SET en engen EEE re ng acrtnäggecn en age war arena enenmen 2 Bf an ed nn Sn Sn SE IR TEN BEE jologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel ann Dr. R. Hertwig Professoren in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal, Professor der Physiologie in Erlangen. Sechsundzwanzigster Band. I9o®6. Mit 103 Abbildungen und einer farbigen Tafel, Leipzig. Verlag von Georg Thieme. 1906. 410 K. b. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn, Erlangen. Inhaltsübersicht des sechsundzwanzigsten Bandes. Or Deal: R = Referat. Zum sechsundzwanzigsten Bande b Abderhalden, Emil. Lehrbuch der Physische Chemie i in dreißig Vor- lesungen. R ! An : BER Artom, Cesare. Ricerche an ai te di niprödurs dad salina Lin. di Cagliari. O. U: es — Note critiche alle osservazioni del Loeb sull’Artemia ne (0) Biedermann, W. Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. AR Bois-Reymond, Rend du. Über die Beziehungen zwischen Wandspannung und Binnendruck in elastischen Hohlgebilden. O0 . RE Boruttau, H. Die Elektrizität in der Medizin und Biologie. AR Chwolson, O. D. Lehrbuch der Physik. R PB zZapeR er. BiochemierdersPilanzenn RW ee Re Dahl, Friedr. Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sankt 0; Denker, Alfred. Die Membrana basilaris im Papageienohr und die Helm- holtz’sche Resonanztheorie. OÖ FAR GR Driesch, H. Der Vitalismus als Geschichte und AR: en R Emery, ©. Zur Kenntnis des Polymorphismus der Ameisen. O Ernst, Christian. Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. OÖ Escherich, K. Die Ameise, Schilderung ihrer Lebensweise. A Fischer, E. Über die Ursachen der Disposition und über Frühsymptome der Raupenkrankheiten. 0... .. N AD: Fuchs, R. F. Physiologisches Praktikum für einen) R. — Wilhelm Roux; Die Entwickelungsmechanik, ein neuer Zweig der bioleischen Wissenschaft RB ae en, 296: — Zur Physiologie der Pigmentzellen. O0... „2... .... 0 .2.'868. 600 221 624 210 VI Inhaltsübersicht. Fühner, Hermann. Notizen zur Biologie von Convoluta roscoffensis Gratl 0% ENMIE N RT EEE Goebel, K. Zur Biologie von (ardamine pratensis. O0 BER! Groß, J. Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. O0 395. 508.5 Hayduck, F. Über die Bedeutung des Eiweiß im Hefenleben. R e Heinz, R. Handbuch der experimentellen Pathologie und Pharmakologie. R Henriksen, Martin E. A Functional view of Development. R. . . 18 The Danish Arctie Biological Station in Greenland. R. Hertwig, Oskar. Allgemeine Biologie. R. . REN, Hertwig, Richard. Über Knospung und Gechloökteeniiekelihe von Hydra fusca. 0 RL EEE ER A Ts Hesse, E. Lucilia in Bufo vulgaris Laur. A OLE m Höber, Rudolf. Zur Frage der elektiven Fähigkeiten der Resorptions- organe. O. BE EN Eh an International Catalogue of scientifie Literature. R ; ; ERS Hl Janicki, ©. v. Über Ursprung und Bedeutung der Aielgktiareie; Ein Beitrag zur Lehre von der geschlechtlichen Zeugung. 0... ........769. Jordan, Hermann. Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken.” Or nn. Be en anal, Jost, L. Über Hoaktionsnesah wianih she im One 0 Kaserer, H. Über die Oxydation des Wasserstoffes und des Methans Mikroorganismen. R . { Kleinpeter, H. Die Erkenntnistheorie de Natorfanschune de EA R Koltzoff, N. K. Über das Skelett des tierischen Spermiums. 0. Kossmann, R. Die Erhaltung günstiger Varianten. Eine Enten auf den Aufsatz von Kranichfeld. ©. a a I RR Kranichfeld, Hermann. Die Erhaltung und die Kontinuität günstiger Varianten. Eine Replik auf die Entgegnung von R. Kossmann. 0) Kupelwieser, Hans. Versuche über Entwickelungserregung und Membran- bildung bei Seeigeleiern durch Molluskensperma. OÖ Kusnezov, N. J. Zur Frage über die Bedeutung der Färbung der Hinter- flügel der Catocala-Arten. 0... . TEE Leisewitz, W. Über chitinöse Fortbewegungsapparate einiger (insbesondere fußloser) Insektenlarven. R. ELBE N AHRENS HERE Se Linden, Maria Gräfin v. 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Hatschek’s neue Vererbungshypothese. 0 524 Popoff, M. Fischfärbung und Selektion. O0 i N Er ne Rädl, Em. Einige Bemerkungen und Beobachtungen über den open der Tiere. O0. 677 Rosenthal, J. Bemerkungen zu Een A de Ben K. C. enaender „Das Wesen des Psychischen“. O0 n NE Ra NE a Rare Rosenthal, Werner. Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Ver- größerungen und mit dem Ultramikroskop. 0 ; 3 697 — Beiträge zur Bekämpfung des Typhus im Deutschen Rocher R 828 Rousseau. Annales de Biologie lacustre. R NIEREN er 318 Salensky, W. Über den Vorderdarm des Polygordius und des Sacco- eirrus. 0) Er: DENE STERN ng Ba Re ee LIT Samuely, Franz. Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweiß- chemie und ihre Bedeutung für die Physiologie. R . . . . . 370. 430 Schimkewitsch, M. Die Mutationslehre und die Zukunft der Mensch- heit... 0. : DER EN RRTL ODE R Schneider, Karl, Familie: Das en Be a 0% a 220 Schultze, OÖ. Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen a der Fische. 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Die Pygmäenfrage a die Deszondens des Menschen. el ai2ae 288, ‚UM v1 Inhaltsübersicht. Seite Wiesner, J. Jan Ingen Housz. Sein Leben und sein Wirken als Dalos forscher und Arzu. R. .... . : 7 RE Woltereck, R. Mitteilungen aus der Biol Station in a (0. -Ö.). 0 463 Zacharias, Otto. Die Begründung zweier „neuer Süßwasserforschungs- stationen im Auslande. O0 . . ne TR LE — Ein schwimmendes Laboratorium für marine Biolonie: Me 1003 — Das Plankton als Gegenstand eines zeitgemäßen biologischen Schul- ünternellent a” a, 0.» RN AIR VAN ee ES — Archiv für Hydrobiologie ne Pe RI PR Ziegler, H. E. Die Vererbungslehre in der Biologie. R. . . A AN WSTTensöltiennlal Prizesv. 2: 2 re ee en ER Reh EN RLS[SL0) Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. ZXVIBa Paar 3908. 1. Inhalt: Zum 26. Bande. — Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne, — Kossmann, Die Erhaltung günstiger Vasianten. — Henriksen, A Functional view of Development. — Fühner, Notizen zur Biologie von Convolutn roscoffensis Graff. — Artom, Ricerche Speri- mentali sul modo di Riprodursi. Zum sechsundzwanzigsten Bande. Fünfundzwanzig Jahre sind verflossen, seitdem der Unterzeichnete sich mit seinen Kollegen Reess und Selenka zur Herausgabe des Biologischen Centralblatts verbunden hat. Unsere Absicht war, ein Organ zu schaffen, welches den Zusammenhang zwischen den zahlreichen Wissen- schaften vermitteln sollte, aus denen sich die Gesamt- wissenschaft der Biologie zusammensetzt. Zu diesem Zwecke sollte einerseits von den wichtigsten Errungen- schaften aller einschlägigen Gebiete durch sachlich ge- haltene Referate fortlaufend Kunde gegeben werden, andrerseits durch gröfsere Übersichten über hervorragende Fortschritte der Erkenntnis in der Form von Essays den Vertretern der Einzelgebiete Gelegenheit gegeben werden, von den Errungenschaften auf Nachbargebieten genauere Einsicht zu nehmen. Ein grofser Stab der hervorragend- sten Arbeiter auf den verschiedensten Gebieten hatte sich XXVl. j 2 Zum 26. Bande. zur Mitwirkung bereit erklärt. So trat das neue Blatt hoffnungsvoll in die Öffentlichkeit. Der ursprüngliche, von den Herausgebern entworfene Plan ist, das muss offen bekannt werden, nur zum kleinen Teil innegehalten worden. Die versprochenen Berichte wurden im Laufe der Zeit immer spärlicher. Dafür liefen mehr Originalbeiträge ein, als wir anfangs erwartet hatten. Ich glaube, wir brauchen diese V erschiebung gegen das ursprüngliche Programm nicht zu bedauern. An Spezial- organen, welche sich fast ausschliefslich mit dem. Refe- rieren beschäftigen, ist heutzutage kein Mangel. Als Zentralorgan für alle biologischen Wissenschaften dagegen nimmt unser Blatt eine geachtete Stellung ein. Seine Freunde sind in allen Weltteilen zu finden. In den bis- her erschienenen fünfundzwanzig Bänden finden sich wertvolle Beiträge zur Klärung allgemeiner biologischer Fragen, für welche in anderen periodischen Zeitschriften kaum ein passender Platz gewesen wäre. So glauben wir annehmen zu dürfen, dass unser Blatt der Wissen- schaft gute Dienste geleistet hat und hoffen, dass es solche auch ferner leisten kann und wird. Allen unseren bisherigen Mitarbeitern sagen wir für ihre Mitwirkung herzlichen Dank und heifsen neue Mitarbeiter gern w illkommen. Wir werden auch ferner bestrebt sein, allen denen, welche einen Beitrag zur Erweiterung und zur Vertiefung des Wissens auf den Gebieten der Bio- logie zu bringen haben, einen neutralen Boden zu bieten. Das Centralblatt huldigt keiner besonderen Richtung. Die Herausgeber w erden, wie bisher, auch diejenigen zu Worte kommen lassen, mit deren Anschauungen sie selbst nicht übereinstimmen sollten, unter der selbstverständ- lichen Voraussetzung, dass die eingesandten Beiträge von wissenschaftlichem Wert und in wissenschaftlichem Geist abgefasst sind. Rein persönliche Polemik werden wir von unserem Blatt nach Möglichkeit fernzuhalten suchen. Die einzelnen Zweige des von uns vertretenen Ge- biets haben sich im verllossenen Jahrhundert in verschie- dener Art entwickelt. Während in einzelnen die Detail- arbeit überwog, wurde in anderen die Spekulation eifrig gepflegt. Die Ungeduld verleitet nicht selten, über die Grrenzen des wirklich Erforschten, ja sogar des zur Zeit Er- forschbaren hinauszugehen, durch Gedankenkombinationen vorauszunehmen, was erst durch mühsame Einzelarbeit nach und nach erreicht werden könnte. Versuche dieser Art = | Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. 3 NINNNININIMNSENDS NSS IMS NS DAS NS ISA ILS IS AS ITS NIIT hat es zu jeder Zeit gegeben; in den letzten Jahren sind sie zahlreicher hervorgetreten als in den Zeiten, die der Grün- dung unsres Blattes unmittelbar vorausgegangen waren. Das spiegelt sich auch im verjüngten Malsstab im Inhalt des Blattes. Gerade weil es sich nicht an die Vertreter eines einzelnen Wissensgebiets, sondern an alle Biologen im | weitesten Sinne wendet, ist es auch von denen, die mit ihrer Spekulation die fernsten Ziele erreichen zu können vermeinen, gern zur Veröffentlichung ihrer Gedanken be- nutzt worden. Die Herausgeber haben niemals verhehlt, dass sie auf andrem Standpunkte stehen. Sie wollen aber auch Bestrebungen, welche von anderen Gesichtspunkten 2 geleitet werden, Raum gewähren, sich auszusprechen. Freie Diskussion, wenn sie von ernstem wissenschaftlichen { Streben beseelt ist, fördert die Wissenschaft immer. Und diese Förderung soll und wird auch in Zukunft das Ziel ? sein, nach welchem wir streben. Erlangen im Dezember 1905. Namens der Herausgeber: J. Rosenthal. UIMNAMAAMNAAAUNARNANUTAAG RIND ML NENIS MISST IDAS NSS DAL ISLA S NWS DAS DS SAL N NSNNNS NN Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. Von Friedr. Dahl. Schält man aus den verschiedenen Deszendenztheorien dasjenige heraus, was allen gemeinsam ist, so treten zwei wichtige Sätze hervor: 1. Alle Organismen, die wir heute vor uns sehen, haben sıch aus einem oder aus wenigen organischen Ur- wesen entwickelt, 2. die Entstehung der Arten knüpfte an die Veränderlichkeit an, welche wir auch heute noch beı organischen Formen beobachten können. Der geringste Schritt, den wir über diese beiden allgemein an- genommenen Sätze hinaus weiter gehen, führt uns notwendig in eine Spezialtheorie hinein und die Anhänger anderer Theorien stehen uns dann als Gegner gegenüber. — Bringen wir z. B. die Entstehung der Arten mit der Entstehung künstlicher Zuchtrassen in Parallele, so befinden wir uns schon auf dem Spezialgebiete der Dar win’schen oder der Selektionstheorie, und die Neolamarckisten, deren es na- mentlich unter den Botanikern sehr viele gibt, sind unsere Gegner. Die oben ausgesprochenen Sätze — man kann sie auch als den allen Theorien gemeinsamen Deszendenzgedanken bezeichnen — 1* 4 Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. können nicht genug hervorgehoben werden, da sie, man kann wohl sagen, eine feste Errungenschaft des menschlichen Wissens sind. Der Deszendenzgedanke ist es, der jetzt alle biologischen Schriften durchdringt, der sogar, wie sich leicht zeigen lässt, in den Schul- büchern die Behandlung des Stoffes beherrscht: Ist in einem Buche von Anpassung einer Art die Rede — und dieser Ausdruck kehrt in fast allen mir bekannten Schulbüchern wieder —, so wird still- schweigend eine Deszendenz angenommen, eine Abstammung der vorliegenden Form von einer anderen zugegeben. Zur Klärung aller augenblicklich noch schwebenden Fragen muß immer wieder neues Material herbeigeschafft werden. Schließ- lich wird sich zeigen, welche unter den aufgestellten Theorien allen Tatsachen am vollkommensten gerecht wird, welche unser Kausal- bedürfnis im weitesten Maße befriedigt. — — Seit drei Jahren mache ich, unterstützt von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Untersuchungen über eine spezielle Tiergruppe, über die Spinnentiere Deutschlands. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, an der Hand einer sorgfältigen Sta- tistik die Stellung einer jeden Art im Haushalte der Natur festzustellen. Demnächst werde ich meine Resultate über die Familie der Wolfspinnen (Lycosidae) veröffentlichen. Auf einzelne Punkte, soweit sie die oben genannte Frage berühren, erlaube ich mir, hier kurz einzugehen. Die Untersuchungen, soweit sie bisher fortgeschritten sind, haben an erster Stelle ergeben, 1. dass es unter den einhei- mischen Spinnen nicht zwei Arten gibt, welche genau die gleiche Stellung im Haushalte der Natur einnehmen. Die (etwa 70) Lykosidenarten Deutschlands, die alle ihre Beute im Laufe fangen und kein Fangnetz spinnen, die alle ihren Eiersack den Sonnenstrahlen zuführen, die alle als Spinne (nicht als Ei) an ge- schützten Orten überwintern und die in ihrer Lebensweise noch vieles andere gemein haben, nehmen doch, jede für sich wieder einen ganz bestimmten Platz ein. Einige wenige Arten wurden zwar bisher in zu geringer Zahl gefunden, als dass sich ihre Stellung in dem genannten Sinne völlig einwandfrei ergeben hätte. Soviel aber zeigte die Untersuchung in allen Fällen, dass auch diese Arten in ihrer Lebensweise mit keiner der anderen Arten vollkommen übereinstimmen. Abgesehen von dieser ersten Tatsache — sie scheint, da auch aus verschiedenen anderen Tiergruppen ähnliche Beobachtungen vorliegen, ganz allgemeine Gültigkeit zu besitzen — wurden bei den Spinnenarten noch gewisse Beziehungen erkannt, über derenallgemeine Gültigkeit man sich bisher ebenfalls nicht klar ausgesprochen hat. Um zu zeigen, was ich meine, gehe ich von einem bestimmten Beispiel aus: Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. 5 Lyeosa pullata Cl. und Lycosa riparia ©. L. Koch!) sind zwei Spinnenformen, die einander äußerst nahe stehen, die aber doch, wie dies bei den Spinnen als Regel gelten kann, gute Arten sind, d. h. die nicht durch Übergänge miteinander verbunden sind. Sie unterscheiden sich, wie alle nahe verwandten, nicht geographisch getrennten Spinnenarten besonders dadurch, dass die Form der Kopulationsorgane eine verschiedene ist (vgl. die Figuren). Die Kopulationsorgane bestehen bei beiden Arten aus genau denselben Grundelementen, sind aber doch so scharf verschieden, dass eine Kreuzung zwischen den beiden Formen offenbar unmöglich ist. — In der Tat fand ich unter den vielen Hunderten, ja ich darf wohl sagen den Tausenden von hierher gehörenden Individuen, deren Die weiblichen Geschlechtsorgane a von Lycosa pullata, b von Lycosa riparia. Beide Figuren sind nach einem Kanadabalsampräparat schematisch gezeichnet. Quergestrichelt sind die dickeren Teile der äußeren Chitinhaut wiedergegeben. Jeder- - seits von einem Septum liegt unter einer dünneren Haut eine schlauchförmige Samen- tasche (punktiert wiedergegeben). Der Eingang zur Samentasche liegt unter dem vorstehenden Rand des Septums, bei a weiter nach hinten. Die äußere Umrandung des dünnhäutigen Feldes jederseits vom Septum steht ebenfalls vor und dient zum Anklammern der männlichen Kopulationsorgane. Kopulationsorgane ich ansehen konnte, niemals eine Übergangsform, einen Bastard. Die Lebensweise ist bei beiden genannten Arten sehr ähnlich und doch in ganz bestimmter Weise verschieden. Beide Arten kommen, im Gegensatz zu vielen anderen Gattungsgenossen, aus- schließlich auf humusreichem, mehr oder weniger mit Gras be- wachsenem Boden vor. Sie unterscheiden sich aber bestimmt da- durch voneinander, dass ZLycosa pullat« immer auf trockenerem Gelände, besonders auf Wiesen (weniger auf trockenen Weiden) ge- funden wird, Zycosa riparia dagegen an nassen, etwas sumpfigen 1) Die Art wird in den araneologischen Werken fälschlich mit dem jüngeren Namen L. prativaga L. Koch belegt. Diejenige Spinnenart, welche von den Araneologen gewöhnlich L. riparia genannt wird, ist L. cursoria C. L. Koch. 6 Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. Stellen, die mit höheren Gräsern (nicht mit Schilf) bestanden sind. — Auf den Unterschied des Geländes ist vielleicht ein zweites Unter- scheidungsmerkmal der beiden Arten, ein Farbenmerkmal zurück- zuführen. Beı Zycosa riparia sind die Beine scharf hell und dunkel geringelt, bei Zycosa pullata dagegen fast einfarbig braun. Da die erstere Art sich stets im höheren Grase aufhält, die letztere, be- sonders im ersten Teil des Frühlings, an den kahleren Stellen der Wiesen, auf Maulwurfshaufen u. s. w. zu finden ist, wird man an eine Farbenanpassung denken, wie man sie beim Tiger und beim Löwen annimmt. Ich lasse es dahingestellt sein, ob diese Deutung der Farben die richtige ist. Soviel steht jedenfalls fest, dass Ly- cosa pullata in dem trockenen Gelände, Lycosa riparia in dem nasseren Gelände besser fortkommt, sonst würden sie bei ihrer Be- weglichkeit nicht so ausschließlich an die beiden genannten Ge- ländeformen gebunden sein. Nasse und trockene Wiesenstellen wechseln oft miteinander ab und gehen dann vielfach unmerklich ineinander über. In sol- chen Fällen beobachtet man auf den Übergangsstreifen beide Arten zugleich. — Was man von Tieren verschiedener, geographischer Verbreitung überall da, wo feste Wasser- oder Gebirgsschranken fehlen, längst weiß, bestätigt sich also auch für die Arten, welche in demselben geographischen Gebiete biocönotisch verschieden leben. 2. Die Arten greifen in ihrem Vorkommen über- einander über, ohne sich auf dem gemeinschaftlichen Teil zu vermischen. PBastarde fehlen in dem vorliegenden Falle, so- weit die Erfahrung reicht, gänzlich. In anderen Fällen sind sie verhältnismäßig äußerst selten. i Sehen wir nun zu, wie weit die bei den genannten beiden Spinnen allgemein gültigen Tatsachen 1. und 2, durch die ver- schiedenen Deszendenztheorien erklärt werden können. Wir stellen uns zunächst auf den Standpunkt der Neolamar- ckisten und nehmen an, dass alle Arten durch unmittelbare Ein- wirkung der äußeren Lebensbedingungen entstanden sind. Ein not- wendiges logisches Postulat ıst dann, dass überall da, wo die Lebens- bedingungen ineinander übergehen, auch die an die Lebens- bedingungen angepassten Formen ineinander übergehen müssen. Lange Zeiträume können nach logischem Ermessen an dieser Tat- sache nichts ändern, da die einwirkenden Ursachen ja immer die- selben bleiben. Oder wir müssten schon die Annahme machen, dass die sämtlichen den verschiedenen Lebensbedingungen in dem- selben geographischen Gebiete entsprechenden Formen ursprünglich durch scharfe geographische Schranken getrennt entstanden seien (Mi- grationstheorie). Zu dieser Annahme stehen aber auf araneologichem Gebiete die Tatsachen in scharfem Gegensatz. Gerade bei geographisch getrennten Arten ist der Unterschied der Kopulationsorgane oft Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. fi sehr gering, bezw. nicht konstant, während bei nahe verwandten Formen, die unmittelbar nebeneinander leben, der Unterschied immer äußerst scharf ist. — Man sieht übrigens auch durchaus nicht ein, wie verschiedene Lebensbedingungen so speziell auf die Form der Kopulationsorgane hätten einwirken sollen und vor allen Dingen, wie durch dieselben Ursachen bei Männchen und Weibchen Ände- rungen, die einander entsprechen, hervorgebracht werden konnten, da doch die Organe bei den beiden Geschlechtern nichts weniger als homolog sind. Kurz, der Neolamarckismus lässt auf dem Ge- biete der Araneologie völlig im Stiche. Eine zweite Theorie, die auch heute noch viele Anhänger zählt, ist die Nägeli’sche Theorie. Sie lässt die Arten aus zwingenden inneren Ursachen heraus, etwa wie Kristalle entstehen. Die Nägeli’sche Theorie würde die zweite der oben genannten Tat- sachen (2.), dass zwei Arten übereinander übergreifen und doch scharf voneinander verschieden sind, sehr wohl erklären. Gegen sie machen sich aber aus der ersten der mitgeteilten Tatsachen (1.) Schwierigkeiten geltend. — Höchst sonderbar wäre es, wenn sich aus inneren Ursachen heraus in einer Gegend genau soviele Arten entwickelt haben sollten, als es verschiedene äußere Lebens- bedingungen gab. Keine Geländeform ist nämlich unbesetzt ge- blieben und nirgends wird derselbe Platz von zwei gleichberechtigten Arten eingenommen. Nur scheinbar tritt dieser Fall bisweilen ein, wenn bei verschiedener geographischer Verbreitung zwei Arten — etwa eine dem Küstenklima und eine dem Binnenlandklima ent- sprechende Form — über einander übergreifen. Dieser Fall ist tatsächlich bei verschiedenen Spinnenarten in den mittleren Teilen Deutschlands zu beobachten. Die Arten nehmen in diesem Falle aber trotzdem offenbar nicht denselben Platz im Haushalte der Natur ein. — Die Nägeli’sche Theorie muss, von einem Araneo- logen angewendet, notwendig den Eindruck erwecken, dass die von ihr vorausgesetzten, den Tierformen innewohnenden, unbekannten Ursachen den Zweck verfolgten, alle vorhandenen äußeren Lebens- bedingungen auszunutzen, mit einem Wort, die Theorie setzt eine „Zaelstrebigkeit“ voraus. Auch zur Erklärung der schon einmal be- rührten Tatsache, dass die (nicht homologen) männlichen und weib- lichen Kopulationsorgane bei den Arten stets genau zueinander passen, bedarf die Nägeli’sche Theorie der Annahme einer Ziel- strebigkeit. — Die Zielstrebigkeit (Finalität Reinke’s) entspricht aber unserem Kausalbedürfnis so wenig, dass wir sie nur dann, wenn alle anderen Erklärungsversuche fehlschlagen, gelten lassen können. Wenden wir uns nun einer dritten Theorie zu, der Mutations- theorie, die gerade in neuester Zeit viele Anhänger für sich gewonnen hat: — Als Anhänger der Mutationstheorie müssten wir in dem oben genannten Spezialfalle (Tatsache 2) annehmen, dass die S Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. eine der beiden genannten Arten unvermittelt, wie eine Missbildung, aus der andern entstanden sei. — Die scharfe Abgrenzung der beiden Arten wäre durch diese Annahme völlig erklärt. Eine Schwierigkeit würde sich nur aus der Tatsache (1) aus der weit- gehenden Parallele zwischen den so entstandenen Arten einerseits und den vorhandenen Lebensbedingungen andererseits ergeben. Diese Schwierigkeit kann der Anhänger der Mutationstheorie nur mittels einer Hilfstheorie beseitigen. Er muss entweder, wie die Neolamarckisten, annehmen, dass die äußeren Lebensbedingungen durch direkte Einwirkung die Mutationen hervorbrachten oder er muss, wie die Darwinisten, annehmen, dass sehr viele Formen durch Mutation entstanden, dass von diesen aber nur ein sehr geringer Bruchteil geeignete Lebensbedingungen vorfand, die allergrößte Mehrzahl dagegen im Kampfe ums Dasein zugrunde ging. — Die erste Schwierigkeit wäre durch die eine oder die andere dieser Hilfstheorie beseitigt. Eine zweite noch weit größere Schwierig- keit aber bleibt bestehen: Es wurde schon wiederholt hervor- gehoben, dass die männlichen und die weiblichen Kopulationsorgane bei den Spinnen nicht homolog sind. — Eine gelegentlich auf- tretende starke Abweichung in der Form dieser Organe ist natür- lich weder im einen noch ım anderen Geschlechte ausgeschlossen. Dass aber zwei derartige starke Abweichungen vom Normalen ge- rade zueinander passten und dass die Träger der zueinander passenden abweichend geformten Kopulationsorgane sich gerade fanden, würde doch, da starke Abweichungen bekanntlich recht selten sind, ein höchst wunderbarer Zufall sein. — Eine bis auf abnorme Abweichungen ausgedehnte Korrelation zwischen den beiden gänzlich heterogenen Organen anzunehmen, wäre der einzige Ausweg. Diese Annahme würde jedoch eine zu gewagte, durch keine Beobachtungstatsachen gestützte Hilfstheorie sein. — Der ganze Vorgang würde nur dann etwas an Unwahr- scheinlichkeit einbüßen, wenn wir annehmen, dass früher starke Abweichungen vom Normalen weit häufiger vorkamen als jetzt. Für diese Annahme liegt aber wieder nicht der geringste auf Be- obachtungen basierende Grund vor. Der Araneologe kann sich also der Mutationstheorie nicht wohl anschließen, es sei denn, dass sich keine Theorie finden lässt, welche die vorliegenden Tatsachen ungezwungener erklärt. Als vierte Theorie, die wir versuchen wollen mit den bei der Untersuchung der Spinnen gewonnenen Beobachtungstatsachen in Verbindung zu bringen, sei die Darwin’sche oder Selektions- theorie genannt. Die Selektionstheorie hat vor anderen Theorien den Vorteil voraus, dass sie mit Tatsachen auskommen will, die auch heute noch allgemein der Beobachtung zugängig sind. Diese Tatsachen sind: 1. geringfügige Variationen, 2. der Kampf ums Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. I) Dasein und 3. die Tatsachen der Vererbung. — Geringfügige Variationen kommen auch heute noch in dem Maße vor, dass wir nicht zwei Individuen derselben Art finden können, die einander völlig gleichen. Den Kampf ums Dasein können wir sogar bei unserer eigenen Art, beim Menschen, hinreichend als Tatsache beobachten. Er beruht darauf, dass mehr Organismen erzeugt werden, als fortexistieren können. Dass die elterlichen Eigenschaften im allgemeinen auf die Nachkommen übertragen werden, steht ebenfalls genügend fest. Ein durchaus logischer Schluss ıst es, dass im Kampf ums Dasein durchschnittlich nicht die weniger erhaltungsmäßigen Variationen erhalten bleiben, zur Fortpflanzung gelangen und ihre Eigenschaften auf ihre Nachkommen übertragen. Die Erklärung der oben genannten Tatsache (1), dass für die verschiedenen Existenzbedingungen jetzt überall entsprechende Tierformen vor- handen sind, ergibt sich aus der Theorie so ungezwungen, dass ich auf diesen Punkt hier nicht weiter einzugehen brauche. Nur eine scheinbare Schwierigkeit möchte ich kurz berühren. — Man hat darauf hingewiesen, dass die Selektionstheorie nicht die Ent- stehung der ersten Anfänge eines Organes erklären könne, weil für viele Organe eine Anfangsstufe angenommen werden müsse, die noch nicht nützen und deshalb ihrem Träger noch keinen Vorteil im Kampfe ums Dasein gewähren könne. — Als Beispiel nenne ich ein allen Spinnen zukommendes Organ, das vielleicht schon bei der Entstehung der ersten Spinne entstand. Ich meine das ım Endglied der Taster befindliche männliche Kopulationsorgan. Es muss zugegeben werden, dass (ieses Organ in seiner Funktion als Übertragungsorgan erst von dem Augenblick an wirklich nützlich war, als es seine Aufgabe voll und ganz-erfüllte. Bei einigem Nach- denken kann man sich aber, hier, wie in allen schwierigen Fällen den Vorgang des ersten Auftretens sehr wohl vorstellen. Die Taster dienten den Spinnen ursprünglich jedenfalls lediglich zum Tasten. Beim Männchen kam zu dieser Funktion allmählich eine zweite hinzu, nämlich die, die weiblichen Geschlechtsorgane bei der Begattung festzuhalten, eine Funktion, die auch heute noch mit der der Übertragung verbunden ist. Aus dem Tastorgan entwickelte sich also beim Männchen ganz allmählich ein Klammerorgan und aus diesem kann man sich sehr wohl das Übertragungsorgan ganz allmählich entstanden denken. Zunächst wurde jedenfalls nur ge- legentlich etwas Sperma durch das Klammerorgan eingeführt. — Wir nehmen also, um uns kurz auszudrücken, in allen schwierigen Fällen einen Funktionswechsel an. Es ist das zwar eine Hilfs- theorie, aber, wohl bemerkt, keine Hilfstheorie, die eigens zur Er- klärung einer hier bestehenden Schwierigkeit erst aufgestellt wird, sondern die längst, auf Tatsachen begründet, besteht. 