässt eine gewisse physiologische Selbständigkeit erkennen. Man kann ihn unversehrt aus der Euglene herausdrücken und in verdünnten Salzlösungen eine Zeit lang lebend erhalten. Bei mechanischem Druck gelingt es, den Kern zur Quellung zu bringen, so dass seine Struktur verschwindet, ohne sein Leben zu gefährden; nach Aufhören des Druckes kehrt die Struktur zurück. In dem vordern Ende des Körpers, dicht neben der Hauptvakuole, liegt bei vielen Euglenen ein roter Fleck, der Augenfleck. Er be- steht aus einer plasmatischen netzförmig angeordneten Grundsubstanz, in welche kleine Tröpfehen einer ölartigen roten Masse eingesprengt sind. Diese rote Substanz stimmt ihren Reaktionen nach mit dem Hämatochrom überein, welches sich in den Dauerzuständen vieler Al- gen vorfindet und sehr wahrscheinlich in naher Beziehung zum Chloro- phyll steht. Sowol morphologische wie physiologische Verhältnisse sprechen in der Tat dafür, den Augenfleck als ein bei der Licht- empfindung mitwirkendes Organ anzusehen. Sehr viele Arten der Euglenen sind grün gefärbt, und zwar durch sehr verschieden gestaltete Chlorophyliträger. Diese Arten ernähren sich wie alle grünen Pflanzen durch Assimilation der Kohlensäure im Licht. Auf Kulturen von Torf, welchen man nur mit einigen an- organischen Nährsalzen getränkt hat, wachsen die Euglenen äußerst lebhaft und üppig. Die Chlorophyliträger der Euglenen zeichnen sich vor den andern Organen des Körpers durch ihre große Empfindlich- keit äußern Reizen gegenüber aus, sie sind immer die ersten, welche kränkeln und absterben; aber selbst bei starker Degeneration der- selben können die Euglenen sich noch lebhaft bewegen. Das wichtigste Stoffwechselprodukt der Euglenen ist das Para- mylon, welches in verschiedenen Gestalten erscheint, von stärkeähn- lichem Aussehen und wie die Stärke meist geschichtet ist. In den Reaktionen verhält es sich aber anders als die Stärke; es wird nicht blau durch Jod, löst. sich leicht in verdünntem Kali, quillt nur in seinen Lösungsmitteln, Kali und Schwefelsäure; seine Quellung und Lösung fallen fast zusammen. Je nach dem Verhältniss der Ernäh- rung zum Verbrauch im Stoffwechsel lagert sich das Paramylon in sehr wechselnder Menge in den Euglenen ab. Eine sehr häufige Erscheinung in dem Leben der Euglenen stellen die Hüllenbildungen dar. Nur wenige Arten begnügen sich mit ihrer Membran, diein diesen Fällen dann besonders derb ist. Die Mehrzahl umgibt sich kurz vor der Teilung oder zum Schutz gegen die Außenwelt mit einer Hülle, die bald mehr schleimig bald häutig ist. Diese Hüllen Klebs, Ueber die Organisation einiger Flagellatengruppen. 613 entstehen durch Ausscheidung, wie sich mitunter direkt beobachten lässt. Bei einigen Arten werden auf Anlass äußerer Reize, wie Druck oder Wassermangel, von dem Plasma aus durch die Membran momentan zahlreiche Schleimfäden ausgestoßen, die dann zu einer Hülle ver- quellen. Die Trichocysten bei den Infusorien entsprechen in vieler Beziehung diesen Schleimfäden und dienen wol auch als ein Schutz- organ. Die höchste Ausbildung erreichen die Hüllen bei der Gattung Trachelomonas, bei der die Euglenen fast während des ganzen Lebens von einer festen spröden und oft reich verzierten Hülle wie von einem Panzer umschlossen sind. Die anfangs schleimige Hülle wird fest und spröde durch Einlagerung eines Eisensalzes, welches sie auch gelb bis braun färbt. Durch eine Oeffnung der Hülle steckt die Euglene die Cilie nach außen. Die Euglenen pflanzen sich fort durch Zweiteilung, die wie bei andern Flagellaten der Länge nach erfolgt. Gewöhnlich begibt sich die Euglene zur Ruhe, oft von Schleimhüllen umgeben; es teilt sich zuerst der Kern, dann der Augenfleck und, wie es scheint, ziemlich gleichzeitig die Hauptvakuole. Nachdem so die innern wesentlichen Organe geteilt, beginnt die Euglene durch die allmählich vordringende Membranfalte vom Vorderende an sich einzuschnüren. Hier bei den Euglenen ‘kann man weder dem Kern noch dem Cytoplasma eine allein bestimmende Rolle bei der Teilung zuschreiben — wenigstens wäre es rein willkürlich. Man kann nur sagen, dass dieselbe in einer Aufeinanderfolge getrennter Momente besteht. Dass die verschiedenen Teilungen mehr oder minder gleichzeitig erfolgen, liegt wol weniger daran, dass eines der Organe eine spezifische Rolle bei der Teilung des Ganzen spielt, als in dem gegenseitigen Zusammenhange aller Organe, durch den erst das Gesamtleben der Zelle zu stande kommt. Eine andere Fortpflanzungsweise als durch Zweiteilung ließ sich bisher bei den Euglenen nicht nachweisen. Wol hat Stein eine sexuelle Befruchtung bei ihnen angenommen, allein sie hat sich in keiner Weise bestätigt. Nach Stein sollten zwei Euglenen mit ein- ander verschmelzen und aus dem Kopulationsprodukt der.Kerne von beiden sollten sich zahlreiche Embryonen entwickeln. Die sogenannten Kopulationszustände von Euglenen sind Zustände der Längsteilung; die Embryonen sind Zoogonidien einer Chytridiacee, die parasitisch in lebenden Euglenen sich aufhält. Gegenüber ungünstigen äußern Einflüssen, wie besonders Wasser- mangel, gehen die Euglenen in einen Ruhezustand über, in welchem sie lange Zeit Trockenheit ertragen können. Sie umgeben sich da- für mit dieken Schleimhüllen und erfüllen sich dicht mit Reservema- terial, besonders Paramylon. Im Vorhergehenden sind hauptsächlich die grün gefärbten Euglena- ceen berücksichtigt worden; es gibt neben ihnen eine Anzahl farb- loser Formen, die in Organisation wie Entwicklungsgeschichte sich 614 Klebs, Ueber die Organisation einiger Flagellatengruppen. genau wie die grünen verhalten, nur dass ihnen die Chlorophyliträger fehlen. Die farblosen Formen ernähren sich durch Aufnahme von in Wasser gelösten organischen Substanzen und leben besonders in fau- lenden Flüssigkeiten. Der innige Zusammenhang der farblosen und grünen Euglenen, die man oft kaum als Varietäten unterscheiden kann, sprieht dafür, dass sie sich aus einander entwickelt haben und vielleicht noch fortwährend sich entwickeln. Interessant ist es, wie der Augen- fleek bei den farblosen Euglenen rudimentär wird und bei manchen ganz verschwunden ist. Aber auch eine Anzahl entschieden selbständiger farbloser Fla- gellaten gehören in die Familie der Euglenaceen, die Untergruppe der Astasieen bildend. Auch diese haben dieselbe Organisation, nur be- sitzen sie weder Augenfleck noch Chlorophyliträger. Die Teilung vollzieht sich auch der Länge nach, aber meist nicht mehr in Ruhe, sondern während der Bewegung. Diese Astasieen, die sich ernähren wie die farblosen Euglenen, verbinden letztere mit andern Flagellaten- gruppen. An die Betrachtung der Organisation und Entwicklungsgeschichte der Euglenaceen schließt sich in der Abhandlung die ausführliche systematische Anordnung und Beschreibung der Euglenaceen an, im betreff welcher auf das Original verwiesen werden muss. Um nun die Stellung dieser Familie andern Organismen gegen- über klarzulegen, mussten die verwandtschaftlichen Beziehungen teils zu andern Flagellaten und den Infusorien, teils zu Algen näher er- läutert werden. Am nächsten stehen die Euglenaceen einer andern natürlichen Gruppe von Flagellaten, den Peranemeen. Letztere sind farblose Flagellaten, bei denen Organisation und Entwicklungsgang sehr ähnlich wie bei den Euglenen sich verhalten. Sie zeichnen sich vor den farblosen Formen derselben hauptsächlich nur durch die etwas andere Gestaltung des Vorderendes aus. Statt des Membrantrichters der Euglenen findet sich hier eine Mundöffnung, zugleich ein beson- derer Mundapparat in Form zweier verschieden geformter Stäbe; in Verbindung damit ernähren sich diese Peranemeen nicht mehr pflanz- lich, sondern tierisch durch Aufnahme fester Substanzen. Der Zusam- menhang der Euglenaceen, besonders durch deren farblose Formen, mit den Peranemeen ist so auffallend, dass beide ohne Zweifel zu einer gemeinsamen Gruppe gehören. Da andererseits Euglenaceen wie Pe- ranemeen in den allgemeinsten Charakteren mehr als die gewöhnlich dazu gerechneten Acineten mit den Infusorien übereinstimmen, beson- ders aber die Peranemeen auch in spezieller Weise durch ihre Mund- öffnung, den Mundapparat und durch die Art der Ernährung an die Ciliaten sich anschließen, müssen auch die Euglenaceen zu den Infuso- rien gerechnet werden, was schon von Stein, wenn auch aus an- dern Gründen, geschehen ist. Vielfach — so von Cienkowski, Hofmeister, Schmitz, — ist Klebs, Ueber die Organisation einiger Flagellatengruppen. 615 nun aber die Vereinigung der Euglenen mit Volvocineen und danach auch andern Algen angestrebt; ebenso kämpft Stein dafür, der aber grade deshalb die Volvoeineen zu den Infusorien rechnet. Um das Verhält- niss dieser Organismen zueinander klarzulegen, mussten die bisher wenig gekannten Palmellaceen herangezogen werden. In der Abhand- lung werden von einer Anzahl derselben der Bau und der Lebens- gang beschrieben. Neben ganz einfachen, sich wesentlich nur durch Zweiteilung fortpflanzenden Formen gibt es solche, bei denen die Zoo- sporenbildung eingetreten ist; diese führen hinüber zu jenen Arten, die zweierlei Arten (geschlechtliche und ungeschlechtliche) Zoosporen haben, bei denen auch die letztern eine mehr oder minder lange Zeit umherschwärmen. Solchen Formen (häufig in Gallertverbänden und die Untergruppe der Tetrasporeen bildend) stehen nun die Volvocineen besonders durch die Chlamydomonas-Arten so nahe, dass eine Abgren- zung nur mit Willkür möglich ist, und dass über die Zugehörigkeit der Volvocineen zu den andern Algen kein Zweifel sein kann. Vol- vocineen und Euglenaceen jedoch lassen sich nicht ohne weiteres vereinen. In betreff der Organisation unterscheiden sich die letztern von den erstern durch das eigenartige Organ, die Membran, die als eine besondere Differenzirung der Hautschicht angesehen werden muss, wie sie bei keiner der bekannten Algen vorhanden ist; ein fernerer wichtiger Charakter liegt in der Ausbildung des Membrantrichters, vor allem aber noch in der verschiedenen Art der Teilung. Bei den Euglenaceen ist sie eine solche, wie sie der im Tierreich verbreiteten Form entspricht, d. h. eine Teilung durch allmähliche Einschnürung. Bei den Volvoeineen wie andern Aigen erfolgt sie nach dem Typus der Pflanzenzellen durch mehr oder minder simultane Trennung. Wei- tere Unterschiede finden sich im Entwicklungsgang, in dem Vorhan- densein des allen Euglenen zukommenden Paramylons, statt dessen bei Volvoeineen und bei den Algen Stärke vorkommt. Außerdem zeigen sich neben solehen durchgreifenden Unterschieden noch kleinere, wie die lebhafte Metabolie sehr vieler Euglenen, die Starrheit der Volvo- eineen, die andere Struktur des Bewegungsorgans, der pulsirenden Vakuolen ete. Es ist zuzugestehen, dass keimer dieser Charaktere für sich genügen würde, prinzipiell die Euglenen von der Klasse der Thallophyten auszuschließen, die in den Mycomyceten, Diatomeen, Sehizophyten so ganz heterogene Gruppen umfasst. Das ist aber her- vorzuheben, dass die Euglenen nicht mit Volvocineen, Palmellaceen zu vereinigen sind, dass sie bisher zu keiner der bekannten Gruppen der Thallophyten irgendwie nähere Beziehungen erkennen lassen. Da sie vielmehr, wie früher nachgewiesen, in einem innigen Zusammen- hange mit den Peranemeen stehen, die als typische Infusorien aufzu- fassen sind, so wird man mit Notwendigkeit dazu gedrängt, auch die Euglenen zu denselben und damit zu den Tieren zu rechnen. Der Chlorophyligehalt vieler Euglenaceen kann in dieser Frage nicht in 616 Klebs, Ueber die Organisation einiger Flagellatengruppen. betracht kommen; der Mangel bezw. das Vorhandensein desselben ge- stattet bei diesen niedern Organismen nicht einmal eine spezifische, geschweige generische oder stärkere Trennung. Die neuerdings wie- der aufgetretene Behauptung, dass das Chlorophyll ein spezifisch pflanzlicher Körper sei, lässt sich demnach nicht aufrecht erhalten. In dem folgenden Abschnitt der vorliegenden Abhandlung werden noch einige bisher zu den Flagellaten gerechnete Organismen be- sprochen, die aber als Algen sich erweisen, besonders das Chloro- gonium euchlorum. Der Bau nud der Entwicklungsgang entsprechen im wesentlichen denen der Volvocineen, speziell der Chlamydomonaden ; von letztern sowie von Chlorogonium werden dann noch eimige farb- lose Varietäten beschrieben. Im Anschluss an diese Algenformen wird ein neues System der niedern einzelligen Algen aufzustellen versucht, die als Protococcoideae zusammengefasst werden. Die bisherige Ein- teilung in Palmellaceen, Protococeaceen, Volvocineen wird fallen ge- lassen und statt dessen eine Reibe von 8 Unterfamilien aufgestellt. Die- selben werden bezeichnet als Pleurococcaceae, Chlorosphaeraceae, Tetra- sporeae, Chlamydomonadeae, Volvocineae, Endosphaeraceae, Characieae, Hydrodicetyeae. Den letzten Teil der Arbeit bildet die Bearbeitung der Süßwasser- Peridineen, besonders in bezug auf ihren Bau und ihre Entwicklungs- geschichte. Diese merkwürdigen Organismen haben bisher noch keine sichere Stellung erlangt; dieMeinungen darüber sind vielmehr sehr einan- der entgegengesetzt, wenn auch die Ansicht von Stein, Bergh, dass sie Tiere seien und zu den Flagellaten gehören, im allgemeinen vorherrscht. Die Peridineen zeichnen sich durch eine ‚ringförmige Querfurche in der Mitte des Körpers aus, der bald mehr oder minder eiförmig, bald etwas flachgedrückt rundlich ist, besonders bei den marinen Formen häufig sehr abweichende Gestalten annimmt. Nach den bisherigen Ansichten sollte in dieser Querfurche ein Kranz feiner Wimpern sich befinden; bei den Süßwasserformen existirt er aber nicht, sondern statt dessen eine lange Cilie, welche innerhalb der Furche wellen- förmig hin und her schwingt und im Leben der Peridineen niemals heraustritt. Außerdem findet sich noch eine lange weit hervorragende Cilie, welche mit deren unterm Teile in einer Längsfurche liegt, die an der einen Körperhälfte vorhanden ist. Es wird dann nachge- wiesen, dass der Bau der Peridineen im wesentlichen der einer Algenzelle ist. Die Zellwand besteht, wie schon früher bekannt, aus Cellulose; sie umschließt das mit einer Hautschicht umkleidete Cyto- plasma, in welchem scheibenförmige Farbstoffträger, durch Diatomin gelb bis braun gefärbt, gelagert sind und Stärke und. Oel als Stoffwechsel- produkte sich vorfinden. Eine pulsirende Vakuole konnte bisher ebenso wenig als ein Augenfleck nachgewiesen werden. Die Peridineen treten in zwei Formen auf; neben den frei durch die beiden Cilien sich be- wegenden gibt es auch ruhende Formen, deren Zusammenhang mit Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regeneration. 617 ersten noch nicht genügend erkannt ist. Beide pflanzen sich durch Zweiteilung fort, welche bei den beweglichen Formen stets schief zur Längsachse vor sich zu gehen scheint. Die Peridineen ernähren sich wie andere Algenzellen. Soweit die bis jetzt vorliegenden Beobach- tungen über den Bau und das Leben ein Urteil gestatten, besteht keine Aehnlichkeit der Peridineen mit andern Flagellaten und noch weniger mit bekannten Infusorien; man wird am besten tun sie zu der Klasse der Thallophyten zu stellen. Eine nähere Beziehung zu einer der Familien derselben hat sich aber vorläufig noch nicht erkennen lassen; sie bilden vielmehr innerhalb der Thallophyten eine ziemlich isolirte Gruppe entsprechend den Diatomeen. In den Sehlussworten der Abhandlung werden die allgemeinen Charaktere der Klasse der Flagellaten gegeben, die nach Ausschluss der Volvocineen, Chlamidomonaden, des größern Teils der Hydromorinen und der Peridineen hauptsächlich neben Euglenaceen und Peranemeen noch die monadenartigen Wesen umschließt. Der Verfasser sagt: „Die allgemeinsten Charaktere der ganzen Gruppe würden nach meiner Meinung darin bestehen, dass die dazu gehörigen Organismen einen scharf begrenzten einkernigen Protoplasmakörper besitzen, der die längste Zeit des Lebens in freier Bewegung ist oder derselben mehr oder minder stets fähig bleibt, dass alle ein besonders gebautes Vor- derende haben, an dem das aus einer oder mehrern Cilien bestehende Bewegungsorgan sitzt, in dem pulsirende Vakuolen sich befinden. Alle Flagellaten vermehren sich durch Längsteilung, die durch eine am vordern Ende beginnende einseitige Einschnürung beendet wird. Ge- genüber ungünstigen Umständen sind sie fähig, in einen Dauerzustand überzugehen.“ Georg Klebs (Tübingen). Neuere Beobachtungen über Regeneration. Von Dr. P. Fraisse (Leipzig). Neuerdings sind die Regenerationsvorgänge bei den wirbellosen Tieren wiederholt bearbeitet worden; wir haben durch die Arbeiten von Carriere, Marshall, Romanes et Ewart und Bülow eine bedeutende Bereicherung unserer Kenntnisse dieser interessanten Er- scheinungen erhalten. Besonders wichtig für die Vergleichung mit den ähnlichen Prozessen bei den Wirbeltieren ist die letzte Abhand- lung von Bülow, welche vor kurzem erschienen ist!). Der Verfasser hat allerdings in dieser Arbeit nicht direkt die 1) Zeitschr. für wissensch. Zool. Bd. 39. S. 64. Die Keimschichten des wachsenden Schwanzendes von Lumbriculus variegatus, nebst Beiträgen zur Anatomie und Histologie dieses Wurmes, 618 Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regeneration. Ergebnisse seiner Untersuchung über Regenerationsvorgänge nieder- gelegt, es geht jedoch aus der ganzen Art der Mitteilung hervor, dass es ihm hauptsächlich darauf angekommen ist, sich den Boden für die histologische Bearbeitung der Regenerationserscheinungen bei den An- neliden vorzubereiten. Die meisten seiner Angaben werden erst durch die Vergleichung mit den Wachstumserscheinungen der Regeneration erhöhte Wichtigkeit erhalten; und an vielen Stellen weist Bülow hierauf schon hin, da er namentlich die frühern Arbeiten Sempers!) über die Knospung der Naiden eingehend zitirt und kritisirtt. Sem- per und Bülow haben sehr wol erkannt, dass Knospung und Re- generation nur graduell, nicht prinzipiell verschiedene Vorgänge sind und dass höchst wahrscheinlich bei beiden Prozessen die Entwicklung der neuen Teile nach gleichem Typus vor sich gehen wird. Großes Interesse erwecken nun die Angaben Bülow’s über das wachsende normale Schwanzende des Lumbriculus, in welehem ähnliche Verhält- nisse sich wiederholen, wie sie von Semper bei der Knospung der Naiden bereits vor Jahren beschrieben sind; so dass es immer wahr- scheinlicher wird, dass bei der Regeneration des Schwanzendes der Würmer die gleichen Wachstumserscheinungen sich finden werden. Charakteristisch ist vor allem das Auftreten besonderer, scharf ab- gegrenzter Keimschichten, die Bülow wol mit Recht mit den em- bryonalen Keimblättern vergleicht. Am äußersten Ende, dort wo der After an der obern Seite sich öffnet, erscheint auf dem Querschnitt das Bild einer zweischichtigen Gastrula. Der Vergleich mit dem Gastrulastadium ist allerdings nicht ganz zutreffend; denn es kommt bei der Gastrula, einer Monaxonie, ja hauptsächlich auf die bekannte Architektur an, vermöge deren sämtliche durch die vertikale Achse ge- legten Schnitte ein und dasselbe Bild liefern; hier hingegen können nur ein oder wenige Schnitte, in bestimmter Richtung geführt, mit jenen verglichen werden. Uebrigens könnte ein derartiger Vergleich auch nie auf die embryonalen Verhältnisse des Lumbrieulus Beziehung haben, da eine durch embolische Invagination entstandene Gastrula bei den Anneliden überhaupt nicht vorkommt. Auch dokumentirt sich in dem Flimmerbesatz des Entoderms bereits eine Differenzirung, wel- che an dieser Stelle nur durch funktionelle Anpassung entstanden sein kann, indem die Wimpern wol mit zur Fortbewegung des Kotes die- nen. Die Hauptsache jedoch bleibt die Anordnung in zwei deutlich von einander getrennte Schichten, von denen die eine das Entoderm, die andere, mehr noch dem embryonalen Typus sich nähernde, das Ektoderm repräsentirt. Sehr bald tritt nun, und zwar an den Stellen, an welehen Darm und Ektoderm sieh berühren, ein drittes Keimblatt auf, in ähnlicher Weise, wie es von einigen Coelenteraten bekannt 4) Semper, Verwandtschaftsbeziehungen der niedern Tiere. III. Strobi- lation und Segmentation in: Arbeiten aus d. z001.-zoot. Institut zu Würzburg. IH. Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regencration. 619 ist; doch nimmt es seine Abstammung nicht, wie Semper bei der Knospung der Naiden gesehen hat, aus dem Ektoderm allein, sondern aus den beiden vorhandenen Blättern. Auch im Ektoderm gehen Veränderungen vor sich, indem an der Neuralseite eine Vermehrung der Zellen zu erkennen ist. Der Enddarm schließt sich nun und geht, indem er seine Wimpern bald verliert, in den Körperdarm über, wäh- rend sich gleichzeitig aus dem Mesoderm zwei Keimstreifen bilden, aus denen die analogen Gewebe hervorgehen, wie beim Embryo. Die Semper’schen Chordazellen des Mesoderms sind hier nicht mehr zu erkennen und gehen höchst wahrscheinlich in das „Neurochord“ über. Aus dem Ektoderm bilden sich successive das gesamte Bauchmark mit Fasern und Ganglien, während die Leydig’schen „riesigen Fasern“ oder das „Neurochord“ Vejdowsky’s aus dem Mesoderm ihren Ur- sprung nehmen. Ebenso entstehen aus dem Ektoderm die Borsten- follikel und die Seitenlinien. Die Zellen, welche die Borstentaschen und die Muskeln der Borsten bilden, entstehen dagegen aus dem Mesoderm. Die Hauptergebnisse sind die folgenden: 1) Das Mesoderm entsteht durch Einwucherung von Zellen, wel- che aus der Uebergangsstelle von Ekto- und Entoderm ihren Ursprung nehmen. 2) Das mittlere Keimblatt bildet bald zwei Mesodermkeimstreifen, die sich früher gliedern, als die neurale Ektodermverdickung. 3) Der zentrale Teil des Bauchnervensystems, dessgleichen die Spinalganglien entstehen aus einer paarigen Ektodermanlage ; es kom- men zu dem nervösen Teil des Bauchnervenstranges von Lumbrieulus keine mesodermalen Elemente hinzu, wie Semper dies für die Naiden angibt. 4) Die „Nervenprimitivfasern“ oder die „riesigen dunkelrandigen Nervenfasern* Leydig’s im Bauchstrang der Oligochaeten, also auch die damit synonyme „Neurochorda* Vejdowsky’s sind nicht ner- vöser Natur, sondern dienen dem Körper als elastische Stütze. Mit der Chorda dorsalis der Wirbeltiere sind sie indess nicht zu homo- logisiren; denn die Neurochorda entstammt dem Mesoderm, die Chorda der niedrigst organisirten Vertebraten dem Entoderm. 5) Die Chordazellen Semper’s sind Abkömmlinge des mittlern Keimblattes, sie verschwinden dort, wo die Anlage des Neurochordes beginnt. 6) Die Muskelplatten und die sonstigen muskulösen Elemente sind mesodermalen Ursprungs, desgleichen Segmentalorgane, „Leberzellen“ und Blutgefäßsystem. 7) Die Borsten und die nervösen Seitenlinien stammen aus dem Ektoderm, ihre Nebenapparate (Muskulatur) aus dem Mesoderm. 8) Die verschiedenen Organe entstehen ihrer Uranlage nach in folgender Reihenfolge: Darm, Zentralnervensystem, Muskelplatten, 620 Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regeneration. elastische Körperachse oder Neurochord, Seitenlinien und Borsten, Spinalganglien, Blutgefäßsystem, Segmentalorgane und Leberzellen. Bülow schließt mit folgendem Satze: dass die bei der Re- generation auftretenden Keimschichten ebenfalls den embryonalen gleichzusetzen sind, bliebe noch zu be- weisen. Dabei hat er aber an früherer Stelle bereits die Arbeiten Sempers über die Knospung der Naiden einer eingehenden Kritik unterworfen und ist mit Semper zu demselben Schluss gekommen, dass die Knospung der Naiden nichts anderes ist, als ein besonderer Fall von Regeneration. Auch hat er die Semper’sche Hypothese, dass die Bildung des Bauchmarkes im freien (wachsenden) Afterende der geschlechtslosen Naiden übereinstimmen müsse mit derjenigen derselben Organe im Embryo auch der übrigen Oligochaeten, dahin erweitert, und mit seinen Beobachtungen kurz so zusammengefasst: dass die histologischen Vorgänge bei der Bildung der einzelnen Organe im wachsenden Schwanzende und in sich regenerirenden Teilen desAnnelidenkörpers denjeni- gen gleich sind, welche bei seinem Aufbau im Embryo stattfinden. Bülow fährt fort: Inwiefern sich diese Hypothese auch auf andere Tiergruppen ausdehnen lässt, mag einstweilen dahin- gestellt bleiben. Er zitirt hierbei die Arbeit von Götte: Ueber Ent- wicklung und Regeneration des Gliedmaßenskelets der Molche, in welcher derselbe als allgemeines Resultat dieser Untersuchungen $. 15 angibt, dass die Skeletbildung bei der Regeneration im wesentlichen ebenso verläuft, wie bei der primären Entwicklung und daher als eine Wiederholung der letztern bezeichnet werden kann. Wenn Bülow einmal den Weg der Vergleichung betritt, so hätte er wissen können, dass schon vor der Publikation von Götte, wenig- stens vor dem Erscheinen des vollständigen Werkes, vom Referenten?) ein diesbezüglicher Satz auf der Naturforscherversammlung zu Baden- Baden im Jahre 1879 ausgesprochen wurde, indem derselbe seinen Vortrag über Regeneration mit den Worten schloss, dass die Regene- ration von Organen und Geweben bei Amphibien und Reptilien im großen und ganzen nach dem Typus der embryonalen Bildung vor sich geht. Auch in seinen Beiträgen zur Anatomie von Pleurodeles Waltli, einem aus einer jetzt sich dem Abschluss nähernden umfang- reichern Arbeit über die Regeneration bei den Wirbeltieren heraus- gezogenen kleinern Essay, hat Referent wiederholt auf die embryo- nalen Strukturverhältnisse im Amphibienschwanze in Worten hinge- wiesen. Ebenso ist wol aus den gegebenen Abbildungen ersichtlich, dass die Verhältnisse im wachsenden Schwanzende der Urodelen im allgemeinen denen des Lumbriculus und höchstwahrscheinlich auch 4) Uebrigens hat Leukart in seinem Salpenwerke schon die Bildung der Knospe mit dem Wachstum des Embryos verglichen. Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regeneration. 621 der andern Anneliden ähnlich sind. Haben wir es im sich neubilden- den Schwanzende der Urodelen auch nicht grade mit einem Gastrula- stadium zu tun, da die Regenerationsfähigkeit des Körperendes sich nicht über die Kloake hinaus erstreckt, so finden wir dennoch, dass die Epidermis, vor allem die Cutis und das Zentralnervensystem nach einem Typus aufgebaut werden, den man nicht anders als embryonal bezeichnen kann. Das Skeletsystem ist allerdings nicht nach embryo- nalem Typus gebildet, obgleich sich embryonale Zellen an der Spitze desselben ebensowol vorfinden, wie in den andern Geweben, söndern es entstehen vielmehr die letzten Wirbel nicht mehr wie beim Embryo, aus dem skeletogenen Gewebe der Chorda, sondern aus einem eigentüm- lichen, auf dem letzten Rest der Chorda kappenartig aufsitzenden Knorpelstab; ein Verhältniss, welches mit den Befunden im normalen wachsenden Schwanzende übereinstimmt. Dagegen sehen wir in der Epidermis am Schwanzende die sogenannten „Organoblasten“ v. Tö- rök’s auftreten, an denen sich weiter vorn die Umwandlung in Cutis- drüsen und Hautsinnesorgane vollzieht. Wir haben es im sich regene- rirenden wie im normal wachsenden Schwanzende wenigstens mit 2 Keimschichten zu tun, aus denen die homologen Organe hervorgehen, wie beim Embryo, mit dem Ektoderm und dem Mesoderm. Eine al- leinige Ausnahme macht hier das Rückenmarksrohr, da ein Zusammen- hang der Elemente desselben mit dem Ektoderm in keiner Weise nach- gewiesen wurde. Ob man demselben deshalb seine nervöse Natur absprechen kann, bleibt dahingestellt. Selbst die eifrigsten Anhänger der Lehre von der Homologie der Keimblätter würden, wenn sie dies versuchen wollten, hier mit den Tatsachen in Widerspruch geraten, denn es steht fest, dass Rückenmark, Spinalganglien und die von ihnen ausgehenden Nerven im regenerirten Schwanze der Urodelen ebenso funktioniren, wie im normalen, obgleich sie nicht direkt aus dem Ektoderm entstehen. Anders liegen die Verhältnisse allerdings bei den Eidechsen; denn das Rückenmark ist hier entschieden nicht mehr funktionsfähig und daher physiologisch mit dem normalen nicht zu vergleichen; doch davon an andern Orten. Es ist aber nicht der Zweck dieser Mitteilung, auf frühere Arbeiten des Referenten hinzuweisen, sondern er möchte auf einige neue Ideen aufmerksam machen, welche bei der fortgesetzten Bearbeitung der Regenerationsfrage in letzter Zeit entstanden sind. Vor allem muß vorausgeschickt werden, dass dieser Satz, wie er von Bülow für die Anneliden formulirt wurde, dass die histologischen Vorgänge ete. ... den embryonalen gleich seien, keine allgemeine Bedeutung be- sitzt, wie man nach den bisherigen Beobachtungen wol annehmen konnte, und wie auch Referent in früherer Zeit geglaubt hat. Der Vergleich der regenerativen Prozesse mit den embryonalen Bildungs- gesetzen liegt ja jedenfalls am nächsten, und wir werden auch an vielen Stellen die Richtigkeit dieses Vergleiches nachweisen können; 27 622 Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regeneration. dennoch darf durchaus nicht außer acht gelassen werden, dass bei der Regeneration noch ganz andere Verhältnisse mitspielen, als bei der Entwicklung im Embryo und dass es hier um spezifische An- passungen oftmals sich handeln muss, durch welche ein derartiges Zurückgreifen auf embryonale Verhältnisse zur Unmöglichkeit ge- macht wird. Auch bei dem Wurme, den Bülow untersuchte, sind die Verhältnisse des äußersten Schwanzendes eigentlich durchaus nicht embryonal, wenigstens nicht direkt den embryonalen Vorgängen bei diesem Wurme zu vergleichen, denn eine zweischichtige, durch embolische Invagination entstandene Gastrula, an welehe die Abbil- dungen Bülow’s Taf. V Figg. 1—7 erinnern, existirt hier in der Ent- wicklungsreihe nicht. Außerdem besitzt das Entoderm einen Flim- merbesatz, welcher am Entoderm der Embryonen von Würmern überhaupt bis jetzt noch nicht konstatirt wurde. Es handelt sich hier also schon um funktionelle Anpassung. Solche funktionelle Anpassungen finden wir bei der Regeneration der Wirbeltiere in bedeutend größerer Menge, als man zuerst ahnen möchte. So sind es namentlich die Reptilien und unter diesen die Eidechsen, deren Schwanz sich durch eine außerordentliche Repro- duktionsfähigkeit auszeichnet, und bei welchen wir ein Zurückgreifen auf embryonale Verhältnisse bei der Regeneration nur in den ersten Stadien beobachten können. Wie überall, wo regenerative Prozesse auftreten, müssen naturgemäß Embryonalzellen, d. h. Bildungszellen vorhanden sein !) oder gebildet werden, aus welchen die neuen Ge- webe hervorgehen. Eine Hornzelle, oder eine Knochenzelle in spätern Stadien ist nicht mehr im stande sich zu vermehren, ebensowenig wie eine einmal fixirte Muskelzelle oder Bindegewebszelle. Es wird daher eine Menge von Embryonalzellen auftreten, deren Herkommen sehr schwer zu erkennen ist; wenn man auch annehmen darf, dass die Leukoeythen oder Wanderzellen das größte Kontingent zu den- selben stellen. Auch werden durch einen besondern Prozess, welcher bei jeder Wundheilung vor sich geht, bereits fixirte Gewebeelemente aufgelöst (erweicht) und zu embryonalen Geweben umgebildet, wie dieses von den verschiedensten Forschern beobachtet worden ist. Es 14) W. Roux hat in seinem vortrefflichen Buche: Der Kampf der Teile im Organismus, Leipzig 1881. S. 177 seine Ansicht über diese Verhältnisse folgendermaßen ausgesprochen: Wol aber deutet die hohe Regenerationsfähig- keit, welche nach frühern Untersuchungen und nach den jüngsten von P.Fraisse und J. Carriöre fast jeden abgeschnittenen oder ausgeschnittenen Teil aus der nächsten Umgebung wieder in seiner typischen Weise herzustellen ver- mag, darauf hin, dass hier die Zellen nieht durch und durch an ihre spezi- fische Funktion angepasst sind, sondern dass jede, sei es im Kern oder im Protoplasma, noch einen Rest wirklichen embryonalen Stoffes enthält, welcher in Tätigkeit tritt, sobald und soweit er nicht mehr durch den Widerstand der physiologischen Umgebung daran verhindert wird, Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regeneration. 6253 wird zuerst also eine Proliferation von Zellen stattfinden, welche ein indifferentes Gewebe bilden, aus dem sich später vielleicht besondere Schiehten differenziren, die sich eventuell mit den embryonalen Keim- blättern vergleichen lassen. Es werden auch gleichartige Gewebs- elemente das Bestreben haben, bei diesem Prozess wieder gleichartige Gewebe zu erzeugen, so dass durch die Proliferation von Epidermis- zellen wiederum Epidermis, durch die der skeletbildenden Schichten wiederum Skeletmassen entstehen. So ist es bei den Wirbeltieren, und so wird es auch bei den niedern Tieren sein. Im allgemeinen wird nun wol bei der spätern Entwicklung der Gewebe ein Prinzip innegehalten werden, welches dem embryonalen Bildungsprinzip außer- ordentlich ähnlich ist oder mit demselben sogar verwechselt werden kann. Liegen die Verhältnisse etwas anders, so wird z. B. die Neu- bildung eines Körperteiles nicht nach den Gesetzen der embryonalen Bildung vor sich gehen, sondern nach den Bildungsgesetzen, wie sie in den betreffenden Teilen beim normalen Wachstum stattfinden. So kann man nicht eigentlich sagen, dass die Neubildung des Amphibien- schwanzes nach einem embryonalen Typus vor sich geht, sondern sie geht nach einem Typus vor sich, welcher für die Bildung des Schwanzendes der normalen erwachsenen Tiere charakteristisch ist. Ebenso ist die Regeneration des Schwanzendes der Anneliden nicht eigentlich eine Wiederholung der embryonalen Prozesse, sondern eine Wiederholung der Verhältnisse im normalen Schwanzende. Bei den wirbellosen Tieren ist eine Vergleichung mit den em- bryonalen Bildungen immerhin noch leichter wie bei den Wirbeltieren, da ja vor allem eines der hauptsächlichsten Gewebe, die Haut, zeit- lebens einen embryonalen Charakter behält, d. h. einschichtig bleibt, und daher, wenn man von den Hautdrüsen und der Cutieula absieht, ohne weiteres dem Ektoderm des Embryos gleichwertig ist. In solcher embryonaler Epidermis werden leicht Einstülpungen in die darunter liegenden Schichten stattfinden können. So hat Carriere nachge- wiesen, dass das sich neu bildende Auge bei den Mollusken durch eine Einstülpung des Ektoderms entsteht, so hat Semper nachge- wiesen, dass bei der Knospung der Naiden die Bildungsweise des Bauchmarkes übereinstimmt mit der embryonalen Bildung, so konnte ich bei den Wirbeltieren nachweisen, dass die Hautdrüsen, die Haut- sinnesorgane der Cutis u. s. w. auf einen embryonalen Bildungstypus zurückgeführt werden kann. Alle diese Organe und Gewebe, von denen wir bisher gesprochen, sind nach der Regeneration den nor- malen vollkommen gleich; man kann ihnen, wenn sie vollständig neu gebildet sind, nieht mehr ansehen, ob sie normal oder regenerirt ent- standen sind. Die meisten Organe und Gewebe haben diese Fähig- keit, sich m der normalen Weise zu regeneriren; einigen dagegen geht dieselbe vollständig ab, und wir schen ganz andere Gebilde an Stelle der normalen durch die Regeneration auftreten, die als morphologisch 624 Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regeneration. verschiedene Gebilde betrachtet werden müssen. Dies ist hauptsäch- lich der Fall mit dem Knorpelrohr im regenerirten Schwanze der Eidechsen. Wir sehen, dass hier ein nach bedeutend einfacherem Typus gebauter Kanal das komplizirte Skeletsystem des normalen Schwanzes ersetzt. Die Bildung dieses Knorpelrohrs kann natürlich nicht nach embryonalem Typus verlaufen, kann auch nicht auf den Typus zurückgeführt werden, wie er sich im normal wachsenden Schwanzende des erwachsenen Tieres vorfindet, sondern es müssen hier eigene Verhältnisse obwalten, nach denen die Bildung vor sich geht, und dies sind die schon wiederholt betonten Verhältnisse der funktionellen Anpassung. Noch interessanter als die eben erwähnte Form eines regenerirten Teils ist die Neubildung der Schuppen auf dem regenerirten Schwanze der Eidechsen. Während die embryonale Schuppe zuerst radiär sym- metrisch nach außen wächst, wird die breite Cutispapille der rege- nerirten Schuppe gleich in der Richtung angelegt, in welcher die Schuppe im spätern Entwieklungsstadium sich ausdehnt. Aber auch diese Cutispapillen sind bei den regenerirten Schuppen nicht das pri- märe, wie man wol erwarten könnte, sondern lange geschlossene Follikel, welche im ganzen Umkreis der Epidermis sich in die Cutis einstülpen, die in diesem Stadium noch sehr locker ist und einen embryonalen Charakter trägt. Auf diese Weise werden lange solide Stränge gebildet, die in gleichen Distanzen verlaufen. Dann aller- dings erheben sich segmentweise zwischen je zwei Follikeln die Cutis- papillen. Würde die sich regenerirende Schuppe in der embryonalen Art angelegt, so müsste ohne Zweifel eine bedeutend größere Anzahl von Schuppen auf dem regenerirten Schwanze auftreten, denn die embryo- nalen Papillen stehen sehr dicht bei einander. Andererseits ist der embryonale Schwanz bedeutend kleiner und dünner als der rege- nerirte Teil eines erwachsenen Tieres, besonders an der Stelle, die wir hier im Auge haben, und es stehen die einzelnen Schuppen an ihm in viel gleichmäßigerem Verhältniss zu der Ausbildung der an- dern Organe. Würden nun die Schuppen am regenerirten Schwanze in derselben Weise angelegt, so müsste sehr bald ein Missverhältniss zwischen diesen Bildungen und den übrigen Organen entstehen. So wird denn die regenerirte Schuppe, um einigermaßen den normalen an Größe und Gestalt in der kürzesten Zeit ähnlich zu werden, auf breiterer Basis angelegt, und dies geschieht eben durch die Einsenkung mehrfacher langer Follikelrinnen, zwischen denen dann segmentweise eine breite Cutispapille sich erhebt. So wird der Prozess der Bil- dung in gewisser Weise vereinfacht, denn die ‚sonst sekundär auftre- tenden Falten werden hier gleich primär angelegt und dadurch der sekundär auftretenden Cutispapille bereits eine bestimmte Größe vor- geschrieben. Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regeneration. 625 Außer den angegebenen Verhältnissen, welche durch die funk- tionelle Anpassung jedesmal hervorgerufen werden, und vielleicht bei mehr Geweben, als hier erwähnt werden konnte — es wird hierauf an anderem Orte noch speziell hingewiesen werden —, sind es noch andere Umstände, die bei diesen Entwieklungsvorgängen eine bedeu- tende Rolle spielen. So darf besonders der Einfluss der Phylogenie nicht unterschätzt werden. Hierfür hat Fritz Müller die schönsten Beispiele geliefert in seinem Aufsatz: Häckel’s biogenetisches Grundgesetz bei der Neubildung verlorener Glieder (Kosmos Bd. VIil S. 388). Wie bei der Entwicklung des ganzen Tieres geschieht es auch bei der Neubildung einzelner Gliedmaßen nicht selten, dass die frühern Zustände den Gliedmaßenbau der Vorfahren wiederholen. Hierfür folgende zwei hübsche Beispiele. Bei einer Garneele (Aty- oida Protimirim) hat die regenerirte Schere eine deutliche Hand, welche der normalen fast vollständig fehlt, da diese fast nur aus den beiden Fingern besteht. So zeigt sich die neugebildete Schere ähn- lich derjenigen der verwandten Gattung Carodina, doch noch ursprüng- lieher dadurch, dass die Finger nicht löffelartig ausgehöhlt und am Ende mit nur sehr wenigen, ganz kurzen Dornen besetzt sind. Noch schlagender ist der zweite Fall: das von den übrigen abweichend gebaute fünfte Fußpaar, welches durch den Mangel einiger beweg- licher Borsten und durch eine am letzten Glied ausgebildete Bürste ausgezeichnet ist, wird bei der Regeneration zuerst nach dem Typus der vorhergehenden Beinpaare angelegt und erhält seine typische Gestalt erst nach der letzten Häutung. Daraus schließt Müller, dass wahrscheinlich bei den Vorfahren der Afyoida die drei letzten Fuß- paare des Mittelleibes gleich gebildet waren, dass erst später das fünfte Fußpaar einen oder zwei der Schenkeldornen verlor und an seinem Endgliede einen Kamm zum Reinigen namentlich der Hinter- leibsfußpaare bekam. Derartige Resultate, wie sie Fritz Müller erzählt hat, sind noch von niemand bisher konstatirt worden; doch wenn man die ganze Reihe der Beobachtungen über die Regenerationsfrage durch- mustert, so wird man finden, dass vielleieht manches bisher noch unverständliche dadurch erklärt werden kann, dass man die Gesetze der Phylogenie mit in betracht zieht. Auch mir ist eine diesbezüg- liche Beobachtung erst klar geworden, nachdem ich den Müller’schen Aufsatz gelesen hatte. Am regenerirten Schwanze der Eidechsen finden wir stets in bestimmten Stadien ein dunkles Pigment auftreten, sodass der Schwanzstummel oftmals fast schwarz erscheint. Haupt- sächlich ist dies der Fall bei südlichen Formen, Lacerta muralis, und den Geekotiden; aber auch bei unserer Lacerta agilis hat der rege- nerirte Schwanz im jungen Stadium eine ganz andere Farbe als der normale und hebt sich stets dunkler von diesem ab. Diese dunklere Farbe scheint im ersten Moment sehr leicht dadurch erklärbar zu 40 626 Fraisse, Neuere Beobachtungen über Regeneration. 27 werden, dass das Pigment der Cutis durch die in diesen Stadien noch fast embryonale und durchsichtige Epidermis hindurchschimmert. Aber bei näherer Untersuchung belehren uns feine Querschnitte, dass das Pigment im regenerirten Schwanze nicht allein in der Cutis, son- dern auch zwischen den Epidermiszellen sich vorfindet, und zwar in so bedeutender Menge, dass man durch die jetzt opake Epidermis hindurch die Chromatophoren der Cutis kaum wahrnehmen kann. Es führt also die Epidermis Pigmentzellen, wie dies bei Embryonen von Lacerta und andern Tieren von Kerbert nachgewiesen wurde; und es geht auch die Bildung dieser Pigmentzellen in derselben Weise am regenerirten Schwanz vor sich wie beim Embryo, indem nämlich farblose Wanderzellen in die Epidermis von der noch embryonalen Cutis aus eindringen, sich in dem Iymphatischen Gewebenetz derselben ausbreiten und nun ihren Inhalt der Pigmentmetamorphose unter- werfen. Aber was hat das mit der Phylogenie zu tun? könnte man fragen, da diese Vorgänge sich ja ganz genau auf ontogenetische Prinzipien zurückführen lassen. Der Hauptpunkt bei dieser Ver- gleichung liegt darin, dass das Pigment später eben wieder aus der Epidermis auswandert, sowol beim Embryo wie beim regenerirten Schwanz, wenigstens unserer einheimisehen Lacerten und der Ascala- boten. Der regenerirte Schwanz der dunkel gefärbten, sogenannten blauen Eidechse des Faraglionefelsens bei Capri und der Lacerta var. Lilfordi behält dagegen zeitlebens in seiner Epidermis eine bedeu- tende Pigmentanhäufung und sieht deshalb noch dunkler aus als der übrige Körper. Natürlich musste dieser morphologische Befund zu einer mikroskopischen Untersuchung des normalen Schwanzes der Lacerta Lilfordi und Faraglionensis führen, und es zeigte sich dann auch, dass in der normalen Epidermis dieser Tiere eine so bedeu- tende Menge von Pigment vorhanden war, dass hierdurch allein schon die dunkle Färbung der Tiere bedingt werden musste. Wir kommen da auf eine Theorie, die uns vielleicht von unserm Thema in gewisser Beziehung abbringt, die aber doch mit demselben inso- fern innig verknüpft ist, als sie zur Erklärung der Regenerations- erscheinungen beiträgt. Es kann nämlich aus dem Vorhergehenden ohne weiteres gefolgert werden, dass die vorübergehende Anhäufung von Pigment in der Epidermis des Embryos wie des regenerirten Schwanzes ursprünglich etwas normales bei diesen Tieren gewesen ist, dass also sämtliche Eideehsen in frühern paläolithischen Zeit- altern eine schwärzliche Farbe besessen haben, und dass erst nach und nach durch Rückwanderung der schwarzen Chromatophoren aus der Epidermis in die Cutis die Anpassung der Farbe an die verschie- denen Orte bewirkt wurde. Ich weiß sehr wol, dass diese Hypothese in direktem Widerspruch steht zu der von Eimer und andern ver- tretenen Anpassungstheorie der Färbung, aber ich glaube durch die- sen morphologischen Befund berechtigt zu sein zu dem Schluss, dass Bülow, Keimschichten d. wachsenden Schwanzendes v. Zumbriceulus variegatus. 627 in der Pigmentanhäufung in der Epidermis des regenerirten Schwanzes nicht nur eine Wiederholung ontogenetischer, sondern auch phyloge- netischer Verhältnisse vorliegt. An anderer Stelle werde ich hierüber näheres mitteilen. Fassen wir die so besprochenen Gesetze noch einmal kurz zu- sammen, so sehen wir, dass das wol zuerst von mir, wenn auch nicht in so konkreter Form formulirte Gesetz, dass die histologischen, besser histogenetischen Vorgänge bei der Bildung der einzelnen Or- gane im wachsenden Sehwanzende und in sich regenerirenden Teilen denjenigen gleich sind, welche bei ihrem Aufbau im Embryo statt- finden, einen Vergleich hervorruft mit dem biogenetischen Grundgesetz. Es würde also bei den Regenerationserscheinungen dasjenige Wachs- tumsprinzip zuerst und vor allen Dingen in Kraft treten, welches beim Embryo desselben Tieres maßgebend gewesen ist; hiernach muss aber auch die Phylogenie in betracht gezogen werden. Es werden sich die Beispiele hierfür jedenfalls noch mehren, besonders aber darf nicht außer acht gelassen werden, dass der funktionellen Anpassung bei dieser Lebenserscheinung der allerweiteste Spielraum gelassen worden ist. Somit kann man sagen, dass die Regeneration der ein- zelnen Organe und Gewebe in gleicher Weise beeinflusst werde durch die Ontogenie wie durch die Phylogenie, und dass im allgemeinen der Regenerationsprozess eine kurze Rekapitulation der ontogeneti- schen Vorgänge ist; dass aber außerdem caenogenetische Entwick- lungsvorgänge in Menge hinzutreten. Nicht außer acht darf dabei bleiben, dass selbst bei höher organisirten Tieren, wie bereits er- wähnt, an denjenigen Teilen, welche sich durch besondere Repro- duktionsfähigkeit auszeichnen, im normalen Stadium embryonale Ver- hältnisse sich nachweisen lassen, und dass hierdurch höchst wahr- scheinlich schon eine besondere Anpassung an Regenerationsprozesse dokumentirt ist. C. Bülow, Die Keimschichten des wachsenden Schwanzendes von Lumbrieulus variegatus nebst Beiträgen zur Anatomie und Histologie dieses Wurmes. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd.39 Heft 1 S. 64—96. Mit 1 Taf. Die glashelle, den ganzen Körper überziehende Cutieula lässt hier nur sehr schwer jene bei andern Oligochaeten, den Hirudineen und Sipuneuliden, bekannte Struktur erkennen und erscheint deshalb meist homogen. Ihre Matrix besteht aus einem einfachen Zylinder- zellenepithel mit dazwischen liegenden einzelligen Drüsen, die einen feinkörnigen oder schleimigen Inhalt führen. Die Borsten stehen in vier Reihen um den Körper. Für gewöhnlich finden sich in je einem 40 * 628 Bülow, Keimschichten d. wachsenden Schwanzendes v. Lumbrieulus variegatus. Follikel zwei, nur selten drei derselben; trifft man auf einem Fleck vier neben einander liegend, so gehören zwei davon stets dem Re- serveborstenfollikel an. Der Mund führt im einen Schlund, dessen hinterer Abschnitt durch zwei seitliche Falten in einen obern und einen untern Abschnitt getrennt wird. An den obern Schlundraum setzt sich ein Kopfdarm an, der sich vom darauf folgenden Körperdarm durch den Mangel jeder Darmkapillaren unterscheidet. In seiner Umgebung fehlen des- ıalb auch die Leberzellen, die, wie Bülow angibt, in nähere Be- ziehung zum Gefäßsystem treten und nichts mit der Absonderung eines Sekretes zu tun haben. Der Enddarm ist ebenso wie das Vor- derende des Verdauungskanals dicht mit Flimmerhaaren besetzt. Unmittelbar unter der Matrix der Cutieula liegt als dünner Schlauch die Ringmuskulatur, auf welche nach innen zu die Längsmuskulatur folgt, welche jedoch keinen Schlauch bildet, sondern in sieben longi- tudinalen Streifen angeordnet ist. Am besten entwickelt ist die Borstenmuskulatur, die aus zwei gesonderten Systemen besteht, einem zum Herausschieben der Borsten und einem andern zum Zurückziehen derselben. Die Regulirung dieser Bewegungen wird durch die ner- vöse Seitenlinie vermittelt. Besondere Bewegungsapparate finden sich noch im Kopf, von denen die einen dazu dienen, die sich berühren- den Schlundwandungen voneinander zu entfernen, während die an- dern in beschränktem Maße die Stellung des Gehirns verändern können. Die Muskelelemente gehören dem Typus der glatten Mus- kelfasern an: sie sind bandförmig, mit einem elliptischen Kern ver- sehen und zeigen keine Spur von Querstreifung. Was nun das Nervensystem anbetrifft, so spricht Verfasser dem von Vejdovsky als „Neurochord“ bezeichneten Strange, welcher auf der dorsalen Seite der Bauchganglienkette gelegen ist, wo diese frei von Ganglienzellen ist, die Funktion der eigentlichen Nervenfasern, nämlich das Leitungsvermögen von Empfindungen ab und zwar des- wegen, weil dies Gebilde aus dem Mesoderm seine Entstehung nimmt. Von Gehirnnerven beschreibt er vier Paare, von denen sich eines mit einem besonders angeordneten Zellhaufen in Verbindung setzt, der am vordersten Ende des Lymphraumes gelegen ist, an der Stelle, wo nach Leydig sich die (nieht vorhandene) Kommunikationsöffnung zwischen Lymphraum und Außenwelt befinden soll. Diesen Zellhaufen deutet Verfasser als ein Sinnesorgan, über dessen Funktion er jedoch keine Angaben machen kann. Was die von Ratzel entdeckten Sin- nesorgane an der Bauchseite des Tieres anbetrifft, so schließt er sich den Ausführungen dieses Forschers vollkommen an. Parallel mit der Längsachse des Tieres verlaufen drei Blutgefäß- stämme: nämlich das Rückengefäß zwischen der dorsalen Muskulatur und dem Darm gelegen, das Bauchgefäß, welches sich unmittelbar über der Bauchganglienkette hinzieht und ein dritter schwer sicht- Bülow, Keimschiehten d. wachsenden Schwanzendesv. Lumbrieulus variegatus. 629 barer Blutkanal, der an der ventralen Seite des Darmes verläuft. Die beiden Hauptstäimme kommuniziren im Kopf durch ein Geflecht von „Darmschlingen“, im Schwanzende durch einen den Darm umgeben- den Blutsinus. Außerdem findet sich im hintern Teil jedes Segmentes noch eine besondere Kommunikation. Die Lymphe sollte nach Ley- dig durch einen besondern Porus an der Spitze des ersten Kopfseg- mentes mit der Außenwelt in Verbindung stehen, was Verf. jedoch auf das entschiedenste in Abrede stellt, da er weder an vollkom- menen Schnittserien noch am ganzen Tier irgend eine solche Oeffnung hat finden können. Sodann geht Bülow zum zweiten Teil seiner Arbeit über, zu der Schilderung der Entwicklungsvorgänge der verschiedenen Organe im nachstehenden Schwanzende. Wenn Semper in bezug auf das Nervensystem sagt, „dass die Bildungsweise des Bauch- markes am (wachsenden) freien Afterende der geschlechtslosen Naiden übereinstimmen müsse mit derjenigen desselben Organs im Embryo auch der übrigen Oligochaeten“, so verallgemeinert Verf. diesen Satz zu folgendem: Die histologischen Vorgänge bei derBildung dereinzelnen Organe im wachsenden Sch wanz- ende und in sieh regenerirenden Teilen des Anneliden- körpers sind denjenigen gleich, welche bei seinem Auf- bau im Embryo stattfinden. Während die fast ganz nach hinten gelegenen Schnitte durch das Afterende zwei verschiedene Schichten erkennen lassen, nämlich eine konvexe und ventrale Ektodermlage und eine dorsale und konkave Entodermschicht, lassen die folgenden bereits drei Schichten deutlich unterscheiden. Die dritte Schicht, die an diesen hinzutritt, ist dem Mesoderm homolog, da sie dasjenige Gewebe und diejenigen Organe liefert, welehe aus dem mittlern Blatt bei der embryonalen Entwick- lung hervorgehen. Da dies Mesoderm von dem Entoderm und Ekto- derm durch scharfe Grenzen geschieden ist, welche allein dort, wo diese letztern beiden Blätter in einander übergehen, verwischt sind, wird geschlossen, dass das Mesoderm seinen Ursprung durch Einwucherung von Zellen aus der Uebergangsstelle des äußern und innern Keimblatts nimmt, während es nach Sem- per’s Ansicht „höchst wahrscheinlich“ einzig und allein aus dem Ekto- derm entsteht. Dieses Mesoderm sondert sich bald zu zwei Meso- dermkeimstreifen, die, jederseits von der ventralen Mittellinie gelegen, sich früher sondern als die neurale Ektodermverdicekung. Auf den folgenden Schnitten schließt sich. allmählich das Ento- derm zu einem Rohr, das sich völlig vom Ektoderm loslöst. Zwischen den jetzt konzentrisch gelagerten Ringen des Ektoderms und des Entoderms befindet sich das Mesoderm, in dem in der ventralen Mittellinie die Chordazellen gelegen sind, welche letztern aber nach einer gewissen Anzahl von Schnitten wieder schwinden. ‚30 Bülow, Keimschichten d. wachsenden Schwanzendesv Lumbrieulus variegatus. Ueber die Entstehung der Organe aus den drei Keimschichten macht ferner Verfasser folgende Angaben. Der zentrale Teil des Bauchnervensystems, desgleichen die Spi- nalganglien entstehen aus einer paarigen Ektodermanlage; es kommen zu dem nervösen Teil des Bauchnervenstranges von Lumbrieulus keine mesodermalen Elemente hinzu, wie Semper angibt. $ Die „Nervenprimitivfasern“ oder die „riesigen dunkelrandigen Nervenfasern“ Leydig’s im Bauchstrang der Oligochaeten, also auch die damit synonyme „Neurochorda“ Vejdovsky’s, sind nicht ner- vöser Natur, sondern dienen dem Körper als elastische Stütze. Mit der Chorda der Wirbeltiere können sie nicht homologisirt werden, da sie mesodermale Bildungen sind, während die Chorda der niedrigst organisirten Vertebraten dem Entoderm entstammt. Die Chordazellen Semper’s sind Abkömmlinge des mittlern Keimblattes; sie verschwinden dort, wo die Anlage des „Neurochords“ beginnt. Ob die Elemente des letztern Umwandlungsprodukte der Semper’schen Chordazellen sind, konnte nicht konstatirt werden. Die Muskelplatten und die sonstigen muskulösen Elemente sind mesodermalen Ursprungs, desgleichen die Segmentalorgane, „Leber- zellen“ und Blutgefäßsystem. Die Borsten und die nervösen Seitenlinien entstehen aus ektoder- malen Elementen, die in das Mesoderm hineingewuchert sind; ihre Nebenapparate (Muskulatur) entstammen dem Mesoderm. Die verschiedenen Organe entstehen ihrer Uranlage nach in fol- gender Reihenfolge: Darm, Zentralnervensystem, Muskelplatten, elastische Körperachse oder Neurochord, Seitenlinien und Borsten, Spinalganglien, Blutgefäßsystem, Segmentalorgane und Leberzellen. Nachdem der Verfasser noch kurz seine Befunde am wachsenden Schwanzende mit den Ergebnissen der neuern embryologischen For- schung verglichen hat, stellt er am Schlusse folgenden Satz auf: „Die drei wol unterscheidbaren Schichten im normalen, wachsenden Afterende der Anneliden, die kaudalen oder Schwanzkeimschichten sind den embryonalen Keimblät- tern dynamisch gleichwertig, da sie dieselben Organe bilden wie diese. Nur in der Entstehung der Mesoderm- schicht, als des ersten Differenzirungsproduktes der primären zwei Schichten ist eine Modifikation einge- treten: sie nimmt nicht mehr wie im Embryo aus dem Entoderm ihren Ursprung, sondern aus derjenigen Stelle, wo äußere und innere kaudale Keimschicht ineinander übergehen. Kurz: bei den Oligochaeten sind kaudale und embryonale Keimschiehten dynamisch gleichwertige Pri- mitivorgane.“ L. Will (Rostock). Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarkes. 631 Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarkes. 4) Schiff, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarks. Pflüger’s Archiv XXVII, XXIX, XXX u. XXXIL — 2) Mendelssohn, Beitrag zur Frage nach der direkten Erregbarkeit der Vorderstränge des Rückenmarks. Du Bois Rey- mond’s Archiv f. Physiol. 