10 Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. Eine zweite scheinbare Schwierigkeit ergibt sich für die Se- lektionstheorie aus der oben angegebenen Tatsache (2), dass nahe verwandte nebeneinander vorkommende Arten so scharf voneinander abgegrenzt sind. — Darwin selbst hat nie den Versuch gemacht, mit Hilfe seiner Theorie diese Tatsache zu erklären. Trotzdem liefert seine Theorie, konsequent durchgeführt, eine Erklärung und zwar eine Erklärung, die sich völlig ungezwungen ergibt. — Die Konsequenzen der Darwin’schen Theorie, um die es sich hier handelt, hat man die physiologische Zuchtwahl genannt. Gehen wir, um die Entstehung der Lycosa pullata und der Lyeosa riparia zu erklären von einer gedachten Mittelform als einer gemeinschaftlichen Urform aus und machen die völlig ungezwungene Annahme, dass Variationen, soweit sie der molekulare Aufbau der Urform zuließ, ursprünglich nach allen Seiten hin erfolgten. Machen wir ferner die (für unsere Ausführungen nicht unbedingt not- wendige) Annahme, dass die Urform sowohl auf dem nassen als auf dem trockenen Gelände vorkam, dann wird eine eingehende Überlegung an der Hand einiger der vielen Variationen die Ent- stehung der beiden Arten ergeben. Unter den vielen Variationen kamen jedenfalls einige (vielleicht sogar recht viele) Individuen vor, die auf dem trockenen und auf dem nassen Gelände gleich gut fortkamen. Andere gab es, die etwas besser für das nasse Gelände geeignet waren und noch andere, die etwas besser für das trockene Gelände geeignet waren. In Bezug auf die Kopulationsorgane gab es Individuen (und wahrschein- lich recht viele), deren Kopulationsorgane der Form nach zu denen der meisten anderen Individuen gleich gut passten und andere, deren Kopulationsorgane etwas besser zu denen bestimmter anderer Individuen passten. Im letzteren Falle konnte die, für die männ- liche Spinne meist etwas gefährliche, Übertragung des Spermas leicht und schnell vollzogen werden. R Nachdem dies vorausgeschickt ist, wird eine einfache Über- legung ergeben, dass diejenigen Individuen, die einerseits besser für eine bestimmte Geländeform geeignet waren und deren Kopu- lationsorgane andererseits besser zu denen der für das gleiche Ge- lände geeigneten passten, allmählich immer zahlreicher werden mussten. Um den Nachweis ın klarer Weise liefern zu können, wollen wir diejenigen Individuen, welche gleich gut für beide Gelände- formen geeignet waren, a, diejenigen, die besser für das,trockene Gelände geeignet waren, b, diejenigen, die besser für das nasse Gelände geeignet waren, c nennen, ferner wollen wir diejenigen Individuen, deren Kopulationsorgane für die der meisten anderen gleich gut passten, a, diejenigen, deren Kopulationsorgane nur zu den Kopulationsorganen einiger an das trockene Gelände ange- Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. 11 passten Individuen gut passten, ß, diejenigen, deren Kopulations- organe nur zu denen einiger an das nasse Gelände angepassten Individuen gut passten, y nennen. Tatsächlich kamen dann folgende Variationen vor: aa, aß, ay, ba, bß, by, ca, cß, cy. Für den zweifellos häufigsten Fall aa nehmen wir eine will- kürlich große Zahl von Individuen, etwa 10000 (oder nach Belieben mehr) als Ausgangspunkt an. Für die wahrscheinlich auch noch ‚nicht sehr seltenen Fälle aß, ay, ba, ca nehmen wir als ursprüng- liche Individuenzahlen je 100 an. Für die offenbar seltenen Fälle bf, by, cß, cy nehmen wir als ursprüngliche Individuenzahl 10 an. Es ergibt sich dann folgendes Schema: Kopulations- | Kopulations- Kopulations- organe zudenen |organe nur zu | Organe nur zu fastallerandern | denen der denen der Individuen Gruppe b gut | Gruppe e gut passend passend passend («) (ß) (Y) Für keine Geländeform besser aa geeignet (a). - el L0000 Ind))| aß (= 100 Ind.) | ay (= 100 Ind.) Für das een "Gelände | besser geignet (b) . I ba (= 100 Ind.) |b# (= 10 Ind.) | by (= 10 Ind.) Für das nassere Gelände besser BEBISHeL Or ca. (= 100Ind.),eBi (= 10, Indl) ey (= 10’ Tnd.) Ich muss wiederholen, dass die Zahlen nicht absolute Größen sondern nur nach dem wahrscheinlichen Verhältnis ein Mehr oder Weniger andeuten sollen. Sie sind für die nun folgende Betrachtung möglichst ungünstig angenommen. Für sie macht es nichts aus, wenn man statt dieser Zahlen beliebige ‘andere Zahlen setzt. Zunächst ist klar, dass die Individuen cy, d. h. die Individuen, welche einerseits für das nassere Gelände besser geeignet waren und deren Kopulationsorgane andererseits zu denen der an das nasse Gelände angepassten Formen besser passten, sich in erster Linie mit Individuen der letzteren Art paarten und dass deren Nach- kommen nach dem Gesetz der Vererbung fast alle einerseits an das nassere Gelände angepasst waren und andererseits Kopulations- organe besaßen, die besser zu denen anderer an das nasse Gelände angepassten Individuen passten. Im Kampfe ums Dasein blieben also diese Nachkommen, da sie fast alle gut angepasst waren, in verhältnismäßig größerer Zahl erhalten. Genau dasselbe gilt für die Individuen der Gruppe bp, nur mit dem Unterschied, dass deren Nachkommen besser an das trockene Gelände angepasst waren. Die Individuen der Gruppen by und cf paarten sich wegen der Form ihrer Kopulationsorgane in erster Linie mit dran 12 Dahl, Die physiologische. Zuchtwahl im weiteren Sinne. welche gerade an eine entgegengesetzte Geländeform angepasst waren. Ihre Nachkommen waren deshalb fast ausschließlich an keine der beiden Geländeformen angepasst und gingen in sehr großer Zahl im Kampfe ums Dasein zugrunde. Die Nachkommen der Gruppen aß, ay, ba und ca zeigten nur zur Hälfte Anpassung, weil gewöhnlich nur eins der Eltern ange- passt war. Von ihnen mussten also im Kampfe ums Dasein ver- hältnismäßig etwa doppelt so viele zugrunde gehen als bei den Nachkommen der Gruppen cy und bß. Die Nachkommen der Gruppe aa zeigten zum allergrößten Teil weder Anpassung an das trockenere noch Anpassung an das nassere Gelände. Sie konnten also wie die der Gruppen by und cf nur auf dem Grenzgebiete mit den anderen konkurrieren. Auf dem nassen und auf dem trockenen Gebiete mussten sie bei der Kon- kurrenz mit angepassten Individuen in verhältnismäßig sehr großer Zahl zugrunde gehen. Auch auf dem meist schmalen Grenzstreifen fanden sie aber Konkurrenz und zwar von beiden Seiten, weil die Formen des nassen und des trockenen Geländes für dieses Übergangs- gelände nicht schlechter angepasst zu sein brauchten als sie. Im allgemeinen mussten sie also in verhältnismäßig sehr großer Zahl zugrunde gehen. Nach diesen Betrachtungen ist klar, dass die Individuenzahl der Gruppen bß und cy, wenn sie ursprünglich auch äußerst klein war, im Laufe der Generationen immer mehr wachsen musste, während die der anderen Gruppen, mochten sie ursprünglich auch ganz außerordentlich überwiegen, immer mehr zurücktreten mussten. Mit anderen Worten: es men allmählich zwei sogenannte gute Arten entstehen, wie wir sie jetzt in Zycosa pullata und Lycosa riparia vor uns haben. Ich hoffe, dass jeder, der gewohnt ist, abstrakt zu denken, meinen Darlegungen bis hierher gefolgt ist und wende mich jetzt kurz den anderen Seiten der physiologischen Zuchtwahl zu. Außer der mechanischen Schranke, welche die Form der Kopulationsorgane einem Vermischen der Formen entgegensetzt, können im Tierreich auch andere Schranken auftreten, welche zu genau demselben Resultate, zu guten Arten, führen müssen. Zunächst ist die geographische Schranke zu nennen, die ohne die physiologische Zuchtwahl zum Ziele führt, also hier eigentlich nicht in Betracht kommt, dann eine zeitliche Schranke, ferner eine psychische Schranke und endlich eine in der Beschaffenheit der Befruchtungskörper zu suchende germinative Schranke. Alle diese Schranken kommen bei der Entstehung guter Arten in An- wendung. Die psychische Schranke gibt sich uns als Neigung für die an- gepasste Form und Abneigung gegen. die nicht angepasste Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. 13 Form zu erkennen. Abneigung unter nahe verwandten Arten beobachten wir namentlich bei psychisch hochstehenden Tieren. Die Neigung und Abneigung konnte an verschiedene Sinne an- knüpfen. An den Gesichtssinn knüpfte sie namentlich bei Vögeln und Insekten an, an den Gehörsinn namentlich bei unscheinbar gefärbten Vögeln bezw. Insekten. In beiden Fällen sind die Tiere mit charakteristischer Farbe bezw. Stimme ausgestattet. An den Ge- ruchsinn knüpft sie namentlich bei Säugetieren und bei manchen Insekten an. In allen Fällen, wo der Gesichtssinn bei der Trennung der Arten in Tätigkeit trat, ist die Unterscheidung der Arten für uns natürlich besonders leicht. Wo dagegen der Geruchssinn eine Rolle spielte, kann die Unterscheidung der Arten für uns äußerst schwierig sein, wenn nicht die verschiedene Lebensweise selbst eine be- deutende Abweichung in Farbe oder Form erforderte. An die Befruchtungskörper knüpfte die physiologische Zucht- wahl namentlich in denjenigen Fällen an, wo, wie bei den Fröschen und Fischen, keine innere Befruchtung stattfindet. — Die hier gegebene Ergänzung der Selektionstheorie habe ich schon vor 16 Jahren klarzulegen gesucht!). Ich habe damals auch gezeigt, wie der Gedanke einer physiologischen Zuchtwahl allmählich auftrat, wie erst die psychische Seite und dann erst die germinative Seite zur Erklärung der Entstehung guter Arten herangezogen wurde. Auf die mechanische Seite, die hier eingehend behandelt ist, wurde erst viel später ausdrücklich aufmerksam gemacht 2). Die mechanische Seite liegt wohl in keiner Tiergruppe so klar zutage, wie eben bei den Spinnen und deshalb hat die Form der Kopu- lationsorgane hier seit lange schon als bestes Merkmal zur Unter- scheidung nahe verwandter Arten gedient. Auf die zeitliche Schranke, d. h. auf das Reifen der Tiere zu verschiedener Jahreszeit, ist in dem hier gegebenen Sinne erst in neuester Zeit aufmerksam ge- macht worden). Auf einen Punkt möchte ich noch besonders hinweisen, da ich in diesem Punkte nicht verstanden worden bin®). Ich habe nie 1) Zoolog. Anzeiger Bd. 12, 1889, p. 262 ff. 2) Sitzungsber. d. Ges. naturf. Freunde. Berlin 1901, p. 265. 3) J. T. Gulik, Evolution ete. Washington 1905. 4) Von L. Plate nämlich (Arch. f. Rassen- und Gesellschaftsbiologie, Bd. 1, p- 431). Obgleich ich in einem Aufsatz ausdrücklich hervorgehoben hatte (l. e. p- 429), „die sogen. physiologische Zuchtwahl, wenn man diesen Begriff nicht im engeren Romanes’schen Sinne nimmt, sondern im weitesten Sinne“ und obgleich ich ausdrücklich auf meine Arbeit und nicht auf die Roman es’sche verwies, spricht Plate in der Entgegnung gegen mich nur von der „physiologi- schen Zuchtwahl von Romanes“. Ich stelle das hier nur als Tatsache fest. Das Weitere wird sich jeder selbst sagen können. Es fragt sich auch, warum mich Plate in seiner Zeitschrift nicht wieder zu Worte kommen ließ. Ich meine, eine Zeitschrift, wie die seine, hätte ihren Zweck verfehlt, wenn sie keinen freien Mei- 14 Dahl, Die physiologische Zuchtwahl im weiteren Sinne. behauptet, dass die physiologische Eigenschaft der Sterilität pri- mär, die morphologische Divergenz sekundär entstehe. Beide traten, wie aus meinen früheren und aus den hier gegebenen Darlegungen klar hervorgeht, gleichzeitig als Variationen auf. Ist meine hier entwickelte Darlegung richtig, so konnte eine Art sich an einem Orte nur dann in zwei gute Arten spalten, wenn die Stammart sich zweigeschlechtig fortpflanzte. In der Tat scheinen alle Erfahrungstatsachen auf die Richtigkeit dieser Annahme hin- zuweisen. In allen Organismengruppen nämlich, in denen die Ver- mehrung durch Sprossung oder durch Teilung stark in den Vorder- grund tritt, lassen sich die Formen nur schwierig oder gar nicht an der Hand scharfer Merkmale voneinander abgrenzen. Ich ver- weise besonders auf die Arbeiten über Korallen'), Schwämme und Protozoen, ganz besonders aber auch auf einen Aufsatz von L. Döderlein „Über die Beziehungen nahe verwandter Tierformen zueinander“2). Natürlich kommen auch in den nur zweigeschlecht- lich sich fortpflanzenden Organismenreihen und zwar fast in allen Familien Gruppen von Formen vor, die nicht scharf voneinander geschieden werden können. Als Beispiel dieser Art nenne ich aus der Familie der Lycosiden die mit der Zycosa pullata-Gruppe nahe verwandte Lycosa-monticola-Gruppe. In diesem wie in allen ähn- lichen Fällen handelt es sich offenbar um Arten, die gerade jetzt in der Entstehung begriffen sind. Solche Gruppen bilden in der Ordnung der Araneen die Ausnahme von der Regel. — Es liegt nahe, dass Forscher, die auf Gebieten, auf denen man scharfe Artabgrenzungen nicht kennt, tätig sind, glauben, es gebe überhaupt keine guten Arten und dass andererseits Forscher, die auf Gebieten mit ausschließlich guten Arten arbeiten, es nicht ver- stehen können, dass es in anderen Tiergruppen anders sein solle. Jeder Forscher, der in deszendenztheoretischen Fragen ein richtiges Urteil gewinnen will, sollte auf beiderlei Gebieten tätig sein. Am nungsaustausch in schwierigen theoretischen Fragen zulässt. Dass schwierige theoretische Fragen, wie sie in meinem Aufsatz berührt wurden, durch eine ein- malige Außerung für und eine einmalige Äußerung gegen nicht erledigt werden können, liegt auf der Hand. Plate hält allerdings die Frage der Artbildung für weniger schwierig als ich. Er meint, dass sie durch „die Prinzipien der geographi- schen, biologischen und sexuellen Isolation“ gelöst sei. Für mich ist, wie ich hier gezeigt habe, die sexuelle Isolation eine Tatsache, die erst theoretisch erklärt werden muss. Wo für Plate das Problem gelöst ist, fängt es für mich erst an. Soviel geht jedenfalls mit Sicherheit aus der Plateschen Erwiderung hervor, dass ich recht habe, wenn ich die hier vorliegende Frage für zu schwierig halte, als dass sie in der Schule behandelt werden könnte. 1) Ich selbst konnte mich von dieser Tatsache überzeugen, als ich versuchte, die sämtlichen im Bismarck-Archipel vorkommenden Riffkorallenarten zusammen- zubringen und heimzuschicken. 2) Zeitschr. f. Morphologie und Anthropologie Bd. 4, 1902, p. 394ff. Kossmann, Die Erhaltung günstiger Varianten 45 schärfsten sind die Arten in denjenigen Gruppen mit zweigeschlecht- licher Fortpflanzung voneinander abgegrenzt, in denen durch die große Beweglichkeit der Individuen jederzeit eine Vermischung der Formen eintreten kann. Es ist das eine Gesetzmäßigkeit, auf welche zuerst Döderlein hingewiesen hat. In solchen Gruppen kommt natürlich die physiologische Zuchtwahl im ausgedehnten Maße zur Geltung. Ganz kurz möchte ich noch auf eine Kehrseite der hier ange- stellten Betrachtung hinweisen. Wenn es richtig ist, dass die Natur zur vollkommenen Anpassung der Formen an bestimmte Lebens- bedingungen der geschlechtlichen Fortpflanzung bedurfte, wenn es ferner richtig ist, dass die vollkommene Ausnützung alles dessen, was auf der Erde ein Leben unterhalten kann, nur durch eine weit- gehende Spezialanpassung möglich ist, so wird man zu der Ansicht gedrängt, dass durch die Überproduktion der Organismen und den aus dieser Überproduktion sich ergebenden Kampf ums Dasein auch die geschlechtliche Fortpflanzung geschaffen ist. Mit anderen Worten, die geschlechtliche Fortpflanzung entstand im Kampf ums Dasein, weil durch sie die Arten sich leichter voneinander spalten und deshalb schneller anpassen konnten. Diese Erklärung der Ent- stehung des Geschlechtslebens scheint mir von allen bis jetzt auf- gestellten Theorien am meisten unserem Kausalbedürfnis zu ent- sprechen. Ich werde vielleicht an anderer Stelle eingehender auf dieselbe zurückkommen. Die Erhaltung günstiger Varianten. Eine Entgegnung auf den Aufsatz von Kranichfeld. Von R. Kossmann, Berlin. Mein verehrter Freund Kranichfeld hat Nr.20 dieses Blattes seinen ablehnenden Standpunkt gegenüber der Selektionstheorie ‚durch eine Erörterung der Wahrscheinlichkeit der Erhaltung gün- stiger Varianten begründet. Es hat mich sehr gefreut, wie ent- schieden und überzeugend er den Einwand G. Wolff’s gegen die Selektionstheorie zurückgewiesen hat. Nun möge er mir aber ver- zeihen, wenn ich versuche, auch den seinigen zu entkräften! Dieser besteht in der These, dass „die Zahl der Nichtvarianten . . . diesen die unbedingte Überlegenheit über die einzelnen Vari- anten gibt“. Ich halte die These für irrig. Kranichfeld geht in dem Beispiele von dem Störei, durch das er seinen Gedanken erläutern will, von der Annahme aus, ın einem Störsatz von 2000000 Eiern befinde sich ein Ei, das gegen eine bestimmte klimatische Gefahr, die bis dahin 5°, der Brut ver- 16 Kossmann, Die Erhaltung günstiger Varianten. nichtete, durch eine komplizierte Einrichtung geschützt sei. Das ist eine sehr willkürlich ausgewählte Annahme. Wenn jene klima- tische Gefahr — nehmen wir an, eine 5 Tage währende Aus- trocknung oder Abkühlung auf minus 2° oder dgl. — nur 5°/, der Eier des Satzes vernichtet, dann sind doch wohl höchstwahrschein- lich die übrigen 95°/, des Satzes ebenfalls gegen diese Gefahr ge- schützt gewesen. Dass in solchem Falle das eine Kranichfeld’sche Ei keine besonders günstigen Chancen hat, zumal, wenn es seinen Schutz einer besonders komplizierten Einrichtung verdankt, liegt wohl auf der Hand. Ohne diese Besonderheit gehört es schlecht- hin zu den 95°/, Nachkommen, von denen der Wahrscheinlichkeit nach noch 93°/, durch andere Gefahren vor der Fortpflanzung ver- nichtet werden. Mit einer komplizierten Einrichtung, durch die es sich von allen Geschwistern unterscheidet, ist es ein Monstrum, und fast immer wird der Vorteil, den eine Monstrosität in gewisser Richtung allenfalls bieten kann, durch erhebliche Mängel in der Harmonie der Organisation mehr als ausgeglichen. Bei der künst- lichen Züchtung kann der Mensch gelegentlich die hierdurch be- dingten größeren Gefahren ausschalten und aus einem so aber- ranten Individuum eine Varietät züchten; ın der Natur sind die Chancen dafür aber außerordentlich gering. Diese Überlegung ist nun nicht etwas Neues, sondern Dar win selbst hat schon in seinem ersten Werke geschrieben: „He (man) often begins his selection by some half-monstrous form; or at least by some modification prominent enough to catch the eye... Under nature, the slightest differences of structure or constitution may well turn the nicely-balanced scale in the struggle for Iife and so be preserved.“ Auf Deutsch: Der Mensch beginnt mit seiner Zuchtwahl oft bei einer halbmonströsen Form; oder wenigstens bei einer Ab- weichung, die auffällig genug ist, das Auge auf sich zu ziehn.... Bei dem natürlichen Verlauf dagegen können die geringfügigsten Unter- schiede im Bau und in der Körperbeschaffenheit sehr wohl die ge- nau im Gleichgewicht schwebende Wagschale im Kampfe ums Dasein zum Ausschlagen bringen und so am Leben erhalten werden.“ Der wirkliche Selektionstheoretiker — und diesen will doch Kranichfeld widerlegen, nicht aber eine kleine Gruppe von Pseudo- Darwinisten — rechnet also mit den minimalen Verschiedenheiten, die sich zwischen allen Gliedern einer Generation finden. Nehmen wir demnach, um uns Kranichfeld möglichst anzupassen, irgend eine im Wasser lebende Tierart — es braucht nicht gerade der Stör zu sein — an, die 2000000 Eier ablegt, und unterstellen wir weiter, dass diese Eier eine Trockenlegung durchschnittlich 5 Tage lang ertragen, ohne ihre Entwickelungsfähigkeit einzubüßen, so ist Kossmann, Die Erhaltung günstiger Varianten. 17 das erfahrungsmäßig nie so zu verstehen, als wären sich 1999999 Eier in dieser Hinsicht völlig gleich, eins dagegen weiche darin völlig ab und hielte z. B. eine Trockenlegung von 10 Tagen aus. Viel- mehr würde uns die Erfahrung lehren, dass etwa 80000 Eier 4 Tage 12—13 Stunden, 80000 Eier 4 Tage 13—14 Stunden, 80000 Eier 4 Tage 14—15 Stunden u.s.f., schließlich 80000 Eier 5 Tage 12 Stunden Trockenliegen aushalten. Handelt es sich bei dieser Eigenschaft überhaupt um einen Vorteil, d.h. kommen solche Schwankungen des Wasserspiegels, bei denen die abgelegten Eier ins Trockne geraten, in einem größeren Verbreitungsgebiet jener Tierart häufiger vor, so werden notwendigerweise die gegen Trocken- heit empfindlicheren Eier häufiger zugrunde gehen, als die minder empfindlichen. Das dafür maßgebende Zahlenverhältnis hängt von der jeweiligen Dauer der Trockenlegung ab. Beträgt sie z. B. 4 Tage 17 Stunden, so gehen 400000 Eier durch Austrocknung verloren, während 1600000 erhalten bleiben. Unter diesen und den daraus entwickelten Tieren räumen nun die mancherlei anderen Gefahren auf. Da aber nur noch 520000 mit unterdurchschnittlicher, 80000 mit durchschnittlicher, dagegen 1000000 mit überdurchschnittlicher Widerstandsfähigkeit gegen Austrocknung vorhanden sind, so ist es erheblich wahrscheinlicher, dass schließlich Individuen mit über- durchschnittlicher Widerstandsfähigkeit zur Fortpflanzung erhalten bleiben und ihren Vorzug vererben. Kommt es aber vollends je einmal zu einer Trockenlegung von über 5 Tagen Dauer, dann bleiben sogar sicher nur Individuen von überdurchschnittlicher Widerstandsfähigkeit erhalten!). Diese Überlegung gilt aber keineswegs nur für Eigenschaften, deren Wert sich in einer sehr frühen Entwickelungsphase geltend macht, sondern wir können sie ebensowohl für eine solche durch- führen, die sich erst beim Fortpflanzungsgeschäft selbst bewährt. Nehmen wir z. B. an, es sei bei einer Tierart, bei der sich das Weibchen dem Männchen möglichst entzieht, das Geruchsvermögen, mittels dessen dieses das Weibchen wittert, durchschnittlich für 100 m Entfernung ausreichend! Dann sind erfahrungsmäßig nicht 99 männliche Geschwister mit genau diesem normalen Geruchssinn und das hundertste mit einer „komplizierten Einrichtung“, die das Geruchsvermögen etwa verdoppelt, versehen, sondern dieses steigert sich bei den 100 Männchen etwa von 95—105 m (unter gleichen Windverhältnissen), so dass 10 Individuen auf 95—96 m, 10 von 96—97 m u. s. f. das Weibchen wittern. Haben nun schon vor Eintritt der Brunst andere Gefahren 50 der Männchen fortgerafft, 1) Statt der geradlinigen Progression in dem obigen Beispiel können wir na- türlich auch irgend eine Kurve, z. B. 20000, 30000, 40000 u. s. w. bis 120000, 140.000, 160000, 190000 u.s. w. zurück bis 20000 annehmen, ohne prinzipiell das Ergebnis zu ändern. XXVI. 2 18 ‚Henriksen, A Functional view of Development. so ist es doch wahrscheinlich, und bei sehr großen Vielfachen obiger Zahlen sogar sicher, dass unter den übrig gebliebenen gerade soviel due das aß dunchschnittliche, als das unterdurchschnittliche (Geruchsvermögen besitzen. Unter ihnen aber haben dann eben doch die mit dem überdurchschnittlichen Geruchsvermögen weit größere CUhancen, tatsächlich zur Fortpflanzung und damit zur Ver- erbung ıhres Vorzugs zu gelangen. Nur wenn der Vorzug von einem Nachteil in anderer Hinsicht untrennbar begleitet wird, modifiziert sich das Dargelegte, und dann wird niemand bezweifeln, dass der Vorzug für die Auslese bedeutungslos bleiben kann, A Functional view of Development. ') Everything in naturetends towardsastate ofequilibrium which is peculiar to itself. The questions of preformation and epigenesis are the first to attract the attention of the student of biology and I believe that many students have felt as Ihave when I say; that the speculative zoologists have gone further ın their speculation on germ plasm structure than can possibly be allowed from a scientific point of view. I further believe that many of our speculative zoologists often have forgotten the general tendencies indicated in all growing organism as well as the important factors of physiology and the effect of the external stimuli. And, therefore do the most of our theories and hypothesis laeve to the logician’s „Residue“ a larger number of facts than bear up their hypothesis or the continually beg the question till they become „Reductio ad absurdum“. It is not my object here to take up a discussion of the tech- nicalities of development but merely to indicate what seem to me to be the general tendencies in every developing organısm and to show that every developing organism tends toward an equilibrium peculiar to itself and possesses in some degree the power to restore any disturbance in this harmony. The first question which attracts the student’s attention in studying the development of organism is the immense potentialities of the egg and soon he learns that the size of the egg and the size of the organısm to which ıt gives rise have no relations to each other. Very often the smaller organism may arise from the larger egg and vice versa. He next asks himself the question what part of the germ cell is actually concerned in the formation of the new organism and he finds the eytologist’s answer that the nucleus is the important part and the chromosomes are the bearer of Heredity. He may 1) A paper read before the Zoological Club of Ohio State University. Henriksen, A Functional view of Development. 19 then ask how does the number and size of these correspond to the size of the developing organism and he receives a similar ans- wer as before. He finds that the smaller individual often develops from an egg possessing the greater number and the largest chromo- somes and then he is at ses. He may ask further in what lies the power of the egg to develop a certain kind and size of organism similar to that of the parent. They all possess the power of multiplication and therefore of nutrition and growth and the larger perhaps will develop into a mieroscopie organism and the smaller into one of our larger quadrupeds. He then begins to study about Determinants, Ids, and biophores, etc. So he leaves all these struc- tural theories and tries to find some general tendencies whose underlying causes may be hidden but its phenomena show themselves at every instance. The suggestion of certain causes here and there may creep out, but he has already learned that all previous theorizing has sooner or later fallen as the science of biology has advanced. He finds that the natural is more and more substituted for the supernatural, that the problem of life belongs perhaps to a science of which our physical sciences of to-day know but little. He has seen that out of the isolated science of Physics, Chemistry, Anatomy, Physiology and Paleontology one great science has arisen, 1. e., the science of Biology; but still the problem of life seems as far away as ever. As soon as some barriers have been torn down new ones arise. He finds that with our present know- ledge we can expect no real explanation of the phenomena of development. But with his previous knowledge he cannot help but ask himself, does a certain structure or combination always imply a certain function? and he draws analogous illustrations from his chemistry. His attention is first called to the fact that a. small change of structure may cause a great change in the nature of the substance. He knows that the oxygen molecule consists of two atoms and that of ozone of three and still how great a difference there is between these two substances, in the effect on other substances, i. e., in their potential energy. But still the same structure has the same function so even here he cannot have an analogous illustration of the potentialities of his various kinds of eggs. But when he takes an illustration from physical chemistry he finds the same substances have various physical states. He knows his hydrogen chloride dissolved in chloroform or benzine has no trace of acid properties and if dissolved in water is one of the strongest acids known. Thus he finds at least a ground to stand upon, and satisfies himseld that he has at least analogous cases in chemistry. He has already learned from his study of physiology that the structure of all living substances are eonstantly changing; where the process of metabolism is going on we find always the two processes, 1. e., that of anabolism and of katabolism taking place. Thus he finds that which peeuliarizes a certain tissue is its func- > [= 20 Henriksen, A Functional view of Development. tional activity, i1. e., the ability to form a protoplasm structure similar to that which has been broken down by the katabolie action or it differentiates it to form, at last, an organism similar to that of the parent. With this as a basis I shall endeavor to show that the theory of the structure of germ-plasm by our highly esteemed zoologist, Weismann, is unnecessary and when brought out in details is quite absurd, and that we have no right to claım that the egg is some kind of a mierocosm of the ontogeny and a shortened recapitulation of the phylogeny of the organism into which it develops. I shall endeavor to show that from the facts known we have no reason to believe the embryo is predelineated nor even singly prede- termined but all we can say is that the egg possesses the ability of forming the proper relations in the first cleavage so that the development, if undisturbed, may go toward establishing what I have called the equilibrium of the species, and that this equilibrium is peculiar to each species and even if disturbed it tends towards re-establishing it. But let us first try to define equilibrıum used in this way. The equilibrium of the species ıs that which determines the developing organısm to grow into an organism much like that of the parents. It is the result of the relations in the egg, blastomere, etc., and this depends primarily on its inherited functonol ability; secondarily, on proper environment and proper nutrition. The fertilization of the egg disturbs this equilibrıum within the egg and causes the cleavages, and this process goes on, establishing proper relations between the cells resulting in the production of the adult organısm. ‘Among the cells of the body ıt is caused by nutrition and the factors in the environment, as I will show later. It must be clear to every student of the phenomena of development that physiological relations are not broken by cell division, as I will also show later; that in many forms their position alone determines their destination; and that the prime factor of the ner- vous system is to establish these relations in the more highly organized anımals. The relations are the physiological interactions among the cells, or among the parts of the cell; in fact the latter is the all determining factor for establishing the relations between the bla- stomeres and thus in a progressive manner the organism reaches to a state of eqwilibrium peculiar to that of the species. That these relations may easily be disturbed and new relations estab- lished towards the equilibrium of the species we shall proceed to show, but let it first be kept clear in mind that they are by no means mechanical only, but that every fact of embryology shows them to be of a much deeper nature. The earlier cleavages of the gastropods, polyclades and annelids show wonderful similarity in forming three quartets of micromeres. If the relations were mechanical they should form similar structures in all of these animals but as we know such is not the case. They are peculiar Henriksen, A Functional view of Development. 21 to each species. That the establishment of the relations among the cells iss an adaptation is clearly shown in Prof. Frank R. Lillies leecture on Adaptation in cleavage of the Unio and annelids and among adult organisms it has given rise to the theory of organıc evolution. The relations are easily disturbed by separating the earlier blastomeres or removing parts of the organism and easily inhibited by change in the surroundings in which they develop. But before we proceed to ıllustrate this let us take one of the more striking cases in recent investigations in Embryology to show that we have no more right to assume that the three quartets above described were preformed in the egg than the lens of the eye is preformed in the epiblast opposite the optic vesicle of the embryo. It has been shown that if the optic vesicle is removed no lens deve- lops and the initiatory step toward the establishing of a lens will take place at any point on the surrounding epiblast with which the optie vesicle comes in contact. Thus we see clearly the optie vesicle is neccessary to establish those relations which later will give rise to others to form that complex organ, the lens of the vertebrate eye, and we have no right to assume that it was pre- formed in any part of the epiblast without begging the question in explaining the phenomenon on the basis of accessory biophors, ete. And just because the development of an organiısm proceeds by progressive steps one dependent on the other, instead of pre- formed in the egg, it becomes unavoidable that the embryology of the organism must be a shortened recapitulation of the phylogeny, it must possess some of the previous relations to establish the new ones. Thus the increase in phylogeny means a new adjustment to form slightly different relations and an elimination of those present so as to form only a few necessary steps of its phylogeny for the development of the new organs. They are the rudiments of its history. Thus, the organization of the egg means only the power to establish proper relations within the blastomeres, as well as between these, of the two-celled stage and these again proceed to establish other relations, ete., until the equilibrium of the species is reached in the full-grown animal; and the argument as you will see is based on the fact that if they are disturbed new relations are developed toward estahlishing this equilibrium. This unima- ginably fine adjustment no physical science has been able to explain and we can only imagine the possibility of it by considering how at present slight varıations or miutations arise and how they are adjusted on eliminated by the factors of organic evolution, and by considering the immense elapse of time which lies behind phylogeny as is shown in the \istory of our globe. The relations !.::omes more and more specific as the com- plexity of the deseloping organism increases, so that at a later stage no attempt of a small part of an organism, among the higher animals, can establish this equilibrium; it has lost the power of nutrition and growth and therefore it dies, Allow me again to 3 Henriksen, A Functional view of Development. emphasize that all we can say is that A gives rise Band B to © and the adaptation of A may give rise to a large and a small B. Neither should we forget that each part becomes differentiated by different kinds of nourishment, and ıf this ıs absent it cannot differentiate in a manner natural to its kind in order to develop bone, for ex. The chemical elements present in the bone must be taken ın as food. If the earlier blastomeres are separated the immediately tend to do away with the relations established when they were destined to become merely a part of an organism, and tend toward estab- lishing the relations necessary to produce the equilibrium of the species. This ıs not alone true of first cleavage, but it has been shown by Watarge that in some forms even one blastomere of the sixteen-cell stage may form a complete larva of but one sixteenth the size of the normal larva and one half blastomere forms a larva of but half the sıze of the normal one. This illustrates very clearly that outside of those factors already mentioned we have one factor common to all organısm, namely that each one possesses only so much growth energy as is necessary to produce a normally developed individual, and as this energy ıs divided into various parts, we find a corresponding decrease in size of the larva. We should also be aware of the fact that where we have unequal division as to size of the cells, as in the formation of micromeres, we find a corre- sponding relation in the division of this common factor, growth energy, as has been shown by isolating them and the resulting larvae have been of corresponding size. So we find ad least that the amount of substance .present seems to correspond to the amount of growht energy within the species. If we then take the.normal development of one of these forms we find that each blastomere, for ex. forms a definite part of the embryo as the study of cell Iinages has brought out very distinctly, but if they are separated each one will form a dwarf larva. There- fore in such a case, we can no more say that the egg is a micro- cosm of the adult than to take Darwin’s illustration, where he shows that the humble-bees are indispensible to the pollination of the heartsease (Viola trieolar) and the red clover (Trifohum repens), as no other bees can reach the nectar of these flowers. So if the humble bee became extinct or very rare in England the heartsease and the red clover would become rare or wholly disappear. The number of humble bees depends on the number of field mice which destroys their comb and nests and the number of mice depends on the number of cats to destroy the mice, and still more we could add Prof. Huxley’s sarcastic remark that the number of cats depend on the number of old maids and thus to a great extent the welfare of the English people depend on the number of old maids found in England. This is the conclusion drawn 'by studying a series of relations but no one would 'dare to say that in the eats we must have some kind of a microcosm of the elover and heartsease, although the number of these are Henriksen, A Functional view of Development. 23 dependent on the number of cats. The parts of the organism are what they are because of their relation of other parts in their common object to establish the equilibrium of the species. No more can we say it lies within the structure of the chromosomes because our most careful plant and anımal eytologists have shown that in the cleavage division part of the chromatıon substance in often lost. All we can say is that the egg possesses the vital growth energy as a common factor and an organization which enables it to start progressive relations towards the deve- lopment of the adult form, in establishing this equilibrium. Let us first apply this to individual cells and later to the embryology to see whether experimental methods have approved of the above hypothesis or whether we have to assume a structural basıs of heredity. From this view of development the multiplication, the asexual reproduction, among the protozoa, to be understood only ın a general way, is due to the fact that the process of growth has caused a state of equilibrium within the cell and by divison it is restored. We know already from experiments that non-nucleated frag- ments ofa cell may be fertilized by a sperm, and that an egg may be stimulated to develop by artificıal means, in both cases a per- fect larva results but of only half the size of the normal one. These experiments show that no fusion of two muclei are neces- sary to start embryologie development, but that it takes a stimulus of some kind to start it to activity and cause a flowing of the eytoplasm which results in a state of inequilibrium whereby cell division is brought about. We will now see whether we have any direct evidence that such a relation exists between the parts of the eg8, and we could choose no better illustration for this than Boveri’s remarkable experiments on dispermie, double fertilized eggs from which he concludes that it is not only the number of chromosomes which is the important factor but the organization the functional capacıty of these are of absolute importance for normal development. That the relations are disturbed when even only a part of the cytoplasm is removed from the egg has been shown by Prof. E. B. Wilson, Driesch and Morgan especially on the eggs of the ctenophores so as to give rise to a defected larva but nevertheless ıt tends to establish the equilibrium by healing the wound. This shows that the removal of the cytoplasım from one side of the egg disturbs the development of the cells which arise from that side but it must here be emphasized that no attempt has been made to dispute that we can trace the various parts of the larva back-to certain blastomeres as has been shown in numerous forms only that it is not predetermined except by its relations to other parts. Another beautiful illustration of the fine adjustment within the egg is shown by the alternating dexio — and laeo — tropie position “of the spindle as shown in many eggs of determinate cleavage. 24 Fühner, Notizen zur Biologie von Convoluta roscoffensis Graff. Il will take one more illustration of the relations of the parts of the egg as shown by Sutton and Montgomery’s paper on the individuality of chrosmosomes, where the chrosmosomes are of different sizes they always found them in pairs of similar size. These cases I believe will indicate what organization of the egg means from the view of development given above and as it has already been defined. (Schluss folgt.) Notizen zur Biologie von Convoluta roscoffensis Graff. Von Dr. Hermann Fühner, Wien. Convoluta roscoffensis Graff ist ein mehrere Millimeter langer, durch symbiotisch oder parasitisch in seinem Parenchyn lebende Algen grasgrün gefärbter Strudelwurm (Turbellaria, Acoela). Die Tiere kommen an der französischen und englischen Küste des Kanals La Manche vor und leben in Kolonien zusammen in einer Zone, welche zur Flutzeit unter Wasser ist. Fin bis zwei Stunden nach Ein- setzen der Ebbe kriechen sie an die Oberfläche des sie beherbergen- den Sandes und bedecken namentlich bei sonnigem Wetter oft große Flächen mit einem grünen Überzug. | Convoluta roscoffensis ist, wie die meisten Turbellarien, an ihrer Körperoberfläche mit zahlreichen Wimpern besetzt. In ihrem Kopf- ende befindet sich ein Hirn, von dem ausgehend mehrere Längs- nervenpaare den Körper durchziehen. Im Vorderende ist außerdem eine Statocyste genannte Kalkkonkretion, welche als Sinnesorgan angesehen wird und nach Delage (1) der Orientierung bei der Fortbewegung dient. Biologisch interessant sind die Tiere einmal durch ihre hervor- ragenden, von Geddes (2), von Graff und Haberlandt 6) und Gamble und Keeble (4) studierten Taxen (Tropismen) und dann durch ihre bedeutende Resistenz gegenüber Schwankungen des osmotischen Druckes. Bringt man Convoluten in ein Glas mit Seewasser, so sammeln sie sich zunächst am Grunde des Gefäßes, kriechen nach einiger Zeit nach der dem Lichte zugekehrten Seite desselben (Phototaxis) und dann an der Seitenwand des Glases in die Höhe (negative Geotaxis). Erschüttert man jetzt das Gefäß, so lassen sich die Tiere zu Boden sinken (positive Geotaxis), um bald wieder von neuem in die Höhe zu kriechen. Phototaxis und negative Geotaxis treten beim normalen Tiere gleichzeitig in Erscheinung. Ich fand, dass sich die eine oder andere Funktion experimentell ausschalten lässt. Bringt man ÖConvoluten in eine Mischung von 30 Teilen Seewasser mit 70 Teilen Regen- wasser, so sieht man durch längere Zeit hindurch makroskopisch keine Veränderung an ihnen. Die Tiere bewegen sich normal am Fühner, Notizen zur Biologie von Convoluta roscoffensis Graff. 35 Grunde des Gefäßes und orientieren sich auch nach wie vor nach dem Lichte, aber sie haben ihre negative Geotaxis verloren, sie kriechen nicht mehr an der Glaswand in die Höhe. Nach Gamble und Keeble ist die negative Geotaxis an das Vorhandensein der Statocyste gebunden. Tiere ohne solche kriechen nicht in die Höhe. Ein Verschwinden der Statocyste bei meinen Convoluten konnte ich nie beobachten. Immerhin ist eine Schädigung der feineren Struktur dieses kalkreichen Organes beim Verbringen der Tiere in das mit dem kalkfreien Regenwasser verdünnte See- wasser sehr wahrscheinlich. Anders als hier verhalten sich Convoluten, welche man in eine Lösung von 1,5 g absolutem Alkohol in 100 eem Seewasser ver- bringt. Da beobachtet man, dass dieselben nach einiger Zeit voll- ständig ihre Phototaxis eingebüßt haben, dass sie aber noch immer an der Gefäßwand in die Höhe kriechen, nur eben nicht allein an der dem Lichte zugekehrten Seite, sondern rings herum am Glaset). Die Tiere, welche in das verdünnte Seewasser verbracht waren, wurden in ihren mineralischen Bestandteilen geschädigt; damit steht im Zusammenhang das Verschwinden der negativen Geotaxis, beruhend auf dem Ausfall der Tätigkeit der Statocyste, eines Sinnesorganes, dessen normales Funktionieren wahrscheinlich an einen bestimmten Kalkgehalt gebunden ist. Anderseits weist die Tatsache, dass die Phototaxis in dem ver- dünnten Seewasser nicht aufgehoben, dass sie hingegen durch die Alkohollösung eliminiert wurde, darauf hin, dass der Sitz dieser Funktion bei Convoluta roscoff. das Nervensystem ist?). Obenerwähnte Mischung von 30 Teilen Seewasser mit 70 Teilen Regenwasser stellt schon eine sehr bedeutende Verdünnung des Seewassers dar; von einem ursprünglichen Salzgehalte von 3,6°7, auf einen solchen von 1,08°,. In dieser Mischung bleiben die Tiere mehrere Tage am Leben. Doch die Algen in ihrem Paren- chym zeigen bald eine ganz unregelmäßige Verteilung und werden auch z. T. aus dem Körper ausgestoßen, so dass einzelne Tiere oft kaum mehr grün erscheinen. Verbringt man die Convoluten aber erst in Lösungen, die auf 100 Teile 50, dann 40, dann 35 Teile Seewasser enthalten, so kann man sie in acht bis zehn Tagen derartig anpassen, dass sie in der Mischung 30 + 70 noch negative Geotaxis zeigen, 1) Hier sei die Beobachtung von J. Loeb (5) erwähnt, dass gewisse Crustaceen, welche normal negativ phototaktisch sind, durch Alkohol (auch durch Äther, Chloro- form, Säuren) positiv phototaktisch werden. 2) Das Nervensystem ist durch seine Lipoidhülle (Cholesterin, Lecithin) gegen osmotische Druckdifferenzen geschützt, nicht aber gegen das Eindringen fettlösender Substanzen (Alkohole, Ather). 260 Artom, Ricerche sperimentali sul modo di riprodursi. Mischungen von gleichen Teilen Seewasser und Regenwasser, und auch solche von 40 Teilen Seewasser und 60 Teilen Regen- wasser ertragen die Tiere ohne weiteres. Mischungen, welche 20—25 Teile Seewasser auf 100 Teile enthalten, sind die äußersten Verdünnungen, in denen die Tiere, noch einige Stunden am Leben bleiben. Genannte Verdünnungen enthalten 0,72 — 0,9°/, Salze. Diese Tatsache gewinnt vielleicht an Interesse, wenn man daneben stellt, dass nach eimer Überlegung von Quinton (6) m dieser Höhe der Salzgehalt der primitiven Ozeane gewesen sein dürfte, und dass, vielleicht hiermit in Zu- sammenhang, das Blutserum der höheren Wirbeltiere heute noch diesen Salzgehalt besitzt. In Verdünnungen, welche nur 10—15°/, Seewasser enthalten, hört bald jede Bewegung der hierein verbrachten CGonvoluten auf; sie werden undurchsichtig und zeigen rapiden Zerfall. Bei diesem raschen Absterben der Tiere macht sich — am stärksten, wenn man sie direkt mit Süßwasser übergießt — ein penetranter Geruch be- merkbar, welcher an Phosphorwasserstoff, aber durchaus nicht, wie in der Literatur angegeben, an T'rimethylamin erinnert und viel- leicht durch eine flüchtige, organische Schwefelverbindung bedingt ist. Da der Geruch nach Phosphorwasserstoff nur im Momente des Absterbens bei den Tieren zu beobachten ist, kann er als Schutz- mittel kaum in Betracht kommen. Ebenso restistent wie gegen eine Verminderung des osmotischen Druckes ist Oonwoluta roscoff. auch gegen eine Steigerung desselben, so dass die Tiere fast vollständiges Eintrocknen in Seewasser über- stehen können. Literatur. 1. Delage, Y. Sur une fonction nouvelle des Otocystes comme organes d’orientation locomotrice. Arch. Zool. exp. 2 ser. T. V. Paris 1887. 2. Geddes, P. Observation on the Physiology and Histology of Convoluta Schultzü. Proced. R. Soc., London 1879, S.. 449—457. ‚von Graff: Turbellaria acoela. Leipzig 1891. . Gamble, F. W. & Keeble, Fr. Bionomies of Convoluta roscoffensis. Quart. Journ. of mieroscop. scienee. T. 47, London 1903. 8. 363—431. . Loeb, J. The Control of heliotropic reactions in fresh water crustaceans by chemicals, especially CO,. University of California Publications, Physio- logy. . vol. II, 1904. 8.1. 6. Quinton, R. L’eau de mer milieu organique. Paris 1904. S. 446. Roscoff, Laboratoire zoologique. August 1905. ya oo {eb} | Ricerche sperimentali sul modo di riprodursi dell’ Artemia salina Lin. di Cagliari. Del Dott. Cesare Artom, assistente presso l’Istituto di Zoologia e di Anatomia comparata della Regia Universitä di Cagliari. La partenogenesi dell’Artemia salina fu dimostrata speri- mentalmente dal Siebold nel 1873 su materiale proveniente da Artom, Ricerche sperimentali sul modo di riprodursi. a7 Capodistria presso Trieste. Siebold dimoströ inoltre che le due qualita di uova che producono le Artemie, le uova subitanee, e le uova durature, sono partenogenetiche (6). Il riprodursi per mezzo dı embrioni (o uova subitanee che si sviluppano entro il sacco ovarico) e per mezzo di uova durature (che vengono deposte), @ un fatto comune a tutte le Artemie, sia ‚a quelle d’America (lago dı Utah) (4), sia a quelle di Europa, sia a quelle dell’ Asıa (Molla Kary) (3). Tale fenomeno della viviparitä e dell’oviparitä non avviene pero per tutte le Artemie delle varie localıtä nella medesima epoca. Cosi per esempio "’Artemia salına di Cagliari & esclusi- vamente vivipara durante l’'inverno e parte della .primavera (1), mentre ’Artemia di Marsiglia, di Capodistria, a quel che appare daı datı di Joly (2) e di Siebold (6), & durante le predette stagioni esclusivamente ovipara. Ma un’ altra profonda differenza distingue le Artemie di Lymington (Inghilterra), dı Odessa, del lago no dı Utah (America) e infine dı Cagliari (per tacere di altre wel, dalle Artemie di Marsiglia, di Capodistria, di Margherita di Savoia (Puglie) "), di Molla Kary (Mar Caspıo) e di hei luoghi ancora. Nelle prime ı maschi sono sempre presenti e piü o meno abbondanti, nelle se- conde invece qualche rara volta si trovö un maschio o due su ogni migliaio di femmine; quasi sempre non se ne trovö neppure uno solo quantunque : venissero esaminate migliaia di esemplari e in epoche diverse. In Cagliarı i maschi d’Artemia sono abbondantissimi durante tutto l’anno e a qualunque salsedine, spesso persino - prevalenti in numero sulle femmine. La seguente statistica su un totale di eirca 3600 individui venne fatta allo scopo dı constatare se la salsedine e la stagione e ser- citassero un influenza sia sul numero dei maschi, sia sul numero degli accoppiamenti. Di questi non si & tenuto calcolo per le sal- sedini di 11°, di 19°, di 21°, dı 27° B, perche al momento dell’ esame erano gia trascorsi cinque mesi da che detto materiale era stato raccolto e messo in alcool, cosi che parecchi maschi al momento della cattura, forse avvinghiati alle femmine, non erano piü a queste uniti al momento dell’ esame. . Attendibili invece debbono ritenersi ı risultati riguardo al numero 1) Sento il dovere di esprimere la mia viva riconoscenza al direttore delle saline di Cagliari, un appassionato e distinto naturalista ’Ingegnere G. Granata, per avermi reso facile in tutti i modi lo studio dell’ Artemia salina di Cagliari e per essersi adoperato con squisita e premurosa gentilezza a farmi avere in Cagliari un copiosissimo materiale di Artemie di Margherita di Savoia. Al distinto per- sonale di queste saline esprimo pure i miei vivi ringraziamenti per la solerte dili- genza colla quale raccolsero, prepararono e mi inviarono in Cagliari detto materiale. 28 Artom, Ricerche sperimentali sul modo di riprodursi.' delle coppie per le altre concentrazioni, avendo avuto cura di esa- minare il materiale il giorno stesso in cui era stato raccolto. Non sı & poi tenuto calcolo nella- seguente tabella delle Arte- mie delle acque poco concentrate, perch®, non essendosene potuto raccogliere che in quantitä assai limitata, non sı poteva su questo fare una statistica con un grado sufficientemente elevato di atten- dibilitä, come invece si & potuto fare per le Artemie raccolte in grande quantitäa nelle forti concentrazioni. I numeri in capo della tabella indicano ı gradi dı salsedine all’ areometro Beaum& delle acque in cui venne raccolto ıl materiale. Al disotto di questi numeri sono posti tutti i dati relativi a cias- cuna salsedine. Nella prima parte della tabella sono riferiti ı dati assolutı. Nella seconda parte i datı sono resi comparabili tra loro essendo tutti relativi ad una quantıtäa fissa (100 individui). | Salsedine espressa in Gradi B. | 319 | 190 21°] 27°] 160 20° | 22° | 25° NT a: \ . | Data della raccolta dei materiale Indieazioni su di un totale di (er { ORQA ; a8 . — = = =$ 1ıD Ye) Ye) I Ye) 3584 individui | Sie Sr s| Selm Nr - um | EI ae - - ri In) gersagsteitssseseesr EDS RER EBEN en air Te > E a S S S ©) m 9 | 8 3) | A aperee © (dei maschi 222. 1184 [424 | 230.) 150| 137 | 350 | 118.| 100 [170 © delle femmine . . . . [211 | 151 | 142 | 143 | 163 | 285 | 175 | 120 |330 3 \ totale degli individui esaminatı . 1395 | 575 | 372 | 293 | 300 | 635 | 293 | 220 1500 Aiil’delle'coppie..: NE. Me 821200|100 | 501 60 | 2 LT MER 27| 32,| 3423/12 = Ei \Femmine , . . | Ra 12 =,) Non accop- jMaschi. . . . | 19| 23) 6| 23 ni et piati \Femmine . . . | 27. 2131107201] 31009 © | S | us com- ‚Maschi. . . . || 47| 74| 62| 51| 46| 55| 40| 46| 341 = plessivamente |} Femmine 53| 26| 38| 49| 54| 45 | 60| 541 664 2 | Risulta dalla precedente tabella: 1°. Che i maschi sono sempre abbondanti, soventi preva- lentı sulle femmine. In linea generale si puö ammettere che i maschi di Artemia sono in Cagliari leggermente prevalenti in numero sulle femmine, Artom, Ricerche sperimentali sul modo di riprodursi. 29 Da una media generale infatti sui 3583 individui esaminati, rısulta una percentuale dı 52 maschi ogni 100 esemplari. 2°, Che la proporzione tra ilnumero dei maschi e quello delle femmine & tutt’altro che costante. A 19° B. notiamo infatti un maxımum di 74 maschi su 100 esemplari, a 25° un minimum dı 34 maschi su 100 esemplari. Il dire con sicurezza quale sıa la causa della prevalenza o della diminuzione dei maschi in confronto delle femmine, non & possibile. La stagione non pare che abbia su ciö alcuna influenza perche sı constata un numero elevato di maschi sia nel mese di Marzo, sia in quello di Giugno. @Quanto alla salsedine si constata, & vero, la percentuale piü bassa dı maschi (34 maschi su 100 esemplari) ad una concentrazione elevata (25° B.), ma in modo certo non si puö affermare che ad una forte concentrazione corrisponda costantemente una diminuzione nel numero dei maschi, perch@ a 27° notiamo nella statistiea una percentuale abbastanza elevata di maschi (51 su 100). Aı dati perö relativi al materiale raccolto a 27° bisogna dare un grado di attendibilitä minore che a tutti gli altri. perche la elevata concentrazione di 27° fu raggiunta entro una specie di grande pozzanghera in poche settimane causa la forte evaporazione, mentre gradatamente (trattandosi di un vastissimo bacino) e giä parecchi mesi prima dellaraccolta del materiale, era stata raggiunta la salsedine di 25°. Non € perciö improbabile che la elevata salsedine, se agisce prolungatamente, dıminuisca la percentuale dei maschi, il che con- corderebbe, come vedremo, colle osservazıone dello Schmankewitsch sull’ Artemia salına dı Odessa. 3°. Che il numero degli accoppiamenti va diminuendo nelle elevate salsedinı. Cosi vediamo nella statistica un maximum di accoppiamenti a 20° (34 su ogni 100 individui) ed un minimum a 25° (12 accop- piamenti ogni 100 individui). La causa dı ciö & dovuta anzitutto al fatto che a 25° troviamo un minor numero di maschi; ed & naturale che ed una forte pre- valenza dı un sesso sull’ altro debba corrispondere un minor numero di accoppiamentıi. In secondo luogo conviene notare che in realtä le elevate con- centrazioni non sono favorevoli alla vita e allo sviluppo dell’ Arte- mia, la quale trova le condizioni dı vita migliori ad una salsedine che non oltrepassi i 20°. E siccome bisogna ritenere che il numero degli accoppiamenti & tanto maggiore quanto migliori sono le condi- zioni nelle quali vive l’Artemia, cosi appare evidente che un’ elevata salsedine, in cui ’Artemia puö vivere, ma non prosperare, non favorisce gli accoppiamenti come invece pare gli favorisca una media salsedine. 30 Artom, Ricerche sperimentali sul modo di riprodursi. (uanto alle altre localitä, abbiamo giä detto che i maschi di Artemia si trovano pure a Lymington ove furono notati e de- scritti dallo Schlosser sin dal 1755 e cosi ad Odessa. Ma quivi non pare che sieno cosi numerosi come in Cagliari e pare inoltre che il loro numero tenda a diminuire nelle elevate concentrazioni. Difatto lo Schmankewitsch (5) p. 469 vi trovö sei maschi su sediei esemplari nella varietä dı Artemia che vive nelle basse concentra- zioni ed aggiunse di non avere mai trovata una cosi elevata percen- tuale di maschi nelle altre varietä dı Artemie delle alte concen- trazioni, sebbene in una nota a pag. 469 (5) riferisca di avere trovato presso Sebastopoli in acque poco concentrate Artemie dı cui la meta erano maschı. I dati dello Schmankewitsch sono perö cosi incompleti ed anche contradditori, che su essi conviene fare le piü ampie riserve; e l’affermazione stessa che ’Artemia di Odessa & partenogenetica per quanto esplicita (4) pag. 110, non pare suffragata da esperienze sufficientemente rigorose. Quando alle Artemie del lago salato dı Utah, non abbiamo dati per giudicare quale proporzione esista tra i maschi e le femmine, ma per quanto sı riferisce al loro modo di riprodursi sono. da menzionarsi glı esperimenti che il Siebold fece nel 1877 su Arte- mie nate in Monaco nel suo laboratorıio da uova inviategli dal lago dı Utah (7). Kglı dovette limitarsi a constatare che una di talı Artemie vergini aveva deposto uova durature. Si trattava di os- servare se tali uova si sviluppavano. Non mi consta pero che sia apparso il seguito delle osservazioni del Siebold. Risulta adunque che una dimostrazione rigorosa dell’ esistenza della partenogenesi nelle Artemie delle localitä in cui i maschı non sono rari, non & finora stata data. Mi parve dunque interessante ricercare se a Oagliarı in eui i maschi sono cosiı abbondanti e le copule cosi frequenti esistesse realmente la partenogenesi; tanto pi poi che si ammette generalmente che tutte le Artemie sieno partenogenetiche. Il 15 Febbraio 1905 isolai dieci embrioni femmine di Ar- temia. Tale operazione & resa assai facıle per il fatto che un carattere assai appariscente distingue il maschio dalla femmina: cioe il 2° paio di antenne & in esso trasformato in un poderoso organo di prensione, il quale compare assai precocemente: e quindi un occhio esercitato, auche senza lente, © in grado di distinguere tra embrioni di soli quindici giorni di vita, quali sono i maschi e quali le fem- mine. L’acquario di vetro in cui tali giovanı Artemie furono messe in osservazione, era di forma circolare, del diametro di circa quindiei centimetri e della profonditä di eirca sei. L’acqua vi era alta circa quattro centimetri; con la concentrazione di circa 12° B. ed era Artom, Ricerche sperimentali sul modo di’ riprodursi. 