1883. — 3) Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarks. Wiener akad. Sitzungsber. LXXXVI. Bd. III. Abt. 1383. Der von van Deen im Jahre 1842 begründete und in der Folge insbesondere von M. Schiff verteidigte Lehrsatz von der Unerreg- barkeit der zentralen Nervensubstanz durch unsere künstlichen Reize muss gewiss als einer der merkwürdigsten der Physiologie bezeichnet werden. Er steht so sehr mit allem in Widerspruch, was man sonst an irritabeln Substanzen zu sehen gewöhnt ist, dass es von vorn- herein geboten erscheint, sich dieser Lehre gegenüber im höchsten Maße skeptisch zu verhalten. Der Widerspruch erscheint um so auf- fallender, als einerseits grade die nervösen Zentralorgane, Gehirn und Rückenmark, in so außerordentlich hohem Grade befähigt er- scheinen, schon auf die schwächsten natürlichen „organischen“ Reize zu reagiren und die ausgelöste Erregung weiter zu leiten, und anderer- seits die in die Zusammensetzung der nervösen Zentren eingehenden Nervenfasern sich kaum wesentlich in ihrem Baue von den peripheren Nerven unterscheiden. Es kann daher auch nicht überraschen, die Mehrzahl der Physiologen gegenwärtig auf Seite der Gegner der van Deen’schen Lehre zu finden. Wenn demungeachtet ein Forscher vom Range Schiff’s in jüngster Zeit dieselbe abermals ausführlich verteidigt und alle bisher vorgebrachten Einwände zu entkräften ver- sucht, so darf man vermuten, dass hier in der Tat besondere Schwierigkeiten obwalten, die bei der scheinbaren Einfachheit des Problems nicht vorherzusehen waren. Wenn man die Gesamtheit der bisher vorliegenden einschlägigen Versuche überbliekt, so findet man, dass alle darauf hinzielen, einer- seits mit möglichster Sicherheit den Beweis zu liefern, dass eine als Folge der Reizung des Zentralorgans beobachtete Bewegung kein Reflex ist und andererseits sichere objektive Zeichen der Empfindung des Tiers zu ermitteln. So sehen wir schon van Deen bemüht, den eben berührten Einwand hinsichtlich der Deutung motorischer Reiz- erfolge vom Rückenmarke aus durch ein besonderes Versuchsverfahren auszuschließen, das in der Folge vielfach Nachahmung fand. Er legte das Rückenmark des Frosches etwa vom 3. bis 5. Wirbel bloß, schnitt sämtliche Wurzeln der Spinalnerven außer denen des N. ischiadieus durch und stach nun ein kleines Messerchen oberhalb der Lenden- anschwellung von der Seite her horizontal ein, so dass es die Dorsal- und Ventralhälfte des Markes von einander trennte. Wurde nun das Messerchen bei unveränderter Stellung nach vorn bis in die Gegend der obern Markgrenze durchgezogen, so entstand hierdureh ein freier Lappen, welcher aus den Hintersträngen, einem mehr oder weniger 632 Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarkes. großen Teil der Seitenstränge und grauer Substanz bestand und, nach- dem er an seiner vordern und hintern Grenze durchschnitten worden war, entfernt werden konnte. Dadurch war demnach die ganze hin- tere (dorsale) Hälfte des Rückenmarkes samt den einstrahlenden sen- sibeln Wurzelfasern beseitigt und so die Möglichkeit zur Auslösung von Reflexbewegungen am Orte der Reizung ausgeschlossen. Reizte nun van Deen die isolirte ventrale Markhälfte mechanisch, so sah. er bisweilen Bewegungen der Hinterfüße eintreten, von denen er zu- nächst auch glaubte, dass sie durch direkte Erregung der Vorder- stränge ausgelöst waren. Indess machte bald darauf Stilling auf die Möglichkeit aufmerksam, dass bei diesen Versuchen die höchst empfindlichen vordern Wurzeln des Plexus ischiadieus doch vielleicht durch eine leichte Zerrung des Markes gereizt wurden, und auch van Deen selbst war schon vor dem Erscheinen der Stilling’schen Arbeit durch neue Versuche zu dem merkwürdigen Resultate gelangt, dass weder die Vorderstränge noch auch die andern Teile des Rücken- markes erregbar sind und hatte so zum erstenmal einen Satz aufge- stellt, derin der Folge Jahrzehnte lang in der Physiologie herrschen sollte. Zum Beweise desselben hielt es van Deen später nicht einmal mehr für nötig, den obern Teil der Dorsalhälfte des Rückenmarkes zu entfernen, sondern bediente sich des aus dem Wirbelkanal heraus- getretenen, ganzen unversehrten Markes. Auf mechanische, chemische oder elektrische Reizung des Kopfendes mit selbst starken Strömen sollten angeblich keinerlei Erregungserscheinungen an den Muskeln der Hinterextremitäten erfolgen. Unbekannt mit den ersten Publikationen van Deen’s war in- dess M. Schiff durch eine Reihe von Versuchen an dem Rücken- marke verschiedener Warmblüter zu gleichen Anschauungen gelangt wie van Deen. Vollständige Gefühllosigkeit der Schmerzempfindung leitenden („ästhesodischen“) und Unerregbarkeit der motorische Impulse leitenden („kinesodischen“) Bahnen schien auch hier all- gemeines Gesetz zu sein. Die Versuche von Schiff waren im we- sentlichen nach Analogie der ersten van Deen’schen Versuche am Frosch angestellt, indem an dem teilweise bloßgelegten Rückenmarke die Hinterstränge in einer Ausdehnung von 5—6 cm abgetragen wurden, worauf weder bei vorsichtig angewendeter elektrischer, noch auch bei chemischer oder mechanischer Reizung (Stechen, Quetschen mit einer Pinzette) des betreffenden Markabschnittes Muskelbewe- gungen oder irgendwelche Zeichen von Schmerzempfindung bemerkbar waren. Der von Schiff aus diesem Verhalten gezogene Schluss, „dass bei einem solchen Tier die Empfindungsqualitäten (Schmerz), die durch das der Hinterstränge beraubte Rückenmark geleitet werden), nicht durch künstliche Reizung des Markes erregt wer- 1) Derartig verstümmelte Tiere sind nicht nur fähig Schmerz zu empfin- den, sondern vermögen auch sich willkürlich zu bewegen. Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarkes, 633 den können, und dass auch die motorische Erregbarkeit diesem Marke fehlt, obgleich es Bewegung vollkommen gut leitet“, war unter die- sen Umständen allerdings sehr naheliegend. Niemals gelingt es aber, das ganze unversehrte Rückenmark eines Warmblüters selbst nach sorgfältigster Entfernung der hintern Wurzelstümpfe erfolglos zu reizen, da nach Schiff’s Ansicht die einstrahlenden sensibeln Wur- zelfasern „dem Hinterstrang noch einen hohen Grad von Empfind- lichkeit verleihen, welche fortgeleitet wird und teils Schmerzempfin- dung, teils in verschiedenen Höhen des Markes die mannigfachsten Reflexe veranlasst.“ Außerdem schreibt Schiff abweichend von van Deen auch den in den Hintersträngen hirnwärts verlaufenden Nervenfasern Erregbarkeit zu. Doch soll Reizung derselben niemals Schmerz, sondern ausschließlich Tastgefühle oder „verwandte schwä- chere Empfindungen“ erzeugen, deren Vorhandensein hauptsächlich aus Veränderungen der Pupillenweite bei elektrischer oder mecha- nischer Reizung der in größerer Ausdehnung isolirten Hinterstränge erschlossen wird. Ohne hier auf das Detail der zahlreichen Arbeiten einzugehen, welche es sich zur Aufgabe machten, entscheidende Gründe für oder wider die van Deen-Schiff’sche Lehre beizubringen, will ich nur erwähnen, dass einerseits von Fick!) und später von Luchsinger?) Versuche mitgeteilt wurden, welche das Vorhandensein direkt reiz- barer motorischer Elemente in den vordern (ventralen) Abschnitten des Froschmarkes zu beweisen schienen, während andererseits aus Ludwig’s Laboratorium eine Reihe von Arbeiten hervorging, durch welche die Reizbarkeit zentripetal leitender, in den Seitensträngen verlaufender Fasern dargetan wurde. Es ist bekannt, dass die Rei- zung sensibler Nerven oft eine beträchtliche Steigerung des Blutdrucks bewirkt als Folge einer Vermehrung der Widerstände im arteriellen Stromgebiet durch reflektorische Verengerung zahlreicher Gefäße. Dittmar?) zeigte nun, dass sowol elektrische als auch schwache mechanische Reizung des der Hinterstränge in größerer Ausdehnung beraubten zentralen Stumpfes des Kaninchenrückenmarkes ebenfalls beträchtliche Blutdrucksteigerungen herbeizuführen vermag und schloss hieraus auf die direkte Reizbarkeit „aesthesodischer“ Rückenmarks- elemente, welche nach Miescher’s Versuchen hauptsächlich in den Seitensträngen gelegen sind. Schiff bestreitet allerdings die Beweiskraft dieser Versuche und wendet sich vor allem gegen die Annahme, dass die den erwähnten Reflex auslösenden zentripetalen Fasern der Seitenstränge als „sen- sible“ im eigentlichen Wortsinn zu bezeichnen wären; indess ist 4) Müller’s Archiv 1867. S, 198 u. Pflüger’s Arch. 1869. 2) Pfüger’s Archiv XXI. 3) Arbeiten aus Ludwig’s Labor. 1870. 634 Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarkes. dies grade im vorliegenden Falle ein nebensächlicher Umstand, wo es sich zunächst doch nur um Feststellung der direkten Reizbarkeit handelt. Inwieweit jedoch die spätern Einwände Schiff’s berechtigt sind, denen zufolge die Resultate der Dittmar’schen Versuche durch- wegs auf Stromschleifen beruhen sollen, welche die allein reizbaren Hinterstränge getroffen hätten, lässt sich vorläufig nicht entscheiden. Als um so sicherer festgestellt darf dagegen die direkte Reiz- barkeit motorischer Elemente des Rückenmarkes gelten. Die bereits erwähnten Versuche von Fick, welche ebenfalls im wesentlichen den ersten van Deen’schen nachgebildet waren, gestatten allerdings noch immer den Einwand, dass die bei elektrischer Reizung: der der Hinterstränge beraubten Ventralhälfte des Froschmarkes auftretenden Bewegungen der Hinterextremitäten durch Reflex oder direkte Reizung motorischer Wurzelfasern bedingt wurden, indem sich Stromschleifen bis zu dem unversehrten, untersten Teil des Markes ausgebreitet haben konnten. Dieser Einwand erscheint selbst dadurch nicht absolut aus- geschlossen, dass, wenn die ventrale Markhälfte dieht oberhalb der Lendenanschwellung durchschnitten und die Schnittflächen wieder möglichst gut aneinandergelegt wurden, die vorher beobachteten Reiz- erfolge ausblieben. Dagegen lässt sich der van Deen-Fick’sche Versuch zu einem völlig beweisenden unter der Voraussetzung ge- stalten, dass in den ventralen Teilen des Rückenmarkes motorische längsverlaufende Fasern vorhanden sind, deren physiologische Eigen- schaften in allen wesentlichen Punkten mit denen peripherer Nerven- fasern übereinstimmen. Da es nämlich zweifellos feststeht, dass die Erregbarkeit peripherer Nerven in nächster Nähe eines frisch ange- legten Querschnittes beträchtlich größer ist als in der Kontinuität, so ließ sich erwarten, dass, wenn sich motorische Rückenmarksfasern in dieser Beziehung ähnlich verhalten, die elektrische Reizung am Schnitt- ende der isolirten Ventralhälfte des Markes früher, d. i. bei geringerer Stromstärke wirksam wird, als tiefer unten, wo dagegen entsprechend der größern Nähe der erhaltenen Wurzeln des N. ischiadieus die Ge- fahr der direkten Erregung durch Stromschleifen rasch zunimmt. Ref. fand nun in der Tat, dass hinsichtlich der Erregbarkeit durch tetanisirende Induktionsströme die durchschnittenen Vorderstränge des Froschrückenmarkes sich abgesehen von quantitativen Unterschieden ganz ebenso verhalten wie jeder periphere motorische Nerv. Rückt man nämlich bei absteigender Richtung der Oeffnungsströme die mit der sekundären Spirale eines Induktionsapparates verbundenen Elek- troden, welche bei geringem Abstande zunächst so angelegt werden, dass die eine sich am Querschnitt selbst befindet, weiter und weiter von diesem letztern weg, so nimmt die anfangs vorhandene starke Reizwirkung schnell ab und verschwindet bald gänzlich. Der erste Erfolg der Reizung mit Strömen, welche bei direkter Einwirkung auf eine freiliegende Muskeloberfläche keine sichtbare Erregung bewirken Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarkes. 635 und auf der Zunge nieht gefühlt werden, besteht immer in einer mehr oder weniger starken tetanischen Unruhe sämtlicher Muskeln der beiden Hinterextremitäten, die sich oft zu einem förmlichen Tetanus steigert. Bei starker Reizung treten oft auch koordinirte Bewegungen auf. Hat man die vom Querschnitt der Vorderstränge aus eben wirk- same Stromstärke bestimmt, so kann man immer (bei absteigender Riehtung der zunächst allein wirksamen Oeffnungsströme) mit den Elektroden in der Regel bis in die nächste Nähe des Lendenmarkes herabrücken und so die Gefahr der direkten oder reflektorischen Reizung vorderer Wurzeln außerordentlich steigern, ohne dass an den Muskeln der Hinterextremitäten eine Spur von Erregungserscheinungen hervortritt. Doch ist dies bemerkenswerterweise nur dann der Fall, wenn die Elektroden der Ventralfläche der Vorderstränge ent- lang verschoben werden. Geschieht dies entlang der Innenfläche, d. i. der Schnittfläche der Ventralhälfte des Markes, in direkter Be- rührung mit der daselbst bloßliegenden grauen Substanz, so lässt sich niemals ein merklicher Unterschied der Erregbarkeit an dem Quer- schnitt näher gelegener im Vergleich zu tiefern Stellen konstatiren. Es muss dahingestellt bleiben, ob aus diesem Verhalten allein schon der Schluss gezogen werden darf, dass im letztern Falle die ‘graue Substanz direkt erregt wurde, während es sich im erstern wol sicher um Erregung längsverlaufender Nervenfasern (in den Vordersträngen?) handelt. Die angeführten Tatsachen gestatten nun wol auch bei Anwen- dung der nötigen Vorsicht das unterhalb der Medulla oblongata durch- schnittene, sonst jedoch unversehrte Rückenmark des Frosches zu reizen, ohne befürchten zu müssen, durch Reflexe getäuscht zu werden- Es genügt die die Induktionsströme zuführenden Elektroden längs der ventralen Fläche des Markes zu verschieben, nachdem zuvor die- jenige Rollenstellung bestimmt wurde, bei welcher die absteigend gerichteten Oeffnungsströme in nächster Nähe eines an beliebiger Stelle angelegten Querschnittes sich deutlich wirksam zeigen. Man findet dann die Reizung an jeder beliebigen andern Stelle in der Kon- tinuität des Markes und selbst dieht über der Lendenanschwellung absolut unwirksam. Darf man aufgrund der angeführten Tatsachen mit Sicherheit auf das Vorhandensein direkt erregbarer motorischer Elemente in der ventralen Hälfte des Froschmarkes schließen, so lässt sich doch andererseits nicht verkennen, dass sowol hinsichtlich der Erregungsbedingungen als auch der Art und Weise der Reaktion wesentliche Unterschiede bestehen, je nachdem ein Muskelapparat durch Reizung des zugehörigen motorischen Nerven oder des Rücken- markes in Erregung versetzt wird. Es ist hier insbesondere an die relative Unwirksamkeit mechanischer Reizung und elektrischer Ein- zelreize zu erinnern, sowie an die völlige Unwirksamkeit chemischer Reizmittel. Dies erscheint von vornherein nicht überraschend, wenn 6365 Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarkes. man berücksichtigt, dass die motorischen Fasern des Rückenmarkes nicht wie die peripheren motorischen Nerven unmittelbar mit den Muskeln verbunden, sondern zunächst durch Ganglienzellen unter- brochen werden, wie insbesondere neuere Untersuchungen Birge’s!) dargetan haben. Eine wesentliche Stütze erhält diese Anschauung durch die weitgehenden Analogien, welche nicht nur hinsichtlich der zeitlichen Verhältnisse und des Verlaufes direkt (d. h. durch Reizung motorischer Elemente des Rückenmarkes) und reflektorisch ausgelöster Muskelbewegungen, sondern auch hinsichtlich der Auslösungsbe- dingungen in beiden Fällen bestehen. Was zunächst die zeitlichen Verhältnisse betrifft, so zeigte bereits Helmholtz, dass die unter Vermittlung gangliöser Elemente erfol- sende Uebertragung des Erregungsvorganges von sensibeln auf mo- torische Fasern eine beträchtlich größere Zeit beansprucht, als der einfachen Leitung der Erregung durch eine gleich lange Nervenstrecke entsprechen würde. In neuerer Zeit hat nun Mendelssohn gefun- den, dass die Reaktionszeit der ventralen Hälfte des Froschmarkes (d. i. die Zeit, welehe vom Momente der Reizung derselben bis zum Eintritt der Zuekung des M. gastroenemius der einen Seite verstreicht) kürzer ist, als die Reaktionszeit der dorsalen Hälfte. Es erzeugt mit andern Worten die Reizung des ventralen Teils des Rückenmarkes eine Bewegung der Extremitäten schneller, als wenn derselbe Reiz auf die entsprechende Stelle des dorsalen Abschnittes einwirkt. Der Unterschied beträgt nach M. durchschnittlich 0,01—0,025 Sek. Es scheint dieses Verhalten darauf hinzudeuten, dass, wie es die Theorie erwarten lässt, die durch direkte Reizung der Vorderstränge erzeugte Muskelkontraktion früher eintritt als die reflektorisch von den Himter- strängen ausgelöste, wobei als Ursache der Verzögerung im leiztern Falle die größere Menge zwischengeschalteter grauer Substanz in betracht kommen dürfte. Von größter Bedeutung für die Beurteilung der zwischen den Er- folgen der Rückenmarksreizung und der direkten Erregung peripherer motorischer Nerven bestehender Verschiedenheiten ist der Umstand, dass ein durchgreifender Unterschied in den Lebensbedingungen der Nervenzellen und Nervenfasern besteht, indem die erstern außerordent- lich viel empfindlicher gegen Veränderungen ihres normalen Stoff- wechsels sowie gegen alle Schädlichkeiten sind, als die letztern. Dies kommt aber wesentlich in betracht, wenn es sich darum handelt, die Erregbarkeit verschiedener Abschnitte eines ans Nervenzellen und Fasern nebst den zugehörigen muskulösen Endorganen zusammenge- setzten motorischen Apparates lediglich nach dem an jenen zu be- obachtenden Reizerfolge vergleichend zu beurteilen. Es wird dann offenbar ganz von dem jeweiligen Zustande der Erregbarkeit, beziehungs- 1) Vergl. biolog. Centralbl. II. Bd. S. 686 ff. Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarkes. 637 weise des Leitungsvermögens der im Verlaufe der Fasern eingeschal- teten zelligen Elemente abhängen, ob eine diesseits derselben ausge- löste Erregung einen Reizerfolg bedingen kann oder nicht. In der Tat sehen wir nun die Reflexfunktion des Rückenmarkes unter Um- ständen leiden oder völlig vernichtet werden, wo weder die Erregbar- keit noch auch das Leistungsvermögen des motorischen und sensibeln Abschnittes eines Reflexbogens merklich beeinträchtigt erscheint. Luchsinger!) hat sich dieser ungleichen Resistenzfähigkeit zentraler Nervenzellen und Fasern bedient, um bei örtlicher Vernichtung der Reflexfunktion die direkte Erregbarkeitdes Rückenmarkes zu erweisen. Er schlägt vor Kaltblüter mit langgestrecktem Rückenmarke, Schlan- sen, Blindschleichen, Tritonen ete.) zu köpfen und sofort mit dem Vorderkörper in auf 40—45° erwärmtes Salzwasser zu tauchen, wäh- rend der übrige Teil des Körpers bei normaler Temperatur erhalten wird. Dureh die Wärme wird nun das Reflexvermögen des Cervikal- beziehungsweise Dorsalmarkes bald vernichtet und zwar zu einer Zeit, wo die Erregbarkeit und das Leitungsvermögen der markhaltigen Längsfasern voraussichtlich noch erhalten sein dürfte. Wenn nun, wie es wirklich der Fall ist, bei elektrischer Reizung des reflexun- fähigen Markteiles Bewegungen des Schwanzes auftreten, so können diese nach L.’s Ansicht nur durch eine direkte Erregung motorischer, längsverlaufender Rückenmarksfasern ausgelöst worden sein. Gegen die Beweiskraft dieser Versuche wendet jedoch Schiff ein, dass die Prüfung des Reflexvermögens innerhalb des erwärmten Körperabsehnit- tes durch Hautreize keine ganz sichere Garantie biete für die völlige Vernichtung der Reflexfunktion des Markes. Er macht auf die Mög- lichkeit „intramedullarer“ Reflexe aufmerksam, die sich nur deshalb innerhalb des erwärmten Abschnittes nicht äußern können, weil die Muskeln hier durch die vorgängige Erwärmung in den Zustand der Starre versetzt werden. Zur Stütze dieser Ansicht führt Schiff Ver- suche an Bombinatoren und Kröten an, wo nach Erwärmung des ganzen Rückenmarkes mit Ausschluss der peripheren Enden der Cauda equina bis zur völligen Erstarrung der Muskeln des Rumpfes die Reflexerregbarkeit der Hinterextremitäten erhalten war. Demungeachtet bleibt jedoch der Satz von der viel geringern Re- sistenzfähigkeit der grauen Substanz des Rückenmarkes im Vergleich zu der der weißen Fasermassen im vollen Umfange aufrecht. Es er- klärt sich daraus unter anderm die Tatsache, dass die motorischen Wirkungen der direkten Rückenmarksreizung an den Muskeln der Hinterextremitäten um so deutlicher hervortreten, je größer die Re- flexerregbarkeit der Präparate ist und mit dem Erlöschen dieser gänz- lich ausbleiben. Nach dem bereits erwähnten Befunde Birge’s müs- sen ja notwendig dieselben Elementarteile der grauen Substanz des 4) Pflüger’s Archiv XXI, 638 Biedermann, Ueber die Erregbarkeit des Rückenmarkes. Lendenmarkes (Ganglienzellen der Vorderhörner) die Uebertragung der Erregung im einen Falle von zentripetal, im andern von zentri- fugal leitenden Fasern auf dieselben vordern Wurzelfasern mitver- mitteln. Das Reflexzentrum der Hinterextremitäten kann demnach nicht nur von der Peripherie bis auf die Bahn der sensibeln Nerven in den Zustand der Erregung versetzt werden, sondern besitzt sozu- sagen 2 Pole, einen zentralen (die motorischen Bahnen des Rücken- markes) und einen peripheren (die sensibeln Fasern). Alle Schäd- lichkeiten, welche die Leistungsfähigkeit des Zentrums beeinträchtigen, beeinflussen in gleicher Weise die Erfolge der reflektorischen wie auch der direkten Erregung des Markes. Die eben angeführten Verhältnisse machen nun auch eine Reihe von Tatsachen verständlich, bei welchen es sich im wesentlichen um eigentümliche Nachwirkungen einer länger anhaltenden Erregung des in Rede stehenden „Zentrums“ handelt. Es ist seit lange bekannt, dass einzelne Induktionsströme erst bei relativ sehr großer Intensität Reflexzuekungen auszulösen vermö- gen, und das Gleiche gilt auch für die direkte Rückenmarksreizung. Dagegen zeigt sich in beiden Fällen eine rasche Folge von Oefinungs- oder Schließungsschlägen schon bei geringer Intensität der Einzelreize sehr wirksam (Summation der Erregung). Es ist nun bemerkenswert, dass nach Beendigung einer längere Zeit hindurch fortgesetzten te- tanisirenden Reizung des durchschnittenen Rückenmarkes (in der oben erörterten Weise) dieselben vorher absolut unwirksamen absteigenden Oeffnungsströme mächtige Zuckungen auslösen, welche Wirkung erst allmählich innerhalb eines Zeitraums von mehreren Sekunden abklingt. Diese Erscheinung steht offenbar in nächster Beziehung zu den von Exner als „Bahnung“ im Gegensatz zur „Hemmung“ bezeichneten Wechselwirkungen der Erregungen im Zentralnervensystem. Wenn, wie es wahrscheinlich ist, es sich hier im wesentlichen um Erregbar- keitsveränderungen der übertragenden Elemente der grauen Substanz des Lendenmarkes handelt, so waren analoge Erscheinungen der „Bahnung“ auch in dem Falle zu erwarten, wenn der modifizirende und der Prüfungsreiz nacheinander an den beiden verschiedenen Po- len des Reflexzentrums einwirken, so dass im einen Falle die direkte Erregbarkeit der motorischen Rückenmarksfasern infolge eines vor- hergehenden durch Reizung des zentralen Ischiadieusstumpfes ausge- lösten Reflextetanus scheinbar erhöht, andernfalls aber die Reflex- funktion des Lendenmarkes durch eine vorhergehende tetanisirende Reizung des Rückenmarkes begünstigt werden würde In der Tat zeigt sich nun, dass absteigend gerichtete, in nächster Nähe eines frischen Querschnittes an der Ventralfläche des Froschrückenmarkes einwirkende, an und für sich unwirksame einzelne Oeffnungsströme starke Reizwirkungen entfalten, wenn vorher durch Reizung des zen- tralen Ischiadieus ein länger anhaltender Reflextetanus erzeugt wurde, Albrecht, Das Basioceipital bei Anuren. 639 und ebenso gelingt es umgekehrt, vorher unwirksame Reflexreize durch längeres unmittelbar vorhergegangenes Tetanisiren des Rückenmarkes wirksam zu machen. Biedermann (Prag). P. Albrecht, Note sur le basioccipital des Batraciens anoures. Bulletin du mus6e royal d’histoire naturelle de Belgique. Tom. II. 1383. 8. 4 8. (195—198). Im Jahre 1878 zeigte Albrecht („Ueber einen processus odontoides des Atlas bei den urodelen Amphibien“ im Centralbl. für die medizin. Wissen- schaften S. 577), dass die Amphibien je nach dem Besitze oder Mangel eines Processus odontoides (Apophyse odontoide) des ersten Wirbels in Odontoi- diens (Urodela) und Anodontoidiens (Gymnophiona et Anura) geteilt werden können. — In der vorliegenden interessanten Mitteilung wird, anknüpfend an die Untersuchung eines Exemplars der Rana catesbiana Shaw., gezeigt, dass der Processus odontoides des Atlas der Urodelen, welcher ein mit dem ersten Wirbel verschmolzenes Basioceipitale vorstellt, hier (d.h. bei Rana catesbiana) als selbständiger (zwischen den 2 Exoceipitalia und dem Atlas) gelegener Knochen nachgewiesen werden kann. Das bisher noch nicht beobachtete Auf- treten eines isolirten knöchernen Basioceipitals bei Anuren ist als ein Fall von Atavismus zu verzeichnen. \ Mojsisovies (Graz). P. Albrecht, Note sur la presence d’un rudiment de proatlas sur un exemplaire de Hatteria punctata Gray. Bulletin du musee royal d’histoire naturelle de Belgique. Tom. II. 1883. 8. S. (185—192) nebst Tafel VII. Bereits im Jahre 1880 war es Albrecht gelungen!), beim Igel und Hecht- kaiman Rudimente eines vor dem Atlas gelegenen Wirbels („Proatlas“) nach- zuweisen. — Die Untersuchung einer Hatteria punctata Gray ergab ein ähn- liches Resultat; von den beiden Eparcualen des Proatlas, die nicht synosto- tisch verbunden sind, war hier nur das linke erhalten, das rechte geriet offen- bar während der Mazeration in Verlust; die Anlage des erhaltenen (linken) Eparcuale stimmte völlig mit jener des entsprechenden beim Hechtkeiman. Die Postzygapophyse und Neurapophyse erwiesen sich als gut entwickelt. — Die Verwandtschaft der Hatteria zu den „Crocodilina“ ist, zufolge dieser Ent- deckung, durch ein neuerliches osteologisches Merkmal bestätigt. - Mojsisovies (Graz). Lankester, Eröffnungsrede der biologischen Sektion der British Association. Die Eröffnungsrede der Sektion für Biologie der British As- sociation for the Advancement of Science bei der diesjährigen Ver- sammlung in Southport hielt Prof. E. Ray Lankester. Derselbe hatte zum Thema seines Vortrags die Lage biologischer Untersuchungen in England und die eventuelle Besserung derselben gewählt. Er führte aus, wie es bis jetzt in England mit der Einrichtung biologischer Laboratorien ziemlich schlecht bestellt sei, da es dafür am Nötigsten, am Geld, fehle, das doch sonst genug 1) Ueber den Proatlas, einen zwischen dem Oceipitale und dem Atlas der amnioten Wirbeltiere gelegenen Wirbel ete. Zool. Anz. 1880 Bd. II S. 450, 640 Ray-Lankester, Eröffnungsrede. im Lande sei und zu den mannigfachsten andern Zwecken in Hülle und Fülle hingegeben werde. Und doch sei die Biologie eine Wissenschaft, welche die lebhafteste Förderung verdiene, weil sie unsere Kenntniss der gefährlich- sten Krankheiten wie der Mittel gegen dieselben, dann aber auch die Philo- sophie durch die Evolutionstheorie wesentlich erweitert habe. Redner weist dann darauf hin, wie biologische Forschungen eigentlich nur von Leuten ge- macht worden seien, die wie Harvey, Darwin und Lyell hinreichendes Vermögen besessen hätten, oder aber von solchen, welche, durch staatliche Unterstützung vor der Sorge um das tägliche Brod geschützt, sich diesen Stu- dien hingeben konnten. Der letztern Klasse gehören von englischen Forschern gar wenige an, und deshalb muss England ruhig zusehen, wie in Deutschland, Frankreich und Russland die Biologie gefördert wird, während es selbst nur wenig für dieselbe tut. Ganz besondere Anerkennung spendet Lankester der „well-trained army“ der deutschen Forscher auf diesem Gebiete, unter de- ven Augen in deutschen Laboratorien englische Biologen studiren, deren Ar- beiten in England als Norm gelten, ja die sogar englischen Forschern oft hilfreich mit Rat und Tat zur Seite stehen. Lankester sieht den Grund dieser so verschiedenen Lage der Biologie in England und Deutschland in der ganz von einander abweichenden Hilfe, welche der Staat bei der Einrichtung der Universitäten wie besonderer biologischer Institute leistet. Da gibt es in Deutschen Reich bei einer Gesamtbevölkerung von 45 Mill. Seelen 21 Univer- sitäten, von denen jede ihre Institute für Physiologie, Zoologie, Anatomie, Pathologie und Botanik besitzt, deren Vorsteher mit ihren Assistenten sowie den fortgeschrittenern Studirenden die Wissenschaft der Biologie durch eigne Untersuchungen zu fördern suchen ; außerdem finden sich noch besondere bio- logische Institute, wie das Kaiserliche Reichsgesundheitsamt in Berlin, die großen Museen in Berlin, Bremen und andern großen Städten; dazu treten dann noch polytechnische, technische und landwirtschaftliche Schulen, in denen ebenfalls einzelne Zweige der Biologie getrieben werden. Frankreich besitzt im College de France ein weitberühmtes biologisches Institut, an dem von bedeutenden Männern dieser Wissenschaft jetzt Prof. Brown-Sequard, Prof. Marey, Prof. Balbiani und Prof. Ranvier zu nennen sind, und welchem früher Claude Bernard als Zierde angehörte. England mit seinen 25 Mill. dagegen hat nur 4 eigentliche Universitäten nach deutschem Begriff, daneben eine An- zahl kleinerer Institute, welche einige Mittel zur Anstellung wissenschaftlicher Untersuchungen besitzen; jedoch ist die Zahl derjenigen, an welchen biologi- sche Studien getrieben werden, äußerst gering; wissenschaftliche Lehrstühle für Biologie finden sich außer an den Universitäten nur an der Normal School of Seience in South Kensington und am London University College. Ihnen reihen sich einige Stellen im britischen naturhistorischen Museum und in den königlichen Gärten in Kew an; im ganzen hat England somit nur etwa 40 staat- liche besoldete Stellen für Biologen, Deutschland dagegen deren über 300. Um dies arge Missverhältniss seines Vaterlandes zu andern Staaten zu heben, schlägt Lankester die Gründung von noch mindestens 40 biologischen La- boratorien vor, deren Baukosten sich auf etwa 160 000 Pfund Sterling belaufen würden, während die Unterhaltung sowie die Besoldung der Professoren und Assistenten jährlich 60 000 Pfund Sterl. erfordern würden, was einem Kapital von 2 Mill. Pfund Sterl. entspricht. Ganz besonders betonte Redner noch die 27 Notwendigkeit der Einrichtung einer biologischen Station an einem Punkte der englischen Küste. H. Beh Halle) . Behrens (Halle). Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. biologisches Gentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. ee 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. II. Band. 1. Januar 1884. Nr. 21. Inhalt: Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung und erste Teilung der tierischen Eizelle. Erster Teil. — Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. Erster Teil. — Sarasin, Ueber die Sinnesorgane und die Fußdrüse einiger Gastropoden. — Chatin, Geruchsstäbehen der Fühler von Vanessa Jo. — Behrens, Biologische Station in Edinburg. Ueber Bauverhältnisse, Befruchtung und erste Teilung der tierischen Eizelle. Von W. Flemming. Zitirte Literatur, auf deren Nummern im Text verwiesen ist. 1) J. Arnold, Beobachtungen über Kernteilungsfiguren in den Zellen der Geschwülste. Virch. Arch. 1879. Bd. 78, 8.279. — 2) L. Auerbach, Organo- logische Studien. III. Abschn., Breslau 1874. — 3) F. M. Balfour, On the structure and development of the vertebrate ovary. Quart. journ. of mier. Science, 1878. — 4) E. van Beneden, Contribution A l’histoire de la vesicule germinative et du premier noyau embryonnaire. Bull. de l’acad. Roy. de Belg., 1876, Janvier. — 4a) Derselbe, Contributions & la eonnaissance de l’ovaire des mammiferes. Archives de Biologie Vol. I, 1880. — 4b) Derselbe, Re- cherches sur l!’embryog&nie des mammiferes ete., Ebenda 1880.— 5) A. Brandt, Commentare zur Keimbläschentheorie des Eies. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 17, 1880, S. 43. (Andere Arbeiten zit. in 8b, 8. 411). — 6) 0. Bütschli, Stu- dien über die erste Entwicklung der Eizelle, die Zellteilung und die Conjuga- tion der Infusorien. Frankfurt 1876. — 7) Th. Eimer, Untersuchungen über die Eier der Reptilien. Arch. f, mikr. Anat. Bd. 8, 1872, 8. 216 und 397. — 8) W. Flemming, Studien in der Entwicklungsgeschichte der Najaden. Sitz. Ber. d Wien. Akad., m.n. Kl. 3. Abt. 1875, Febr. — 8a) Derselbe, Beiträge zur Kenntniss der Zelle ete., Th. IH, Arch. f. mikr. Anat. 1881, S. 1.— In Th. II des Gl., ebenda 1880: Entwicklung der Spermatozoen. — 8b) Derselbe, Zellsubstanz, Kern und Zellteilung. Leipz. 1882. — 9) H. Fol, Sur le com- mencement d’henog£nie chez divers animaux. 1877, Geneve. Bibl. Universelle. — 9a) Derselbe, Recherches sur la f&condation et le commencement d’henog£nie. Geneve 1879. — 10) L. O0. Henneguy, Division des cellules embryonnaires chez les Vertebres, Comptes rend. 1882, 6. mars p. 142 u. ebenda, p. 538. — 41 642 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. 10a) Derselbe, Note sur la division cellulaire ou cytodierese. Association frangaise pour l’avancement des sciences, — Congres de la Rochelle. 1882. 30. aoüt. — 11) V. Hensen, Physiologie der Zeugung, in Hermann’s Handb. d. Physiol., 1881. — 12) 0. Hertwig, Beiträge zur Kenntniss der Bildung ete. des tierischen Eies. Morphol. Jahrb. Bd. 1, Fortsetzung Bd. I, II. — 13) H. v. Ihering, Befruchtung und Furchung des tierischen Eies und Zellteilung. Pflug, Vorträge für Tierärzte. Ser. I, H. 4, 1878. — 14) E. Klein, Atlas of Histology, 1880. — 15) F. Leydig, Untersuchungen über Anatomie und Histo- logie der Tiere. Bonn 1883. — 16) E. L. Mark, Maturation, Fecundation and segmentation of Limax campestris. Bull. Mus. comp. Zool. Harvard College, Cambridge, Mass. 1881. — 17) M. Nussbaum, Sitzungsber. der Niederrhein. Gesellschaft f. Natur- und Heilkunde in Bonn, 5. August 1883. — 18) W. Pfitz- ner, Ueber den feinern Bau der fadenförmigen Differenzirungen des Zellkerns. Arch. f. mikr. Anat. 1851. — 18a) Derselbe, Beiträge zur Lehre vom Bau des Zellkerns und seiner Teilungserscheinungen. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 22, 1883, — 19) Pflüger, Die Eierstöcke der Säugetiere und des Menschen. 1863. — 19a) N. Pringsheim, Neue Beobachtungen über den Befruchtungs- akt der Gattungen Achlya und Saprolegnia. Sitz. Berichte der Berliner Aka- demie der Wiss. 1882, 8. Juni. — 20) A. Rauber, Neue Grundlegungen zur Kenntniss der Zelle. Morphol. Jahrbuch Bd. 8, 1852. — 21) E. A. Schäfer, On the Structure of the immature ovum etc. Proceedings of the roy. Soc. Lond. 1880, Nr. 202. — 22) A. Schneider, Das Ei und seine Befruchtung. Preslau 1883. — 23) D. v. Sehlen, Beitrag zur Frage nach der Mikropyle des Säugetiereies. Arch. f. Anat. und Entw. 1882, S. 33. — 24) E. Selenka, Zoologische Studien. 1. Befruchtung der Eier von Toxopneustes variegatus. 1878. — 24a) Derselbe, Ueber eine eigentümliche Art der Kernmetamorphose. Biolog. Centralblatt, 1881. — 25) E. Strasburger, Ueber Befruchtung und Zellteilung. Jenaische Zeitschr. f. Nat. Bd. 11, 1877. — 26) W. Waldeyer, Archiblast und Parablast. Arch. f mikr. Anat. 1883 — 27) Ch.O0. Whitman, The embryology of Clepsine, Quart. journ. mier. science 1878, July, n. s. IN V.18) 0,7245: Die neuern Kenntnisse über die im Titel genannten Dinge sind vor 5 Jahren von H. v. Ihering (13) in einer besondern Abhandlung zusammengestellt, und erst vor 2 Jahren von Hensen in seiner Phy- siologie der Zeugung (11) ausführlich bearbeitet, gleichzeitig von E. L. Mark (16) in einer umfassenden Monograpbie behandelt worden; es ist deshalb noch nicht an der Zeit, schon aufs neue eine größere Spezialrevue darüber zu halten. Aber während der letzten Jahre ist durch viele Arbeiten schon wieder manches an Beobachtungen und Anschauungen beigebracht, was allgemeines und zum Teil einschnei- dendes Interesse für die betreffenden Fragen hat. Indem ich einiges davon hier, freilich durchaus nicht in extenso bespreche, babe ich nicht den Plan, eine Uebersicht oder gar eine vergleichende Betrach- tung sämtlicher Literatur?) zu geben, die seit 3 Jahren mit dem Tierei in Verbindung gekommen ist: wozu der hier verfügbare Raum bei 1) Das voraufgeführte Verzeichniss begreift daher diese Literatur nur teil- weise, daneben einen Teil der ältern, und will nur das Zitiren erleichtern. Flemming. Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. 643 weitem nicht ausreichen würde. Eine solche Betrachtung würde außer- dem, meines Erachtens,-am besten noch die Resultate mehrjähriger Arbeit abzuwarten haben; denn die im Folgenden berührten Befunde sind größtenteils mehr danach angetan Fragen anzuregen als abzu- schließen. Die Auffassung des Tiereies als Zelle, des „Keimbläschens“ als Kern, der „Keimflecke“ als Nucleolen erfreut sich heute einer so gut wie allgemeinen Anerkennung. Denn zahlreiche Arbeiten ergaben'), dass die Keimbläschen in den wesentlichsten chemischen und mor- phologischen Eigenschaften mit Zellkernen, die Keimflecke ebenso mit Nuceleolen übereinstimmen, und dass — worüber unten noch zu reden ist — die Teilungserscheinungen des Eies mit denen verschiedenar- tiger Gewebszellen bis ins einzelne gleichgeartet sind. Obschon es dabei unanfechtbar und selbstverständlich bleibt, dass das Ei eine Zelle ganz besonderer Art ist und dass man sein ovariales Heran- reifen und Wachsen sehr wol mit Hensen als „Metamorphose einer Zelle“ bezeichnen kann: so sind doch bei dieser Metamorphose alle die wesentlichen Charaktere bei Bestand geblieben, die wir bis jetzt überhaupt für das morphologische und biologische Wesen einer Zelle aufzustellen wissen. Es sollte auch mit dem letzten Absatze nur motivirt werden, dass ich im Folgenden einfach von dem Zellkörper oder der Zellsubstanz des Eies, von seinem Kern, und von den Nucleolen und Gerüsten die- ses Kerns rede, die alten Spezialnamen Dotter, Keimbläschen und Keimfleck aber möglichst vermeide?). In bezug auf das unbefruchtete und das noch heranreifende Ei ist eine der wesentlichsten Fragen, vor die wir jetzt gestellt sind, die nach dem Baue seiner Zellsubstanz. Es ist damit nicht ein chemischer, sondern ein morphologischer Bau gemeint, eine Differen- zirung des Zellkörpers und zwar speziell eine Zusammensetzung aus fadenförmigen oder strangförmigen Strukturen einerseits und homo- gener Zwischenmasse andererseits. Es lässt sich heute sagen, dass solche Differenzirung bei Eiern ebensowol vorkommt, wie dies in der Substanz vieler andern Zellarten sichergestellt?) und für alle möglich ist; dass der Eikörper heute nicht mehr bloß als ein in sich gleich- artiges und von Dotterkörnern durchsetztes Protoplasma hingestellt werden kann. Aber die Arbeit über diese Strukturen steht noch in 1) Einschlägige Literatur und Beobachtungen sind aufgeführt bei v. Ihe- ring und Mark (13, 16) und im II. Abschnitt und Lit. Verz. von Nr. 8b. 2) Der Ausdruck Dotter wird am besten lediglich auf die eingelagerten Körner von Nährmaterial zu beschränken sein. 3) Literatur s. in 8b, Abschnitt 1. A? 644 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis, den ersten Anfängen, und ihre verschiedenen Ergebnisse erscheinen vor der Hand schwer mit einander vergleichbar und vereinbar. Th. Eimer beschrieb in seinen Arbeiten über das Reptilienei (7, 1872) eigentümliche und komplizirte Strukturen des Eikörpers; bei mittelreifen Follikeln fand er, zwischen den anwachsenden Dotter- körnern eingeschaltet, ein feines Fasernetz, aus dessen Maschen sich an Härtungsschnitten jene Körner auspinseln ließen!); nach dem Um- fang zu fließen diese Stränge zu einer kompakten Rindenschicht zu- sammen, welche der Eihaut anliegt und von radiären Streifen durch- setzt ist; letztere werden von Eimer als Ausläufer der Follikelepi- thelzellen aufgefasst, die sich durch die Eihaut fortsetzen, und de- nen Eimer, im zweiten Teil derselben Arbeiten, die Funktion zu- schreibt, eine Zeit lang als Wege für das Ernäbrungsmaterial des Eies zu dienen. — Da diese Angaben mesoblastische Eier betreffen, muss es zwar für jetzt schwierig scheinen, sie mit den alsbald er- wähnten von holoblastischen in nähere Beziehung zu setzen; denn es könnten die bei jenen vorkommenden Strukturen Dinge sein, die nur dort, als Erscheinungen, Bedingungen oder Folgen der massenhaften Dotterbildung, vorkämen. Aber offenbar verdienen es Eimer’s Be- funde an sich sehr, durch Verfolgung mit verschiedenen Methoden den folgenden näher verglichen zu werden; manches in ihnen, so die Radiärstreifung der Peripherie und die netzförmigen Strukturen im Innern, lässt auf Uebereinstimmungen mit dem Bau anderer Eier schließen, und wir können ja überhaupt eine prinzipielle Grenze zwi- schen mesoblastischen und holoblastischen Eiern heute nieht mehr festhalten ?). Balfour beschrieb kurz eine netz- oder schwammgerüstförmige Struktur im Eikörper von Selachiern (3, S. 409), bei mittelreifen und reifen Eiern. Auch das, was von holoblastischen Eiern über Differenzirungen der Zellsubstanz bekannt ist, lässt sich noch keineswegs unter einen einheitlichen Gesichtspunkt bringen. Einerseits handelt es sich bei diesem Befunde, wenn ich mich so ausdrücken darf, um eine gröbere Topographie im Eikörper. Wie Pflüger fand (19, 8.78), ist im mittelreifen Eierstocksei der Katze eine helle körnerarme Zentralmasse und eine an Dotterkörnern reiche Rindenschicht. — E. van Beneden (4a, p. 45) beschrieb im Ei von Fledermäusen (Vespertilio Rhinolophus) eine Zusammensetzung aus einer zentralen Masse (masse medullaire) neben dem Kern?), die keine 1) Eimer’s Fig. 9 und 10 a. a. 0. 2) Vergl. besonders diie Darstellung Waldeyer’s (26, S. 9—14) von dem Wesen des mesoblastischen Eies. 3) Der Kern ist, wie bekannt, schon am mittelreifen Eierstocksei bei Säugetieren exzentrisch gelagert. Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. 645 gröbern Dotterkörner führt; einer eouche intermediaire, die reich an solchen ist, und an Reagentienpräparaten eine retikulirte Struktur zeigt; und einer Rindenschicht an der Zona (eouche cortieale), wieder ohne gröbere Körner. — Beim Eierstocksei des Kaninchens fand ich (8b, S. 29) dagegen dicht unter der Zona eine körnerreiche Schicht, was Pflüger's Befund entspricht; im Innern und Zentrum des Eies hellere Partie, die aber von körnertragenden, unregelmäßig disponir- ten Fadenwerken durchsetzt wird, und dicht am Umfang des Kerns wieder eine dichter körnerhaltige Masse, die ihn entweder ganz um- schließt, oder eine Unterbrechung nach dem Zentrum des Eies zu zeigt. — Eine Verteilung von heller Innenmasse und körnerhaltiger Außenmasse habe ich früher im Ei von 4nodonta beschrieben (8). Diese Befunde bei Eiern verschiedener Tiere decken sich also nicht. Entweder sind die Bauverhältnisse der Eier wirklich dauernd ungleich; oder, was noch zu prüfen wäre, es könnte sich auch um Verteilungsverhältnisse handeln, die während der Eireifung langsamen, vielleicht periodischen Veränderungen unterliegen. Es bleibt hier noch daran zu erinnern, dass bei vielen Evertebraten- eiern, die genau untersucht und gut durchbliekbar sind, von einer entsprechenden Verteilung der Substanz sich bisher keine Spur er- geben hat. Etwas anderes als diese grobe Substanzanordnung sind die Dinge im Ei, die man nach Analogie mit andern Zellenarten wirkliche Zellstrukturen nennen kann. Die erste mir bekannt gewordene Beobachtung, die hieher gehört, rührt von Leydig!) her (15); er beschreibt radiäre Streifensysteme in jungen Eierstockseiern des Frosches, die sich nicht immer auf die Rinde der Zellsubstanz beschränkten, sondern sich auch durch die ganze Zelle hindurch erstrecken konnten. An Eierstockseiern von Säugetieren sind andersartige Strukturen bekannt geworden; von van Beneden (s. oben), Schäfer (21) und Klein (14) unter dem Bilde von Netzwerken notirt, von mir am mit- telreifen und fast reifen Kaninchenei näher studirt (8b, S. 31); ich habe sie dort etwas anders gefunden als die genannten Forscher (Fig. 15, 17 Taf. I in 8b). Es sind nicht eigentlich Netzwerke, son- dern Fadenwerke, mit Fäden ziemlich gleicher Dieke und von sehr ungleiehmäßiger, vorab längerer Disposition, denen vergleichbar, die ich a. a. O. in Knorpelzellen, Spinalganglienzellen u. a. beschrieb. Da sich meine Befunde auf das frisch überlebende Ei beziehen, das noch von seinem Follikelepithel umgeben liegt, und bei Reagentien- 4) Hier notirt nach Leydig, 15, 8. 46. In dem dortigen Zitat: Archiv f. Naturgesch. 1876, S. 14, Anm. 3, wird ein Druckfehler vorliegen, da sich dort nichts Bezügliches findet. 646 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. wirkungen sich das Gleiche fixirt zeigt, so kann es sich hier nicht um falsche Artefakte handeln. — Rauber (20, Taf. 1) bildete kürzlich mehrere Durchschnitte ge- härteter Follikeleier von Vertebraten ab, als Belege für eine radiäre Struktur des Eikörpers. Fig. 4 u. 8 (Triton, Forelle) zeigen in die- sem eine sehr feine gradlinige Radiärstreifung, in Fig. 2, 3 und 5 (Feldmaus, Froschlarve, Taube) sieht man gröbere, verästelte körnige Stränge, vom Kern ausstrahlend und von einigermaßen radiärer An- ordnung. Ich selbst habe, wie oben gesagt, von einer derartig ra- diären Anordnung beim Kaninchenei (und Amphibienei, s. u.) nichts gefunden, ebenso geben Schäfer und van Beneden (s. o.) nichts über eine solche bei Besprechung ihrer Netzwerke an; ebenso andere Untersucher von Ovarieneiern. Dieser Widerspruch wird also weiter aufzuklären sein. Doch bezweifle ich schon im voraus nicht, dass Rauber den Eindruck, den er von den Objekten erhielt, treu wieder- gegeben hat; um so weniger, als ja auch Leydig (s. o.) Radiär- streifung in Froscheiern erwähnte. Ich will aber auch meinerseits versichern, dass ich sehr viele Kanincheneier untersuchte, ohne irgend auf radiären Bau zu treffen, obwol ich grade darauf achtete; und be- merken, dass die groben Protoplasmastränge von halbwegs strahliger Ordnung, die Rauber in Fig. 2, 3, 5 darstellt, keineswegs identisch sind mit den viel feinern, mit Körnern besetzten, geknickten Fäden, die ich in Fig. 15 (8b), mit Seibert !/,,, bei wenig wechselnder Ein- stellung, möglichst genau nach der natürlichen Lage im frischen Ei kopirt habe. Diese Fäden würden bei den schwächern Vergrößerungen Rauber’s (#30/),) überhaupt nicht zu kontroliren sein. An Eierstockseiern verschiedener Reife von Amphibien (KRana, Siredon, Salamandra) sind mir selbst Zeichen von radiärer Struktur bis jetzt nicht vorgekommen. An Reagentienschnitten spricht sich dagegen oft eine fädignetzige, halbwegs konzentrisch angeordnete Struktur aus!), von der sich aber noch nicht sicher sagen lässt, ob und wie weit sie dem lebendigen Zustand entspricht. Dagegen an jungen Eierstockseiern von Toxopneustes fand ich eine Strichelung, die sich auf einen Fädenbau deuten lässt, und die hier in der Peripherie der Eizelle — nicht im Zentrum?) in der Tat eine unverkennbar radiäre Anordnung hat (Sb, S. 39, Fig. 18). — Im befruchtungsreifen Ei desselben Seeigels (nach der Richtungs- körperbildung) ist ein radiärer Bau namentlich an der Peripherie sehr deutlich ausgesprochen (8a, S. 11); das Gleiche war bereits von van Beneden (4, 1876, p. 23) am Ei von Asteracanthion gefunden, I) Wie sie in 8b, Fig. G S. 134, jedoch nur skizzenhaft angedeutet ist. 2) In der betr. Fig. 18 a. a. O hat dies die Lithographie nicht so, wie es gezeichnet war, wiedergegeben, sie zeigt auch im Innern fälschlich eine deut- lich radiäre Ordnung. Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. 647 und zwar hier an Eiern, die vor der Richtungskörperbildung stehen. Die Radiärstreifung reicht hier, wie der Verf. beschreibt, auf etwa !/, des Eidurchmessers einwärts. Nahezu ebenso fand ich es bei Toxopneustes. Dies die Angaben über Zellstrukturen in Eiern, soweit sie mir zur Zeit bekannt sind; sie bilden, wie man sieht, eine ziemlich bunte Kollektion, und es ist die nächste Aufgabe der Arbeit auf diesem Ge- biet, sie untereinander zu vermitteln. Die Fragestellung dafür wird im wesentlichen die folgende sein: 1) sind gröbere Substanzverteilun- gen im Ei, wie die weiter oben erwähnten (Rindenschicht, Innenschicht, Intermediärschicht), typische Verhältnisse, haben sie allgemeinere Verbreitung und entsprechen sie einem dauernden Bau, oder nur wechselnden physiologischen Zuständen ? 2) Kommt ein feinerer Bau der Zellsubstanz aus Fäden und Zwischenmasse (Protoplasma und Paraplasma nach Kupffer, Mitom und Paramitom nach meinem Vorschlag), wie er bei vielen Zellenarten und auch beim Säugetierei u. a. gefunden ist, dem Ei durchweg zu? 3) Besitzt die Zellsubstanz des Eies hierbei einen radiären Bau als typische Eigenschaft? Hinsichtlich der letzten Frage möchte ich noch einiges zur Er- läuterung sagen. Rauber (20) hält eine radiale, oder radialgerüst- förmige Anordnung für ein allgemeines Bauverhältniss nicht nur des Eies, sondern des Zellenleibes überhaupt. Ich habe eben vor der Veröffentlichung dieser seiner Arbeit!), die Strukturen vieler verschie- dener Zellenarten untersucht, welche — mit Ausnahme weniger — grade nichts von einer Radialanordnung zeigen. Leydig (15) hat kürzlich in einem reichhaltigen Werke den gleichen Gegenstand be- handelt; er steht zwar in der Beurteilung der Zellstrukturen nicht ganz auf dem Standpunkt, auf den ich mich nach meinen Befunden stel- len musste), indem er, übereinstimmend mit Heitzmann, einschwam- miges Gefüge der Zellsubstanz in den Vordergrund setzt, vieles aber in seinen Beobachtungen deckt sich, wie Bilder und Beschreibung zeigen, offenbar mit den von mir und andern gesehenen Fadenstruk- turen, und ihre Anordnung wurde von ihm zwar an manchen Zellen- arten3), aber durchaus nicht an allen radial gefunden; er erhebt eine solche Struktur deshalb keineswegs zur Regel und lässt Spielraum für sehr verschieden geformte Strukturen im Zellenleib. Ein gleiches 1) Sie erschien kurz vor der meinigen (8b), der betreffende Teil der letz- teın war aber ein halbes Jahr früher abgeschlossen und gedruckt; dies der Grund, weswegen darin Bauber’s Ansicht nicht mehr näher berücksichtigt werden konnte. 2)-8b,.3..62 ft. 3) S. Leydig’s Fig. 55, 58, 62, 70 und einige andere. 648 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d, tierischen Eis. muss ich tun, und an dem früher geäußerten Urteil festhalten), dass, wenn man eine radiale Zellstruktur als Regel hinstellen wollte, die Ausnahmen weit zahlreicher als die Regel sein würden. Für die Eizelle läugne ich die Möglichkeit nicht, dass eine radiale Anordnung in ihr irgendwie allgemein typisch sein kann. Dann würde sich aber auch ergeben, dass sie es nicht in jedem Zustand des Eies sein kann, da sie, wie oben gezeigt, in vielen Fällen nicht im min- desten ausgesprochen ist; es würde sich mit andern Worten ergeben, dass diese Anordnung im ÖOvarialei einem physiologischen Wechsel unterworfen ist, bald sich ausprägt, bald schwindet. Bei der Verfolgung dieser Frage aber wird man, wie mir scheint, eine Erscheinung nicht mit als Argument heranziehen können, wel- che Rauber grade in dieser Weise zu verwerten gesucht hat: näm- lich die Radiensysteme oder Asteren, die bei der Teilung und Be- fruchtung im Ei auftreten. Diese Strahlungen habe ich früher wol selbst „Strukturen“ genannt?), aber nur im Gegensatz zu einer Meinung (Auerbach), welche darin bloß Strömehen austretenden Kernsaftes sah, und mit dem ausdrücklichen Zusatz: im betreffenden Zustand gegebene Strukturen. Sie sind nur ausgesprochen bei der Zell- teilung als Polstrahlungen, und bei der Befruchtung als Strahlungen am Spermakern und Eikern. Wenn man behaupten wollte, dass sie zwischendurch in gleichsam verkapptem Zustand fortbeständen, auch wo man sie nicht sehen kann, oder dass, um es anders auszudrücken, eine Disposition zu solcher Anordnung auch außerhalb jener Zustände existire, so wäre das bis jetzt hypothetisch. Die Annahme ist ebenso zulässig und sie scheint mir, wegen der Zentrirung der Radiensysteme zu den Teilpolen und den Pronucelei, zunächst näherliegend, dass diese deutlichen Strahlungen vielmehr lediglich bedingt sind durch die Kräfte, welehe in den betreffenden Zuständen in der Zelle wirken, und mit diesen kommen und schwinden. Ob hierbei das Primäre die Kräfte sind, die von den Polen, bezw. dem Sperma- und Eikern aus wirken und das Fadenwerk der Zelle zu einer radiären Anordnung richten; oder ob andererseits die ordnenden Kräfte dabei durch den ganzen Bereich der Zellsubstanz hindurch und aus ihr heraus wirken, und so bei der Teilung erst die Anlage der Pole bestimmen, das wis- sen wir noch nicht zu- sagen. Jedenfalls aber lässt sich aus dem Auftreten radialer Struktur in diesen speziellen Zuständen noch nicht schließen, dass sie auch außer ihnen existirt oder veranlagt ist. Nach dem Bilde, das dieMembran (Zona) des Säugetiereies nach Osmiumbehandlung unter guten Linsen gewährt (Sb, 8. 35), habe ich den Gedanken ausgesprochen, dass die bekannte Streifung der Zona nicht sowol Porenkanälen mit freiem Lumen entspricht, wie es meist 1) 8b, S. 69. 2)raib, Sr 41a. Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. 549 angenommen wird, sondern Intercellularbrücken, die zwischen Ei und Follikelepithel eine allerdings kompakte Membran durchsetzen. Be- weisen lässt sich dies noch nicht; wenn es sich bestätigt, würde es naheliegende Beziehung zu den Befunden Eimer’s (s. 0.) am Rep- tilienei bieten. — Es ist noch zu bemerken, dass die in Rede stehen- den Stränge in der Zona nicht das Gleiche sind mit dem Pflüger’ schen „Spundzellen“ und den entsprechenden Beobachtungen dicker, durch die Membran gehender Zellenfortsätze, welche kürzlich D. v. Sehlen (23) mitgeteilt hat; hierbei handelt es sich um einzelne besondere Vorkommnisse, bei dem aber, was ich meine, um die be- kannte, dichte und gleichmäßige Radiärstreifung der Eimembran. — Natürlich wird man, je nach Belieben, auch dann von Porenkanälen sprechen können, wenn dieselben von Zeilbrücken erfüllt sind. Die Richtungskörperbildung!) wird zwar bei den Eiern vieler Tiere erst nach der Befruchtung perfekt, und wie Schneider (22, S. 76) hervorhebt, scheint die Ablösung der Körper vom Ei immer erst nach derselben zu geschehen. Da aber ihre Bildung bei manchen Tieren (so den Seeigeln) ganz sicher im Eierstock lange vor der Befruchtung erfolgt, so muss der Prozess von dieser unab- hängig genannt werden. Die wirkliehe biologische Bedeutung der Richtungskörperbildung muss man noch heute problematisch nennen. Nach ihrem Wesen, so weit es sich morphologisch ausspricht, lässt sie sich am natürlichsten definiren, wie es schon OÖ. Hertwig, Fol und andere aufgefasst haben, als eine vorläufige, unvollkommene und unsymme- trische Teilung der Eizelle, die sich, jedenfalls wol bei den meisten Tiereiern, zweifach oder gar mehrfach wiederholt. Als Zell- teilung kann man sie deuten, weil die Kernteilung dabei unter Bil- dung einer Fadenfigur („Richtungsspindel“ der Autoren) verläuft, wel- che in den wesentlichen Charakteren mit den Kernteilungsfiguren an- derer Zellenarten übereinstimmt. Auch erfolgt die Scheidung des Zellkörpers in zwei Teile — den ausgetriebenen Riehtungskörper und die fernere Eizelle — allem Anschein nach in derselben Phase der chromatischen Kernfigur, in der bei andern Teilungen die Abschnürung in zwei Zellen geschieht. Das Eigenartige ist hier nur die ungleiche Größe der Schwesterzellen, während die Schwesterkerne, die aus der Richtungsspindel hervorgehen, an Masse gleich oder doch nahezu so erscheinen. Jene Ungleichheit ist in solchem Grade noch von keinem andern Fall von Zellteilung bekannt, obwol sie in geringern, Ja bei der inäqualen Eifurchung verbreitet vorkommt. — Die ausge- I) Ihre wesentliche Literatur ist in 8b, 8. 294 zitirt; eine nähere Be- sprechung findet man bei Mark (16), 8. 547 (Polar globules). 6550 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. triebenen Richtungskörper!) werden bekanntlich später abgestoßen, der im Ei restirende Schwesterkern rückt alsbald wieder ins Innere, wo er, wie es scheint, nicht im Mittelpunkt, sondern etwas exzentrisch liegen bleibt. Noch vor kurzer Zeit lagen die Kenntnisse so, dass man die Ver- änderungen des Eizellenkernes bei der Richtungskörperbildung als ein zeitweiliges Verschwinden dieses Kerns auffassen konnte. Wenn dies nun auch, nach den Arbeiten Bütschli’s, Fols und vieler an- derer, für den Zeitpunkt der eigentlichen Richtungskörperbildung heut nicht mehr gelten kann, — denn in diesem besteht ja in der Fadenfigur eine deutliche morphologische Lokalisation der Kernsub- stanz — so lässt sich doch nicht in Abrede stellen, dass vorher eine Veränderung des Kerns eingetreten sein könnte, die den Namen Er- weichung, Auflösung oder Verteilung verdient. Dies entspricht einer Ansicht, die in neuester Zeit von Schnei- der (22) aufgestellt wurde. Nach ihm geschieht vor der Richtungs- körperbildung eine amöboide Bewegung des Kerns und eine rhizo- podenartige Ausstrahlung seiner Substanz, in specie des Kernsaftes?). in den Eikörper hinein, die als Radiensystem zum Ausdruck kommt. Ich füge hier gleich an, dass Schneider diese Anschauung für alle Fälle, wo eine Strahlung in Eiern oder Zellen vorkommt, verallge- meinert, insbesondere für die Zellteilung: auch die bei dieser auf- tretenden, bekannten Polradien?) sollen nach ihm stets Ausstrahlungen von Kernsubstanz sein (8. 75 a. a. O.). — Es berührt sich dies also in manchem mit den Meinungen, dievon Brandt (5) und von Auer- bach (2) früher vertreten worden sind. Gewiss ist an diesen Auffassungen zunächst das nicht zu be- streiten, dass der Eizellenkern vor der Richtungskörperbildung bereits typische Veränderungen eingehen kann. Es können dies innere Ver- änderungen chemischer Art, es können andererseits oder zugleich morphologische sein. Dass aber das letztere in dem Grade der Fall wäre, wie Schneider annimmt, und dass aktive, „amöboide“ Kon- traktionen des Kerns, und gar Ausstrablungen von Kernsubstanz in den Eikörper dabei vorliegen sollen, wird mir durch Schneiders Befunde noch nicht hinreichend erwiesen Diese Befunde zeigen zu- nächst: dass an Spirituspräparaten von Wurmeiern, die nachträglich mit starkem Essigkarmin gefärbt sind, die Kerne der Eier kurz vor 4) Nach ihrem Wesen können sie also mit vollem Recht, wie es Schnei- der (22, $. 76) tut, Zellen genannt werden. 9) Soviel ich entnehmen kann, besonders nach Schneiders S. 75 Z. 24 — 25, nimmt er an, dass nur der Kermsaft, nicht die chromatische Kernsubstanz an dieser Ausstrahlung beteiligt sei. Letzteres würde auch durch das nega- tive Funktionsvermögen der Radien ausgeschlossen. 3) Näheres darüber in Sb, S. 196, 199, 295 u. a. Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. 