31 stata preventivamente sottoposta all’ ebollizione per 10 minuti, onde escludere in modo assoluto la presenza di spermatozoi vivi 0 di uova fecondate. Era stata poı convenientemente aerata. Come alimento per le Artemie fu scelto ıl somatose, estratto di carne, che per essere facılmente solubile nell’ acqua, sı presta molto bene per tale genere dı esperienze. Il 15 Marzo cominciarono a scendere le uova dalle ovaie entro lutero, ed alla fine dı Marzo tutte le giovanı Artemie vergini avevano l’utero con un certo numero dı uova bianchiccie, le quali vı rimasero assolutamente ımmutate nelle dimensioni e nel colore, fino all’epoca che immediatamente precede l’oviparitaä. Le Artemie fecondate invece, che durante tali esperimenti, non trascuravo di osservare, dopo una ventina dı giorni da che le uova erano discese dallo ovaie nell’ utero, dove erano andate a poco a poco erescendo ed assumendo una colorazıone rosea, par- torıivano in tale periodo continuamente embrioni vivi. Il 18 Aprile le ghiandole del guscio delle Artemie vergini incominciarono ad imbrunire, e conformemente a quanto giöo osservö il Siebold, all’ ıimbrunimento di talı ghiandole, segui ’ımbrunimento delle uova e quindi il fenomeno dell’ oviparıtä. Il 30 Aprile infatti le Artemie vergini incominciarono a deporre uova brunicce (uova durature) nell’ aspetto del tutto identiche a quelle che appunto in tale periodo di tempo vanno deponendo anche le Artemie fecondate. Le Artemie vergini deposero cosi uova durature sino al 6 Luglio giorno in cuı mori l’ultima dı tali Artemie. Le prime uova daliere deposte dalle Artemie vergini, furono isolate il 5 Maggio. Orbene non una di queste uova deposte prima ‘del 5 Maggio e non una su circa un migliaio dı uova non fe- date deposte gradatamente dopo tale giorno da Artemie vergini, si era sviluppata sıno al mese dı settembre. Allo scopo dı constatare quanto tempo intercede tra la de- posizione delle uova brunicce fecondate ed ıl loro schiudimento, vennero isolate alcune Artemie fecondate con l’utero gonfio di uova bruniccie in un acquario con acqua accuratamente filtrata. Provenendo dette Artemie da acque a 20° B., Y’acqua fu gradatamente diluita sino a 14° allo scopo di offrire alle uova fecondate anche riguardo alla salsedine, condizioni per quanto fosse possibile ugualı a neik offerte alle uova delle Artemie vergini. Il 30 Maggio le Artemie incominciarono a deporre le uova 'e seguitarono sino al 10 Giugno, ed ıl 28 Giugno da queste uova sı schiusero 1 primi et il 10 luglio la maggior parte di talı uova fecondate erano schiuse. Riepilogando in base a queste semplici esperienze, nol cCon- statiamo: 39 Artom, Ricerche sperimentali sul modo di riprodursi. 1°.Che le Artemie vergini dı Cagliarı isolate nel Febbraio non hanno dato durante circa cinque mesi di osservazione un solo embrione. 2°. Che tali Artemie vergini hanno ritenuto nel Marzo per 33 giorni immutate nel loro sacco ovarico le uova, mentre in tale periodo nelle Artemie fecondate le uova evolvono nell’ utero in pochi giorni ed & perciö assai attivo il fenomeno della viviparitä. 3°, Che su dı un migliaio di uova deposte da Artemie vergini in quattro mesi di osservazione, nessuna si & sviluppata, mentre la maggior parte delle uova fecon- date, messe approssimativamente nelle stesse condizioni di salsedine e messe nelle identiche condizioni di tem- peratura e di luce sı sono sviluppate in 28 giorni. In base a questi fattı ci & permesso conchiudere che: L’Artemia salina dı Cagliarı non & partenogenetica. Riassumendo ora in modo generale le osservazioni sull’Ar- temia salina die Oaglıari sı constata: 1°. Che ı maschi dell’Artemia salina di Caglıarı sono in linea generale prevalenti in numero sulle femmine. 2°, Che le Artemie di Caglıarı sono vivipare nell’ in- verno, quando invece le Artemie di molte localıta sono ovipare 3%. Che l’Artemia dı Cagliarı non & partenogenetica. Indicazioni Bibliografiche. 1. Artom, ©. Össervazioni generali sull’ Artemia Salina Leach delle Saline di Cagliari. Zoolog. Anz. Bd. XXIX, Nr. 9, 1905. 2. Joly, N. Histoire d’ un petit cerustac& (Artemia Salina Leach) auquel on a faussement attribue la coloration en rouge des marais salans mediterrandens, suivie de recherches sur la cause r@elle de cette coloration, Montpellier. Boehm et Comp. 1840. 3. Samter, M. et Heimons, R. Die Variationen bei Artemia Salina Leach und ihre Abhängigkeit von äußeren Einflüssen. Anhang zu den Abhand- lungen der Kgl. Preuß. Akad. d. Wissenschaften. Berlin 1902, 4. Schmanke witsch, W.I. Über das Verhältnis der Artemia Salina M. Edw. zur Artemia milhausenii M. Edw. und dem Genus Branchipus Schäff. Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XXV, 1875. 5. — Zur Kenntnis des Einflusses der äußeren Lebensbedingungen auf die Organi- sation der Tiere. Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XXIX, 1877. 6. Siebold, ©. V. Über Parthenogenesis der Artemia Salina. Sitzungsber. d. Kgl. Akad. d. Wissensch. zu München Bd. 3°, 1873. 7. — Über die in München gezüchtete Artemia Forkilis aus dem großen Salzsee von Utah. Verhandl. der 59. Jahresversammlung der Schweiz. naturf. Gesellsch. in Basel 1877. Cagliari Ottobre 1905. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Sy Bd. 46. Januar 1906. 2. Inhalt: Henriksen, A Functional view of Development (Sehluss). — Schimkewitsch, Die Mutations- lehre und die Zukunft der Menschheit. — Versluys, Uber die Konjugation der Infusorien. — Zacharias, Die Begründung zweier neuer Süsswasserforschungsstationen im Auslande. — Zacharias, Ein schwimmendes Laboratorium für marine Biologie. — Molisch. Die Licht- entwickelung in den Pflanzen. . A Functional view of Development. Everything in nature tends towardsastate of equilibrium which is peculiar to itself. (Schluss.) We will now discuss some of the experiments on the earlier embryological stages and see how they can be interpreted from this point of view. The faet that the growth energy is lessened in an arithmical ratio as to the part of the egg used, that is, if we use an isolated blastomere of the sixteen cell stage we get an embryo of one- sixteenth the normal size, and ifan isolated blastomere of the two-celled stage, or a non-nucleated part of the egg is fertilized by a sperm, or an egg by artıficial stimulation is made to develop; in all cases we get a larva of but half the size of the normal one, show that this growth-energy, which determines the size of the larva lies, in these cases at least, within the nucleus. But it is not always we can hold our stand and say that after separation each blastomere acts as a whole egg; but in every case we can say that changed relations, as separation, ofthe balstomeres tend toward establishing the equilibrium of the species. In other words the relations within the blastomeres of two or four cell XXVl. 3 A Henriksen, A Functional view of Development. stages seem often to be so firm that a longer period is necessary for each blastomere to adjust itself as an independent whole. Let us first take an illustration from experiments done on isolated blastomeres from the earlier cleavages of the ctenophore. It has been : demonstrated that isolated blastomeres of two, four and eight celled stages of many forms undergo at first a cleavage as they would have done if forming a part ofa complete embryo and give rise to defeetive larvae having only four, two or one swimming plate. But another question arises in this connection, namely, in how far ıs the equilibrium of the species established in this case. and we get the surprising result that although these swimming plates are reduced in number the larva is fitted for ıts function in Iife. It possesses all the parts of the embryo except the reduction in number, but the amount of growth energy is distributed among these parts; so the potentialities present are not sufficient to produce an adult anımal. If the blastomeres of the frog in a two-celled stage are isola- ted they may give rise to a ty pical half-morula and half-gastrula yet finally produce a perfect larva, thıs seems to show that the relation of the blastomeres were quite firmly formed to suit their companionship ın the development of the organısm but when separated was able, by degrees, to return to the equilibrıum of the species, so as to form perfect larvae and even here the proof seems to be that we had no preformation of either half but only that relations within the blastomeres were more firmly established. ‚But it should be remarked that the position in which the blasto- mere were flept had much to do with the results, so who knows what external influences may do in certain cases. As we soon will see from Prof. J. Loeb’s experiments, even a slight change may have the most disastrous result for the future embryo. Another illustration of this nature is that of Prof. E. B. Wilson on isolated blastomeres of the Dentalium. Here the relation within the blastomeres were firmly established and I be- lieve he states that they all give rise to defective larvae, but the smaller half by far the greater diffieulty has to establish the proper relations, due without doubt to the fact that it possesses less growth energy and slightly different relations. Even the above illustrations which I think are the most striking in favor of the theory of preformation of the embryo in the ‚egg in some form of mierocosm gives us no basis for such conclusions. The only way we can interpret such results is as given above that we have such relations within the egg, blastomeres, and all cells. It becomes a necessary conclusion drawn from the facts of embryology as I have already shown. That these relations within the egg are more firmly established in some cases than in others is not surprising but the fact that each blastomere will tend do develop as a complete larva shows its independence when liberated, and we should not forget that any experiment will naturally introduce a more or less deseased % Henriksen, A Functional view of Development. 35 condition and that developing organısms are extremely sensitive to external stimuli and that this sensitiveness varies greatly among the different kind of anımals. To show the more complex cases of the relations between cells and groups of cells, brought about by nervous action we could take numerous illustrations but I shall give only the fact that if the nerve is severed in a developing limb it immediately stops to develop and degenerates. Herbst described a case of a calf where a great part of the spinal cord did not develop and as a result the nerves were absent in many parts and inhibited the muscles in their development. Such an illustration shows clearly the importance of innervation in establishing the equilibrium of the species. We will now consider as briefly as possible regeneration of lost parts from our point of view, but it will become clear that the difference of this and those cases just discussed are rather of degree than kind. If we take illustrations from the lower animals we may cut them to pieces, as we did when separating the blasto- meres of earlier cleavages, and they will develop into adult forms but as we go up in the animal scale this power is completely lost as among the higher vertebrates. Of regeneration among larval form Driesch gives an interesting case where he bisected the gastrula of Sphaerechinus through the equator so that each half contained both ectoderm and endoderm. Both halves heal and from typical gastrula in which the enteron differentiates itself into three typical regions (fore, middle and hind gut) correctly propor- tionated, though only half the normal size. Can we possibly find a more beautiful illustration of the principles given above and against the preformation theory? To take up the disenssion of regeneration among the higher forms is impossible in the time allowed here; so I can do no better than quote Prof. ©. M. Childs conclusion to an article on regeneration ‘where he says: ”Experi- ments have shown that formative factors are many and various and generalizations from a single group of characters are unsafe . .. . All complex activities of which organisms are capable are “formative factors’ when we can view all of these in their complex relations and know the parts which each play, then and only then shall we ‘understand, organic form. The relations between form and here- dity has never been satisfactorily determined. With the advance in our knowledge the fact becomes more and more evident that an organism is not merely a complex of structural elements ready made by heredity for certain functional activities, but rather a complex of activities in consequence of which morphological struc- ture develop. Physical and chemical structures of protoplasm must not be confused with morphological structure. As regards the individual the former represents capaeities for activity in the broader sense, form in the morphological sense is the combined result of this activity and the environment external and internal. According to this view it is the functional capacity that is inherited IK .) 36 Henriksen, A Functional view of Development. rather than form, heredity is strietly speaking, a physiological and not a morphological problem.“ From the above we can see that the study of regeneration leads to a similar conclusion to those expressed ın this paper, namely, that the problem of development and heredity is not primarily a structural but a functional one, and this as I have tried to show may be referred to the egg just as well as to the embryological development. We have still two important factors to discuss in order to understand development, namely, environment and nutrition. I shall here but quote a few classical examples and leave a fuller discus- sion for some future time. Prof. J. Loeb bas shown that regene- ration and growth in many aquatic anımals depends to a great extent on the amount of water present in the cells. By bringing hydroids in more diluted sea-water than that in which they usually live, the rate of growth is increased. Sımilar results were gained by similar methods on developing eggs of sea urchins, star fishes, arthropods and various fishes.. That the amount of water and the intracellular pressure in these experiments varied with the concen- tratıon could be seen from the form of cleavage spheres. In nor- mal sea-water which was a little diluted by the addition of 10—20 percent of fresh water, the two first cleavages were merely hemis- pheres. In sea-water of higher concentration the first two cleavage- spheres became ellipsoidal in shape approaching more the sphere as the concentration was increased. When more than two grams of sodium cloride was added to 100 ce. c. of sea-water in a few hours plasmolysis took place and the surface of the protoplasm began to shrink irregularly. But by bringing the eggs back into normal sea-water the normal form was restored in a few minutes. Exactly similar results were gained when the temperature was raised and lowered. When we consider that the sea-water differs in concentration near the shore among the rocks, wıth that of other places as well as does the temperature at varıous depths, ete., we see at once the importance of produeing the exact conditions in density, tem- perature, pressure, and light in experimental embryology under which these anımals naturally develop in order to produce normally developed embryos. And still more are the external influences emphasized by Loeb’s experiments on artıfical production of parthenogenesis in sea urchin eggs by addıng a small amount of magnesium cloride to the sea-water. Still more strikımng changes are brought about by change of food. I shall here but give one illustration. If an embryo of a sea-urchin be made to develop in sea water containing no lime salts the larya fails to develop the calcareous skeleton. Such a result has its foundation in the first prineiple of physiology, namely, that no organısm can produce chemical elements in order to produce the calcareous skeleton. "The elements which go to make up this skeleton must be taken in as food and Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. IL therefore be present in a form where this becomes possible. It would be easy to take hundreds of similar illustrations to show how the absence of certain food affeets the normal development. But these few illustrations I hope will make it clear how important it is to consider all the factors which influence development in order to get a clue to the great biological question of heredity, the origin and causes in producing variations, and to get a plausible ‚working hypothesis for the phenomena of development. It lies within the realm of experimental embryology and physiology to reveal these causes. If these preliminary remarks should offer any suggestion in that direction my time would be well paid and in conclusion I may repeat that according to this view the adult organism is not predelineated nor singly predetermined in the egg but develops by progressive steps, one part dependent on the other to establish proper relations within the cells as well as among the cells and when properly nourished and in proper environment it will establısh the equilibrium of the species; ıt will form a body much lıke that of the parent. To this extremely fine adjustment no physical science can give us any clue. But let us say with Huxley „it marks where the vital tides have been and how they have acted.* Martin E. Henriksen. Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. (Vorläufige Mitteilung.) ') Von M. Schimkewitsch. I. Die Hypothese, auf Grund deren das plötzliche Auftreten mehr oder weniger bedeutender Unterscheidungsmerkmale der Arten zu- gegeben wird, und welche in neuerer Zeit zuerst von Korschinsky und darauf von de Vries nach Beobachtungen über die Entstehung von Variationen bei den Pflanzen entwickelt wurde, hat noch früher auch unter den Zoologen ihre Anhänger gehabt, so z. B. E.Geoffroy- Saıint-Hilaire, Kölliker, Bateson, Emery und viele Terato- logen. Ohne auf die Darlegung dieser Hypothese einzugehen, will ich mich mit zwei Fragen beschäftigen: 1. Sprechen die Ergebnisse aus dem Studium des Tierreiches ausschließlich zugunsten der ausnahmslosen Entstehung spezifischer Merkmale einzig und allein vermittelst plötzlicher schroffer Ver- änderungen oder Mutationen, wie dies von de Vries angenommen wird, oder wird man außerdem auch noch die Entstehung spezi- 1) Eine ausführliche Darlegung der nachstehenden Betrachtungen werde ich in der 3. Auflage meines Buches „Die biologischen Grundlagen der Zoologie“ folgen lassen. 38 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. fischer Merkmale durch langsame Anhäufung kleiner individueller Abweichungen zulassen müssen, wie dies von seiten Darwin’s ge- schehen ist? 2. Nimmt man die Möglichkeit beider Entstehungsarten spe- zifischer Merkmale als erwiesen an, so wird es sich darum han- deln festzustellen, welche von diesen Merkmalen auf dem Wege der Mutation, und welche auf .dem Wege langsamer Anhäufung kleiner Abweichungen entstehen. Obgleich wir noch keine festbegründete Klassifizierung der individuellen Abweichungen oder Variationen besitzen, so unter- scheiden doch fast alle Biologen zwischen kleinen individuellen Variationen, für welche ich die Bezeichnung Flexuation!) vor- schlage (kontinuierliche Variationen, fluktuierende Variationen der Autoren), und schärfer ausgesprochenen Variationen oder Mutatiönen nach de Vries (diskontinuierliche Variationen, sprungweise Varla- tionen der Autoren)?). Man wird demnach unterscheiden können zwischen normalen Abweichungen oder Variationen, welche wiederum in Flexuation und Mutation zerfallen, und anormalen Abweichungen, welche in Anomalien und Missbildungen zerfallen. Die Frage, ob sich die Flexuationen schon ihrer Natur und ihrem Wesen nach von den Mutationen unterscheiden, wie dies von de Vries angenommen wird, oder ob die Unterschiede zwischen diesen und jenen nur in der Größe der Amplitude der Schwan- kungen bestehen, und nur quantitativer und nicht qualitativer Natur sind, wie Weismann (1902) dies ausgesprochen hat — diese Frage kann allein auf Grund sorgfältigen Studiums beider Arten von Variationen beantwortet werden; einige indirekte Betrachtungen zugunsten der zweiten Lösung der Frage sollen weiter unten vor- geführt werden. Einstweilen bemerken wir, dass die Flexuationen, Mutationen, Anomalien und Missbildungen eine kontinuierliche Reihe von individuellen Abweichungen darstellen, deren Amplitude allmäh- lieh an Größe zunimmt, deren Häufigkeit des Auftretens dagegen abnimmt. Indem ich zu der oben aufgeworfenen Frage über die Rolle der Flexuationen bei der Entstehung der Arten zurückkehre, einer Frage, welche bis jetzt ebenfalls auf experimentellem Wege noch nicht entschieden worden ist, will ich einige indirekte Betrach- tungen mitteilen. Einem jeden Naturforscher, welcher sich mit Systematik beschäftigt hat, ist die Tatsache bekannt, dass eine 1) Abgeleitet vom Lateinischen: flectere. 2) Ich übergehe hier diejenigen Veränderungen, welche bei dem erwachsenen Organismus durch die Einflüsse äußerer Bedingungen hervorgerufen werden, oder die Modifikationen nach der Terminologie von Morgan (1897), indem ich deren Vererbung für mehr als zweifelhaft halte. Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 39 Abhängigkeit besteht zwischen der scharfen Charakterisierung einer Art und der Zahl von Individuen, welche ihm bei der Aufstellung der Art zur Verfügung standen. Diese Eigentümlichkeit macht sich bei der Aufstellung vieler Arten bemerkbar: so lange der Unter- sucher ein, zwei oder drei Exemplare vor sich hat, erweist sich die Art als ausgezeichnet und scharf charakterisiert („gute Spezies“ der Paläontologen). Nimmt jedoch die Zahl der Exemplare zu, so treten nicht nur Varietäten auf, sondern es verwischen sich auch die Grenzen zwischen diesen letzteren sowie die Grenzen zwischen der geplanten Art und den benachbarten Arten'!). Auf diese Weise tritt die These Buffon’s — die Natur kenne keine Arten, sondern nur die Gesamtheit von Individuen — deutlich und anschaulich zutage. Noch vor nicht allzulanger Zeit vermuteten die Faunistiker die erwähnte Neigung zu Schwankungen wäre nur wenigen Arten eigentümlich und zwar vorzugsweise den Arten der nördlichen Meere; allein als bei der Erbeutung von Vortretern der Meeres- fauna neue Methoden angewendet wurden, mit Hilfe derer die Vertreter einer Art nicht mehr in vereinzelten Exemplaren, son- - dern zu Dutzenden und Hunderten gewonnen wurden, hat es sich erwiesen, dass die Zahl der Schwankungen unterworfenen Arten viel größer ıst, als man dies vermutet hatte und dass diese Arten durch- aus nicht an irgend welche Lokalitäten des Erdballs gebunden sind. Sollte man wohl voraussetzen müssen, dass zwei, in der gegen- wärtigen Fauna durch eine Reihe unbedeutender Übergänge mit- einander verbundener Arten durch Mutation hervorgegangen sind, wo doch das Vorhandensein dieser Übergänge deutlich auf Flexuation hinweist? Letzteres erscheint natürlich wahrscheinlicher, wenn man nicht zugeben will, dass alle diese Übergangsformen durch Kreuzung ent- standen seien, — eine Voraussetzung, deren Annahme bisweilen durch die geographische Verbreitung der in Rede stehenden Arten unmöglich gemacht wird. 1) Ohne fernerliegende Beispiele heranzuziehen, will ich solche aus demjenigen Gebiete anführen, welches mir näher bekannt ist. Unter den Pantopoda mussten bei der Untersuchung einer großen Anzahl von Vertretern zwei Arten — Ühaeto- nymphon hirtipes (Bell.) und Ch. sp'wosum (Goodsir) —, welche sich in ihren extremen Formen scharf voneinander unterscheiden, miteinander vereinigt werden. Möbius (1902) tat dies auf Grund von 140 Exemplaren, während ich deren eine bedeutend größere Anzahl (aus der. Expedition von N. M. Knipowitsch) besaß und die Ansicht von Möbius nur bestätigen kann. Ebenso verschwindet bei einer großen Zahl von Individuen die Grenze zwischen Nymphon grossipes (Fabr.) und N. niztum (Kröger), zwischen N. strömüi (Kröger) und N. yracilipes (Heller). Allein hier war es noch möglich, N. nüxtum und N. gracilipes als Varietäten auf- recht zu erhalten, wie dies auch von einigen Autoren geschehen ist, während in dem ersteren Beispiel auch dieses schwierig erscheint. 