651 während sie in früheren Stadien gerundete hatten; und dass, wie Schneider und früher E. van Beneden, Graeff und Fol be- obachtet haben, am frisch entleerten Ovarialei von Asteracanthion der Kern allmählich seine Form verändert, buchtig und lappig wird, an welchen Formwechsel sich dann die Richtungskörperbildung anschließt. Diese Beobachtungen, . deren Wert ich ohne eigene nähere Kenntniss der Objekte nicht im mindesten antaste, lassen aber noch nicht da- rüber entscheiden, ob jene Formveränderungen des Kerns wirklich aktive, amöboide zu nennen, oder ob sie passive, durch Verschiebun- gen im Eikörper bedingte sind. — Die Einleitung zur Bildung der Riehtungsspindel geschieht nach Schneider bei Asteracanthion (S.42), und ähnlich auch bei Echinodermen (S. 47), so „dass aus dem Kern (Keimbläschen) eine Menge bis 20 Strahlen hervorschießen,“ woraus die dann zu beobachtende radiäre Struktur des Eikörpers resultirt. Mir scheint jedoch, dass es in einem dicht mit Körnern durchsetzten Ei durchaus denselben optischen Effekt geben muss, wenn diese Ra- dien in der Zellsubstanz angelegt werden, als wenn sie, wie Schneider annimmt, vom Kern ausschießen. Dass überhaupt hierbei Strahlungen angelegt werden, ist auch unter der erstern Annahme erklärlich, denn die Riehtungskörperbil- dung ist ja, w. g., als eine karyokinetische Zellteilung auffassbar und bei solchen entstehen auch anderweitig, wie es scheint allgemein, Polradiensysteme — aber, wie ich unten weiter zu vertreten habe, keineswegs aus dem Kern. Es ist unstreitig auffallend, dass bei vielen Eiern der weibliche Pronucleus so sehr viel geringer an Volumen ist, wie es der alte Ei- zellenkern (Keimbläschen) war; und es würde dafür als passende Erklärung erscheinen, wenn man mit Schneider annehmen könnte, dass Substanz aus jenem Kern in den Zellkörper gestrahlt ist. Aber zunächst gibt es noch andere Erklärungen. Bei Echiniden z. B. ist der weibliche Pronucleus nach dem Durchmesser ziemlieh viermal kleiner, als das frühere Keimbläschen. Aber hier sind auch hinter- einander zwei Richtungskörper gebildet worden !); wobei, gleiche Größe der Schwesterkernfiguren vorausgesetzt, 2/, der chromatischen Substanz und ein Teil des Kernsaftes in die Richtungskörper abge- gangen ist. Da im alten Keimbläschen die chromatischen Stränge, die es außer seinem Nucleolus enthält, nur recht locker sind, so würde das Drittel der Chromatinmenge, die in diesen Strängen plus Nu- eleolus enthalten war, ziemlich gut mit der tingirbaren Substanz stimmen, die sich im weiblichen Pronucleus nachweisen lässt 2). Mit bezug auf den Kernsaft aber lässt sich allerdings sagen, dass ein Missverhältniss besteht: er macht im frühern Keimbläschen mehr aus, 1) Fol, 5 in 9, 9a. 2) Ich verweise dafür auf meine Fig. 1 in 8a. 652 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u erste Teilung. d. tierischen Eis. als das Dreifache der Kernsaftmenge im weiblichen Pronucleus. Dies Plus muss irgendwo bleiben: entweder es bleibt im Ei verteilt oder es transsudirt heraus !). Ersteres ist vollkommen möglich. Wenn es aber darin bleibt, so habe ich doch keinen Grund an- zunehmen, dass dieser Kernsaft die Radien bilden sollte. Dagegen spricht entschieden das Verhalten bei der Teilung, sowol der Eier als anderer Zellenarten. Die Polarstrahlungen bei diesen Teilungen nehmen sich aus wie die Strahlungen bei der Richtungskörperbildung, und Schneider (s. oben) hält sie folgerichtig ebenfalls für Aus- strahlungen von Kernsubstanz. Nun erwäge man aber folgendes: die Radiensysteme bei der Teilung sind an Masse und Dichtigkeit reichlich ebenso groß, ebenso sehr durch den ganzen Zellkörper aus- gebreitet, wie die Strahlungen bei der Richtungskörperbildung. Wenn beide ausgestrahltem Kernsaft entsprechen sollen, so muss davon in beiden Fällen eine etwa gleiche Menge disponibel sein. Das ist nun aber keineswegs der Fall, denn die im Furchungskern vorhandene Menge Kernsaft macht weit weniger aus, als die vorher im Keim- bläschen enthaltene. Außerdem aber zeigen die Abbildungen Hert- wig’s, Fol’s und die meinigen a. a. O. wol deutlich genug, dass vor und während der Karyokinese des Furchungskerns sowol dessen Gesamtvolumen, als sein Gehalt an untingirbarem Kernsaft eher zu- nimmt, als abnimmt. Da ist also nichts übrig gewesen, um noch als Radien auszustrahlen. Noch deutlicher ist dies an andern Zellenarten. Auch bei Ge- webszellen kommen ja die Polstrahlungen vor (s. o.), und ich freue mich bei Schneider mit der Vermutung Anklang gefunden zu haben, dass sie ein allgemeines Phänomen der Zellteilung sind (22, S. 77). Aber bei den Gewebszellenteilungen vom Salamander ist es ganz klar, dass die Kernteilungsfigur während der Anlage der Ra- dien durchaus nicht an Masse abnimmt gegenüber dem vorher ruhen- 4) Für ein solches Heraustranssudiren will ich durchaus nicht eintreten, es sollte nur seiner Möglichkeit ein Recht gelassen werden. Jedenfalls denke ich hier nicht daran, etwa den Prozess der Perivitellinbildung mit einer solchen Ausscheidung von Kernsaft in Beziehung zu bringen. Dieser Pro- zess — die rasche Ausscheidung heller Masse zwischen Eikörper und Eihaut, wie sie bei vielen, aber nicht allen Eiern auftritt — ist von Schneider in der hier besprochenen Arbeit bei verschiedenen Eiern genauer verfolgt worden; er stellt die Regel auf, „dass, wenn die Richtungskörper sich vom Ei abschnüren, sich auch Perivitellin ausscheide* (S. 77—78), und neigt, soviel ich entnehmen kann, dazu, den Vorgang im Grunde erst als Folge der Befruchtung zu betrachten (S. 80). Jedenfalls schließt Schneider also eine direkte Beziehung der Perivitellinbildung zu den Vorgängen aus, die bei der Richtungskörperbildung selbst im Ei spielen, und dies gewiss mit vollem Recht. Denn z. B. am Ei der Seeigel erfolgt die Richtungskörperbildung ja lange vor der Befruchtung im Eierstock, die Perivitellinbildung plötzlich bei der Befruchtung. Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. 65% >) o fe) JUL den Kern, weder in ihrem chromatischen Teil noch in ihrem unfärb- baren Kernsaft; der letztere nimmt sogar in den Stadien, wo die Strahlungen an den Polen am stärksten ausgesprochen sind, noch an Masse zu — was den bekannten „hellen Höfen“ um die chromatische Kernfigur entspricht '). Wollte man hier glauben, dass die Radien aus dem Kern ausgestrahlt seien, so müsste man zu der umständ- liehen Annahme greifen, dass mehr Substanz, als ausgestrahlt war, dafür aus dem Zellkörper wieder in den Kern hineingedrungen wäre. Die natürlichste und nächstliegende Deutung ist, dass die bei‘der Zellteilung auftretenden Polradien ?) in der Zellsubstanz angelegt werden ?) und zwar, wie ich denke, durch eine Richtung und Zen- trirung des Fadenwerks der Zellsubstanz gegen die Pole. Und hier- nach möchte ich, umgekehrt wie Schneider, schließen: wenn es hier so ist, gibt das Wahrscheinlichkeit dafür, dass auch bei der Ricehtungskörperbildung die Radien nicht Kernausstrahlungen sein werden, sondern temporäre Anordnungen in der Zellsubstanz. Das tatsächliche Ergebniss der Riehtungskörperabgabe ist, dass damit eine kleine Portion Zellsubstanz und eine relativ viel größere Portion des Kerns abgetrennt, und für Entwicklung und Wachstum des Eies nicht weiter benutzt wird. Die physiologische Bedeutung eines solchen Wegwurfes bleibt noch endgiltig aufzuklären. Da in so besonderem Grade Kernsubstanz entfernt wird, so liegt es nahe, wie Bütschli, Strasburger und Balfour getan haben, ein Hauptziel des Vorganges in der Verkleinerung der weiblichen Kern- masse zu vermuten. H. v. Ihering nannte die Entfernung der Rich- tungskörper gradezu: „ein Mittel, durch das die Menge des weiblichen Kernmaterials verringert und ihr allzu bedeutendes Ueberwiegen gegenüber dem männlichen Vorkern verhindert wird.“ Freilich bleibt dieser Satz selbst fast noch ebenso erklärungsbedürftig, als das, worüber er Aufschluss geben soll. Denn wenn es richtig ist, dass der Spermatozoenkopf wirklich so sehr viel weniger Nucleinsubstanz enthält *), als das Keimbläschen enthielt: so muss das sofort auf 1) Dabei bleibt es allerdings möglich, dass die Vergrößerung dieser Höfe durch ein Hineindringen von Flüssigkeit aus dem Zellkörper bedingt wird (vergl. Sb, S. 208). 2) Ich verfehle nicht besonders anzumerken, dass bei der Zellteilung nicht, wie Schneider anzunehmen scheint (S. 75), zuerst ein einziges mo- nozentrisches Radiensystem auftritt, sondern gleich zwei, zu je einem Pol zentrirte. Wenigstens lässt sich ersteres nicht behaupten. Um das fest- zuhalten, habe ich auch den Ausdruck „Polradien“ besonders bevorzugt. 3) Zu der Stelle Schneiders S. 75 Z. 19 ff. muss ich dort bemerken, dass ich diese Polradien niemals Achromativfäden genannt habe; als solche bezeichnete ich stets nur die Streifen der achromatischen Kernspindel. 4) In sehr starkem Maße braucht dies nicht der Fall zu sein: denn der Spermatozoenkopf enthält die Chromatinkörper, wie seine Entwicklung und 654 Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. die weitere Frage führen, weshalb die Natur, auf dem Wege durch Vererbung und Anpassung, das richtige Mengenverhältniss zwischen männlicher und weiblicher Kernsubstanz so schlecht getroffen hat und fortdauernd so schlecht trifft, dass sie von der letztern jedesmal wie- der einen großen Teil fortwerfen muss. Ich gestehe deshalb, dass ich die aussprechendste Auffassung der Richtungskörperbildung bis jetzt in der Teorie Whitman’s (27) finden möchte, nach welcher der Prozess ein phylogenetisches Ueberbleibsel einer ungeschlechtlichen, parthenogenetischen Fortpflanzung durch. bloße Zellteilung darstellen würde. In einer Hinsicht ist der Vorgang noch besonderer Aufmerksam- keit wert: eine Hinsicht, zu der sein Name in Beziehung bleiben kann, obwol man ja längst weiß, dass die Riehtungskörper nicht, wie Fritz Müller früher dachte, einen bestimmten richtenden Einfluss auf die Furchung üben. Dafür wissen wir, wenn auch bisher nur für einzelne Objekte !), dass die Richtungskörper an einem bestimmten Pol des Eikörpers austreten, und sie können also als Anhaltspunkte für eine präformirte axiale Orientirung im Ei dienen, auch wo sonstige sichtbare Zeichen davon und von sonstigem Bau bisher noch nicht zu finden sind. Aber auch nach solchen wird jetzt weiter zu forschen sein; die erstbesprochenen Befunde über Strukturen des Eies, so un- vermittelt sie auch noch sind, geben dazu den Mut. (Schluss folgt.) Die Stammesentwicklung der Vögel. Von Dr. R, Wiedersheim. Professor in Freiburg i. B. Als ich im Spätjahr 1881 in diesen Blättern meinen Aufsatz über paläontologische Funde in Nordamerika veröffentlichte, glaubte ich eine weitere Reihe von ähnlichen Abhandlungen in baldige Aussicht stellen zukönnen. Leider wurde ich durch andere Arbeiten bis heute an der Ausführung dieses meines Planes verhindert. Hatte ich im meinem ersten Aufsatz die tertiären Urformen der amerikanischen Huftiere, Rüsselträger und Diekhäuter sowie die Dinosaurier zum Vor- wurf meiner Betrachtungen gewählt, so möchte ich diesesmal die Vor- fahren der heutigen Vögel besprechen. Dabei werde ich mich übri- gens nicht allein auf die von Prof. Marsh beschriebenen Zabnvögel Tinetion zeigt (Arch. f. mikr. Anat. 1880, Bd. 18, S. 240), in einem sehr ver- diehteten Zustand, während im Eizellenkern die chromatinhaltigen Stränge recht lose verteilt sind. 1) Z. B. Anodonta, wo die Richtungskörper konstant als Antipoden des Haftpoles austreten, mit dem der Eikörper an der Membran sitzt (Mikropylen- stelle). (8, Taf. II.) Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. 655 Nordamerikas beschränken, sondern werde auch die einschlagenden europäischen Funde in den Kreis meiner Betrachtungen zu ziehen haben. Zunächst wird die Frage zu erörtern sein, wie wir uns, auf Grund- lage der vergleichenden Anatomie und Entwicklungsgeschichte die Vorfahren der heutigen Vögel vorzustellen und wo wir sie in der lan- gen geologischen Entwicklungsreihe der Wirbeltiere zu erwarten haben? Die Antwort hierauf muss, der Fragestellung entsprechend, eine doppelte sein. In unserer Vorstellung lässt sich der Begriff eines ge- wöhnlichen Vogels nicht trennen: 1) von der zum Flugorgan, zum Flügel umgebildeten Vorderextremität 2) vondem Federkleid und 3) von lufthohlen (pneumatischen) Knochen, lauter Punkte, wel- che dem Vogel eine scharf charakterisirte Stellung in der Tierreihe anweisen. Eine direkte Verwandtschaft mit andern Tiergruppen scheint nicht zu bestehen, nach oben wie nach unten finden wir eine große Kluft, deren Ausfüllung auf den ersten Blick fast unmöglich erscheint. Nun weisen aber bestimmte morphologische Tatsachen auf gene- tische Beziehungen zu andern amnioten Tiergruppen und zwar zu den Reptilien hin. Hier sind es wieder vor allem die Saurier, die in ihrem Skelet, wie namentlich im Schädelbau, sowie in der ersten Anlage der Wir- belsäule und des Beckens eine prinzipielle Uebereinstimmung mit den entsprechenden Organen der Vögel zeigen. Auf diese Punkte habe ich schon in meinem ersten Aufsatz bei Besprechung der Dinosaurier wiederholt hingewiesen und auch anderwärts!) habe ich dieses auf breiterer Basis noch weiter ausgeführt. Gleichwol aber will ich hier noch einmal darauf zurückkommen und auch noch andere Punkte zum Vergleich herbeiziehen. Um mit der Schwanzwirbelsäule zu beginnen, so ist sie bei den heutigen Vögeln in der Regel sehr kurz und ihr rudimentärer Charakter spricht sich auch darin aus, dass die letzten Wirbel zu einer sagittal stehenden und manchmal auch seitlich sich ausdehnen- den Platte, welche die Steuerfedern trägt, zusammenfließen; ferner sind sämtliche Wirbelcharaktere bis auf minimale Spuren der Quer- und Dornfortsätze verwischt. Eine Ausnahme von dieser Regel machen nur gewisse straußenartige Vögel (Ratiten), indem bei ihnen die ein- zelnen Wirbel bis zur Schwanzspitze hinaus abgegliedert bleiben. Im Gegensatz dazu sind die Saurier — man denke z.B. an die Eidechse — durch einen langen, wirbelreichen Schwanz charakterisirt, und es ist von hohem Interesse, dass auch die Entwieklungsgeschichte mancher Vögel, wie z.B. des Wellenpapageis darauf hinweist, dass der Schwanz. der heutigen Vögel ursprünglich in größerer Länge angelegt wird, 1) Vgl. R. Wiedersheim, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. Jena 1882/83. 656 Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. und dass dementsprechend auch das Rückenmark früher weiter nach hinten reicht, als dies später der Fall ist (M. Braun). Die Folge- rungen daraus sind leicht zu ziehen, wenn auch jene Entwieklungs- stadien noch weit entfernt bleiben von dem langen Schwanz der La- certilier. Es wird sich also fragen, ob hier die Paläontologie ergän- zend eingreift. Die Antwort darauf soll später folgen. Nicht minder groß ist der Unterschied zwischen dem Skelet der Vorderextremität eines Vogels und derjenigen der Saurier. Dort die außerordentliche Entwicklung des Ober- und Unterarmes, gepaart mit einem sehr rudimentären Charakter des Handskelets, welches bei Casuar und Apteryx sogar bis auf einen einzigen Finger zurück- geht, hier dagegen eine wol entwickelte Hand mit zahlreichen Carpal- knochen und mit fünf bekrallten Fingern. Lässt sich nun die so stark modifizirte Vogelextremität auf den Sauriertypus zurückführen? Das erscheint hinsichtlich der mächtigen Entfaltung des Ober- und Unterarmes als keine schwierige Aufgabe, denn es kann sich dabei nur um eine Anpassungserscheinung an das Flugvermögen handeln. Andere ähnliche Beispiele finden sieh in Menge und ich will nur an die Hinterextremitäten der schwanzlosen Amphibien, an die Umbildung der Vorderextremität bei grabenden und schwimmenden, sowie endlich an die Verlängerung der Fingerglieder bei flatternden Tieren (Fleder- mäuse, Rhamphorhynchus, Pterodactylus) erinnern. Was die Krallen an den Endphalangen der Hand anbelangt, so fehlen sie allerdings der größten Mehrzahl der heutigen Vögel, allein ausnahmsweise, wie z. B. bei Apteryx, Megapodius, Rhea und Struthio kommen sie doch noch vor und weisen so auf eine Zeit zurück, wo die vordere Extremität als Geh- oder vielleicht als Aufhängeorgan (man denke an Fledermäuse) gedient haben muss. Von weit größerm Belang für die Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage sind die Resultate entwicklungsgeschichtlicher Studien, welehe wir vor allem Gegenbaur verdanken. Im Handwurzelskelet des Vogelembryos finden sich nämlich fünf diskrete Knochen, zwei in der ersten und drei in der zweiten Reihe. Erstere, welche einem Radiale und Ulnare entsprechen, erhalten sich das ganze Leben, letztere dagegen fließen mit den drei Basen der Mittelhandknochen zu einer Masse zusammen. Die drei im Embryo noch getrennten Mittelhandknochen gehen im erwachsenen Tier eine Verschmelzung untereinander ein. Am proxi- malen Ende sind alle drei, am distalen dagegen nur der zweite und dritte mit einander verschmolzen. Die Zahl der Fingerglieder ist eine sehr beschränkte, indem schon im Fötus am ersten und dritten Finger Je nur eine, am zweiten nur zwei zur Anlage kommen und auch spä- ter in derselben Zahl persistiren. Sehr zu beachten ist, dass diese schon in der Embryonalzeit zu beobachtende, starke Reduktion des Handwurzelskelets der Vögel nicht unvermittelt auftritt, sondern dass sie schon in der Reihe der Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. 657 Reptilien, nämlich bei Krokodiliern vorbereitet wird. Auch hier schon spielt das Radiale und Ulnare die Hauptrolle und ebenso erfuhren hier die ulnaren Strahlen den radialen gegenüber einen so bedeuten- den Rückgang, dass uns der gänzliche Ausfall derselben in der Vogel- hand nicht unerwartet kommen kann. Von demselben Gesichtspunkt aus ist die schon bei Reptilien zur Geltung kommende und bei den Vögeln ihr Maximum erreichende Re- duktion der Fußwurzelknochen zu beurteilen. Beim Vogelembryo besteht der Tarsus nur noch aus zwei Knor- pelscheiben, einer proximalen und einer distalen. Jene, welche einer proximalen Tarsalreihe entspricht, verwächst später mit dem distalen Ende der Tibia, diese, eine distale Tarsalreihe darstellend, mit den Basen der Mittelfußknochen zu einer Masse, so dass also der Fuß des erwachsenen Vogels gar keine diskreten Tarsalelemente mehr besitzt. Was die Mittelfußknochen betrifft, so sind der Anlage nach fünf vor- handen, bald jedoch schwindet der fünfte wieder, worauf drei der übrigen (d. h. zwei bis vier) zu einer einzigen Knochenmasse („Lauf- knochen“) zusammenfließen. Der Mittelfußknochen der ersten Zehe bleibt bis zu einem gewissen Grade selbständig und bildet einen kleinen Anhang des Laufknochens. Eine Anzahl von Furchen, oder auch Spalten, mit dazwischen liegenden Prominenzen an beiden Enden des Laufknochens deuten noch auf die frühere Trennung hin. Die Zahl der Zehen geht auf vier, drei oder gar, wie bei Straußen, auf zwei zurück, diejenige der Phalangen von der ersten bis zur vierten Zehe beträgt zwei bis fünf. Von der allergrößten Bedeutung für die richtige Beurteilung dieser Verhältnisse ist der Dinosaurierfuß, insofern er in den verschiedenen Ordnungen dieses Geschlechts die einzelnen Embryonalstadien des Vogelfußes geradezu repetirt. So hätten wir also in den Formverhältnissen des Skelets er- wachsener und embryonaler Vögel eine Anzahl wichtiger Anhalts- punkte kennen gelernt für die Ableitung des gesamten Vogelstammes von einer reptilienartigen Urform. Wie steht es nun in dieser Be- ziehung mit den andern Organsystemen ? Ganz abgesehen von zahlreichen Uebereinstimmungen verschiedener Muskeln und Muskelgruppen, wie z.B. im Bereich des Visceralskelets und des Bauches, sind es vor allem die Sinnesorgane sowie das Gehirn, welehe unsere vollste Beachtung verdienen. Wie bei Sauriern, so unterscheidet man auch bei Vögeln im Ge- ruchsorgan eine tiefer liegende, von Pflasterepithel ausgekleidete Vorhöhle und eine eigentliche, höher gelegene Riechhöhle. Weiterhin findet sich hier wie dort eine äußere Nasendrüse, sowie nur eine ein- zige echte Muschel („mittlere Muschel“ der Autoren), unter welcher der dicke Thränennasengang ausmündet. Das häutige Gehörorgan schließt sich unmittelbar an dasnzr 42 658 Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. der Krokodilier an und dies gilt in erster Linie für die bereits sehr selbständig gewordene Schnecke. In histologischer Beziehung zeigt sie, nach den Untersuchungen C. Hasse’s, noch einen sehr einfachen Bau, insofern das der Membrana basilaris aufsitzende Epithel von demjenigen einer Macula oder Crista acustiea prinzipiell nicht abweicht). Eine weitere Uebereinstimmung findet sich im Sehorgan. Vö- gel wie Reptilien besitzen einen in die Selera eingesprengten Knochen- ring und dieser findet sich auch bei fossilen Amphibien und Reptilien. Ferner sind verschiedene, den Bulbus oculi und die Lider bewegende Muskeln für das Vogel- wie für das Reptilienauge in gleicher Weise charakteristisch und dies gilt auch für den sogenannten „Kamm“ (Pecten), sowie für den Hautknochen oder Knorpel im obern Augen- lid. Endlich wird bei allen Sauropsiden die Thränendrüse vom zwei- ten Ast des N. trigeminus versorgt, und was die Retina betrifft, so weist sie durch das Vorschlagen der Zapfen den Stäbchen gegenüber sowie durch den Besitz bunt gefärbter Oeltropfen ebenfalls auf ver- wandtschaftliche Beziehungen zwischen Vögeln und Reptilien hin. Letztere lassen sich auch aus der Doppelnatur des Halssympathieus und aus der prinzipiellen Uebereinstimmung der Cerebral- und Spinal- nerven erschließen. Von ganz besonderm Interesse ist ein Vergleich des Gehirnes, allein ich werde erst später, nach Kenntnissnahme des paläontologi- schen Materials näher darauf eingehen können. Zum Traectus intestinalis übergehend stoßen wir auf weitere wichtige Vergleichungspunkte. So lassen sichdie Mundhöhlendrüsen der Vögel ohne Schwierigkeiten von denjenigen der Reptilien ableiten und dies gilt in derselben Weise für die Zunge und die topographi- schen Verhältnisse der Glandula thyreoidea und thymus. (In letzterer Beziehung sind namentlich junge Krokodile und neugeborne Seeschildkröten zum Vergleiche herbeizuziehen). Eine bei gewissen Cheloniern vorkommende Auskleidung der Speiseröhre mit Hornpapillen ist auch bei Vögeln (Diomedea exulans) beobachtet worden, und was den Magen betrifit, so findet sich schon bei Krokodiliern auf der ventralen und dorsalen Fläche jene aponeu- rotische Scheibe, wie sie, allerdings unter viel stärkerer Entwicklung, den Muskelmagen der.Vögel charakterisirt. Auch eine Art von Neben- magen kommt, ähnlich wie bei Sumpf- und Wasservögeln, schon in der Pars pylorica der Krokodilier vor. Eine weitere Uebereinstimmung liegt in der großen Zahl der außerordentlich engen, auf einen förmlichen Klumpen zusammen geschobenen und größtenteils rechterseits und dorsalwärts gelagerten Schlingen des Mitteldarmes. 1) Es wäre vom allergrößten Interesse, das Gehörorgan der straußenarti- gen Vögel in histologischer Beziehung mit demjenigen der Singvögel zu ver- gleichen. Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. 659 Dies schließt natürlich nicht aus, dass die Organisation der Vö- gel nach manchen andern Punkten hin eine ganz besondere, in An- passung an die verschiedenen Lebensbedingungen erworbene Entwick- lungsrichtung einschlägt. Dies gilt z. B. für den Kropf, den Vor- magen, die Blinddärme, die Bursa Fabrieii und ganz besonders für das eigentliche Stimmorgan, den sogenannten untern Kehlkopf. Letzterer z. B. ist in der Reihe der Reptilien nicht einmal spurweise angedeutet und es ist bis jetzt unmöglich, über sein erstes Auftreten irgend etwas Sicheres auszusagen. Schließlich will ich nur noch erwähnen, dass neben zahlreichen Uebereinstimmungen im Gefäßsystem, wie z. B. im Bau des Herzens, insbesondere das Urogenitalsystem Beachtung verdient. Wenn irgend wo in einem Organsystem, so tritt uns hier die Zu- sammengehörigkeit der Reptilien und Vögel aufs klarste vor Augen. Weder hier noch dort kommt es zur Anlage einer Vorniere, da- gegen tritt ein neues Harnsystem auf, das man als bleibende Niere („Metanephros“ Balfour) und als Ureter bezeichnet. Dieses Harn- system dient als Ersatz für die zum größten Teil schwindende Urniere, welche letztere aus dem exkretorischen Apparat gänzlich ausscheidet. Auch der Geschlechtsapparat sowie die Kloake ist nach demselben gemeinschaftlichen Grundplan angelegt, doch würde es zu weit führen, hierauf näher einzugehen. So zeigt sich also an der Hand einer großen, fast auf sämtliche Organsysteme sich beziehenden Reihe von Tatsachen, wie enge die verwandtschaftlichen Beziehungen sind, welche zwischen den Reptilien und Vögeln existiren und wie richtig deshalb Huxley beide Gruppen unter dem Namen der Sauropsiden mit einander vereinigt. Wenn nun aber auch durch das vorliegende, auf morphologischer Grundlage gewonnene Material, die Annahme jenes Zusammenhanges zur unab- weisbaren Notwendigkeit geworden ist, so ist man doch immerhin be- rechtigt, noch einen direkten greifbaren Beweis dafür zu fordern, und zwar in Gestalt paläontologischer Zwischenformen, welche in frühern Erdperioden einmal existirt haben müssen. Ich trete nun hiermit diesen Beweis an und will zunächst mit der Geschichte jener Funde beginnen. Der Archaeopteryx. Bis zum Jahre 1861 waren unterhalb des Tertiärs und der obern Kreide keine Vogelspuren bekannt geworden und so vertraten sämt- liehe Biologen die Ansicht, dass der Vogelstamm relativ jungen Ur- sprunges sei. Es war kurz nach dem Erscheinen von Darwin’s Werk, also zur Zeit des erbittersten Kampfes um die Berechtigung oder Nichtberechtigung seiner Lehre, als Herman von Meyer in dem Bronn-Leonhardt’schen Jahrbuch eine Vogelfeder beshrieb, wel- che in den Steinbrüchen zu Solnhofen in Bayern gefunden worden war. 4907 660 Wiedersheim, Die Stammesentwieklung der Vögel. Mit dieser Entdeckung, welcher anfangs mit großem Misstrauen begegnet wurde, war das Alter des Vogelgeschlechtes mit einem mal um eine ungezählte Reihe von Jahrtausenden d. h. bis in die Schich- ten des obern Jura zurückgerückt. Dass es sich dabei um keine Täuschung handeln konnte, bewies ein zweiter an demselben Orte gemachter Fund, welcher die hintere Körperhälfte eines Vogels dar- stellte. Das Becken, die hintern Extremitäten sowie der lange, aus einer großen Zahl von Wirbeln bestehende, saurierartige Schwanz waren vortrefflich erhalten. Von den übrigen Skeletteilen fanden sich nur einzelne zerstreute und schwer zu bestimmende Knochen, sowie die in Unordnung gekommenen Flügelfedern. Dieser Fund blieb unserm Vaterlande leider nicht erhalten, son- dern wanderte um die Summe von 14000 Mark in das britische Mu- seum zu London, wo er von R. Owen in den Philos. Transactions vortrefflich beseurieben und abgebildet wurde. An Stelle des von H. von Meyer stammenden Namens Archaeopteryx lithographica trat die auf die Länge des Schwanzes bezügliche Bezeichnung Ar- chaeopteryx maerura. Dies geschah im Jahr 1863 und es verging lange Zeit, bis man in Solnhofen auf neue Spuren des Vogels stieß. Erst im Jahre 1876 glückte es dem Solın des ersten Finders, Dr. Haeberlein, ein zwei- tes Exemplar zu entdecken, und es konnte nicht fehlen, dass von vielen Seiten Anstrengungen gemacht wurden, das seltene Stück zu erwerben. Es waren vor Allem die Herren Volger, Zittel und Vogt, welche sich in dieser Riehtung bemühten, allein umsonst; niemand wollte die anfangs auf 36000, später auf 26000 Mark festgesetzte Summe bezahlen!). Da die bayerische Kammer den Ankauf ablehnte, und auch von Berlin aus keine weitern Schritte geschahen, so trat der bisherige Besitzer mit der englischen Regierung in Unterhandlung und es würde immer wahrscheinlicher, dass auch das zweite Exemplar des Archaeopteryx unserm Vaterlande verloren gehen würde. Da er- bot sich Dr. Werner Siemens in Berlin, den Fund für 20 000 Mark anzukaufen und stellte denselben der preußischen Regierung gegen tiickerstattung des von ihm bezahlten Kaufpreises zur Verfügung. Darauf wurde denn auch eingegangen und so war der Archaeopteryx für Deutschland gerettet und bildet nun eine Zierde des Berliner Museums. Im Herbste des Jahres 1881 hatte ich Gelegenheit, unter der liebenswürdigen Führung von Prof. Dames das Prachtstück selbst in Augenschein zu nehmen. Prof. Dames ist seit jener Zeit damit beschäftigt gewesen, die 1) Es handelte sich übrigens dabei nicht allein um den Archaeopteryx, sondern auch noch um eine Sammlung anderer Fossilien, welche bis dahin im Besitze Herrn Häberleins war. Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. bi Reste bis ins einzelnste aus der umgebenden Steinmasse herauszu- arbeiten und da er jetzt damit zu Ende gekommen ist, so steht, wie ich aus einer brieflichen Mitteilung ersehe, eine ausführliche, von Ab- bildungen begleitete Beschreibung nahe bevor. Einen kurzen Ueberblick über die von ihm gewonnenen Resultate gab Prof. Dames auf der diesen Herbst in Stuttgart abgehaltenen Geologenversammlung. Zu meinem Bedauern war ich nicht selbst anwesend und so bin ich Prof. Damcs um so dankbarer, als er die Güte hatte, mir in einer brieflichen Notiz den Inhalt seines damaligen Vortrages kurz zu skizziren. Was übrigens die Detailbeschreibung betrifft, so bin ich auf eine Rede €. Vogt’s angewiesen, die letzterer vor vier Jahren auf der schweizerischen Naturforscherversammlung zu St. Gallen gehalten hat. Ergänzt wird dieselbe durch einen kur- zen Aufsatz Prof. OÖ. C. Marsh’s, welcher Gelegenheit hatte, beide Archaeopteryxexemplare selbst in Augenschein zu nehmen. Das in Berlin befindliche Exemplar hat etwa die Größe einer Holztaube, das Londoner ist um ein Fünftel größer. Es ist fast in allen seinen Teilen vollkommen erhalten. Der Kopf, der Hals und der Rumpf liegen im Profil vor und ersterer ist so weit nach hinten gebogen, dass seine Dorsalfläche fast die Wirbelsäule berührt. Die beiden Flügel besitzen eine Spannweite von eirca 16 em und sind wie zum Fluge ausgebreitet. Der Kopf ist klein und besitzt große Augen- höhlen; Zähne sind deutlich nachzuweisen. Die Wirbel scheinen bi- konkav zu sein und die anstoßenden Rippen zeigen eine sehr zarte, dünne Struktur; sie sind stark gekrümmt, besitzen keine Processus uneinati und laufen an ihren Enden in sehr feine Spitzen aus. Es mögen etwa zwanzig praesacrale und ebenso viele kaudale Wirbel vorhanden sein. Das Sacrum bestand, im Gegensatz zu den heutigen Vögeln, aus einer nur geringen Zahl von untereinander ver- bundenen Wirbeln; jedenfalls aus nicht mehr als fünf, wahrscheinlich aber aus weniger. Was den Sehultergürtel betrifft, so weichen die Liegebeziehungen des Schulterblattes zum Coracoid, sowie die des letztern zu dem verknöcherten, breiten Brustbein und endlich der Gabelknochen vom Vogeltypus nieht ab. Ob eine Brustbeinkammer vorhanden war, scheint an diesem Exemplar nicht mehr entschieden werden zu können, es ist dies aber sehr wahrscheinlich. Beim Flügel konzentrirt sich das Hauptinteresse auf die Hand mit ihren drei freien Metakarpen. Nach ihrer Form und Lage erinnern diese Knochen an gewisse Embryonalstadien der heutigen Vögel und dies ist, wie Prof. Dames mit Recht hervorhebt, wol im Auge zu behalten, da man die Archaeopteryxhand schlechtweg nach dem La- eertilier-Typus gebildet sein ließ (C. Vogt). Ich will damit aber natürlich nicht behaupten, dass sie mit letzterm gar nichts zu schaf- fen habe, denn, wie ich oben schon zeigte, existiren ja grade in der 662 Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. Entwicklungsgeschichte der Vögelextremitäten zahlreiche Anklänge an diejenigen der Reptilien, so dass also letztere immerhin den Aus- gangspunkt bilden. An die Mittelhand schließen sich die drei Finger, wovon der erste, der Daumen, nur aus zwei, die übrigen aber aus drei Gliedern bestehen. Jedes Endglied trägt eine gekrümmte, scharf schneidende Kralle. Was nun den Bau des Beckengürtels betrifft, so gehen darüber die Ansichten Owen’s, Vogt’s und Marsh’s so weit auseinander, dass es geraten erscheint, mit einem Urteil bis zum Erscheinen der Dames’schen Schrift noch zu warten. Der Schlüssel zur Erklärung mag übrigens nach Prof. Marsh im Dinosaurierbecken liegen, denn hier erscheinen die einzelnen Stücke, d. h. das Ilium, Ischium und Pubis ebenso von einander getrennt, wie dies noch beim embryonalen Vogelbecken der Fall ist und damit scheint auch das Archaeopteryx- becken übereinzustimmen: bei erwachsenen Vögeln dagegen sind be- kanntlich alle drei Stücke zu einer Masse verschmolzen. Die freie Hinterextremität zeigt bezüglich der topographi- schen Verhältnisse der Tibia und Fibula Anklänge an diejenige der Dinosaurier (Compsognathus), und wenn auch die Mittelfußknochen im wesentlichen zu einem Knochenkomplex zusammengeflossen sind, so beweisen doch die zwischen ihnen liegenden, tiefen Einschnitte, dass die Vereinigung erst spät erfolgt ist. Immerhin aber kann man behaupten, dass der Archaeopteryxfuß von demjenigen der heutigen Vögel in den wesentlichsten Punkten nicht abweicht, wenn ihm auch ein gewisser embryonaler Typus nicht abzusprechen ist. Bei einem Rückblick auf das gesamte Skelet fallen somit folgende Punkte für die Reptilienabstammung des Archaeopteryx am schwersten ins Gewicht: die bikonkaven, an die Ascalaboten und Hatteria sowie an gewisse fossile Reptilien erinnernden Wirbelkörper, der lange eidechsenartige Schwanz, die Zähne, in gewisser Beziehung auch das Handskelet, die der Processus uneinati entbehrenden Rippen, die Ana- tomie des Beckens und der Mangel an pneumatischen Knochen. Nach dem heutigen Vogeltypus hin neigen der Schultergürtel mit dem Brustbein, die hintere Extremität, das Kopfskelet samt dem Stein- kern des Gehirnes, welcher an denjenigen des jurassischen Laop- teryx Amerikas erinnert. Endlich gehört dahin das Federkleid. Dass wir es mit echten, Bart und Kiel besitzenden Federn zu tun haben, kann keinem Zweifel unterliegen. Die Schwungfedern der Flügel, welehe am ulnaren Rand des Vorderarmes und der Hand sitzen, sind fast bis zur Mitte ihrer Länge mit einem feinfaserigen Flaum bedeckt und der Flügel ist an seinem äußern Umfang, wie z.B. bei hühnerartigen Vögeln abgerundet. Ob der Hals nach Art des Kondors eine Federkrause besaß, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden (©. Vogt). Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. 6653 Die Tibia stak ihrer ganzen Länge nach in einem Federkleid, etwa so wie bei Falken; endlich trug jeder Schwanzwirbel, in meta- merer Anordnung, ein Paar Steuerfedern. Der ganze übrige Körper, also der Kopf, Hals und Rumpf schei- nen offenbar frei von Federn, also nackt gewesen zu sein, und doch ist kein Flaum nachzuweisen. Wäre etwas derartiges vorhanden ge- wesen, so hätte es sich, sollte man meinen, in anbetracht der bewun- dernswürdigen Konservirung auch der zartesten Details, erhalten müssen. Eine mehr ins einzelne gehende Schilderung des Archaeopteryx ist von der Dames’schen Schrift zu erwarten, und es erscheint nicht unmöglich, dass dadurch diese und jene in der jetzigen Literatur ver- breitete Irrtümer ihre Richtigstellung erfahren werden. Die Kreidevögel Amerikas. Entlang den östlichen Abhängen des Felsengebirges, sowie in den anstoßenden Ebenen von Kansas und Kolorado dehnen sich weite, der Kreideformation angehörige, an Fossilien überreiche marine Ge- steinschichten aus. Sie bestehen aus einem feinen, gelben Kalk und einem kalkigen Schieferthon, beide gleich vorzüglich geeignet zur Konser- virung auch der zartesten Gegenstände. Abgesehen von den Resten wirbelloser Tiere (Ammoniten, Belem- niten ete.) finden sich solche von zahlreichen Wirbeltieren, wie z. B. von Mosasauriern und zahnlosen gigantischen Flugsauriern mit einer Flügelspannung von nahezu 25 Fuß. Von dem ungeheuern Material kann man sich eine ungefähre Vorstellung machen, wenn man erfährt, dass bis zum Jahr 1880 Reste von mehr als 1400 Indi- viduen des Genus Mosasaurus und von mehr als 600 Flugsauriern (Pteranodontia) gefunden und in das Yale College-Museum zu New Haven abgeliefert wurden. In demselben Lager nun fand Prof. Marsh vor 13 Jahren (13. De- zember 1870) die ersten Spuren fossiler Vögel und zwar zunächst das distale Ende einer Tibia des von ihm so genannten Hesperornis regalis. Spätere, mit vielen Gefahren und Mühen verbundene Ex- peditionen lieferten reichlichere Ausbeute und auch noch andere Vogel- genera, so dass bereits im Jahre 1880 die Reste von über hundert verschiedenen Individuen im Yale College-Museum geborgen waren. Ein genaueres Studium dieser fossilen Vögel beweist, dass sie zwar alle durch den Besitz von Zähnen charakterisirt sind („Odontorni- thes“, Marsh), dass sie aber ihrem übrigen Habitus nach in zwei scharf getrennte Typen zerfallen. Der eine Typus („Odontolcae“, Marsh), welcher große flügellose Schwimmvögel, mit Zähnen in Rin- nen, umfasst, wird durch das Genus Hesperornis repräsentirt. Der andere Typus („Odontotormae“, Marsh), am besten durch das Genus Ichthyornis charakterisirt, begreift in sich kleine, vortreff- 664 Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. lich fliegende Vögel mit Zähnen in richtigen Alveolen und mit bikon- kaven Wirbeln. Die Reste sämtlicher bis jetzt bekannter Kreidevögel lassen sich einteilen in neun Genera und dreißig Species, eine stattliche Reihe, welche in dem oben erwähnten Werke Prof. Marsh’s, und zwar auf grund der Reste von eirca 150 Individuen zur Darstellung gelangt. Letztere liegt der hier folgenden Schilderung im wesentlichen zu grunde. A) Odontolcae. 1) Hesperornis. Die Skeletteile von Hesperornis regalis sind, abgesehen von ein Paar Endphalangen der Zehen und von der äußersten Schwanzspitze, in der denkbar vollkommensten Weise erhalten, ja die einzelnen, häufig noch in ihrer natürlichen Lage befindlichen Knospen erscheinen so frisch, als wären sie einem eben erst getöteten Tiere entnommen. Das Yale College besitzt im ganzen die Reste von ungefähr 50 Exem- plaren des Hesperornis regalis und indem man so unter den besten Stücken auswählend verfahren kann, gelingt es leicht, das Tier in allen seinen Skeletteilen vollkommen zu rekonstruiren, wie dies denn auch von Prof. Marsh auf Tafel XX seines Werkes geschehen ist. Was zunächst den Schädel betrifft, so ist er lang und schmal, ähnlich demjenigen von Colymbus torgquatus. Die Schnabel- und Gesichtsregion verhält sich in ihrer Ausdehnung zu derjenigen des Craniums wie 2:1. Bei genauerer Untersuchung wird man jedoch gewahr, und das Studium des übrigen Skelets bestätigt dies, dass die oben erwähnte Aehnlichkeit eine rein äußerliche ist, insofern man bald auf wichtige Punkte stößt, welche auf eine Verwandtschaft mit den straußenartigen Vögeln hinweisen. Der Zwischenkiefer, welcher deutliche Spuren eines frühern Horn- schnabels aufweist, war gänzlich zahnlos, dagegen trug der Oberkiefer 14 und der Unterkiefer 33 Zähne. Alle saßen, wie oben schon er- wähnt, in einer fortlaufenden Furche und waren durch kaum merk- liche Knochenleistehen von einander getrennt. In ihrer spitz-kegel- förmigen gekrümmten Form sowie in ihrer feinern Struktur und der Art und Weise ihres Wiederersatzes gleichen sie denjenigen von Rep- tilien, wie vor allem der Mosasaurier. Da sie offenbar durch Band- masse befestigt und so beweglich in den Furchen eingelenkt waren, findet man sie in der Regel aus den letztern herausgefallen. Sehr bemerkenswert ist, dass die beiden Hälften des Zwischen- kiefers, ganz abweichend von den heutigen Vögeln, an ihrem Vorder- ende nicht etwa durch Synostose, sondern, wie z. B. bei Schlangen, nur durch Bandmasse mit einander vereinigt waren. Ein weiterer Reptiliencharakter offenbart sich in dem Offenbleiben der Nähte zwi- schen den einzelnen Knochenterritorien des Unterkiefers. Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. 665 Das Gehirn des Hesperornis war viel reptilienähnlicher als dasjenige irgend eines heutigen Vogels und vergleicht man damit z. B. dasjenige des Colymbus, so erstaunt man namentlich über die Größenunterschiede der Hemisphären. Diese besitzen nämlich bei Colymbus wol den dreifachen Umfang, sind viel stärker gewölbt und mehr in die Breite entwickelt. Bei Hesperornis dagegen gleichen sie in ihrer schlanken Form am meisten denjenigen des Alligators und damit stimmen auch die großen, durch zwei getrennte Oeffüungen hindurchpassirenden Riechnerven überein. Dazu kommt weiter noch das massige, von den Hemisphären kaum überlagerte Zwischenhirn, sowie die kräftigen Sehnerven und das große Cerebellum. Hierin liegt eine gewisse Parallele zu dem von mir in meinem ersten Aufsatz beschriebenen Verhältniss des Gehirns tertiärer Säuge- tiere und ich will nicht versäumen, bei dieser Gelegenheit daran zu erinnern. In merkwürdigem Kontrast zu den eben geschilderten Reptilien- charakteren steht die Wirbelsäule des Hesperornis, insofern ihr prä- sakraler Abschnitt ganz nach dem Typus der heutigen Vögel gebildet ist. Der lange und schlanke Hals bestand aus 17, der übrige, prä- sakrale Teil dagegen nur aus sechs Wirbeln. Die letzten drei Hals- wirbel trugen freie Rippen und erst das am 18. Wirbel eingelenkte Rippenpaar verband sich mit dem Brustbein und zwar mittels soge- nannter Sternalstücke. Im Sacrum finden sich 14, synostotisch verbundene Wirbel, und da auf den Caudalteil 12 entfallen, so resultirt daraus die Gesamt- summe von 49 Wirbeln, eine sehr hohe, und von wenigen Vögel der Neuzeit erreichte Zahl. Auch im Schwanzteil kam es zu teilweiser Verwachsung einzelner Wirbel. Von großem Interesse ist der Schultergürtel, welcher von dem- jenigen der heutigen Wasservögel ebenso bedeutend abweicht, als er sich andererseits, wie vor allem durch die Lagebeziehungen des Cora- coids zur Scapula, demjenigen der straußenartigen Vögel und der Dinosaurier nähert. Dass er in allen seinen Teilen, im Gegensatz zu dem mächtigen Beckengürtel, eine gewisse Zartheit der Formen besitzt, kann nicht befremden, wenn man erwägt, dass die freie Ex- tremität, also das Flugorgan, in einer so starken regressiven Metamor- phose begriffen ist, dass diese in ihrem centripetalen Fortschreiten nicht ohne Wirkung auf denselben geblieben sein konnte. Die zarten, nach vorne und abwärts nicht verwachsenen Schlüs- selbeine weisen auf gewisse Embryonalstadien desselben Knochens bei heutigen Vögeln, fast noch mehr aber auf den Sauriertypus zu- rück. Von einer eigentlichen Fureula kann man somit noch gar nicht sprechen. Das dünne und schwach gebaute Brustbein besitzt seitlich vier, bei Hesperornis crassipes dagegen fünf Gelenkfacetten zur Aufnahme 666 Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. von ebenso vielen Rippen. Von einem Brustbeinkiel ist nichts zu er- kennen. Die ganze freie Vorderextremität des Hesperornis ist einzig und allein durch den dünnen 150 mm langen Humerus repräsentirt. Alle übrigen Knochen sind entweder gänzlich geschwunden oder es finden sich nur noch minimale, ursprüng- lich wol durch Knorpel und Bandmasse verbundene Stückchen, welche sich einer sichern Beurteilung entziehen. Die Rippen stimmen im wesentlichen mit denjenigen der heuti- gen Vögel überein. Es waren neun Paare vorhanden, von denen wir die drei vordersten bereits als Halsrippen kennen gelernt haben. Vier Paare erreichten direkt das Brustbein, die letzten zwei aber nur indirekt, indem ihre sternalen Abschnitte, wie dies auch bei vielen jetzigen Vögeln vorkommt, durch Knorpel mit ihren vordern Nachbarn verbunden waren. Die meisten Rippen waren mit wol entwickelten, mit je einer Pars vertebralis costarum gelenkig verbundenen Processus uncinati versehen. Werfen wir nun einen Blick auf den mächtigen Beckengürtel von Hesperornis. Alle drei Knochen, Iium, Ischium und Pubis sind wie bei den heutigen Vögeln zu einer einzigen festen Masse zusam- mengeflossen. Obgleich in seinen allgemeinen Umrissen, wie nament- lich durch seine Länge und Schmalheit an dasjenige von Podiceps und anderer Tauchvögel erinnernd, vereinigt das Becken des Hesper- ornis dennoch mehr Reptiliencharaktere, als dies bei irgend einem re- zenten Vogel der Fall ist. Es stimmt in letzterer Beziehung am mei- mit demjenigen von Dromaeus (Emu) und Tinamus überein. Die Innenfläche der Hüftgelenkspfanne ist wie bei Krokodiliern durch Knochenmasse geschlossen und letztere war von einem mäßig großen Loch durchbohrt. Das lange und schlanke Ischium läuft direkt nach hinten und liegt dabei mit seinem obern Rand parallel der Längsachse des Iliums. Aehnlich verhält sich auch das Pubis und jeder dieser Knochen ist vom Acetabulum an nach hinten zu vollkommen frei. Unterhalb des Loches im Acetabulum läuft das Pubis in eine starke Knochenleiste aus und tritt nach vorne von dieser Stelle in Form eines abgerundeten Fortsatzes wieder zu Tage. Auf diesen Fortsatz (processus ilio-peeti- neus der Autoren), welcher sich bei den Struthionen, sowie bei Geococeyx und Tinamus in noch besserer Ausprägung findet, habe ich schon in meinem ersten Aufsatz hingewiesen und dort seine Homologie mit dem „vordern Schambein“ der Dinosaurier aus- drücklieh betont. Weiterhin habe ich damals erörtert, wie in diesem Fortsatz das Homologon des Reptilienschambeins zu erblicken sei, von dem sich also die letzten schwachen Spuren bis auf gewisse Vö- gel der Jetztzeit vererbt haben. Eine ganz besondere Beachtung verdient der Schwanz des Hesperornis. Er besteht, wie oben erwähnt, aus zwölf starkknochigen Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel, - 667 Wirbeln, eine große Zahl, die, vielleicht abgesehen von der nahezu ausgestorbenen Alea impennis bei keinem jetzigen Vogel mehr zur Beobachtung kommt. Die mittlern und hintern Schwanzwirbel besitzen sehr lange, horizontal abstehende Querfortsätze und diese lassen mit Sieherheit darauf schließen, dass der an seinem Hinterende vermutlich einst mit steifen Steuerfedern versehene Schwanz nicht sowol in der seitlichen, als vielmehr in der vertikalen Richtung bewegt und dabei als ein Unterstützungsmittel beim Tauchen und Steuern benützt wurde. In der Art und Weise seiner Fortbewegung war der Hesperornis einzig und allein auf seine gewaltigen Hinterextremitäten angewiesen und daraus erhellt zugleich, dass er als ein reiner Tauch- und Was- servogel durchaus auf das feuchte Element beschränkt war. Nur während des Brütgeschäftes mag er das Ufer, d. h. jene Inseln be- treten haben, welche sich damals an Stelle des heutigen Felsenge- birges aus dem Kreidemeer erhoben. Man kann sich leicht vorstellen, mit welcher Kraft und Schnelligkeit der Körper durch den Rückstoß der mächtigen, nach Art von Rudern wirkenden, zwischen den Zehen unzweifelhaft mit Schwimmhäuten versehenen Hinterextremitäten vor- wärts getrieben werden musste. In manchen Beziehungen, grade was z. B. die Fortbewegung im Wasser betrifft, kommt das Genus Podiceps dem Hesperornis sehr nahe, gleichwol aber zeigt letzterer im Aufbau der Hinterextremi- täten ein primitiveres Verhalten, als irgend ein jetziger Tauchvogel. Der Oberschenkel, einer der charakteristischsten Knochen von Hesper- ornis, ist auffallend kurz und gedrungen. Er ist ausgezeichnet durch einen starken Gelenkkopf, einen kurzen Hals und kräftige Muskel- leisten. So wenig als irgend ein anderer Knochen besitzt er pneu- matische Oeffnungen, wol aber eine geräumige Markhöhle. Er steht durch zwei starke Condylen in Gelenkverbindung mit der Tibia, welche letztere weitaus den größten Knochen des ganzen Skeletes darstellt. Wie der Oberschenkel, so erinnert auch sie am meisten an die gleich- namigen Knochen von Podiceps. An der Vorderfläche ihres etwas aufgetriebenen proximalen Endes findet sich ein weit ausspringender Fortsatz und an diesem ist die starke Patella befestigt. An der Außenfläche der Tibia, und zwar über die obern drei Vierteile ihrer Länge sich erstreckend, saß die schwache Fibula. Der Tarso-Metatarsus weicht von demjenigen der heutigen Tauch- vögel prinzipiell nicht ab. Vier Zehen sind vorhanden, die fünfte fehlt gänzlich, wie dies ja die allgemeine Regel bildet. Beim er- wachsenen Hesperornis sind der zweite, dritte und vierte Metatarsus zu einem mäßig langen, gedrungenen, in der Querachse komprimirten Knochen zusammengeflossen, allein bei vielen Exemplaren bleiben die Trennungsspuren zeitlebens erhalten. Der vierte Metatarsus überragt die andern beiden bedeutend an Größe und er ist es, auf den die 668 Sarasin, Ueber die Sinnesorgane und die Fußdrüse einiger Gastropoden- Last des Körpers vom Femur und der Tibia her im wesentlichen übertragen wird. Indem wir so im Hesperornis-Fuß denjenigen der straußenartigen Vögel vorgebildet sehen, wird man, wie Marsh mit Recht hervor- hebt, unwillkürlich an die allmählichen Umwandlungen erinnert, welche das Fußskelet der tertiären Huftiere vom eocaenen Ephippus an bis zum heutigen Pferd eriahren hat. Die Elemente des Tarsus müssen schon in jugendlicher Zeit beim Hesperornis mit der Tibia resp. mit dem Metatarsus zusammenge- flossen sein, denn es haben sich hiervon nirgends Spuren erhalten. Der fünfte Metatarsus ist mit der Hauptmasse des Tarso-Meta- tarsus nicht synostotisch vereinigt, sondern hat seine Selbständigkeit insofern bewahrt, als er mit der distalen Hälfte des zweiten Meta- tarsus nur durch Knorpel verbunden ist. Der eigentliche Fuß des Hesperornis stimmt bezüglich der Zehen- und Phalangenzahl mit demjenigen des Podiceps vollkommen überein; in den Form- und Proportionsverhältnissen aber ergeben sich nicht unbedeutende Unterschiede. Es sei nur noch erwähnt, dass die End- phalangen mit Korallen bewaffnet waren und dass die erste Zehe wie bei Colymbus vorwärts und einwärts schaute und nicht rückwärts, wie bei der Mehrzahl der heutigen Vögel. (Schluss folgt.) P. B. Sarasin, Ueber die Sinnesorgane und die Fulsdrüse eini- ger Gastropoden. Arbeiten aus dem zool.-zoot. Institut in Würzburg. Bd. VI. Mit 1 Taf. Der durch die treffliche Arbeit „Ueber die Entwicklung der Bythinia tentaculata“ und das darin aufgestellte sogenannte Torsions- gesetz bekannt gewordene Forscher teilt uns in dem vorliegenden Aufsatz die Ergebnisse seiner mikroskopischen Untersuchungen über die Tentakeln, die Mundlappen mit dem Semper’schen Organ und das Ganglion olfaetorium einiger Gastropoden mit. Wir begegnen in der Schrift manchen neuen und interessanten Angaben, die noch da- durch an Wert gewinnen, dass sie, z. B. im ersten Kapitel, geschickt zu Vergleichungen zwischen Basommatophoren und Stylommatophoren benutzt worden sind. Verfasser bestätigt zunächst die Angaben Flemming’s über die Tentakeln der Landpulmonaten, so vor allem, „dass der Fühlernerv in einem Kolben von Fasersubstanz endigt, der nach außen von einer dieken Ganglienzellenschicht umkleidet ist. Vom Nervenkolben laufen zahlreiche Aeste in diese Sehieht oder dieses Stratum, deren jeder in einem kleinen rundlichen Lager von Ganglienzellen endigt. Diese einzelnen Ganglienzellenkölbehen liegen dieht aneinander und geben a, Sarasin, Ueber die Sinnesorgane und die Fußdrüse einiger Gastropoden. 6659 auf Schnitten bei nicht sehr starker Vergrößerung das Bild eines zu- sammenhängenden Ganglions.“ Die Frage nach dem Vorhandensein eines Nervenknotens in den Tentakeln der Basommatophoren, welcher demjenigen der Stylommatophoren gleichzustellen sei, wurde von Flemming verneint, seine Existenz indess durch eine kurz darauf erscheinde Arbeit von de Lacaze Duthiers für Physa und Planorbis höchst wahrscheinlich gemacht und nun von Sarasin durch Präpa- rate und Zeichnungen bewiesen. Weit deutlicher als bei alten aus- gewachsenen Tieren zeigt sich das in Rede stehende Ganglion nahe der Tentakelbasis bei ganz jungen Basommatophoren, da hier die muskulösen, bindegewebigen und drüsigen Elemente weit weniger in den Vordergrund treten als bei alten Tieren. Skizzirt sind die Fühler- nervenknoten von einem jungen Planorbis marginatus und von Physa Fontinalis, außerdem aber auch mit aller wünschenswerten Deutlich- keit aufgefunden bei Limnaea stagnalis, L. peregra, Planorbis corneus, P. marginatus, P. vortex, Ancylus fluviatilis und A. lacustris. Das Fühlerganglion dieser Süßwasserpulmonaten unterscheidet sich von demjenigen der Heliceen nur dadurch, dass der Faserknoten mit seinem Zellenbelag fehlt und der Nerv nackt ins Ganglion eintritt. Will man nun Basommatophoren- und Stylommatophorenfühler als Ganzes miteinander vergleichen, so müssen wir die basale, das Fühler- ganglion bergende Platte der Süßwasserpulmonaten der Tentakelspitze der Heliceen gleichstellen. Bei den Basommatophoren wäre dann der übrige Tentakelteil, der nur unerheblich bei Zimnaea, in langer Geißel- form aber bei Planorbis auftritt, als ein Anhang zu betrachten, der bei Stylommatophoren sein Analogon nicht fände. Der basale Teil des Basommatophorenfühlers zusammen mit dem Auge dürfte sich dem obern Stylommatophorenfühler vergleichen lassen. Das untere Fühler- paar der Stylommatophoren würde dann den Wasserpulmonaten fehlen.“ Die auf ähnliche Verhältnisse hin untersuchten Prosobranchier Paludina vivipara, Valvata piscinalis, Bythinia tentaculata und Neritina fluviatilis ergaben nur negative Resultate. Im Jahre 1857 beschrieb Semper bei Lömax, Helix, Arion und Limnaea ein nervenreiches, um den Mund herum gelegenes Organ, das aus einzelnen Läppchen besteht und als Sinnesorgan von unbe- kannter Bedeutung angesprochen wurde. Je das hinterste der beider- seitigen Läppchen soll besonders groß sein und durch einen Nerven- ast, von welchem der untere Fühlernerv sich abzweigt, direkt vom Gehirn innervirt werden. Später haben noch v. Leydig, Simroth und Sochaczewer dieses Organ besprochen, ohne indess ein ab- schließendes Urteil zu fällen. Die bis jetzt vom Semper’schen Or- gan gegebenen Abbildungen leiden alle mehr oder weniger an einer gewissen Unklarheit, die allerdings dadurch bedingt wird, dass es in normaler Lage von außen nur teilweise sichtbar ist. Durch Ab- töten der betreffenden Pulmonaten in verdünnter Chromsäurelösung 670 Sarasin, Ueber die Sinnesorgane und die Fußdrüse einiger Gastropoden. gelang es jedoch Sarasin, Präparate zu erhalten, bei denen die „Schnauze“ und mit ihr das Semper’sche Organ nach außen gestülpt war und seine Figuren (6 und 7) geben uns eine deutliche Vorstellung von dem Habitus desselben. Zu beiden Seiten des Mundes wird es abgeschlossen durch die großen „Mundlappen“, während kleinere Läppehen kranzförmig dessen Oberrand umgeben. Diese ganze Partie ist nun nicht nur stark innervirt, sondern in jedem einzelnen Teile lassen sich Ganglienanschwellungen unterscheiden, die in den Mund- lappen ihre stärkste Ausbildung erreichen. Die Nervenelemente des Semper’schen Organs liegen unmittelbar unter der Epidermis. In den beiden Seitenlappen bilden sie eine zu- sammenhängende Schicht, in den kleinern vordern kranzförmigen da- gegen nur unzusammenhängende Knoten, die durch einen verzweigten Nervenast mit dem zum Mundlappen führenden Hauptstamm zusam- menhängen. Dieser gibt in seinem hintern Teil noch den Ast für den untern Fühler ab. Ebenso leicht wie bei den Heliceen gelang der Nachweis des Mundlappenganglions bei Süßwasserpulmonaten, wogegen wiederum den Prosobranchiern ein Organ vollständig fehlte, das auch nur ent- ferınt mit dem Semper’schen der Heliceen zu vergleichen gewesen wäre. Ob beiihnen Tentakel- und Mundganglion, wie Sarasin meint, vielleicht im Gehirne selbst zu suchen sein dürften, muss dahin ge- stellt bleiben. Ein von Lacaze-Duthiers aufgefundenes merkwürdiges Sinnes- organ, ein Ganglienknoten, der bei den Prosobranchiern mit dem Supraintestinalganglion, bei den rechts gewundenen Süßwasserpulmo- naten mit dem rechten, bei den links gewundenen mit dem linken Viszeralganglion in Verbindung steht, nennt Spengel Ganglion ol- factorium, weil ‘es immer zu beginn der Atemhöhle liegt. Da dieses Organ bei Landpulmonaten bisher noch nicht nachgewiesen war, so wurden eine ganze Reihe verschiedener Arten, Helix pomatia, H. ne- moralis, H. incarnata, H. personata, Buliminus detritus, Stenogyra decollata, Hyalina cellaria, Cionella acicula, Succinea putris (amphibia) und Limax cinereoniger daraufhin untersucht; es wurde indess einzig und allein bei Helix personata entdeckt, und auch hier nur in ganz rudimentärer Ausbildung. Den Angaben über die besprochenen drei Sinnesorgane folgen noch einige kurze Bemerkungen über die Fußdrüße der Stylommato- phoren, der Basommatophoren, der Prosobranchier und der Opistho- branchier, aus denen hervorgeht, dass eine Fußdrüse fast allen Gastro- poden zukommt und es ist die Vermutung nicht ausgeschlossen, dass sie ein der Byssusdrüse der Muscheln homologes Gebilde ist. — „Zum Schlusse möchte ich darauf hinweisen, dass das fast allgemeine Vor- kommen des Ganglion olfactorium, wie schon Spengel hervorhob, und der Fußdrüse eine enge Verwandtschaft sämtlicher Gastropoden Chatin, Geruchsstäbehen der Fühler von Vanessa Jo. yal mehr als wahrscheinlich macht und ferner, dass durch den gemein- samen Besitz nicht nur die Fußdrüse, sondern auch der Tentakel- und Mundlappenganglien die Basommatophoren und Stylommatophoren sich aufs engste einander anschließen. Endlich lehrt das beschränkte Auftreten der Tentakel- und Mundlappenganglien gegenüber dem all- gemeinen Auftreten der Fußdrüse, dass scheinbar untergeordnete Or- gane, wie die letztere, für allgemeine Verwandtschaftsbeziehungen oft gleichen oder gar höhern Wert haben können, als Teile des Nerven- systems, denen ein solcher Wert häufig in erster Linie zuerkannt wird.“ C. B. Chatin, Geruchsstäbcehen der Fühler vom Vanesso Jo. In einer der Pariser Akademie der Wissenschaften am 17. September d. J. überreichten Notiz bespricht Chatin eingehend die Geruchsstäbehen der Fühler von Vanessa Jo. Dieselben stehen in kleinen einfachen oder vielfäche- rigen Geruchsgrübchen, welche sich auf jedem Gliede finden, und bilden so die keulenförmige Verdickung am Ende des Fühlers. Jedes der durchschnitt- lich 0,036 mm tiefen Grübchen Öffnet sich nach außen durch eine sehr kleine Oeffnung, deren Durchmesser nie mehr als 0,015 mm beträgt; dieselbe öffnet sich übrigens nicht aus freien Stücken, der Zugang zum Grübcehen ist nämlich mehr oder weniger durch Erhöhungen der Oberhaut verdeckt, welche, wenn sie sich nähern und gegen einander krümmen, die Oeffnung des Grübchens zu- weilen ganz verdecken, so dass dieselbe von einer Membran verschlossen zu sein scheint. Dio Stäbehen selbst lassen sich als Oberhautzellen betrachten, welche zu einer bestimmten Funktion umgeformt sind; ihr relativ bedeutendes Volumen beträgt im Mittel 0,040 Millimeter. H. Behrens (Halle). Die neue biologische Station in Edinburg. Gelegentlich der letzten Fischereiausstellung in Edinburg beschloss das Komitee derselben, den Ueberschuss der meteorologischen Gesellschaft zu Un- tersuchungen im Interesse des Fischereibetriebes zu übermitteln, mit der Auf- forderung eine zoologische Station zu errichten. Nach vielen Beratungen der dafür eingesetzten Kommission kam man zu der Ueberzeugung, dass in Gran- ton bei Edinburg der beste Ort zur Anlage einer solchen sei. Der Plan dort zur Errichtung einer Station ans Werk zu gehen, gewann dann zuerst be- stimmte Form, als ein Herr, der ungenannt bleiben will, sich erbot, dort ein schwimmendes Laboratorium anzulegen, jedoch auf die Vorzüge eines festen Instituts aufmerksam gemacht, sich erbot, zu den Kosten eines solchen 1000 Pfund Sterling beizutragen. So ist man denn jetzt entschlossen, einmal eine wissenschaftliche Erforschung und Beschreibung des Firth of Forth und der benachbarten Seeteile vorzunehmen, sodann eine stattliche biologische Station zu errichten, zu der bereits die nötigen baulichen Anlagen hergestellt werden, Die hierher gehörigen Untersuchungen sollen an verschiedenen Stellen des Meerbusens an Fischen und niedern Seetieren, die sich an abgeschlossenen 572 Anzeigen. Stellen oder an verankerten Aesten befinden, ausgeführt werden; außerdem soll ein schwimmendes Laboratorium angefertigt werden, das im Sommer an den verschiedensten Stellen des Firth verankert und benutzt werden kann. Endlich soll die Anstalt noch mit einem Dampfboote zum Fang der Fische und niedern Tiere und zu hydrographischen Beobachtungen ausgestattet werden. H. Behrens (Halle). In meinem Verlage ist soeben erschienen: Elemente der wissenschaftlichen Botanik. 1. Elemente der Organographie, Systematik und Biologie der Pflanzen. Mit einem Anhang: Die historische Entwicklung der Pflanzen. Von Dr. JULIUS WIESNER, o. 6. Professor der Anatomie und Physiologie der Pflanzen und Direktor der pflanzen- physiologischen Instltuts an der k. k. Wiener Universität, wirkl. Mitglied der kaiser]. Akademie der Wissenschaften etc, Mit 269 Holzschnitten. Preis fl 6=M. 10. Früher erschien: I. Elemente der Anatomie und Physiologie der Pflanzen. Mit 101 Holzschnitten. Preis fl. 360 = M. 7. Der hervorragende Botaniker und Universitätslehrer hat mit diesem wichtigen Werke ein „Compendium der Botanik‘ geschaffen, in welchem er aus dem unendlichen Schatze des botanischen Wissens alles dasjenige heraushebt, was von fundamentaler Bedeutung ist. Unentbehrlich für Universitätshörer, Lehramtskandidaten u. s. w. ist es durch klare, einfache Darstellung besonders geeignet, den Freund der Botanik in diese Wissenschaft tiefer einzuführen. Jeder Band bildet ein sich abgeschlossenes Ganzes und wird einzeln abgegeben. Wien, October 1883. Alfred Hölder, k. k. Hof- und Universitäts - Buchhändler. Verlag von Breitkopf & Härtel in Leipzig. Soeben erschien: Bericht über die Verhandlungen der gynäkologischen Sektion auf der 56. Versammlung deutscher Naturforscher und’ Aerzte. am 18.—20. September 1883 in Freiburg i. Br. 32 Seiten 8. geh. Preis 1 Mk. (Separat-Abdruck aus dem Centralblatt für Gynäkologie.) Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. = Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Bioloeisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr.E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. x 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. I. Band. 3 15. Januar 18$4. Nr. 22. Inhalt: Zopf, Ueber einen neuen Schleimpilz im Schweinekörper, Haplococcus reti- culatus Zopf (mit Abbildungen). — Flemming, Bauverhältnisse, Befruch- tung und erste Teilung der tierischen Eizelle. Zweiter Teil. — Wieders- heim, Die Stammesentwicklung der Vögel. (Schluss). — Lendenfeld, Ueber Cölenteraten der Südsee. II. Neue Aplysinidae. — Metschnikoff, Zur Em- bryologie von Planaria polychroa. — Albrecht, Ueber die 4 Zwischen- kieferknochen, die Hasenscharte und die morphologische Bedeutung der obern Schneidezähne des Menschen. Ein merkwürdiger Idiotenschädel. Ueber einen neuen Schleimpilz im Schweinekörper, Haplococcus reticulatus Zopf. Dureh einige Pathologen ist der beachtenswerte Nachweis ge- liefert worden, dass sich im menschlichen sowol alsim tierischen Körper Organismen ansiedeln können, welche den Charakter von Ent- wieklungsformen der Schleimpilze (Mycetozoen) und zwar der niederen Schleimpilze (Monadinen) tragen, und teils in Form von Amöben, teils in Gestalt von begeißelten Schwärmern vorkommen. Der erste, der in dieser Riehtung Beobachtungen veröffentlichte, war meines Wissens Lambl!). Im Darm eines zweijährigen Kindes fand er in Menge eine Amöbenform von sehr geringem (4,5—6,2 u betragenden) Durchmesser, welche spitze in beständiger undulirender Bewegung begriffene Pseudopodien entwickelte. Später beobachtete J. Lösch?) im Diekdarm und in den Stühlen eines an mehrmonatlicher heftiger Darmentzündung erkrankten und daher an starker Diarrhöe leidenden Mannes massenhafte Entwicklung einer andern Amöbenform (Amoeba coli Lösch). Ihr mit einem deutlichen Kern und ein bis mehreren Vakuolen versehener Plasma- körper trieb gleichfalls Pseudopodien, aber in sehr geringer Zahl und von kurzer stumpfer Gestalt. Bezüglich ihrer Größe übetraf sie die Lambl’sche Amöbe bedeutend, denn ihre rundlichen Formen maßen A) Berichte aus dem Franz Josefkinderspital in Prag I. S. 362. 2) Massenhafte Entwicklung von Amöben im Diekdarm. Virchows Archiv Bd. 65 (1875) Heft II S. 196 ff. 45 674 Zopf, Ueber einen neuen Schleimpilz im Schweinekörper. 20-—30, höchstens 35 #, mehr gestreckte bis 60 u. Ihre Ingesta be- standen in weißen und roten Blutkörperchen, Kernen zerfallener Darm- epithelien, Stärkekörnchen, Spaltpilzen etc. Nach den Experimenten von Lösch kann es wol keinem Zweifel unterliegen, dass die wichtige Frage, ob die Amöben durch ihre mas- senhafte Wvcherung schädliebe Wirkungen ausüben können, bejaht werden muss. Das Stuhlmaterial des Lösch’schen Kranken wurde nämlich per os et anum 3 Hunden injizirt. Bei einem derselben zeigte sich nach 15 Tagen, dass die Amöben sich in größerer Menge entwickelt und einen heftigen Reiz der Schleimhaut des Darmes und zwar des Rectums bewirkt hat- ten, der sich teils in fleekenweiser Rötung, teils Sporangium mit in ungleichmäßiger Anschwellung, teils in Bildung ee von Gesehwüren und endlich in vermehrter Schleim- stellen. absonderung dokumentirte. In jüngster Zeit hat man auch im Tierkörper Organismen auf- gefunden, welche aller Wahrscheinlichkeit nach gleichfalls in den Entwicklungsgang niederer Schleimpilze gehören. Man sah sie in Form von eilienbegabten Schwärmzuständen auftreten und zwar im Blut höherer Tiere, speziell der Nager. Lewis!) entdeckte solche Zustände im Rat- tenblut und Koch?) wies sie 2 Jahre später im Hamsterblut nach. Sie waren hier in großer An- zahl vorhanden. Ihr spindelfömiger Plasmakörper endigte am schmälern Pole in 1—2 Cilien, mittels deren sie sich lebhaft zwischen den Blutkörperchen hin und her bewegten, aalartige Biegungen zeigend. Ob das reichliehe Auftreten dieser Schwärmer in kausaler Beziehung stand zu der mit dem Tode endigenden schweren Erkrankung der Tiere — eine Vermutung, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat — blieb unerwiesen. Ueber die Art und Weise, wie die Schwärmer resp. Amöben sich so zahlreich im Körper vermehren, Jiegen keine besondern Beobach- tungen vor, doch kann es kaum einem Zweifel unterliegen, dass diese reiche Vermehrung die Folge fortgesetzter Zweiteilung ist; für andere niedere Sehleimpilze wenigstens ist die Teilungsfähigkeit der eilien- begabten Schwärmer sowol, als der Amöbenzustände bereits sicher festgestellt worden und zwar teils von mir (z. B. für Schwärmer von 2 Dauerspore mit einem Fetttropfen. 4) Quart. Journ. of mierose. Se. tom XIX (1879). 1) Mitteilungen aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte 1881. 8. 8. Zopf, Ueber einen neuen Schleimpilz im Schweinekörper. 675 Pseudopora und andern Formen) teils von Cienkowskit), Klein?) und Fayod?) (für die Amöben der Nucleuria, Vampyrella und Gut- kulina). An die obigen vier Fälle des Vorkommens von monadinenartigen Organismen im Tier- und Menschenkörper möge hier ein weiterer interessanter Fall angeschlossen werden, der das Auftreten eines typischen monadinenartigen Schleimpilzes im Körper von Schweinen anbetrifft®). Im Oktober 1880 wurden mir von Torgau aus Schweinefleischproben zugesandt, die mit 3 Synchytrium Miescheriauum (den sogenannten Miescher’sehen Sehläuchen) behaftet sein soll- ten. Die Untersuchung ergab indess, dass anstatt dieses Schmarotzers ein ganz anderer Parasit sich in den Maskeln angesiedelt hatte und zwar in soleber Menge, dass jedes kleine Präparat Dutzende von Individuen enthielt. Es konnte festgestellt werden, dass der Parasit den Charakter niederer Schleimpilze an sich trägt, und dass er drei Entwick- lungszustände bildet: eine Amöbenform, Dauerspore von unten eine Sporangienform und eine Dauer- sporenform. Was zunächst die Sporangien betrifft, so stellen dieselben relativ kleine, etwa 16—22 mikr. im Durchmesser haltende, vollkommen oder nahezu kuglige Körper dar. Ihre Membran ist glatt, schwach verdickt und daher deutlich doppelt konturirt, mit Ausnahme von 3 oder mehreren rundlichen Stellen, welche stets unverdiekt bleiben und als flache Papillen ein wenig über den Kontur des Sporangiums vorspringen (Fig. 1 p). Das Sporangium enthält anfangs feinkör- niges Plasma; zur Reifezeit aber tritt in letz- term ein Zerklüftungsprozess ein, der zur Bil- dung von mehreren (etwa 6—15) Plasmapor- tionen führt. Diese, zunächst pflasterstein- artig aneinander gelagert, runden sich später gegeneinander ab, nehmen nun amöboide Be- Dauerspore von oben. x 1) Beiträge zur Kenntniss der Monaden, Max Schulze’s Archiv f. mikr. Anat.l. 2) Vampyrella, ihre Entwicklung und systematische Stellung. Bot. Cen- tralblatt. Bd. X1. 3) Bot. Zeit. 1883. 4) Ich habe hierüber bereits in der Juni-Sitzung des Botanischen Vereins der Prov. Brandenburg 1882 Mittellung gemacht. 45° 676 Zopf, Ueber einen neuen Schleimpilz im Schweinekörper. wegungen an und schlüpfen endlich als Amöben aus der Sporangien- membran aus. Ihre Austrittsstellen entsprechen den oben erwähnten verdünnten und schwach vorgewölbten Membranteilen, die allmählich bis zur völligen Auflösung vergallerten. Die Dauersporen (Fig. 2—4) stellen Kugeln oder Tetraeder (von etwa 25—30 mikr. diam.) mit stark gerundeten Flächen dar. Nach Form und Skulptur lassen sie eine gewisse Aehnlichkeit mit manchen Farn- sporen erkennen. Ihre stark verdiekte und kutikularisirte Membran weist nämlich meistens leistenartige Erhabenheiten auf, die zahlreiche, in ziemlich großer Regelmäßigkeit auftretende polygonale Maschen bilden. Die Spore erscheint in bezug auf die Skulptur dorsiventral gebaut; denn während an der Bauchseite (Fig. 3) nur die Netzform zu finden ist, zeigt die Rückenseite außerdem 3 im Scheitel zusammenstoßende, den Kanten des Tetraeders entsprechende lange und dicke Rippen. Im Inhalt der reifen Spore sieht man meist einen großen fettreichen Tropfen. Die Auskeimung der Sporen bleibt noch zu beobachten, ebenso das weitere Verhalten der Amöben zu ermitteln. Die Ausfüllung dieser Lücke wurde verhindert durch den Umstand, dass sich bald kein Ma- terial mehr beschaffen ließ). Was die systematische Stellung anlangt, so erhellt aus dem beschriebenen Baue, dass der Pilz sich den vampyrellenartigen Monadinen anschließt, wie sie von Cienkowski und Klein cha- rakterisirt wurden. Doch unterscheidet er sich von den übrigen Re- präsentanten der Gruppe nicht nur durch die Bildung von besondern Austrittsöffnungen für die Amöben, sondern auch dadurch, dass die zur Dauersporenbildung bestimmte Amöbe nach ihrer Abrundung nicht erst eine Membran abscheidet, um sich dann innerhalb derselben zur Dauerspore zu kontrahiren, und endlich in der eigenartigen Skulptur. Diese unterscheidenden Merkmale nötigen zu einer Abtrennung von der Gattung Vampyrella und zur Kreirung eines neuen Genus, für das ich den Namen Haplococcus?) vorschlage. Was das Verhalten des Pilzes im Schweinekörper an- betrifft, so ergab die Untersuchung der mir gesandten zwei Fleisch- proben, dass die Sporangien und Dauersporen, von denen die erstern häufiger als die letztern waren, zwischen die Muskelfasern einge- lagert erschienen, entweder einzeln oder zu wenigen bei einander liegend. Außer dem Umstande, dass die Muskelfasern hierdurch teil- weise aus ihrer normalen Lage gebracht, zum Teil zusammengedrückt wurden, habe ich keine auffälligen Einflüsse bemerkt, die der Parasit etwa ausüben könnte; wie denn auch makroskopisch die Fleischstücke, trotzdem der Schmarotzer reichlich vorhanden war, durchaus gesun- des Ansehen zeigten. Nach dem, was ich in Erfahrung bringen 1) Der ursprüngliche Sender verließ bald Deutschland und von andern Fleischbeschauern konnte ich den Parasiten nicht wieder erhalten. 2) anıcs — einfach und x0xx0os —= Kugel. Zopf, Ueber einen neuen Schleimpilz im Schweinekörper. 677 konnte, scheinen auch die Schweine in keinerlei besonderer Weise be- lästigt zu werden, obwol es hierfür noch sicherer Beobachtungen bedarf. Die Angaben, die mir von dem genannten Fleischbeschauer ge- macht worden sind, besagen, dass ein nicht unerheblicher Prozentsatz der von ihm vom Januar bis Oktober 1880 untersuchten Schweine mit Haplococeus behaftet war. Ich lasse dieselben hier folgen: Januar von 100 untersuchten Schweinen 32 mit Hapl. Februar Fl n » 30, ne März ” Ss „ b}) 30 ” p)] April ” 60 „ „ 25 ) ” Mai „ 65 P) ” 34 >) ” Juni „ 64 „ ) 34 ” ” Juli „ 54 „ n 50 ” ” August “79 . n SO) 5036 September „ E16 5 r 12, „ Oktober u b3 „ D) 39, „ 703 „ „ 396 2 ” Man wird sich nach diesen Angaben vielleicht wundern, dass der Parasit nicht auch schon von andern Fleischbeschauern gesehen worden ist. Allein wenn man bedenkt, dass die Sporangien und Dauersporen desselben im Mittel 15mal kleiner sind, als Trichinenkapseln (deren Durchschnittslänge zu 0,55 mm angenommen) und dass die Fleisch- beschauer gewöhnlich bei einer Vergrößerung arbeiten, bei der man die relativ winzigen Haplococeuszustände leicht übersieht, so kann jene negative Tatsache nicht auffallen. Jedenfalls steht nunmehr zu hoffen, dass man den Pilz öfters und auch in andern Gegenden auf- finden wird. Bezüglich der Frage, woher der Schleimpilz stamme, kann wol nichts näher liegen als die Vermutung, dass ihn die Schweine mit der Nahrung aufnehmen, wahrscheimlich besonders mit denjenigen Nahrungsgegenständen, die sie aus Schlamm, Misttümpeln, Gossen und sonstigen Schmutzlokalitäten herauswühlen, denn an diesen Orten ist bekanntlich in der Regel eine reiche Amöbenvegetation vorhanden. Vom Darme aus würde dann der Pilz in die Muskeln und andere Teile einwandern und hier in Sporangien und Dauersporen fruktifiziren. Es lag nahe, jene Schmutzlokalitäten auf die Anwesenheit des Haploeoceus zu untersuchen; allen das Ergebniss war vorläufig ein negatives. Doch habe ich bei dieser Untersuchung gefunden, dass es schlammbewohnende Schleimpilze gibt, die in ihrer Entwicklung dem Haplococeus ziemlich nahe stehen, ja eine Form derselben bildet Dauersporen mit haplococeusartiger netzförmiger Skulptur, die aber in der Größe wesentlich von unserm Mycetozoum abweichen. Weitere Untersuchungen müssen im Auge behalten, ob der Genuss haplococeushaltigen Schweinefleisches etwa auch die Ansiedlung des Schmarotzers im menschlichen Körper zur Folge hat, ferner ob an- 678 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. dere Tiere mit dem Pilze infizirt werden können. Jch selbst habe aus Mangel an Material Experimente in dieser Richtung nicht an- stellen können. Es sei zum Schluss noch gestattet, eine Ansicht auszusprechen, die vielleicht eine Anregung zu weitern Untersuchungen betreffs der Schleimpilzinfektionen zu geben vermag. Von der bekannten Tatsache ausgehend, dass alles Wasser, wel- ches in geringerer oder größerer Menge faulende organische Teile enthält, auch mehr oder minder großen Rejehtum an Amöben besitzt, vermute ich nämlich, dass manche der Tiere, welehe ihre Nahrung im Wasser, namentlich Sumpfwasser suchen, wie Fische, Schwimm- vögel, Sumpfvögel ete., oder in Misttümpeln, Gossen, Schlamm etc., wie die Schweine, Ratten ete. öftere Einwanderungen dieser Organis- men in Darm und Muskeln zu erfahren haben, und dass diese Orga- nismen unter geeigneten Umständen zu starker Vermehrung im Kör- per gelangen dürften. Eine ausgedehntere Untersuchung von Darm und Muskeln ete. jener Tiere, die wol besser von einem Anatomen, als von einem Bo- taniker, oder aber von beiden zugleich auszuführen wäre, würde viel- leicht diese Ansicht bestätigen. Außerdem würde, zur Prüfung der Infektionsfähigkeit der niedern Schleimpilze, das Experiment gehandhabt werden können in Form von Injektionen per os et anum. Amöbenmaterial für solche Zwecke ließe sich dureh Infusionen von faulenden organischen Massen, Schlammaufgüsse ete. ohne große Schwierigkeiten gewinnen. W. Zopf (Halle). Ueber Bauverhältnisse, Befruchtung und erste Teilung der tierischen Eizelle. Von W. Flemming. (Schluss) !). f ln. Die Lehre von der Befruchtung des Tiereies war seit dem Jahre 1875 in eine neue Phase getreten. Bis dahin war zwar das Eindringen von Spermatozoen ins Ei meistens anerkannt, aber eine alsbaldige völlige Auflösung derselben angenommen worden; jetzt wiesen die Arbeiten von 0. Hertwig, H. Fol und Selenka (12, 9, 24) den weitern Verbleib des Samenelements im Ei nach, und zwar in einer ungeahnten Weise. 0. Hertwig fand zunächst am Echini- ı) Bei der Ueberschrift des ersten, in voriger Nummer enthaltenen Ar- tikels ist die [vergessen worden! Berichtigungen am Schluss der Abhandlung. Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. 679 denei, weiter an andern, dass der Kopf (also Kern) der eindringen- den Spermatozoen im Ei zu emem kernähnlichen Körper (Spermakern Hertwig, männlicher Pronucleus F ol) sich umwandelt, dass dieser ge- gen den Kern des Eies rückt, welcher als ein Teilprodukt des alten Kerns bei der Riehtungskörperbildung restirt (Eikern Hertwig, weib- lieher Pronueleus E. van Beneden und Fol), und dass beide ver- schmelzen zu einem Kern, der sich dann bei der ersten Eifurchung teilt. Die direkte Verfolgung des Samenelements bei jener Umwand- lung, welche Hertwig selbst zunächst nieht völlig gelungen war, wurde durch die Arbeiten von Fol und Selenka aufgeklärt, und die besprochenen Prozesse sowie die folgenden Teilungserscheinungen von Fol in vielseitigster und gründlichster Weise weiter geprüft und beschrieben. — Das Hauptergebniss hatte O0. Hertwig bereits in seiner ersten Arbeit (1875) in den Satz zusammengefasst: „dass die Befruchtung auf der Verschmelzung zweier geschlechtlich differenzirter Zellkerne beruht“. Die Wichtigkeit dieses Satzes, der unter dem Namen der Hert- wig’schen Befruchtungstheorie bekannt geworden ist, für die Lehre von der Vererbung springt in die Augen und ist bereits viel- fach gewürdigt worden!): sagt er doch aus, dass das männliche Be- fruchtungselement nicht bloß in aufgelöster Form sich im Ei verteilt, wie man es früher annahm, sondern dass es ein morphologisches Moment mit durch die weibliche Zelle und in den weiblichen Kern hineinträgt. Ich habe seitdem eine Nachuntersuchung der Befruchtungser- scheinungen am Echinidenei vorgenommen (8a, erster Abschn.) nicht weil die Angaben Hertwig’s und Fol’s eine Bestätigung zu brauchen schienen, sondern weil es mir bei Arbeiten über die Kernteilung an diesen Eiern nahe lag, auch von jenem Vorgang eigne Kenntniss zu nehmen. Ich habe hinsichtlich der Befruchtung in allem Wesentlichen das gleiche gefunden, wie vor mir Hertwig und Fol; mit Hilfe einer scharfen Kernfärbung (Schneider’sches Essigkarmin) gelang es mir dabei den Spermatozoenkopf mit besonderer Deutlichkeit im Eikörper zu erkennen, seine Umwandlung zu dem ehromatischen Zen- tralkörperchen des Spermakerns und dessen Zusammenlagerung und Verschmelzung mit dem Eikern zu verfolgen ?). Gegen die Hertwig’sche Befruchtungstheorie ist nun in diesem Jahre?) von A. Schneider in der schon erwähnten Abhandlung eine Opposition erboben worden, welche, wenn sie in allen Teilen 1) S unter and. Balfour (Quart. joum. 1878) Hensen (11, $. 126), sowie in der Literaturbesprechung des Mark’schen Werkes. 2) 8a, Taf. H und Sb Taf. VII Fig. 1—4. 3) Und schon vorläufig in dem Aufsatze: Ueber die Auflösung der Eier und Spermatozoen ete., und: Ueber Befruchtung. Zool. Anzeiger 1880, 12. Jan. und 29. Mai, 680 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. zuträfe, den Grund jener Theorie erschüttern würde. Von einem For- scher kommend, dem wir die erste vollgiltige Entdeekung der Karyo- kinese und viele Aufschlüsse über die Fragen der Zeugung verdan- ken, und gestützt auf eindringende lange Arbeit an Eiern von sieben Wurmarten und mehrern Echinodermen, hat dieser Einspruch ein Recht auf die vollste Aufmerksamkeit. Eine Erörterung über die Ge- samtheit von Schneider’s jetzigen Befunden und Argumenten kann nach meiner Meinung erst fruchtbar sein, wenn noch viele Arbeit und Nachprüfung hinzugekommen sein wird; aber es scheint mir richtig, schon jetzt wenigstens einige Punkte zu diskutiren, die man auch nach dem schon vorliegenden Material beurteilen kann. Und einer davon ist von eingreifender Bedeutung für die Hauptfrage. Schneider’s Meinung über den Befruchtungsvorgang ist in kur- zem diese: die Strahlensysteme, die im Eikörper um den weiblichen Pronucleus und am Spermakern auftreten, sollen nieht sowol Anord- nungen in der Zellsubstanz des Eies sein, als vielmehr Ausstrahlungen von Substanz des Kerns und zwar des Eikerns. Schneider, wie schon oben bei Besprechung der Richtungskörperbildung erwähnt ward, spricht dem Kern (Keimbläschen) des Eies „amöboides“ Bewegungs- vermögen zu, womit er einer frühern Ansicht Brandt’s (5) beitritt, und betrachtet die Radien im Ei also gleichsam als von seinem Kern ausgestrahlte Pseudopodien. „Ein Spermakern“ soll nach Schneider nicht existiren; er gibt zwar das von Hertwig, Fol, Selenka und mir beschriebene Eindringen des Spermatozoon in das Ei zu!), nimmt jedoch an, dass es dann sich auflöse, oder, wie es an einer andern Stelle ausgedrückt wird „das Ei rhizopodenartig durchdringe“ (S. 80), und dass der „Spermakern“, dessen Auftreten Schneider selbst oft beobachtet hat (S. 49), kein direktes morphologisches Derivat des Spermatozoons sei. Die Entstehung des „Spermakerns“ beschreibt er (S. 47) in der Art, „dass von einem exzentrischen Punkt im Ei Strahlen (von einer matt roten Farbe) auftreten; der Mittelpunkt die- ses neuen Systems bilde bald einen hellrötlichen runden Raum von derselben Größe, wie der Rest des Eikerns (weiblicher Pronucleus, Eikern Hertwig’s); gleichzeitig beginnen auch Strahlen sichtbar zu werden, die von dem letztern ausgehen; in eirca 20 °/, der Fälle trete auch die Strahling zuerst an diesem auf. Darauf (S. 48) nähern 1) Schneider lässt allerdings bei Echiniden mehrere Spermatozoen eindringen. Wenn er dabei äußert (S. 48) „es sei bis jetzt kein Beweis er- bracht, dass bei Echiniden normal nur eines einträte“, so ist wol übersehen worden, dass ich (8a, S. 16 ff.) diesen Beweis mit Hilfe der Schneider’schen issigkarminfärbung ganz strikt geführt und zugleich gezeigt habe, wie ab- normer Weise — d. h. an Eiern, die sich nachher nicht normal teilen und entwickeln — auch mehrere bis viele Spermatozoen eintreten können; was übrigens nur eine speziellere Bestätigung für Fol’s Angaben war. Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u erste Teilung d. tierischen Eis. 681 sich die hellen Strahlensonnen, eine Verbindung tritt zwischen ihnen ein und es entsteht die Kernspindel, der Vorläufer der Zweiteilung.“ Das Zentralkörperchen des Spermakerns, das O. Hertwig, Fol, Selenka und ich gesehen und beschrieben haben, hat Schnei- der, bei speziell darauf gerichteter Untersuchung an Sphärechinus microtuberculatus, nicht konstatiren können. Hierin liegt der Hauptpunkt der ganzen Differenz. Denn der helle Hof oder Fleck des Spermakerns, den auch Schneider aner- kennt, braucht kein Produkt des Spermatozoons zu sein, was auch von uns andern nicht behauptet ist!); und die Radien am Sperma- kern?) hat wol noch niemand für dem Samenelement selbst zugehörig gehalten. Aber das Zentralkörperchen ist nach unsern Befunden nichts anderes, als der in der Form sich verwandelnde Spermato- zoenkopf?°). Dies habe ich ausführlich demonstrirt, indem ich mit Hilfe der Fär- bung (Essigkarmin nach Schneider) den Spermatozoenkopf bei seinem Gange im Ei und bei seiner Umwandlung verfolgte*). Kopf und Zentralkörperchen tingiren sich so auffallend und gleichartig, dass ich diese Verfolgung bei dem Verfahren, das ich einschlug, gradezu eine leichte nennen muss. Wenn sie Schneider bei gleicher Tinetion nicht geglückt ist, und wenn er das Zentralkörperchen überhaupt nicht gefunden hat, so kann ieh mir das nur durch die Vermutung erklären, dass er bei seinen betreffenden Arbeiten vielleicht nieht über günsti- ges Licht verfügt, oder das Farbenbild des Beleuchtungsapparates?) nicht benutzt hat. Ich habe also meine Beschreibung, auf die ich verweise, in allen Teilen aufrecht zu halten. Der Aeußerung Schneiders 8. 50: „Welche Täuschungen bei den Arbeiten von Fol, Selenka und Flem- ming vorgefallen, ließe sich nur dann angeben, wenn man die Entstehung unserer Präparate gesehen hätte“ muss ich für meinen Teil entgegen- halten, dass ich über die Art, wie meine Präparate entstanden sind, auf S. 16 a. a.0. ganz genaue Rechenschaft gegeben habe, und dass diese Art sehr einfach ist®). 4) Er bildet sich erst nach und nach. 0. Hertwig selbst hielt ihn für aus dem Ei angesammeltes Plasma; ich habe das gleiche möglich gelassen, aber darauf hingewiesen, dass auch der Schwanz und Halsteil des Spermatozoons an seiner Bildung beteiligt sein können (a. a. 0. 8. 17). 2) Nach meinem Befund treten sie nicht rings um diesen, sondern ein- seitig auf. 3) Selenka wich nur darin ab, dass er es aus dem Halsteil hervorgehen ließ. 4)722783.0.75. 16.8, Taf... 5) Ich finde bei Schneider a. a. O. nicht angegeben, ob derselbe zur Ver- wendung kam. 6) Und man pflegt doch nicht vorauszusetzen, dass ein Naturforscher seine Präparate anders gemacht hat, als er es selbst angibt. 682 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. Schneider spricht weiter aus: auch wenn unsere Bilder nicht auf Täuschungen beruhten, so bewiesen sie nicht das was sie sollten: denn wenn sich (unserm Spermakern entsprechend) an einer Stelle des Eies plötzlich eine Strahlung und an ihrem Zentrum ein heller Fleck bilde, so liege es doch am nächsten anzunehmen, dass diese Strahlen ganz derselben Natur seien wie die ursprünglich vom Eikern ausgeschiedenen, dass also das neue Strahlensystem und sein helles Zentrum ein Teil des Eikerns sei. Darauf ist aber zu entgegnen, dass es sich hier nicht um die Strahlen und den hellen Fleck handelt, sondern um das Zentralkörperchen, dessen Existenz und leichte De- monstrirbarkeit ich behaupte, dessen Hervorgehen aus dem Sperma- tozoenkopf und dessen Vereinigung mit dem Eikern ich durch Ver- gleich einer großen Menge von Bildern verfolgt habe. Ueber die übrigen Objekte Schneider’s darf ich mir kein eignes Urteil gestatten; eines derselben (Ascaris megalocephalus) ist kürzlich von Nussbaum (17) untersucht worden, mit dem Ergebniss, dass Schneider’s Beobachtungen daran naturgetreu sind, aber keine ab- geschlossene Reihe bilden; Nussbaum gelang der Nachweis, dass auch hier ein männlicher Pronueleus existirt und sich mit dem weib- lichen Konjugirt. Nach alledem halte ich an dem Satz fest, den ich damals als allgemeines Ergebniss hinstellte: Esvereinigtsichim Furehungs- kern (Konjugationskern) das Chromatin (die Nucleinkörper) sowol eines männlichen als eines weiblichen Kerngebil- des (8a, S. 34). — Denn dass der Spermatozoenkopf, zum wenigsten bei einer Tierart (Sulamandra), fast ganz aus verdichteter chromati- scher Kernsubstanz besteht, habe ich im voraufgehenden Teil der ge- nannten Arbeit, der von der Entwicklung der Spermatozoen handelt, hinreichend gezeigt. Jener Satz, obwol die ihm zu grunde liegenden Befunde durchaus Bestätigungen derer von OÖ. Hertwig und H. Fol sind!), ist nun allerdings niebt ganz identisch mit der These Hertwig’s: „Die Be- fruchtung beruht auf der Verschmelzung von geschlecht- lich differenzirten Zellkernen“ — welche These von Stras- burger dann auch auf botanisches Gebiet übertragen worden ist (25). Man hat grade heute Anlass sich hierüber zu äußern, da kürzlich auch von Pringsheim (19a) ein Einspruch gegen die Hertwig’sche These erhoben worden ist, den ich zum guten Teil als völlig be- gründet anerkennen muss. Zunächst ist in jener These mit den Wor- ten „beruht auf“ wol etwas mehr gesagt, als sich heute vertreten lässt. Denn das Spermatozoon bringt außer dem Kern (Kopf) auch Zellsubstanz (Schwanz und Mittelstück) mit ins Ei und lässt auch sie 4) Für wenige Abweichungen, die aber das Wesen der Sache nicht be- rühren, verweise ich auf 8. 17—19, und 35 Absatz 4 derselben Arbeit. Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis 685 o° ’ o möglicherweise in ihm aufgehen, und es lässt sich nieht ausschließen, dass die Befruchtung zugleich hierauf mitberuhen kann. Sodann hebt Pringsheim hervor, dass der ins Ei dringende Samenkörper oder sein Kopf, sowie das aus dem Pollenschlauch oder Befruchtungsschlauch von Achlya austretende Plasmagebilde, nicht identisch gesetzt werden könne mit einem gewöhnlichen Zellkern, und ebenso wenig der im Ei zurückbleibende Rest des Kerns (Keimbläschen) mit einem solchen identisch seit). \ Es ist durchaus zugegeben, dass ein Spermatozoenkopf, sowie sein Derivat, der männliche Pronueleus, kein gewöhnlicher Zellkern wie alle andern ist; und ebenso, dass der weibliche Pronucleus, wenn auch aus einem indirekten Kernteilungsprozess (Richtungskörperbil- dung) entstanden, doch besondere Eigenschaften vor andern Zellkernen voraushaben kann, und wird. Wie das Ei und die Samenzelle ohne Zweifel Zellen ganz besonderer Art sind, so kann man das auch von ihren Kernen gelten lassen. Diese Besonderheit hat aber auch O. Hertwig wol offenbar in seiner These durch die Worte „geschlechtlich differenzirte Zell- kerne“ mit ausdrücken wollen, und es handelt sich, wie mir scheint, nur um die Frage ob diese Worte hinreichend bezeichnend sind. Pringsheim will aus den erwähnten Gründen den beiden Dingen, die sich vereinigen, nicht den Namen von Zellkernen zugestehen, und gewiss insofern mit gutem Grund, als das Wort dazu verleiten "könnte, diese Dinge für Kerne zu halten, welche von denen anderer Zellenarten in nichts verschieden wären. Da aber dies wol Niemand tun wird, der über die Befruchtung und ihre Folgen näher orientirt ist und näher nachdenkt, so scheint mir jene Bezeichnung nicht allzu gefährlich, und andererseits dadurch empfohlen zu sein, dass die „Ei- kerne und Spermakerne“ jedenfalls sehr wichtige Eigenschaften mit andern Kernen teilen. Wir wissen zwar bekanntlich noch nicht sicher zu sagen, was ein Zellkern in biologischem Sinne ist; von wesentlichen Charakteren aber für seine Definition kennen wir folgende: 1) den Gehalt an Chro- matin in geformten Strukturen, und die darauf beruhenden, verschie- dentlichen Reaktionen; 2) den Besitz von besonders beschaffenen, ab- gegrenzten, ebenfalls chromatinhaltigen Körpern, den Nucleolen; 4) Pringsheim sagt wörtlich: „nicht identisch mit dem Keimfleck, oder gar mit dem Nucleolus einer vegetativen Zelle“. Ich möchte daran erinnern, dass die Ableitung des Eikerns aus dem Keimfleck (oder was ja dasselbe ist, dem Nucleolus des Eizellenkerns), wie Hertwig solche anfangs versucht hatte, nicht durchzuführen und von ihm selbst aufgegeben ist S. Hertwig, Morph. Jahrb. Bd. III, S. 271—278, und in meiner Arbeit (8a, S. 9—11). Der Eikern oder weibliche Pronucleus ist danach nicht ein Umwandlungsprodukt dus Keim- flecks, sondern entspricht einem Schwesterkern, der bei der Richtungskörper- bildung im Ei zurückblieb, 684 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u erste Teilung d. tierischen Eis. 3) die Abgrenzung gegen die Zellsubstanz durch eine Kernmembran, endlich 4) die Befähigung zur Karyomitose bei der Teilung, zu der allerdings nicht Kerne jedes Zustandes fähig sind. Von diesen Cha- rakteren ist das erste dem männlichen und dem weiblichen Pronucleus eigen; ob das zweite beiden zukommt oder fehlt, wissen wir noch nicht; das dritte gehört dem weiblichen, fehlt dem männlichen, war aber bei dessen Produzenten, dem Samenfadenkopf und seinem Bil- dungskern, als Hülle bezw. Kernmembran vorhanden. Das vierte end- lich kommt dem Vereinigungsprodukt beider Pronuelei, dem Furchungs- kern zu, und wirkte bei der Entstehung des weiblichen (Richtungs- körperbildung), wie des männlichen (Spermatogenese). Es muss anheimstehen, ob man bei dieser Sachlage die Namen Eikern und Spermakern anwenden will oder nicht. Wem das, was sie mit andern Zellkernen gemein haben, wesentlicher erscheint als die Differenzen, wird ersteres tun können; wenn ich selbst so ver- fahren bin, so geschah es allerdings noch besonders wegen der Kürze und Bequemlichkeit der Hertwig’schen Ausdrücke. Bei dauernder Opposition gegen diese bin ich gern bereit, sie durch die noch unverfänglichere Bezeichnung nach van Beneden und Fol: Pro- nucleus masc. und fem., zu ersetzen, obwol deren Länge zu be- klagen ist). Pringsheim hat sich gegen den Ausspruch Strasburger’s gewendet: „dass es überhaupt die gleichwertigen Teile der eopu- lirenden Zellen seien, die sich im Geschleehtsakt vereinigen“ (25, S. 508) und dass hierin das Wesentliche des Zeugungsaktes bestehe; er hebt hervor, „dass das Wesen der Zeugung vielmehr auf einer reziproken Beziehung ungleichartiger und ungleichwertiger Elemente beruhe.“ Ich habe die Hertwig’sche These und jenen Satz Strasburger’s nicht anders verstanden als in dem Sinne, dass sich eben Kern mit Kern (oder unverfänglicher gesprochen, Kern- produkt mit Kernprodukt) vereinigt, und Zellsubstanz mit Zellsubstanz (so weit solche von männlicher Seite mitgebracht wird, was ja bei Tieren — Spermatozomschwanz — nur in geringem Maße der Fall ist); dass also die Vereinigung beider Hauptfaktoren, Zell- und Kern- substanz nicht übers Kreuz erfolgt. Und hieran darf man, nach dem was hier dargelegt ist, für das Tierei wol festhalten. — Dass aber 1) Wenn die Strahlungen um die Pronuclei mit diesen selbst zu 'identifi- ziven wären, so würden die von Pringsheim vorgeschlagenen Namen: Sper- master und Oaster sehr am Orte sein Da ich aber gegen Schneider daran festhalten muss, dass die Radien keineswegs ausgestrahlte Kernsubstanz sind, sondern temporäre Anordnungen in der Zellsubstanz des Eies, welche nur durch die Pronuclei bedingt werden, so konnte ich diese Bezeichnungen nicht für die Pronuclei selbst annehmen, finde sie aber für die zugehörigen Radiensysteme sehr empfehlenswert. Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. 685 die beiden sich conjugirenden Pronuclei und Zellsubstanzen dabei, wie es Pringsheim betont, je unter sich äußerst verschie- dene Dinge sind, das ist gewiss nicht zu bestreiten, wenn man die Folgen, die Vererbungserscheinungen erwägt; doch glaube ich auch nicht, dass Hertwig und Strasburger dies haben bestreiten wollen. Dass die Teilung der befruchteten Eizelle im wesentlichen den Charakter einer Zellteilung hat, war durch die Arbeiten von Bütschli, Fol, OÖ. Hertwig, Strasburger und viele andere schon länger festgestellt und ist wol allgemein bekannt geworden. Weiter ist ge- zeigt worden, dass die Homologie der Vorgänge bis ins Detail geht; indem einerseits die polaren Radiensysteme, die von der Eiteilung bekannt waren, auch bei der von Gewebszellen als typische Erschei- nungen erkannt wurden (E. van Beneden, Flemming), anderer- seits sich ergab, dass auch die Verhältnisse der Kernmetamorphose bei der Eiteilung bis in viel weitere Einzelheiten, als man bis dahin glaubte, mit der Karyokinese anderer Zellen gleichartig sind. Letz- teres habe ich an Echinodermeneiern (8a), dann Henneguy am Forellenei (10, 10a) und Selenka an dem von Thysanozoon (24a) gezeigt. Beim Echinidenei finden sich alle Hauptphasen der ehroma- tischen Kernfigur, wie bei Bindegewebs- oder Epithelzellen des Wir- beltiers. Am Forellenei ist dasselbe der Fall, wie die kürzlich pu- blieirte Figurenreihe (10a) Henneguy’s zeigen kann; die wenigen Differenzen, die dieser Forscher anfänglich (10) noch zu finden glaubte, haben sich in seiner neuen Mitteilung (10a, S. 5) schon gemindert, und der Rest kann nicht wesentlich genannt werden. Nur von einigen Einzelheiten in der Mechanik der chromatischen Kernfigur ist es noch nicht festgestellt, ob sie beim Ei, und so viel- leicht noch bei andern Objekten, von dem sonst festgestellten Typus abweichen mögen. So hat sich eine Längsspaltung der chromatischen Kernfäden an den erwähnten Eiern noch nicht sehen, und die Art, wie sich die Fadenschleifen hier zu den Tochterkernfiguren anordnen, noch nicht genau verfolgen lassen (8b, S. 301), was auch bei der Kleinheit des Verhältnisses hier besonders schwer ist. Schneider hat jetzt die Fadenmetamorphose des Kerns am Mesostomum -Ei!), wo sie von ihm entdeckt ist, weiter studirt. Die Verhältnisse stimmen, so weit mir ersichtlich, mit denen der Karyo- kinese anderer Zellen, oder lassen doch nicht auf wesentliche Ab- weichungen schließen. Nur die Längsspaltung der Kernfäden hat Schneider auch hier nicht gefunden, und stellt sie deshalb für Me- sostomum gradezu in Abrede. Hierfür besteht kein Grund; denn er 4) Seine übrigen Objekte gestatteten, wie schon die Abbildungen zeigen, offenbar keinen speziellern Einblick in die Einzelheiten der Karyokinese, 686 Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. hat nur mit Hilfe von Essigsäure untersucht, welche sehr dazu neigt die Spaltfäden zu conglutiniren. Hätte ich nur mit diesem Reagens gearbeitet, so würde ich auch bei Salamandra die Längspaltung schwerlich gefunden haben. Jedenfalls hat man heute kein Recht zu glauben, dass die chro- matischen Kernfiguren bei Eiern ganz anders beschaffen sein könnten als bei andern Zellen, indem sie aus Körnern beständen. Man hat freilieh auch noch kein Recht zu leugnen, dass dies bei manchen Ob- jekten vorkommen könnte. Nach Schneider (8.75) wäre allerdings „die Fadenform der chromatischen Elemente keineswegs die not- wendig bei der Zweiteilung auitretende Form“; er erinnert dafür an die „Körner“ des Kernes der Eier und Spermatoblasten der Nema- toden (22, 5. 51), sowie der Eier von Hirudineen und Tubifex. Indem er aber hinzusetzt: „bei letztern Objekten seien die betreffenden Körneben der Kernsubstanz so klein, dass man mit besten Hilfs- mitteln ihre Gestalt nieht bestimmen könne“, wird grade das con- statirt, was ich stets betont habe: bei so ungünstigen Objekten mit so kleinen ehromatischen Elementen lässt sich die Frage, ob Fäden, ob Körner, jetzt noch nieht lösen, und darum sollte man sie bei all- gemeinen Urteilen zunächst aus dem Spiel lassen. Die Streifen der achromatischen Kernspindel fasst Schneider nicht als Fäden, sondern als Längsfalten auf; und zwar dies nicht nur für die Teilungsfiguren der Eizellen, sondern ganz allgemein (S. 76). Er stützt dies auf optische Querschnitte der Spindeln in Eiern von Ascaris megalocephala (Fig. 7 Taf. I a. a. O.), an denen sich der Umfang des Querschnittes deutlich und dicht eingefaltet, das Innere hell darstellt. Da sich dies auf Präparate bezieht, die nach Alkoholbehandlung von Glycerin und starker Essigsäure beein- flusst waren, so lässt sich zwar fragen, ob die Verhältnisse rein natürlich geblieben sind: es wären bei solcher Behandlung künstliche Faltungen und Gerinnungen doch denkbar. Ich gebe aber völlig zu, dass es hierin sein kann wie Schneider meint, nachdem ich Ob- jekte von Salamandra und Pflanzen mit Zeiß '/,,; aufs neue darauf hin geprüft habe. Wenn mir die Spindelstreifen daran auch mehr den Eindruck von Fäden machen als welche sie ja auch von an- dern Beobachtern — "Bütschli, Fol, Strasburger, Arnold, Pfitzner u. A. sonst immer aufgefasst sind — muss ich doch zu- geben, dass die Frage, ob es nicht Falten sein könnten, grade an der Grenze des Entscheidbaren liegt!). Sie verdient gewiss weitere Verfolgung. 4) Bei Mitfärbung der achromatischen Spindel durch Hämatoxylin (Ar- nold, ich) erscheinen allerdings die Streifen auch der Tinetion noch deutlich hervorgehoben. Es bliebe aber möglich, dass diese Färbung den geronnenen Inhalt von Faltenrinnen beträfe. Be Flemming, Bauverhältnisse, Befruchtung u. erste Teilung d. tierischen Eis. 687 In einem andern Punkt dagegen habe ich Schneider zu wider- sprechen, um so mehr als er auch ihn ganz generell hingestellt hat. „Wenn Kerne sich teilen wollen“, sagt Schneider (8. 74), „so be- steht die erste Vorbereitung darin, dass sie ihre Membran verlieren.“ Dies ist keineswegs der Fall; die erste Veränderung, die sich er- kennen lässt, besteht vielmehr in dem Deutlichwerden der Teilungs- pole neben dem Kern, gleichzeitig und weiter in der Anlage des chromatischen Fadenknäuels im Kern. Auch wenn dieser ‚Knäuel schon gelockert und sogar segmentirt ist, sieht man die Kernmembran noch erhalten und zwar grade verdeutlicht. Erst mit der Sternform der Fadenfigur geht sie unter. Dies ist nicht nur in meinen !), son- dern auch seitdem in andern?) Arbeiten an verschiedenen Tier- geweben längst hinreichend festgestellt, und nach meinen Befunden am Echinodermenei ?) wird es hier nicht anders sein. Der Punkt ist aber durchaus nicht von untergeordnetem Interesse; denn wenn man den Zell- und Kernteilungsgang verstehen lernen will, kommt es gewiss vor allem darauf an genau festzustellen, womit er anfängt. Das am meisten Abweichende in Schneider’s Auffassung der Kernteilung, gegenüpver Allen, die sich in letzter Zeit näher mit die- sem Vorgang beschäftigt haben, liegt darin, dass es ein Beweglich- werden der nicht-chromatischen Substanz des Kerns, und ein amö- boides Ausstrahlen derselben in die Zellsubstanz in Form der Radien annimmt. Zam Teil fällt dies ja mit dem zusammen, was im letzten Absatz erörtert ist. Die sonstigen Gründe, die mich verhindern dieser Meinung zu folgen, sind oben bei Besprechung der Richtungskörper- bildung (S. 650 ff.) vorgelegt. 4) 8b, und dort eitirte frühere Arbeiten. 2) Retzius, Klein, Pfitzner, dort eitirt, und Pfitzner (18, S. 6%). 3) 8a, S. 22, 23, Fig. 16 bis 20. Es ist mir nicht erklärlich, dass Schnei- der an jener Stelle grade die Echinodermeneier als Beispiele anführt, wo bei der Teilung „die Verflüssigung zu Kernsaft die gesamte Kernsubstanz ergriffe“. Eine solche totale Verflüssigung kommt nach unserm bisherigen Wissen wol überhaupt nicht vor, ganz gewiss aber nicht am Echinjdenei, denn grade hier habe ich den Fortbestand der chromatischen Kernsubstanz in Form von Struktur und Fäden auf das deutlichste durch den ganzen Prozess verfolgen können (a4. 0.8.21 11.). Beriehtigungen. S. 644 Zeile 14, 25, 42 lies statt mesoblastissh: mero blastisch. S.645 „ 37 statt „vorab längerer“: verschlungener. S. 650 Anm. 2 Zeile 4 lies: Tinetions vermögen. S. 651 Zeile 2 lies: Greeft. S. 654 „ 6 lies: ansprechendste. 688 Wiedersheim, Die Stammesentwieklung der Vögel. Die Stammesentwicklung der Vögel. Von Dr. R. Wiedersheim. Professor in Freiburg i. B. (Schluss.) Zusammenfassung. Denkt man sich das ganze Skelet des Hesperornis in die Länge gestreckt, so würde dasselbe, von der Schnabel- bis zur Fußspitze gemessen, eine Länge von circa sechs Fuß besitzen. In natürlicher Stellung, d. h. bei gekrümmtem Hals ete., mag der Hesperornis die Höhe von drei Fuß nicht viel überschritten haben. Hesperornis ceras- sipes war noch etwas größer, Hesperornis gracilis aber von zierlichern Verhältnissen. Alle drei Spezies lebten vermuthlich von Fischen, an welchen die damaligen Meere Ueberfluss hatten. Dass er ein Fleisch- fresser war, darauf weist sein Gebiss mit voller Sicherheit hin, und man kann annehmen, dass er sich aus einer langen Reihe von karni- voren und raublustigen Reptilien herausentwickelt hat. Was nun das allmähliche Schwinden, d. h. den rudimentären Charakter der vordern Extremität anbelangt, so scheint sich für die Erklärung desselben eine doppelte Möglichkeit zu eröffnen. Man könnte darin eine Parallele mit der Rückbildung der vordern Extre- mität beim Pinguin erblicken, deren Vorfahren, wie aus paläonto- logischen Funden erhellt, ja bekanntlich noch ein größeres Flugorgan besaßen. Wenn dieses nun auch allmählich kleiner und zum fliegen untauglich wurde, so reichte es und reicht es auch heute immerhin noch aus, um die Fortbewegung im Wasser zu unterstützen. Diese Etappe müssen nun, so kann man wenigstens annehmen, einst auch die Vorfahren des Hesperornis durchlaufen haben, bis bei letzterm endlich die Vorderextremität so rudimentär wurde, dass sie gar keinen Zweck mehr zu erfüllen vermochte und sich dann entweder, ähnlich wie beim Apteryx, mit ihrem letzten Rest (dem Humerus) der Seite des Rumpfes anlegte oder gar unter die Körperhaut zu liegen kam. Damit war die dritte Etappe in der regressiven Metamorphose erreicht. Nun traten die Hinterextremitäten sowie die Schwanzwirbelsäule durch kompensatorisches Wachstum ein und garantirten so die Fort- existenz der Art. Marsh zieht dafür ein Beispiel aus dem modernen Schiffswesen zum Vergleich herbei, indem er darauf hinweist, dass beim Hesperornis die früher seitlich vom Körper ausgehende, von den Vorderextremitäten geleistete Kraft grade so nach hinten verlegt wurde, wie wenn man einen Raddampfer in einen Schraubendampfer verwandelt. Obgleich nun der eben erwähnte Entwicklungsgang des Hesper- ornis immerhin sehr wol denkbar ist, so scheint doch eine andere Erklärung, wie Prof. Marsh mit Recht hervorhebt, ungleich wahr- scheinlicher zu sein. Bow, Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. 689 Es liegt nämlich angesichts der unzweifelhaften Tatsache, dass der Hesperornis samt dem ganzen Straußengeschlecht von dinosaurier- artigen Vorfahren abstammt, kein Grund zu der Annahme.vor, dass es sich in der betreffenden Entwieklungsreihe überhaupt je einmal um eine mit vollkommenem Flugvermögen ausgestattete Zwischenform gehandelt haben könne. War doch das Zurücktreten, d. h. die all- mähliche Reduktion der vordern Extremität der hintern gegenüber schon in der Reihe der rein terrestrischen Dinosaurier angebahnt, und daraus folgt mit großer Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Tendenz auch auf die genannten Vogelgeschlechter, wie vor allem auf den den Dinosauriern zeitlich näher als die Ratiten stehenden Hesperornis fortvererbt haben wird. Dafür fallen noch weiter schwer ins Ge- wicht: das gänzlich kiellose Brustbein, sowie die für die Dinosaurier typischen Lagebeziehungen der Scapula zum Coracoid, wie sie bei keinem fliegenden Vogel vorhanden sind. Ferner möchte ich dabei noch auf folgenden Gesichtspunkt aufmerksam machen. In der be- deutenden, alle Ratiten charakterisirenden Knochen - Pneumatizität kann man keinen Gegenbeweis erblicken, denn letztere bildet über- haupt keine wesentliche Bedingung für das Flugvermögen. So wird niemand bestreiten, dass z. B. die Seeschwalbe und die Möven ausgezeichnete Flieger sind, und doch besitzt erstere keine und die letztern fast gar keine lufthohlen Knochen. Etwas eigenartiges, nur fliegenden Tieren oder nur der Klasse der Vögel zukommendes liegt in der Einrichtung der Knochenpneumatizität überhaupt nicht. So waren z. B. bei den Dinosauriern lufthohle Knochen allgemein verbreitet und auch die Sinus frontales, sphenoidales ete. der Säuge- tiere gehören hieher. Hier wie dort handelt es sich, wie Professor Strasser auf das überzeugendste nachgewiesen hat, in erster Linie um eine Ersparniss an Material. Während nun, nach der Ansicht von Prof. Marsh, die Embryo- logie beweist, dass alle Flugvögel in ihrer Stammesentwicklung das Ratitenstadium durchlaufen haben müssen, so gibt es andererseits ver- schiedene nicht fliegende Vögel, die mit den Ratiten, also mit den straußenartigen Vögeln, nichts zu schaffen haben, sondern zu den wahren Carinaten gehören. Dies gilt z. B. für Didus, Pezophaps, Onemiornis und Notornis, denn alle diese zeigen in der Anatomie ihres Sehultergürtels unverkennbare Spuren des verlorenen Flugvermögens. Alle äußern Umstände waren günstig für eine lange und gedeih- liche Existenz des Hesperornis. Die über den Wassern schwebenden, gigantischen aber zahnlosen Flugsaurier konnten ihm nicht viel an- haben, und das Meer bot ihm eine überreichliche Auswahl an Fischen aller Art. In diesem „aquatie paradise“ mochte er sich einzig und allein durch die Mosasaurier beunruhigt fühlen, und es erscheint nicht unmöglich, dass diese ihn mit der Zeit aus seinen Jagdgründen ver- scheucht oder auch wol gar ausgerottet haben. 44 690 Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. B. Odontotormae. 2) Ichthyornis. Sämtliche Vertreter dieser Ordnung weichen von Hesperornis in folgenden Punkten außerordentlich ab. Sie waren alle von ge- ringer Größe, kaum größer als eine Taube, und zeichneten sich, ähn- lich wie die Seeschwalben, mit welchen überhaupt zahlreiche Ver- gleichungspunkte existiren, durch mächtige Flügel und sehr schwache Hinterextremitäten aus. Ferner besaßen sie bikonkave, auf uralte Vorfahren zurückweisende Wirbelkörper und mehr oder weniger pneu- matische Knochen, kurz es ergeben sich bei einem Vergleich der bei- den Ordnungen der Kreidevögel größere Unterschiede, als sie irgendwo zwischen den heutigen Vögeln vorkommen. Dass sich von den Odontotormae viel unvollkommenere Reste er- halten haben, kann uns im Hinblick auf die Kleinheit und die durch die Pneumatizität bedingte Zartheit des Skelets nicht wundernehmen. Allein trotz dieser ungünstigen Verhältnisse brachte Marsh noch ein sehr großes, die Reste von 77 Individuen enthaltendes Material zu- sammen, auf dessen Grund er seine Untersuchungen anstellte. Eine genauere Prüfung ergab, dass es sich dabei um zwei Genera, nämlich um Ichthyornis und Apatornis handelt. Ersterer war durch mehrere, letzterer nur durch eine Spezies vertreten. Der Schädel von Ichthyornis war im Verhältniss zum übrigen Skelet sehr groß und zwar, wie dies auch bei Hesperornis der Fall ist, wesentlich aufgrund des langen gestreckten Gesichtsschädels. Das Cranium mit seinem nach hinten gerichteten Gelenkhöcker er- scheint ungleich kürzer und erinnert in manchem mehr an dasjenige von Hesperornis, als an das der heutigen Flugvögel. Dies gilt ebenso auch für die vorn nur durch Bandmasse oder Knorpel vereinigten Unterkieferhälften, an welchen übrigens nur noch eine einzige Naht, nämlich diejenige zwischen Spleniale und Angulare deutlich hervor- tritt. Der zahntragende Abschnitt des Unterkiefers sieht demjenigen der Mosasaurier zum verwechseln ähnlich. Wie bei Hesperornis so war auch bei den Odontotormae nur der Ober- und Unterkiefer mit spitzen und stark gekrümmten Zähnen besetzt, und der Zwischenkiefer ging höchst wahrscheinlich leer aus. Auf die Befestigung der Zähne in förmlichen Alveolen oder Gruben habe ich oben schon hingewiesen und dabei den tief eingreifenden Unterschied zwischen den beiden Typen der Odontornithes betont. Ich will deshalb nur noch erwähnen, dass der Wiederersatz der Zähne nicht wie bei Hesperornis und Mosasaurus von der Seite her, sondern senkrecht von unten, ganz wie Crocodiliern und Dinosauriern erfolgt. Das Gehirn des Ichthyornis war merkwürdig klein und, was speziell die Hemisphären anbelangt, wenigstens viermal kleiner als das der Seeschwalbe. In seinen Hauptzügen, wie vor allem in seiner Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. 691 gestreckten Gestalt und seinem prominirenden Mittelhirn, tritt der Reptiliencharakter unverkennbar hervor. Im allgemeinen ähnelt es viel mehr dem Hesperornis-Gehirn, als demjenigen irgend eines andern rezenten, daraufhin untersuchten Vogels. Der kräftige Schultergürtel sowie die gewaltige Vorderextremität haben mit den homologen Ske- letteilen des Hesperornis, der Dinosaurier und Struthionen nichts zu schaffen, sondern sind bis ins einzelnste nach dem Typus der heu- tigen Flugvögel gebaut, und deshalb lohnt es sich nicht, weiter darauf einzugehen. Ich hebe nur den auf eine außerordentliche Entwicklung der Flugmuskulatur hinweisenden Kiel des Brustbeins und die mon- ströse Muskelleiste am proximalen Ende des Oberarms hervor. Letz- tere kommt in dieser Größe bei rezenten Vögeln nirgends vor, wol aber bei Flugsauriern. Der zu den schwachen Hinterextremitäten in richtigem Verhältniss stehende Beekengürtel stimmt insofern mit dem von Hesperornis überein, als auch hier die langen und schlanken Scham- und Sitzbeine sowol untereinander, als auch vom Darmbein gänzlich getrennt blei- ben, ein Verhalten, das an die Reptilien erinnert; ein „Processus ileo-peetineus“ ist übrigens nicht deutlich vorhanden. Das Kreuz- bein besteht aus zehn verschmolzenen Wirbeln, der Schwanz da- gegen setzt sich nur aus sieben Stücken zusammen, ist also kurz und läuft wie bei rezenten Vögeln nach hinten in eine Pygostylplatte aus. Auch die Hinterextremität weicht von derjenigen der heutigen Vögel so gut wie in nichts ab, und dies gilt für sämtliche Odontotormae. Gleichwol tragen sie nach dem Mitgeteilten immer noch zahlreiche Reptiliencharaktere zur Schau. Dahin gehören z. B. die getrennt bleibenden Unterkieferhälften, die in Alveolen steckenden und auf Fleischnabrung hinweisenden Zähne, gewisse Punkte in der Basis eranüi, die Form des Quadratums, das Gehirn und die bikonkaven Wirbelkörper. Im Gegensatz dazu tritt dann wieder in andern Punkten, wie namentlich im Bau der Extremitäten, der Vogeltypus aufs deutlichste hervor und mehr als alles andere spricht für ihn das Federkleid, auf dessen frühere Anwesenheit aus einer Reihe kleiner zur Befestigung der Federkiele bestimmter Rauhigkeiten am Vorder- arm mit Sicherheit geschlossen werden kann. Schlussbetrachtung. Ein Vergleich der beiden Typen der Kreidevögel gibt ebenso schroffe als unerwartete Gegensätze. Dort (bei Hesperornis) die auf eine niedere Entwicklungsstufe hinweisende Befestigung der Zähne in Furchen, daneben aber die hoch differenzirten echten Vogelwirbel mit sattelförmigen Gelenkflächen, sowie die rudimentäre Vorder- und die gewaltige Hinterextremität; hier (bei Ichthyornis und Apatornis) die primitiven bikonkaven Wirbelkörper, die auf eine hohe Stellung im 44 * 692 Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel, System hinweisenden Alveolen und das dem Hesperornis gegenüber gradezu umgekehrte Verhalten der Vorder- und Hinterextremität. Ein schlagenderer Beweis für die Möglichkeit einer nur partiellen Fortentwicklung gewisser morphologischer Charaktere sowie für das gleichzeitige zähe Festhalten anderer, von uralten Vorfahren her ver- ‘ erbter und so auf eine niedere Stufe zurückweisender Eigentümlich- keiten kann, wie Marsh mit Recht betont, nicht geliefert werden. Was nun den Archaeopteryx betrifft, so genügt der erste Blick, um die zwischen ihm und sämtlichen Kreidevögeln bestehende Kluft viel tiefer erscheinen zu lassen, als diejenige, welche die Odontolcae und Odontotormae selbst von einander trennt. Alle bis jetzt bekannten, zwanzig oder mehr Spezies umfassen- den Kreidevögel waren reine Wasserbewohner und finden sich dem entsprechend fast nur in marinen Ablagerungen. Der Archaeopteryx dagegen war ein reiner Landvogel, der auf Bäumen gelebt und seine verhältnissmäßig kleinen, zum eigentlichen Flug noch nicht aus- reichenden Schwingen beim Sprung von Zweig zu Zweig nach Art eines Fallschirmes gebraucht haben mag. Es ist sehr wahrschein- lich, dass ihm dabei sein langer Federschwanz als weiteres Suspen- sionsmittel, zugleich aber auch als Steuer diente. In ganz ähnlicher Weise kommt ja auch der lange Schwanz der Eidechsen zur Verwen- dung, wie eine Beobachtung der gejagten und pfeilgeschwind dahin- schießenden Tiere aufs überzeugendste lehrt. Niemand wird bezweifeln, dass das Flugvermögen nicht plötzlich erworben werden, sondern dass es sich vielmehr zuerst nur um ein Flattern handeln konnte. Die ersten Anfänge dazu kann man sich am besten durch einen Vergleich mit den heutigen Pelzflatterern (Galeopithecus), den Flugeichhörncehen (Petaurus und Pteromys) und dem fliegenden Drachen (Draco) vergegenwärtigen. Weiterhin kann man sich vorstellen, wie die anfangs nackte Haut später ein Schuppenkleid erhielt, und wie sich, im Interesse der Gewichtsverminderung und der wärmern Körperbedeckung, eine jede Schuppe allmählich in eine Feder verwandelte. In diesem Zwischen- stadium mögen jene alten Vogelgeschlechter durch ihr Federkleid an dasjenige der heutigen jungen Vögel erinnert haben. Vom verglei- chend histologischen Standpunkt aus kann die Umwandlung einer Schuppe in eine Feder durchaus nicht befremden, wenn man auch zugeben muss, dass diese Umbildung eine lange Reihe von Jahren oder, sagen wir lieber, von Jahrtausenden in Anspruch genommen haben wird. War aber einmal das erste zarte Flaumkleid angelegt, so stand auch der verschiedenartigsten Modifikation desselben nach Form und Ausdehnung an den einzelnen Körperstellen nichts mehr im Wege. Eine weitere Etappe war dann angebahnt mit der Heraus- bildung von Schwung- und Steuerfedern, und von da nahm die Flü- gelentwicklung ihren stetigen Fortgang. Da nun der Archaeopteryx Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. 