40 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. Es unterliegt keinem Zweifel, dass nicht alle Arten Neigung zu solchen Schwankungen an den Tag legen, allein wir sind nicht imstande, zu entscheiden, ob dies darauf beruht, dass die Natur der Arten eine verschiedene ist, und gleichzeitig auch die Existenz- bedingungen sich voneinander unterscheiden (wie dies z. B. Mont- gomery [1896] und mit ihm viele Andere vermuten), oder aber darauf, dass diese Neigung mit einem bestimmten Alter der Spe- zies im Zusammenhange steht, wie dies aus den Ansichten Rosa’s (1903) hervorgeht. Beide Voraussetzungen sind logisch, d. h. man wird die Möglichkeit zugeben können, dass nur einzelne Arten variationsfähig sind und dazu noch in Abhängigkeit von den Existenz- bedingungen, oder aber dass diejenigen Arten, welche uns weniger variationsfähig erscheinen, diese Periode der Variabilität schon überlebt und sich fixiert haben. In bezug auf die Mutationen räumt de Vries die Möglichkeit ein, dass dieselben zu gewissen Perioden im Leben der Art beson- ders lebhaft an den Tag treten, wobei diese Perioden mit Perioden der Ruhe und des Stillstandes abwechseln. Bei der kurzen Zeit- dauer unserer Beobachtungen ist es einstweilen unmöglich, eine solche Periodizität nachzuweisen, allein dieselbe muss natürlich nicht nur in bezug auf Mutationen, sondern ebenso in bezug auf Variationen zugegeben werden. Wenn eine solche Periodizität in der Tat vorhanden ist, so ist dieselbe durchaus nicht allen Arten von Tieren eigentümlich. Obgleich die Periode der von der Mensch- heit angestellten Beobachtungen eine sehr kurze ist, so können wir dennoch bezüglich vieler großer Säugetiere behaupten, dass bei ihnen in historischen Zeiten eine Periode der Mutation nicht ein- getreten ist. Ebensowenig spricht die wunderbare Beständigkeit gewisser Arten, die so häufig die Aufmerksamkeit der Zoologen auf sich lenkte, und über welche wir sowohl nach den Abbildungen der alten Ägypter, als auch nach dem Auffinden dieser selben oder ihnen sehr nahestehender Arten in subfossilen oder selbst in fossilem Zustande urteilen können, — ebensowenig, sage ich, spricht diese Beständigkeit zugunsten einer allgemeinen Periodizität von durch Mutation hervorgerufenen. Veränderungen. Die Paläontologen haben schon lange hervorgehoben, dass einige Formen einen end- gültigen oder, nach der Termimologie von W. Kowalevsky, nicht- adaptiven Charakter aufweisen, und dass dieselben ihrer Natur nach wohl kaum weiteren Veränderungen progressiven Charakters unterliegen können. Zu solchen nichtadaptiven Formen rechnete W. Kowalevsky die Endformen der Huftiere, wie z. B. die Pferde. Es können demnach, von unserem Gesichtspunkte aus be- trachtet, die Voraussetzungen aufgestellt werden, durch welche der Umstand erklärt wird, warum die einen Arten variieren, andere Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 41 aber nicht: entweder steht diese Fähigkeit im Zusammenhange mit der Natur der Art, oder sie offenbart sich nur in einem gewissen Alter der Art, oder endlich sie tritt periodisch auf. Ebenso wie die Faunistiker häufige Beispiele kennen, wo eine Art mit einer an- deren durch kleine Übergänge in der heutigen Fauna im Zusammen- hange steht, verfügen auch die Paläontologen über derartige Bei- spiele unter den fossilen Formen, wobei diese Formen bisweilen in bestimmter historischer Aufeinanderfolge aufgefunden werden. Solche Beispiele finden sich hauptsächlich bei den Gehäusen der Mollusken (speziell z. B. bei den Ammoniten‘. Auf diese Seite der Frage hat bereits Scott (1895) in seinen Erwiderungen gegen Bateson hingewiesen, doch muss ich hinzufügen, dass im allge- meinen der Gesichtspunkt von Scott mit dem von mir vertretenen nicht übereinstimmt. In Anbetracht der augenscheinlichen historischen Aufeinander- folge dieser Formen wird es wohl kaum nötig sein auch für sie eine Plötzlichkeit der Veränderungen zuzugeben, wie es auch unter keinen Umständen zulässig ist, hier eine Entstehung von Verände- rungen durch Kreuzung anzunehmen, indem die extremen Formen in der Zeit ihres Bestehens sehr weit voneinander entfernt sein können. Alles Obengesagte bringt mich auf die Vermutung, dass beiderlei Prozesse — die Veränderungen der Arten durch Mutation und durch Flexuation — in gleicher Weise in der Natur vorkommen; allein einstweilen ist es uns ganz unmöglich zu entscheiden, welcher von beiden vorwiegt. Man wird auch zugeben können, dass ge- wisse Arten mehr zu der Mutation, andere mehr zu der Flexuation neigen. iR : 5 Es gibt jedoch einige Merkmale, welche unwillkürlich an eine Plötzlichkeit ihres Auftretens denken lassen, worauf schon mehr- fach hingewiesen worden ist. So sind die vierhörnigen Haustiere und vielleicht auch der ostindische Tetraceros quadricornis aller Wahr- scheinlichkeit nach durch plötzliche Verdoppelung der Hörnerzahl aus anderen Rassen entstanden. Es liegt überhaupt keine Not- wendigkeit vor Vermutungen anzustellen, wenn historische Beweise vorliegen. Nach den Angaben von Azara stammen die ungehörnten Kühe von Paraguay von einem ungehörnten, im Jahre 1770 ge- borenen Stiere ab und nach Öorne&vin (1891) ist in späteren Zeiten auf gleiche Weise die sizilianische Rinderrasse Angus entstanden. Kennel (1902) teilt die plötzliche Entstehung einer schwanzlosen Katzenrasse mit. Das Verschwinden eines Organs kann jedoch auf zweierlei Weise vor sich gehen: in dem gegebenen Falle sind die Hörner plötzlich verschwunden, allein dasjenige, was uns über das 42 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. Verschwinden der Augen bei den Höhlenbewohnern und den Tief- seebewohnern bekannt ist, spricht für ein allmähliches Eintreten dieses Verschwindens'). Durch die Untersuchungen von Eigennamen (1899, 1900 und 1902) ist nachgewiesen worden, dwss bei verschiedenen Formen verschiedene Teile des Auges einer Reduktion unterliegen. Unter den Knochenfischen werden bei einigen Formen die Sclerotica und die Muskeln erhalten, während der Glaskörper und die Linse ver- schwinden, bei anderen Formen dagegen verschwinden die Muskeln und die Sclerotica, während die übrigen Teile erhalten bleiben. Diese Erscheinung wird noch anschaulicher, wenn wir auch die Rundmäuler und Amphibien zum Vergleich heranziehen. Ebenso spricht auch die Vergleichung der verschiedenen Arten der Gattung Gymonomus unter den Decapoden zugunsten einer allmählichen Degradation der Augen wei diesen Formen (Kay Lankester, 1904), wobei bestimmte Stufen von Degradation an bestimmte Tiefen des bewohnten Wassers gebunden sind. Bezüglich der Höhlentiere gelangt Hamann (1896) zu dem Schlusse, dass hier die Augen gar nicht aus dem Grunde ver- schwunden sind, weil diese Tiere in der Dunkelheit wohnen, son- dern nur weil die Augen in Abhängigkeit von einer solchen Be- dingung ohne Schaden für die Art verloren gehen konnten. Es ist sogar nicht unmöglich, dass die Augen bei einigen Formen zu einer Zeit verschwunden sind, als diese letzteren noch an der Ober- fläche der Erde lebten. Dieselben Betrachtungen finden auch auf die Tiefseeformen Anwendung. Die Augen dieser letzteren unter- lagen nicht aus dem Grunde einer Reduktion, weil diese Formen in einer solchen Tiefe wohnen, wohin die Lichtstrahlen nicht mehr gelangen, sondern nur in Abhängigkeit von dieser Lebensbedingung. Die Ursache der Reduktion war jedoch wahrscheinlich, wie auch bei den Höhlentieren, im Innern des Organismus zu suchen. Allein diese Frage ist für unsere Zwecke von nur unter- geordneter Bedeutung. Von Wichtigkeit ist der Umstand, dass die Augen allem Anscheine nach emer allmählichen Reduktion unter- lagen. Andererseits lässt sich die Voraussetzung unmöglich von der Hand weisen, dass die Augen bei emigen Formen auch plötz- lich, infolge Auftretens anomaler augenloser Formen, verschwinden konnten. Mit anderen Worten: ein und dasselbe Merkmal konnte allmählich auftreten, aber es konnte auch plötzlich erscheinen. Ist es nun schwer sich die allmähliche Entstehung vierhörniger Rassen vorzustellen, so ist andererseits die Entstehung augenloser 1) Diese selbe Abhängigkeit von der Mutationstheorie behandelt auch Weis - mann in seinen „Vorträge über Deszendenztheorie‘“ (1902), wenn auch von einem anderen Gesichtspunkte aus. c Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 43 Formen sowohl auf allmählichem wie auch auf plötzlichem Wege wohl denkbar. Das Verschwinden des Weisheitszahnes bei den Menschen, den Gibbons und dem Schimpanse, welcher bei dem Menschen die ver- schiedensten Schwankungen — angefangen von dem wohlgebildeten Zahn bis zu einem einfachen konischen, bisweilen gar nicht durch- brechenden Gebilde — aufweist, vollzieht sich ebenfalls allmählich vor unseren Augen. Aller Wahrscheinlichkeit nach vollzog sich auch ebenso allmäh- lich das Verschwinden des dahinterliegenden vierten Backenzahns (Zuckerkandl, 1891), welcher in Gestalt einer Anomalie bei dem Menschen und ebenso auch bei dem &orilla und Schimpanse noch zum Durchbruch kommt (Selenka, 1898 und 1899). Andererseits kann aber auch das plötzliche Verschwinden irgend eines Elementes des Zahnsystems durch Auftreten anormaler Abweichungen durchaus zugegeben werden. Zu den plötzlich auftretenden Merkmalen wird man wahr- scheinlich auch die Fälle von numerischer Zunahme der Organe rechnen müssen, und zwar, wie wir sofort sehen werden, einschließ- lich der Doppelbildungen. Die Hunderassen mit überzähligen Zehen haben dieses Merkmal natürlich auf plötzlichem Wege erworben. Auf meinem kleinen Gute in Finland traten unter den Hühnern Individuen auf, bei welchen die hintere Zehe ihrer ganzen Länge nach eine Zweiteilung erfahren hatte. Mit Hilfe der alleroberflächlichsten Auslese erzielte ich das Resultat, dass fast alle meine Hühner fünfzehig wurden und dass es mir möglich geworden ist, Material für die Unter- suchung der Embryonalentwickelung dieser Anomalie zu sammeln. Es ist bemerkenswert, dass die Bauern aus den umliegenden Ortschaften bisweilen Hühner zum Verkauf anbieten, welche eben- falls fünf Zehen besitzen; es ist sehr wohl möglich, dass alle die fünfzehigen Hühner der betreffenden Gegend von einem gemein- samen Vorfahr abstammen, wie dies auch bei den obenerwähnten ungehörnten Rassen der Fall ist. Ich habe oben erwähnt, dass auch das zur Norm gewordene Auftreten von Doppelmissbildungen zu den plötzlich auftretenden Merkmalen zu rechnen ist. Ich verstehe hierunter den einzig dastehenden aber im höchsten Grade merkwürdigen Fall, welcher kürzlich von Boas (1903) und hierauf von Janicki (1904) beschrieben worden ist, und zwar die Triplotaenia mirabilis aus dem Känguru (wahrscheinlich Petrogale penieillatus). Da im ganzen vier Exem- plare und die Bruchstücke eines fünften (aus einem anderen Känguruexemplare) gefunden worden sind, so haben wir es augen- scheinlich mit einem normalen Organismus zu tun, und dieser Organismus ist nach dem Typus einer Doppelbildung gebaut, indem 44 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. er einen Seolex und zwei Bänder (ohne äußere Segmentation) be- sitzt. In diesem Falle ist eine Doppelbildung, welche wie alle der- artige Bildungen natürlich plötzlich entstanden ist, zu einer nor- malen Art geworden. Die Polypharyngie der Turbellarien wird von den Forschern in verschiedener Weise gedeutet: Haller und Chichkoff (1903), welch letzterer zu gleicher Zeit mit Mräzek die Planaria monte- negrina (— Phagocata gracilis) mit 5—17 Pharynxhaaren beschrieb, nehmen an, dass dieses Merkmal eine Anomalıie darstellt, welche sich fixiert hat und zur Norm geworden ist. Mräzek dagegen hält die Polypharyngie für eine rechne der Finiparität. In beiden Fällen hat sich jedoch der Übergang von der Monopharyngie zur Polypharyngie durch Mutation vollzogen, obgleich die weitere Zunahme der Zahl von Pharynxen allmählich vor sich gehen konnte und wahrscheinlich auch in der Tat allmählich vor sich gegangen ist. Die dreikantige Körperform, wie sie als Anomalie bei vielen Cestoden vorkommt und von einer eigenartigen Anordnung der Organe begleitet ist (Vigener, 1903), _ irgend eine Form zu einem beständigen Merkmal werden. Es wird natürlich wahrscheinlich auch solche Merkmale geben, welche nur allmählich entstehen, allein es fällt mir schwer ein scharf ausgesprochenes und durchaus überzeugendes Beispiel hierfür zu finden, obgleich manche Veränderungen in der Färbung von Tieren, aller Wahrscheinlichkeit nach allmählich vor sich gegangen sind. Der von Eimer (1889 und 1895) und dessen Schülern ent- deckte Übergang der älteren Längsstreifung in die Querstreifung und diffuse Färbung, konnte außerordentlich langsam und allmäh- lich vor sich gehen. Was die Längsstreifung selbst als Ausdruck der älteren Färbung betrifft, wie sie bei den Säugetieren vorderhand noch keine passende Erklärung gefunden hat, so kann dieselbe ın bezug auf gewisse Würmer verständlich gemacht werden. Auf das Vorhandensein einer längsgestreiften Färbung bei gewissen Würmern, so z. B. bei den Landplanarien war schon von Schülern von Eimer hingewiesen worden (von Linden, 1900), während A. Graf (1899) eine anatomische Erklärung der Längsstreifung in bezug auf die Blut- egel gegeben hat. Indem die Exkretophoren der Blutegel wahrscheinlich einer positiv chemotaktischen Einwirkung des in dem Wasser enthaltenen Sauerstoffs unterworfen werden, wandern sie unter die Haut, wo sie Pıgmentanhäufungen bilden; da jedoch die Längsmuskeln der Blutegel in Gestalt von Bändern angeordnet sind, so ist es natür- lich, dass die Exkretophoren am leichtesten zwischen diese Bänder dringen können und es versteht sich von selbst, dass die Exkreto- phoren sowie die von ihnen gebildeten Pigmentstreifen in bezug Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 45 auf die Längsachse des Tieres eine longitudinale Anordnung annehmen. Auf die Säugetiere lässt sich diese Erklärung selbstverständ- lich nicht anwenden, allein auch hier beruht dıe Längsrichtung der Pigmentstreifen wahrschemlich auf irgend welcher anatomisch- physiologischen Grundlage. Wie dem auch sei, so gehören doch einige Abänderungen in der Färbung augenscheinlich zu denjenigen, welche am meisten allmählich vor sich gehen. Es wird gewöhnlich darauf hingewiesen, dass solch auffallende Ähnlichkeiten, wie sie z. B. Kallina mit einem trockenen Blatte aufweist, nicht allmählich entstehen konnten, sondern auf einmal aufgetreten sind, indem diese Ähnlichkeit nur in ihrer fertigen Gestalt dem Schmetterling von Nutzen sein kann. Allein Weis- mann (1896) hat nachgewiesen, dass auch hier eine gewisse Auf- einanderfolge in der Herausarbeitung dieser Ähnlichkeit besteht. Selbst eine unbedeutende Annäherung in der Färbung der unteren Fläche der Flügel an die Färbung eines trockenen Blattes, war an und für sich schon nützlich für den Schmetterling. Sie bot demselben keine Garantie für völlige Gefahrlosigkeit, allein die Untersuchung des Mageninhaltes von Vögeln (Judd, 1899) hat gezeigt, dass die Schutzfärbung offenbar überhaupt keine völlige Gefahrlosigkeit, sondern nur einen verhältnismäßigen Schutz ge- währt. Im allgemeinen kann man annehmen, dass da, wo die Nachahmung nieht nur auf einer Ähnlichkeit in der Färbung, sondern auch auf einer Ähnlichkeit in der Gestalt beruht, wie dies z. B. bei Kallina der Fall ıst, das erste Stadium ın der Heraus- arbeitung dieser Ähnlichkeit in der Erlangung der ähnlichen Färbung bestand, worauf erst die Herausarbeitung der Ähnlichkeit in der Gestalt erfolgte. In diesem wie in jenem Falle er höhte ein jeder Schritt, welcher den Nachahmer dem Modell näher brachte, dıe Chancen für den Schutz und war demnach nützlich für dıe Art. Wenn sich eine so detaillierte Ähnlichkeit, wie sie zwischen Kallina und einem Blatte mit seiner Nervatur besteht, nur allmäh- lich berausbilden konnte, so sind in der Färbung dennoch auch schärfer auftretende Veränderungen denkbar. So konnten z. B. der totale und partielle Albinismus oder Melanismus sowohl plötz- lich als auch allmählich entstehen. Beobachtungen an Haustieren zeigen uns, dass das Auftreten von Albinismus nicht selten plötzlich erfolgt. Andererseits hat z. B. der Unterschied in der Färbung der Rücken- und der Bauch- seite wie er bei den meisten Tieren zu beobachten ist, nach Thayer (1903) die Bedeutung einer Schutzfärbung; bereits ein schwacher Unterschied in den Tönen dieser wie jener Seite ist zweifellos von Nutzen. Dieser Unterschied erreicht seine höchste Stufe, wenn 46 Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. die Färbung des Bauches immer heller und heller werdend endlich weiß wird, d. h. wenn das Tier zum partiellen Albinismus über- geht. Ein allmähliches Entstehen des Albinismus ist in dem ge- gebenen Falle sehr wahrscheinlich, um so mehr als man bei den Tieren auch in der Tat verschiedene Grade in dem Unterschied der Färbung der Rücken- und Bauchseite beobachten kann. Ich wiederhole, dass es recht schwierig ist, ein solches Merkmal zu finden, bei welchem eine plötzliche Entstehung völlig undenkbar wäre, allein in Wirklichkeit sind wohl sehr viele Merkmale nur allmählich entstanden. Schwalbe (1904) spricht auf Grund der dunklen Färbung der Areolae mammae bei den hellen Menschen- rassen die Vermutung, dass sowohl diese letzteren, wie auch die dunkeln Menschenrassen von einer schwarzen oder dunkelbraunen Urrasse abstammen. Die verstärkte Pigmentierung bei den schwarzen Rassen unter gleichzeitigem Schwund der Haare wie auch die Pigmentation bei den hellen Rassen bei kräftigerer Erhaltung der Haare ging, wie zu vermuten ist, nur ganz allmählich vor sich, worauf denn auch die zahlreichen Übergangsformen der gegenwärtig lebenden Rassen hinweisen. Von dem Gesichtspunkte ihrer Entstehung aus betrachtet, können alle Merkmale in folgende drei Kategorien eingeteilt werden: 1. Merkmale, welche nur plötzlich auftreten, 2. Merkmale, welche sowohl plötzlich als auch allmählich auf- treten, 3. Merkmale, welche nur allmählich auftreten. (Fortsetzung folgt.) Über die Konjugation der Infusorien. Von Dr. J. Versluys, Privatdozent und Assistent am Zool. Inst. Amsterdam. Bekanntlich zeichnet die Befruchtung bei den Infusorien sich in ihrer typischen Form dadurch aus, dass die beiden Konjuganten nicht dauernd verschmelzen, sondern, nach Austausch eines Kernes, des sogen. Wanderkernes, sich wieder trennen. Eine weitere Besonderheit ist es dabei, dass der Befruchtung wenigstens drei Kernteilungen vorangehen (Maupas 18839, p. 421, Hertwig 1889, p. 219). Man bezeichnet diese Art der Befruchtung als Konjugation oder partielle Karyogamie. Bei den anderen Protozoen- klassen kennt man zahlreiche Fälle, wo die Befruchtung zu der vollständigen Vereinigung beider Kopulanten zu einem Individuum und ihrer beiden Kerne zu einem einzigen Synkaryon führt. Dabei gehen der Befruchtung bisweilen eine oder zwei Kernteilungen Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. 47 voran, welche sich als Reduktionsteilungen deuten lassen. Diese Befruchtungsweise, kurzweg Kopulation genannt, kann man nach dem Beispiele von A. Lang (1901, p. 262) als totale Karyogamie der partiellen gegenüberstellen. Der Zweck dieses Aufsatzes ıst darzulegen, wie man in ziem- lich einfacher Weise die partielle Karyogamie oder Konjugation der Infusorien aus der totalen Karyogamie oder Kopulation her- leiten kann. Dass die Konjugation der Infusorien sich aus der totalen Karyo- gamie entwickelt haben muss, ist die Meinung mehrerer Zoologen. Ich nenne Bütschli (1887—89, p. 1597, 1598, 1604),. Boveri (1892, p. 481), Lühe (1902, p. 5), Ziegler (1904, p. 165) und Klara Hamburger (1904, p. 229). Vor einigen Jahren hat aber Lang sich für den ursprünglichen Charakter des Befruchtungs- vorganges bei den Infusorien erklärt, und im hervorragenden Ver- dienste seines Lehrbuches finde ich Veranlassung, auf diese Frage näher einzugehen. Lang hat seine Meinung in folgender Weise formuliert (1901, p. 262): „Zweifellos ist die totale Karyogamie, oder wie sie häufig genannt wird, die Kopulation, aus der partiellen hervorgegangen. Letztere ist die primitivere Erscheinung; erstere eine in der Richtung des Befruchtungsvorganges der Metazoa weitergebildete.“ Demgegenüber möchte ich betonen, dass die partielle Karyo- gamie nur eine sehr beschränkte Verbreitung aufweist, welche nicht für ihren ursprünglichen Charakter spricht. Sie ist viel weniger verbreitet, als Lang angenommen hat, wie meist erst aus neueren Untersuchungen, welche Lang noch nicht kennen konnte, hervor- geht. Lang hat Beispiele der partiellen Karyogamie angegeben aus den Klassen Sporozoa (die Gregarine Monocystis, nach W ol- ters, 1891), Sarcodina (die Heliozoe Achinophrys sol,nachSchau- an 1896, p. 83) und Flagellata (Noctiluea, nach Ischikawa 51891, p.-112). 7. Die chin von Siedlecki, Cuenot, Leger u. a. haben erwiesen, dass bei den Gregarinen, wie über- haupt bei den Sporozoa, nur totale Karyogamie vorkommt. Vom Befruchtungsvorgange bei Actinophrys sol gibt Lang selbst schon an, dass man denselben ebensogut als totale Karyogamie deuten kann. Ich muss diese letztere Aula sung unbedingt der anderen vorziehen. Erstens kommt es hier bei de Befr De zur Bildung eines einzigen Individuum mit einem Kerne; es gibt : Wander. kerne. Zu folgt meist unmittelbar auf der Ver-chmelzung der beiden Kopulanten wieder eine Teilung, aber bei derselben deutet nichts darauf hin, dass die beiden Kopulanten ihre Selbständigkeit zurückerlangen. Auch dürfte diese Teilung, wenn Lang’s Ver- gleichung mit der partiellen Karyogamie richtig wäre, niemals unterbleiben. Schaudinn (1896, p. 89) hat aber gefunden, dass 48 Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. dieselbe nach der Verschmelzung sehr kleiner Actinophrys nicht stattfindet; die Kopulationseyste ging dann ohne vorherige Teilung direkt in den Ruhezustand über. Dieses macht den Eindruck, dass die Zweiteilung nur stattfindet, damit die Größe der Zygote oder vielleicht das Verhältnis zwischen Kern- und Körpergröße wieder auf das gewöhnliche Maß zurückgebracht werde. Bisweilen tritt ja auch zweimalige Teilung auf, so dass 4 Individuen entstehen. Bei Noctiluca verläuft die Befruchtung nach Ischikawa in einer Weise, welche sich bei der partiellen Karyogamie der Infusorien anschließt. Hieran hat denn auch Lang seine Schilderung der Vorgänge bei Noctiluca entlehnt. Doflein (1890, p. 2, 3) ist aber bei Noctieula zu gänzlich abweichenden Resultaten gekommen; nach ihm ist die Karyogamie eine typische totale, die keine Ähnlichkeit mit der Konjugation aufweist. Doflein erklärt die abweichenden Befunde Ischikawa’s daraus, dass derselbe Teilungsstadien für Konjugationszustände gehalten hat. Die partielle Karyogamie wäre demnach auf die Infusorien be- schränkt. Aber Schaudinn (1903, p. 567-569) hat bei Enta- moeba coli einen Befruchtungsvorgang beschrieben, welcher der par- tiellen Karyogamie der Infusorien sehr ähnlich ist. Der Vorgang ist hier kurz wie folgt: Eine einkernige Amöbe rundet sich kugelig oder oval ab und scheidet auf ihrer Oberfläche eine äußerst zarte Gallertschicht ab. Hierauf teilt sich der Kern in zwei gleiche Tochterkerne, die nach entgegengesetzten Enden des Plasmakörpers auseinanderrücken. Der Weichkörper zerlegt sich in zwei unvollständig getrennte Partien. Die Kerne lösen sich nun ganz oder größten- teils auf, indem sie ihr peripher gelegenes Chromatin an das um- gebende Plasma abgeben. Aus diesem Chromatin rekonstruieren sich zwei neue Kerne, welche, wie die primären, an entgegenge- setzten Polen des Körpers liegen. Jetzt erfolgen zwei Reduktions- teilungen, nach welchen nur die zwei reduzierten Kerne übrig bleiben. Diese nähern sich und teilen sich wiederum, eine Teilung, welche vollständig der Teilung der reduzierten Mikronuklei der Infusorien in stationären Kern und Wanderkern entspricht. Die Kerne tauschen dann je eine Hälfte aus, so dass nach der Befruch- tung direkt zwei Kerne vorhanden sind und niemals nur ein Syn- karyon gebildet wird. Hierauf folgt noch zweimalige Teilung, wodurch acht Töchterindividuen in der Cyste entstehen. Schaudinn betont schon die Ähnlichkeit mit der Befruchtung der Infusorien ; für genauere Angaben sei auf seine Arbeit hingewiesen. Gegenüber der partiellen Karyogamie der Infusorien, die somit nur bei der Entamoeba coli eine Parallele findet, stehen zahlreiche Beispiele der totalen Karyogamie bei Sarcodina, Sporozoa und Flagellata. Die partielle Karyogamie ist auf die hochentwickelten Infusorien und die parasitisch lebenden, einen komplizierten Ent- Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. 49 wickelungskreis aufweisenden Entamoeba coli beschränkt!). Ihre Verbreitung spricht also nicht für den primitiven Charakter der Konjugation. Vollständig unterschreibe ich auch die Meinung Boveri’s (1892, p. 481), dass der Austausch der Kerne zwischen zwei partiell verschmolzenen Zellen ein sehr komplizierter Vorgang ist, der ohne Zweifel eine lange Vorgeschichte voraussetzt. Auch das spricht gegen den primitiven Charakter der Konjugation der Infusorien. Wir werden die partielle Karyogamie dann aber von irgend einem der verschiedenen Zustände ableiten müssen, worin die totale Karyogamie auftritt. Lühe (1902) hat ın seiner sehr dankenswerten Zusammen- stellung der verschiedenen Befruchtungsvorgänge bei den Protozoen auch eine Ableitung der Konjugation der Infusorien aus der Kopu- lation anderer Protozoen gegeben. Es heißt ım Sitzungsberichte: „Die Konjugation der Infusorien kann wie die Kopulation zwischen einander gleichen oder zwischen einander ungleichen Individuen stattfinden, sie darf indessen mit Rücksicht auf die vorübergehende Natur der Aneinanderlagerung der beiden konjugierenden Individuen nie mit der (isogamen bezw. anisogamen) Kopulation direkt ver- glichen werden, sondern höchstens mit der Aneinanderlagerung von Gametocyten, deren Sprösslinge später zur Kopulation schreiten werden (wie bei den Gregarinen oder bei den Üoccidiengattungen Adelea, Klossia und Legerella). Dieser Vergleich wird von dem Vortragenden dann auch für den weiteren Verlauf der Befruch- tungsvorgänge durchgeführt, speziell für Paramecium und Adelea. Die Konjugation der Infusorien erscheint hiernach in der Tat von der Kopulation anderer Protozoen ableitbar; sobald man nur die Teilung des Nebenkerns der Infusorien mit der Schwärmer-(Mikro- gameten-)Bildung bei anderen Protozo@en in Parallele stellt. Tut man dies, so besteht der wesentlichste Unterschied zwischen der Konjugation von Paramecium und der Kopulation von Adelea ovata darin, dass bei Adelea ein sexueller Dimorphismus besteht und nur das eine der beiden sich aneinanderlagernden Individuen (der Mikrogametocyt) Schwärmer (die Mikrogameten) bildet, während bei Paramecium die beiden konjugierenden Individuen einander gleich sind, daher auch beide Schwärmer bilden und sich wechselseitig befruchten. Die Differenzen zwischen der Konjugation der Infusorien und der Kopulation der Gregarinen scheinen auf den ersten Blick vielleicht größer, lassen sich aber darauf zurückführen, dass bei den Infusorien die Schwärmerbildung insofern rudimentär geworden ist, als die Schwärmer das Stadium selbständiger Zellen überhaupt l) Verworn’s Vergleichung (1890, p. 459) der Befruchtung der Difflugien mit derjenigen der Infusorien wurde nicht bestätigt (Schaudinn, 1896, p. 83). XXVI. 4 50 Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. nicht mehr erreichen. Der Vortragende glaubt daher, dass die Konjugation der Infusorien, ebenso wie die ovogame Kopulation aus der isomikrogamen Kopulation hervorgegangen ist.“ Bis so weit Lühe; ich könnte seine Meinung nicht besser wiedergeben und deshalb habe ich das lange Zitat aus dem Sitzungs- berichte aufgenommen. Diese Ableitung wäre recht gut denkbar; allein sehr vollkommen kann ich den von Lühe hervorgehobenen Parellelismus doch nicht finden. Auch ist nicht ersichtlich, dass und weshalb die Sporenbildung bei den Infusorien rudımentär ge- worden wäre. Deshalb hat auch diese Ableitung mich nicht ganz befriedigen können und möchte ich hier eine andere Erklärung der partiellen Karyogamie der Infusorien geben. Dabei muss ich nachdrücklich hervorheben, dass dieselbe nicht ganz neu ist. Der Grundgedanke wurde schon von Boveri (1892, p. 480—81) ver- öffentlicht!). Doch hat seine Deutung anscheinend wenig Anklang gefunden; ich fand dieselbe beinahe nirgends erwähnt. Ich will bei meinem Erklärungsversuch ausgehen von der totalen Verschmelzung erwachsener Individuen, von Lühe (1902, p. 4) als Isomakrogamie bezeichnet, also von einer Befruchtung ohne vorhergehender Sporenbildung. Ich tue dies, weil doch auch bei den Infusorien die Befruchtung zwischen erwachsenen Individuen stattfindet; dann auch, weil diese Befruchtungsweise mir mit Lühe eine einfache primitive erscheint, während ihr gegenüber die Ver- bindung der Befruchtung mit typischer Mikrogametenbildung schon einen mehr komplizierten Zustand darstellt?). Und, obwohl weniger häufig als die Befruchtung durch Sporen (Isomikrogamie, Lühe) ist die Isomakrogamie doch genügend verbreitet, so dass wir ıhr hohes Alter, namentlich aber ihr Auftreten bei den Stammformen der Infusorien annehmen dürfen. Aus der Literatur kenne ich folgende Beispiele der Isomakrogamie. Bei den Flagellaten: Cera- tium (Zederbauer, 1904), Noctihiwa (Doflein 1901 a), Monas vivipara (Prowazek, 1903 p. 207), Herpetomonas und Bodo lacertae (Prowazek, 1904a, p. 440 und 1904 b, p. 28; bei letzterer Art ge- 1) Dass Boveri diese Frage in seinem Referate über Befruchtung behandelt hatte, war mir leider noch nicht bekannt, als ich meine Anschauungen über diesen Punkt im April 1905 auf dem „Nederlandsch Natuur- en Geneeskundig Congres“ vorgetragen habe. ? 32) Da bei den Infusorien der Mikronukleus zwei Reduktionsteilungen aufweist, erscheint es sehr gut möglich, dass bei ihren Stammformen eine Teilung in vier verhältnismäßig kleine Individuen, die dann jede einen reduzierten Kern besaßen, der Befruchtung voranging. Erst später würden dann diese Zellteilungen verloren gegangen sein, so dass nur die Reduktionsteilungen der Mikronuklei übrig bleiben. Von diesem letzteren Stadium möchte ich ausgehen, um eine unnötige Komplikation zu vermeiden; und ich darf dies auch tun, weil jetzt schon von Flagellaten Re- duktionsteilungen bekannt sind, welche nicht von Zellteilungen begleitet werden (Schaudinn 1903, p. 550, Prowazek, 1904 b, p. 13 u. 26. Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. 51 ringe Heterogamie), Trichomonas intestinalis und Lamblia intestinalis (Schaudinn, 1903, p. 550, Anmerkung), vielleicht auch Cikophrys (Bütschli, 1887—89, Taf. 39 Fig. 18). Nach älteren, durchaus nicht einwandsfreien Beobachtungen kommen dazu noch: Bodo angustatus (Cienkowsky), Bodo caudatus (Kent), Cercomonas, Tetramitus rostratus, Monas Dallingeri und Dallingeria Drysdali (Dallinger und Drysdale, 1873, 74, 75; vgl. Bütschli, 1887—89, p. 782 und Prowazek 1904b, p. 17). Ein Beispiel der Isomakrogamie bei den Heliozoa ist Actinophrys sol (Schau- dinn, 1896). Das Vorkommen der Isomakrogamie ist also, soweit bis jetzt bekannt, auf die Flagellaten und die ihnen vielleicht sehr nahe stehenden Heliozoen beschränkt. Aber darunter sind sehr ver- schiedene Flagellaten und das ist hier vor allem wichtig, weil wir doch sehr wahrscheinlich die Infusorien von Flagellaten ableiten müssen!). Als primitiver Typus der Befruchtung, von welchem wir die Konjugation der Infusorien ableiten können, glaube ich demnach folgenden Vorgang annehmen zu dürfen: zwei normale, erwachsene, wenn auch oft kleine Individuen vereinigten sich vollständig zu einem Individuum mit einem Kerne; der Verschmelzung gingen zwei Reduktionsteilungen ‘) der Kerne voraus und es folgte der Befruchtung sehr bald eine Zweiteilung der Zygote, wie z. B. jetzt bei Actinophrys sol die Regel ist. Diesen Befruchtungsvorgang habe ich in schematischer Weise in Fig. A darzustellen versucht. Sehr wichtig war für diese Frage auch die Schilderung, welche Prowazek von Bodo lacertae gegeben hat. Dieser Flagellat nähert sich in den Kernverhältnissen, besonders in der Entwicklung eines Geschlechtskernes bei der Befruchtung, durch das Vorkommen zweier Reduktionsteilungen und auch dadurch, dass bisweilen eine totale Karyogamie erwachsener Individuen auftritt, dem hier ge- dachten Ausgangszustand der Infusorienbefruchtung. Auf die Ahnlichkeit mit den Infusorien hat Prowazek schon hingewiesen (1904 b, p. 26). 1) Rhumbler (1898, p. 73, 80) erwähnt eine der Befruchtung mindestens sehr ähnliche Verschmelzung erwachsener Individuen bei Euglypha und Difflugia. Er meint deshalb, dass die Doppelschalen, welche bei mehreren Theeamoebae und Filosa gefunden worden sind, ihre Entstehung einer Kopulation verdanken und führt mehrere Gründe für diese Ansicht auf. Nach neueren Mitteilungen von Schaudinn (1903, p.556) liegt hier aber nirgends Befruchtung vor, sondern diese Doppeltiere sind nur Monstrositäten, welche entstehen, wenn bei plastogamisch verbun- denen Individuen Knospenteilung stattfindet. Die typische Befruchtung, mit Re- duktionsteilungen u. s. w., findet zwischen kleinen Gameten statt. 