695 schon wol ausgebildete Schwung- und Steuerfedern besaß, so ist man zu der Annahme gezwungen, dass die ersten Spuren der von den Reptilien sich abzweigenden Urvögel noch viel weiter zurückliegen und dass sie wahrscheinlich sehon vor der Trias, also in den Schichten des paläozischen Zeitalters gesucht werden müssen. Künftige Funde haben diese Lücke also auszufüllen; ob man aber je eines Stückes habhaft werden wird, das uns das erste Anftreten des ersten, primi- tivsten Federkleides illustrirt, muss sehr fraglich erscheinen. - Zum Schlusse will ich noch auf die Frage nach der Abstammung der drei Genera Archaeopteryx, Hesperornis und Ichthyornis etwas eingehen. Dass alle drei von den Reptilien abzuleiten sind, daran zweifelt heute niemand mehr, ganz anders aber verhält es sich mit der Be- antwortung der Frage, ob sich alle drei, oder sagen wir besser, ob sich das ganze heutige Vogelgeschlecht von einem und demselben Zweig des Reptilienstammes aus in direkter Linie entwickelt, oder ob man mehrere, von einem gemeinsamen Punkt ausgehende, ge- trennte, einander parallel laufende Entwicklungsreihen anzunehmen habe. Prof. Marsh und mit ihm wol weitaus der größere Teil der heutigen Biologen halten die erstere, also die monophyletische Auf- fassung fest. Gleichwol möchte ich heute noch ebenso die andere Möglichkeit offen gehalten wissen, wie ich dies schon vor fünf Jahren getan habe }). Ich leite die Flugvögel (Carinaten) von langschwän- zigen Reptilien ab, deren saurierartige Urform sich wol schon in vortriassischer Zeit nach folgenden drei Rich- tungen hin entwickelt haben muss, nämlich in die lang- schwänzigen — (khamphorhynchus), in die kurzschwän- zigen Flugsaurier (Pterodactylus) und endlich in die Vorfahren des Archaeopteryx. Aus letzterer Form gingen dann durch stetige Vergrößerung des Flügels und des Brustbeinkieles, sowie unter gleichzeitiger Reduktion des Saurierschwanzes sämtliche Flugvögel einschließlich Jchthyornis und Apatornis hervor. Da nun die Flugvögel bis auf den heutigen Tag in fortwährender Weiterentwicklung beziehungsweise Differenzirung begriffen sind, so kann es nicht befremden, dass sich bei ihnen die Reptilcharaktere bereits so verwischt haben, dass sie zum größten Teil nur noch in der Fötalperiode zutage treten. Ganz anders steht es im dieser Beziehung mit Hesperornis und den straußenartigen Vögeln. Diese besaßen von Anfang an in morphologischer Beziehung einen ungleich 1) Ich habe dies damals, es war im Winter 1878, in einem akademischen Vortrag ausführlich erörtert und wissenschaftlich begründet. 694 Wiedersheim, Die Stammesentwicklung der Vögel. stabilern Charakter, gingen also viel geringere Differenzirungen ein und bewahrten so nach verschiedenen Richtungen hin (Schädelbau, Gehirn, Schulter- und Beckengürtel, Schwanzwirbelsäule ete.) den Reptilientypus viel reiner als die Flugvögel. Ja es erscheint mir nicht unwahrscheinlich, dass, wenn irgendwo in der Vogelreihe in fötaler Zeit noch Zähne zur Anlage kommen, dies am ehesten bei den Laufvögeln der Fall sein wird. Es wäre deshalb sehr interessant, über das Verhalten dieser Vogelgruppe im untern Tertiär und der obern Kreide genaue Auskunft zu erhalten. Dass die Flugvögel schon in der Tertiärzeit gänzlich zahnlos und bereits nach dem Typus der rezenten Vögel gebildet waren, ist eine altbekannte Tatsache, die ich nur kurz noch einmal in Erinnerung bringen will. Außer dem Archaeopterye und den Odontornithes Amerikas sind noch aus den Kreideschichten Englands und Böhmens Vogelreste be- kannt geworden; allein sie sind viel zu fragmentarisch, als dass sie wissenschaftlich verwertet werden könnten. So wären wir also zur Annahme eines gemeinsamen Ursprunges des Vogelgeschlechtes, aber zu zwei von diesem Punkt ausgehenden Entwicklungslinien gelangt. Die eine führt durch die Zwischen- form des Archaeopteryx zu den Carinaten oder Flug- vögeln, die andere leitet von dinosaurierartigen Vor- fahren und speziell von den Ornithosceliden zu Hesper- ornis und zu den Ratiten oder straußenartigen Vögeln hinüber. Letztere repräsentiren somit einen abgeschlos- senen, keiner weitern Entwicklung fähigen Zweig und fallen insofern unter denselben Gesichtspunkt wie z.B. die Anuren und Gymnophionen in der Reihe der übrigen Amphibien. An dieser meiner Ansicht muss ich so lange festhalten, bis sie aufgrund neuer paläontologischer Beweise durch eine plausiblere ersetzt wird. Für den Augenblick möchte ich nur noch darauf hinweisen, dass sich jene, einerseits den Carinaten, andererseits den Ratiden zu grunde liegenden Ausgangsformen mit der Zeit höchst wahrscheinlich als Abzweigungen der von Prof. Marsh als Sauropoda bezeichneten, durch pneumatische Knochen, sowie durch eine ziemlich gleichmäßige Entwicklung der Vorder- und Hinterextremitäten charakterisirten Gruppe der Dinosaurier herausstellen werden. Während wir uns aber vorderhand von den zwischen den Sauropoda und dem Archaeopteryx liegenden Uebergangsformen noch keine sichere Vorstellung zu bilden im stande sind, kann über diejenigen zwischen den Sauropoda und den Ratiten kein Zweifel existiren. Es handelt sich hier eben um die Ornithoseeliden und die Stegosaurier. Nur so lässt sich das Auftreten von Dinosaurier- resp. Ratiten- Lendenfeld, Ueber Cölenteraten der Südsee. 695 Charakteren am Becken- und der Hinterextremität des Archaeopteryx und gewisser heutiger Carinaten (Geococeyx, Tinamus) erklären. R. v. Lendenfeld, Ueber Coelenteraten der Südsee. Zwei neue Aplysinidae Z. f. w. Z. Bd. XXXVII. S. 234— 313. Verf. gibt eine genaue Beschreibung von drei neuen Aplysiniden, von denen zwei zum neuen Genus Dendrilla gebracht werden. Diese Gattung und Aplysilla wünsche er zu einer Unterfamilie, den Aply- sillinen zu vereinigen. 1. Aplysilla violacea Ldf. Der Typus des Kanalsystems stimmt natürlich mit dem von den ebenfalls krustenförmigen Mittelmeerarten überein: große sackförmige Geißelkammern und weite Zu- und Ab- führungskanäle. Die ersten sind kreisrund, die zweiten unregelmäßig im Durchschnitt. Wenn man sich einen Abführungskanal als Zentrum vorstellt, so bilden die Geißelkammern, radiär darum gelagert, einen ersten konzentrischen Ring und einige Zuflusskanäle eine zweite mehr oder weniger konzentrisch gelagerte Zone. Beide Systeme von Kanälen laufen ungefähr senkrecht zur Schwammoberfläche. Während 'aber nach Schulze’s Angaben bei A. sulfurea F.E.S. und A. rosea F.E. S. die bindegewebige Schwammmasse einfach von einem Epithel bedeckt wird, in welchem sich die Poren befinden, so tritt nach Verf. bei seiner A. violacea eine wichtige Modifikation auf, indem statt des einfachen Epithels eine ziemlich dieke „Haut“ über den mächtigen Subdermalhöhlen liegt, welche nur stellenweise mit dem Schwamme selbst in Verbindung steht. In dieser „Haut“ befinden sich Oeff- nungen, vom Verf. „Hautporen“ genannt. Da wo diese „Hautporen“ sind, befindet sich ein dünnes „Häutchen“, siebartig durchlöchert von „Poren“ (ungefähr 60 beisammen) !). Histologisch bietet A violacea Ldf. viel neues. Das dünne „Häut- chen“ sowie die dicke Haut sind an den freien Seiten von ektoder- malem Epithel bekleidet; überhaupt der ganze Subdermalraum. Dass dieses Epithel ektodermalen Ursprungs ist, wird nur apodiktisch be- hauptet, nicht bewiesen. Zwischen den Epithelen liegt eine dünne bezw. eine dicke Schicht Bindegewebe. Fütterungsversuche (mit Karmin) machten es Verf. wahrscheinlich, dass „bei A. vöolacea Ldf. kleine organische Körper von den ektodermalen Plattenzellen des Subdermalepithels aufgenommen und an die amöboiden Zellen, welche darunter liegen, abgegeben werden. In diesen Zellen werden die aufgenommenen Körper verdaut, und es wandern die amöboiden 1) Ich benutze hier des Verfassers Terminologie. Es leuchtet aber ein, dass die Wörter „Haut“ und „Häutchen“ und in zwei Bedeutungen „Poren“ zu großer Verwirrung Veranlassung geben, und dass also diese Ausdrücke unbe- denklich zu verwerfen sind. 696 Lendenfeld, Ueber Cölenteraten der Südsee. Zellen mit den unverdauten Resten zu den Geißelkammern, übertra- gen die Auswurfstoffe auf die Kragenzellen, und diese stoßen die- selben aus.“ Die Pigmentkörnchen möchte er nicht ale Reserve- nahrungsstoffe ansehen, sondern sie vielmehr als „physiologisch den roten Blutkörperchen der Wirbeltiere vergleichbare Bildungen an- sehen.“ Verf. hält es nieht für unmöglich, dass die Pigmentkörnchen, die in den Kragenzellen und den amöbeiden (Wander-) Zellen vor- kommen, die Träger von oxydirten Substanzen seien. Den Kragen- zellen soll also eine doppelte Funktion, Exkretion und Respiration!), zukommen. In der Haut fand Verf. grade unter der äußern Oberfläche-Epithel- schicht eine Schicht Drüsenzellen. Diese scheiden, wenn das Epithel zu grunde gegangen ist (durch schädliche Einflüsse, künstlich z. B. durch destillirtes Wasser), eine schleimige Masse aus, die im See- wasser erstarrt. Unter Umständen kann sich unter dieser so gebil- deten Cutieula, an welcher Sandkörnchen ete. festhaften, ein neues Epithel bilden. Alsdann wird die Cutieula wieder abgeworfen. Es scheint v. Lendenfeld ganz unbekannt zu sein, dass die eine Cuticula ausscheidenden Drüsenzellen schon im Jahre 1879 von Merejkowski beschrieben und abgebildet sind bei seiner Halisarca Schulzü. Mit diesen Drüsenzellen homolog sind nach Verf. die Spongoblasten. Die Kragenzellen in der Nähe der weiten Mündung der Geißel- kammern sind niedriger und pigmentärmer und entbehren eines Kragens. Sie bilden also einen schönen Uebergang zu den ento- dermalen Plattenepithelzellen. Diese morphologisch wichtige Tat- sache habe ich bei vielen Syconen ebenso ausgeprägt gefunden, während, so viel ich weiß, noch niemand Uebergänge gefunden hat zwischen den Plattenepithelzellen des zuführenden Systems und den Kragenzellen. Dies sind, scheint mir, starke Beweisgründe für die Zusammengehörigkeit der Zellen, welche Geißelkammern und der- jenigen, welhe die abführenden Kanäle auskleiden. A. violacea Ldf. ist nach Verf. hermaphroditisch, und zwar pro- terandrisch. Die Eier liegen in kugelförmigen Haufen zusammen, umgeben von einem mehrschichtigen Endothel. Diese Kapsel gibt nach innen Scheidewände ab; in jedem Fach liegt ein Ei, das durch eine Zelle, „Stielzelle*, am Follikelepithel befestigt ist. „Jedes Ei besitzt eine „Haut“. Die Entwicklung der Spermatozoiden soll in derselben Weise geschehen, wie Schulze es für A. sulfurea F.E.S. angegeben hat. Schließlich beobachtete Verf. ein merkwürdiges Farbenspiel seiner A. violaced. Die allgemeine Farbe dieses Schwammes ist dunkel- violett, aber bei verschiedener Beleuchtung verschieden. „Im di- 1) Gewagt scheint mir Verfassers Ausdruck: „Harnstoff und Kohlensäure abscheidenden Organen“, Lendenfeld, Ueber Cölenteraten der Südsee, 697 rekten Sonnenlicht erscheint die Oberfläche sammetartig und zeigt einen karmesinroten Schimmer. Die letztere Farbe wird durch eine fluoreszirende Wirkung der äußersten Zellschichten, oder vielleicht der Cilien der Ektodermzellen, hervorgerufen.“ Im violettem Lichte trat sofort ein roter Schimmer ein, welcher im diffusen Tageslichte nieht siehtbar war. Bei abgestorbenen Schwämmen, welche das Plat- tenepithel verloren hatten, war dieser Effekt unter keiner Umständen zu erreichen, obwol die schwarz - violette Farbe völlig erhalten war. In Alkohol scheint die die. Fluoreszenz hervorrufende Substanz ge- löst, verändert oder wirkungslos zu werden. Der violette Farbstoff dagegen ist sehr resistent und widersteht selbst kochender Kalilauge. 2. Dendrilla rosea Ldf. Ueber den ganzen Schwamm ist ein dünnes Zellhäutehen (Ektoderm) gespannt mit „Poren“ in Gruppen (von ea. 6), durch welche das Wasser in die „Hautporen“ kommt und so in die mächtigen Subdermalräume. Die „Haut“ ist durch kontraktile Säulen von Bindesubstanz, welche von Epithel ausge- kleidet sind, mit dem Schwammkörper verbunden. Merkwürdiger- weise kommen die Subdermalhöhlen auch unter der Haut des Oscu- larrohres vor. Verf. ist darum geneigt zu glauben, dass dies hier ein ektodermales Gebilde ist. Die Drüsenzellen finden sich in der Haut nicht nur unter dem obern „Häutehen“, sondern auch unter dem Ekdoderm, welches die Porengänge auskleidet. Ihr Sekret erstarrt nicht zu einer hornigen Cutieula, sondern stellt einen voluminösen zähen bräunlichen Schleim dar. Auch hier wird das äußere Epithel abgestoßen, wenn der Schleim ausgeschieden wird. An den Hornfasern sind vier Schichten zu unterscheiden: Binde- gewebige Hülle, Spongoblastenmantel, Hornrinde und Mark. Die erste besteht aus spindelförmigen Faserzellen mit äußerst wenig Grundsubstanz. Die Spongoblasten (bei alten Fasern fehlend) glei- chen in der Hauptsache den von Schulze beschriebenen. Die Dieke der Hornrinde schwankt; auf Querschnitten sieht man, dass die kon- zentrischen Schichten wellig gebogen sind. Die Markachse schließ- lich besteht aus einer Reihe zylindrischer Stücke, welche nach dem Ende der Hornfaser an Dieke abnehmen, dem Ganzen also ein fern- rohrartiges Aussehen geben. Die einzelnen Markabschnitte sind durch von den Spongoblasten herstammende Zellenhaufen getrennt. Nach Verf. fressen diese Zellen so zu sagen die Hornsubstanz weg und scheiden sie als Marksubstanz aus; sie sollen mutatis mutandis also wie die Osteoklasten der Wirbeltiere wirken. 3. Dendrilla aerophoba Ldf. zeigt denselben Farbenwechsel unter Einwirkung von Luft, Süßwasser und Alkohol wie Aplysina aero- phoba Nds. Das merkwürdigste an diesem Schwamm ist sein Skelet. Es besteht aus baumartig verästelten, also nicht anastomosirenden Fasern, wie bei allen Dendrillen. Die Zweige des Baumes sind „dol- denförmig, hirchgeweihartig, quirlständig oder unregelmäßig“ aus 698 Metschnikoff, Die Embryologie von Planaria polychroa. den Aesten entspringend.. An manchen Stellen ist die Form nicht kreisrund, sondern blattartig ausgebreitet und längsgefurcht. Die Entwicklungsgeschichte gibt die Erklärung für die eigentümliche Form. An einer Stelle, wo ein Seitenzweig entstehen soll, vermehren sich die Spongoblasten schnell und bilden bald eine Verdiekung des Mantels, welche schließlich wie ein Zapfen aufsitzt. „Markbildende Zellen werden am Grunde dieses Zapfens zurückgelassen, und diese beginnen alsbald ihre Tätigkeit, indem sie gegen die Spitze der Zweigfaser hin wachsen und das ihnen im Wege liegende Spongiolin in Marksubstanz umwandeln.“ Die Kuppel von (polyedrischen) Spon- goblasten teilt sich in 4-10 Teile. In diesen werden aber keine markbildenden Zellen zurückgelassen. Sie wachsen, ohne also Mark zu besitzen, rasch weiter und bilden ein Büschel. Inzwischen ent- wickelt sich aus dem Stamm eine Markkuppel an der Stelle, wo der Zweig aufsitzt. Es bildet sich dann da (warum grade da?) eine seit- liche Aufstülpung der Markkuppel, welche in den Zweig hineinwächst; Zweig und Stamm sind jetzt also kontinuirlich verbunden. Die im Zweig zurückgelassenen, sowie die neuerlich eingedrungenen Markzellen dringen stets vorwärts und verwandeln die Hornsubstanz in Mark- substanz. Die an der Innenseite liegenden Spongoplasten der kon- vergirenden Zweighornfäden sondern am meisten Spongiolin ab. Dadurch verkitten diese bald zu einem einzigen Zweig, der also am vordern Ende bald einfach kreisrund wird. Auf Querschnitten sieht man nun, wie das Mark das ganze System durchbohrt. T. €. J. Vosmaer (Neape)). E. Metschnikoff, Die Embryologie von Planaria polychroa. Zeitschrift f. wiss. Zoologie, Bd. 38 8. 331 - 354. Tafel XV—XVI. Die Entwieklungsgeschichte der Planarien gehört bisher zu den dunkelsten Gebieten in der Morpbologie der Wirbellosen. Die „Bijdragen tot de entwikkelings-geschiedenis der Zoetwater-Planarien“ von Knap- pert (Utrecht 1865) bildeten bis jetzt die einzige Quelle der Be- lehrung. Es war daher zu erwarten, dass die Anwendung der neuern Untersuchungsmethoden zu interessanten Ergebnissen führen würden, zumal da die Beschaffenheit der Eier als eine sehr eigentümliche be- kannt war. Was indess die Beobachtungen Metschnikoff’s zu tage gefördert haben, ist noch weit merkwürdiger, als es sich hätte voraussehen lassen. Metschnikoff untersuchte in der Provinz Kiew die Entwicklung von Planaria polychroa. Er fand die kugelförmigen an langen Stielen sitzenden Eikapseln vom Frühjahr bis zum Juli oder August auf Ceratophyllum, auf der untern Fläche der Blätter von Hydrocharis morsus ranae und auf der vordern Fläche der schmalen Blätter von Metschnikoff, Die Embryologie von Planaria polychroa. 699 Stratiotes aloides. Jede dieser anfangs blassen, später dunkel schwarz- braunen Kapseln enthält vier bis sechs Eier, beziehungsweise Em- bryonen. Die erstern sind aber sehr kleine, nackte kuglige Zellen mit hellem feinkörnigem Protoplasma und spärlichen blassen Dueto- plasmakörnehen, die durchaus nieht im Verhältniss zur Größe der Eikapsel stehen. Diese ist vielmehr zum allergrößten Teil von zahl- reichen, dicht ineinander liegenden Dotterzellen erfüllt, deren Zahl Metschnikoff auf reichlich 10000 schätzt. Es sind wie die Eier nackte Zellen, aber von unbestimmten Umrissen und mehr oder min- der erfüllt von fettglänzenden Körnern und einer bedeutenden Menge rundlicher wasserheller Vakuolen. Diese Dotterzellen werden in be- sondern Abschnitten des weiblichen Geschlechtsapparats, den soge- nannten Dotterstöcken, erzeugt, welche die Seiten des Körpers ein- nehmen. Um nun die Entwicklung der Eier innerhalb der Dotterzellen- masse untersuchen zn können sah Metsehnikoff sich ausschließlich auf die Schnittmethode angewiesen und musste zu diesem Zwecke die Cocons auf ein bis zwei Minuten in kochendes Wasser bringen und dann vorsichtig aufschneiden. Sie wurden alsdann in Chromsäure und später in Alkohol übertragen, um nach vollständiger Härtung ge- schält und schließlich gefärbt zu werden. Die Befruchtung sowie die ersten infolge derselben auftretenden Veränderungen der Eizelle (Bildung der Richtungskörper ete.) wurden nicht wahrgenommen; die Beobachtungen heben vielmehr bei der Teilung des Eikerns an, der bald die Teilung des Eies in zwei gleich große Zellen folgt. Während der folgenden Teilungen bleiben die Blastomeren nahe bei einander liegen, bilden aber nur einen unregel- mäßigen, nicht von einer Membran umschlossenen Haufen inmitten der Dotterzellen. Unter den letztern beginnen nun aber die den Blastomeren zunächst gelegenen zusammenzufließen, und nur die Kerne bewahren ihre Selbständigkeit. Nachdem auf solche Weise eine er- hebliche Anzahl von Blastomeren gebildet ist, beginnen diese, die bis dahin ganz unregelmäßig gelagert waren, eine gewisse Anordnnng zu zeigen. Es sondert sich nämlich ein rundlicher, aus mehrern Kreisen bestehender Zellenhaufen von den übrigen Zellen, die in die Masse der verschmolzenen Dotterzellen eindringen. Der Zellenhaufen ist die Anlage eines Larvenorgans, nämlich eines Schlundkopfes. Die übrigen Zellen aber fixiren sieh in gewissem Abstande von diesem an der Peripherie des Syneytiums, das sich nun durch einen Spalt von der Masse der unverschmolzenen Dotterzellen abzutrennen beginnt. Die Zellen, welche die Begrenzung des Syneytiums bilden, sind die ersten Epidermiszellen des Embryos. Dieser besteht also zu dieser Zeit — etwa 48 Stunden nach der Eiablage — aus einer Masse zu- sammengeflossener Dotterzellen, deren Kerne unregelmäßig angeordnet sind, während in der Rindenschicht zerstreute Embryonalzellen liegen, 700 Metschnikoff, Die Embryologie von Planaria polychroa. aus dem am untern Pol gelegenen Larvenschlundkopf, an dem jetzt bereits eine dieke doppelschichtige Wandung zu erkennen ist, in deren Innerm radiär angeordnete feine Fasern ausgespannt sind, und end- lich aus der aus wenigen platten Zellen zusammengesetzten Epidermis. Zu erwähnen sind noch am innern und äußern Ende des Schlund- kopfes je eine kleine Gruppe von Zellen, die letztern eine Art Epi- dermislippen darstellend, die erstern von unbekannter Bedeutung (viel- leicht ein rudimentäres Organ). Die so gebildeten Embryonen lassen sich behutsam aus der Kapsel befreien, und man erkennt dann an ihnen, dass erstens die Epidermis- zellen bereits wimpern, zweitens aber, dass der Schlundkopf starke Schluckbewegungen ausführt. Hierdurch werden die selbständig ge- bliebenen Dotterzellen ins Innere des Embryos aufgenommen, der nun einen mehr und mehr wachsenden und mit weitern Dotterzellen sich füllenden Hohlraum erhält. Der ursprüngliche Körper bildet nur eine Art Rinde, die außen von der Epidermis bedeckt ist und aus den in geringer Zahl vorhandenen Embryonalzellen und dem Syneytium sich zusammensetzt. Schließlich wird — am dritten Tage — auch der Rest der freien Dotterzellen verschluckt und die Embryonen legen sich ganz dicht aneinander. Dadurch nehmen sie die Gestalt von Pyramiden an, deren Spitzen gegen das Zentrum der Kapsel gerichtet sind. Die Veränderungen beschränken sich nun wesentlich auf die Rindenschicht: dort beginnen die Kerne des Syneytiums zu atrophiren, während sich die Embryonalzellen offenbar auf kosten des letztern lebhaft vermehren, bis sie schließlich zu den zahlreichsten Elementen des Körpers werden. Einige bilden eine niedrige Grenzschicht an der innern Oberfläche der Rinde. Am sechsten Tage plattet sich der Embryo ab, indem die bis- herige Pyramidenbasis zum Rücken, die Spitze zum Bauch wird. Zu gleicher Zeit kommt in unmittelbarer Nähe des Schlundkopfes in Ge- stalt eines mächtigen soliden Zellenhaufens der definitive Rüssel zum Vorschein, der den provisorischen ersetzt. Die Rindenzellen ha- ben sich so stark vermehrt, dass sie zwischen die verschluckten Dot- terzellenmassen eindringen und diese in mehrere, regelmäßig angeord- nete Abteilungen zerfallen. Hier verwandeln sie sich zum Teil in Spindeln, die ersten Muskelzellen des Körpers. So entsteht das Paren- chym und eine durch die interstitiellen Muskelstränge desselben in Glieder zerlegte Dotterzellenmasse, die nun in jeder Beziehung dem Darmkanale der Planaria entspricht. Es ist gewiss im höchsten Grade überraschend, dass die Zellen, welche diesen Darmkanal zu- sammensetzen, sich durchaus wie echte Endodermzellen niederer Tiere verhalten und so auch die durch Metschnikoff frühere Untersuch- ungen bekannt gewordene „intrazelluläre Verdauung“ zeigen, also nicht ein verdauendes Sekret erzeugen und dann die von diesem aufgelösten Nahrungsstoffe resorbiren, sondern die letztern in ungelöster Gestalt Albrecht, Ueber die vier Zwischenkieferknochen. 701 in sich aufnehmen und in ihrem Innern zersetzen. Metschnikoff hatte diesen Vorgang an den Darmzellen ausgewachsene Planarien früher beschrieben und es ist daher von Bedeutung, ihn für die Dot- terzellenmassen des jungen Tieres nachgewiesen zu sehen, um so mehr als es niemals zur Bildung eines eigentlichen Endo- derms kommt, das seinen Ursprung von der Eizelle her- leitet. Metschnikoff bezeichnet deshalb die verdauende Dotter- zellenmasse als „vikariirendes Endoderm“ und fasst den Vorgang als eine „sehr merkwürdige Substitution der Organe“ auf. Er denkt sich, ursprünglich habe sich bei den Planarien wie bei andern Tieren ein echtes Endoderm gebildet, während die Dotterzellen lediglich als Nahrung des Embryos fungirten. Im Laufe der Zeit aber seien die im Ueberschuss vorhandenen, die sich im Darmkanale neben den ech- ten Endodermzellen befanden, am Leben geblieben, übten mit diesen die gleiche Funktion aus, und dies habe schließlich zu einer Substi- tution des Endodermgewebes durch Dotterzellen geführt. In Ueberein- stimmung mit dieser Auffassung, wonach das Endoderm im Laufe der Phylogenie verloren gegangen wäre, lässt sich der unterhalb des Lar- venschlundkopfes gelegene Zellenhaufen als ein Rudiment des ursprüng- lichen Darmes deuten. Aus den Beobachtungen über die Entwicklung der übrigen Or- gane sei hier nur noch hervorgehoben, dass Metschnikoff das Ge- hirn von Anfang an im Parenchym antraf und keine Ektodermver- diekung erkennen konnte. Ihm scheint daher der von O. und R. Hertwig angenommene mesenchymatöse Ursprung des Zentralnerven- systems der Planarien gleichfalls wahrscheinlich. J. W. Spengel (Bremen). Paul Albrecht, Sur les 4 Os intermaxillaires, le bec-de- lievre et la valeur morphologique des dents incisives superieures de I’homme. Avec une planche et cing fig. Bruxelles. 1883. Derselbe, Sur le Cräne remarquable d’une idiote de 21 ans. Avec deux planches et huit fig. Bruxelles. 1883. Diese beiden Abhandlungen sind der anthropologischen Gesell- schaft zu Brüssel am 25. Oktober 1882 bezw. 26. Februar 1883 vor- gelegt. In der ersten Abhandlung liefert der Verf. die genauere Aus- führung einer frühern vorläufigen Mitteilung, wonach beim Wolfs- rachen die Knochenspalte keineswegs immer zwischen Os inter- maxillare und maxillare superius proprium hindurchgeht, sondern auch so verlaufen kann, dass der laterale Schneidezahn im letzt- genannten Knochen zu wurzeln scheint. Selbstverständlich kann dies 02 Albrecht, Ueber die vier Zwischenkieferknochen. I beiderseitig vorkommen. In Wahrheit sind nach dem Verf. jederseits ein Os intermaxillare internum und externum vorhanden, deren jedes einen Schneidezahn enthält. Die pathologische Spalte liegt zwischen dem Os internum und externum; daher kommt es, dass bei doppelseitiger Entwicklungshemmung nur zwei Schneide- zähne vom knöchernen Vomer getragen werden. Gegen diese Theorie hat M. Th. Kölliker (Nova Acta der K. Carol. Leopold. Akademie, 1882. Bd. XLIH. S. 374) bekamntlich ein- gewendet, dass die Zahnanlagen und die Entstehung von Gesichts- knochen aus gesonderten Verknöcherungspunkten von einander un- abhängig seien. Denn die Zähne gehen ursprünglich aus einer Wucherung von Papillen der Mundhöhlenschleimhaut hervor. Es kann daher auch nicht auffallen, wenn gelegentlich sechs Schneidezähne in solchen Fällen vorkommen, wie es Kölliker beobachtet hat. Albrecht ist hierüber anderer Ansicht. Die sechs Schneide- zähne werden als atavistische Bildung erklärt, indem beim nor- malen Menschen der mittlere Schneidezahn verloren gegangen und der laterale (praecaninus) eigentlich der dritte Schneidezahn sei. Durch mangelnde Anastomosen der Arterien, welche den Oberkiefer einerseits und den Vomer nebst Ossa intermaxillaria andererseits ver- sorgen, entstehe eine überwiegende Ernährung der letztern, wobei die Anlage des sonst verloren gehenden mittlern Schneidezahnes zur Ent- wicklung komme. Zur Unterstützung dieser Ansicht werden abge- bildet: ein Kinderschädel mit doppeltem Wolfsrachen und 6 obern Schneidezähnen, der Schädel eines jungen Pferdes, an welchem ein Wolfsrachen besteht, wobei 7 Schneidezähne {statt der normalen 6) vorhanden sind. Die drei normalen sitzen im Os intermaxillare in- ternum, der überzählige vierte im Os intermaxillare externum, die Spalte geht zwischen diesen beiden Knochen hindurch. Der Verf. beruft sich außerdem auf den Hasen und das Ka- ninchen, bei welchen bekanntlich (Waterhouse, 1848) einige Tage nach der Geburt drei Schneidezähne in jedem Oberkiefer vorhanden sind. Der mediale große Schneidezahn unterliegt keinem Wechsel, der zweite ist der Milchzahn, worin Ref. mit v. Nathusius (1876) entgegen F. Cuvier’s (1821) Angaben übereinstimmt, der dritte ist der bleibende zweite oder hintere Schneidezahn. Man wird also nicht mit dem Verf. annehmen können, dass der hintere Milchschneidezahn ein atavistischer Rest sei, denn dasselbe wäre sonst am Ende auf jeden Milchzahn anwendbar. Will man irgend eine angeborene pathologische Störung, also eine Missbildung, auf phylogenetische Basis stellen, so ist dazu offenbar dasselbe Verfahren erforderlich wie bei jeder andern nicht- pathologischen Varietät. Erstens muss, wenn es sich z. B. um einen überzähligen Knochen handelt, derselbe als normaler, während irgend einer embryonalen Entwicklungsperiode (des Menschen) konstant auf- a Albrecht, Ueber die vier Zwischenkieferknochen. 703 tretender Knochenkern nachgewiesen sein. Zweitens ist die Perma- nenz des letztern als bleibender Knochen bei irgend welchen oder möglichst vielen Wirbeltieren darzutun. Drittens ist seine Homologie oder Homodynamie aufzuzeigen, vorausgesetzt, dass dem betreffenden Skeletabschnitt homodyname Partien im Körper vorhanden sind, was doch grade im Knochensystem die Regel bildet. Mit Hilfe dieser drei Punkte lässt sich theoretisch sogar das Vorkommen einer be- stimmten Varietät im voraus vermuten, noch ehe letztere nn beobachtet wurde. Allen diesen Anforderungen ist z. B. bei Gelegenheit des zuerst von Cloquet (1844) gesehenen Talus seecundarius genügt, den Bardeleben als Homologon des Os intermedium s. Junatum an der Hand erkannte, und dessen Konfiguration am normalen Tarsus des Menschen von Albrecht kürzlich so überzeugend dargetan ist. Kein Anatom wird gegen diese Deutung Zweifel erheben, aber doch haupt- sächlich deshalb, weil die morphologische Grundlage seit Gegen- baur’s Arbeiten über die Homologie von Carpus und Talus ein für allemal gesichert vorliegt. In ähnlicher Weise kann hier und da den obigen methodologi- schen Anforderungen sogar in Fällen genügt werden, welche in das pathologische Gebiet fallen. Wie weit dabei Atavismus im engern Sinne nachgewiesen erscheint, muss der Beurteilung der folgenden Abhandlung überlassen bleiben, worin jene Anforderungen wiederum in betracht kommen. In der zweiten Abhandlung wird der Schädel einer 21jährigen Idiotin sehr genau beschrieben, welche in der Ideler’schen Irren- anstalt zu Dalldorf bei Berlin gestorben war. Auf die Beschreibung der einzelnen Knochen kann hier nur teilweise eingegangen werden; der Schädel wurde nach Broca’s Verfahren von Houze& gemessen; derselbe erwies sich als mikrocephal (Kapazität mit Schrot gemessen — 970 ccm), brachycephal (Breitenindex —= 80) und hypsicephal (Höhenindex —= 86). Von Interesse ist hier das auf die Wirbeltheorie des Schä- dels Bezügliche. Albrecht nimmt sechs Schädelwirbelkörper an: Septum narium cartilagineum, Ethmoideum, Sphenoideum anterius, Sphenoideum posterius, Basioticum und Basioceipitale. Zu dem neuen, den vordern größern Abschnitt des Corpus oss. oceipitis ein- nehmenden Basiotiecum gehören als Neurapophysen die Felsenbeine. An dem fraglichen Idiotenschädel war nun das Basioticum mit dem Sphenoideum posterius knöchern vereinigt, mit dem eigentlicheu Cor- pus oss. oceipitis (Basioceipitale) aber nur durch eine dünne Knochen- brücke verbunden. Ossa parietalia. In betreff der Schuppe des Scheitelbeins hat Albrecht (Sur V’articulation mandibulaire ete. 1883) gezeigt, dass sie aus zwei Teilen hervorgeht, die einem Os squamosum und Os 704 Albrecht, Ueber die vier Zwischenkieferknochen. quadratum homolog sind. Von dem letztern Teil ragt ein Processus herab, welcher den Processus mastoideus teilweise zudeckt; es fehlt die normale Synostose der Sutura quadratomastoidea. Eine Spur dieser Sutur findet sich nach dem Verf. übrigens häufig an ganz nor- malen Schädeln als Varietät. — Die Vagina des Processus styloideus ist etwa 2 em lang; sie entspringt vom Os tympanicum, nicht vom Felsenbein sive Pyramide. Der Verf. glaubt, dass Henle sie vom Os petrosum entstehen lasse, hat dabei aber nicht beachtet, dass für Henle Felsenbein und Pyramide keineswegs synonyme Ausdrücke sind, wie es bei den meisten Anatomen der Fall ist. Die linke Hälfte der Sutura coronalis ist fast vollständig ob- literirt, der mediale Teil der rechten Hälfte sieht merkwürdig aus, als ob die Sutur ein Knochenbruch wäre. Merkwürdig ist auch, dass das linke Os parietale von der Ala magna durch einen Processus frontalis der Pars squamosa oss. temporum getrennt wird, während zugleich ein etwas kleinerer Processus squamosus oss. frontis dicht darüber liegt. Vomer. Den Vomer hält der Verf. für die Hypapophysen der beiden vordersten Schädelwirbel (s. oben). Ossa maxillaria superiora. Vor dem lateralen Ende der Sutur zwischen dem Processus palatinus oss. maxillar. super. und der Pars palatina des Gaumenbeines liegt auf der untern Seite eine Spina paraalveolaris, welche derVerf. an dem vorliegenden wie an mehrern andern Schädeln beobachtete. Os zygomaticum s. malare. Das erste Jochbein wird durch eine vertikale Naht (nicht durch eine horizontale wie beim Os ja- ponicum) in eine größere hintere und eine kleinere vordere Hälfte geteilt. Sind beide Nähte vorhanden, wie an einem von Breschet beschriebenen Fötus mit Hemikranie, so ergibt sich ein Os hypo- malare s. malare inferius, welches dem Quadratojugale entspricht, ferner ein Os praemalare s. postfrontale anterius und ein Os post- malare s. postfrontale posterius; beide zusammen können als Os epimalare s. malare superius bezeichnet werden. Bei einem jungen Cynocephalus war das Os hypomalare vom Oberkieferbein durch ein kleines Os supramaxillomalare, welches dem Jugale homolog ist, getrennt. Orbitae. Jede derselben öffnet sich wie bei Säugetieren in die Fossa temporalis durch eine Spalte oder Fissura frontomalaris, indem der Processuszygomaticus oss. frontis das Os zygomaticum nicht erreicht. Maxilla inferior. Gegenüber der Lingula mandibulae sitzt eine Antilingula am Eingang des Canalis maxillaris. Die doppelte Spina mentalis ist stark entwickelt; über derselben findet sich eine kleinere Fossula supraspinata (Virchow) und unter der Spina eine tiefere Fossula subspinata, wie sie der Verf. klassifieirt. W. Krause (Göttingen). Bioloeisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. \ 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. m. Band. 1. Februar 1884. Nr. 28. Inhalt: izelis, Mor Bhislogiiche Tarssnchunben über era neubrankerba trun- cata Smith. — Bertkau, Die Begattung von Mutilla ephippium. — Packard, Monographie der nordamerikanischen Phyllopoden. -— Boas, Studien über die Verwandtschaftsbeziehungen der Malakostraken. — 4iacosa, Versuche über die in hohen Luftschichten enthaltenen Keimsporen niederer Organismen. — Götte, Ueber den Ursprung des Todes. — Roux, Ueber die Bedeutung der Kernteilungsfiguren. Morphologische Untersuchungen über Flustra membranaceo- truncala Smith. Von Dr. W. J. Vigelius in Haag (Holland). Unter obenstehender Ueberschrift hoffe ich demnächst eine aus- führliche Arbeit zu veröffentlichen, welche bestimmt ist, einen Beitrag zur Morphologie der marinen Bryozoen zu liefern. Wenn auch unsere bisherigen morphologischen Kenntnisse über sämtliche Bryozoen noch sehr dürftig und unvollständig zu nennen sind, so gilt dies doch insbesondere für die umfangreiche Gruppe der Ectoprocten (speziell der marinen Formen), von deren Bau wir uns eigentlich noch gar keinen klaren Begriff zu machen im stande sind. Der Grund für diesen Tatbestand liegt einerseits in der Unvollstän- digkeit unserer ontogenetischen Kenntnisse, andererseits aber auch in der geringen Bekanntschaft mit der Anatomie dieser interessanten Tiere. Ich brauche nur an die Cycelostomen zu erinnern, über deren Bau wir im Grunde eigentlich noch nichts wissen. Durch die jüng- sten Untersuchungen von Barrois über die Beziehungen der Larve zu dem fertigen Tiere sind wir nun allerdings einen großen Schritt vorwärts gekommen, indem dieser Forscher fundamental festgestellt hat, dass die ernährenden Organe des Erwachsenen (Polypid Aut.), sei es auch manchmal in sehr primitivenr Zustande, schon im Larven- leben vorgebildet sind und durch eine entweder einfache oder kom- plizirte Metamorphose in den definitiven Zustand übergehen. Obwol 45 706 Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Ffıstra membranaceo-truncata. über den genauen Gang dieses Entwicklungsprozesses immerhin noch großes Dunkel schwebt, so gebührt doch Barrois das große Ver- dienst, die Neubildung des Polypids durch Knospung aus einer innern Zerfallsmasse der Larve als unrichtig zurückgewiesen zu haben. Dass durch diesen Befund ein wesentlicher Beitrag zum bessern Verständniss des fertigen Tiers geliefert worden ist, werde ich wol kaum zu betonen haben; derselbe spricht nämlich ungemein zu gun- sten der ältern Grant-Ehrenbergschen Ansicht, nach welcher Polypid und Cystid (Nitsche) zusammen das Einzeltier darstellen. Während also auf dem Gebiete der Entwicklungsgeschichte grade in den jüngsten Tagen neues Leben erweisbar ist, hat das Studium der Anatomie der Bryozoen seit längerer Zeit fast vollständig ge- schlummert. Ueberzeugt von der Notwendigkeit, das Feld der Bryozoenmor- phologie durch neue Untersuchungen weiter zu erforschen, habe ich mich dazu entschlossen, die zum Studium geeignetsten Formen aus den Abteilungen der Chilostomen, Otenostomen und Cyclostomen einer gründlichen monographischen Bearbeitung zu unterwerfen und in die- ser Weise mit Hilfe der vorhandenen Literaturangaben das nötige Material zu einer vergleichenden Anatomie zu sammeln, welche ohne Zweifel in bezug auf die Verwandtschaft der verschiedenen Abteilun- gen, so wie auch auf die organologische Stellung der Bryozoen manches neue zutage zu fördern verspricht. Als eine erste Nummer dieses Programms möchte ich nun die hier angekündigte Arbeit betrachtet sehen. Leider musste ich in derselhen die Ontogenie vollkommen bei Seite lassen, da das mir zu gebote stehende Material, von den niederländischen Polfahrten (1880 und 1881) herstammend, in Alkohol konservirt war. Später hoffe ich aber in dieser Beziehung glücklicher zu sein, und mich an der Meeresküste mit lebenden Formen beschäftigen zu können. Ich erlaube mir an dieser Stelle die wesentlichsten Resultate meiner Arbeit kurz zu- sammenzufassen. 1. Flustra membranaceo-truncata liefert einen neuen Beweis für die in jüngster Zeit öfters ausgesprochene Ansicht, dass der Wachs- tumsmodus des Bryozoenstockes als Grundlage für die Einteilung der Familien etc. absolut keinen Wert besitzt. 2. Als deutlich differenzirte Individuen des polymorphen Bryozoen- stockes erkenne ich nur das Nährtier und das Avicularium. Die Brut- kapseln haben hier die Bedeutung von Organen (primitives Verhalten), nicht von Individuen. In gleicher Weise muss ich die besonders im proximalen Teile des Stockes zerstreut auftretenden Haftröhren deuten. (Die Bezeichnung „Wurzelfäden“ (Aut.) ist unpassend). Diese Ge- bilde sind hohle, an ihrem freien Ende gewöhnlich verzweigte Schläuche, welche aus der oberen Seite (Neuralwand Aut.) des Nähr- tieres hervorwachsen und deren Hohlraum mit der Leibeshöhle des Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. 707 Tieres in offener Verbindung steht. Das mit einer Haftröhre ausge- stattete Nährtier enthält bisweilen einen vollständigen Ernährungs- apparat, gewöhnlich aber einen braunen Körper, der manchmal noch von einem sich neubildenden Ernährungsapparat begleitet wird. Die Haftröhre ist also keineswegs als eine Cystidmodifikation im Sinne Nitsche’s zu betrachten. 3. Die Nährtiere zerfallen nach ihremAlter in 4 Kategorien 1) knospende Tiere; diese befinden sich an der Randzone des Stockes; 2) vollkommene Tiere, welche (teilweise wenigstens) die geschlecht- liche Fortpflanzung besorgen und nach Verlust ihres Ernährungsappa- rates (bis auf den braunen Körper) denselben regeneriren können. 3) ruhende Tiere, bei denen der braune Körper noch eine Zeit lang persistirt, und 4) abgestorbene Tiere, bei welchen alle Weichgebilde (einschl. brauner Körper) einem weiteren Zerfall anheimgefallen sind. Ruhende und abgestorbene Tiere treten gewöhnlich in geringer Zahl auf; sie finden sich fast nur im proximalen Teile des Stockes, also in der Nähe des primären Individuums. 4. Cystid und Polypid (im Sinne Nitsche’s) bilden zusammen das vollkommene Nährtier. Im normalen Zustande hat es die Ge- stalt eines Parallelopipeds und besteht aus 3 Hauptteilen ; 1) Haut, 2) Ernährungsapparat (Tentakeln und Traetus intestinalis) und 3) Parenchymgewebe, welches die Leibeshöhle (Perigastralhöhle Aut.) d. h. den zwischen Haut und Ernährungsapparat ausgesparten Raum auskleidet und durchsetzt. (Hierzu gehört genetisch auch die Ten- takelscheide.) Außerdem befinden sich in der Leibeshöhle noch die Muskeln und gelegentlich auch die Genitalorgane. Haut. Das das Hautskelet liefernde Ektodermalepithel ist nur in jungen Knospungsstadien vorhanden und geht nachher verloren. Nicht nur seine plasmatischen Bestandteile, sondern auch seine Kerne scheinen einem weitgehenden Zerfall zu unterliegen. Die Zellkerne, welche im erwachsenen Tiere der Innenseite des Hautskelets anliegen, besitzen durchgängig ganz andere Charaktere und gehören dem Paren- chymgewebe an, welches aus den Derivaten des Ectodermalepithels entsteht (s. u.). Das Hautskelet (Eetocyste Aut.) besteht aus 6 chitinösen Platten, welche mit Ausnahme der unteren oder Opereularplatte Kalk- einlagerungen enthalten. Diese bilden ein für sich isolirbares Kalk- skelet. Nur die Opereularplatte kann durch Muskeln (Parietalmus- keln) bewegt werden. Das Kalkskelet besteht aus 6 (nicht 4) den Chitinplatten entsprechenden Lamellen, welche mit ihren Rändern einander direkt anliegen. Die Seitenwände so wie auch die vordere (distale) und hintere (proximale) Wand des Kalkskelets enthalten ziemlich große Löcher, welche durch unverkalkte Platten geschlossen sind. In den letzern kommen kleine Oeffnungen vor, durch welche die benachbarten Individuen miteinander in Verbindung stehen. Nur 45° 708 Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata, diese Oeffnungen, nicht aber die mit einer Platte verschlossenen Löcher, können als „Kommunikationsporen“ (Smitt) bezeichnet werden. Der Name „Rosettenplatten“ (Reichert) ist hier absolut unbrauchbar, zu- mal die Poren meistens vereinzelt ohne jede Spur von regelmäßiger Anordnung auftreten. Die Distanzen zwischen den Löchern sind manchmal sehr ungleich; auch ist ihre Zahl für jede Wand ziemlich inkonstant. Parenchymgewebe. Mit diesem Namen bezeichne ich provi- sorisch den ganzen Gewebekomplex, welcher mit Ausnahme der Muskeln sich zwischen Hautskelet und vegetativem Tractus erstreckt. Das Parenchymgewebe umfasst also die sogenannte Endocyste samt dem Endosare (Joliet). Für die Zusammengehörigkeit dieser beiden bis jetzt getrennt behandelten Gewebe sprechen 1) ihre Entstehungs- weise in der Knospe; 2) ihr Zusammenhang und ihre histologische Struktur; 3) ihr physiologisches Verhalten (da z. B. nachgewiesen ist, dass „bei einigen Chilostomen sowol die „Endocyste“ als der zum „Endosarc“ gehörende Funiculus die Geschlechtsprodukte liefern kann) und 4) die bei den phylogenetisch ältern Entoprocten auftretenden Verhältnisse. Das Parenchymgewebe tritt in jedem Nährtier unter zwei Hauptdifferenzirungen auf. Die eine Differenzirung umfasst die der Innenseite des Hautskelets unmittelbar anliegende „Parietalschicht“ (Endocyste) so wie auch die dem Ernährungsapparat aufliegende „Darm- schicht, die andere Differenzirung umfasst das zwischen Parietal- und Darmschicht ausgespannte „Stranggewebe“ (Endosare). Die hier ge- wählten Namen sollen nur dazu dienen die Beschreibung des Parenchym- gewebes zu erleichtern; weiter haben sie keinen Zweck. Die Parietal- und Darmschicht bilden ein sehr dünnes lockeres Gewebe (keine Membran), welches ich als eine wenig scharf definir- bare Form des bei niederen Tieren in so weiten Grenzen variirenden retikulären Bindegewebes zu deuten geneigt bin. Ein den Darm gegen die Leibeshöhle abgrenzendes Epithel, welches bis jetzt allge- mein angenommen wurde, fehlt absolut. Das Stranggewebe, dessen inniger Zusammenhang mit Parietal- und Darmschicht in klarster Weise vorliegt, lässt sich als eine vermutlich durch fadenförmige Ausziehung hervorgerufene Modifikation dieses retikulären Bindege- webes auffassen, welche vielleicht durch die während der Phylogenese erworbene Coelombildung in hohem Grade beeinflusst wurde. Im er- wachsenen Individuum verhalten sich die Stränge wesentlich als nach innen lang ausgezogene Teile der Parietal- und Darmschicht. Uebrigens ist auch nden beiden letzern die Neigung zur fadenförmigen Verlängerung der plasmatischen Bestandteile manchmal sehr deutlich nachzuweisen. Die Auffassung der Parenchymstränge als Hohlgebilde muss ich vollständig von der Hand weisen. Auf die histologischen Einzelheiten kann ich mich hier nicht einlassen; nur möge hervorgehoben werden, dass die Darmschicht äußerst spär- Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. 709 lich entwickelt ist, ja sogar stellenweise vollkommen fehlen kann. In Knospungsstadien ist sie dagegen oft sehr deutlich zu sehen. Die dünnen bisweilen anastomosirenden Stränge sind ebenfalls spärlich entwickelt, zeigen eine unregelmäßige Anordnung in der sehr ge- räumigen Leibeshöhle und fixiren den Ernährungsapparat. Ein deut- licher konstant auftretender Funieularstrang (Funieularplatte, Nitsche), der den Magen mit der Parietalschieht verbindet, kommt nicht vor. Die Eingeweide werden durch verschiedene Stränge fixirt, welche nahezu von demselben Kaliber sind. Die Tentakelscheide bildet im imvaginirten Zustande eine zylindrische membranöse Hülle, in welche zwei Systeme von senkrecht auf einander stehenden Muskelfasern eingebettet {nicht aufgelagert) sind (Muskelmembran). Die Längsfasern ordnen sich in der Nähe der sogenannten Parietovaginalbänder in vier Bündel. Die Fasern jedes Bündels konvergiren nach dem Ausgangspunkte des benachbarten Parietovaginalbandes. Die Behauptung Nitsche’s, dass diese Muskel- fasern sich in die Bänder fortsetzen, muss ich vor der Hand be- zweifeln, doch stehen mir hierüber noch keine entscheidende Resultate zur Verfügung. Sicher ist aber, dass die Parietovaginalbänder nicht homogen, sondern von zelliger Natur sind; ich betrachte sie als Teile des Parenchymgewebes. In der Tentakelscheide liegen hie und da auch Zellkerne. Ein Teil aber der Kerne, welche man bei Flächen- ansicht der Tentakelscheide zu sehen bekommt, sind dieser Membran aufgelagert und gehören der oben genannten Darmschicht an. Die Tentakelscheide so wie das Diaphragma haben mit der Darmschicht eine gemeinsame Anlage und sind genetisch zum Parenehymgewebe zu rechnen. Die Muskeln durchsetzen die Leibeshöhle als Bündel einzelliger, kerntragender Fasern. Sie sind Produkte des Parenchymgewebes und lassen sich besonders durch ihre Entstehungsweise auf die Parenchym- stränge zurückführen. Die von verschiedenen Seiten beschriebene Querstreifung ist eine sehr inkonstante Erscheinung und tritt nicht nur in den Retraetoren sondern auch bisweilen in den Opereularmus- keln auf. Die Grundmembran der 16 oder 17 röhrenförmigen Tentakeln so wie auch deren Fortsetzung im Ringkanal ist an der Innenseite mit einer sehr lockern Zellenschicht ausgekleidet, welche hie und da große vereinzelte Kerne trägt. Der Außenseite dieser Membran sitzen 8 Längsreihen von Epithelzellen auf, von denen nur die seitlichen Cilien tragen. In die Grundmembran der Tentakeln sind Muskelfasern eingebettet. Die Existenz eines Nervensystems kann ich bis jetzt nur ver- muten, nicht für begründet erklären, Als sein Centrum möchte viel- leicht die kleine rundliche Zellenmasse zu deuten sein, welche in der Symmetrieebene auf der analen Seite der vorderen Pharynxwand liegt ‘10 Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. und frei in das Lumen des Ringkanals vorspringt. Von ihm scheinen (in Uebereinstimmung mit Nitsche’s Beobachtungen) einige wenige Fäden (Nerven?) auszugehen, welche zu dem Phanynx und den Ten- takeln verlaufen. Das Pigment und die geringe Größe des betreffen- den Objektes erschweren auch hier ungemein die Untersuchung. Bei Betrachtung der Tiere von der obern Seite ist von diesem vermeint- lichen Ganglion nichts zu sehen. Es ist nicht scharf begrenzt und seine Zellen unterscheiden sich keineswegs auffallend von den um- gebenden vegetativen Zellen des Pharynx. Ueber den Bau des Traetus intestinalis habe ich wenig neues zu berichten; er zerfällt in 4 Abschnitte 1) Pharynx (Oesopha- gus Aut.); 2) Magen; 3) Blindsack und 4) Reetum. Auch die Mem- bran des Darmes ist eine Muskelmembran (besonders deutlich im Pha- rynx und im Rectum). Brutkapseln. Jede Ovizelle sitzt dem distalen Pole des ihr zugehörenden Einzeltieres direkt auf und liegt so zu sagen zwischen 2 einander in der Längsreihe folgenden Individuen eingeschoben. Sie entsteht in sehr jungem Alterdes 2 Geschlechtstieres zugleich mit dem Ovarium. An ihrer Bildung betheiligt sich nicht nur das Geschlechts- tier, sondern auch das nächst höher liegende Individuum. Die Ent- wicklung der Ovizelle weicht von den durch Nitsche bei Bicellaria aufgefundenen Verhältnissen bedeutend ab, und dies ist an und für sich sehr natürlich, da wir es hier mit inneren, dort mit äußeren Ovizellen zu tun haben. Die Bildung der Ovizelle beruht hauptsächlich auf der Entstehung einer blasenförmigen Einstülpung der untern Haut- skeletwand etwas distalwärts von der Grenze zwischen 2 einander in der Längsreihe folgenden Individuen. Indem diese Blase nach innen wächst, dringt sie in die Leibeshöhle des dem Geschlechtstiere aufsitzenden Tieres hinein und verkleinert dieselbe bedeutend. Die untern Ränder der Blase wachsen während dieses Prozesses als Falten des Hautskelets einander entgegen; die distale Falte bildet sich zu einem unbeweglichen, stark verkalkten, über die Unterseite des Stockes etwas vorspringenden Helm aus, die proximale Falte dagegen gestaltet sich zu einem Deckelapparat, der von dem freien Rande des Helmes überragt wird. Dieser Deckelapparat, welcher sich sehr gut mit dem gewöhnlichen Opereulum der Chilostomen vergleichen lässt, bleibt ehitinös und kann durch 2 besondere Muskelfaserbündel, welche sich in den beiden distalen Ecken an der obern Wand des Geschlechtstieres inseriren, bewegt werden. Die Bildung der Blase wird schließlich noch von einem abweichenden Verhalten der Scheidewand zwischen den beiden an der Ovizellbildung sich beteiligenden Individuen be- gleitet. Diese Wand stößt anfänglich an den hintern Rand des Deckelapparats und biegt sich dann nach vorn um, um sich mit der obern Wand der Ovizelle zu verbinden. In dieser Weise wird durch Auseinanderweichen von Deckel und Scheidewand eine weite Kom- Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. 711 munikationsöffnung zwischen Geschlechtstier und Ovizelle gebildet, welche znm Durchtritt des Eies bestimmt ist. Beim Uebergang des Eies in die Brutkapsel wird wahrscheinlich der sehr dünne proximale Teil der Blasenwand gegen den distalen Teil vorgedrängt, wodurch das Ei längere oder kürzere Zeit in eine nach vorn, unten und oben geschlos- sene Kapsel zu liegen kommt. Leider befinden sich unter meinen Prä- paraten keine Längsschnitte durch Ovizellen, welche mit einem Ei aus- gefüllt sind. Ich vermute aber, besonders da nach aller Wahrscheinlich- keit die Befruchtung des Eies in der Ovizelle vor sich geht, dass dieser dünne proximale Teil der Blasenwand einer frühzeitigen Ruptur unter- liegt, worauf dann das Ei durch die zwischen Helm und Deckel befind- liche Oefinung mit dem Meereswasser in Berührung kommen kann. Schließlich muss ich noch auf die morphologische Uebereinstim- mung der bei Alcyonella und bei Flustra auftretenden Ovizellbil- dungen hinweisen; sie regt die Frage an, ob beide nicht als Homo- loga zu betrachten sind. Geschlechtsprodukte. Ueber Ursprung und Entwicklung der Geschlechtsprodukte habe ich schon früher in einer vorläufigen Notiz!) berichtet. Ich kann also hier auf dieselbe verweisen und möchte nur einige seitdem gewonnene Gesichtspunkte kurz hervor- heben. Die damals ausgesprochene Vermutung, dass der Hoden, grade wie das Ovarium, ein Produkt der Parietalschicht (Endocyste) sei, hat sich vollkommen bestätigt. Ovarium und Hoden gehen aus runden homologen Zellen hervor, welche aus der Parietalschicht ihre Entstehung nehmen. Spermagenese. Die runden oder polygonalen klumpenweise zusammenhängenden Spermatosporen (im Sinne Bloom- field’s) vermehren sich ungemein stark, sodass der Hoden im ge- schlechtsreifen Zustande fast die ganze proximale Hälfte der Leibes- höhle einnimmt. Trotz vielfacher Bemühungen konnte ich bei diesen Hodenzellen niemals eine Spur von Karyomitosis (Flemming) wahr- nehmen, womit ich aber durchaus nicht gesagt haben will, dass eine solehe Teilungsart hier überhaupt nicht vorkommen kann. Das Stu- dium der Spermagenese wird nämlich durch die starke Pigmentan- häufung in den betreffenden Elementen erheblich erschwert. So weit aber meine Untersuchungen, gehen bin ich geneigt, das Vorkommen einer direkten oder amitotischen Kernteilung anzunehmen und halte es außerdem für möglich, dass derselben eine Zellteilung (Holoschisis) folgt. Für die Argumente zu gunsten dieser Ansicht muss ich auf die Arbeit selbst verweisen. Durch wiederholte Teilung der Spermatosporen entstehen die kleinen Spermatoblasten. Diese liegen entweder ganz frei oder hängen eine Zeit lang lose mit einander zusammen; sie bilden aber nie rundliche oder ovale Klumpen von etwa regelmäßig angeordneten Zellen (Poly- 1) Siehe Biologisches Centralblatt 1882. 712 Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. blasten Bloomfield), welche einer ernährenden Substanz (Blasto- phor) aufsitzen. Entweder haben wir hier also noch ein sehr primi- tives Verhalten, wobei das Blastophor noch gar nicht zur Entwieklung gekommen ist, oder das Fehlen desselben lässt sich durch eime Art Anpassung erklären, indem es nicht unmöglich ist, dass die Sperma- toblasten welche in der umgebenden Perig ackralinssiekeit eine reich- liche Nahrung finden, das Blastophor allmählich verloren haben. Ein gründliches Studium der Spermagenese bei den Entoprocten wird hierüber näher entscheiden können. Bei der Umwandlung der Spermatoblasten in Spermatozoen nehmen erstere‘ eine birnförmige Gestalt an; an dem spitzen Ende entsteht dann der Spermatozoenschwanz, der sich aus dem Zellenplasma bildet, während der in diesen Stadien in die Länge gezogene Kern ganz oder teilweise (?) in die Bildung des Kopfes eingeht. Die freien Spermatozoen bestehen aus einem birnförmigen Kopf und einem langen haardünnen Schwanz. Einen Kern konnte ich nicht nachweisen. Die Behauptung Joliet’s, dass bei den Betoprocten die ge- schlechtliche Fortpflanzung eine Funktion des Ernährungsapparats sei, findet hier absolut keine Bestätigung. Im Gegenteil, die Ge- schlechtsprodukte entwickeln sich ganz unabhängig von demselben. Mit geringen Ausnahmen sind die Geschlechtstiere getrennten Geschlechts. Die Befruchtung ist in diesem Falle aller Wahrscheinlichkeit nach eine äußere und findet in den Ovizellen statt. Auch beim Vorkom- men von Hermaphroditismus ist die Selbstbefruchtung als Regel noch sehr in Frage zu stellen, indem die d wnd 2 Genitalprodukte ge- wöhnlich nicht zu derselben Zeit die Reife erlangen. Die Z und 2 Geschlechtstiere liegen (hauptsächlich in den mitt- lern Teilen des Stockes) durch einander zerstreut und sind ungefähr von dem gleichen Alter. — Besondere Oeffnungen oder spezielle dem Zweck des Ausschwärmens der Spermatozoen dienende Einrichtungen existiren nicht. Die Spermatozoen werden durch die äußere Oeffnung des Tieres in das Meerwasser entleert. Dies wird dadurch möglich, dass Ernährungsapparat und Tentakelscheide infolge der mächtigen Entwieklung des Hodens konstant zu grunde gehen, wodurch bei auf- tretender Reife der Spermatozoen die Leibeshöhle mit dem Meer- wasser in freie Kominwnikation tritt. 