2) Ich nehme deren zwei an, weil diese Zahl, lange schon als wahrscheinlich betrachtet, jetzt von Prandtl und Goldschmidt tatsächlich konstatiert worden ist; vgl. Prandtl, 1905, p. 146. 52 Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. Die Stammformen der Infusorien werden wohl sicher eine viel einfachere Organisation besessen haben, als die jetzigen Infusorien Fig. A. Fig. B. Fig. A. N Schematische Darstellung des Befruchtungsvorganges, wie ich ihn für die Stammformen der In- fusorien annehme. a Die Kopulanten legen sich gegeneinander; erste Reduktions- teilung des Geschlechtskernes. b Zweite Reduktionsteilung. c Mit reduzierten Vorkernen. d Verschmelzung derselben. e Teilung des Synkaryon, welche die der Befruchtung fol- genden Zweiteillung der Zygote einleitet. f Diese Teilung ist weiter vor- gerückt. g Dieselbe ist vollendet. Der Geschlechtskern ist mit z, der vegetative Kern mit N bezeichnet. Fig. B. Schematische Darstellung des Befruchtungsvorganges bei den In- fusorien. Die Stadien der Kern- prozesse, welche denen der Fig. A entsprechen, sind mit densslben Buchstaben bezeichnet worden: a, b, c wie bei Fig. A. d Wegen der ungenügenden Verschmelzung der Plasmakörper kann die Vereinigung der Vorkerne zum Synkaryon nicht stattfinden. e Kernteilung, welche der Tei- lung des Synkaryon im Stadium e der Fig. A entspricht. f Die geringe Verschmelzung der Zellen gestattet doch den Aus- tausch der Wanderkerne, so dass die Karyogamie stattfinden kann. g wie bei Fig. A. beinahe alle aufweisen. Bei diesem einfachen Bau der Stamm- formen braucht die Verschmelzung ihrer Körper bei .der Befruch- Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. 53 tung nicht besonders viel Zeit beansprucht zu haben. Aber je komplizierter der Bau allmählich wurde, desto größere Umwand- lungen mussten mit dieser Verschmelzung zusammengehen und desto mehr Zeit müsste im allgemeinen auch die totale Vereinigung der Kopulanten in Anspruch nehmen. Namentlich werden das Oilien- kleid und die Pellicula bei ihrer zunehmenden Differenzierung einen immer langsameren Verlauf der Verschmelzung bedingt haben. Auch Teile des Peristom, Membranellen etc. müssten dabei resor- biert werden. Denn die Vereinigung der beiden Kerne zu einem Synkaryon erscheint, soweit jetzt ersichtlich ist, erst möglich, wenn Schon eine ausgedehnte Verschmelzung der Zellkörper zustande ge- kommen war. Die Kernprozesse, hier die Reduktionsteilungen der Mikronuklei, brauchten aber nicht in ähnlicher Weise von der zunehmenden Komplikation im Baue der Tiere beeinflusst zu werden und ein weniger schneller Verlauf dieser Teilungen erscheint durchaus keine notwendige Folge der weniger schnellen Verschmelzung der Zell- körper. Dabei muss man beachten, dass sich beim Mikronukleus, wegen seiner Spezialisierung zum Geschlechtskerne, eine größere Unabhängigkeit gegenüber dem Zellkörper erwarten lässt, als bei solchen Zellen, wo kein so typischer Geschlechtskern vorkommt!'). Als natürliche Folge der zunehmenden Komplikation im Baue der Stammformen der Infusorien lässt sich demnach erwarten, dass die beiden Reduktionsteilungen schon vollendet waren zu einer Zeit, wo die Zellkörper noch bei lange nicht in genügender Aus- dehnung verschmolzen waren, um die Vereinigung der beiden Kerne, vergleichbar den Vorkernen bei der totalen Karyogamie, zu ge- statten (Fig. Bd). Es wäre nun sehr gut möglich gewesen, dass die Kerne der beiden Kopulanten dann in Ruhe blieben, bis die Verschmelzung der Zellkörper genügend weit vorgerückt war, um ihre Vereinigung zu gestatten. Aber andererseits darf doch auch die Annahme, dass die Kerne darauf nicht warteten, in ihren Konse- quenzen verfolgt werden. Ich habe oben die Voraussetzung ange- nommen, dass ursprünglich der Verschmelzung der Kopulanten bald eine Zweiteilung der dabei gebildeten Zygote folgte. Nehmen wir also an, dass die Kerne nicht auf die Verschmelzung warteten, dann würde eine neue Kernteilung sich einleiten, nämlich diejenige Kernteilung, welche zurersten Teilung der Zygote gehörte (Fig. A, B, e) Zuerst wird dieselbe noch größtenteils nach der Befruchtung voll- 1) Der doppelte Kernapparat kann schon weit zurückliegenden Stammformen, bei denen die Karyogamie noch eine totale war, eigen gewesen sein, wenn auch vielleicht in einer etwas anderen Form, wie neuere Befunde bei Flagellaten und andere Protisten beweisen. Man vgl. Schaudinn, 1904, p. 387, Prowazek, 1904 a, p. 440 und 1905, p. 356 und Goldschmidt, 1904, besonders p. 139, und 1905, p. 113, 114. on 54 Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. zogen worden sein, aber je langsamer die Verschmelzung der beiden Kopulanten fortschritt, je mehr näherte diese Kernteilung sich ihrer Vollendung, bevor die Keriverschmelzung stattfinden konnte (Fig. B,e f). Und so kam es allmählich noch vor der Befruch- tung zu einer Teilung der beiden reduzierten Vorkerne, also zu einer dritten Teilung der Geschlechtskerne. Dass die Geschlechts- kerne der Infusorien sich sehr selbständig zu teilen vermögen, geht auch daraus hervor, dass bei diesen Protozoen allgemein noch wieder eine vierte Teilung derselben vor der Befruchtung eingeleitet wird. Denn diese Kerne erreichen schon wieder das Stadium des Spirem oder Aster, bevor die Wanderkerne die stationären Kerne erreichen '!). Es ist ersichtlich, dass wir hier mit einer Kernteilung zu tun haben, welche nicht gänzlich auf die Befruchtung wartet, und die doch früher wohl sicher erst nach derselben fiel; hier wird also eine ähnliche Verschiebung angebahnt, wie ich zur Erklärung der dritten Kernteilung angenommen habe. Auch bei der Metazoenbefruchtung fehlen analoge Fälle nicht ganz. So fängen die beiden Vorkerne bei Ascaris schon an sich zu teilen, bevor sie sich berühren. Ich glaube also, die bei den Infu- sorien allgemein auftretende dritte Kernteilung der Mikronuklei, durch welche die Spaltung der reduzierten Kerne in Wanderkern und stationären Kern zustande kommt, erklären zu dürfen als eine Folge der Verzögerung, welcher die Verschmelzung der beiden kopulier enden Individuen durch die zunehmende Komplikation ihrer Organisation ausgesetzt wurde. Dadurch fand die Kernverschmelzung nicht mehr im normalen Augenblick (Stadien ec, d, Fig. A), sondern immer später statt (Stadien f, 9, Fig. B). Von Bedeutung mag dabei die Ausbildung spezialisierter Geschlechtskerne, der Mikro- nuklei, gewesen sein, wodurch vielleicht der ruhige Fortschritt der Kernteilungen, unabhängig von der Kernverschmelzung oder von der Vereinigung der beiden Zellkörper, gefördert wurde. Hier- durch fiel das Stadium mit nur einem Kerne, einem Synkaryon aus, welches für die totale Karyogamie oder Kopulation typisch ist (Stadium d, Fig. 4). Mit der Vollendung der dritten Kernteilung war aber ein ganz anderer Zustand geschaffen. Zur Bildung eines einzigen Synkaryon, der im V erachmelzungspebieie der beiden Kopulanten legt, erscheint eine ausgedehnte Vereinigung der letzteren eine Bedingung. Aber sobald in jedem Individuum der reduzierte Vorkern sich geteilt 1) Maupas, 1889, p. 429. Diese Kernteilung führt zur Bildung zweier Kerne in jedem der Exkonjuganten. Sie steht in unmittelbarer Beziehung zur Rekon- struktion des doppelten Kernapparates. Sehr deutlich ist dies bei Colpidium_ col- poda, bei welcher diese zwei Kerne sich direkt zu einem Makronukleus und einem Mikronukleus entwickeln (vgl. Maupas, p. 241). Vgl. auch Hertwig, 1889, p. 185, Taf. 4, Fig. 26. Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. 55 hatte (die dritte Teilung, Fig. B, Stadium e, f), war eine Kernver” einigung bei viel geringerer Verschmelzung der Zellkörper möglıch. Denn es brauchte nicht mehr ein Kern in der Verschmelzungs- zone der Kopulanten gebildet zu werden, sondern es entstanden bei der Kernvereinigung jetzt zwei Kerne, die jeder an einer Seite der Verschmelzungszone, also jeder in einem der Kopulanten, ihren Platz finden konnten. Von den beiden Teilprodukten der Vorkerne wurde das eine zum stationären Kerne, das andere zum Wander- kerne. Und da ein Austausch der letzteren auch bei sehr geringer Verschmelzung der Zellkörper stattfinden kann, wurde die Befruch- tung durch die Verschiebung der dritten Kernteilung bis ganz vor der Bildung des Synkaryon vom Maß der Zellverschmelzung unab- hängig. So entstand ein Stadium im Befruchtungsvorgang, auf welchem zwei, nur erst ziemlich unvollständig vereinigte Individuen schon jede ihren neuen, befruchteten Kern enthielten (ein Stadium zwischen f und g der Fig. 5). Die Notwendigkeit einer weiteren Ausdehnung der Verschmelzung der Zellkörper bestand jetzt nicht mehr. Die beiden schon vorhandenen Kerne werden einer solchen sogar ent- gegengearbeitet haben, denn sie entsprechen den beiden Kernen, welche bei den Stammformen bei der bald auf die Kopulation folgenden Zweiteilung entstanden und diese Teilung einleiteten (Fig. A, Stadium .e, f, 9). Unter ihrem Einflusse lässt sich also eine Teilung der erst im Anfang ihrer Bildung stehenden Zygote erwarten ). Die Teilungsebene stand vielleicht im Anfang, bei ausgedehnterer Vereinigung der Kopulanten, mehr oder weniger schräg zur Verschmelzungsebene. Aber die Verschmelzung der Zellkörper wurde wohl, wenn sie nicht mehr in ausgedehnterem Maße notwendig war, unter dem Einflusse der steigenden Kompl- kation der Organisation immer geringer. Und wenn die Befruch- tung schon bei geringer Verschmelzung stattfand, können wir nur erwarten, dass die neue Teilungsebene zwischen den beiden bei der Befruchtung entstandenen Kernen hindurch und annähernd durch das Verschmelzungsgebiet der beiden Kopulanten gelegt wurde. Sie trennte dadurch die beiden letzteren wieder ab. Demzufolge gaben die beiden Kopulanten ihre Selbständigkeit nicht mehr auf. Die Kopulation der Stammformen war in die Konjugation übergegangen. Die Organellen konnten, soweit die- selben nicht schon zu weit resorbiert waren, erhalten bleiben; dies kann vorteilhaft gewesen sein, da die Tiere dadurch viel schneller die normale Organisation wieder erreichen konnten. Bekanntlich 1) Die neuen Kerne darf man nicht ohne weiteres betrachten als Mikronuklei, die vielleicht nur einen geringen Einfluss auf die vegetativen Vorgängen im Zell- körper ausüben. Denn aus ihnen geht sehr bald der neue Makronukleus hervor . 96 Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. ist die Ausdehnung, welche die Verschmelzung erreicht, eine sehr verschiedene!). Da nun eine sehr geringe Verschmelzung für den Kernaustausch ausreicht, wie Paramaecium?) und Euplotes beweisen, erscheint eine größere Ausbreitung derselben, wie sie z. B. die Oxytrichen aufweisen, überflüssig. Letzteres deutet darauf hin, dass sich bei den Stammformen wirklich eine noch ausgedehntere Ver schmelzung vollzog, die jetzt rudimentär geworden ist und, wie oft in solchen Fällen, sich als ziemlich variabel erweist. Dies stimmt also mit einer Ableitung der Konjugation aus der Kopu- lation (Isomakrogamie). Ich muss hierzu noch bemerken, dass ich also zwar eine ausgedehntere Verschmelzung als primitiv, eine sehr geringe als am meisten vom urspr ech Geschehen abweichend Beachte, aber doch nicht die totale Verschmelzung der Vortizelliden als primitiv deuten kann. Die Teilung der reduzierten Kerne in einen Wanderkern und einen stationären Kern beweist, dass wir für die Vortizelliden die typische Konjugation der übrigen Infusorien als den Ausgangszustand betrachten müssen. Auch hier hat Maupas (1889) schen zweifellos die richtige Deutung der Befunde gegeben. Bei Euplotes und bei den Mikrogameten von Vorticella und Car- chesium gehen nicht drei, sondern vier Teilungen der Mikronuklei der Be ne voraus. Maupas hat in überzeugender Weise an den Details der Keruprozesse bewiesen, dass davon die erste Teilung neu hinzugekommen ist. Dieselbe führt zur Bildung zweier Mikro- nuklei und von da ab verläuft der Befruchtungsvorgang genau SO, wie bei den Infusorien mit zwei Mikronuklei. Man muss hier an- nehmen, dass die zweite und dritte Teilung die Reduktionsteilungen sind und dass danach nur noch eine Teilung vor der Befruchtung stattfindet. Auch hier trifft also die oben erörterte Ableitung der Kernteilungen bei der Konjugation zu. Die vorhergehende, über- zählige Kernteilung erlaubt nicht den Schluss, dass die Zahl der Reduktionsteilungen bei den Infusorien variabel ist®): Die Ableitung der Konjugation der Infusorien, welche ich hier zu geben sa habe, ist gewiss nicht imstande, alle Besonder- heiten derselben zu on) So gıbt sıe keine Erklärung für die Variationen, welche bei den der mie folgenden Kernteilungen auftreten. Aber diese Kernteilungen dienen nur dazu, den normalen Bau des Kernapparates, der bei der Befruchtung verloren ging, wieder herzustellen; sie sind eine Begleiterscheinung der Befruch- tung, gehören aber nicht zum Befr uchtungsprozesse selbst und eine 1) Maupas, 1889, p. 417. 2) Hertwig, 1889, p. 166; Klara Hamburger, 1904, p. 217. 3) Conform Maupas, 1889, p. 338, 364, 377 und 422; Hamburger, 1904, p. 227; man vgl. Ziegler, 1904, p. 165—166. Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. « 57 Erklärung derselben, sowie ihrer Variabilität ist denn auch sehr wahrscheinlich nicht in der partiellen Karyogamie zu finden. Aber meine Auffassung gibt doch, hoffe ich, eine einfache, nicht zu sehr hypothetische Erklärung davon, unter welchen Ein- flüssen und in welcher Weise sich die Konjugation der Infusorien aus der Kopulation erwachsener Individuen allmählich entwickelt haben kann. Nämlich vor allem als Folge der zunehmenden Komplikation im Baue dieser Protisten, und vielleicht begünstigt durch die große Unabhängigkeit der spezialisierten Geschlechts- kerne. Die hier vertretene Ansicht deckt sich nun namentlich in der Deutung der dritten Kernteilung, das ıst der gleich nach den Re- duktionsteilungen kommenden Teilung ın stationären Kern und Wanderkern, mit einer schon 1892 von Boveri durchgeführten Vergleichung der Konjugation der Infusorien mit der Befruchtung der Metazoen. So schreibt Boveri (1892, p. 480): ... . „so zeigt ein tieferes Eindringen, dass die fragliche letzte Kernteilung des kon- jugierenden Infusoriums („das ist die dritte Teilung“) doch einer be- stimmten Teilung bei der Befruchtung der Metazoen entspricht, dass sie nämlich, gemeinsam mit der entsprechenden Kernteilung des anderen Paarlings, der Teilung des ersten Furchungskerns gleichzusetzen ist. Eine Überlegung, wie sich die Konjugation der zilıaten Infusorien entwickelt haben kann, scheint mir unweiger- lich zu dieser Konsequenz zu führen. Denn so, wie wir den Kon. jugationsprozess jetzt ablaufen sehen, kann derselbe unmöglich ent- standen sein. Der Austausch der Kerne zwischen zwei partiell verschmolzenen Zellen ist ein so komplizierter Vorgang, dass der- selbe ohne Zweifel eine lange Vorgeschichte voraussetzt; und wenn man sich nun fragt, auf welche einfache Zustände diese zurückgehen kann, so wird man als den Anfang wohl nichts anderes als eine vollkommene Verschmelzung zweier Individuen mit dar- auf folgender Teilung betrachten können.“ : Im übrigen sei auf Boveri’s Arbeit p. 480-484 hingewiesen. Über die Gründe, welche zu einer solchen Umbildung des Befruchtungsvorganges haben führen können, hat er sich nicht ausgesprochen. Boveri hat als primitiven Typus die Befruchtung bei Noetihtea herangezogen, wie Ischikawa dieselbe geschildert hat. Es hat sich herausgestellt, dass Ischikawa’s Darstellung sehr wahrscheinlich nicht richtig ist; aber deshalb braucht auch Boveri’s Gedankengang noch nicht ganz unrichtig zu sein, wie Klara Hamburger meint (1904, p. 227). Wohl muss ich zugeben, dass hier ein schwacher Punkt auch in meiner Deutung vorliegt. Das Auftreten nur einer "Teilung der Zygote unmittelbar nach der Befruchtung ist durchaus keine ver- breitete Erscheinung. Bei Actinophrys sol kommt dieselbe meist vor; wie schon oben, S. 48, bemerkt wurde, scheint sie hier dazu 58 Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. zu dienen, die bei der Kopulation verdoppelte Körpergröße wieder auf das gewöhnliche Maß zu reduzieren, oder vielleicht die Pro- portion zwischen Kern- und Körpergröße zu regulieren; denn bei sehr kleinen Zygoten bleibt die Teilung aus, bei großen Zygoten folgt bisweilen eine Teilung in vier Individuen'). Dass die Teilung bei Actinophrys nicht konstant ist, ist keine Schwierigkeit. Sie braucht dies bei den Stammformen der Infusorien auch nicht gewesen zu sein, sondern kann erst später, wegen der Bedeutung, welche sie für die Umbildung des Befruchtungsvorganges besaß, fixiert worden sein. Bei den Flagellaten kenne ich nur folgende Fälle, wo auf die totale Karyogamie eine Zweiteilung folgt: a nach der Auto- gamie bei Trichomastix lacertae; die Zweiteilung ist nicht kon- stant, sie kann ganz unterbleiben oder auch von noch einer oder mehr Teilungen gefolgt werden (Prowazek, 1904 b, p. 15); b bei Trichomonas intestinalis folgt auf die Verschmelzung zweier er- wachsener Tiere eine Teilung des Synkaryon in zwei oder mehr Tochterkerne (Schaudinn, 1903, p. 550); e bei Polytoma teilt ‚die Zygote sich manchmal in zwei Teile (Prowazek, 1903, p. 207). Ich kenne aber, wenn wir von der geringen Verbreitung dieser Er- scheinung absehen, keine Gründe, welche gegen unserer voraus- gesetzte Teilung der Zygote unmittelbar nach der Befruchtung angeführt werden könnten. Und dass wir, wenn wir dieselbe an- nehmen, in einfacher Weise die Konjugation der Infusorien von der typischen Kopulation ableiten können, mag für die Berechtigung dieser Annahme sprechen. Gegen meine Ableitung der Konjugation ließ sich noch ein- wenden, dass bei Entamoeba coli (vergl. S. 48) auch eine Kernteilung zwischen den Reduktionsteilungen und der Kernverschmelzung ein- geschaltet ist, während bei diesem sehr niedrig organisierten Pro- tozoon doch eine Verlangsamung der Zellverschmelzung zur Er- klärung dieser Teilung kaum herangezogen werden kann. Man muss hierbei aber beachten, dass diese Form mit den Infusorien anscheinend nicht näher verwandt ist und also nur eine analoge Umbildung der totalen Karyogamie vorliegt, welche unter gänzlich verschiedenen Umständen als bei den Infusorien stattfindet und also durch andere Einflüsse hervorgerufen sein kann. H. E. Ziegler hat in seinem interessanten Vortrag über das zoologische System im Unterricht (1904, p. 166, namentlich die An- merkung 10) auch die Frage der Ableitung der Konjugation der Infusorien berührt. Seine Auffassung stimmt in mehrerer Hinsicht 1) Ich möchte noch darauf hinweisen, dass die Reduktionsteilungen der Kerne hier nicht mit einer Teilung der Zellkörper zusammengehen, und dass also der Be- fruchtung bei den Infusorien und bei Actinophrys keine Teilungen direkt voran- gehen, welche die Körpergröße der sich befruchtenden Individuen erheblich herab- setzen würden. Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. 59 mit der meinigen überein. Doch kann ich ihn nicht ganz beipflichten. Erstens kann ich nicht mit Ziegler den Befruchtungsvorgang der Vortizelliden als primitiv deuten, wie schon S. 56 hervorgehoben wurde. Zwar gebe ich Ziegler gerne zu, dass auch bei sonst in mancher Hinsicht sekundär abgeänderten Formen, wie die Peritrichen, die Befruchtung noch wohl in einer ursprünglichen Weise vorgehen könnte, aber mir scheint, dass Maupas in überzeugender Weise den sekundären Charakter der totalen Verschmelzung dieser Tiere dargelegt hat. Auch kann ich nicht alles zugeben, was Ziegler über die Zahl der Kernteilungen bemerkt, nämlich dass diese Zahl so veränderlich ist, dass sie keine große morphologische Bedeutung besitzen kann. Demgegenüber muss ich betonen, dass dies zwar im allgemeinen bei dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse richtig erscheint, dass aber eben bei den Infusorien diejenigen Kernteilungen, welche in unmittelbarer Beziehung zur Befruchtung stehen, der Zahl nach nicht variieren; es sind zuerst zwei Reduktionsteilungen und dann die Teilung in stationären Kern und Wanderkern. Die anderen Kernteilungen, auch die bei Kuplotes und den Vortizelliden auftretende Zweiteilung des Mikronukleus vor den Reduktions- teilungen, stehen nicht in direkter Beziehung zur Befruchtung, sondern dienen zur Bildung des doppelten Mikronukleus. Die Zahl der Reduktionsteilungen ist zwei; sie variiert bei den Infusorien, soweit bis jetzt ersichtlich ist, nicht, wie aus den glänzenden Dar- legungen Maupas’ zweifellos hervorgeht. Ich glaube, dass es ein großer Vorzug der von Boveri zuerst befürworteten und hier von mir vertretenen Erklärungsweise der Konjugation ist, dass die eigen- tümliche dritte Kernteilung vor der Befruchtung eine Erklärung findet. | Es scheint mir, dass die oben erwähnte Auffassung von Lühe diese letztere Kernteilung der Infusorien, welche zwischen den Re- duktionsteilungen und der Befruchtung eingeschaltet ist, nicht in einer ähnlich befriedigenden Weise zu erklären vermag. Bei den Sporozoen folgt die Befruchtung, soweit ich aus der neueren Lite- ratur über diese Protozoenklasse ersehe, unmittelbar auf die Re- duktionsteilungen oder die damit wahrscheinlich vergleichbaren Kernprozesse; die mit der Gametenbildung verknüpften Kern- teilungen gehen anscheinend der Kernreduktion voraus und somit wurden durch eine rudimentäre Sporen-(Gameten)bildung nur Kern- teilungen, welche vor den Reduktionsteilungen stattfinden, niemals aber eine zwischen diese letzteren Teilungen und die Befruchtung eingeschaltete Teilung eine Erklärung finden. Allerdings sind die Reduktionsteilungen der Makrogameten, welche sich am ersten sicher als solche deuten lassen, hier nicht von großer Bedeutung, weil man bei denselben die gänzliche Unterdrückung einer ehemals der Reduktion folgenden Mikrogametenbildung annehmen könnte. 60 Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. Und bei der Mikrogametenbildung scheinen die Reduktionsteilungen oft nicht deutlich hervorzutreten. Die bei Adelea ovata, Klossia helicina und Legerella nova vorkommende Vierteilung der Mikro- gametozyten unmittelbar vor der Befruchtung, entspricht aber viel- leicht den Reduktionsteilungen (vergl. Perez, 1903, p.8; Doflein, 1901, p..118; Siedlecki (1899). Man könnte sich noch fragen, weshalb die partielle Karyogamie, wenn dieselbe wirklich ın der oben angegebenen, einfachen Weise aus der Kopulation entstanden ist, sich nicht öfters, auch außer- halb der Klasse der Infusorien entwickelt hat. Damit sind wir auf rein theoretischem Boden angelangt und ich kann auf diese Frage nur mit Vermutungen antworten. Ich möchte dann aber darauf hinweisen, dass eine Teilung in nur zwei Individuen unmittelbar nach der Befruchtung, ziemlich selten zu sein scheint. Wo die Zygote sich in Sporen auflöst, wie bei Noctiluca und Bodo lacertae, erscheint die Ausbildung der typischen Konjugation weniger leicht möglich. In den meisten Fällen aber sind die Schwierigkeiten, welche bei komplizierter gebauten Protozoen der totalen Karyogamie entgegentreten würden, dadurch aufgehoben, dass der Befruchtung eine Bildung kleiner, einfacher gebauten Gameten vorangeht (Radiolarien?, Foraminiferen, Sporozoen, Volvocineen). Bei an- deren Formen, bei welchen keine ähnliche Gametenbildung auf- tritt, wie bei Achtinophrys sol und Actinosphaerium und einigen Flagellaten, geht mit der Befruchtung ein längeres Ruhestadium zusammen. Wir dürfen aber bei tierischen Flagellaten, von welchen die Infusorien noch am ehesten abgeleitet werden können, das Vor- handensein der Bedingungen voraussetzen, welche für die Entstehung der Konjugation der Infusorien auf dem oben dargelegten Wege notwendig erscheinen. Unter diesen Formen gibt es solche, bei welchen die Kopulation zwischen erwachsenen Individuen stattfindet, bei welchen schon typische Reduktionsteilungen der Kerne auftreten, welche nicht mit einer Körperteilung verknüpft sind, wodurch die Körpergröße der Kopulanten sehr erheblich herabgesetzt werden könnte. Und es gibt dabei auch Formen, bei welchen unmittelbar auf die Befruchtung eine zweiteilung der Zygote folgt, aller- dings bisweilen auch eine Teilung in vier oder noch mehr Indivi- duen. Und bei diesen Flagellaten zeigt bisweilen auch der Kern- apparat eine größere Ähnlichkeit mit demjenigen der Infusorien (vergl. S. 51). \ Literaturverzeichnis. Boveri, Th. (1892). Befruchtung, in: Merkel und Bonnet, Ergebnisse, V. 1, p. 386—485. Bütschli, O. (1887—1889). Protezoen, in: Bronn, Class. Ordn., V.1, 2. Aufl. Versluys, Über die Konjugation der Infusorien. 61 Dallinger, W. H. and Drysdale, J. (1873). Further Researches into the Life History of the Monads, in: Monthly Mierose. 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In Nord- amerika sind gegenwärtig schon zwei Dutzend solcher Institute in Tätigkeit, in Russland deren vier, in Norwegen, England, Frank- reich, Italien und Dänemark je eine. Dazu kommt demnächst noch eine belgische, welche an einen großen Teich in der Nähe der Universitätsstädte Gent und Löwen ihren Standort erhalten wird. Das Stationsgebäude selbst ist beim Dorfe Overmeire-Donck errichtet, besitzt zwei Stockwerke und hat 100 qm Grundfläche. Um das Zustandekommen dieser kleinen Anstalt hat sich namentlich Prof. Rousseau vom kgl. Museum in Brüssel Verdienste erworben. Dieser Herr wird auch die Leitung der dort zu betreibenden For- schungen übernehmen, wie verlautet. Es handelt sich in Overmeire- Donck um ein teichähnliches Wasserobjekt, welches zum Gegenstande fortgesetzter limnobiologischer Studien gemacht werden soll, so dass man nun auch die Lebensverhältnisse eines seichteren Wasserbeckens zu erforschen Gelegenheit haben wird, während bisher — wie z.B. auch in Plön — es vornehmlich größere und tiefere Seen sind, welche zur Exploration gelangten. Eine andere Süßwasserstation, solid gebaut und trefflich aus- gestattet, wird demnächst auch Mailand besitzen. Sie befindet sich auf dem Terrain der Simplonausstellung und wird dort als Schauobjekt während der ganzen Dauer der am 1. Aprıl 1906 zu eröffnenden Esposizione del Sempione figurieren. Im Gegensatz zu den übrigen ringsherum stehenden Gebäuden ist die in Form einer Rotunde errichtete Station von dauerhafter Bauart, und wenn die Mailänder Ausstellung am 31. Oktober 1906 geschlossen worden sein wird, sollen die ephemeren Hallen und Industrietempel baldigst verschwinden, wogegen die Forschungsstation an ihrem Orte im Norden der Stadt verbleibt, um ihrer Funktion zu dienen. Der präsumtive Leiter derselben, Prof. S. Mazzarelli, wird dort Zacharias, Die Begründung von Süßwasserforschungsstationen im Auslande. 63 namentlich auch Studien über Fischkrankheiten betreiben und bakteriologische Experimente (Impfungsversuche) vornehmen. Eine andere italienische Süßwasserstation befindet sich zu Rom in dem Gebäude des ehemaligen Acquario romano auf Piazza Manfredo Fantı und ist dem Prof. Decio Vinciguerra unter- stellt. Aus dieser Station sind bereits eine Reihe interessanter Arbeiten über Copepoden, Wassermilben und Ostrakoden des römischen Gebiets hervorgegangen. Ich bemerke zum San dass ich beide Stationen, die in Mailand sowohl wie die in Rom befindliche unlängst besucht habe, so dass ich aus eigener Anschauung zu urteilen vermag. Von seiten eines spanischen Gelehrtenkomitees wird, wie aus sicherer Quelle verlautet, auch für Marokko eine Station ge- plant, welche sowohl für Süßwasser als auch für Meeresforschungen eingerichtet sein soll. Die Vorarbeiten dazu sind schon im Gange und die leitenden Persönlichkeiten bereits bestimmt. Ein schwimmendes Laboratorium für marine Biologie. Mitteilung von Dr. Otte Zacharias (Plön). Amerika ist das Land großer und zeitgemäßer Unternehmungen auch auf dem Gebiete der Wissenschaft und ihrer Methodik. Da- von gibt aufs neue der Umstand Zeugnis, dass für die biologischen Studien in Zoologie und Botanik am Hartforder Trinity College zu Beginn nächsten Sommers (1906) ein Dampfer bereit stehen wird, welcher passende Räumlichkeiten für wissenschaftliche Ar- beiten enthalten und auch mit den nötigen Fangutensilien ausge- rüstet sein soll, welche zur Vornahme ozeanographischer, physio- logischer, embryologischer und histologischer Arbeiten erforderlich sind. Außerdem werden geschulte Präparatoren, Zeichner und Photographen auf die bezüglichen Exkursionen in See mitgenommen, damit dieselben sofort an Ort und Stelle seltenere Organismen konservieren oder abbilden. Natürlich wird man auch die ge- eignetsten Dredschen, sowie Horizontal- und Vertikalnetze für die Gewinnung des Planktons an Bord des in Rede stehenden For- schungsdampfers vorfinden. — Es ist beabsichtigt, an dem einzelnen Stationen, welche man anzulaufen gedenkt, immer etwa für einen Monat Anker zu werfen und die betreffende Umgebung zum Gegenstande eingehender Unter- suchungen zu machen. Es ist dies offenbar ein sehr aktuelles und im Interesse der Wissenschaft mit Freuden zu begrüßendes Unter- nehmen — dies um so mehr, als es auch ausländischen jungen Forschern nicht verwehrt sein soll, an diesen lehrreichen Ausflügen in den westlichen Teil des Atlantischen Ozeans teilzunehmen. Es 64 Molisch, Die Lichtentwickelung in den Pflanzen. handelt sich dabei auch nicht um ein vorübergehendes Unter- nehmen, sondern um eine dauernde Institution, welche mit dem Trinity College zu Hartford (Conn.) verbunden sein soll. Seine erste Tour wird das Schiff nach den Bahamainseln machen. Dann will man in nördlicher Richtung kreuzen und ver- schiedene Hafenorte besuchen, deren Lage für Studienzwecke ge- eignet erscheint. Die Wahl der Bahamainseln ist besonders da- durch gerechtfertigt, dass dieselben am Beginn des Golfstromes und speziell da liegen, wo er zwischen Florida und Cuba durchkommt. Er enthält auf dieser Strecke Myriaden von Organismen, die teils vom Äqnator, teils aus dem mexikanischen Meerbusen herstammen. Dazu kommt, dass das Klıma jener Inselgruppe warm, aber nicht heiß ist, so daß es sich sehr gut zur Vornahme geistiger Arbeiten schickt. Auch sind die Bewohner dort ehrlich und treuherzig, so dass der Reisende in dieser Hinsicht sehr angenehme Verhältnisse antrıfft. — Vielleicht übt dieses neue amerikanische Studien- pro,ekt auch auf manchen Leser des „Biol. Uentralblattes“ seine Anziehungskraft aus, um ihn zu bestimmen, mit Erlaubnis des be- züglichen Komitees an einer der geplanten Fahrten teilzunehmen. H. Molisch. Die Lichtentwickelung in den Pflanzen. Kl. 8. 