5. Histolysis. Der zeitweise Verlust des Ernährungsapparats innerhalb des lebenden Nährtiers, sowie die damit zusammenhängende Bildung des sogenannten braunen Körpers sind nicht nur in den mitt- lern, sondern manchmal auch in den ältern Teilen des Stockes allge- mein verbreitete Erscheinungen. Der Zerfall des Ernährungsapparats kann in sehr verschiedner Weise vor sich gehen. Wenn nieht alle seine Teile gleichzeitig der Histolyse anheimfallen, so sind es entweder die Magenabschnitte oder die Tentakeln, welche bei diesem Prozess voraneilen; im letztern Falle kann es sogar vorkommen, dass nach Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. {13 dem völligen Verschwinden der Tentakeln in Magen, Blindsack und Reetum noch keinerlei auffallende Veränderungen eingetreten sind. Oefters wird der Zerfall von einer Trennung zwischen Tentakeln und verdauenden Organen begleitet. Wie dem aber auch sei, so bildet sich als Regel aus den restirenden Bestandteilen des Ernährungsap- parats ein brauner Körper, der von einer Membran umschlossen zeitweise den normal funktionirenden Darm vertritt. Er entsteht ge- wöhnlich nur aus einem Teile der histolysirten Organe, entweder hauptsächlich aus den Magenabschnitten, oder aus den Tentakeln. Diejenigen Organe, welche sich nicht an seiner Bildung beteiligen, unterliegen einem weitern Zerfall und werden als körnige Massen entweder ausgeworfen oder resorbirt. (2?) In bezug auf Farbe, Größe, Struktur und Lagerungsverhältnisse des braunen Körpers lässt sich wenig bestimm- tes sagen; meistens hat er eine kugelförmige Gestalt, doch kommen hier auch Ausnahmen vor. Die Funktion des braunen Körpers ist ohne Zweifel eine ernährende; im ihm wird sozusagen Nährmaterial aufgespeichert, welches während des Mangels eines Darmes teilweise wenigstens von den Geweben des Tieres assimilirt wird. Die Paren- ehymstränge bilden sich nach dem Absterben der vegetativen Organe weiter aus, konzentriren sich um den braunen Körper und gehen mit ihm eine innige Verbindung ein. Auch unterliegt es keinem Zwei- fe], dass (mit Ausnahme von höchst seltenen Fällen, in welchen der braune Körper fehlt) der regenerirende Ernährungsapparat sich früher oder später mit seinem Blindsack fest an den braunen Körper an- lest und aus ihm Nährstoffe aufnimmt. Die in diesem Zustande be- findlichen braunen Körper sind viel heller und durchsichtiger als vor- her und haben offenbar an Substanz verloren. Ueber eine direkte Aufnahme des braunen Körpers in den Magen des jungen Ernährungs- apparates stehen mir vor der Hand noch keine entscheidenden Be- obachtungen zur Verfügung. Einerseits scheinen manche Bilder dafür zu sprechen, dass er von der Magenwand umwachsen wird, anderer- seits aber kann er auch nach vollendeter Regeneration des Ernäh- yungsapparats seine ursprüngliche Lage außerhalb des Magens beibe- halten. Im letztern Falle hat er ebenfalls ein helleres Aussehen wie vorher und liegt der Magenwand dicht an. Regenerirte Magen, wel- che einen intakten braunen Körper enthalten, sind mir bis jetzt un- kannt geblieben. 6. Avieularien. Die Avieularien liegen vereinzelt zwischen den Nährtieren zerstreut und treten immer an den Stellen auf, wo eine neue Längsreihe von Nährtieren zwischen zwei andere einge- schaltet wird. Ihre Verbreitung scheint also durch den Wachstums- modus des Stockes, beeinflusst zu werden. Die Avicularien behalten im allgemeinen die normale Gestalt des Nährtiers bei; sie sind aber mehr verkürzt als diese und besitzen außerdem ein stärker entwickel- tes Hautskelet, welches an Kalkeinlagerungen sehr reich ist. Auch 714 Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. der hintere Teil der untern Wand ist verkalkt. Die Behauptung Nitsche’s, als seien die Avicularien der Flustriden als sekundäre Mo- difikationen des „Cystids“ zu betrachten, muss ich als falsch zurück- weisen. Vielmehr bin ich geneigt, dieselben als modifizirte Nährtiere („Polypoeystide*) zu betrachten und sie in bezug auf ihren innern Bau mit den Aviecularien der Cellulariaden zu vergleichen. Diese An- sicht stützt sich 1. auf das Vorkommen eines manchmal sehr schön entwickelten Parenchymgewebes, 2. auf die Anwesenheit eines rund- lichen Zellenkörpers im distalen Teile des Aviculariums, der dem in den Avieularien der Cellulariaden auftretenden „Fühlknopf“ (rudimen- tären Ernährungsapparat) entsprechen dürfte. Diese Zellenkugel ist nur selten deutlich zu sehen; sehr oft legt sie unter den Unterkiefer- muskeln versteckt. Auch kann sie zugleich mit andern Weichgebilden vollständig fehlen und vermutlich durch Histolysis verloren gehen. Oefters fand ich Avicularien, welche fast alle innern Organe verloren hatten. Dass auch hier unter Umständen eine Regeneration stattfin- den kann, ist wahrscheinlich. Die normalen Avicularien enthalten außer den stark entwickelten Unterkiefermuskeln in ihrer proximalen Hälfte beiderseits sehr schön ausgebildete Parietalmuskeln. In bezug auf die Entwicklung des Parenchymgewebes schließen sich die Avi- eularienknospen sehr eng an die Nährtierknospen an. 7. Knospung. Mit Uebergehung der allgemeinen den Ausbil- dungsmodus der Kolonie betreffenden Knospungsvorgänge wollen wir einige Punkte aus der Entwicklung der Randknospen hervorheben. a) Die jüngsten von mir beobachteten Randknospen sind allseitig von einem dünnen chitinösen Hautskelet umgeben, in dessen Seiten- wänden schon sehr frühzeitig Kalkablagerungen auftreten. b) In die- sen Knospen kommt nur im vordern distalen Teile ein epithelartiger Zellbelag vor, welcher aus flachen rundlichen oder polygonalen Zellen besteht. Ich betrachte denselben als einen Rest des Ektodermalepi- thels, welches vermutlich in den allerersten Stadien die Knospenhöhle vollständig umhüllt und das Hautskelet absondert. Das distale Epithel geht früher oder später verloren. c) Aus demselben bildet sich dicht vor der distalen Knospenwand gewöhnlich beiderseits ein unregel- mäßiger Haufen von runden dunkel pigmentirten Zellen, welche nach innen vorspringen und durch fortgesetzte Teilung das „primäre“ Pa- renchymgewebe (bei dem die strangartige Natur noch wenig scharf bervortritt) bilden. Die unter b beschriebenen Knospen sind schon mehr oder weniger mit diesem lockern Gewebe ausgefüllt. d) Zu gleicher Zeit bemerkt man nun sehr deutlich die gemeinschaftliche Anlage des Ernährungsapparats der Tentakelscheide und der Darm- schicht in Gestalt eines rundlichen oder unregelmäßigen Zellenhaufens. Dass die Elemente des primären Parenchymgewebes durch Anhäufung von Zellenmaterial an dessen Bildung einen sehr lebhaften Anteil nehmen, unterliegt keinem Zweifel. Andererseits aber ist es (theore- Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. 19 tisch) sehr wahrscheinlich, dass der innere Teil dieses Zellenhaufens, aus welchem später das Darmepithel entsteht, einen andern Ursprung hat und von einigen vielleicht in der sehr jungen Knospe schon vor- handenen Zellen abstammt, welche das Entoderm der Knospe ver- treten. Ich muss aber ausdrücklich hervorheben, dass ich von einer solchen Entodermanlage bis jetzt nichts habe entdecken können, und dass es vielmehr den Eindruck macht, als ginge der ganze Zellen- haufen aus dem primären Parenchymgewebe hervor. Wie dem aber auch sei, so bildet sich die Anlage des Ernährungsapparats niemals sekundär nach beendigter Entwieklung des Parenchymgewebes, son- dern entsteht vielmehr in größter Kontinuität mit demselben. e) Erst in einem spätern Stadium, gewöhnlich noch vor oder während der weitern Differenzirung des letztern, ordnen sich die Zellen der Darm- anlage in 2 Schichten, eine innere diekere und eine äußere dünnere. Aus der erstern geht das Epithel des Darmes und der Tentakel her- vor, aus der letztern bildet sich in Kontinuität mit der „Darmschicht“ die Tentakelscheide, vermutlich auch die Muskelmembran des Darm- kanals. f) Die Anlage des Ernährungsapparates tritt vielfach in dem hin- tern Teile der Knospe auf, ist aber nicht an diese Stelle gebunden, da sie auch in der Mitte der Knospe und an den Seitenwänden ihren Ursprung nehmen kann. g) Die weitere Entwicklung des Ernährungsapparates stimmt im allgemeinen mit den von Nitsche beschriebenen Verhältnissen überein. h) Nach dem Erscheinen der Tentakelanlagen (diese Organe sind anfangs solid) und des Darmkanals wachsen dann aus der dem Pharynx und Magen aufiiegenden „Darmschicht“ die großen Retrak- toren hervor; diese sind Produkte der Darmschicht und zeigen im jugendlichen Alter eine große Uebereinstimmung mit den zu dieser Zeit schon ausgebildeten Parenehymsträngen. Durch Streekung und proximales Wachstum verbinden sich die Retraktoren mit der Parie- talschicht der Hinterwand. Die übrigen Muskeln entstehen erst viel später und sind ebenfalls Produkte des Parenchymgewebes. i) Die Tentakelscheide hat während der Knospung gewöhnlich eine kegelförmige Gestalt und wird während ihres distalen Wachs- tums durch zwei Parenchymstränge fixirt, welehe divergirend nach den Ecken der vordern Körperwand verlaufen. An ihrer Spitze be- findet sich schon sehr frühzeitig die Anlage des Diaphragmas als eine Masse dicht gedrängter Zellen. Die äußere Oefinung und das Oper- culum entstehen erst in den letzten Knospungsstadien. 8. Regeneration. Die Entwicklung des sieh regenerirenden Ernährungsapparates (nebst Tentakelscheide ete.) verläuft genau in derselben Weise wie in den Randknospen. Behufs seiner Anlage (diese findet sich gewöhnlich im distalen Teile der Leibeshöhle) wan- 716 Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. dern rundliche oder spindelförmige Zellen (Derivate des Parenchym- gewebes; ob alle?) nach innen und bilden unter fortgesetzter Ver- mehrung einen anfangs unregelmäßigen Zellenhaufen, der sich bald in die beiden oben erwähnten Schichten differenzirt. Dass auch hier unter den Elementen dieses Zellenhaufens entodermale Zellen ver- steckt liegen, ist wahrscheinlich; ich habe sie aber niemals gesehen. Die Anlage dieses Organkomplexes hat also gar nichts mit dem braunen Körper zu tun. Gewöhnlich liegen beide anfangs sehr weit von einander entfernt. Erst wenn die Ausbildung des neuen Ernährungs- apparates weiter vorgeschritten ist, nähern sie sich und gehen die oben besprochene Verbindung ein. Die bei diesen Tieren so abnorm verlaufenden Knospungsvor- gänge berechtigen meiner Meinung nach zur Annahme einer sehr ver- kürzten Entwicklung, wobei die ursprünglichen Entwicklungsstadien durch Ueberspringung und Vermischung sehr unvollständig und ver- wirrt überliefert worden sind. Auch ist es kaum zu bezweifeln, dass diese sekundären im Laufe der Phylogenie aufgetretenen Erschei- nungen besonders die ersten Entwieklungsstadien stark beeinflusst und modifizirt haben, denn in der Entwicklung des Darmkanals und der Tentakeln finden wir den alten Typus, welchen vermutlich die Entoprocten in Hauptzügen noch unverfälscht aufbewahrt haben, ziemlich getreu wieder. 9. Schlussbemerkungen. Am Ende dieser Notizen mögen noch einige Bemerkungen allgemeineren Inhalts gestattet sein, welche dazu bestimmt sind, die hier vorgeschlagene Zusammenfassung von Oystid und Polypid als Teile ein und desselben Individuums näher zu motiviren. Erstens sprechen für diese Ansicht ungemein die schon oben erwähnten Untersuchungen von Barrois, welche in bezug auf die Entwicklung des Ernährungsapparats sowol für Ento- als Eeto- procten wesentlich dasselbe Resultat geliefert haben. Als eine zweite nicht weniger wichtige Stütze betrachte ich die Organisation des vollkommenen Nährtieres selbst. So, wie dasselbe gebaut ist, kann es nach unsern heutigen Begriffen nicht als ein Komplex von zwei, wenn auch noch so innig verbundenen Orga- nismen betrachtet werden. Die Beziehungen der Organe unter sich, das Verhalten der Muskeln und der Charakter des Parenchymgewebes machen vom morphologischen Standpunkte aus eine solche Annahme unannehmbar. Dieses vorausgesetzt erscheint es auch physiologisch ungereimt, sich ein Tier zu denken, bei dem ein guter Teil der Mus- keln nur zur Bewegung eines andern Tieres dienen sollte (z. B. die Retraktoren). Andererseits würden wir in dem sogenannten Polypid und Cystid, für sich als Tiere betrachtet, Organismen vor uns haben, deren Bau unmöglich mit unsern jetzigen morphologischen Gesichts- punkten in Einklang zu bringen ist. Als drittes Argument endlich weise ich auf die oben skizzirte Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaeeo-truncata. "TAT + Knospung sgeschichte hin. Die Anlage des Ernährungsapparats ent- steht im Zusammenhang mit der Anlage des Parenekymgewebes und erscheint keineswegs als eine durch innere Knospung hervorgebrachte sekundäre Bildung. Auch in der Entwicklung der Tentakelscheide, Darmmembran und Darmschicht sehen wir eine Kontinuität, welche bei der Existenz von zwei verschiednen Tieren unmöglich sein würde. Die wesentlichsten bis jetzt gemachten Einwürfe gegen die Zusammenfassung von Cystid und Polypid!) betreffen 1) das ge- sonderte Auftreten von lebenden Cystiden und 2) den periodischen Verlust und die nachfolgende Regeneration des Darmkanals innerhalb des lebenden Cystids, eine Erscheinung, welche in dem ganzen Tier- reich nieht vorkommt. Obgleich ich keineswegs leugnen will, dass diese Erscheinungen der oben betonten Zusammenfassung einige Schwierigkeiten entgegensetzen, so glaube ich doch, dass sie nicht von so erheblicher Natur sind, wie bis jetzt von vielen angenommen wurde, und gegen die mit einer vorgenommenen Trennung von Cystid und Polypid verbundenen Schwierigkeiten kaum aufwiegen. Was den ersten Punkt anbelangt, so muss ich vor allem bemerken, dass die Zahl der von Nitsehe aufgeführten Modifikationen des bloßen Cystids durch meine Untersuchungen wesentlich beeinträchtigt wird, indem ich nachgewiesen habe, dass die primitiven Avicularien der Flustriden nicht auf Cystiden, sondern auf Polypocystiden zurückzuführen sind. Zweitens habe ich gegen die Auffassung des Wurzelfadens als Cystid- form einen positiven Beweis beigebracht, indem ich zeigte, dass dieses Gebilde bei unserer Flustra ein Organ und nicht ein Individuum vor- stellt. Dieselbe Bedeutung kommt auch den Brutkapseln der Flustri- den zu, da sie durch Muskeln des Geschlechtstieres versorgt werden, und nicht durch Knospung, sondern durch Faltenbildungen des Haut- skelets entstehen. Dass die höher stehenden Ovizellen der Cellu- lariaden einer selbständig lebenden Cystidform sehr ähnlich sind, will ich nicht bestreiten, jedoch lassen sie sich immer noch als weiter ausgebildete Organe betrachten, da ja die Brutkapseln der Flustriden, welche als die einfachsten Formen (primary forms, Hincks) den Aus- gangspunkt für die ganze Differenzirungsreihe darstellen, sich so ver- halten. Ueber die Deutung der Brutkapseln bei den Cycelostomen als modifizirte Cystide spricht Nitsche sich selbst mit der nötigen Re- serve aus. Hierüber liegen dann auch in der Tat noch gar keine entscheidenden Resultate vor. Die Vibraeularien sind nach den scharf- sinnigen Beobachtungen von Hincks ohne Zweifel als modifizirte Avi- eularien zu betrachten; demnach liegt auch hier die Möglichkeit ihrer Polypoeystidnatur auf der Hand. Ich hoffe hierüber später ausführ- 1) Leider kann ich in der folgenden Betrachtung, der Deutlichkeit wegen, noch nicht für immer von den Ausdrücken „Cystid“ und „Polypid* Abstand nehmen ! 748 Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. liche Untersuchungen anstellen zu können. Dass schließlich das Cystid des gewöhnlichen Nährtiers kein selbständiges Leben führt, scht daraus hervor, dass dasselbe nach Verlust des Darmkanals zeitweise von dem braunen Körper gefüttert wird. Geht auch dieser verloren, so stirbt das Cystid notwendig ab, und es bleibt von ihm nur das Hautskelet übrig. Was den zweiten Punkt, die Regeneration des Polypids, betrifft, so muss ich vor allen Dingen bemerken, dass nach unsern heutigen Kenntnissen physiologische Gesichtspunkte nicht als maßgebend für morphologische Betrachtungen angesehen werden können. Der Stand- punkt, welcher die Morphologie nach physiologischen Erscheinungen zu erklären versucht, ist überwunden. Der auf dem Wege der Be- obachtung gefundene morphologische Tatbestand darf also durch eine rein physiologische Erscheinung nicht als unrichtig verworfen werden. Die bloße Tatsache, dass ein Bryozoon seinen Darm regenerirt, kann uns nicht so sehr wundern, zumal wir wissen, dass die Re- generationsfähigkeit eine im ganzen Tierreich hindurch verbreitete Erscheinung ist, welche bei niedern Tieren manchmal selbständig eingeleitet wird. Während nun aber bei den letztern als Regel eine Teilung des Individuums voranzugehen scheint und die Regenerations- vorgänge irgendwie mit einer Vemehrung der Spezies zusammenhängen mögen, findet bei den Eetoprocten eine Regeneration gewisser Organe innerhalb des ungeteilten Tieres statt. Vermutlich haben wir aber auch hier wieder mit sekundären Erscheinungen zu rechnen, welche einerseits durch die Stoekbildung, andererseits durch die doch schon reichliche Vermehrungsweise (geschlechtlich und ungeschlechtlich) beeinflusst wurden. Dieses wird um so wahrscheinlicher, als nach- gewiesen worden ist, dass bei den phylogenetisch ältern Entoproeten (z. B. bei Pedicellina) der sogenannte Kelch verloren gehen kann und durch Neubildung ersetzt wird. Hier haben wir also noch ein primi- tives Verhalten, das an die vorangehende Teilung der Anneliden ete. erinnert. Coelom. Es wurde in der obenstehenden Zusammenstellung meiner Resultate die zwischen Haut und Darm liegende Perigastral- höhle als Leibeshöhle beschrieben. Auch hierfür habe ich natürlich meine Gründe. Bei der hier gegebenen Schilderung des Nährtieres wäre sie wol kaum anders zu deuten. Sie wird ausgekleidet und durchsetzt von einem sehr spärlich entwiekelten Gewebe (Parenchym), welches durchaus des epithelialen Charakters entbehrt. Wegen des Mangels eines äußern Darmepithels — einen vermutlich für alle Gym- nolämen geltenden Charakter — muss die von Nitsche vorgeschla- gene Homologisirung des Ernährungsapparates und des Pedicellinen- kelches als falsch zurückgewiesen werden. Die epitheliale Ektodermalschicht tritt, wie schon oben gesagt Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. 719 wurde, nur in jungen Knospungsstadien auf und geht nachher ver- loren. Das merkwürdige Fehlen dieser Schicht (man hat dies be- kanntlich auch bei Cestoden behauptet) ist nun aber keine für sich isolirt stehende Tatsache, sondern eine Erscheinung, welche wir bei den Entoprocten schon vorbereitet finden. Man hat nämlich gefun- den, dass bei Pedicellina die unter der Cuticula liegende Epithelschicht (Ektoderm) sich nur teilweise erhält und streckenweise verloren geht. Bei den Entoproeten scheint keine primäre Leibeshöhle vorhanden zu sein. Ich berufe mich hier, den Ansichten Hatschek’s gegenüber, auf die übereinstimmenden Schilderungen zahlreicher Autoren. Die Gewebsspalten, welche bei ihnen (inelusive Barentsia) zwischen Darm und Integument im erwachsenen Tiere vorkommen, sind vermutlich von sekundärem Ursprung. Es lässt sich nun sehr gut denken, dass die im Laufe der Stammesgeschichte entstandene freie Beweglichkeit des Ernährungsapparates bei den Eetoprocten das Auftreten einer geräumigen Höhle zwischen Darm und Haut notwendig machte. Dass die Leibeshöhle der Eetoprocten in dieser Weise entstanden ist, ist um so wahrscheinlicher, als das sie durchsetzende Parenchymgewebe (einschließlich das sogenannte Kolonialnervensystem in andern Abtei- lungen) sich auf das Gewebe zurückführen lässt, welches bei den Ento- procten die Stielhöhle sowie den Raum zwischen Ektodermepithel und Darm ausfüllt. Letzteres Gewebe (es existirt sowol bei Pedicellina wie bei Lo.xo- soma) besteht nämlich aus verschiedenartig gestalteten Zellen, welche mit einfachen oder verzweigten Ausläufern versehen sind, wodurch sie miteinander kommuniziren und sich an die Körperwand und an den Darmtractus festheften. Von diesem „parenchymatösen Gewebe“ der Entoprocten (Nitsche) lässt sich nun das ebenfalls retikuläre und nach demselben Prinzip gebaute Parenchymgewebe der Ecto- procten ableiten, wenn man annimmt, dass die Leibeshöhle dieser Tiere durch Spaltungen in jenem ursprünglichen Gewebe entstanden ist, wodurch dasselbe auseinander gezerrt wurde und sich zur An- heftung an die Wände der Leibeshöhle (Parietal- und Darmschicht) in gesonderte strangartige Bänder ausgezogen hat. Durch diese und andere Erwägungen geleitet, halte ich es für berechtigt, das bei den Gymnolämen zwischen Haut und Darm liegende Gewebe für das Homologon des parenchymatösen Gewebes der Entoprocten zu er- klären. Daher habe ich das erstere provisorisch mit dem Namen „Parenchymgewebe“ belegt!). Da bei den Entoprocten auch die Ten- takeln mit dem parenchymatösen Gewebe ausgefüllt sind, so ist vielleicht die bei den Eetoprocten vorkommende innere Zellbekleidung 4) Möchten sich die Ansichten Hatschek’s bestätigen, so ist das Coelom der Eetoprocten nicht als eine Neubildung, sondern als eine weitere Differen- zirung der bei den Entoprocten vorhandenen primären Leibeshöhle zu betrach- ten. Im Uebrigen bleibt aber die hier gegebene Darstellung dieselbe, 720 Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. der Tentakeln, welche ebenfalls der Epithelialeharaktere entbehrt, als ein Rest hiervon zu betrachten. Hiernach würde die Höhle der Tentakeln und des Ringkanals ursprünglich ein Teil der primitiven Leibeshöhle gewesen sein. Aufgrund der soeben aufgestellten Homologie betrachte ich nun den Pedicellinenkeleh nicht als das Aequivalent eines „Polypids“, sondern als das Homologon eines „Polypoeystids“, von welchem der Stiel einen integrirenden Teil ausmacht. Die Behauptung Nitsche’s, als seien Kelch und Stiel von Pedicellina gesonderte Individuen, von welchen das erstere ein mit Genitalorganen versehenes Polypid, das zweite ein Cystid repräsentirt, muss nicht nur durch den schon er- wähnten Mangel einer äußern Darmepithelschieht, sondern auch durch die Knospungsgeschichte von Pedicellina, durch die Kontinuität ein- zelner Gewebe im Stiel und Keleh und dureh das Verhalten der Ge- schleehtsorgane zum Polypiden als hinfällig zurückgewiesen werden. 5ekamntlich bringen O. und R. Hertwig die Bryozoen zu den Pseudoeoeliern, d. h. zu denjenigen Tierformen, bei welchen die Lei- beshöhle entweder fehlt oder dureh Spaltung des sogenannten Mesen- chymgewebes hervorgegangen ist (Sehizoeoel). Sie gründen diese Ansicht hauptsächlich auf die ontogenetischen und anatomischen Ver- hältnisse der Entoproeten. Leider sind die bisherigen Angaben über die Ontogenie der Eetoprocten so unvollständig, dass über die Ent- stehung des Mesoderms und der Leibeshöhle eigentlich noch gar keine Resultate vorliegen. Soweit aber meine Untersuchungen gehen und es berechtigt erscheint, aus den gewonnenen vergleichend anatomischen Betrachtungen den Gang der ÖOntogenie in gröbern Zügen zu ver- folgen, muss ich mich vor der Hand der Hertwig’schen Ansicht an- schließen und bin geneigt, das Parenehymgewebe als ein sehr spärlich entwickeltes Mesenchymgewebe zu betrachten, welches das hier sehr geräumige Schizocoel durchsetzt und auskleidet. Dass in dem Parenchymgewebe des ausgebildeten Einzeltieres die morphologischen Charaktere des Mesenchyms wiederzufinden sind, und dass die Muskeln in ihrem Bau (kontraktile Faserzellen) und in ihrer Entstehung (aus dem Mesenchym) sich dem bei den Pseudo- coeliern vorherrschenden Typus sehr eng anschließen, wird wol all- gemein zugegeben werden. Auch in der Entstehung der Geschlechts- produkte aus dem Parenehymgewebe finden wir einen wichtigen Charakter des Mesenchyms ausgedrückt. Nach dieser Anschauung verliert also der bis jetzt geführte Streit, ob die Geschlechtsprodukte der Gymnolämen aus der „Endoeyste“ oder aus dem „Endosark“ (Funiculus) hervorgehen, viel an Wichtigkeit. In jüngster Zeit ist nun aber von einigen Forschern nachge- wiesen, dass, wie schön und gedankenreich die Hertwig’sche Schrift auch sein möge, die histologischen Charaktere des Mesoderms bei Pseudo - und Enterocoeliern einander nicht so scharf gegenüberstehen, Be‘ ö - Vigelius, Morpholog. Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata. 21 wie dies von den Hertwigs angenommen wird. Man hat nämlich gefunden, dass in einigen Abteilungen der Mollusken (Pseudocoelier) — deren monophyletische Abstammung nach unsern heutigen Kennt- nissen kaum mehr in Abrede zu stellen ist — die Auskleidung der Leibeshöhle einen deutlich ausgeprägten epithelialen Charakter besitzt (Cephalopoden, viele Prosobranchier). Wenn es richtig ist, dass die Leibeshöhle in allen Gruppen der Mollusken nach ein und demselben (schizozoelen) Typus entsteht — und dies ist kaum zu bezweifeln — so möchte dieses Epithel nicht ein echtes Epithel (Peritonealepithel vom Entoderm abstammend) vorstellen, sondern bindegewebigen Ur- sprungs sein, zumal in andern Molluskenabteilungen an derselben Stelle anstatt eines Epithels eine Bindegewebsschicht vorhanden ist (s. hierüber Brock, Z. f. w. Z. XXXIX. Bd.). Aehnliche Verhältnisse gelten nun auch für die eetoproeten Bryo- zoen. Bei diesen Pseudocoeliern finden wir in den beiden Haupt- abteilungen (Gymnolämen und Phylactolämen), bei welchen eine einheitliche Entstehung der Leibeshöhle ebenfalls sehr wahrscheinlich ist, zwei Differenzirungen des die Leibeshöhle auskleidenden Gewebes. In der erstern Abteilung hat dasselbe einen rein mesenchymatösen Charakter, in der zweiten dagegen soll nach Angabe verschiedener Autoren die Leibeshöhle (teilweise wenigstens) in vielen Fällen von einem Wimperepithel, dessen Zellgrenzen wenig scharf hervortreten, ausgekleidet sein. Vermutlich ist aber auch dieses kein echtes Epi- thel in dem oben angedeuteten Sinne, sondern eine epitheliale Diffe- renzirung des bindegewebigen Mesenchyms. Dass übrigens mesenchy- matöse bindegewebsartige Elemente direkt einen epithelialen Charakter annehmen können, lehrt unter andern die Knospungsgeschichte der hier beschriebenen Flustra, wo die Anlage des von epithelartigen Zellen aufgebauten Diaphragmas aus dem primären Parenchymgewebe entsteht (vergl. hierüber auch Metschnikoff, Z. f. w. Z. 37. Bd.). Zum nähern Vergleich des Parenchymgewebes mit der „Endeyste“ der Phylactolämen sind erneute Untersuchungen notwendig. Ich kann aber nicht umhin schon hier die Vermutung auszusprechen, dass nicht die ganze (aus drei Schichten bestehende) „Endoeyste“ der Phylactolämen, sondern nur der innere Zellbelag und die Tunica museularis dem Parenchymgewebe der Chilostomen homolog sei, während die äußere Schicht (äußeres Epithel) vielleicht das bei den Chilostomen verloren gegangene Ektodermalepithel vorstellen möge. Nachschrift. Als dieser Aufsatz bereits abgeschlossen war, erhielt ich die neulich erschienene Arbeit von Professor Haddon „On Budding in Polyzoa“ (Quart. Journ. of Mier. Se. Nr. XCID. Zu meiner Freude finde ich in dieser Schrift einige wichtige Punkte aus meiner Arbeit vollkommen bestätigt. Ich hoffe die Haddon’sche Abhandlung später ausführlich besprechen zu können. 46 2) Bertkau, Eie Begattung von Mutilla ephippium Die Begattung von Mutilla ephippium. Von Dr. Ph. Bertkau in Bonn. In dem mir kürzlich zugekommenen 2. Heft des Jahrganges 1883 der Berliner Entomologischen Zeitschrift findet sich auf S. 279—282 eine Notiz von H. Weijenbergh über die Weibchen der Gattung Tachypterus Guer. und die Kopulation dieser Gattung, die mir eine Beobachtung ins Gedächtniß zurückruft, welche ich im vorigen Sommer machte und über die ich mir s. Z. folgende Aufzeichnung ge- macht habe. Am 19. Juli 1882 fand ich auf meinem gewöhnlichen Wege von Neuenahr zur Landskrone (im Ahrtale) Vormittags 6!/, auf dem Blütenkörbehen einer am Wege stehenden Serratula arvensis ein schönes Exemplar einer männlichen Mutilla ephippium sitzen. Beim Abnehmen von der Blüthe bemerkte ich, dass dasselbe etwas zwischen den Mandibeln hatte und erkannte darin bei genauem Zusehen ein Weibchen derselben Art. Das Männchen hatte das Weibchen so ge- fasst, dass die Vorderseite der Köpfe beider ungefähr in einer Ebene lagen; die Hinterleibsspitze des viel kleinern Weibchens!) reichte oben bis zu dem Petiolus, durch den der Hinterleib des Männchens mit der Brust zusammenhängt. Letzteres hielt das Weibchen außer mittels der um die Seiten des Kopfes geschlagenen langen Mandibeln auch mit den Beinen fest, während das Weibchen sich ganz passiv verhielt; die Fühler desselben waren von vorn her unter Kopf und Brust zurück- geschlagen und die Beine angezogen. Beim Ergreifen zirpte das Männchen sehr laut und ließ das Weibchen alsbald los, als ich das Pärchen in ein nicht grade geräumiges Zylinderglas setzte. So oft ich auch im Laufe des Vormittags nach ihnen sah, waren sie getrennt. Erst als ich sie bei meiner Rückkunft nach Neuenahr gegen halb eins in ein geräumigeres Glas setzen konnte, fand ich das Paar auch bald wieder in derselben Stellung, in der ich es gefangen hatte, und das Männchen kroch ruckweise, unruhig mit den Fühlern zitternd, in dem Glase umher, wie um einen bequemen Platz zu suchen. Diesen schien es endlich auf dem Kork des umgekehrt stehenden Glases gefunden zu haben. Es schob jetzt das Weibehen etwas mehr nach hinten und hob den eignen Thoräx in die Höhe, so dass der Rücken des Weib- chens, der früher an die Brust des Männehens angedrückt war, jetzt von derselben getrennt war und die Hinterleibsspitze etwas über den An- fang des Hinterleibes des Männchens hinausreichte. Letzterer war stark bogig, fast einen geschlossenen Ring darstellend, gekrümmt 1) Das Männchen war 9,2, das Weibchen nur 4,5 mm lang, eine unter den Heterogyna zwar gewöhnliche, unter den Arthropoden im allgemeinen aber auffallende Erscheinung, bei denen gewöhnlich die Weibchen größer sind als die Männchen, Bertkau, Die Begattung von Mutilla ephippium. "23 und suchte das Hinterleibsende des Weibchens mit seiner starken Zange zu fassen, wobei das Weibchen den Hinterleib aus- und einzog und dabei gleichzeitig den Stachel vor- und rückwärts bewegte. End- lich hatte das Männchen mit seiner Zange die Geschlechtsteile des Weibehens gefasst, und jetzt wahrscheinlich begann die Ejakulation des Samens. Dabei führte der Hinterleib des Männchens, indem na- mentlich der dritte und in geringerem Grade der vierte Ring in den vorhergehenden eingezogen und wieder hervorgestreckt wurde, pum- pende Bewegungen aus, die mit einem so lauten Zirpen verbunden waren, dass ich dasselbe deutlich durch das Glas hören konnte; auch das Weibchen zirpte, obwol schwächer. Die wirkliche Kopulation dauerte von 12.55 bis 1 Uhr, um welehe Zeit das Paar durch eine Unvorsichtigkeit gestört wurde; eine noch- malige Vereinigung habe ich nicht wahrgenommen. Weijenbergh schreibt von den Argentinischen Tachypterus-Art: „Ich sah ein Weibehen auf einer Blume sitzen, sah, wie sich ein Männchen in großer Eile auf dieselbe Blume setzte und fast in demselben Augenblick wieder davon flog. Dieser einzige Augenblick war aber auch schon genügend gewesen, um sich mit dem Weibchen zu vereinigen und es mitzuführen.“ „Die Weibehen hängen in dieser Situation mit dem Kopfe nach unten und dem Bauche nach vorn, so dass, wenn ein solches Pärchen sich setzt oder gefangen wird, das Weibehen mit seinen Füßen die Bauchfläche des Männehens umfasst und die beiden Bauchflächen ge- gen einander zu liegen kommen.“ Abgesehen von der verschiedenen Stellung bei Tachypterus und Mutilla mache ich noch auf zwei Abweichungen in den von Weijen- bergh und mir geschilderten Vorgängen aufmerksam; nach Weijen- bergh wird die Kopula im Fluge in der Luft vollzogen und das Männchen findet das Weibchen auf den Blumen, von wo es das- selbe entführt. In unserer Gegend sind Mutilla-Arten nicht grade häufig; ein Männchen hatte ich bis zu dem hier geschilderten Fall überhaupt noch nicht, die Weibehen immer am Boden zwischen Steinen, Sand, Moos, trocknen Pflanzenteilen u. s. w. herumkriechend gefunden. Während eines Aufenthalts in Tirol fand ieh zu wiederholten malen die großen schönen Männchen der M. europaea auf Blüten, aber kein Weibchen. Ich bildete mir daher bei meinem Funde vom vorigen Jahr die Vor- stellung, das Männchen habe das Weibchen zunächst von der Erde in die Luft und auf die Blüte entführt, um hier die Begattung zu vollziehen. Diese Ansicht befestigte sich um so mehr bei mir, als auch die sonstigen Angaben in der Literatur, soweit ich sie habe einsehen können, immer lauten: die Weibehen am Boden, die Männ- chen auf Blüten. Obwol nun nach der von Weijenbergh gegebenen Schilderung nicht ausgeschlossen ist, dass auch die weiblichen Mu- 46 * 124 Packard, Phyllopoden Nordamerikas. tillen die Blumen besuchen und hierbei von den Männchen entführt werden, so halte ich doch noch vorläufig an meiner frühern Annahme fest, zumal da die nähere Umgebung des Platzes nicht die Beschaffen- heit der Oertlichkeiten zeigte, an denen ieh Mutillenweibhen zu finden gewohnt war. Jedenfalls aber ist das nicht zu bestreiten, dass die Kopula bei M. ephippium (auch) in der Ruhe vollzogen wird. In diesem Punkte würde die Gattung eine Abweichung von der Gewohn- heit der nähern und entferntern Verwandten (Apiden, Vespiden, For- nuciden, Fossores) zeigen, bei denen die am Boden in copula gefun- denen Pärchen nur solche sind, welche ermattet von ihrem Hochzeits- fluge niedergefallen sind. — Von M. europaea erhielt Drewsen aus einem Neste des Dombus Scerimshiranus zahlreiche Exemplare beiderlei Geschlechts, die sich auch (also doch wol in dem Zwinger) begatteten; bei dieser Art dauerte die Begattung „nur einige Minuten“ (Stettiner Entomol. Zeitung 1847 S. 210 £.). | Schenk erwähnt in semer Beschreibung der in Nassau aufgefundenen Grabwespen S. 295 ein Weibchen von M. montana, welches er unter der Erde in der Nähe eines Nestes von Tetramor. caespitum gefunden und deutet damit an, dass erstere wol bei letzterer schmarotzen möchte. Für unsere M. ephippium, deren Weibchen mit 7. caespitum in Gestalt und Farbe einige Aehnlichkeit hat, spreche ich dieselbe Vermutung aus?). Ph. Bertkau (Bonn). A. S. Packard JI., A Monograph of Phyllopod Crustacea of North- America, with remarks on the order Phyllocarida. United States Geolog. u. Geograph. Survey, Washington 1883. 8°. E. Ray-Lankester, Observations and reflections on the appen- dages and on the nervous system of Apus cancriformis. Quart. Journ. Mier. Se. . 1881. Die ziemlich umfangreiche Arbeit Packard’s ist noch durch Uebersetzungen einiger Aufsätze von Schmankewitsch und v. Sie- bold vergrößert. Abgesehen von einer ausführlichen systematischen Behandlung der zahlreichen in Nordamerika lebenden Formen enthält das Buch allgemeine Betrachtungen über die Morphologie der Phyllo- podengliedmaßen und über die Beziehungen dieser Tiere zu den übrigen Crustaceenordnungen und deren Phylogenie. In ersterm Punkt stimmt P. den von Ray-Lankester ausge- sprochenen Anschauungen zu. L. untersuchte Apus caneriformis und 4) Ich will übrigens daran erinnern, dass die Mutillen nicht ausschließlich auf andere Hymenopteren als ihre Wirte angewiesen sind. Rosenhauer erzog z. B. ein Exemplar auf einer von Malaga stammenden Clython-Gruppe. Tiere Andalusiens 8. 372. Packard, Phyllopoden Nordamerikas. 725 einige andere Phyllopoden und findet, dass an .den Beinen dieser Tiere nieht nach üblicher Weise Exo- und Endopodit unterschieden werden können. Er erkennt in jedem Bein einen Stamm, der den zwei ersten Gliedern (Coxopodit und Protopodit) der Malakostraken- füße entspricht und, diesem Stamm aufsitzend mediale und laterale Fortsätze, Endite und Exite. — Bei allen Phyllopoden ist die normale Zahl der Endite 6. Zwei Exite bestehen normal, ein drittes kann vorkommen. Die Vergleichung sowie die Entwicklungsgeschichte beweisen, dass das fünfte Endit dem Endopodit der Malakostraken und dem innern Zweig der Naupliusgliedmaßen entspricht; das sechste Endit ist dagegen dem Malakostrakenexopodit und dem äußern Zweig des Naupliusbeines homolog; die Endite 1—4 sind an den Gangbeinen von Nebalia und den Malakostraken verschwunden, finden sich aber noch an den Maxillen als Kauladen ausgebildet: das erste Endit hat meist eine besondere Gestalt und wird von L. als Gnathobase, von P. als Coxal lobe bezeichnet. Die beiden Exite, welche die sogenannten Kieme und Flabellum der Phyllopoden bilden, entsprechen also nicht einem Exopodit, sondern etwa einem Epipodit. Sowol L. als P. betrachten die Antennulen gegen Claus als echte, den übrigen homodyname Gliedmaßen, welche ursprünglich postoral gewesen sein sollen. Als Grundlage einer solchen An- schauung gilt die von Zaddach gefundene Tatsache, dass bei Apus die antennularen Nerven nicht vom Gehirn, sondern von den Längs- kommissuren des Schlundringes entspringen; bei den übrigen Phyllo- poden gibt das Gehirn die antennularen, aber nicht die antennalen Nerven ab. Die Phyllopoden und in höherm Maße Apus haben also ein ursprünglich gestaltetes Gehirn (Archicerebrum), während das Gehirn der übrigen Crustaceen durch Zusatz von fremden Ganglien vergrößert ist (Syncerebrum). i Nebalia ist nach P. keine Malakostrake und auch keine Phyllo- pode, sogar nicht mit Phyllopoden näher verwandt. Die Gattung Nebalia ist der einzige lebende Vertreter einer Reihe zum Teil recht großer fossiler Formen, welche vom Silur (HAymenocaris) bis in die Kohlenformation sich fortsetzt. Diese fossile Crustaceengruppe wird mit dem Namen Phyllocarida belegt. Die Gliedmaßen der ausgestor- benen Formen sind unbekannt. Diejenigen der Nebalia sind malako- strakenartig, wegen des gegliederten Endopodits und dem Mangel an proximalen Enditen der Thoraxgliedmaßen; Nebalia und ihre fossilen verwandten stimmen überein in der Ausbildung der Furca am Schwanze und dem Vorhandensein eines beweglichen Rostrum vor dem zwei- klappigen Rückenschilde. Letztere Charaktere unterscheiden auch die Phyllocariden von den Malakostraken. Die in Deutschland jetzt fast allgemein acceptirte Anschauung, dass die Urform der Crustaceen den Phyllopoden ähnlich gewesen sein soll, findet bei P. keinen Beifall. Die Phyllopoden sind durchaus 726 Boas, Verwandtschaftsbeziehungen der Malakostraken. m Süßwassertiere und erscheinen als solche schon in den ältesten Schichten, wo deren Reste gefunden worden sind. Man kennt keine marinen Phyllopoden. P. hält diese Crustaceen für ganz speziell an das Leben in stehenden Gewässern angepasste Tiere. Die große An- zahl der Körpersegmente ist seiner Ansicht nach kein ursprünglicher Charakter, sondern ein Neuerwerb und wird mit der reichen Seg- mentirung der Chilognathen Myriapoden verglichen. Viel wahrschein- licher glaubt Verf., dass die ältesten Phyllopoden (LZimnetis) von marinen evadneähnlichen Cladocerenformen sich entwickelt haben, deren Gliedmaßen einfacher und nach seiner Ansicht auch weniger differenzirt sind als diejenigen der echten Phyllopoden. Die Clado- ceren selbst sind vielleicht von Ostrakoden abzuleiten. Die von F. Müller damals auf dem Grund der Ontogenie ge- stellte Nauplius- Theorie gilt für P. noch völlig und scheint ihm durch die neuere Phyllopoden-Theorie durchaus nicht beseitigt. Die drei Stämme der Phyllopoden, Phyllocariden und Malakostraken sollen zu einander in keiner genetischen Beziehung stehen, sondern als parallele aufsteigende Reihen aus einer ursprünglichen Form, dem Protonau- plius entstanden sein. — Es ist hier nicht der Ort gegen diese phy- logenetischen Schlüsse zu polemisiren, welche aber Ref. nicht immer begründet zu sein scheinen. — Es sei nur beiläufig bemerkt, dass, während P. sich wegen des frühern Erscheinens der Phyllocariden gegen deren Abstammung von den Phyllopoden ausspricht, ganz gleiche Gründe ihn doch nicht hindern die (nach seiner eignen Ta- belle) schon im Silur erscheinenden Phyllopoden von den erst aus der Kohle bekannten Cladoceren abzuleiten. 6. Emery (Bologna). J. E. V. Boas, Studien über die Verwandtschaftsbeziehungen der Malakostraken. Morphol. Jahrb. VIII. 4. 1883. Derselbe, Studier over Decapodernes Slaestskabsforhold. Vidensk. Selsk. Skr. 6 Raekke. naturv. mat. afd. I. 2. Kjöbenhavn 1880. In seinen beiden Arbeiten, die sich gegenseitig ergänzen, unter- wirft B. die anatomischen Verhältnisse besonders der Gliedmaßen der Malakostraken einer genauen objektiven und kritischen Revision, um aus der Vergleichung der bei verschiedenen Gruppen erkannten Tat- sachen die Affinitäten derselben zu erschließen und phylogenetisch zu verwerten. Es ist leider hier nicht möglich über die zahlreichen Eim- zelheiten zu referiren, und ich muss mich deshalb auf die hauptsäch- lichsten Resultate beschränken. Die innern Antennen oder Antennulen sind nach B. keine gewöhn- lichen Gliedmaßen, sondern gliedmaßenähnliche Sinnesorgane, ebenso Boas, Verwandtschaftsbeziehungen der Malakostraken. TOR wie die beweglichen Stielaugen. Die Antennulen sind nur bei Mala- kostraken und Nebalia zweiästig; sonst sind sie, wie bei den nauplius- artigen Larven, einfach. Die zwei Aeste entsprechen nicht etwa einem Exo- und Endopodit, denn der äußere Ast entspringt vom dritten Gliede der Antennule; dagegen zweigt sich in den Crustaceenspalt- füßen das Exopodit immer vom zweiten Gliede ab. Der äußere Antennulenast entspricht der einfachen Antennule niederer Crustaeeen, da er die Riechborsten trägt; der Innenast ist dagegen als ein neu- erworbener Teil zu betrachten. — Bezüglich der übrigen Gliedmaßen will ich nur bemerken, dass das Corpus mandibulae nach B. nicht aus der Konkreszenz mehrerer Glieder entstanden ist, sondern einem Basalgliede entspricht, da bei Copepoden das Exopodit sich aus dem ersten Gliede des Palpus abzweigt, welches also das zweite Glied der ganzen Gliedmasse bildet. Die merkwürdige Gattung Nebalia wird von Claus in seinen neuesten Arbeiten als eine besondere Abteilung der Malakostraken betrachtet, welehe er Leptostraken nennt. — Im allgemeinen steht Nebalia nach B. den Phyllopoden näher als den Malakostraken, schließt sich aber letztern an, namentlich durch die zweiästigen Antennulen und die siebengliedrigen Endopoditen der Thoraxfüße. Es ist also Nebalia wol ein Verbindungsglied zwischen Phyllopoden und Malakostraken, doch für letztere keine Ahnenform. Eine solche sollte das Ei als Nauplius verlassen haben, was Nebalia, nicht dagegen wol mehrere Malakostrakenformen tun. Auch fehlt Nebalia das Exopodit der echten Antennen, welches den meisten Malakostraken zukommt. Wir kommen nun zu der Einteilung der Malakostraken selbst. Es werden gewöhnlich die Schizopoden als eine primitive Gruppe an- gesehen. Die Untersuchungen von B. beweisen, dass die Schizopoden durchaus keine natürliche Gruppe bilden. — Sie zerfallen dagegen in zwei ziemlich weit abstehende Abteilungen der Euphausiiden und Mysidaeeen. Erstere, aus den Gattungen Euphausia und Thysanopus bestehend, ist wirklich als eine primitive Gruppe zu betrachten: dafür sprechen insbesondere die sämtlich zur Lokomotion fähigen Füße, die Naupliusform der Brut, die Gestalt der Spermatozoiden, welche ein- fache anhanglose Zellen sind, die sieben freien Segmente des Thorax. Euphausia und Thysanopus sind aber trotzdem keine reinen Ahnen- formen; dagegen sprechen die Rückbildung des achten Thoraxfußes, die kiemenförmigen Epipoditen und die Kieinheit des Rückenschildes. Dennoch ist Thysanopus wol die dem Phyllopodenstamm am nächsten stehende Form unter den Malakostraken. Trotz gewisser Habitusähnlichkeit sind Mysis und ihre Verwand- ten viel weiter differenzirte Formen als die Euphausiiden. Die kur- zen Basalglieder der Beine, die Brutplatten an der Basis der Rumpf- füße, die Ausbildung des ersten Rumpffußes zu einem Kieferfuß, das kleine Rückenschild mit 7 oder 5 (Lophogastriden) freien Thorax- 728 Boas, Verwandtschaftsbeziehungen der Malakostraken. segmenten sind nach B. die Zeichen einer Annäherung zu den Iso- poden und Amphipoden. Charakteristisch ist auch die reduzirte Nau- pliusform, in welcher die Jungen in der mütterlichen Bruthöhle das Ei verlassen und welche dem entsprechenden Stadium der Isopoden sehr ähnlich ist. Ebenso besitzen die Spermatozoiden wie bei Iso- poden einen fadenförmigen Anhang, wodurch sie sich von denjenigen der Euphausiiden entfernen. Die Mysidaceen, oder richtiger eine der jetzt lebenden Mysiden und Lophogastriden nahe verwandte Gruppe, wird von B. als Stamm- form der Edriophthalmen angesehen. Davon sollen sich einerseits die Cumaceen, andrerseits die Isopoden abgezweigt haben. Erstere sind in vielen Beziehungen entschieden eine abgeleitete Gruppe, wie aus den sessilen zu einem unpaaren Organ verschmolzenen Augen und dem Mangel des Palpus an der zweiten Maxille erhellt. Die Brut- platten beim 2 haben sie mit Mysis und mit den Isopoden gemein; ebenso die Naupliusform der ausschlüpfenden Embryonen: der bei den mei- sten Mysiden (Gnathophausia ausgenommen) abwesende Palpus der ersten Maxille ist bei den Cumaceen vorhanden; in diesem Punkte stehen die Cumaceen auf einer ursprünglichern Stufe als die Mysiden. Es folgen nun die Edriophthalmen, d.i. die Isopoden und Amphi- poden. Die sessilen Augen und der Mangel des Thoraxschildes die- ser Krebse werden gewöhnlich als ein primitiver Zustand angesehen, nach B. aber wol mit Unrecht, da gestielte Augen schon bei Phyllo- poden und Nedali« vorkommen und ein Thoraxschild bei niedern Crustaceen in verschiedenen Gestalten weit verbreitet ist. Uebrigens kennen wir keine direkten Verbindungsglieder zwischen Arthrostraken und Phyllopoden; dagegen erscheint eine mittelbare Verbindung durch Mysiden und Euphausiiden als eine recht natürliche. — Die Isopoden sind aus mysisartigen Tieren durch Rückbildung des Schildes, der Augenstiele, des innern Astes der Antennulen, der Antennenschuppe, der thorakalen Exopoditen und der Schwanzregion entsprungen. Eine Uebergangsstufe bilden die stieläugigen Tanaiden und besonders die Gattung Apseudes, wo selbst ein Residuum des Rückenschildes und des innern Antennulenastes vorkommt. Eine noch weiter modifizirte Gruppe sind die Amphipoden, wie mehrfache Reduktionen einiger Gliedmaßenteile ersichtlich machen. Die Dekapoden zeigen mit den Mysiden, trotz der allgemein ver- breiteten gegenteiligen Anschauung, nur eine sehr oberflächliche Habitus- ähnlichkeit; dagegen besitzen sie ganz deutliche Beziehungen zu den Euphausiiden. Die Umgestaltung der ersten drei Thoraxfußpaare zu Mund- gliedmaßen, sowie die Verwachsung sämtlicher Rumpfsegmente mit dem Schilde und die Ausbildung eines mächtigen Kiemenapparates, der vonder Thoraxwand und nicht etwa von Anhängen der Füße entspringt, geben den Dekapoden aber ein einheitliches und zugleich ganz eigentüm- liches Gepräge, wodurch sie sich von allen Malakostraken entfernen. Boas, Verwandtschaftsbeziehungen der Malakostraken. 129 Mit den Euphausiden allein teilen sie die Eigenschaft, dass der. erste Abdominalfuß beim Männchen zu einem Kopulationsorgan umgebildet ist, und dass die Befruchtung mittels Spermatophoren stattfindet. Epi- poditen sind nur bei Penaeiden und einigen andern Garneelen vor- handen: die einfache Gestalt der Spermatozoiden, die wir bei Euphau- sia und bei Phyllopoden kennen, scheint sich bei Penaeus wiederzu- finden, ebenso wie die freie Naupliusform der Brut. Bei den höhern Dekapoden treten sehr verschiedene und differente Verhältnisse auf, sowol in der Form der Larven als in deren Entwicklungsweise. Es bleibt uns unter den Malakostraken die Stomatopoden- oder Squillidengruppe übrig, eine sehr abweichende Abteilung, die durch das gestreekte, wie bei Phyllopoden und Nedalia vielkammerige Herz (bei allen übrigen Malakostraken hat das Herz nur drei Ostienpaare), sowie durch die Existenz der Schalendrüse bei Larven (sonst nur bei Sergestes vorhanden) sich auszeichnet. Durch solche Charaktere nehmen die Squilliden eine tiefe Stelle ein, in mancher Beziehung sogar etwas tiefer als KEuphausia. Die Gliedmaßen zeigen aber einen hohen Grad der Differenzirung. Es erscheinen also die Squilliden als eine sehr abweichende Gruppe, welche sich wol am frühesten vom Stamm der Malakostraken abgezweigt haben soll. Die Hauptresultate seiner Arbeit werden nun von B. folgender- weise in Gestalt eines Stammbaums ausgedrückt: Amphipoden Isopoden . . Cumaceen Mysiden En F i Lophogastriden Be Dekapoden Squilliden . . Euphausiiden Phyllopoden In seiner Dekapodenarbeit hat B. in gleicher Weise die einzel- nen Abteilungen dieser Ordnung in ihrer Struktur sowie in ihren Verwandtschaftsverhältnissen einer eingehenden Kritik unterworfen. Ich werde mich darauf beschränken, die hauptsächlichsten systemati- schen und phylogenetischen Resultate zusammenzufassen. B. verwirft die übliche Einteilung in Makrura und Brachyura und teilt die Dekapoden in Natantia und Reptantia. — Erstere sind die gar- neelenförmigen Dekapoden, mit kompressem Leib, buckligem Abdomen 130 Giacosa, In hohen Luftschichten enthaltene Keimsporen. hornartigem Chitinpanzer, schwachen Vorderbeinen und freibeweglicher Verbindung zwischen dem 5. und 6. Glied der Gehfüße. Die Natantia werden wiederum geteilt in Penaeiden und Eukyphoten, deren erstere, wie F. Müller entdeckte, in Naupliusgestalt das Ei verlassen. — Die Reptantia haben einen mehr depressen Leib, verkalkten Chitinpanzer und kräftige Vorderbeine; ihre gewöhnliche Bewegungsweise ist das Krie- chen, nicht das Schwimmen; das 5. und 6. Glied der Gehbeine sind durch ein emachsiges (ginglymoides) Gelenk verbunden. Diese Gruppe zerfällt in viele Abteilungen: Homaridae (mit Astacus als Anhang), Eryonidae, Loricata, Thalasinidae, Anomala, Brachyura. Die vier erstern entsprechen einem Teil der Makruren früherer Autoren; die Gruppe der Anomala (Anomura) hält B. Claus gegenüber fest. In treffender Weise vergleicht Verf. die phylogenetische Entwick- lung der Dekapoden mit derjenigen der Wirbeltiere. „Ebenso wie „bei den niedern Vertebraten (den Fischen) ist auch bei den niedern „Dekapoden (Natantia) der Körper mit einem sehr kräftigen musku- „lösen Endabschnitte (dem „Schwanz“) versehen, welcher wesentlich „die Lokomotion des Tieres bewerkstelligt, während die Rumpfglied- „maßen eine verhältnissmäßig untergeordnete Rolle spielen. Bei den „höchsten Vertebraten (den Säugetieren) ist der betreffende Endabschnitt, „ebenso wie die analoge Partie bei den höchsten Dekapoden (den „Brachyuren), ein fast bedeutungsloser Anhang geworden, während „die Rumpfgliedmaßen die Lokomotion ganz übernommen haben. „Zwischenstadien sind unter den Vertebraten die Reptilien und Am- „phibien, unter den Dekapoden die niedern Reptantia“. ©. Emery (Bologna). Versuche über die in hohen Luftschichten enthaltenen Keimsporen niederer Organismen, Von P. Giacosa. In den letzten Jahren hat man zu wiederholten malen die Luft, namentlich diejenige großer Städte oder weiter Ebenen, bezüglich der in ihr enthaltenen Keime niederer Organismen studirt. Bekanntlich war der Zweck solcher Untersuchungen zu konstatiren, ob nicht zwi- schen gewissen epidemischen Krankheiten und dem Vorhandensein größerer oder geringerer Mengen organischer Formen in der Atmo- sphäre bestimmte Beziehungen aufzufinden seien. Diese praktische Seite des Studiums der mikroskopischen Organismen der Luft ist außerordentlich vervollkommnet worden und hat die Aufmerksamkeit vieler Naturforscher fast ausschließlieh in Anspruch genommen. Mich leitete nun aber bei meinen Studien ein ganz anderer Gesichtspunkt; nämlich insofern vor allem ein rein wissenschaftlicher, als ich einen Beitrag zur geographischen Verteilung dieser Organismen zu liefern Be .- . . Giacosa, In hohen Luftschiehten enthaltene Keimsporen. 131 gedachte, aus dem sich indess sehr wol werden Schlüsse ziehen lassen, welehe von praktischem Nutzen sein können. Meine erste Absicht zielte dahin, die organischen Keime der Luft in verschiedenen Höhen derselben Vertikallinie oberhalb einer großen Stadt zu studiren ; indess stehen die diesbezüglichen Versuche noch aus. Dann entschloss ich mich, die einen hohen und isolirt stehenden Berg umgebende Luft der Beobachtung zu unterziehen. Ich wählte einen Berg, welcher sich am Ende des Thales der Chiusella, eines Nebenflusses der Dora Baltea, erhebt. Ohne selbst von Schnee bedeckt zu sein, umgeben ihn von drei Seiten her großartige Gletscher, über welche die Winde streichen müssen, bevor sie zu ihm gelangen. In dieser Region wehen die Winde regelmäßig, und grade sie sind es, welche, meinen Unter- suchungen zufolge, auf die Verteilung der niedern Organismen von bedeutendem Einfluss sind. Ich gebe hier nur einen Auszug aus der Originalarbeit, welehe sich mit einer Figurentafel in den Atti della R. Accademia delle Sceienze di Torino vol. XVII vom 28. Ja- nuar 1883 abgedruckt findet. Die Experimente wurden in den ersten Tagen des Augustmonats im Jahre 1882 auf dem Gipfel des Monte Marzo. (2756 m über dem Meere) und an seinem Fuße bei einer Sennhütte, genannt Alpe delle Oche (2300 m), angestellt. Die Natur der Oertlichkeit verhin- derte leider die Anwendung der Aspirationsmethoden und so musste ich mich damit begnügen, die Staubpartikelehen aufzufangen, welche die Luft in die dort aufgestellten Gefäße fallen ließ. Ich hatte Rezipienten von folgender Form angefertigt: ein 2—3 cm weites Natronglasrohr war an einem Ende zugeschmolzen und das andere in eine 6—7 em lange Kapillare ausgezogen. Diese Behälter wurden nun auf die Weise gefüllt, dass ich durch Erhitzen einen Teil der Luft austrieb, nun die Verengung zuschmolz und dann nach dem Abkühlen die Spitze unter dem Niveau der Nährflüssigkeiten abbrach. Ein Teil der gut desinfizirten Röhren wurde in meinem Laboratorium mit verschiedenen Nährflüssigkeiten, unter andern mit der Cohn’schen, der Raulin’schen, oder auch mit Fleischbrühe gefüllt. Nach der Fül- lung wurde der Inhalt nochmals anhaltend gekocht und endlich, wäh- rend reichlich Dampf ausströmte, das Kapillarrohr vor der Gebläse- lampe zugeschmolzen. Eine andere Portion gleichfalls desinfizirter Röhren wurde leer aber geschlossen dorthin gebracht, wo sie mit denjenigen Flüssigkeiten gefüllt werden sollten, welche mit den Kei- men der in jener Luft enthaltenen Mikroorganismen geschwängert war. Gefüllt wurden sie hier dann in der Weise, dass die Spitze der erwärmten luftleeren Röhren in der Nährflüssigkeit abgebrochen wurde und nach dem Füllen wieder zugeschmolzen. Im Laboratorium bewahre ich Kontrolröhren auf, deren flüssiger Inhalt jetzt, d. h. also länger als ein Jahr nach meinen Experimenten, noch vollkommen klar ist. 139 Giacosa, In hohen Luftschichten enthaltene Keimsporen. m‘ Diese Methode infizirte Flüssigkeiten aufzufangen wird sich höchst wahrscheinlich als äußerst praktisch bewähren, da sie meinen Er- fahrungen nach allen Anforderungen Genüge leistet. Man braucht nur eine Spirituslampe und ein Löthrohr mit sich zu führen, um die am beliebigen Ort gefüllten Röhren zuzuschmelzen. Ich führte auch einige Glasröhren mit mir, welche einfach mit Baumwolle oder Leinen- pfropfen geschlossen waren und eine Gallerte von Hansenblase ent- hielten; indess sind sie bei weitem nicht so bequem und so sicher wie jene. Ich beschränkte mich nicht allein darauf, die von der Luft ge- tragenen Lebenskeime von Mikroorganismen hoher Berge zu studiren, auch einige Freunde stellten, während ich meine Versuche auf dem Monte Marzo ausführte, dieselben Operationen, genau wie ich sie ihnen angegeben hatte, an zwei verschiedenen Orten der Ebene an, und zwar in den Dörfern Colleretto, Parella und Samone. Beide lie- gen einige Kilometer südwärts vom Monte Marzo in einer Höhe von 240 m über dem Meeresspiegel. Da derartige Versuche in großer Anzahl gemacht wurden und noch jetzt gemacht werden, so ist es sehr interessant, sowol einige qualitative als. auch quanti- tative Unterschiede konstatiren zu können, welche sich in bezug auf die mikroorganischen Keime ergeben, je nachdem die Luft aus verschiedenen Höhen ganz benachbarter Orte untersucht wurde. Während der siebentägigen Dauer meiner Versuche hielt sich das Wetter recht gut; nur auf dem Berge trübte sich zuweilen die Luft und der Wind begann zu wehen. EIf Uhr Morgens war die Temperatur auf dem Gipfel des Monte Marzo, bei einem fast bestän- digen Luftdruck (nach Angabe der Aneroidbarometers) von 530 mm, 10° Cels. im Schatten. In der Sennhütte delle Oche schwankte die Temperatur zwischen 7° bis 14° C. und der Luftdruck zwischen 562 und 564 mm. Die Be- obachtungen wurden 7 Uhr morgens und 7 Uhr abends angestellt. Den Inhalt der Röhren prüfte ich zehn oder zwölf Tage nach meiner Rückkehr aus den Bergen mit Hilfe eines guten Seibert’schen Mikroskops. Im Folgenden gebe ich summarisch die Resultate meiner Be- obachtungen: j 1) Schizomyceeten sind bei einer Höhe von 2756 m in weit ge- ringerer Anzahl in der Luft vorhanden, als in der Ebene. Auch bezüg- lich der Formen scheinen Differenzen zwischen beiden Orten obzuwalten. Alle der Luft in der Ebene ausgesetzten Röhren enthielten Bac- terien und Micrococcen. Dem entgegen fanden sich diese Organismen nur in einer einzigen unter den 13 Röhren, welche bei der Alpe delle Oche gefüllt worden waren. (Dieser Ort ist durch eine ungeheure Felswand vor Winden geschützt). Auf dem Monte Marzo war das Verhältniss der mit Schizomyce- Giacosa, In hohen Luftschichten enthaltene Keimsporen. 1395 ten infizirten und der hiermit nicht infizirten Röhren das gleiche; 100 m oberhalb der Sennhütte dagegen am Ufer eines kleinen Sees entsprach es dem Zahlenverhältniss von 7:2. Diese Differenzen können verschiedenen Umständen zugeschrieben werden. Zu den die Infizirung begünstigenden Ursachen müssen in erster Linie der Wind und die Insekten, welche er mit sich führt, gerechnet werden. Diese fallen in die Gefäße (wie dies auf dem Monte Marzo bezüglich derjenigen Behälter, die Bacterien enthielten, konstatirt werden konnte) und übermitteln die Keime. Dann folgen andere Ursachen, welche gleicherweise in der Ebene wirken; so er- klärt sich das Vorhandensein von Schizomyceten ohne Gegenwart von Insekten am Ufer des Sees durch die dem Leben dieser niedrigen Organismen günstigen Bedingungen der Bodenbeschaffenheit. 2) In den drei ersten Tagen des Augustmonats enthielt die über den Monte Marzo streichende Luft eine reichliche Menge von Hefe- pilzsporen (Saccharomyces, Torula ete.). Sie entwickelten sich in allen der Luft ausgesetzten Flüssigkeiten, wenn schon je nach deren Natur verschieden. Ihre Aussaat verdanken sie nicht den Insekten. Zur selben Zeit war die Luft der Ebenen mit derartigen Keimsporen durchaus nicht geschwängert. Die von der Alpe delle Oche mitge- brachten Röhren zeigten nur in einem oder zwei Fällen Hefepilzzellen, und diese Beobachtung wird zur genüge beweisen, dass die Natur der in der Luft flottirenden Keime je nach der Richtung der eben herr- schenden Winde in derselben Vertikallinie ungemein varüren kann. 3) Die Keimsporen der weit gemeinern Schimmelpilze (Mucor, Penieillium ete.) sind in großer Höhe ebenso zahlreich wie in der Ebene. Hier indess finde ich gewisse Formen, welche in den Röhren vom Berge fehlen. Was diese Tatsache anbelangt, so muss ich darauf hinweisen, dass es die Zeit des Korndreschens war, ein Umstand, welcher die Aussaat gewisser Schimmelpilzarten ungemein zu begün- stigen scheint. 4) Niemals habe ich Formen gefunden, welche man unzweifelhaft als zum Tierreich gehörend hätte bezeichnen können. Nur ein einzi- ges mal fand ich in der Ebene eine durchscheinende und zusammen- gefaltete Masse, welche die Form eines Cyelops zu haben schien. 5. Einige der offenen Röhren vom Monte Marzo und fast alle von Samone enthielten geringe glitzernde Bruchstücke von krystallinischer Struktur, mit denen man Glas ritzen konnte. Es waren Quarzfrag- mente des Sandes der Dora Baltea. 734 Götte, Ueber den Ursprung des Todes. Goette, Ueber den Ursprung des Todes. Mit 18 Holzschnitten. Verlag von Leop. Voss. Hamburg und Leipzig. 1883. Nach einigen kurzen einleitenden Worten und nachdem er die Hauptgedanken des Weismann’schen. Vortrages „Ueber die Dauer des Lebens“ rekapitulirt hat, geht der Verfasser an die Beantwortung der Frage, was wir unter „Tod“ zu verstehen haben. An der Hand von ebenso einfachen wie bekannten Beispielen wird zunächst gezeigt, wie der Tod des ganzen Organismus und der seiner Teile als zwei verschiedne Erscheinungsreihen auseinander zu halten sind, woraus selbstverständlich folgt, dass das Gesamtleben des ganzen Organismus oder Individuums verschieden ist von dem Teilleben seiner Elemente. Unter Anführung anderer Beispiele wird dann ausgeführt, wie das Gesamtleben eines Organismus nicht etwa als eine beliebig teil- bare „Summe“ der Lebenstätigkeiten seiner Elemente angesehen wer- den kann, sondern nur als ein einheitliches und darum im allgemeinen unteilbares Produkt derselben aufgefasst werden darf. Mit andern Worten: die Lebenserscheinungen des Individuums erweisen sich nicht als die unmittelbare Tätigkeit der Kraftquellen, der Zellen und son- stigen Gewebsteile selbst, sondern als durch die ganze bezügliche Or- ganisation bestimmt vorgezeichnete und bedingte Arbeitsleistungen. Die Lebenstätigkeit der Zellen und das Gesamtleben des Individuums verhälten sich also zueinander wie Kraft und Arbeitsleistung. Die Bedingungen, unter denen die Arbeitsleistung zu stande kommt, sind überall in der Anordnung und den Maßbeziehungen der Organe (Formbedingungen), kurz in der gesamten Organisation gegeben, woraus schon die Notwendigkeit eines Zusammenhangs aller Lebens- akte hervorgeht (Individualität). Der Grund dieser Indivi- dualität beruhtimder Entwicklung des polyplastiden Organismus. Sind seine Elemente noch alle von gleicher Beschaffenheit, so sind sie auch voneinander relativ unabhängig und können sich sogar zu selbständiger Existenz voneinander trennen, womit natürlich zugleich die Individualität des Ganzen aufgelöst wird. Erst in dem Maße, wie die Elemente unter gegenseitiger Anpassung verschieden, also von einander abhängig und zu selbständiger Existenz unfähig werden (Heteroplastiden), wird die Individualität eine vollkommnere. Nach dem Gesagten kann der natürliche Tod oder der Still- stand des Gesamtlebens nur darin bestehen, dass die Zellen- tätigkeit nicht mehr in die Arbeitsleistungen des Individuums über- geführt wird. Das Erlöschen dieser Zellentätigkeit (Zellentod) selbst gehört nicht mehr zum eigentlichen Begriff des natürlichen Todes, sondern ist nur eine natürliche Folge des Todes, weil die Zellen zu selbständiger Existenz unfähig sind. Da die Zellen aller Homopla- stiden sowie die Keime aller Polyplastiden die Möglichkeit einer sol- Götte, Ueber den Ursprung des Todes. 735 chen selbständigen Existenz zeigen, kann der Begriff des natürlichen Todes nicht unbedingt von der Anwesenheit eines postmortalen Zellen- todes abhängig gemacht werden. Gegen die Ansicht, dass die Alters- und Involutionserscheinungen die Ursache des natürlichen Todes seien, werden zahlreiche Beispiele von Insekten angeführt, deren Tod unmittelbar nach der Eiablage durch Erschöpfung erfolgt (Weismann). Und da dieser Tod m fortlaufender Stufenreihe immer später eintrete, so sei überhaupt die Fortpflanzung die letzte Ursache des Todes. Dies wird noch weiter erläutert an verschiednen Würmern ete., bei denen schon die Keimreife eine gewebliche oder funktionelle Rückbildung des mütterlichen Organismus herbeiführt. Die Notwendigkeit des Todes auch der sterilen Individuen wird durch Vererbung erklärt. Die ursprüngliche Notwendigkeit des Todes lässt sich jedoch erst bei den niedersten Polyplastiden begreifen. Bei den Orthonec- tiden wird das ganze Entoderm, bei den Homoplastiden die ge- samte Körpermasse zu Keimen verbraucht, so dass bei diesen Fort- pflanzung und Auflösung des Organismus zusammenfallen. Aber dieses Verhältniss wurde nicht erst von den Polyplastiden erworben, sondern es wurde vielmehr von den Monoplastiden her ererbt, welche sich bei der Eneystirung in je einen Keim ver- wandeln und dadurch ebenso notwendig dem Tod unterliegen wie die Homoplastiden (Verjüngung). Nachdem noch die Uebereinstimmung des Lebens in beiden Grup- pen (Arbeitsleistung der Elementarkräfte) und die sogenannte Verer- bung im besondern erläutert ist, ergibt sich als letzte Schlussfolgerung: Dass der Tod als notwendige Begleiterscheinung der Fortpflanzung so alt als als diese und die Lebewesen überhaupt sei; dass nur seine Erscheinung mit der fortschreitenden Organisation sich verändere, indem immer weniger Elemente zur Fortpflanzung gebraucht werden, die übrigen Elemente aber einen immer vollkommnern mütterlichen Organismus bilden, welcher infolge der ererbten Todesursache früher oder später sterbe (natürlicher Tod) und dadurch die Leiche liefere (Zellentod). L. Will (Rostock). W. Roux, Ueber die Bedeutung der Kernteilungsfiguren. Eine hypothetische Erörterung. Leipzig, W. Engelmann, 1883. 19 Seiten. Roux macht im Anschluss an die in einer frühern Schrift („Der Kampf der Teile im Organismus“) entwickelten Ansichten einen hypothetischen Ver- such, die Bedeutung der durch die Untersuchungen von Flemming, Stras- 136 Roux, Ueber die Bedeutung der Kernteilungsfiguren. burger und Pfitzner in den Hauptzügen festgestellten Erscheinungen der Kernteilung festzustellen. Die Teilung zerfällt nach seiner Auffassung in zwei Akte, in die molekulare Teilung, nämlich die Teilung der die Kernfäden zusammensetzenden Mutterkörner in Tochterkörner und in die Massenteilung. Der wesentlichste Vorgang ist der erstere; alle übrigen haben den Zweck, von den durch diese Teilung entstandenen Tochterkörnern desselben Mutter- kornes immer je eines in das Zentrum der einen, das andere in das Zentrum der andern Zelle sicher überzuführen. Nach dieser Auffassung ist zu erwarten, dass normaler Weise nie demselben Mutterfaden entstammende Tochterfäden auf dieselbe Seite kommen‘, sondern dass sie stets auf beide Seiten verteilt werden. Durch solche Vorgänge wird der Kern nicht bloß seiner Masse, son- dern auch der Masse und Beschaffenheit seiner einzelnen Qualitäten nach geteilt. J. W. Spengel (Bremen). Berichtigung, S, 703 Z. 3 v. u. lies: Schläfenbeins statt Scheitelbeins. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Vor kurzem wurde vollständig: Lehrbuch der Vergleichenden Anatomie der Wirbelthiere auf Grundlage der Entwicklungsgeschichte bearbeitet von Professor Dr. Robert Wiedersheim, Director des anatomischen und vergleichend - anatomischen Institutes der Universität Freiburg i./Br. Mit 607 Holzschnitten. Preis: 24 Mark. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Vor kurzem erschienen: Dr. Conrad Rieger, Docent an der Universität Würzburg. D H tj Psychiatrische Beiträge zur Kenntniss er ypno 1SMUS,. der sogenannten hypnotischen Zustände. Mit einer Curventafel und 4 Tafeln in Lichtdruck. Nebst einem physiognomischen Beitrag von Dr. Hans Virchow, Privatdocent der Anatomie in Würzburg. Preis: 4 .Mk. 50 Pr Dr. August Weismann, Professor in Freiburg i./Br. Ein Vortrag. Ueber die Vererbung. Preis: 1 Mk. 50 Pf , August Weismann, Professor in Freiburg i./Br. Ei biol Unte 1 y eher heben und Tod na Preis: 2 Mark. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Uentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. II Band. 15. Februar 1884. Nr. 24. Mit dieser Names schliesst der ir itte Bam Wir en 2 en ten Abonnenten um rechtzeitige Erneuerung des Abonnements für den vierten Band, damit in der Zusendung keine Unterbreehung eintritt. Inhaltsver- zeichniss und Register des dritten Bandes liegen dieser Nummer bei. Die Verlagsbuchhandlung. Inhalt: Kollmann, Der Mesoblast und die Entwicklung der Gewebe bei Wirbeltieren. — Will, Zur Bildung des Eies und des Blastoderms bei den viviparen Aphiden. — Schwalbe, Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane. — Wiedersheim, Lehrbuch dr vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere auf Grundlage der Entwicklungsgesehichte. — Manassein, Ueber die Flüssigkeitsaufnahme und Abgabe im Muskelgewebe ueter dem Einfluss verschiedener Bedingungen. — Peyrani, Einwirkung des Physostigmins auf den Blutdruck. — Nassonow, Zur Biologie und Anatomie der Ülione. Der Mesoblast und die Entwicklung der Gewebe bei Wirbeltieren. Von J. Kollmann (Basel). Hertwig 0. u. R., die Coelomtheorie. Versuch einer Erklärung des mittlern Keimblattes. Mit 3 Tafeln. Jena 1881. — His, W., die Lehre vom Binde- substanzkeim (Parablast). Arch. f. Anat. u. Phys. 1882. Anat. Abteilung. — Waldeyer W., Archiblast und Parablast. Bonn 1883. Sep.-Abdr. a. d. Arch. f. mikr. Anat. — Rauber, die Entwicklung der Gewebe des Säugetierkörpers und die histologischen Systeme. Bericht d. Naturf.-Ges. zu Leipzig 1853. — Kölliker A. v., Sur la formation des feuillets germinatifs de l’embryon. Arch. d. Se. pys. et nat. Nov. 1883. Geneve. Die Entwicklungsgeschiehte steht heute vor einem bedeutungs- vollen Sehritt, nämlich vor der Auflösung des Begriffes „Mesoderm“. Mit jeder der Anschauungen, die sieh über die Herkunft der Stütz- substanz gegenüberstehen, ist die Zerstörung des alten Begriiles ver- bunden, und zwar entweder offen wie bei der Mesenchym- und Para- blasttheorie, oder mehr verborgen wie bei der Annahme einer besondern „Gefäßplatte“. Damals schon, als man in der Embryologie den letztern Ausdruck gebrauchte, kam der Stein ins rollen. Alle, welche die 47 738 Kollmann, Der Mesoblast u. die Entwicklung d. Gewebe bei Wirbeltieren. Existenz eines solchen Organs annahmen, gleichviel unter welchem Vorbehalt, arbeiteten mit größerm oder geringerm Nachdruck an dem Untergang der einheitlichen Auffassung des mittlern Keimblattes. Denn was ist denn diese „Gefäßplatte“ anderes, als ein besonderer Teil der Embryonalanlage, den man, mit besondern Kräften aus- gestattet, gerne ausscheiden möchte? Wenn früher kein Widerspruch gegen diese Trennung erhoben wurde, so geschah es wol nur deshalb, weil man nicht bemerkte, wie einschneidend einst die Konsequenzen für die Embryologie der Wirbeltiere werden würden. Von ganz entgegengesetzter Richtung her haben O. und R. Hert- wig Bahnen betreten, die schließlich zu demselben Resultat führten. Während die Embryologie der höhern Wirbeltiere diesen zwar lang- samen, aber doch endlich zerstörenden Weg wandelte, ging die Em- bryologie der Wirbellosen schneller und sicherer ihrem Ziel entgegen. Indem sie ihre Anschauungen auch auf einige Klassen der Wirbel- tiere ausdehnte, hat sie ebenfalls die Trennung des alten Begriffes durchgeführt. Jeder Versuch, die Einheit des Mesoderms zu retten, führt uns im Kreise herum, und es kann sich nur mehr fragen, in wel- cher Weise man den Tatsachen Rechnung tragen soll. Ich will ver- suchen die Gründe darzulegen, welche mich bestimmten, der Tren- nung des Mesodermbegriffs in der Embryologie der Wirbeltiere das Wort zu reden und also den früher einheitlichen Begriff des mittlern Keimblattes aufzugeben. Die aufgeführten Werke vertreten vorzugsweise zwei verschie- dene Ergebnisse, zu welchen die Untersuchung über die Herkunft der Stützubstanz geführt hat. Wie die Ausgangspunkte verschie- den waren, so auch das endliche Resultat. Dennoch liegt diesen Bestrebungen die richtige Voraussetzung von einem einheitlichen Ursprung der Stützsubstanz in den tierischen Organismen zu grunde.— His hat bekanntlich, auf Untersuchungen am Hühnerei gestützt, die Lehre aufgestellt, dass das Epithelialgewebe ebenso wie das Nerven- und Muskelgewebe aus einer andern Grundlage sich herauswickle, als das Blut und die Bindesubstanzen. Die Anlage der letztern bezeichnete er als eine parablastische, als von einem Neben- keim in dem Ei ausgehende. Eine Reihe fortlaufender Arbeiten führten ihn schließlich dahin, seine Beobachtungen auf folgende Weise zu formuliren: 1) Das Remak’sche mittlere Keimblatt ist kein elementares Glied der embryonalen Körperanlage, es enthält vielmehr zweierlei ver- schiedene Bestandteile, nämlich: a) die Muskelplatten und den Axenstrang, b) die Anlagen für Blut, Bindesubstanzen und Gefäßendothelien. Die unter a aufgeführten Bestandteile liegen axial, in der Um- gebung des Primitivstreifens, die unter b genannten dagegen peri- pherisch. Der „periphere Mesodermteil“ wird also dem axialen Kollmann, Der Mesoblast u. die Entwicklung d. Gewebe bei Wirbeltieren. 739 gegenüber gestellt und damit eine räumliche Trennung innerhalb des Mesoderms durchgeführt. Diese Untersuchungen waren von dem Embryo eines höhern Wirbeltieres, von dem klassischen Objekt der Entwicklungsgeschichte, dem Hühnchen, ausgegangen und nach und nach auf andere Wirbeltierklassen ausgedehnt worden. O. und R. Hertwig verknüpften dagegen den Entwicklungsgang wirbelloser Tiere mit den Erscheinungsreihen an den Wirbeltieren, Die vorgenommene Prüfung führte zu einem verwandten Endergebniss. Der Ausdruck „mittleres Keimblatt“ umfasst zwei ganz verschiedene Bildungen. Er muss deshalb durch zwei neue und schärfere Begriffe ersetzt werden, nämlich Mesoblast und Mesenehym. Die Breite vergleichend anatomischer Grundlage drängt also auch dahin, die Bindesubstanzen aus einer andern Quelle herzu- leiten, als es bisher geschah. Mesenchymkeime sollten sich zwischen die die Form bestimmenden Keimblätter eindrängen, deren Nachkommen dann eine Füllmasse bilden, welche die verschiedensten Funktionen verrichten kann, aber wol hauptsächlich als ein Stützorgan dienen. Dieser Füllmasse, dem Mesenchym, steht also der Mesoblast gegenüber. Man wird zugestehen müssen, dass die Endresultate in dieser allgemeinen Fassung eine große Uebereinstimmung besitzen. Gleich- wol ist die Ableitung des Mesenehymkeimes und diejenige des Para- blasts eine fundamental verschiedene. Bei O. und R. Hertwig sind es direkte Abkömmlinge der Fur- chungskugeln, welche einzeln aus dem epithelialen Verbande der Keimblätter ausscheiden, bei His sind es Teile des weißen Dotters, welche in das Bereich der Keimscheibe gelangen: Protoplasmaballen des Eies, die von dem Furchungsprozess des Eies unberührt blieben. Von diesen beiden Angaben kann offenbar nur eine dem wirk- lichen Sachverhalt entsprechen, es sei denn, dass man der Ansicht huldigte, die Natur forme nach zwei verschiedenen Prinzipien, und dasselbe Ziel werde hier wie dort erreicht, aber mit gänzlich ver- schiedenen Mitteln. Nachdem sich mehr und mehr herausstellt, dass bei dem ersten Aufbau der Organismen eine erstaunliche Ein- förmigkeit herrscht, so wird man kaum geneigt sein, zwei funda- mentale Verschiedenheiten in der Anlage der ersten embryonalen Organe anzunehmen. Der Unterschied der beiden Anschauungen ist tiefgreifend genug, um gradezu von entgegengesetzten Prinzipien sprechen zu dürfen. Denn die „Protoplasmaballen“, welche in dem einen Fall aus dem Dotter aufsteigen und sich zwischen die Keim- blätter begeben, sind eben doch grundverschieden von Elementen, die aus dem Furchungsprozess hervorgehen. Unsere Vorstellungen von dem Wesen des Protoplasmas sind so hohe, dass wir gern geneigt sind, ihm jede Leistung zuzutrauen, selbst die höchste. Allein es handelt sich zunächst um den Nachweis, dass dieser Nebenkeim auch lebendiges Protoplasma im Sinne der neuern Auffassung sei. Viele AT“ 740 Kollmann, Der Mesoblast u. die Entwicklung d. Gewebe bei Wirbeltieren. gewichtige Stimmen sprechen sich dafür aus; dennoch sind nicht alle Zweifel damit als beseitigt anzusehen. Der entscheidende Beweis verlangt gradezu, dass klar erkannt sei, ob wirklich Furchungskugeln und ihre Abkömmlinge gleichwertig seien mit den „Dotterzellen“. Ist dieser Nachweis geliefert, dann erst steht es fest, dass die aus meroblastischen Eiern hervorgegangenen Tiergeschlechter sich zum Aufbau ihrer Gewebe neben den Furchungskugeln auch noch ge- formter Bestandteile des Dotters bedienen, während die holoblasti- schen ihre Gewebe nur aus Furchungskugeln oder ihren direkten Abkömmlingen erzeugten. Der mit einer bedeutenden Unterlage von gründlichen Beobachtungen unternommene Versuch, das Problem von der Herkunft der Stützsubstanz bei den Wirbeltieren zu lösen, hat eine ansehnliche Bewegung in der Literatur hervorgerufen. Eben jetzt beginnen die Wogen der Diskussion etwas höher zu gehen. Die neueste Schrift von Waldeyer hat nicht nur den His’schen Ge- danken aufgenommen, sondern ihn sogar weiter geführt, als dem Meister der Lehre willkommen sein dürfte. Die Entscheidung kann, wie mir scheint, nur auf grund neuer Beobachtungen herbeigeführt werden, denn trotz mancher gewappneten Gegenrede sind, wie wir eben gesehen haben, die Untersuchungen in vollem Gange. Ein Versuch, die vorliegenden Tatsachen objektiv gegeneinander abzuwägen, wird am besten wol von einem Entwiceklungsstadium aus- gehen, bei dem die Arbeitsteilung der jungen Zellen bis zu einem gewissen Grade fortgeschritten und die Embryonalanlage in ihren Hauptzügen vollendet ist. Eine Keimhaut des Hühnchens vor Schluss des Herzens (mit eirca 9 Urwirbeln) lässt schon auf grund makros- kopisch erkennbarer Vorgänge folgende Sätze aufstellen: Dasjenige Organ, in welchem das Blut entsteht, liegt an der Peripherie der Keimhaut. Das Blut hat also in der Keimhaut ein appartes Entstehungs- gebiet, es taucht fern von der axialen Anlage auf. In Wirklichkeit entsteht der eigentliche Embryo ohne Blut und das Blut ohne Embryo. Diese Trennung der Keimhaut ist jedem Embryologen bekannt, ist uralt, sie hat nicht erst stattgefunden bei den höhern Wirbeltieren. Auch bei Amphibien, Knorpel- und Knochenfischen fällt der erste Ort der Blutbildung nicht in die axiale Körperanlage hinein, sondern in das periphere Gebiet der Keimhaut hinaus. Ich verzichte darauf hier auseinanderzusetzen, was alle Embryologen wissen, dass an der fernsten Grenze der Area vasculosa die Blut- inseln auftauchen nnd gegen die axiale Anlage hinwandern. Wenn nun His den Satz aufstellte, das Mesoderm im Sinne Remak’s könne unter solehen Umständen als kein einfaches Primitivorgan angesehen werden, so hatte er vollkommen recht. Nun aber wissen wir, dass der Mesoblast im Bereich der Primitivrinne entsteht und von dort aus erst peripher weiter schreitet. Das Zellenmaterial für die Bildung des Kollmann, Der Mesoblast u. die Entwicklung d. Gewebe bei Wirbeltieren. 741 Blutes liegt aber schon am Rande der Keimscheibe längst vor dem Auftreten der axialen Anlage zur Verwendung bereit. Der Mesoblast hat also keinen Anteil an der ersten Anlage der Area vasculosa. Wenn wir auch nicht mehr wüssten, daraus allein schon müsste man die weittragende Schlussfolgerung ziehen, dass das Mesoderm aus zwei verschiedenen morphologischen Teilen bestehe. Nachdem sich heute mit aller Schärfe beweisen lässt, dass die axialen Teile durch Differenzirung aus den beiden primären Keimblättern hervorgehen, so mufs die übrige selbständige Zellen- masse in den Randschichten, welche sogar früher vorhanden ist, auch für sich als eine selbständige Bildung betrachtet werden. Nennen wir die eine Mesoblast, und lassen wir die Bezeichnung der andern noch offen; die Untersuchung des Randwulstes wird die Ent- scheidung an die Hand geben, denn in ihm liegt das Räthsel ver- borgen. Der Randwulst ist ganz allgemein aufgefasst die verdiekte Peri- pherie des gefurchten Keimes. An diesem Gebiet, das man auch das Keimringgebiet genannt hat, lässt sich unterscheiden: 1) der zum Ektoblast gehörende Teil, 2) der zum Entoblast gehörende Teil, 3) ein dazwischen befindlicher Keim, aus Elementarzellen bestehend, den ich Akroblast nennen werde. Alle diese einzelnen Teile sind in der Area opaca Aula Erst die mikroskopirende Embryologie hat ihr die Bezeichnung Randwulst gegeben, die vergleichende nennt sie Urmundlippe. Bei dem Vogel, dem Reptil und dem Selachier geht zweifellos das Gebiet der Area opaca schließlich in dasjenige der Area vascu- losa über. Seit lange sucht man deshalb in dem Randwulst nach der Entstehung der ersten Blutzellen!) und betrachtet ihn als Werk- stätte für deren Herstellung. Aus den Nachkommen der dort auf- gehäuften elementaren Zellen gehen schließlich die Blutkörperchen hervor. Die Elementarzellen an der Urmundlippe stammen direkt von Furchungskugeln ab. Angesichts des zweifellos kontinuirlichen Ueber- ganges des Ektoblasts in den Entoblast kann darüber kein Zweifel auftauchen. Meines Wissens: ist auch niemals ein solcher laut ge- worden. Somit existirt in dem Randwulst ein bestimmtes Ka- pital elementarer Zellen, und es gibt einen bestimmten Zeit- abschnitt, innerhalb dessen jede Vermischung mit Dotterelementen ausgeschlossen ist. 1) Man sollte dort nicht zunächst nach der Entstehung der ersten Gefäße suchen, wie dies noch zumeist geschieht, denn sie sind eine spätere Bildung. Das wird um so zweifelloser, sobald man sich erinnern will, dass in der Area opaca zuerst die Vorbereitungen stattfinden, um schließlich die gelblichen Haufen der Blutzellen entstehen zu lassen. 742 Kollmann, Der Mesoblast u. die Entwicklung d. Gewebe bei Wirbeltieren. Der Randwulst ruht auf dem Dotterwall!) und steht mit ihm in dem innigsten Kontakt. Durch die Untersuchung der Reptilien und Selachier lässt sich leichter als bei dem Vogel nachweisen, dass an dieser Berührungs- fläche auch später keine Einwanderung weißer Dotterelemente statt- findet. Was sich bei dem Vogel oft täuschend als eine solche dar- stellt, ist vielmehr auf einen Verdauungsprozess innerhalb des eben entstandenen Entoblasten zurückzuführen. Diese Zellen der Keimhaut treten sofort nach ihrer Aufreihung an der Urmundlippe in ihre volle physiologische Funktion und inkorporiren Dotterkugeln. Nach- dem ich diese Beobachtung an der Keimhaut der Eidechse gemacht hatte, ließen sich mit vollkommener Sicherheit auch die Erscheinungen an den Entoblastzellen des Vogels deuten. Damit erklären sich eine Menge widersprechender Angaben. Im Innern der verdauenden Zellen des Randwulstes findet man nämlich die großen Dotterkugein in den verschiedensten Größen und den verschiedensten Arten des Zerfalles. Die Zellen sind dem aufgenommenen Nahrungsballen entsprechend bald größer, bald geringer an Umfang. Diese Bilder sind namentlich in spätern Stadien der Keimhaut (Zeit des Auftretens der Blutinseln, Schluss des Medularrohres) und schon oft gesehen, und der Ge- danke der direkten Aufnahme ist auch schon ausgesprochen wor- den (His, Klein, Rauber, Kölliker u. A.). Allein mit wenigen Ausnahmen begnügte man sich, die Tatsache für das Bereich der Area vasculosa festzustellen. Die Beobachtung dieses Gebietes durch die einzelnen Stadien zurück bis zu dem ersten Erscheinen des Randwulstes ergibt nun, dass die Entoblasten niemals Dotterelemente durch ihre Reihe hindurch einwandern lassen, sondern sie „fressen“ die Dotter- kugeln und zwar wol so, wie eine Amöbe die erbeutete Navicelle. Bei dem Vogel wird nur mit Hilfe paralleler Untersuchung an der Keimhaut der Reptilien die volle Ueberzeugung dieses Vorganges gewonnen, und selbst dann bedarf es noch der zahlreichen Resul- tate vergleichender Forschung, um das Verhalten richtig zu deuten. Doch ist auch hierin schon der Anfang gemacht. Janösik hat grade auch für den Vogel die verdauende Tätigkeit der Entoblast- zellen hervorgehoben und auf die verdauenden Darmzellen wirbelloser Tiere hingewiesen. Eine Reihe der interessantesten Verdauungsphä- nomene ist dort an den lebenden Zellen direkt gesehen worden (von Gegenbaur, L. v. Graff, Metschnikoff, Parker, du Plessis, Ray-Lankester). Die mechanische Aufnahme der Nahrungsmittel durch selbsttätige Bewegung der Zellen ist übrigens auch bei Wirbel- tieren nachweisbar, und Wiedersheim hat jüngst die betreffenden 1) Keimwall: His, Goette. Dotterwall: Rauber. Weißer Dotter: Balfour. Keimwulst: Kölliker. ”- Kollmann, Der Mesoblast u. die Entwicklung d. Gewebe bei Wirbeltieren. 743 Angaben gesammelt (Edinger, Engelmann, F. Hofmeister, Stöhr, v. Thannhofer und Zawarykin), welche vereinigt mit seinen eignen die amöboide Bewegung der Darmepithelien selbst noch bei dem erwachsenen Wirbeltier dokumentiren. Die Entoblastzellen sind die durch die Entwicklungsgeschichte der Tiere für die Verdauung bestimmten Zellengeschlechter, welche nicht allein chemisch, sondern auch mechanisch funktioniren. Sofort nach ihrem Entstehen an der Urmundlippe beginnen sie ihre physio- logische Tätigkeit, und dieselbe endet erst mit dem Tod. Wenn diese Auffassung richtig ist, und die Deutung der an den Entoblastzellen der Keimhaut auftretenden Erscheinungen zutreffend, dann stammen die elementaren Zellen zwischen Ekto- und Entoblast an dem Randwulst von keiner Invasion weißer Dotterelemente her, dann sind sie Abkömmlinge der Furchungskugeln, und ihre auffal- lende Vermehrung geschieht durch weitere Teilung des schon vor- handenen ursprünglichen Zellenmaterials. Dann entsteht das Blut in dem Gebiet des frühern Randwulstes, aus Nachkommen elementarer, d. h. embryonaler Zellen. Der Vorgang dabei ist folgender: 1) Die elementaren Zellen teilen sich, die Kernvermehrung ist deutlich zu sehen und von vielen Beobachtern konstatirt worden (Götte, Rauber, Disse u. a.). 2) Zu den Kernen gesellt sich Protoplasma, und es entstehen Wanderzellen, die ich Poreuten!) nennen möchte. Sie verraten die Fähigkeit aktiver Bewegung zunächst schon dadurch, dass sie sich in großer Zahl unter dem Ektoblast ansammeln (Gefäßplatte der Autoren). Dort findet man sie nämlich dann in einer breiten Schicht, darunter auch einige zu großen Zellenkugeln vereinigt (Poreuten- kugeln) und zwar um die 16—24. Stunde der Bebrütung bei dem Hühnchen. 3) Demnächst fangen diese Zellenmassen an sich zu lösen, die Wanderung beginnt; denn diese Poreuten gleichen amöboiden Zellen, freilich mit großem Kern und Kernkörperchen ausgerüstet; (ganz besonders ist diese Wanderung von His nachgewiesen worden). 4) Die Zellen bewegen sich in bereits vorhandenen Lücken durch das Gebiet der Area vasculosa. 5) Nachkommen derselben werden zu Biutkörperchen mit den bekannten großen Kernen. Andere werden 6) zu Endothelröhren. Die beiden letzterwähnten Umwandlungen der elementaren Zellen sind direkt mit dem Mikroskop zu verfolgen. Wenn man erwägt, dass die Poreuten bewegliche Zellen sind, aus denen das Blut hervorgeht, so ist es sehr naheliegend anzu- 1) ropsvoucı ich wandere, Es 744 Kollmann, Der Mesoblast u. die Entwicklung d. Gewebe bei Wirbeltieren. nehmen, dass nicht nur die roten Blutkörperchen, an die man zumeist denkt, sondern auch die weißen durch Arbeitsteilung aus ihnen her- vorgehen. Eine Menge von wolbegründeten Erfahrungen zeigen aber, dass weiße Blutkörperchen und die Zellen der Bindesubstanzen die allernächsten Verwandten sind. So führte also die Beobachtung für rotes und weißes Blut (an weißes Blut der Wirbellosen ist dabei besonders zu erinnern) und für die Gefäßröhren und für die Zellen der Bindesubstanzen auf eine gemeinsame Quelle hin, auf diejenige des Akroblasten und seiner elementaren Zellen, welche Beweglichkeit von Anfang an besitzen. Bei einzelnen steigert sich diese Fähigkeit, bei andern vermindert sie sich. Das letztere geschieht bei den roten Blutkörperchen, das erstere bei den Zellen des Bindegewebes und der Kapillaren. Allein es ist sehr wol möglich, dass auch organische Muskelfasern aus ihnen entstehen; wenigstens glaube ich bei den Amnioten die Muskel- fasern des Amnion auf sie zurückführen zu können. Auch Rauber ist für eine Entstehung organischer Muskelfasern aus Zellen des Rand- wulstes eingetreten. Aber wenn dies letztere auch nicht geschehen - sollte, so haben wir dennoch schon eine große Zahl höchst einschnei- dender Parallelen zwischen dem Mesenchymkeim der Wirbellosen und dem Akroblasten der Wirbeltiere, was die Entstehung der Stützsub- stanz betrifft. Da es sich zeigen lässt, dass keine Dotterkugeln in die Keimhaut einwandern, dass sie vielmehr lediglich als Nährsubstanz dienen, ergibt sich der Schluss, dass der Keim in dem Randwulst der Wirbeltiere ein Zellenlager ist, aus dem hier wie bei den Wir- bellosen drei Hauptkategorien der Stützsubstanz hervorgehen: 1) Blut mit seinen körperlichen Elementen und seiner dazu ge- hörigen Flüssigkeit; 2) die kapillaren Bahnen; 3) die Stützsubstanz im engeren Sinne. Alle diese Gewebe und ihre Abkömmlinge kommen aus der näm- lichen Grundlage, und ein bestimmter Grad von Verwandtschaft ist selbst im reifen Organismus noch nachzuweisen. Aber das nebenbei. Die entwicklungsgeschichtliche Seite dieser Auffassung ist, wenn sie als gesichert angesehen werden darf, entscheidend gegen die neuesten diluirenden Auslassungen. Ist es der Biologie möglich, den Nachweis eines Keimes im obigen Sinne bei Wirbellosen und Wirbeltieren zu liefern, dann ge- winnen wir auch wieder unsere Sicherheit gegenüber der Beurteilung des Mesoblasts. Zur Zeit ist es, als ob alles ins Schwanken geraten sollte. Wir waren im besten Zug zu erfahren und zu wissen, was denn die axiale Anlage liefere. Für Waldeyer und nicht allein für ihn ist nunmehr der Mesoblast ein bunt zusammengewürfeltes Gebilde, Kollmann, Der Mesoblast u. die Entwicklung d. Gewebe bei Wirbeltieren. 745 und resignirt beugt er sich vor dem unter solchen Umständen nahe- liegenden Schluss, dass die Keimblätter für die Histogenese keine einschneidende Bedeutung hätten. Derselbe Gelehrte, der von ent- wieklungsgeschichtlichen Forschungen aus das Prinzip aufgestellt hatte, dass die Gewebe ihren Charakter nicht mehr verändern, wenn sie einmal in der Embryonalanlage sich in die verschiedenen Blätter des Keimes differenzirt haben, erklärt jetzt diesen Satz für falsch und die Blättertheorie für die Histogenese bedeutungslos. Ich sehe nicht die geringste Notwendigkeit zu einem solchen verzweifelten Schritt, dem sich einer unserer hervorragendsten Forscher auf so manchem Gebiet der Biologie anzuschließen im begriffe steht. Selbst Kölliker beginnt sich auf den negativen Standpunkt zu stellen und vindizirt jedem der drei Keimblätter die Fähigkeit, alle Hauptgewebe aus sich zu erzeugen. So wäre dann alles eitler Wahn gewesen, was bisher in dieser Richtung gedacht und gelehrt wurde? Wer die Ueberzeugung gewonnen, dass der Embryo ohne Blut bei drei großen Wirbeltierklassen entsteht, und das Blut ohne Em- bryo, der muss nicht allein die Auffassung teilen, dass der frühere Begriff eines mittlern Keimblattes unhaltbar geworden ist, und dass wir eine axiale und eine periphere Embryonalanlage unterscheiden müssen, wie His sich vortrefflich ausdrückt, indem er die horizon- tale Gliederung der Keimscheibe ins Auge fasst, sondern er wird konsequenter Weise auch für die Bedeutung der Keimblätter als histo- genetische Primitivorgane in die Schranken treten. Das eine ist ohne das andere undenkbar. Nachdem His in der jüngsten Zeit kein allzu großes Gewicht auf seine Einwanderungsthese legt, dagegen den Schwerpunkt der ganzen Angelegenheit in dem Gegensatz zwischen peripherer und axialer Anlage sieht, so deute ich dies als eine willkommene Reserve von seiner Seite. Denn unter solehen Umständen ergänzen sich in unverkennbarer Weise die Untersuchungen bezüglich der Stützsubstanz bei Wirbellosen und Wirbeltieren und der Einführung eines verwandten Begriffes steht kein Hinderniss im Wege. Muss man ja doch zuge- stehen, sofern Wortklauberei überhaupt die Anerkennung des tatsäch- lichen entdeekten Sachverhalts noch erlaubt, dass His in zwei wich- tigen Punkten das Richtige gesehen hat: 1) Dass die Keime für das Blut peripher entstehen, und von dort aus in die axiale Anlage wandern. Sein Verdienst liegt beson- ders darin, dass er die Konsequenzen aus dieser Tatsache gezogen hat, d. h. die Konsequenz einer besondern Anlage der Stützsubstanzen bei den Wirbeltieren. 2) Hat er riehtig beobachtet, dass die Dotterelemente zwischen die Elemente des Randwulstes gelangen. Er hat allerdings diese Er- scheinung vorzugsweise für eine aktive Einwanderung erklärt. Wenn er nun selbst die Konsequenzen nicht mehr urgirt, so fällt damit ein 746 Kollmann, Der Mesoblast u. die Entwicklung d. Gewebe bei Wirbeltieren. Hinderniss, auf dem wie ich überzeugt bin, richtigen Weg der For- schung und der Erkenntniss fortzufahren. Die gesamte Biologie er- kennt es als ein Postulat an, den gesonderten Ursprung der Stütz- substanz aufzudecken und mir sind die vorliegenden Belege wahrlich schwerwiegend genug, um die endgiltige Lösung erreichbar zu finden. Mit meiner Auffassung des Randwulstes wäre ein doppelter Gewinn verbunden, der unmittelbar aus ihr folgte. Das Ei er- schiene wieder als eine Zelle durch das ganze Wirbel- tierreich, eine Annahme, zu der alle Lehren der vergleichenden Forschung hindrängen, eine Lehre, der Gegenbaur schon in den sechziger Jahren das Wort geredet hat, die er und mit ihm Viele unverändert festgehalten haben und festhalten werden. Der Dualis- mus in dem Ei ist für die Zelltheorie wie für die Entwicklungsge- schichte gleich verhängnissvoll. Der zweite Gewinn, der im Gefolge eines Akroblasten!) der Biologie zu teil würde, bestände in einer Niederlage der herrschenden Bindegewebstheorie. Grade die Entwicklung des Mesenchymgewebes bei den Wirbellosen zeigt unverkennbar, dass Grundsubstanz und Zellen unabhängig von einander auftreten (O.und R. Hertwig). Dass das- selbe auch bei Wirbeltieren vorkomme, hat Hensen zuerst gezeigt, und soweit persönliche Erfahrungen mir ein Urteil gestatten, sehe ich nirgends Beweise für die Entstehung der Fibrillen aus Zellen. Weder das Gallertgewebe der Wirbeltiere noch dasjenige der Wirbellosen bietet zwingende Gründe für eine solche Auffassung. Diese Ausführungen befinden sich in erweiterter Form und mit Literaturbelegen versehen unter der Presse. Ich begnüge mich hier, die Konsequenzen angedeutet zu haben, zu welcher die Auflösung des Mesodermbegriffes führt und hebe folgende Punkte hervor: 1) Nach der Bildung des Gastrula-Urmundes bleibt an der Um- beugungsstelle zwischen Ekto- und Entoblast ein Zellenlager, das keinem der beiden Grenzblätter angehört, esist der Akroblast, der Keim für Blutzellen und Stützsubstanz der Wirbeltiere. 2) Dieser Keim entsteht unabhängig und vor jeder An- lage des Mesoblast. 3) Aus dem Akroblast geht eine neue Zellenbrut hervor, Poreuten, wandernde Zellen, welche nachweisbar zunächst Blut und Gefäßen den Ursprung geben. 4) Die Entoblasten übernehmen sofort nach ihrer Entstehung die physiologische Rolle, welche sie schon von den wirbellosen Urahnen her zu spielen berufen sind; besonders der Entoblast des Randwulstes 4) &xgos, was sich am Rande befindet, das Aeußerste. Ich ziehe vor, durch den Ausdruck „Akroblast“ eine topographische Bezeichnung für die Quelle der Stützsubstanz vorzuschlagen, statt schon jetzt den Ausdruck „Me- senchymkeim“.in die Embryologie der Wirbeltiere herüberzunehmen, Will, Bildung des Eies und des Blastoderms bei den viviparen Aphiden. 747 ist sofort nach seiner Entstehung eine incorporirende und verdauende Zellenreihe. 5) Blut, als erster Abkömmling des Akroblasten ist als die erste Stützsubstanz mit flüssiger Interzellularmasse aufzufassen. Eine spätere Gruppe von Stützgewebe sind die weißen Blutkör- perchen, dann folgen die Zellen der Bindesubstanzen samt dem Zwi- schengewebe. Ludwig Will, Zur Bildung des Eies und des Blastoderms bei den viviparen Aphiden. Mit einer lithographirten Tafel. Arbeiten aus dem zool.-zoot. Institut in Würz- burg. Bd. VI, Wiesbaden. Kreidels Verlag. 1883. Separatabdruck 8. 1—42. Alle diejenigen, welche einmal Gelegenheit gehabt haben, selbst Aphiden auf ihren histologischen Bau hin zu untersuchen, oder auch fertige Präparate dieser Tierchen zu besehen, werden darin überein- stimmen, dass das Objekt ein äußerst schwieriges ist, nicht allein der Chitinhüllen wegen, die eine gute Färbung verhindern und der Zerlegung in brauchbare Serien beträchtliche Hindernisse in den Weg legen, sondern vor allem der winzigen Gewebselemente wegen, die nun gar im wachsenden Embryo noch kleiner sind, als im ausgebil- deten Tier. Um so mehr ist es zu bewundern, dass Will in seiner Erstlingsarbeit, einer bei der philosophischen Fakultät zu Würzburg eingereichten Disser- tation mit dem oben angeführten Titel, seine Aufgabe in so vorzüg- licher Weise vollendet hat und zu so interessanten Tatsachen gelangt ist. Kurz gefasst: Es ist dies eine Arbeit, die sich würdig an die vorhergehenden, dem Laboratorium Semper’s entstammenden und in dessen „Arbeiten“ publizirten Untersuchungen anschließt. In einer kurzen historischen Uebersicht gibt Will auf möglichst beschränktem Raum eine referirende Uebersicht über die bis dahin sein Thema betreffenden Abhandlungen und geht nun nach der An- gabe der Untersuchungsmethoden zur Beschreibung seiner Funde über. Ventral und etwas vor dem After mündet der Ovidukt, welcher der Samenblase und der Kittdrüsen im Gegensatz zu den Oviparen entbehrt, ihm sitzen die gekammerten Ovarialschläuche oder Keim- röhren mit besondern Ausführungsgängen auf. Im „Endfach“ finden sich die jungen Eianlagen, von denen meist die untere und größere im begriff ist, sich zum Ei auszubilden. Alle weiter vom Ende ent- fernt liegenden Kammern enthalten für gewöhnlich schon Embryonen, und zwar sind diese um so besser ausgebildet, je näher sie dem Ovi- dukt liegen. Die Wand des ganzen Ovarialschlauches besteht einzig und allein aus einem deutlich einschichtigen Epitel, welches den untern Teil des 748 Will, Bildung des Eies und des Blastoderms bei den viviparen Aphiden.- Endsackes als hohes und schön entwickeltes Zylinderepithel, den obern als Plattenepithel umgibt und an seiner Spitze in den soliden Endfaden übergeht. Dies Ovarialepithel setzt sich direkt auf den Ei- leiter fort, wo es indess noch von einer Muskellage überdeckt ist. Die Beschreibung, welche Will von dem Endsack der entwickel- ten Eiröhren der viviparen Aphiden gibt, weicht nun ziemlich von den Angaben anderer Autoren über das gleiche Gebilde ab. Es be- steht nämlich aus einer innern zentralen, homogenen Protoplasma- masse, die als „Rhachis“ bezeichnet wird, und aus membranlosen, gleichfalls homogenen Zellen, welehe um jene peripherisch gelagert sind, ihr mit einem Stiele aufsitzen und sich gegenseitig keilförmig begrenzen. Diese Zellen enthalten stets einen großen bläschenartigen Kern, mit einem wol entwickelten meist rundlichen Kernkörperchen. Das schon erwähnte hohe Zylinderepithel der untern Abteilung des Endsacks umschließt eine sehr große Zelle, die junge Eizelle, deren Protoplasma von gleicher Beschaffenheit, wie dasjenige der Rhachis ist, und deren Keimbläschen denjenigen der geteilten Zellen durchaus ähnlich sieht. In einem wenig weiter entwickelten Stadium ist der Keimfleck in mehr oder minder zahlreiche Körner zerfallen. „Ebenso wie bei den oviparen Weibehen steht auch hier das junge Ei mit dem zentralen Protoplasma des obern Endsackteils oder der Rhachis durch einen Strang in Verbindung; man kann somit sagen, dass das Ei mit einem ebensolchen nur längern stielförmigen Gebilde oder Verbin- dungsstrang der zentralen Rhachis im Endfach aufsitzt, wie das mit den in letzterm enthaltenen gestielten Zellen der Fall ist.“ Im zweiten Fach liegt dann ein meist schon gefurchtes Ei mit Deutoplasmatröpfehen, die stets so gelagert sind, dass peripherisch eine homogene Plasmaschicht frei bleibt. Diese wurde bis vor kur- zem mit Keimhautblastem, neuerdings aber von Weismann als „Plasmarinde“ bezeichnet. „Auch dieses Ei ist mit dem in der Mitte des Endfaches liegenden Protoplasma durch einen solchen sogenann- ten Dotterstrang (Eistiel oder Verbindungsstrang) in Verbindung. Derselbe zieht sich über die Oberfläche des ersten jungen Eies hin- weg, worauf die Dotterstränge beider neben einander herlaufen und, zwischen die untern gestielten Zellen des Endabschnitts hindurchtretend, sich mit der Rhachis vereinigen.“ Dieser Dotterstrang schwindet erst, wenn das Blastoderm in einzelne scharf geschiedene Zellen zerfallen ist. Alle Eikammern sind durch zentral durchbohrte Epithelwuche- rungen von einander geschieden. Die Endfächer der agamen Aphidenweibcehen wären also gleich gebaut, wie diejenige der Oviparen, indess müssen ihre gestielten Zellen unbedingt „als junge Eianlagen, als primitive Eier aufgefasst werden.“ Untersucht man den Geschlechtsapparat in einem so jungen Sta- dium, dass von der ganzen Eiröhre nur allein das Endfach angelegt will, Bildung des Eies und des Blastoderms bei den viviparen Aphiden. 749 ist, so finden wir es von einem Plattenepithel überzogen, welches eine Plasmamasse umhüllt, in die ohne bestimmte Anordnung Kerne ein- gelagert sind; und das so gebildete Fach hielt man bis dahin für das reife. Ist es in der Entwicklung etwas weiter vorgeschritten, so hat es sich bedeutend vergrößert, und die vorher im Protoplasma zerstreut gelegenen Kerne haben schon eine möglichst peripherische Lage an- genommen. Von den der Rhachis aufsitzenden Eianlagen geht immer die- jenige in den untern Teil des Endfaches über, welche am weitesten nach unten und grade vor dem Ausführungsgange liegt. Je mehr es dann heranwächst und sich zur Blastula umwandelt, um so platter werden durch den größern Druck die zuerst hohen Zylinderepithel- zellen der Wandung. Der Verf. wirft dann zwei Fragen auf, welche sich aus den ge- schilderten Verhältnissen im Endfach ergeben. Sie lauten: „1) Was veranlasst die jungen Eianlagen aus dem Endfach her- auszzutreten und zum jungen Ei zu werden? 2) Warum wachsen immer nur die herausgetretenen Eianlagen, also die jungen Eier, wäbrend die im Endfach zurückbleibenden Ei- anlagen im Vergleich zu ihnen fast gar nicht wachsen?“ Er bringt für beide eine mechanische Erklärung. Dadurch nämlich, dass alle Eianlagen in gleicher Weise an Größe zunehmen, üben sie auf die Wand des Endfaches einen derartig hohen Druck aus, dass diejenige welche in nächster Nähe des Ausführungsganges liegt, (da sie die einzige ist, welche auszuweichen vermag) durch ihn herausgequetscht wird; mit der Rhachis bleibt sie trotzdem mittels eines zähflüssi- gen Protoplasmastieles in Verbindung. „In eben denselben Druck- verhältnissen liegt auch der Grund für das prävalirende Wachstum der aus der Mitte der Eianlagen herausgetretenen Eier.“ Einige Ueber- legung führt nun ungezwungen zu dem Schlusse, dass die Eier sowol durch eigne Assimilation als auch namentlich infolge der Assimila- tion der gestielten Eianlagen sich vergrößern. Aus dem bis dahin Angeführten folgt, dass der histologische Bau der Endfächer bei den vivi- und oviparen Aphiden übereinstimmt, und dass „auch die Ble- mente bei beiden in derselben Weise in bezug auf ihre physiologische Funktion zu deuten sind, wie ich es bei den agamen Weibchen getan habe.“ In dem zweiten Teil der Arbeit wird die Blastodermbildung ab- gehandelt und zum Ausgangspunkt dasjenige Stadium gewählt, in dem das junge Ei nahezu eine Kugelform besitzt und sein Dotter noch eine homogene, höchstens ganz feinkörnige protoplasmatische Substanz darstellt, welehe durch den Eistiel mit der Rhachis in Verbindung steht. Im Zentrum eines solehen Eies liegt das helle kreisrunde Keimbläschen, welches sich direkt in den ersten Furchungskern ver- wandelt. Bald nun treten grobe Deutoplasmatröpfehen im homogenen 750 Schwalbe, Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane. Protoplasma auf, welches teilweise wandständig gelagert ist und ver- schieden gelegene Keimbläschen allseitig umgibt. Beide stehen immer durch ein feines Netzwerk derselben Substanz mit einander in Ver- bindung, dessen Maschen vom Deutoplasma erfüllt werden. Zu glei- cher Zeit zerfällt der Keimfleck in zwei einander gegenüberstehende Körnehenhaufen, welche sich später zu einem Stäbchen zusammen- setzen; dabei geht die Gestalt des Kernes in die Form einer lang- gestreckten matt konturirten Ellipse über, dann folgt Bisquitgestalt und schließlich vollzieht sich die völlige Teilung, an welcher der nächstliegende Protoplasmaballen Anteil nimmt. Die weitere Fur- chung geht sehr schnell vor sich, bis endlich ein Ruhestadium ein- tritt, in welehem die Keimfleckderivate wieder scharfe Umrisse zeigen und das homogene Protoplasma sich ganz nach der Peripherie zurück- gezogen hat; bis dahin sind noch keine Zellgrenzen zwischen den einzelnen Kernen sichtbar. „Seine völlige Ausbildung erlangt das Blastoderm erst im darauffolgenden Stadium, nachdem zwischen den einzelnen Kernen senkrecht zur Oberfläche des Eies Zellgrenzen auf- getreten sind.“ Mit diesen Veränderungen läuft eine Größenzunahme und eine Streekung des ganzen Eies parallel. Eine Eigentümlichkeit des Blastoderms muss noch besonders hervorgehoben werden, die nämlich, dass es nicht vollständig das Deutoplasma umschließt, son- dern am untern Pol eine Stelle offen lässt, so dass es direkt an die Oberfläche des Eies herantritt und wahrscheinlich den Nährstoffen leicht Zutritt gewährt, vielleicht auch die Bildung der innern Keim- zellen indirekt veranlasst. Den wirklich schönen Aufsatz beschließt eine kritische Besprechung der zum letzten Teil in Beziehung stehenden Arbeiten von Weisman, Leuckart, Metschnikow und Brass. C. B. G. Schwalbe, Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane. Zugleich als dritte Abteilung des zweiten Bandes von Hoffmann’s Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Zweite Auflage. Erlangen, E. Besold. — Erste Lieferung. 1883. Nach längerer Pause erscheint wieder eine neue Lieferung der zweiten Auflage des zweiten Bandes der Hoffmann’schen Uebersetzung von Quain’s Anatomie. Ueber die vorhergehenden, von Schwalbe nach Hoffmann’s frühzeitigem Tode übernommenen Lieferungen wurde bereits in diesem Centralblatte (1881. I. S. 56 u. 429) referirt. Selbstverständlich liegt wiederum ein vollständig neugeschriebenes Werk vor; im Vergleich zur ersten Auflage hat die Seitenzahl von 100 auf 215, die Anzahl der Holzschnitte von 70 auf 99 sich vermehrt, außerdem sind viele ältere Figuren durch neue ersetzt. Da über die Schwalbe, Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane, ray Art der Darstellung bereits früher das Nötigste gesagt worden ist, so beschränkt sich Ref. darauf, die unparteiische, jedem womöglich gerecht werdende und doch vollkommene kritisch nach eigenen Unter- suchungen durchgearbeitete Prüfung hervorzuheben. Die vorliegende Lieferung umfasst die Anatomie und Histologie der Tastorgane und Nervenendigungen in der Haut, ferner die Ge- schmacksorgane, das Geruchsorgan und den Augapfel. Entwicklungs- geschichtliche Einleitungen und viele eingestreute Bemerkungen zeigen, dass die Bearbeitung der in den modernen Handbüchern zur Herr- schaft gelangten genetischen Methode in der Anatomie des Menschen folgt (vergl. dagegen die Bemerkungen von H. v. Meyer, dieses Centralbl. III, S. 353). Mit einer Kritik der Methoden, welche zur Darstellung der Lymph- bahnen des Augapfels dienen, schließt diese Lieferung und letzterer Abschnitt bleibt der folgenden vorbehalten. Was die Tastorgane betrifft, so ist die Einteilung der Terminal- körperchen folgende: 1) Vater’sche Körperchen. 2) Endkolben; a) ein- fache Endkolben (zylindrische Endkolben und Kolbenkörperchen); b) zusammengesetzte Endkolben (kuglige Endkolben und Genitaluer- venkörperchen). 3) Tastkörperchen. Ref. bedauert sehr, dass es aus Mangel an Raum hier unmöglich ist, auf die feinere Anatomie der Sinnesorgane des Menschen näher einzugehen, für welche das Interesse so allgemein und niebt nur unter den Aerzten verbreitet ist, und über welche die zahlreichen halbpopulären Darstellungen so häufig unklare Vorstellungen zu erwecken geeignet sind. Ebenso kann hier auf die Histologie des Geruchsorgans und Ge- schmacksorgans nicht eingegangen werden. Als Funktion der knö- chernen Nebenhöhlen der Nase will Verf. nicht die Auspumpung der- selben während der Inspiration und die dadurch veranlassten Luft- strömungen innerhalb des Geruchsorgans betrachtet wissen, sondern, konform der ältern Anschauung, die dadurch bewirkte Entlastung des Kopfskelets. Beträgt dieselbe auch nur 1 °/, vom Gewicht des knö- chernen Kopfes, so könne dies doch bei der sehr genauen Aequili- brirung des letztern ins Gewicht fallen. Was das Auge anlangt, so unterscheidet der Verf. in der Retina nur sechs Schichten: Nervenfaserschicht, Ganglienzellenschicht, innere retikuläre Schicht, Körnerschieht, äußere retikuläre Schicht und die Epithelschieht oder Schicht der Sehzellen. Die Membrana limitans interna wird als Margo limitans bezeichnet, weil die Membran kon- tinuirlich mit den radialen Stützfasern zusammenhängt. Ref. hat ge- gen die auch von Gegenbaur bevorzugte Bezeichnungsweise jener beiden retikulirten Schichten einzuwenden, dass zwar die innere Schicht retikulirt und nicht granulirt erscheint, dass aber die äußere ihrem Bau nach von der innern gänzlich verschieden sich zeigt. Denn sie besteht aus sternförmigen Zellen, nicht aus einem Fasernetz, und 752 Wiedersheim, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wiraeltiere. o gleichwol wird durch jene Bezeichnungsweise nur zu leicht die irr- tümliche Vorstellung hervorgerufen werden, beide Schichten wären ihrem Wesen nach wie dem Namen zufolge identisch. Schwalbe scheint allerdings dieser Ansicht zu sein. Wiederholt muss hier werden, dass durch das hier beispielsweise ausgesprochene Bedenken, dem einige ähnliche hinzugefügt werden könnten, der Wert dieses Lehrbuchs der Anatomie der Sinnesorgane nicht herabgesetzt wird. Im Gegenteil glaubt Ref., dass hoffentlich bald eine neue Auflage erforderlich werden dürfte. W. Krause (Göttingen). Wiedersheim Robert, Prof. Dr., Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere auf Grundlage der Entwicklungs- geschichte. Mit 607 Holzschnitten XII und Seite 905. Jena. Verlag von Gustav Fischer. 1883. 8. Wenn man die große Mehrzahl der unter dem Titel „Lehr- oder Handbuch der vergleichenden Anatomie“ erschienenen Bücher „ver- gleichend“ durchmustert, wird man mit wenigen Ausnahmen nur selten den Text in Uebereinstimmung mit dem Titel bearbeitet vorfinden. Die einfache Aneinanderreihung deskriptiver, zootomischer Details — und bezögen sich dieselben auch auf sämtliche Klassen des Tier- reichs — ist eben noch keine vergleichend — anatomische Behand- Inng und es ist hierbei völlig gleichgiltig, ob der Anordnung des Stoffs das zoologische System oder die Gruppierung nach einzelnen Organsystemen zu grunde gelegt wurde. Dass dessungeachtet ein neues Lehrbuch der rein beschreibenden Tieranatomie speziell für Wirbeltiere keine überflüssige Vermehrung der Literatur bilden würde, liegt um so mehr auf der Hand, als das in dieser Hinsicht unüber- troffene mustergiltige Buch von Stannius noch immer keine Vervoll- ständigung erfahren hat — keine erfahren konnte! Wiedersheim hat sich eine wesentlich andere Aufgabe ge- stellt, als seine Vorgänger; er wollte zunächst ein Lehrbuch für Me- diziner geschrieben haben und diesen den „unzertrennlichen Zusammen- hang“ der menschlichen mit der vergleichenden Anatomie und die Bedeutung der entwicklungsgeschichtlichen Behandlung anatomischen Materials zum notwendigen Bewusstsein bringen; ohne dabei allzu sroße Detailkenntnisse bei seinem Leserkreis vorauszusetzen, behan- delt er in angenehm lesbarer Form den nach Organsystemen geord- neten Stoff vom Standpunkte der „modernen“ Entwicklungsgeschichte ; „er beschreibt, vergleicht und leitet die verwandtschaftlichen Bezieh- ungen ab,“ und dass hierbei auch theoretischen Spekulationen Raum ge- geben werden muß, liegt auf der Hand. Wiedersheim, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. 755 Ein nieht geringer Vorzug des Buches, den wir gleich hier be- tonen wollen, liegt in den mustergiltigen teils schematisirten , teils naturgetreuen Abbildungen, die in reicher Zahl den Text erläutern. Das Buch zerfällt in einen allgemeinen und einen speziellen Teil. Ersterer, dem Umfange nach etwas sehr bescheiden (Seite 3—14), gibt in Umrissen eine Darstellung der ersten Vorgänge bei der Embryonal- entwicklung (Gastrulation ete.). Rücksichtlich des Problems der Meso- dermentwicklung scheint sich Wiedersheim den Ansichten Balfour’s und der Brüder Hertwig anzuschließen, denen zufolge das Mesoderm einer Ein- bezw. Ausstülpung des Urdarms i. e. das Entodermepithels seine Entstehung verdankt. (Seite 8.) Den Schluss dieses Kapitels bilden außer kurzen Bemerkungen über Körpergliederung, „Axenverhält- nisse“, eine systematische Uebersieht der Wirbeltierklassen und eine graphische Darstellung der paläontologischen Entwicklung der Wirbel- tiere nach Credner. Der spezielle Teil beginnt mit dem „Integumente“, dessen wich- tigste Bildungen und Veränderungen bei den einzelnen Wirbeltier- klassen, bisweilen mit sehr reichlichem, auch physiologischem Detail geschildert werden. Da Verfasser das „Hautskelet“ in einem beson- dern Kapitel erörtert, finden die e. p. hier schon zu erwähnenden be- züglichen Vorkommnisse, wie begreiflich, eine nur kurze Behandlung. Außer sämtlichen Hautdrüsen (einschl. Milchdrüsen) sind im diesem Kapitel auch die von Leydig näher studirten „Nebenaugen“ einiger Fische (COhauliodus ete.) kurz beschrieben; Hautsinnesorgane und Nerven werden in einem späteren Kapitel berücksichtigt. — Das „Skelet“ (Seite 36—225) wird in 2 Abschnitten „Hauptskelet“ und „Inneres Skelet“ behandelt. Ausgehend von den bekannten 0. Hertwig’schen Untersuchungen wird die phylogenetische Bedeutung des Exoskeletes von den Selachiern bis zu den Säugern rasch skizzirt, C. R. Hoffmann’s Untersuchungsresultate über die Bildung des Carapax und Plastrous der Schildkröten adoptirt, das Dasypoden- Hautskelet als eine (von jenen der Reptilien) unabhängige i. e. selb- ständige Bildung hingestellt. Die Betrachtung des Endoskeletes beginnt mit der „Wirbelsäule“, deren Entwicklung und Ausbildnng bei den einzelnen Ordnungen, wobei die Dipnoer, sonst als Klasse gesondert, wohl mit Recht zugleich mit Ganoiden und Selachiern abgehandelt werden. Rücksichtlich der morphologischen Auffassung der Rippen schließt sich Verfasser an C. Hasse und E. Fik an. Die Rippen der Ganoi- den und wahrscheinlich auch der Dipnoer sind aber Differenzirungen unterer Bogen; anders verhält es sich mit Selachiern und Teleostiern, bei denen „die untern Bogen selbst Rippen tragen können“. Hier wie bei den höhern Vertebraten sind die Hämapophysen Differenzirungen eigner Art, die genetisch mit den Rippen in keinem Zusammen- hange stehen. — Im Abschnitte Sternum und Episternum wird das 48 754 Wiedersheim, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. sogenannte „Pseudosternum“ (bei Clupa, Alosa ete.) übergangen. — Sehr instruktiv wird die Entwieklung des Schädels und die von Gegenbaur, Huxley und Pareker begründete moderne Wirbel- theorie des Schädels erörtert. Hieran schließt sich, in systematischer Folge, eine gradezu musterhaft klare Beschreibung des Kopfskeletes der einzelnen Ordnungen — es ist nur zu bedauern, dass auch hier wieder die den Mediziner doch vorerst interressirenden Säuger auf- fallend kurz behandelt erscheinen. — Wünschenswert wäre es, den stets zu Verwechslungen Anlass gebenden Namen „Columella')“ bei den Cionocraniern ganz fallen zu lassen und durch einen entsprechen- deren — vorgeschlagen sind wahrhaftig genug: „os eolumellare*, „08 suspensorium“ ete. — zu ersetzen. Bezüglich der Theorie der Extremitäten-Entwicklung schließt sieh Verfasser, ungeachtetet seiner eignen, die Gegenbaur’sche Hypo- these stlitzenden Untersuchungen, andie „Thacher-Mivart-Balfour’ sche Auffassungen“, der zufolge „die Gliedmaßen als Ueberbleibsel einer früher ununterbrochenen, durch metamer angeordnete Knorpel- stäbe gestützten lateralen Flosse zu betrachten sind. — Sehr abgerun- det werden Wiedersheim’s osteologische Erörterungen durch den Umstand, dass er nach Möglichkeit auch seinen Standpunkt als Palä- ontologe wahrt (Abschnitt Dinosaurier und Vögel ete.). Das 3. Hauptkapitel behandelt die Myologie: Allgemeines, Haut- muskulatur, Skeletmuskulatur (letzere bis zu den Reptilien auch durch Abbildungen erläutert) und das Diaphragma (exelusive des sogenannten „Fischdiaphragmas“). Hieran schließen sich naturgemäß als „umge- wandelte Muskelfasern“ die elektrischen Organe, deren Bau ein- gehender besprochen wird. Das 5. Kapitel behandelt das Nervensystem: es gibt zu Beginn eine entwicklungsgeschichtliche Einteilung über das Gehirn und eine kurze Besprechung aer Hirnhäute; hier wäre vielleicht der Platz ge- wesen, auf die bei gewissen Säugern nicht selten vorkommenden Ver- knöcherungen der Dura (Tentorium ete.) hinzuweisen; hierauf wird das Gehirn von den Fischen bis zu den Säugern eingehend erörtert, dann der Hirnfurchung und schließlich auch der auf grund der „Stein- kerne“ von Marsh mitgeteilten Gehirnstruktur eocäner Säuger Nord- amerikas gedacht. — Auf die Untersuchungen des letzgenannten Forschers hat Verfasser noch Gelegenheit zurückzukommen bei der Besprechung der Lendenkreuzbeinintumeszenz des Rückenmarkes, die er auch von Stegosaurus ungalatus (nach Marsh) abbildet. — Sehr instruktiv sind die unter Berücksichtigung der wichtigsten typischen Formen mitgeteilten Verhältnisse des peripheren Nervensystems (Plexusbildungen, Schemen der Sehnervenkreuzung ete.). Anhangsweise 1) für den vom Parietale zum Pterygoid ziehenden Säulenknochen. Wiedersheim, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. 755 wird zum Schlusse dieses Kapitels die Morphologie der Nebennieren erörtert. Die Appendikularorgane des Nervensystems: — die „Sinnesorgane“ — bilden den Sehluss des (ursprünglich) ersten Theiles des Buches (Seite 353—476). Zuvörderst wird der „Hautsinn“ (unter wesentlicher Zugrundelegung der ausgezeichneten Merkel’schen Arbeit „Ueber die Endigungen der sensibeln Nerven in der Haut der Wirbeltiere“) behan- delt mit Ausnahme der höhern Vertebratenformen, die auch in „il- lustrativer Hinsicht“ etwas sehr stiefmütterlich wegkommen., werden namentlich die an Fischen und Amphibien gewonnenen einschlägigen Untersuchungsresultate (von Leydig, Malbrane, F.E. Schulze ete.) eingehend gewürdigt. Speziell zu bemerken wäre hier, dass den Nervenhügeln nächstverwandte Sinnesorgane für Hirudineen und Lum- brieiden schon bekannt waren, ehe die Capitelliden diesbezüglich näher untersucht wurden. Einer sehr detaillirten Schilderung erfreut sich das „Geruchsorgan“, dessen primitive Anlage bei niedern Evertebraten und dessen sucees- sive Entwicklung bis zu den höhern Formen im einleitenden Theile ebenso Berücksichtigung finden, wie M. Marshall’s Hypothese von der Riechgrube als primitiver Kiemenöffnung. Als Anhang wird das Jakobson’sche Organ erläutert. Aehnlich wie beim Geruchsorgane werden auch beim Seh- und Gehörorgane vorerst die bezüglichen Verhältnisse der wirbellosen Tiere und die entwicklungsgeschichtlichen Details voraus besprochen und letzern dann die anatomischen Beschreibungen (unter teilweiser Mitberüieksichtigung physiologischer Thatsachen) in systematischer Folge der einzelnen Klassen angeschlossen. Vielen Beifall werden die sehr instruktiven schematirten Bilder zur Orientirung über den gröbern Bau einzelner Sehorgane namentlich unter Studirenden ernten. Die Ernährungsorgane (Seite 477—612) eröffnen die Reihe der im (ursprünglich, zweiten Teile des Lehrbuches abgehandelten vege- tativen Organ-Systeme. Von der primitiven Darmanlage der Gastrula ausgehend entwickelt Verfasser, anknüpfend an seine embryologische Einleitung zum ersten Teile, die Entstehung des defmitiven Darm- rohres und dessen Schichten, weiter des Peritoneums ete. ete. — Sehr instruktiv ist eine schematische Darstellung der Verhältnisse des Munddarmes, — der Entstehung der Kreuzungsstelle des Luft- und Speiseweges, des Gaumensegels u. s. w. Hieran schließt sich eine kurze anatomische Allgemein-Uebersicht über das Darmrohr und seine Anhangsorgane. — Der spezielle Teil gliedert sich zunächst in die Kapitel: „Vorderdarm“ (s. 1. et. s. str.), „Mitteldarm“ und „Enddarm.“ Bei dem reichen Detail, das Verf. sonst in so manchen Kapiteln bietet, ist die etwas knapp bemessene Erörterung des Mundhöhleneingangs, der Lippenbildungen, Backentaschen ete. (deren nur „innere“ er- wähnt werden) fast etwas störend. Verf. zerfällt die Organe der Mund- 48° 756 Wiedersheim, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. . höhle in „drei Abteilungen“: „Zähne“, „Drüsen“ und „Zunge“. Erstere berücksichtigt: Zahnentwicklung, Zahnbildung, Zahnwechsel , Eintei- lung der Zähne, dann in systematischer Folge das Gebiss der Fische bis hinauf zu den Säugern einschließlich wichtiger fossiler Formen. Alle wesentlichen, in der deskriptiven Zoologie verwerteten Er- scheinungen am Gebisse in betreff: Form, Bau, Stellung!) bezw. Be- festigung der Zähne finden eingehende Würdigung. — Der Bearbeitung der Mundhöhlendrüsen legt Vf. die P. Reichel’ sche Arbeit „Beitrag zur Morphologie der Mundhöhlendrüsen der Wir- beltiere“ im wesentlichen zu grunde. — Anschließend hieran werden die „in gewissem Sinne als Sekretionsorgane“ aufzufassenden Ton- sillen und die Zunge, sowie Thyreoidea (deren Reziehung zum Endosty]), Thymus und Winterschlafdrüsen, teilweise mit recht instruktiven Bil- dern geschildert. — Recht kurz kam die Säugerzunge weg; das Maier’ sche Organ wird z. B. gar nicht erwähnt etc. Die Abschnitte „Vorderdarm“ (s. st) — als Abgrenzung gegen den Mitteldarm wird, wie jetzt wohl allgemein, die Einmündungsstelle des Duetus hepato-enterieus festgehalten — „Mittel- und Enddarm“ bieten gute Gelegenheit, die hier auftretenden Manmnigfaltigkeiten, teil- weise auch durch topographische Ansichten illustrirt, zu besprechen. Im Kapitel „Darmhistologie“ findet Verf. Veranlassung, im Anschlusse an eigne Studien die aktive Beteiligung der Darmepithelzelle an der Resorption „als eine über sämtliche Wirbeltierkreise sieh er- streekende Einrichtung“ hinzustellen. — Vermutungsweise wird ähn- liches für die Iymphoiden Zellen aus den Darmfollikeln (chemischer oder aktiv mechanischer Einfluss auf die Ingesta) in Anspruch ge- nommen. „Leber“, „Pankreas“ und eine vergleichende Zusammenfas- sung beschließen den Abschnitt über den Verdauungsapparat. Die Atmungsorgane (Seite 612—687) zerfallen in die Kapitel „Kiemen,“ „Schwimmblase und Lungen im allgemeinen,“ „Luftwege,“ „Lungen“ (s. st.) und „Luftsäcke der Vögel.“ — Aeby’s Untersu- chungen über den „Bronehialbaum“ der Säugetiere und des Menschen,“ sowie Strassers Arbeit über „die Luftsäcke der Vögel,“ welche letztere „die Fehler und falschen Auffassungen anderer Autoren“ „be- richtigt“ und „ganz neue Gesichtspunkte von weiter Perspektive“ eröffnet, werden den bezügliehen Abschnitten großenteils zu grunde gelegt. — „Cölom“ und ‘„Pori abdominales“ werden zu Ende dieses Abschnittes über Respirationsorgane behandelt. Sehr gelungen erscheinen die umfangreichen Kapitel über Kreis- laufsorgane (Seite 687—796) und die „Organe des Harn- und Ge- schlechtssystems“ (746—842). Reiches Detail mit vorzüglichen, klaren und zweckmäßig auch schematisirten Abbildungen stempeln diese 4) Etwas ungewöhnlich ist die Anwendung der Bezeichnung „Reißzahn“ suf den „dens caninus.* Manassein, Ueber die Flüssigkeitsaufnahme u. Abgabe im Muskelgewebe. 757 Abschnitte (mit jenen über das Skelet) zu den bestbearbeiteten des ganzen Werkes. An eine zusammenfassende Darstellung der wichtig- sten Momente in der Entwicklung des Herzens und der Gefäße schließt sich eine Schilderung des Fötalkreislaufes unter eingehender Würdigung auch physiologischer Tatsachen (nach Hasse) und eine kurze „Histologie des Gefäßsystems.“ In systematischer Folge der einzelnen Klassen werden „Herz“ und „Aterien“ bis zu den Säugern!) (mit Ausnahme dieser alle übrigen Vertebraten ausführlich) geschil- dert; nun folgt das schon (bei der „Embryonalanlage“) behandelte Venensystem und eine Notiz über „Wundernetze,“ deren physiologische Bedeutung denn doch, über eine einfache „Verlangsamung des Blut- stromes“ hinausgehend, eingehender hätte gewürdigt werden können. Hieran reiht sich eine Mittheilung über das „Lympfgefäßsystem“ und eine Uebersicht über das „Gefäßsystem.“ Im Schlusskapitel (Urogenitalapparat) widmet Verf. nach Erledi- sung der entwieklungsgeschichtlichen Einteilung auch der Frage nach der phylogenetischen Entwicklung der 2 und g Genitalprodukte einige Aufmerksamkeit. Die „Urkeimzellen“ (Weismann), ursprünglich (bei Hydromedusen) rein ektodermale Produkte, wandern „vor ihrer Differenzirung in Sexualzellen“ in das Entoderm ein. Die Abstam- mung erscheint daher verwischt. „Auch der scheinbar mesodermalen Entstehung“ der Geschlechtsprodukte der Vertebraten mag eine solche Verschiebung „bis in die allerfrüheste embryonale Zeit zurück“ zu srunde liegen?). Der Spezialbeschreibung der Harnorgane sind die Seiten 762—-789, jener der Geschlechts- und Kopulationsorgane die Seiten 789—842 gewidmet. Mojsisovies (Graz). Ueber die Flüssigkeitsaufnahme und Abgabe im Muskelgewebe unter dem Einfluss von verschiedenen Bedingungen. Von stud. med. Michail Manassein. (Aus dem physiologischen Laboratorium des Herrn Prof. J. Tarchanoff.) Vorliegende kurze Mitteilung soll in diesem höchst interessanten und wenig erforsehten Gebiet (Arnold, Ranke) einen Beitrag zur nähern Erläuterung desselben liefern. Im ganzen habe ich 500 Ver- suche an Froschmuskeln angestellt. Zur leichtren Uebersicht der erhaitenen Resultate werde ich dieselben bei jedesmaliger kurzer Beschreibung der einzelnen Versuchsreihen erwähnen. Zur ersten Serie wählte ich lebendes und totes Muskelgewebe, verglichen hin- 1) Zu Seite 731 sei bemerkt, dass auch die Proboscidier einetiefe Crena am Apex cordis besitzen. 2) Cfr. auch Seite 838. 758 Manassein. Ueber die Flüssigkeitsaufnahme u. Abgabe im Muskelgewebe. sichtlich ihrer Flüssigkeitsaufnahme und Abgabe Um den Muskel seiner Lebensfähigkeit zu berauben wurde er: a) in Wasser von 45°C. eingetaucht bis zur Erscheinung der Wärmestarre, b) wurde die ent- sprechende Arterie unterbunden, c) wurde das Herz vorher ausge- schnitten. Zu den Versuchen wurde hauptsächlich der M. gastrocne- mius von Fröschen verwandt und in seltenen Fällen der M. sartorius derselben. Die Versuchsanordnung bestand in folgendem: lebender (normaler) und toter Muskel wurden gleichzeitig ausgeschnitten, sehr vorsichtig mit feinem trocknem Leimpapier getrocknet, hierauf in einem Uhr- glasapparat, dessen Gewicht vorher genau bestimmt war, gewogen und endlich, um die Flüssigkeitsaufnahme zu bestimmen, in normale Kochsalzlösung getaucht. Nach Verlauf einer normirten Zeit, die, selbstverständlich bei beiden Muskeln die gleiche war, wurden die selben aus der Lösung entfernt, behutsam durch die Berührung mit Leimpapier getrocknet und hierauf wiederum gewogen. Auf diese Weise wurde der Grad der Imbibition beider Muskeln für die ver- laufene Zeit bestimmt. Nach dem Mittel von 22 Versuchen gewann der tote Muskel an Gewicht im Vergleich mit lebendem mehr um 3,5°/,. Nach Erlangung dieses Resultats übereinstimmend mit dem- jenigen Arnold’s hielt ich es für möglieh, zur Untersuchung des Pro- zentverhältnisses über die Abgabe der Flüssigkeit jenes und dieses Muskelgewebes zu schreiten. Das angewandte Verfahren bestand in folgendem: nach der Trennung der abpräparirten Muskeln, wurden dieselben durch Leimpapier getrocknet, in einem Uhrglasapparat ge- wogen, hierauf auf bestimmte Zeit in die Wärmekammer gebracht und nach Verlauf einer beliebigen Zeit herausgenommen und schließlich sewogen. Auch in diesem Falle war das Resultat, so zu sagen, voll- kommen analog mit dem vorhergeheuden. Es stellte sich nämlich heraus, dass das tote Muskelgewebe im Mittel von 12 Versuchen um 4,1°/, mehr abgab, als das lebende. Als einigermaßen interessantes Faktum, nebenbei gesagt, erwies es sich, dass schon in folge der Wärmestarre das Gewicht des betreffenden Muskels sich anscheinend vergrößerte. Wenigstens müßte man zu diesem Schlusse gelangen in anbetracht dessen, dass aus der Zahl aller hierauf bezüglichen Versuche, die mit peinlichster Genauigkeit angestellt wurden , 70,5%), dies Resultat ergaben. Die folgende Serie der Versuche bestand darin, dass ich einen ruhenden Muskel neben einem arbeitenden nahm, d. h., während der erstere ganz zum Ruhezustand gebracht ward, der andere mittels des Induktionsstromes eines du-Bois-Reymond’'schen Schlittenapparats in Zuekungen versetzt oder durch ein gewisses Ge- wicht belastet wurde. Dabei erwies sich hier eine Differenz zwischen einem Muskel, welcher, so zu sagen, normale Arbeit verrichtete und 1) Die physiol. Anstalt der Universität Heidelberg 1858. Manassein, Ueber die Flüssigkeitsaufnahme u. Abgabe im Muskelgewebe. 759 einem, der durch den Tetanus oder ziemlich starke Belastung bis zur Erschlaffung gebracht wurde. Das Ergebniss war im Mittel von 9 Versuchen, dass der normal arbeitende Muskel im Vergleich mit einem im Ruhezustand sich befindendem denselben Frosches um 2,6°/, weniger aufnahm und um 4,2°/, weniger abgab. Dagegen ergab es sich im Mittel von 21 Versuchen, dass der bis zur Erschlaffung auf die eine oder die andere Weise gebrachte Muskel um 2,6%), mehr aufnahm und um 1,6%, mehr abgab, als der ruhende. Zu dieser Kategorie von Versuchen muss man auch diejenigen Versuche an Fröschen rechnen, bei welchen vor dem Versuch der entsprechende N. ischladieus durch- schnitten war. Als Mittel von 9 Versuchen ergab sich in diesem Falle, dass beim Frosch mit durehsehnittenem N. ischiadieus der M. gastroenemius um 1,9°/, mehr aufnahm als derjenige, bei welchem die Innervation im normalen Zustande gelassen worden war. Was die Abgabe anbetrifft, so blieb das Resultat das nämliche, d. h. die Abgabe ging energischer von statten bei denjenigen Muskeln, die vom zentralen Nervensystem isolirt waren. In der dritten Serie meiner Versuche verglich ich normales Muskelgewebe mit dem eines Frosches, welchem eine bestimmte Menge von faulender Flüssigkeit eingespritzt worden war. Zu positiven Resultaten gelangte ich hierbei leider nicht, weil die Anwendung von derartigen Jaucheeinspritzungen an Fröschen mit fast unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden war. Bei Fort- setzung meiner Arbeit an Warmblütern werde ich mich bemühen, die eben berührte Frage einer eingehendern Untersuchung zu unterwerfen. In der vierten Serie meiner Versuche wandte ich eine wässerige Chininlösung (Chin. mur.) als Versuchsmittel an und zwar als das- Jenige Mittel, welches nach Herrmann’s Angabe einen Zustand im Muskelgewebe hervorruft, weleher dem Zustand der Wärmestarre sehr ähnlich ist. Die Resultate waren in der Tat ganz analog, indem das Muskelgewebe eines chinisirten Frosches im Mittel von 15 Versuchen um 6°/, mehr aufnahm und um 3,2°/, mehr abgab. Es versteht sich von selbst, dass den zur Kontrole genommenen normalen Fröschen eine gleiche Quantität von reinem Wasser eingespritzt wurde. Im Anschluss an diese Versuche habe ich auch den Einfluss von Natrium salieylieum auf das Muskelgewebe geprüft. Im Mittel von 11 Versuchen ergab es sich, dass beim Einspritzen von Natrium salieylieum bei dem einen und der gleichen Quantität von reinem Wasser bei dem andern Frosch der Grad der Imbibition im erstern Falle um 7,5%), größer war, die Abgabe dagegen lieferte keine positiven Resultate. Beim Ver- gleich der wässerigen Lösung von Natrium salieylieum mit Glauber- salz- und Kochsalzlösung derselben Stärke erwies es sich, dass die- selbe die Mitte zwischen beiden hält, indem der Imbibitionsprozess unter dem Einfluss desselben schneller von sich geht als beim Koch- salz und langsamer als beim Glaubersalz, was wol mehr für sein hohes endosmotisches Aequivalent spricht, als für eine spezifische 760 Peyrani, Einwirkung des Physostigmins auf den Blutdruck. Wirkung auf das Muskelgewebe. Die letzte (V.) Serie meiner Ver- suche wurde an hungernden Tieren bewerkstelligt. Der Unterschied zwischen einem normalen und einem hungernden Frosch war, selbst- redend, desto evidenter, je länger der letztere hungerte. Es stellte sich heraus, dass das Muskelgewebe eines hungernden Frosches viel mehr imbibirte im Vergleich mit dem normalen. Besonders klar war dies Resultat in den Versuchen, wo die Mnskeln in Serum von Hühner- blut gelegt wurden. Es erwies sich im Mittel von 5 Versuchen, dass ein normaler Muskel um 4,5°/, weniger imbibirte. Was endlich die Abgabe anbetrifft, so geht, abgesehen davon, dass einige Versuche widersprechend waren, doch aus der Mehrzahl der Versuche hervor, dass das Muskelgewebe eines hungernden Tieres mehr abgibt, folg- lich ist es in beiden Hinsichten dem toten Muskelgewebe am ähn- lichsten. Einwirkung des Physostigmins (Eserins) auf den Blutdruck. Von Cajo Peyrani (Parma).') Sowol in bezug auf die Experimentalphysiologie als auch hin- sichtlich der Deutung pathologischer Zustände ist es zweifelsohne hoch interessant, diejenigen Wirkungen eingehend zu studiren, welche giftige und heilsam wirkende Substanzen auf den tierischen Or- ganismus hervorrufen. Zum Gegenstand meiner Studien habe ich das Physostigmin (Eserin) gewählt, eine Substanz, von der man kaum mehr weiß, als dass sie in kleiner Menge auf das Auge gebracht Pupillenkontraktion hervorruft, und dies ist äußerst wenig, zumal wenn man bedenkt, dass bereits 1862 der wirksame Bestandteil der Pflanze (Physostigma venenosa, aus der Ordnung der Leguminosen, Familie der Papilionaceen, Gattung Eufaseolus) von Fraser experi- mentell untersucht wurde, weleher die Resultate seiner Studien in einer Edinburger Dissertation mitteilte. Wie das Alkaloid dieser Pflanze, das Eserin, auf das Herz und die Blutzirkulation im allgemeinen wirkt, ist mit Ausnahme des we- nigen, was darüber Wundt, Marey, Beaunis und Kuss mitteilen, bis jetzt noch nicht zum Gegenstand eingehender Detailforschungen gemacht worden. Deswegen habe ich mich entschlossen die dies- bezügliche Lücke möglichst auszufüllen. Die Experimentalunter- suchungen sind während der Zeit vom Juli 1882 bis September 1883 1) Die nachfolgende Abhandlung passt eigentlich, ihrem Inhalt nach, nicht in den Rahmen unsres Blattes. Wenn wir ihr dennoch Aufnahme gewährt haben, so geschah dies aus Rücksicht auf ihre Herkunft, da insbesondre ita- lienische Arbeiten bei uns sonst wenig Verbreitung finden. D. Red. Peyrani, Einwirkung des Physostigmins auf den Blutdruck, 761 an 24 Kaninchen und 2 Hunden angestellt worden. Ueber das Ge- wicht jedes Tieres, über den Grad seiner Lebhaftigkeit, über die Zeit, welche zwischen der letzten Mahlzeit und dem Beginn der Ex- perimente und über die Quantität und Qualität der verzehrten Nahrungsmittel sind genaue Protokolle geführt worden. Von den ausgsführten 26 Experimenten beschreibe ich hier nur die folgenden, da sie den Einfluss des Physostigmins (Eserins) auf den arteriellen Druck sehr gut erläutern und deshalb als maßgebend für seine Wirkungen betrachtet werden können. I. Ein männliches Kaninchen, ungefähr 21 Monate alt, wohl- genährt und lebhaft in seinen Bewegungen, 2,2 kg schwer und seit sechs Stunden nüchtern, wurde im Czermak’schen Apparat befestigt. Bei diesem wie bei allen folgenden Untersuchungen verzichtete ich aus guten Gründen auf den Gebrauch von Kurare und anästhesiren- den Mitteln, da ich glaube, dass sie zum großen Teil die Resultate verschleiern oder gar ganz verbergen; einzig und allein in solchen Fällen, wo man ganz unumgänglich ihrer bedarf, brachte ich sie zur Anwendung. Der Puls dieses Kaninchens schlug unmittelbar nach der Einspannung in den Apparat 102mal in der Minute, die Atmung erfolgte 29mal und die Rektaltemperatur betrug 38,1°. Diese Daten wurden: zuvörderst notirt; dann ward die linke Carotis zur Hälfte quer durchschnitten, nachdem zwei kleine Arterienquetscher an das zentrale und das peripherische Ende der Arterie angelegt waren. In den Schnitt wurde das Schreibemanometer von Marey (Nr. 12802 aus der Fabrik von Breguet) eingeführt, mit dessen Hilfe wir den Blutdruck maßen. Derselbe war gleich 76 mm Quecksilberdruck. Dann fügten wir ein Sphygmoskop in die Arteria femoralis, deren innerer Druck demjenigen einer 72 mm hohen Quecksilbersäule gleich- kam, und nun endlich, nachdem alle diese Daten notirt worden waren, injizirten wir 2 mg reines Physostigmin (Eserin) aus der Fabrik von Merck unter die Haut des Abdomens. Dann ließen wir ruhig das Kaninchen in dem Üzermack’schen Apparat und entfernten uns nicht aus dem Öperationszimmer, damit unsere Zurückkunft das Tier nicht aufrege. Fünfzehn Minuten nach der Injektion verzeichneten wir die Zahl der Herzschläge; es waren 93. Diese Verminderung der Pulszahl ging Hand in Hand mit einer Ver- längerung der arteriellen Diastole, welehe unter sich im Verhältniss von 2 : 3 stand; oder mit andern Worten: unter der Wirkung des Physostigmins (Eserins) hatte die Dauer der arteriellen Pulsation zugenommen. Die Respiration fand 35mal in der Minute statt, die Temperatur, im Recetum gemessen, betrug 38,7%, der Quecksilber- druck in der Carotis 68 mm und in der Arteria femoralis 66 mm. Bei demselben Versuchstier beobachteten wir ferner, dass nach A 7162 Peyrani, Einwirkung des Physostigmins auf den Blutdruck. 30 Min. der Puls 90 mal schlug, 38 Atembeweg. stattfanden, die Temp. 39° 60 ” ” ” 82 ” ” 42 ” ” ” ” 39,2 9 0 ” Er) ” d. a) ” ” 48 ” ” ” ” 3 ” ) 120 ” ” ” 2 ” ” 50 ” ” ” ” 39,5 180 b] ” ” 70 ” br) 50 ” ” ” ” 39,3 240 ” ” ” 98 e}) ” 40 ” ” ” ” 39 betrug und das Quecksilber durch den Druck in der Carotis 65 mm, der A. fem. 62 mm ” ” 60 ” ” ” ” 98 ” ” ” 90 ” b)] ” £)] 48 ” ” b)] 47 ” ” ” ” 45 ” ” ” 49 ” ” ” ” 46 ” „ ” 62 ”„ ” ” ” 60 ” hoch stand. Bei diesen Beobachtungen war es äußerst merkwürdig und höchst beachtenswert, dass während der letzten zwei Stunden des Versuches die Zahl der Atembewegungen eine sehr regelmäßige war, da sie von dem Maximum 55 plötzlich auf ein Minimum von 27 fiel, um dann wieder aufs neue bis 50 und 55 zu steigen. Bei dem Maximum der Atembewegungen fiel die Quecksilbersäule auf 47—49 mm, bei dem Minimum stieg dagegen der Druck bis 72 oder 74 mm. Noch auf ein weiteres eigentümliches Faktum wollen wir hin- weisen, welches bei diesem Kaninchen (und auch bei dem Versuchs- hund des IV. Experiments) zwischen der zweiten und der vierten Stunde nach der Injektion des Physostigmins (Eserins) konstatirt werden konnte. Während dieser Zeitdauer konnte man sehr deutlich die Cheyne-Stokes’sche Respiration beobachten, welche meines Erachtens durch cerebrale Hyperämie veranlasst wurde. Diese aber entsteht infolge plötzlicher und vorübergehender Reizung der En- digungen des Vagus oder des Sympathieus. Jene eigentümliche Form der Atembewegung wiederholte sich mehrere male und dauerte 3—4 Minuten. Die Diagramme dieser Respirationskurven wurden ebenso wie alle übrigen mit Hilfe des Pneumographen von Marey erhalten. II. Experiment. Kaninchen, 21 Monate alt, sehr lebhaft und kräftig, wog 2,6 kg und hatte soeben eine tüchtige Mahlzeit ver- zehrt. Nachdem die Carotis und die Arteria femoralis blosgelegt, wurde ein Marey’sches Manometer eingebunden, dessen anderes Ende mit einem Schreibhebel in Verbindung stand. Durch die Oeffnung in der Arteria femoralis hatten wir das Ende eines Sphygmographen eingefügt, dessen Bewegungen auf einen Polygraphen übertragen wurden. Das Herz schlug im Mittel 114mal in der Minute, die Atem- bewegungen fanden 30mal statt, die Reetaltemperatur betrug 38,5°, der Druck in der Carotis 85 mm und in der Arteria femoralis 82 mm Quecksilber. Peyrani, Einwirkung des Physostigmins auf den Blutdruck, 765 Jetzt wurde unter die Bauchhaut eine Einspritzung von 3 Milli- gramm reinen Merck’schen Physostigmins gemacht. Es ergaben sich folgende Daten: Druck in der Nach 10Min. war der Puls 106, Respiration 32, Bluttemp. 38, Karotis 82, A fem. 80mm ” 25 ” n ” ” 92 n 36 ” 39 ” 80 ” ” 7 ” a Re 5 38 EN le ar ” 60 ” ” ” ” 82 ” 38 ” 39,40 ” 72 ” m‘ 70 ” ” 8) ” ” ” B] 76 ” 42 ” 39,6° ” 10 ” ” 67 ” LT are! e 45 N EREBSHNTN ” 180 n ” ” ” 65 ” 80 ” 39,20 n 66 B2] n 63 ” ADSAOL WI ST It5/. 80 n 46 Be 170 3007 » ‘» 108 = 32 BO al » n Noch eine Stunde lang blieben die zuletzt angegebenen Zahlen, abgesehen von geringen Schwankungen, dieselben; später bemerkten wir eine fortwährende Steigerung des mittlern Druckes mit der un- verkennbaren Neigung allmählich zum mittlern normalen zurückzu- kehren. Während des Verlaufes dieses Experiments beobachteten wir eine sehr eigentümliche Tatsache. Ganz ohne sichtbare Ursache, vielleicht infolge einer plötzlichen und vorübergehenden Gemütsbe- wegung oder eines augenblicklichen Schmerzes wegen, welcher durch einen Reiz der vasomotorischen Nerven, der Nervenzentren oder aber auch der Gehirnwindungen selbst entstanden war, sahen wir zu ver- schiedenen malen ein ganz plötzliches rapides Steigen des Blutdruckes, während derselbe im allgemeinen im langsamen stetigen Fallen be- griffen war, oder aber auch ein beträchtliches plötzliches Sinken, als wir die stetig steigende Bewegungskurve des Drukes in der Carotis beobachteten. Bezüglich des Pulsschlages und der Atembewegungen ist dieselbe Tatsache zu vermerken; hier wie dort sahen wir fast immer mit dem annormalen Blutdruck Hand in Hand gehend häufig starke Störungen. Der Puls, welcher auf 70—60 Schläge in der Minute gefallen war, stieg einige male plötzlich auf 100 und 110, oder aber er fiel ganz schnell bis zu 52 und 45 herab. Die Anzahl der Atem- bewegungen schwankte alsdann ebenso schnell, im ersten Fall waren es zwischen 18 und 19 und im zweiten zwischen 44 und 46. Während dieses Auf- und Niederschwankens des Blutdruckes und der Respira- tionszahl beobachteten wir ein leichtes Zittern einiger Muskeln des Kaninchens. Nachdem wir dort einen Myographen angelegt hatten, erhielten wir mit Hilfe des Registrirapparates den unzweideutigen Beweis der gestörten Bewegungsfunktion in den Muskeln der Schenkel und des Halses. Man beobachtete, wie die Muskeln dieser Regionen nach einer absoluten Ruhe von 2—5 Minuten die Phasen krampf- artiger Kontraktionen oder starker fibrillärer Oszillationen durchliefen; aber fast niemals dauerte weder die eine noch die andere Form der Muskelkontraktion länger als je 15 Sekunden. Dem Krampf folgte die Ruhe und dem fibrillären Zittern der Krampf oder die absolute 164 Peyrani, Einwirkung des Physostigmins auf den Blutdruck. Ruhe. Diese fast plötzlichen Uebergänge aus der normalen physio- logischen Beschaffenheit der Muskelkontraktion in die erwähnten anormalen Modifikationen wurden hauptsächlich zwischen der zweiten und der fünften Stunde nach der Injektion des Physostigmins be- obachtet. III. Experiment. Das Versuchstier war ein weibliches ungefähr 18 Monate altes 1,52 kg schweres Kaninchen, welches vor 48 Stunden neun Junge geworfen hatte. Mit Ausnabme einiger frischer Kräuter und etwas Brodrinde hatte es jegliche Nahrung verweigert; das Tier war daher auch sehr schwach. Nach Vorbereitung des Versuches wie bei den vorhergehenden Fällen ergab sich: Pulsschläge 140; Atembewegungen 32; Rektal- temperatur 39,2°; Druckhöhe in der Carotis 90 mm Quecksilber; Druckhöhe in der A. femoralis 88 mm Hg. Unmittelbar darauf injizirten wir unter die Haut des Unterleibes 2 Milligramm reines Merk’sches Eserin. Fünfzehn Minuten nach der Einspritzung beobachteten wir: Min. Pulsschlag Respira- Rektaltem- Druck in der tionsbeweg. peratur Carotis A. fem. 15 110 34 39,2 87 mm 85 mm 25 97 38 39,3 Sa SBH En 45 86 42 39,4 805.5 Nenn 60 75 45 39,5 Lee As, 120 70 47 333 TER RE 025 180 66 50 39,3 Bin bb 240 37 38 39 72,5 MU 300 136 393 38,8 Sal 80 » Auch hier wurden zu verschiedenen malen, namentlich zwischen der zweiten und dritten Stunde des Experimentes, lebhafte Schwan- kungen in der Zahl der Atemzüge beobachtet. Sie fiel während der angeführten Zeit häufig von 47 oder 48 in der Minute auf 22 und 20 herab, oder aber sie erhob sich bis auf 54 und 56. Zu gleieher Zeit stieg im ersten Fall der Druck in der Carotis um 4 bis 5 mm oder aber ward, wie im zweiten, schnell um 5—9 mm geringer. Um dies unerwartete Steigen und Fallen genügend erklären zu können, glaube ich auf die Hypothese .einer unvorhergesehenen Reizung der vaso- motorischen Nerven, oder des Vagus oder gar auf diejenige der Cere- bralwindungen verweisen zu müssen. Die plötzliche Vermehrung oder Verminderung in der Zahl der Atemzüge oder der Höhe des Blut- druckes liefen fast niemals mit den nur schwer erkennbaren Schwan- kungen der Temperatur des Rectums, nicht einmal mit Zahl der Herz- schläge parallel. Bezüglich dieses Experimentes mit dem weiblichen Kaninchen wollen wir noch besonders darauf hinweisen, dass während der drei ersten Stunden nach der Injektion des Physostigmins die Anzahl der Atemzüge ganz allmählich sich vermehrt hat, und dass ferner der Peyrani, Einwirkung des Physostigmins auf den Blutdruck. 765 Blutdruck in der Carotis während derselben Zeit ein ebenso gra- duelles Abnehmen zeigte. Zur Erklärung dieser Tatsachen dient die große Schwäche des Versuchstieres; im übrigen haben wir ähnliches, wenn auch weniger auffallend bei verschiedenen andern Experimenten beobachtet. IV. Experiment. Mehr als mittelgroßer, ungefähr zwei Jahre alter Hund, Gewicht von 4,24 kg, sehr kräftig und lebhaft, hat vor kurzem eine ziemlich große Portion Fleisch und Brod verzehrt. Er verhielt sich während der ganzen Dauer des Experimentes fast voll- kommen ruhig. Pulsschlag 105; Atemzüge 18; Bluttemperatur im Rectum 38,6; Druck in der Carotis 135 mm Hg; Druck in der A. femoralis 131 mm Hg. Wir injizirten unter die Bauchhaut des Versuchstieres 4 Milligramm reines Merk’sches Physostigmin (Eserin) und überließen dasselbe fünf- zehn Minuten sich selbst. Min. Pulsschlag Atemzüge _Rectaltemp. der Druck in erfolgten der Carotis der Art. femoralis 15 95 22 38,6 130 mm 126 mm 30 80 25 38,9 PA 122 60 73 29 39 122% K1asT, 85 70 32 39,1 1905 115%, 120 61 32 39,2 1302 106. , 180 33 36 39 104 „ 10077, 240 82 32 38,7 ur PIE 300 92 22 38,4 1285 125 ” Während des Verlaufes dieses Experimentes beobachteten wir eine große Unregelmäßigkeit in der Zahl der Atemzüge, im Herz- schlag und im Blutdruck. Ganz plötzlich, so namentlich zwischen der zweiten und vierten Stunde des Experimentes, sahen wir die An- zahl der Atemzüge bis auf 48 steigen und gleichzeitig den Druck in der Carotis bis auf 90mm Hg. herabfallen; zu andern malen be- obachteten wir wieder eine schnell eintretende Verminderung der Zahl der Respirationsbewegungen (21 in der Minute), während der Blutdruck schnell bis auf 127 mm Hg stieg. Diese plötzlichen Schwan- kungen hatten indess nur eine jedesmalige Dauervon etwa 1 bis 3 Minuten. Außerdem bemerkten wir auch bei diesem Hund in kurzen Zeit- intervallen die Cheyne-Stocke’sche Respiration, deren einzelne Er- scheinungen nur 3 bis 4 Minuten währten und zu ganz verschiedenen Zeitintervallen wiederkehrten; sie wurden gleichfalls namentlich zwi- schen der zweiten und der vierten Stunde des Experimentes geesehen. Aus allem beobachteten ergibt sich, dass das Physostigmin (Eserin), in einer Dosis von 2—4 Milligramm unter die Haut eines Kaninchens oder eines Hundes eingespritzt, seine Wirkung ausübt 1) auf das Herz, indem es die Zahl der Pulsationen vermindert 2) auf die Respirationstätigkeit, indem es die Zahl der Atemzüge ver- mehrt 3) auf den arteriellen Blutdruck, indem es ihn herabsetzt. Diese Störungen beginnen eine Viertelstunde nach der hypodermischen 766 Peyrani, Einwirkung des Physostigmins auf den Blutdruck. Injektion und steigern sich bis zur Dauer von 3 oder 3!/, Stunden. Dann aber vergrößert sich die Anzahl der Herzschläge und der Blut- druck äußerst schnell, bis sie fast die normale Höhe erreicht haben. In gleicher Zeit wird die Zahl der Atemzüge kleiner und erreicht ebenfalls fast die mittlere physiologische. Diese Tatsachen deuten darauf hin, dass das Physostigmin na- mentlich seine Wirkungen auf die peripherischen Enden der Nerven ausübt, welche zum Herzen, zu den Lungen und zu den Blutgefäßen gehen, oder dass es auf diejenigen Punkte der Nervenzentren wirkt, von wo aus jene Nerven ihren Ursprung nehmen. Die Wirkung des Physostigmins auf das Herz und den Blutdruck erklärt sich demnach äußerst leicht durch die Vermittlung der Me- dulla oblongata, von wo aus der N. vagus seinen Ursprung nimmt, der unter seinen zahlreichen Anastomosen auch solche zählt, welche eine Verbindung mit dem Sympathicus herstellen. Während diese Wirkung des Vagus auf das Herz sich als eine hemmende darstellt, bewirkt die Reizung seiner zu den Lungen verlaufenden Aeste eine Erregung, welche die Respirationstätigkeit steigert. Die mehr der weniger plötzlichen Schwankungen in der Zahl der Herzschläge und der Höhe des Blutdruckes, welche wir bei fast allen Versuchen beobachtet haben, kann man sich erklären entweder durch eine vorübergehende und momentane Reizung der vasomotorischen Nerven oder aber auch nach den Heidenhain’schen Untersuchungen durch eine direkte Reizung der Cerebralwindungen. Das Cheyne-Stocke’sche Respirationsphänomen, welches wir beim ersten und vierten Experiment beobachteten, erklärt sich durch eine cerebrale Hyperämie, welche die Folgewirkung einer plötzlichen und vorübergehenden starken Reizung der Endigungen des N. vagus oder des Sympathieus ist. Die Resultate meiner Beobachtungen sind demnach kurz zusam- mengefasst die folgenden: 1) Das Physostigmin (Eserin) wirkt auf das Herz, indem es die Zahl seiner Pulsationen vermindert; 2) es bewirkt gleichzeitig eine Veränderung des Blutdruckes in den arteriellen Gefäßen ; 3) es wirkt auf die Lungen, indem es die Zahl der Atemzüge vermehrt, und 4) beginnen die ebengenannten Erscheinungen fünfzehn Minuten nach der hypodermischen Injeetion sich bemerkbar zu machen und können nahezu vier Stunden lang beobachtet werden. Anhang. Ich werde mich darauf beschränken aus der Reihe aller der- jenigen Autoren, welche die Wirkung des Physostigmins (Eserins) auf die Pupille besprechen, an Vierordt, Ad. Weber, M. Reich, v. Tiflis, A. v. Reuss, Wundt und L. de Wecker zu erinnern. Peyrani, Einwirkung des Physostigmins auf den Blutdruck. Von denjenigen, welche die Resultate ihrer Untersuchungen über die Wirkung des Physostigmins (Eserins) auf den Herzschlag und die Zireulation veröffentlicht haben, will ich Bouchut (Bulletin de therapeutique, tome 88, pag. 289, Paris 1875) erwähnen; teils hat er mit reinem Merk’schen Eserin experimentirt, teils mit dem Guettrot- schen schwefelsauren Salz, und zwar wurden entweder die Körper in Pillenform gegeben, oder aber eine Lösung unter die Haut ein- gespritzt. Nach kurzer Zeit sah er, wie die Blässe des Gesichts und der ganzen Haut zunahm, die Schnelligkeit des Pulschlages sich ver- minderte, die Länge der arteriellen Diastole wuchs, ein Gefühl von Zusammenschnürung und schmerzhafter Bedrückung der Oberbauch- gegend sich bemerkbar machte, wässeriges Erbrechen erfolgte und reichlicher Schweiß ausbrach. Als 5 Milligramm Eserin unter die Haut injizirt worden waren, entstand eine halbe Lähmung des Zwerch- fellmuskels.. 3 bis 4 Milligramm wurden von Bouchut einer am Veitstanz leidenden Frau in den Magen eingeführt. Sie hoben die Anfälle während der ganzen Wirkungsdauer des Physostigmins, also während 2—3 Stunden auf und verminderten sie auch noch be- deutend während des Zeitintervalles, welche zwischen je zwei Ein- gebungen verfloss. Nach Wundt (Elements de physiologie humaine, p- 302, traduetion de Bouchard. Paris 1879.) vermehrt das Calabarin die Erregungsfähigkeit der Hemmungsnerven des Herzens; indess konnte er niemals eine Reizung der zentralen Enden dieser Nerven und folglich auch keine größere Spannung der Gefäße beobachten. Unmittelbar nach seinem Gebrauch entstand Hemmung, dann eine Beschleunigung und Vermehrung der Herzschläge. Das Calabar gibt nach Marey (La cireulation du sang, pag. 492. Paris 1881) dem Herzen das Aussehen eines kleinen blassen und blut- leeren Kegels, welcher von dem kontrahirten Ventrikel gebildet wird, während die Herzohren ein ziemlich großes Volumen beibehalten; es macht das Herz in der Systole stillstehen. In dem Werke Beaunis’ (Nouveaux &l&ments de Physiologie humaine, tome 11, pag. 1402. Paris 1883) findet man die Wirkung von Eseringaben folgendermaßen beschrieben. Die Sensibilität und das Bewusstsein bleiben bis zum Tode ungeschwächt, die Respiration ist zuvörderst eine raschere, dann aber eine langsamere, ferner treten Lähmung der willkürlichen Muskeln und krampfartige Kontraktionen ein, welche von Blutgefäßerschlaffungen begleitet werden. Dieser selbe Beaunis fügt schließlich noch hinzu, dass man über die Ein- wirkung des Physostigmins auf das Herz und die Zirkulation wenig oder nichts wisse !). 1) Eine Zusammenstellung der dem Herın Vf. unbekannt gebliebenen Ar- beiten über die Wirkungen der Calabarbohne und ihrer Präparate findet man in Hermann’s experimenteller Toxikologie (Berlin 1874) 8. 377 ff. sowie in den Lehrbichern der Arzneilehre von Binz, Nothnagelu.s.w. D. Red. 168 Nassanow, Zur Biologie und Anatomie der Clione, N. Nassonow, Zur Biologie und Anatomie der Clone. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. XXXIX, S. 295—308 und 2 Taf. Das Tier, das Verf. unter obengenanntem Namen beschreibt, ist nicht der bekannte Pteropode, sondern ein Schwamm, der von rechtswegen den Namen Viva tragen sollte (S. hierüber Bronn’s Klassen und Ordnungen. Porifera S. 54). Verf. studirte diesen Schwamm in der Russischen Zool. Station zu Sewastopol, wo er ihn in Schalen von Ostrea adriatica während der Monate Mai-Juni mit Eiern fand. Eine merkwürdige Tatsache stellte sich sofort heraus, dass diese Eier ins Wasser abgelegt werden. Sie entwickeln sich nach des Verf.’s (allerdings nur lücken- haften) Beobachtungen zu Flimmerlarven, die sich nach kurzer Zeit festsetzen. Nassonow legte nun, um die bohrenden Eigenschaften schon an den jungen Schwämmen studiren zu können, in das Bassin dünne Kalkplättchen, an welchen sich einige Larven wirklich fest- hefteten. Das erste, was sie hiernach taten, war feine Ausläufer ab- zugeben, und zwar so, dass um den jungen Schwamm eine Art Ro- sette entstand. Die Ausläufer drangen immer weiter in den Kalk ein und isolirten schließlich halb ellipsenförmige Stückchen, die nachher auf irgend eine Weise ausgestoßen werden, jedenfalls lagen sie nach einiger Zeit frei. Die zerstörende Wirkung ist nach Verf. hauptsäch- lich eine chemische, teilweise aber auch, wie aus dem Gesagten folgt, eine mechanische. An ein Bohren mittels der Spicula lässt sich nicht denken, weil diese noch fehlten. (Hiernach befindet sich Verf. also in direktem Widerspruch mit Haucock). Eine dünne Schicht der Muschelschale mit dem Schwamm zeigte ferner, dass zwischen den größern Maschen des Netzwerkes ein feines Netz von skeletlosen Plasmaausläufern existirt, die also eine nähere Kommunikation der Schwammteile unter einander darstellen. An Stücken, welche 1!/, Tag in !!, Alkohol mazerirt waren, fand er ganz merkwürdige Epi- thelzellen mit Ausläufern, die also wahrscheinlich die dünnsten Aus- läufer des Schwammes zu bedecken hatten. Leider hat Verf. dies Epithel nieht in situ auffinden können. @. €. 3. Vosmaer (Neape)). Soeben erschien: Mental evolution in animals. By G. J. Romanes, F. R. 8. With a posthumnus essay on Instinet by Charles Darwin, F.R.S. 1. Bd. 8. Preis 12 shilling. London, Kegan Paul, Trench & Co. Leipzig, F. A. Brockhaus. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut“ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Namen-Register. Aeby, 65, 94. Albrecht 609, 639, 673, 701. Allen, Grant 289. Baginski 285. Bardeleben 65, 77, 510. Barfurth 417, 435. Behrens 224, 384, 415, 416, 439, 505, 513, 544, 640, 641, 671. Berthoud 161, 191. Bertkau 705, 722. Biedermann 97, 116, 257, 283, 288, 353, 377, 540, 609, 631. Blytt, Axel 417, 449. Boas 705, 726. Bois-Reymond, Emil du 513,531. Bowditch 512. Brandt 39. Brock 289, 291, 328, 374. Bubnoff 65, 84. Buchner 385, 408. Bülow 1, 14, 609, 627. De Candolle 417, 434. Cattaneo 65, 93. Chatin 641, 671. Detmer 385, 413. H. Dewitz 545, 558. J. Dewitz 577, 582. Dingler 33, 64. Ecker 257, 268. Edinger 282. Eisig 129, 142. Emery 72, 94, 397, 448, 730. Eversbusch 352. Ewart 33, 44. Exner 65, 84, 88. Fisch 69, 414, 577. A. Fischer 65. Fleischl 239, 309, 321, 331. Flemming 641, 673, 678. Flesch 183. Fraisse 609, 617. Frangois-Franck 97, 114. Fränkel 385, 411. Frenzel 33, 49, 321, 323. Gadow, 218. Gaffron 289, 319. Gegenbaur 417, 440. Geppert 385, 414, Giacosa 705, 730. Götte 705, 731. Gottschau 545, 565. Graff 129, 134, 161, 365, 193, 199. Gray, Asa 417 434. Griesbach 257, 268. Gruber 97, 126, 385, 389, 513, 542, 577, 580. Grützner 377. Hartmann 65, 95. Haswell 481, 505. Heidenhain 65, 84, Hering 377 Hermann 377. Herter 255. Höhnel 97, 105. Holl 33. Hooper 481, 510. Jordan 161, 174, 193, 207. Joyeux-Laffuie 353, 370, Just 225, 226. Karsch 112, 383, 414, 544. Kempner 411, 413. Klaussner 257, 271. Klebs 165, 193, 193, 609. Koller 97, 127. Kollmann 65, 88,,193, 218, 309. 737. Kopernicki 65, 74. Kowalewski 225, 235. Krabbe 353, 366. Kräpelin 33, 53, 126. Krause 32, 64, 96, 127, 218, 331, 542, 704. Kurtz 320. Lang 206. Lannois 417, 447. Lea, Sheridan 407. Lendenfeld 417, 448, 673, 695. Lepine 417, 447. Lindeman 385, 414. Lubbock 193, 223, 353, 382. Ludwig 49. Manassein 757. Marshall 65, 72. v. Martens 161, 191. 49 TO Martin 321, 328. Mendelssohn 116, 282. Metschnikoff 545, 560, 673, 698. Arth. Meyer 193. H. v. Meyer 353. Miclucho-Maclay 161, 182. Mitrophanow 33, 35. v. Mojsisovics 287, 639. Müllenhoff 513, 543. Müller-Hettlingen 481,496. H. Müller 97, 226, 291. Wilh. Müller 481, 505. W. H. Müller 97, 111. Munk, Imm, 408, 448. Nasse 225, 243. Nassonow, 768. Nathorst 1. Neelsen 545. Nordenskjöld 1. Noorden 353, 374. Obersteiner 31, 129, 145, AI2. Olivier 417, 439. Ossowski 97, 112. Packard 705, 724. Palacky 289. Peyrani 1, 23, 760. Pick 129. Pflüger 257, 577, 596. Pöhl 225, 252. Polejaeff 161, 180. Namenregister, Prantl 64. Preyer 257, 288. Rabl-Rückhard 1, 21. Ranke 257, 272, 289, 292. Ray-Lankester 609, 639, 124. Ribot 577, 601. Richet 417, 439. Romanes 33, 44. Romiti 513, 541. Roux 218, 577, 608, 705, 1393 Roy 385, 397. Rückert 32. Russow 321. Sachs 385, 389. C. F. Sarasin 97, 108. P. B. Sarasin 641, 668. Sattler 284, 321, 347. Schiemenz 385, 395. Schiffer 385, 407. Schlechter 385. Schimper 193. Schmidt-Mülheim 577,585. Sshmitz 193. Schneider 193, 512. Scudder 481, 512. Seler 227, 435, 480, 512. Solger 95, 225, 227, 447. Sorauer 449, 480. Spengel 601, 608, 701, 736. Stahl 129. Staub 1, 128. Stilling 31. Stöhr 377. Strasser 289, 308. Stricker 97, 123. Tigerstedt 377. Timm 481, 498. Tizzoni 577, 583. Tollin, Henri 449. Trelease 225. Urbantschitsch 257, 284, 285. Varigni 353, 384. Vayssiere 321, 327. Vigelius 705. Volkens 33. Vosmaer 74, 181, 698, 768 Waller, 282. Wiedersheim 641, 654, 673, 688. Wielowiejski 65, 69. Wilekens 416. Wilhelm 35, 108, 129, 323, 370. Will 630, 735, 747. Wolffberg 129, 155,161,184. Wollny 225, 255, 385. Wortmann 257. Wrzesniowski 77, 114, 243. Zopf 161, 225, 256, 673. Sachregister., A. Ablenkung der Markstrahlen 353, 366. Actinosphaerium 513, 542. Adiantites amurensis 2. Ainos, Knochen und Schädel der, 65, 74. Akklimatisation von Ostrea angulata 289. Aleuten 4. Alnus Kefersteinii 3. Ameisen, Bienen und Wespen 353, 382. Amphioxus lanceolatus 145. Anästhesie der peripheren Chorda tympani-Fasern 257, 285. Anatomie, Lehrbuch der, von Gegen- baur 417, 440. Anatomie der Sinnesorgane, Lehrbuch der, von Schwalbe 750. Anatomie des menschlichen Kopfes 65, 35: Anatomie der Wirbeltiere von Wieders- heim 752. Anatomie des Frosches 257, 286. Anatomie und Physiologie der Retina 289, 309, 331. Anatomie und Histologie von Peripa- tus 289, 319. Anatomie, Aufgabe und Stellung der, 353. Anatomische Notizen 97, 126. Anpassung, funktionelle 289, 308. Anthropologie, physische der Bayern, 257.62.122.292. Anuren, Basioceipital bei 609. Aphiden, Blastoderm bei viviparen A., 131,147. Aplysinidae 673, 69. Aquarium, Verein zu Gotha, 97, 128. Arterien, Zur Morphologie der, 385, 416. Aspidosiphon 19. Asplenium argutulum 2. Assoziation der Vorstellungen 97, 123. Asteracanthion 16. Astropecten 47. Atmung bei Ringelwürmern 481, 505. Aufbau der vegetabilischen Zellmem- branen 97, 105. Aufgabe und Stellungder Anatomie 353. B. Basioceipital bei Anuren 697. Bauverhältnisse, Befruchtung und erste Teilung der tierischen Eizelle 641, 673, 678. Bau der Kleinhirnrinde 129, 145. Bayern, physische Anthropologie der 231.212, 292. Bedeutung der Blumenfarben 97. Bedeutung der Kernteilungsfiguren 705, 735. Beeinflussung der innnern Wachstums- ursachen 385. Begriffsbestimmung organischer Indi- viduen 65, 88. Beköstigung, normgemäße, des Men- schen 129, 155, 184. Bestimmung der Hauptrichtungen des Froschembryo 577, 608. Bienen, Herkommen des Futtersafts u. 8. w: der) 385, 39. Bienen, Proterandrie der, 97, 111. Bienenzellen, Entstehung der, 513, 543. Bindesubstanz und Cölom der Cestoden 257, 268. Biogeographie der nördlich gemäßigten und arktischen Länder 161, 174, 207. Biologische Station in Edinburg 641. Biologische Studien (Eisig) 129, 142. 49 * 712 Blastoderm bei viviparen Aphiden 737, 747. Blumenfarben, biologische Bedeutung der, 97, 289. Bohne, Urheimat der, 417, 439. c. Calta palustris 34. Canis Dingo, Gehirnwindungen des, 161, 182. Carpinus grandis 2. Cestoden, Cölom der, 257, 268. Chemismus der Muskelsubstanz 225, 243. Chytridiaceen 577. Clione, Biologie und Anatomie der, 737, 768. Cölenteraten der Südsee 673. Cobitis fossilis 36. Ctenodrylus 18. Oycadeospermum 3. D. Degeneration durchschnittener Nerven- fasern 1, 23. Dehnung der Stimmbänder 481, 510. Deutung des Gehirns der Knochen- fische 21. Dinophilus 135. Diopatra 19. Drüsen der Zehenballen frosches 545, 558. Durchschnittene Nervenfasern, Degene- ration der, 1, 23. Dünndarm, Resorption des, 417, 447. des Laub- E. Echinodermen, Nervenphysiologie der, 33, 44. 7 Echinus 45. Einfluss des Sonnenlichts 129. Einfluss der Schwerkraft auf die Tei- lung der Zellen 577, 596. Einflusslosigkeit des Kerms bei ein- zelligen Tieren 577, 580. Eizelle, Bauverhältnisse und Befruch- tung der, 641, 673, 678. Elektrizität bei der Pflanzenkultur 225, 29D. Sachregister. Emulsin 266. Entwicklung der Gewebe bei Wirbel- tieren 757. Equisetum 2. Erregbarkeit des Rückenmarks 609, 631. Erregungs- und Hemmungsvorgänge6), 84. F. Faserverlauf im menschlichen Hirn und Rückenmark 65, 94. Farbensinn des Wasserflohs 193, 223. Farbstoffträger der Pflanzen 193. Fermentprozesse 259. Filaria 35. Flagellatengruppen, Organisation eini- ger F. und ihre Beziehungen zu Al- gen und Infusorien 609. Flora, fossile Japans 1. Flustra membranaceo-truncata 705. Freiwillige und künstliche Teilung bei Cölenteraten, Echinodermen und Würmern 1, 14. Frosch, Anatomie des, 257, 286. Funktionelle Anpassung 289, 308. Furchung und Reifung des Reptilien eies 97, 108. G. Galvanische Erscheinungen an keimen- den Samen 481, 496. Gastropoden, Sinnesorgane Fußdrüse der, 641, 669. Gastropodenleber 321, 323, 417, 435. Gehirn der Knochenfische 21. Gingko 3, 6. Gymnospermenstamm, tum des, 33, 64. und die Scheitelwachs- H. Hämatozoen 33, 35. Haematomonas 41, AR. Halisarca 72. Haplococcus reticulatus 673. Harnleiter, weiblicher 33. Harvey und seine Vorgänger 449, 461, 481, 513. Hatteria punctata 609, 639. Sachregister. Herz, Massenverhältnisse des mensch- lichen H. 481, 506. Histologie (und Anatomie) von Peri- patus 289, 319. Höhlen der Umgebung von Krakau 97, 112. Holothuria 45. Hydra 9. Japans fossile Flora 1. Jequirity-Ophthalmie 321, 347. Immunität gegen Infektionskrankheiten 385, 408. Induktionsströme, Wirkung der, auf Nerven und Muskeln 97, 116. Insektenfühler, Bildung der, 577, 582. K. Kalk der Gastropodenleber 435. Kalkzellen der Gastropodenleber 323. Kaulquappen der Knoblauchskröte 287. Keimschichten d. wachsenden Schwanz- endes von Lumbriculus variegatus 627. Keimsporen niederer Organismen in höhern Luftschichten 730. Kerne, Bemerkungen über die, von Ac- tinosphaerium und Amoeba 542. Kernteilungsfiguren, Bemerkungen über 735. Kernteilungsvorgänge bei Protozoen 389. Kleinhirnrinde, der feinere Bau der 145. Knoblauchkröte, Kaulquappen der 287. Knochenfische, Gehirn der 21. Knochenfische, Labyrinth der 434. Knorpelfische, Begattung der 224. Kohlensäure und Kohlenoxydgas bei Pflanzen 226. Kokospalme, Urheimat der 434. Koniferenholz, Zur Kenntniss des 3241. Konstanter Strom, Einwirkung auf Muskeln und Nerven 116. Kraniologie, ethnologische Bayerns 292. Krankheiten des Willens 602. Kreuzungseinrichtungen einiger Pflan- zen 225. L. Labyrinth der Knochenfische 374. Lampyriden, Studien über 69, 773 Larvenentwicklung von Phoxichilidium Plumulariae 448. Latente Reizung 282. Lebenserscheinungen der Spongien 227. Lebergewebe, Regeneration von 583. Lehrbuch der Anatomie der Sinnes- organe (Schwalbe) 750. Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere (Wiedersheim) 752. Leukoplastiden 146. i Lumbriculus variegatus 17. Lungentuberkulose, Therapie und Pro phylaxis 408. M. Malakostraken, Verwandtschaftsbe- ziehungen der 726. Massenverhältnisse des menschlichen Herzens 506. Mechanik des Aufbaus der vegetabili- schen Zellmembranen 105. Menschliche Anatomie, Lehrbuch von Gegenbaur 440. Mesodermale Phagocyten 560. Methode, plethysmographische 398. Mesoblast und die Entwicklung bei Wirbeltieren 737. Mikroben in derLymphe der Fische 439. Mikrozymas in der Leber und im Pan- kreas 49. Milbe,Getreide- als Krankheitserregerin 127. Milchsekretion 585. Milz, neue Untersuchungsmethode der 337. Mollusken, Morphologie der 93. Morphologie der Arterien 416. Morphologie der funktionellen Anpas- sung 218. Morphologie der Mollusken 93. Morphologie der Spaltpflanzen 161. Morphologische Untersuchungen über Flustra membranaceo-truncata 705. Muskeln, funktionelle Anpassung 308, Muskeln, sekundär - elektromotorische Erscheinungen 537. Muskelfaser, Bau der gestreiften 328. Muskelgewebe, Flüssigkeitsaufnahme und Abgabe 757. Muskelsubstanz, Chemismus der 243. 774 Muskelvarietäten als Spuren alter Her- kunft des Menschen 218. Mutilla ephippium, Begattung 722. Myrosin 266. N. Nasenbein, seltene Varietät 541. Nebennieren der Säugetiere 565. Nemalion 194. Nerven, sekundär -elektromotorische Erscheinungen 537. Nervenfasern, Degeneration schnittener 23. Nervenphysiologie derEchinodermen 44. Niere, neue Untersuchungsmethode der 397. Nordamerikas Phyllopoden 724. Nördlich gemäßigte und arktische Län- der, Biogeographie der 174, 207. Normgemäße Beköstigung, Grundsätze 155, 184. Notarchus punctatus, Schale bei 327. durch- ®. Oeffnungszuckung 282, 377. Oncidium celticum 370. Organische Individuen, Begriffsbestim- mung 88. Organismen, Keimsporen niederer, in hohen Luftschichten 730. Ostrea angulata, Akklimatisation 291. Oxytrichinen 235. P. Paralyse, progressive 283. Parasiten der Saprolegnieen 65. Pepton, Vorkommen und Bildung 257. Pelobates fuscus 287. Peripatus, Anatomie und Histologie 319. Pflanzen, Saftzirkulation 544. Pflanzen, Westgrenze unserer 320. Pflanzenphysiologie, Lehrbuch (Detmer) 413. Pflanzenphysiologie, Vorlesungen über (Sachs) 389. Pflanzen, Farbstoffträger der 193. Pflanzenkultur, Elektrizität bei der 255. Pferd, das amerikanische 191. der Sachregister. Phagocyten, mesodermale 560. Pharynx, als Sprech- nnd Schluckappa- rat 32. Phosphoreszenz und Atmung bei Rin- gelwürmern 505. Phoxichilidium Plumulariae, Entwick- lung von 448. Phycochromaceen 163. Phyllopoden Nordamerikas 724. Physiologie, Elemente der (Preyer) 288. Physiologie und Anatomie der Retina 309, 331. Physiologische Grundsätze für die normgemäße Beköstigung 155, 184. Physische Anthropologie der Bayern 212, 292. Physostigmin, Einwirkung des, auf den Blutdruck 760. Planaria polychroa, Embryologie 698. Plastiden 196. Plethysmographische Methode 398. Proatlas bei Hatteria punctata 639. Progressive Paralyse 283. Proteus anguineus 271. Protozoen, Kernteilungsvorgänge 389. Proterandrie der Bienen 111. Psychische Zeitmessungen 53. Pupillenreaktion bei progressiver Pa- ralyse 283. R. Regeneration, Neuere Beobachtungen über 617. Reihengräber, fränkische 294. Reihengräber, oberbayrische 296. Reizung, latente 282. Reptilienei, Reifung und Furchung 108. Resorptionsvermögen des Dünndarms 447 Rhabdocölidenmonographie, Graff’s 134, 165; 199. Rhodope Veraniti 134. Riechorgan, Speicheldrüsen, Futtersaft der Biene 39. Rindenspannung, Beziehungen der R, zur Bildung der Jahresringe 366. Ringelwürmer, Phosphoreszenz und Atmung der 505. Rückenmark, Erregbarkeit des 631. Rückenmark, Faserverlauf des 94. Sachregister. S. Saftzirkulation der Pflanzen 549. Saprolegnieen, Parasiten der 65. Säugetiere, Nebennieren der 565. Schädel und Knochen der Ainos 74. Schal- und Weichtiere 191. Scheitelwachstum des Gymnospermen- stammes 64. Schläfenenge 273. Schleimpilz, neuer, im Schweinekörper Happlococceus reticulatus 673. Schwerkraft, Ueber den Einfluss der S., auf die Teilung der Zellen 596. Seewasser, Einwirkung des, auf die Entwicklung des Frosches 384. Sehelemente 345. Sekundärelektromotorische Erschei- nungen an Muskeln, Nerven und elektr. Organen 537. Sidonia elegans 134. Sinnesorgane, Lehrbuch der Anatomie (Schwalbe) 756. Sinnesorgane und Fußdrüsen einiger Gastropoden 668. Skorpione, Giftapparat der 415. Sonnenlicht, Einfluss des, auf Laub- blätter 129. Spaltpilze, Neuere Ansichten über die Systematik der 545. Spaltpflanzen, Morphologie der 161. Spaltpilze, Zopf 256. Speicheldrüsen der Bienen, Futtersaft, Riechorgan 39. Sperma und Spermatogenese bei Sy- candra raphanus 180. Spongien, Lebenserscheinungen der 227. Stabheuschrecke, riesige, aus der Kohle 512. Stammesentwicklung der Vögel 654, 688. Stärkebildner der Pflanzen 193. Station,neuebiologische,inEdinburg671. Stellung und Aufgabe der Anatomie in der Gegenwart 353. Stenokrotaphie 273. Stimmbänder, Untersuchungen über die Dehnung der 510, Studien über Verdunstung 480. Substanz, toxische, im Harn 407. Südsee, Cölenteraten der 695. Systematische Anatomie des Kopfes 95. iM Teilung, anscheinend freiwillige und künstliche bei Cölenteraten, Echino- dermen und Würmern 14. Therapie der Lungentuberkulose 408. Todes, über den Ursprung des 734. Tomicus typographus und Agaricus melleus im Kampfe mit der Fichte 414. Topographie des weiblichen Harnleiters 64 Topographische Anatomie des mensch- lichen Kopfes 9. Toxische Substanz im Harn 407. Trigeminusreizung 284. u: Urheimat der Kokospalme 434. Ursprung des Todes 734. Y. Venenklappen, Verhalten der 77. Verdauungsprozesse, pflanzliche 257. Verdünnte Luft, Wirkungen der, auf den Organismus 411. Verdunstung, Studien über 480, Verein Aquarium zu Gotha 128. Vererbung der Größe auf die weib- lichen Nachkommen beiPferden 416. Versammlung, 56. deutscher Natur- forscher und Aerzte 356. Verwandtschaftsbeziehungen der Mala- kostraken 726. Vivipare Aphiden, Bildung des Eies und des Blastoderms 747. Vorlesungen über Pflanzenphysiologie (Sachs) 389. Vorstellungen, Assoziation der 123. W. Wachstumsursachen, künstliche Beein- flussung der 385. Wasserausscheidung der Blätter 33, Wasserfloh, Farbensinn 223. Wechsellagerung und deren mutmaß= liche Bedeutung für die Zeitrechnung der Geologie 417. Weich- und Schaltiere 191. 776 Wespen, Ameisen und Bienen (Lubbock) 382. Willens, Krankheiten des 602. Wirbeltiere, Lehrbuch der vergleichen- den Anatomie 752. Wirkungen der verdünnten Luft auf den Organismus 411. Worm’sche Knochen 275. Y, Young-Helmholtz’sche Theorie 327. Sachregister. 2. Zehenballen,Drüsen der, d.Laubfrosches 558. Zeitrechnung der Geologie (Bedeutung der Wechsellagerung für) 417. Zellmembranen, Mechanik des Aufbaus 105. Zentralnervensystem, Erregung im 84. Zentralorgane, optische 31. Zuckungskurve 232. Zwischenkieferknochen, iber die vier 701. x X F u; u % DR IR ae RR 23 £ } er & SEN ben De er ee u nr ee 8 hr 7% E hr a: Bor en % mE " Pr vr e “ Pr, ? + 7 ru a : ! % PO en iM: h e D if Ir Bi Li u; hr Myı, \ y Br x mb En me a ai F.. Io 1.29 un ı er; “, fane | . ı m% E,»r, { u ii: Ro . 2 Y E »% » x D