32 Stn. Leipzig. Joh. Ambrosius Barth. 1905. Herr M. hat seine Studien über „leuchtende Pflanzen“ in einem bei Fischer in Jena 1904 erschienenen Buche niedergelegt. Das vorliegende Schriftchen, ein Abdruck seines auf der Naturforscherversammlung zu Meran gehaltenen Vortrags, gibt die wichtigsten Tatsachen in kurzer Darstellung wieder. Nachdem J. F. Heller i. J. 1842 die Ansicht ausgesprochen hatte, dass das Leuchten fauler Hölzer von einem auf dem Holze wuchernden Pilz herrühre, und später das Gleiche für faulendes Fleisch, Fische u. s. w. nachgewiesen hatte, ist es jetzt, allgemein anerkannt, dass die Erscheinung von Bakterien und Faden- pilzen herrührt. M. wies nach, dass Leuchten von Fleisch viel öfter auftrittt, als man gemeiniglich annimmt; er konnte es bei Proben von Rindfleisch in 89, bei Pferde- fleisch in 65°/, aller untersuchten Fälle nachweisen. Das Bact. phosphoreum gehört daher zu den verbreitetsten Bakterien. Ebenso häufig konnte er das Leuchten verwesender Blätter nachweisen: es ist ihm jedoch nicht gelungen, den Pilz fest- zustellen, welcher die Erscheinung hervorruft; neben dem Bact. phosphor. (Cohn) fand er noch ein Mycelium X, wie er es. vorläufig nennt, welche das Leuchten des Holzes hervorrufen. M. bespricht dann die Ernährungs- und Wachstums- bedingungen dieser Pilze nach Beijerinck’s und seinen eignen Untersuchungen. Neben den erforderlichen Nährstoffen gehört immer auch freier OÖ zum Hervorrufen des Leuchtens. Während das Leuchten der Pflanzen dauernd ist, tritt bekanntlich die Lichterzeugung bei niederen Tieren nur infolge von Reizen ein und steht bei den höheren unter dem Einfluss des Nervensystems. Die spektroskopische Unter- suchung ergab ein nach dem violetten Ende sehr ausgedehntes Spektrum, dessen größte Intensität ins Grün fällt. In den intensivsten Spektren konnte M. die Farben grün, blau, violet unterscheiden. Mit Hilfe von Keimlingen konnte er auch heliotropische Wirkungen nachweisen. R. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz. 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. XXYVI. Bd. 1. Februar 1906. NM 8. Inhalt: Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft, der Menschheit (Fortsetzung). — Schneider, Das Wesen des Psychischen. — Rosenthal, Bemerkungen zu dem Aufsatz des Herrn K. C. Schneider „Das Wesen des Psychischen‘, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. (Vorläufige Mitteilung.) Von M. Schimkewitsch. (Fortsetzung..) 111. Bezüglich der Frage, welche Merkmale plötzlich auftreten können, wird uns durch ein Gebiet Aufschluss gegeben, dessen theoretische Bedeutung immer mehr und mehr heranwächst, nämlich die Terato- logie. Mit der zunehmenden Entwickelung der experimentellen Embryologie hört die Teratologie zusehends auf, eine rein be- schreibende Disziplin zu sein, als welche sie noch vor kurzem er- schien. Alle jene Bahnen, de die teratologischen Abweichungen einschlagen, sind Aleichrenee die Wege der an In der Tat können die elle der Zahl von Organen und das Verschwinden dieser letzteren, das Verschmelzen gleichartiger Organe, die Hemmungen in der Entwickelung, die Hypertrophie von Organen, der Atavismus sowie einige progressive Erscheinungen, die Übertragung von Merkmalen eines Basar ie auf das a der wahre Hermaphroditismus und andere Anomalien und Miss- bildungen, die Doppelmissbildungen nicht ausgeschlossen, alle durch Mutation entstehen und zu einem spezifischen Merkmale werden. Die Beispiele der Entstehung von Merkmalen, welche auf eine numerische Vermehrung der Organe hinauslaufen sowie deren XXVl. 5 66 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. Verschwinden, wurden bereits oben besprochen; wir werden uns jetzt mit Beispielen anderer Art beschäftigen. Die durch Verschmelzung gleichartiger Organe entstandenen Organe sind recht bekannt. Hierzu gehören z. B. das unpaare Auge der Copepoden, welches nach Olaus (1891) durch Verschmelzung dreier Ocellen entstanden ist, wobei diese letzteren bei einigen Formen getrennt und sogar vollständig isoliert bleiben; ebenso das unpaare zusammengesetzte Auge der Cladoceren, welches natürlich phylogenetisch durch Verschmelzung zweier zusammengesetzter Augen entstanden ıst. Es sınd Fälle bekannt, wo die Organe einer Seite miteinander verschmelzen, so z. B. die Vereinigung der Schmelzorgane bei den Zahnanlagen von verschiedenen Generationen, wie dies bei den Üetaceen anzutreffen ist, ferner bei dem Lamantın (Kükenthal, 1896) und den Eichhörnchen (Adloff, 1898). Ebenso wurde auch das Verschmelzen zweier Anlagen zur Bildung einer Zitze bei dem Pferde beobachtet (Profe, 1898). Es ist jedoch nicht klar, inwiefern auf diese Fälle die Hypothese angewandt werden kann. Das ontogenetische Verschmelzen der Schmelzanlagen und Zitzenanlagen erfolgt allmählich, nachdem die- selben einzeln angelegt worden sind. Ebenso allmählich hat sich wahrscheinlich auch das Verschmelzen (der Ocellen bei den Cope- poden und der zusammengesetzten Augen bei den Oladoceren voll- zogen, obgleich andererseits die Erscheinung anormaler Cyelopie bei den Wirbeltieren vollständig plötzlich entsteht. Ich kann demnach kein Beispiel für ein solches Verschmelzen, welches wir als unbedingt plötzlich ansehen müssen, finden, obgleich diese Möglichkeit für einige der angeführten Fälle andererseits nicht geläugnet werden kann. Durch die Übertragung sekundärer Geschlechtsmerkmale eines Geschlechts auf das andere, oder den sogenannten äußerlichen Hermaphroditismus, können wir unter anderem das Auftreten von Geweihen bei den Rentierweibchen erklären und dieses Merkmal, sowie andere ähnliche Merkmale, sind ebenso plötzlich aufgetreten wie auch ähnliche anormale Abweichungen plötzlich auftreten. Bezüglich des Hermaphroditismus der Gonaden können wir bis jetzt nieht mit Bestimmtheit aussagen, ob derselbe eine primäre Erscheinung. darstellt, oder bei den Metazoa aus der Getrennt- geschlechtlichkeit entstanden ist. Die Kolonien von Volvox sind bald hermaphroditisch, bald getrenntgeschlechtlich, je nach der Spezies. Ebenso finden sich auch bei den niederen Metazoön getrenntgeschlechtliche Formen neben hermaphroditischen. Allein wir können in bezug auf einige spezielle Fälle behaupten, dass der Hermaphroditismus hier durch Variierung aus der Getrenntgeschlechtlichkeit. infolge Trennung und Differenzierung der Genitalanlage in zwei Teile, einen männ- Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft ‚der Menschheit. 67 lichen und einen weiblichen, entstanden ist. Dieser Art ist wahr- scheinlich die Entstehung sowohl des anormalen wie auch des normalen Hermaphroditismus bei den Wirbeltieren (bei Myzine, Serranus u.a. m.), ebenso wie auch in einigen anderen Fällen, für welche wir bisweilen eine passende Erklärung besitzen, bisweilen aber auch nicht. In bezug auf die Cirripedien und Bryozoön wird wohl kaum ein Zweifel darüber bestehen können, dass der Hermaphroditismus hier im Zusammenhange mit der festsitzenden Lebensweise ent- standen ist, wobei das Vorhandensein von rudimentären oder supplementären Männchen bei den Cirripedien darauf hinweist, dass die hermaphroditischen Individuen durch Modifikation aus den Weibchen entstanden sind. Wie eine solche Entstehung vor sich gehen konnte, zeigen die Beobachtungen von Pedaschenko an Lernaea (1896). Bei Lernaea, wie auch bei anderen parasitischen Copepoden (Schimkewitsch, 1895), differenziert sich die Genitalanlage sehr früh in Gestalt von vier Zellen. Nach Analogie mit Sagitta wird man annehmen können, dass zwei derselben männliche, die zwei anderen weibliche Zellen darstellen. Von Pedaschenko ist nach- gewiesen worden, dass diese Zellen späterhin zu je zwei miteinander verschmelzen. Der Prozess des Verschmelzens ist wahrscheinlich identisch mit demjenigen der Phagocytose, wobei bei den Männchen die männlichen, bei den Weibchen die weiblichen Zellen die Ober- hand behalten. Ein analoger Prozess ist früher von Balbiani (1885) für Ohironomus beschrieben worden, wo eine Verschmelzung zweier Gruppen von Zellen der Genitalanlage stattfindet, wobei eine jede dieser Gruppen anfänglich vier und nach der Verschmelzurig zwei Zellen enthält. Pedaschenko betrachtet diesen Prozess mit vollem Rechte als die Offenbarung eines Hermaphroditismus in statu nascendi. Wenn nach der Teilung der Anlage eine weitere Entwickelung einer jeden von ihren Hälften vor sich ginge, so würde ein hermaphro- ditisches Individuum entstehen, allein so weit ist die Sache bei den Copepoden und Ohironomus noch nicht gediehen. Diese Beobachtungen berechtigen uns zu dem Ausspruch, dass der Hermaphroditismus durch eine bereits im Keime erfolgte Teilung der Genitalanlage entstehen kann. Ein anscheinend Binden Prozess — die Teilung eines kleinen Häufchens von Zellen der Genitalanlage bei dem Keime — kann sich bei dem erwachsenen Individuum durch die Abänderung einer ganzen Reihe primärer und sekundärer Merkmale geltend machen. Es sei darauf hingewiesen, dass hermaphroditische Formen wiederum zu getrenntgeschlechtlichen Formen werden können: die kürzlich von Fuhrmann (1904) beschriebene getrenntgeschlecht- 5+ 58 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. liche Cestode (Dioicocestus acotylus) werden wir wohl kaum für eine primäre Form halten dürfen. Es erscheint wahrscheinlicher, dass diese Form aus einer hermaphroditischen entstanden ist, obgleich wir uns in dem angegebenen Falle mit voller Anschaulichkeit vor- stellen können, wie dieser Prozess durch das allmähliche Ver- schwinden der männlichen Organe bei den einen, der weiblichen bei den anderen Individuen vor sich geht. Allein auch hier wird man nicht die Möglichkeit eines plötzlichen Auftretens des getrennten Geschlechts durch das Verschmelzen der männlichen und weiblichen (senitalanlage in den Anfangsstadien der Entwickelung läugnen können. Mit anderen Worten, ın dem gegebenen Falle könnten wir uns einen Prozess vorstellen, welcher das Gegenteil von dem- jenigen Prozesse darstellt, dessen Möglichkeit wir zur Erklärung einiger Fälle von Hermaphroditismus zugelassen haben. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet erscheinen die sogenannten plötzlichen Abänderungen durchaus nicht so plötzlich, wie dies den Anschein hat. Bei dem Keime können sie sich langsam und sukzessive vorbereiten, allein in der Organisation des erwachsenen Individuums erst dann zur Geltung kommen, wenn sie eine bestimmte Intensität und eine gewisse Grenze erreicht haben. Allein auch diejenigen Vorgänge, welche bei dem Keime stattfinden, können wir nur dann beobachten, wenn der Prozess sich auf die Zellen selbst ausdehnt; so lange er sich jedoch in dem Dunkel des molekulären Baues der Genitalzelle abspielt, bleibt er für unsere Beobachtung unzugänglich'). Indem wir diese letztere Seite der Frage unberücksichtigt lassen, können wir den allgemeinen Grund- satz aufstellen, dass alle Mutationen das Ergebnis von Abänderungen sind, welche in den Geschlechts- und Keimzellen vor sich gehen, allein es ist sehr wohl möglich, dass die allerschroffsten Mutationen durch äußerst geringfügige Abänderungen hervorgerufen werden können. Es wird uns wahrscheinlich mit der Zeit gelingen genauer festzustellen, welcher Periode des Lebenszyklus die durch Mutation hervorgerufenen Veränderungen und welcher Periode die durch Flexuation bedingten Veränderungen angehören. So ist es z. B. wohl möglich, dass die Veränderungen, welche bei der Reifung der Genitalzellen, während der Reduktion, während der Befruchtung 1) Schwalbe (1898) unterscheidet mit bezug auf den Zeitpunkt des Auf- tretens folgende Variationen: gonogene Variationen, d. h. solche, welche in Ab- hängigkeit von den Entwickelungsbedingungen der Genitalzellen entstehen; gamogene Variationen, d. h. solche, welche von den Bedingungen der Reduktion und der Befruchtung abhängig sind; endlich embryogene Variationen, d. h. soiche, welche während des embryonalen und larvalen Lebens entstehen. In bezug auf die Erb- lichkeit unterscheidet er die ontogenen von den phylogenen Variationen, welch letztere zu der Bildung von Arten führen. Den Grund dafür aufzufinden, warum ontogene Variationen zu phylogenen werden — bildet die Aufgabe der Zukunft. Schimkewitsch, Die Mutationsiehre und die Zukunft der Menschheit. 69 oder überhaupt in frühen Perioden des Lebenszyklus vor sich ge- gangen sind, zu schärfer ausgesprochenen Variationen führen, als diejenigen Veränderungen, welche in späteren Perioden des em- bryonalen Lebens eingetreten sind und zu geringfügigeren Variationen führen; diejenigen Veränderungen hingegen, welche der erwachsene Organismus erleidet, haben gar keine Wirkung auf die erblichen Eigenschaften der Nachkommenschaft. Einstweilen wird man über alles dieses nur Vermutungen aussprechen können. IV. Die Frage über die Entstehung von Artmerkmalen durch Ent- wickelungshemmungen oder sogar infolge von Atavismus, wie sie von de Vries und vorher schon von Reid (1898) berührt worden ist und von Rosa und Plate in dieser Zeitschrift besprochen wurde, kann durch recht zahlreiche Beispiele aus dem Tierreiche illustriert werden; dabei kommt dieser Frage eine ganz ungeheure Bedeutung für die phylogenetischen Konstruktionen zu. Durch die Möglichkeit der Existenz von Formen, welche unter der allgemeinen Bezeichnung von neotenischen Formen zusammengefasst werden, wird diese Frage schon von vornherein entschieden. Man braucht nur anzunehmen, dass der Axolotl für immer die Fähigkeit zur Verwandlung in die Amblystomaform verloren habe, um ein ausgezeichnetes Beispiel für die Entstehung einer neuen Form durch einen Stillstand in der Entwickelung zu geben. Selbstverständlich können wir nicht mit Sicherheit behaupten, dass einige andere ge- schwänzte Amphibien auf die gleiche Weise entstanden sind, wie dies von einigen Autoren vorausgesetzt wurde, allein wir können diese Möglichkeit auch nicht läugnen. Im gleicher Weise spricht vieles für eine Entstehung der Rotatorien und einiger anderer Formen durch Neotenie. Überhaupt gibt es wahrscheinlich viel mehr neotenische Formen als wir vermuten. Die kürzlich von Goldschmidt (1905) ange- stellten Untersuchungen an Amphioxides Gill. haben diesen Autor zu der Überzeugung geführt, dass wir es hier mit einer primären Form zu tun haben; den Beweis hierfür erblickt er in der asym- metrischen Anlage der Kiemenspalten und des Mundes beı der Larve von Branchiostoma, welche demnach die gleichen Verhältnisse wiederholt, wie sie bei Amphioxides für das ganze Leben beibehalten werden. Es unterliegt keinem Zweifel, dass einige Züge von Amphrowides, wie z. B. das Fehlen einer Peribranchialhöhle, einen primären Charakter tragen, ällein man wird wohl kaum der Asymmetrie seines Baues, welche bis zum Vorhandensein nur einer Reihe von Kiemenspalten auf der Bauchseite führt, die gleiche Bedeutung beimessen können. 70 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. Meiner Ansicht nach kann Amphioxides vielmehr als eine neotenische Form aufgefasst werden. Die Ursachen der Asymmetrie in der Lage der Organe bei der Branchiostoma-Larve, eine Asym- metrie, welche sich auf Amphioxides vererbt hat, müssen dagegen anderer Natur sein. Unter den Acrania haben wir die Gattung Asymetron, unter den Enteropneusten — Piychodera asymmetrica, wo die Gonaden nur auf der einen Seite entwickelt sind, allein wir können einst- weilen noch nicht sagen, wodurch dieses Verhalten hervorgerufen wird. Schon der Umstand allein, dass der branchiale Abschnitt bei Amphiowides die Bauchseite einnimmt, bei den Enteropneusten, Tunicaten und Branchiostoma dagegen die Rückenseite, weist darauf hin, dass in der Organisation von Amphioxides der sekundäre Oha- rakter vorwiegt. Y.. Neben einer solch vollständigen, d. h. alle Organe umfassenden Hemmung in der Entwickelung, kann auch eine teilweise Ent- wickelungshemmung stattfinden und die Bedeutung eines spezifischen Merkmals erhalten, d. h. eine Hemmung, welche irgend eines der Organe oder ein Organsystem allein betrifft. Mir erscheint in dieser Hinsicht die Gruppe der Gymnophiona als ganz besonders lehrreich. In Anbetracht dessen, dass der Embryo der Gymnophiona eine Anlage der hinteren Extremitäten besitzt (Sarasin, 1884—1886), wird man vermuten können, dass diese Gruppe aus Amphibien hervorgegangen ist, welche Extremi- täten besaßen, und ‘überhaupt einen gemeinsamen Ursprung mit den übrigen Amphibien hat. Allein wir finden in der Organisation dieser Gruppe eine Reihe von Merkmalen, welche nicht allein bei den übrigen Amphibien fehlen, sondern sogar mit denen der Ga- noiden und Selachier verglichen werden müssen. Hierzu gehört z. B. der Bau des Urogenitalsystems des Männ- chens der Gymnophiona. Als Merkmal äußerst niederer Organi- sation erscheint das Vorhandensein kleiner Schuppen in der Haut, welche in besonderen ringförmigen Säckchen liegen; diese Säckchen betrachtete Gegenbaur als das Resultat einer Verschmelzung der einzelnen Taschen, welche anfänglich eine jede Schuppe besonders umschlossen, wie wir dies bei den Öycloid- und Ötenoidschuppen der Fische sehen können. Um diese wie auch viele andere Eigentümlichkeiten zu erklären, kann ınan drei verschiedene Wege einschlagen und drei verschiedene Voraussetzungen machen, und zwar: 1. Die Gymnophiona entstanden selbständig aus niedriger stehenden Formen und zwar unabhängig von den übrigen Amphibien. 2. Die Gymnophiona haben sich zu einer Zeit von den Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. Zul Amphibien abgetrennt, als letztere noch diese Merkmale niederer Organisation besaßen. 3. Die Gymnophiona trennten sich von den Amphibien ab, nachdem letztere bereits ihre wahren charakteristischen Merkmale erlangt hatten, worauf sie ihre Eigentümlichkeiten durch Ent- wickelungshemmung oder vielleicht sogar durch Rückschlag erwarben. Mir scheint die dritte dieser Voraussetzungen die größte Wahr- scheinlichkeit zu besitzen. In der Tat — wollen wir die Dipno6ör oder aber gewisse Ganoiden, und zwar die Ürossopterygii, für die Vorfahren der Amphibien inkl. die Gymnophiona ansehen — so finden sich doch in der Organisation dieser letzteren solche Züge, wie wir sie nur noch bei den Selachiern oder gar bei den Cyclostomen antreffen, dagegen weder bei den Dipnoörn noch bei den Ganoiden. Hierzu gehört zum Beispiel die metamere Anordnung der Meta- nephridialkanälchen in dem vorderen Teile der Niere bei den Gymnophiona. Man wird voraussetzen müssen, dass die Gymno- phiona sich unmittelbar von den Selachiern abgesondert haben, oder aber dass sie sich von den übrigen Amphibien zu der Zeit trennten, als diese letzteren noch einige Merkmale der Selachier an sich trugen. Indessen werden wir vom Gesichtspunkte der dritten Voraus- setzung aus die viel wahrscheinlichere Auffassung zulassen müssen, dass die Gymnophiona solche Merkmale (wie z. B. die metamere Anordnung der Metanephridialkanälchen) beibehalten haben, welche auch den heute lebenden Amphibien im Embryonalzustande eigen- tümlıich sind. Das Auftreten einiger Merkmale infolge Abweichung der Embryonalentwickelung nach irgend einer Richtung, hatte bereits E. Geoffroy-St.-Hilaire zugegeben, welcher auf die Möglichkeit eines Auftretens von Merkmalen „caracteres heureux“ und „funestes*“ bei dem Embryo hinwies, und bemüht war, auf dieser Grundlage die Entstehung der Organisation der Vögel aus derjenigen der Reptilien zu erklären. Wenn wir auch gegenwärtig die Ansichten St.-Hilaire’s über diesen Gegenstand nicht in vollem Umfange teilen können, so müssen wir doch die Entstehung einiger in morphologischer Hinsicht sogar sehr wichtiger Merkmale auf dem embryonalen Stadium zugeben müssen. So wissen wir z. B., dass bei den Schlangen und schlangen- ähnlichen Eidechsen nur eine Lunge zur Entwickelung gelangt, und zwar in der erdrückenden Mehrheit von Fällen die rechte Lunge. Bei einigen Arten dagegen (z. B. bei Seincus) ist ım Gegenteil gerade die linke Lunge entwickelt. Müssen wir nun unvermeidlich voraussetzen, die Evolution dieser beider Gruppen von Reptilien wäre unabhängig von denjenigen Formen vor sich gegangen, welche 72 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. beide Lungen besitzen? Natürlich brauchen wir dies nicht voraus- zusetzen, sondern wir können annehmen, dass die Formen mit linker Lunge aus dem Grunde entstanden sind, weil bei einem Embryo mit Anlage beider Lungen aus irgend einem Grunde nicht wie dies gewöhnlich der Fall ist die linke, sondern die rechte Lunge rück- gebildet wurde, und nicht die rechte, sondern umgekehrt die linke Lunge zur Entwickelung gelangte. Sind unsere Betrachtungen begründet, so haben wir es mit dem Beispiel eines Organs (der rechten Lunge) zu tun, welches einer Rückbildung unterlegen ist und später von neuem zur vollen Entwickelung gelangt ist. Die Beobachtungen von Greil (1905) veranlassen uns anzunehmen, dass die paarige Anlage sowohl der Lunge als auch der Schwimmblase als die normale zu betrachten ist. Bei den Knochenfischen entwickelt sich aus dieser paarigen Anlage die linke, bei Amia und Ceratodus die rechte Schwimmlblase. Indem wir im gegebenen Falle die gleiche Reflexion anwenden wie im vorhergehenden Falle, könnten wir immerhin die Fische mit rechter Schwimmblase für die Vorfahren der Fische mit linker Schwimmblase ansehen oder umgekehrt, um so mehr als nach den: Beobachtungen von Rowntree (1905) der Duetus pneumaticus bei den Erythrinidae und Characinidae bald rechts, bald links vom Darme liegt. Jedenfalls können diejenigen Organe, welche bei dem Embryo in Gestalt eines provisorischen Rudiments auftreten, bei dem er- wachsenen Organismus zur vollen Entwickelung gelangen und zu funktionierenden Teilen desselben werden. Kehren wir nunmehr zu der Frage über die Entstehung von Merkmalen durch Entwickelungshemmung zurück. Nehmen wir an, die Form A hätte der Form B ihren Ursprung gegeben, diese letztere dagegen den Formen C, D und E, wie dies auf dem beigegebenen Schema angegeben ist, so kann die Form E, trotzdem sie ebenso wie auch die Formen © und D von B ab- stammt, dennoch Merkmale besitzen, welche auf Spuren niedriger Organisation hinweisen, demnach nicht der Form B, sondern aus- schließlich der Form A eigentümlich sind. A B a 74 N G--DETE Dieses müssen wir bei unseren phylogenetischen Konstruktionen im Auge behalten und wir werden bisweilen die Aufeinanderfolge der Formen nicht sowohl auf Grund einer Vergleichung erwachsener Formen untereinander, sondern auf Grund einer Vergleichung der r- Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. (5 erwachsenen Form einer jüngeren Spezies mit der larvalen oder embryonalen Form einer älteren Spezies feststellen können. Allein wir können logischerweise auch noch weiter gehen. Nehmen wir an, die Form B in dem angeführten Schema hätte, nachdem sie C, D und E von sich abgegeben hat, in ihrer Ent- wickelung dank der allgemeinen Tendenz zu einer Verkürzung dieser letzteren, gerade diejenigen älteren Merkmale eingebüßt, welche bei E erhalten geblieben sind. Diese durch ein reales Beispiel allerdings schwer zu erläuternde Voraussetzung enthält an und für sich nichts Unwahrscheinliches, allein die dabeı resultierende Komplikation ist so bedeutend, dass deren Lösung völlig unmöglich werden könnte. Die von der Form B abstammende Form E kann sich im Besitz von Merkmalen erweisen, welche weder der er- wachsenen Form B, noch deren Larve oder Embryo eigentümlich sind. Allein dasselbe Resultat wird auch erzielt, wenn wir die Entstehung von Merkmalen durch Atavismus zugeben; lassen wir nun aber andere Formen der Evolution durch Mutation zu, so haben wir nicht das geringste Recht, die Möglichkeit einer atavistischen Form von Mutation von der Hand zu weisen. Selbstverständlich ist es in den meisten Fällen unmöglich, die Frage zu beantworten, ob wir es mit einem durch Atavismus ent- standenen Merkmal oder aber mit einem Merkmal zu tun haben, welches noch zu einer Zeit, wo die gegebene Phase in dem nor- malen Lebenszyklus eingeschlossen und noch nicht dank dem Prinzip der Entwickelungsverkürzung aus demselben ausgeschieden worden war, durch en entstanden ist. Für die Lösung der Frage, ob der Atavismus bei der Ent- stehung neuer Arten eine Rolle spielen kann, können wir die Analogie mit den Haustieren oder überhaupt mit solchen Tieren zu Hilfe nehmen, welche für Experimente verwendbar sind. Fast alle Biologen, welche Kreuzungen verschiedener Arten und Rassen angestellt haben, weisen auf eine Tendenz der Hybriden und Mestizen zum Atavismus hin; wofür Mendel eine durchaus ratio- nelle Erklärung gegeben hat. Diese Erscheinung wird überein- stimmend von allen Forschern vermerkt, welche an verschiedenen Rassen von Mäusen (Haacke, 1895; Guaita, 1898), an Ratten und Kaninchen (Bond, 1899), an Haustieren (Sansou) und an Schmetterlingen Versuche angestellt haben (Standfuß u.a.). Diejenige Erscheinung, elloke Ewart früher (1596) für eine Erscheinung der Telogonie bei der Kreuzung verschiedener Arten der Gattung Eguus gehalten hatte, erkannte dieser Forscher später als einen Atavismus (1899). Wenn es uns z. B. möglich ist, durch Kreuzung zweier Arten der Gattung Eguus, welche keine dunklen Streifen auf den Beinen haben, eine Nachkommenschaft mit solchen Streifen zu erzielen, so können wir, indem wir bei diesen Nach- 74 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. kommen die künstliche Auslese anwenden, eine neue Rasse mit gestreiften Beinen erhalten; diese Rasse wird dann ein Merkmal besitzen, welches durch Atavismus entstanden ist. Ebenso scheint es mir möglich, eine Pferderasse mit drei Zehen oder mit Hörnern zu erzielen!,,. Und was für die künstliche Auslese möglich ist, kann auch von der natürlichen Auslese geleistet werden. Erweisen sich die Betrachtungen von Bardeleben (1886) und Emery (1895), nach welchen gewisse Knochen in der Extremität einiger Nager (z. B. Pedetes und Batyergus) einen praepollex und postminimus darstellen, als richtig, so frägt es sich in der Tat, ob wir dann voraussetzen müssen, dass sich bei diesen ziemlich weit voneinander stehenden Nagern Züge einer siebenstrahligen Extremität erhalten haben, während bei allen übrigen Nagetieren und den Säugetieren überhaupt diese Züge bereits in der ältesten Vorzeit verloren gegangen sind. Wäre es nicht einfacher und natürlicher, vorauszusetzen, dass die erwähnten Züge bei den genannten Nagern als ein Atavismus entstanden sind? Der postminimus konnte bei Pedetes durch eine Zweiteilung des os pisiforme entstanden sein, aber die Zweiteilung selbst stellt vom Standpunkt Bardeleben’s und Emery’s einen Prozess von atavistischem Charakter dar. Die Entstehung der Luftröhrenknorpel, und zwar der Cartilago thyreoidea und epiglottis auf Kosten des 4, 5. und 6. Kiemen- bogens und vielleicht auch der Knorpel des äußeren Ohres bei den Säugetieren auf Kosten des Hyoidbogens (nach Gegenbaur) bieten genau ebenso ein Beispiel dafür, dass die Natur für den Aufbau gewisser neuer Organe rudimentäre Überreste oder provisorische Organe verwendet. Das System der Kiemenbögen unterliegt bei den Anura einer starken Reduktion und bei den Reptilien einer 1) Die Hörner des Pferdes betrachtet Blanc (1895) als die Folge eines Her- vorwachsens der Flügel des vorderen Sphenoidalknochens durch das Stirnbein, weist aber gleichzeitig auf das Vorhandensein eines besonderen Knorpels im Axenteil des Hornes hin; dieser Knorpel wird später ossifiziert und erinnert an das os cornu der Schafe. Nach der Voraussetzung von Lataste (1895) ist das knöcherne Gerüst der Hörner dermalen Ursprungs und in der Tat können die Hörner aus den Knochen- stacheln der fossilen Reptilien (wie z. B. der Ceratopsidae), welche wahrscheinlich mit Hornfutteralen versehen waren, entstanden sein. Das Vorhandensein mehrerer Paare von Hörnern und die Verschiedenheit in der Anordnung derartiger Gebilde auf dem Kopfe einiger solcher fossiler Reptilien sprechen ebenfalls zugunsten dieser Annahme, ebenso das Vorhandensein hornähn- licher Auswüchse bei einigen Chamaeleonarten. Das Männchen von Chamaeleo werneri besitzt drei Hörner, das Weibchen dagegen nur eines und bei Oh. pfefferi ist das Männchen mit zwei Hörnern ausgestattet (Tornier, 1899 und 1900). Allein in diesem Falle wäre der perichondrale Ursprung des os cornu beim Pferde uner- klärlich. Der atavistische Charakter der Hörner des Pferdes kann demnach nicht als bewiesen betrachtet werden, allein es wäre aller Wahrscheinlichkeit nach wohl mög- lich, eine Rasse gehörnter Pferde zu züchten. Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 75 noch stärkeren Rückbildung. Es ist wohl möglich, dass die reptilien- artigen Vorfahren der Säugetiere im erwachsenen Zustande eben- falls dieses System in stark reduzierter Form besaßen. Bei den Säugetieren erhält das System der Kiemenbögen eine außerordent- lich wichtige Bedeutung und weist einen wenn auch in anderer Richtung progressiven Charakter auf. Derartige Beispiele, welche, wenn sie auch nicht unbedingte Beweise für die Möglichkeit erneuter fortschreitender Entwickelung ‚eines provisorisch oder rudimentär gewordenen Organs darstellen, so doch immerhin für die Möglichkeit dieses Prozesses sprechen, sind in der vergleichenden Anatomie recht zahlreich vertreten. NE Einige Merkmale, welche wir in bezug auf die betreffende Art mit vollem Rechte als progressive oder nach der Terminologie von Cunningham (1898) als progone bezeichnen dürfen, können ihrem Wesen nach das Ergebnis eines Stillstandes in der Entwickelung sein oder sogar einen atavistischen Charakter tragen. Ein sehr anschauliches Beispiel für derartige Merkmale bietet der Metopismus, oder der Nichtverschluss der Stirnnat bei den Menschen, was eine Paarigkeit des Stirnbeins zur Folge hat. Nach den ausführlichen Angaben von Anutschin (1880) be- trägt die Anzahl metopischer Schädel bei den Europäern bis über 8°/,, während sie bei den Australiern 0,6°/,, bei den Melanesıern und Mongolen 3—5°/, und bei den Malayen und Negern 1—2°/, nicht übersteigt. Bei den Anthropomorphen wird der Metopismus nur selten angetroffen (Schwalbe, 1904). Die Paarigkeit des Stirnbeins ist, wenn. sie auch kein unbedingt atavistisches Merkmal darstellt, dennoch auf eine Hemmung in der Entwickelung zurückzuführen und dabei auf einen Stillstand auf einem solchen Stadium, welches mit dem Verhalten bei den niederer stehenden Säugetieren vollständig übereinstimmt. Da das prozentuale Verhältnis bei den höherstehenden Rassen wächst, repräsentiert der Metopismus ein progressives Merkmal, und dabei ein solches Merkmal, welches mit einer verstärkten Ent- wickelung der Großhirnhemisphären in gewissem Zusammenhange steht. Was diesen Zusammenhang betrifft, so glaube ich durchaus nicht, dass eine stärkere Entwickelung der Großhirnhemisphären den Metopismus hervorruft, indem sie das Verwachsen beider Stirnbeine verhindert. Wenn hier ein kausaler Zusammenhang vorliegt, so zeigt dieser Zusammenhang das Gegenteil: bei denjenigen Rassen, wo das Verwachsen der Stirnbeine verzögert wird, und welche stärker zum Metopismus neigen, konnte natürlicherweise eine stärkere Entwickelung der Hemisphären zustande kommen. Ebenso 76 Schneider, Das Wesen des Psychischen. kann man die Kultur der Menschheit nicht für die Ursache der Entwickelung der Hemisphären des Gehirns ansehen, söndern sie ist umgekehrt die Folge des Vorhandenseins von Rassen in der Natur, welche einer derartigen Entwickelung und folglich auch einer Kultur fähig sind. Unter den Jägern herrscht die Ansicht, dass ein Paar über- zählige Rippen am häufigsten bei denjenigen Haustierrassen an- getroffen wird, welche am meisten zu raschem und ausdauerndem Laufen befähigt sind, d. h. bei den Windhunden und Trabern!). Corn&evin und Lesbre (1897) haben nachgewiesen, dass das Variieren in der Zahl der Rippen und Wirbel allen Haustieren, am meisten aber den Schweinen eigentümlich ist. Die Annahme, dass die Windhunde und Traber in dieser Hinsicht den Vorzug haben, bedarf demnach noch der Bestätigung. Wenn dem aber auch so wäre und es bestände in der Tat ein Zusammenhang zwischen der Befähigung zu raschem und anhaltendem Laufen einerseits und einer für diese Bewegung so günstigen Vergrößerung des Brust- kasten andererseits — so ist auch hier dieser Zusammenhang dem Verhalten, wie man es auf den ersten Blick voraussetzen könnte, direkt entgegengesetzt: ich glaube unter keinen Umständen, dass die Vermehrung der Rippenzahl durch das rasche und andauernde Laufen als einer Bedingung für die Vergrößerung des Umfangs des Brustkastens — hervorgerufen worden ist, sondern dass um- gekehrt diejenigen Individuen, welche die Tendenz zu einer Ver- mehrung der Rippenzahl und demgemäß auch zu einer Vergrößerung des Brustkastenumfanges besaßen, die größte Befähigung zu rascher und andauernder Fortbewegung erreicht haben. Jedenfalls ist eine Vermehrung der Rippenzahl bei den Säugetieren, wenn dies auch für einige Rassen vielleicht ein progressives Merkmal darstellt, dem Wesen nach dennoch ein atavistisches Merkmal. (Schluss folgt.) Das Wesen des Psychischen. Von Karl Camillo Schneider, Wien. Direkter Anlass zu diesen Zeilen, die ich übrigens schon seit einiger Zeit vorbereitet habe, wurde mir der Artikel: „Phy- siologie und Psychologie“, den der Herausgeber dieser Zeitschrift, Herr Rosenthal, fast gleichzeitig mit meinem früheren Aufsatz: „Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie“ publizierte. Im genannten Artikel kommen, wenn auch Herr Rosenthal sich l) In dem Zoologischen Museum in Moskau befindet sich das Skelett des be- rühmten Trabers „Bytschok“ aus dem Gestüte von Golochwastov mit einem überzähligen Rippenpaare. > Schneider, Das Wesen des Psychischen. Fr nicht speziell gegen mich wendet, Anschauungen zur Sprache, die von den meinen ebenso fundamental differieren, wie die Ansichten Forels, gegen welche ich in den Grundzügen Stellung nahm. Es liegt hier solch weite Kluft in der Betrachtungsweise vor, dass Brückenbildung zwischen beiden Standpunkten ganz ausgeschlossen erscheint; entweder das Psychische ist Produkt des Physischen (Nervenvorgang) oder es hat existentiell gar nichts damit zu tun: beide Auffassungen lassen sich nicht versöhnen, denn die letztere wirft in ihren notwendigen Folgerungen vieles über den Haufen, was bis jetzt als ziemlich gesicherter Besitz unsrer wissenschaftlichen Weltanschauung galt. Zwar spricht Herr Rosenthal seine An- sichten immer mit Vorbehalt aus, betonend, dass die Annahme einer Spaltung der im Nervenvorgang sich äußernden Energie in zwei Kom- ponenten: Leitung und psychischer Vorgang, bis jetzt nur Annahme sei; aber er hält die Spaltung doch für möglich und neigt derart zu einer physiologischen Erklärung des Psychischen, in der, meiner Ansicht nach, die Wurzel aller erkenntnistheoretischen Irrtümer liegt. Ich habe bereits in der Wiener Klinischen Rundschau 1905 Nr. 24, 26—29 (Der psychophysische Parallelismus) die gleiche Anschauung Ostwald’s (in Vorlesungen über Naturphilosophie, pag. 396) aufs nachdrücklichste zurückgewiesen und will nun heute neue Gründe anführen, die, wie ich glaube, zur definitiven Lösung der Frage wesentlich beitragen werden. Die Annahme einer existentiellen Unabhängigkeitdes Psychischen vom Nervensystem ergibt sich schon von vornherein als notwendiges Postulat. Wäre das wahrgenommene Objekt, so wie es in unserem Bewusstsein. auftritt, ein Produkt des Hirns, so stellte sich die Wahrnehmung als Wirkung, bedingt durch eine außerbewusste Ursache, durch Einflussnahme eines Dings an sich, auf unsere „Rezeptivität“ (Kant) dar. Dieser Ansicht ist unter den Philo- sophen vor allem v. Hartmann und ebenso neigen ihr die Physio- logen im allgemeinen zu, während Kant die Möglichkeit offen lässt, dass die Ursache einer Wahrnehmung innerlich, „ein bloßes Spiel unseres inneren Sinnes“ sei, sich also vielleicht nicht „auf äußere Gegenstände als ihre Ursache“ beziehe. Aber bereits Schopenhauer hat dargetan, dass es einfach ein Denkfehler ist, nach Ursachen unserer Wahrnehmung zu suchen und dass Kant seinen eignen Prinzipien untreu wurde, als er das Kausalitätsgesetz auf eine mögliche Beziehung unserer Bewusstseinsinhalte zu Dingen an sich (oder zu unbekannten inneren Ursachen) anwandte. Er sagt in Welt als Wille und Vorstellung: „Nun aber ist nach seiner (Kant’s) eignen und richtigen Entdeckung das Gesetz der Kau- salität uns a priori bekannt, folglich eine Funktion unseres In- tellekts, also subjektiven Ursprungs; ferner ist die Sinnesem- pfindung selbst, auf welche wir hier das Kausalitätsgesetz anwenden, 78 Schneider, Das Wesen des Psychischen. unleugbar subjektiv; und endlich sogar der Raum, in welchen wir mittelst dieser Anschauung die Ursache der Empfindung als Objekt versetzen, ist eine a priori gegebene, folglich subjektive Form unseres Intellekts. Mithin bleibt die ganze empirische An- schauung durchweg auf subjektivem Grund und Boden, als ein bloßer Vorgang in uns, und nichts von ihr gänzlich Verschiedenes, vonihr Unabhängiges, lässt sich als ein Ding an sich hineinbringen, oder als notwendige Voraussetzung dartun.“ Um Dinge an sich „anschauen“ zu können, müssten wir einen nicht durch die Kate- gorien bestimmten Verstand besitzen; wenn also irgendwie die Möglichkeit für uns bestünde, zu Dingen an sich zu gelangen, so müsste das ohne Vermittelung unserer an Raum, Zeit und Kausalität gebundenen Anschauung geschehen. Diese Auseinandersetzung ist so klar und beweiskräftig, dass man sich eigentlich damit zufrieden geben könnte. Indessen haftet ihr eine schwache Seite an, sie betrachtet nämlich die ganze em- pirische Anschauung als eine subjektive und macht also unsere Wahrnehmungsinhalte zu flüchtigem Schein. Damit können wir uns aber in keiner Weise befreunden, weil vollständig unerklärt bleibt, warum zwei Menschen unter gleichen Bedingungen dasselbe sehen. Realität muss es geben und zwar eine reale Welt ın -äumlich-zeitlich-qualitativer Bestimmtheit; nach Schopenhauer ist nur der Wille, auf den die Kategorien nicht anwendbar sind, Realität; mit ihm aber und mit Erscheinungen allein lässt sich keine Welt erbauen. Gar mit Erscheinungen allein erscheint dies Kunststück noch mehr ausgeschlossen, denn, wenn nur existiert, was momentan in unserem Bewusstsein auftaucht, um dann sofort wieder in Nichts zu zerfließen, so gelangen wir zum Solipsismus, gegen den es, wie Schopenhauer treffend sagt, mehr einer Kur als einer Kritik bedarf!). Das Gegenteil des Solipsismus ist aber der Materialismus, dem das Bewusstsein nichts weiter ist als ein Hilfsfaktor zur Erkenntnis der außerpsychischen Realitäten, auf welche kritiklos alle Kategorien angewandt werden. Auch wenn man sich die Realitäten nicht materiell, sondern dynamisch, vor- stellt (vw. Hartmann), ist keine wirkliche Verbesserung des Ma- terialismus erzielt, da es gleichgültig erscheint, ob auf das Un- bewusste bloß die Kategorien des Raumes und der Zeit und nicht auch die -der Qualität angewendet werden. So pendelt unsere Philosophie zwischen zwei Extremen hin und her. Der Idealismus, der das Hauptgewicht auf das Psychische legt, in ihm aber nur Erscheinung erkennt, muss notwendig in Solipsismus ausarten; die Metaphysik, die nach Realitäten sucht, sie aber nur außerhalb des Bewusstseins anzutreffen glaubt, muss zum Materialismus herab- 1) Ich meine hier den rein auf das Anschaubare bezogenen Solipsismus. Schneider, Das Wesen des Psychischen. 79 sinken, der den offenkundigsten Missbrauch mit psychischen Ge- setzen treibt. Bemühungen, zwischen Idealismus und Realismus zu vermitteln, sind schon verschiedene gemacht worden. Locke unterschied an jedem Objekte primäre und sekundäre Qualitäten, von denen die ersteren dem Objekt an sich zukommen, die letzteren dagegen subjektiven Ursprungs, d. h. vom Beschauer hinzugefügt werden sollten. Unter den neueren Psychologen hat besonders Ziehen diese Anschauung akzeptiert und weiter ausgestaltet, worauf ich bereits in meinem Artikel über den psychophysischen Parallelismus genauer eingegangen bin. Wir hätten danach in jedem objektiven Inhalt unserer Psyche einen Reduktionsbestandteil (Restempfindung), der zwar psychischer Natur, aber vom beschauenden Subjekt un- abhängig ist, und einen subjektiven Anteil (v-Empfindung), der als simultane Rückwirkung der Hirnrinde erscheint. Dieser subjektive Anteil stellt sich in erster Linie als Sinnesqualität (Locke’s sekun- däre Qualitäten) dar, während räumliche und zeitliche Bestimmt- heit der Restempfindung (in der Hauptsache) angehören. Ohne weiteres ist zuzugeben, dass diese Anschauung einen großen Fort- schritt bedeutet. Sie strebt nämlich der einzig möglichen Lösung der Grundfrage aller Philosophie zu, welche die so allgemein ver- breitete Ansicht, Psychisches könne nicht real sein, als irrtümlich erkennt und die Bewusstseinsfrage gänzlich neu fasst, ein Stand- punkt, dem auch Mach, Avenarius, Schuppe u. a. zuneigen. Aber mit der Absonderung der Sinnesqualitäten von den Objekten als subjektive Rückwirkungen der Hirnrinde ist uns nicht geholfen, denn man belässt dem Nervensystem doch die Fähigkeit der Pro- duktion von Psychischem, und da Räumlichkeit und Zeitlich- keit ebensolche Kategorialaussagen wie Qualität sind, also auf genau das gleiche Material angewendet werden, so liegt der Einwand sehr nahe, dass Raum und Zeit auch dem Subjekt zugehören, kurz die Restempfindung entweder gar nicht existiert oder als außer- psychisches Ding an sich aufgefasst werden muss. Nur wer auch die Sinnesqualitäten als objektive Empfindungs- bestandteile (nach der Ziehen’schen Nomenklatur) betrachtet und demnach Raum, Zeit und Qualität als allgemeine (nicht bloß subjektive) Formen, unter denen sich Psychisches darstellt, auffasst, nur der begibt sich gegenüber den Meta- physikern auf einen logisch gesicherten Standpunkt, da er das Nervensystem als Produzenten von Bewausstseinsinhalten gänzlich ausschaltet und damit einerseits das Psychische einheitlich fasst, andererseits die Unmöglichkeit, Psychisches aus Nichtpsychischem ableiten zu wollen, anerkennt. Aber hier stellen sich Schwierig- keiten in den Weg, die bis jetzt immer aufs neue die Aufstellung solcher Lehre oder doch wenigstens ihre allgemeine Anerkennung s0 Schneider, Das Wesen des Psychischen. verhinderten. Der klarste Vertreter des psychischen Realismus, wie wir die Lehre nennen können, war Berkeley. Er suchte den wesentlichen Einwand, dass die Vorstellungen, weil nur in indivi- duellen Bewusstseinen uns bekannt, nichts Reales seien und somit die ganze Welt uns nur erscheine wie ein Traum, den wir nachts träumen, dadurch zu entkräften, dass er unsere Vorstellungen auch als Inhalte des Bewusstseins Gottes, das überhaupt alles extensiv Seiende umfasse, bezeichnete. Wenn also eine Vorstellung unserem Bewusstsein entschwindet, so bedeute das ebensowenig ein wirk- liches Verschwinden wie ihr Auftauchen in unserem Bewusstsein die Entstehung bedeute; vielmehr partizipieren wir nur an dem Vorstellungsschatze Gottes, der unserer Psyche in geringem Aus- maße zugänglich ist. Es blieb aber vollständig unaufgeklärt, wie diese Partizipierung möglich sei, und ferner war die Annahme des Gottesbewusstseins eine Hilfshypothese, für die keinerlei Beweis erbracht werden konnte. Somit vermochte der psychische Realis- mus Berkeley’s sich nicht zu behaupten und Grundlage unserer Erkenntnistheorie bleibt noch immer die Kan t’sche transzendentale Ästhetik, nach der unsere Rezeptivität durch außerpsychische An- regungen gespeist, also mit dem essentiellen Kern der Empfindungen versorgt wird. Wir müssen zur Widerlegung dieser Annahme neue Wege einschlagen, die allein empirisch Gegebenes berücksichtigen; nur durch psychophysische Analyse muss der Einwand, Psychisches könne nicht Realität sein, überwunden werden; nur so ist der Grundfrage aller Philosophie endgültig beizukommen und das, was a priori sich ohne weiteres aufdrängt, auch a posteriori als richtig zu bestätigen. Im folgenden sei der Versuch dazu gewagt. Die Frage, mit der wir uns beschäftigen müssen, lautet in präziser Fassung: welche Bedeutung kommt dem Körperich für Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung etec., also für den Eintritt eines psychischen Phänomens in unser Bewusstsein, zu? Em- pfindung (Wahrnehmung etc.) ist Vorfinden eines räumlich-zeitlich- qualitativen Etwas in unserer Psyche; warum ist nun dieses Vor- finden an Vorgänge im Nervensystem gebunden, da es doch logischer- weise aus diesen nicht abgeleitet werden kann? Bei der Beant- wortung dieser psychophysiologischen Grundfrage unterscheide ich vier Schritte. Erstens ist daran zu denken, dass das Körperich für die Art, in der ein Empfindungsinhalt in unsere Psyche ein- _ tritt, mitbestimmend ist. Zweitens gilt es zu überlegen, wie Reiz und Empfindung sich zueinander verhalten. Drittens kommt die Hauptfrage in Betracht, warum überhaupt das Körperich zur Em- pfindung nötig ist. Viertens endlich möchten wir wissen, ob das an den Körper gebundene Psychische für dessen Reaktionen Be- deutung hat und derart nicht bloß das Psychische vom Körper, sondern auch dieser vom Psychischen abhängt. Schneider, Das Wesen des Psychischen. S1 Wie schon erwähnt, hat Ziehen die Anteilnahme des Körperichs (das ich ım folgenden kurz als Ich bezeichnen werde, da uns hier andere Formen des Ichs nicht beschäftigen sollen) am Aufbau des Empfindungsinhaltes einer näheren Analyse unterzogen, die ihn jedoch zu unrichtigen Annahmen führte. Auch Mach und Avenarius betonen die Anteilnahme und letzterer schuf dafür den Ausdruck einer empiriokritischen Prinzipialkoordination, in der das Ich das Zentralglied, der objektive Empfindungsinhalt das Gegenglied ist. Ich akzeptiere den Ausdruck: Prinzipialkoordination, en ler über die Anteilnahme des Ichs anderer Ansicht als Avenarius. Em- pfindung nannte ich das Vorfinden von etwas Psychischem in unserem Bewusstsein; diese Empfindung ist gebunden an die Rezeption eines physischen Vorgangs durch die Nervensubstanz, wofür der Ausdruck: Reizperzeption angewendet wird. Perzeption und Em- pfindung sind also Parallelerscheinungen, deren eigentliche Beziehung zueinander eben in diesem Aufsatz diskutiert werden soll. Für die Prinzipialkoordination kommt nun überhaupt nur die Perzeption in Betracht, nicht aber die Empfindung; eine Anteilnahme des Ichs gibt es direkt nur am Reize und nur indirekt am psychischen Phänomen. Um über diesen Punkt ins klare zu kommen, sei eine Licht- perzeption analysiert. Lichtreiz ist die Einwirkung von Äther- schwingungen auf die perzipierende Substanz der Retina; die Schwingungen selbst sind der Reizinhalt. Die Perzeption stellt sich dar als ein chemischer Vorgang, speziell als der Zerfall einer chemischen Substanz (Sehpigment) in den Stäbchen und Zapfen der Sehzellen. Das ist die allgemein akzeptierte Ansicht über die Lichtperzeption, wie sie sich aus den experimentellen Befunden Kühne’s u. a. ableitet. Ich schließe mich hier dieser Ansicht an, obgleich sie durchaus noch nicht völlig gesichert erscheint, bemerke aber sofort, worauf bald noch nalen zurückzukommen sein wird, dass mit diesem chemischen Vorgang bei weitem nicht die ge- samte materielle Seite des psychophysischen Sehvorgangs erledigt ist, der wichtigste Teil vielmehr erst Folge des chemischen Vor- gangs ist, richtiger ausgedrückt: mit ihm koinzidiert. Der chemische Vorgang ist es indessen, der durch Einflüsse des Ichs (Somas) modifiziert zu werden vermag; er allein hat uns zunächst zu be- schäftigen. Als Einflüsse des Ichs, die, zugleich mit dem Reiz- inhalt, auf das Sehpigment treffen können, seien Wirkungen von Giften, z. B. von Alkohol, angeführt. Wenn im Santoninrausch alle Dinge gelb erscheinen, so bedeutet das jedenfalls Abänderung des von Lichtstrahlen verschiedener Wellenlänge hervorgerufenen Zersetzungsvorgangs im Sehpigment durch Einflussnahme des Giftes, die sich dem Reize von außen koordiniert. Zu solcher Annahme sind wir wohl fraglos berechtigt; das Gift modifiziert die XXVI. 6 89 Schneider, Das Wesen des Psychischen. Beschaffenheit des Pigments und demzufolge kann der Reizinhalt, falls er überhaupt perzipiert wird, nur zu abnormen Vorgängen führen, was gleichbedeutend mit einer entsprechenden Abänderung des Reizes selbst ıst. Da das Gift vom Soma stammt, so sehen wir hier eine Prinzipialkoordination des von außen zuströmenden Reizes mit einem vom Ich selbst gelieferten Reize. Dieser Prinzipial- koordination von Gegenglied (Lichtstrahl) und Hauptglied (spezielle Einflussnahme des Ichs) entspricht sekundär eine Abänderung der normalen Empfindung. Es gibt-natürlich noch eine große Zahl von anderen somatischen Agentien, die sich dem Außenreize zugesellen und die Perzeption zu modifizieren vermögen; für alle Sinnes- gebiete ließen sich bei genauerer Prüfung koordinierte Faktoren ermitteln; indessen genügt es hier, überhaupt auf das Faktum hin- gewiesen zu haben, dessen Bedeutung für unser Thema sehr hoch anzuschlagen ist. Aus dem Gesagten geht hervor, dassich den Begriff der Prinzipial- koordination ganz anders fasse als Avenarıus. Nach Avenarius ist Gegenglied etwas Psychisches, nämlich der eigentliche objektive Gehalt der Empfindung, und Zentralglied das Gehirn, also etwas Physisches. Eine derartige Koordination ist aber unmöglich, weil zwei gänzlich unvergleichbare Größen, wie Psychisches und Nerven- system, nicht koordiniert werden können. Dem Icheinfluss (sogen. Hauptglied) kann als sogen. Gegenglied nur der von außen zuströmende Reizinhalt kordiniert werden. Man redet hier nun besser nicht von Haupt- und Gegenglied, sondern von einer somatischen und einer mundären Kom- ponente des Reizes, welch letztere eher Hauptglied genannt zu werden verdient, da sie normalerweise das Essentielle des Reizes repräsentiert. Anormalerweise kann allerdings die somatische Komponente von besonderer Bedeutung sein, wenn z. B. durch Druck aufs Auge oder direkt auf den Sehnerven Lichtempfindungen hervorgerufen werden. Wir sehen dann eine Perzeption unter weitgehender Transformation des mundären Reizes (Druck) ein- treten, wodurch die Wichtigkeit des Somas ins hellste Licht ge- rückt wird. Aber immer handelt es sich eben nur um somatische Anteilnahme am Reize, die die Perzeption und dadurch sekundär auch die Art der Empfindung mitbestimmt, also nur um eine Modifikation des normalen Verhaltens, das als primäre Ursache für das Auftreten einer Lichtempfindung eine mundäre Einwirkung auf die Sehzellen voraussetzt. Die von Soma mitbedingte Er- regung der Stäbchen und Zapfen bildet gewissermaßen den Über- gang zu jener Gruppe von Perzeption, die ausschließlich durchs Soma bedingt sind und denen unsere Körperempfindungen ent- sprechen. Die erste Frage erscheint somit hinreichend beantwortet. Das Schneider, Das Wesen des Psychischen, 83 Körperich bestimmt die Art, in der ein Empfindungs- inhalt inunsere Psyche eintritt, mit oder kann sie wenig- stens mitbestimmen; doch ist aus dieser Tatsache ganz und gar nicht zu schließen, dass Psychisches vom Soma gebildet wird. Dazu liegt wirklich auch nicht der allermindeste Grund vor; denn daraus, dass die Färbung eines beliebigen Objekts durchs Soma abgeändert werden kann, folgt in keiner Weise, dass nun die Farben überhaupt Produkte des Somas seien. Allerdings folgt auch nicht ohne weiteres das Gegenteil. Der vom kom- binierten Reize ausgelöste Nervenvorgang könnte immerhin Bildner der Farben sein, so dass diese rein dem Subjekt angehörten; der Empfindungsinhalt wäre dann ein einheitliches Gebilde, aber eben ohne jede objektive Komponente. Es ist klar, dass die bis jetzt an- gestellte Untersuchung über diesen Punkt gar nichts entscheidet; wir haben uns vielmehr nun erst, an zweiter Stelle, mit der wich- tigen Frage, wie sich Empfindung und Reiz, bezw. Empfundenes und Perzeptum, zueinander verhalten, zu beschäftigen. Bei Berücksichtigung der zweiten Frage ist zunächst das Faktum zu betonen, dass Reizinhalt und Empfindungsinhalt — Physisches und Psychisches — nebeneinander gegeben sind und zwar derart, dass ersteres niemals fehlt, letzteres oft in unserem Bewusstsein nicht angetroffen wird. Dass es trotzdem auch nie fehlt, wird sich aus den folgenden Betrachtungen ganz von selbst ableiten: wir wollen deshalb ohne weiteres annehmen, dass beide Elemente immer nebeneinander anzutreffen seien. Nun fragt es sich, wie sie sich zueinander verhalten. Bekannt ist Fechner’s, des Psychophysikers Auffassung, gemäß welcher im Reizinhalt die Natur von außen, im psychischen Phänomen von innen betrachtet vorliegen soll. All- gemein ist man sich darüber einig, dass die Psychologie es nicht mit einer anderen Welt zu tun hat als die „Naturwissenschaft“ und darum in ihr alle Objekte naturwissenschaftlicher Betrachtung, nur unter einem wesentlich veränderten Gesichtspunkt, wieder- kehren (Wundt, Physiol. Psychologie, 5. Aufl. 3. Bd. p. 766). Aber mit dieser allgemeinen Vorstellung ist uns wenig gedient, da sie sich, wie man überall findet, ausgezeichnet mit der anderen Vorstellung verträgt, dass das Hirn zum bereits räumlich-zeitlichen Reizinhalt noch etwas, eben das Subjektiv-qualitative hinzufügt. Dieser Vorstellung, als einer logisch unhaltbaren, wollen wir eben versuchen, aus dem Wege zu gehen. Dabei scheinen wir aber in ein Dilemma zu verfallen. Fassen wir Raum und Zeit als psychische Formen, dann schwindet scheinbar der Reizinhalt ganz unter unseren Händen und es bleibt uns bloß der Empfindungsinhalt. Da frägt wohl sofort ein jeder: wie reimt sich das zusammen mit den weiter oben entwickelten Ansichten über das Wesen des Reizes? Wie kann an ihm eine somatische und mundäre Kom- 3 * [0 2) S4 Schneider, Das Wesen des Psychischen. ponente unterschieden werden, wenn er selbst überhaupt aufs äußerste problematisch ist? Er wurde doch auch als ein stets vor- handener Faktor bezeichnet. Dann können eben nicht alle Eigen- schaften des Psychischen ausschließlich psychisch sein, sondern müssen zum Teil auch dem Perzeptum zukommen. Aus dem Dilemma rettet uns ein genauer Vergleich von Em- pfindungsinhalt und Perzeptum. Das Perzeptum ist nichts anderes als der Empfindung sınhalt selbst, nur nıchtvon uns, sondern von einem ganz *anderen Bewusstsein em- pfunden. Dies Bewusstsein, dem das Perzeptum angehört, ist zwar auch in letzter Instanz unser eignes, jedoch durch Instrumente in seiner Erfassungsfähigkeit modifiziert. Summarisch lässt sich sagen: es ist unser, durch mannigfaltige Hilfsmittel direkt auf den Äther eingestelltes Bewusstsein. Wir vollziehen diese Einstellung, so gut oder schlecht sie eben möglich ist, um für den physiologischen Vorgang ım Nervensystem überhaupt eine vorstellbare Ursache an der Hand zu haben; denn dass der Em- pfindungsinhalt nicht direkt Ursache dieses Vorgangs ist, das wissen wir voraus, da eine Farbe nicht auf Atome zu wirken vermag. Bei dieser veränderten Einstellung ist es aber nur das Qualitative des Empfindungsinhaltes, das transformiert, nämlich in Ätherschwingungen umgewandelt wird. Das Räumliche und Zeitliche bleiben unverändert, weil Wissenschaft nach Raum und Zeit erst in zweiter Linie frägt, in erster Linie aber das Qualitative berücksichtigt und dieses derart zerlegt, wie es zur gesetzmäßigen Erfassung der Natur wünschenswert erscheint. Farbe und Wärme sind himmelweit verschiedene Dinge, Licht- und Wärmestrahlen dagegen nur in der Wellenlänge verschieden und daher leicht aufeinander zu beziehen. Wenn derart ebenfalls das Perzeptum als psychisches Phänomen erkannt wird, das sich nur qualıtativ vom Empfindungsinhalt unter- scheidet, so heißt das keineswegs, dass also auch der im Nerven- system antreffende Reiz keine Realität besitze, wie die Empfindung die zu unserem Bewusstsein in Beziehung steht. Ganz im Gegen- teil! Es ist das für uns nur ein besonders drastischer Beweis, dass eben in der Welt alles psychisch ist, wir aus dem Psychischen, wenn wir ehrlich sein wollen, überhaupt nicht hinausgelangen. Zugleich gelangen wir aus der Realität auch nirgends hinaus, bezw. erst in sie hinein, denn psychisch und real ist ein und das- selbe. Um nun das Verhältnis von Reiz und Empfindung noch anschaulicher zu machen, scheint mir die Annahme förderlich, dass unser Nervensystem direkt verglichen werden kann mit unserem Instrumentalbewusstsein — wie ich das durch die Wissenschaft transformierte Bewusstsein nennen will. Unser Eigenbewusstsein, das nur sinnliche Qualitäten wahrnimmt, ist an einen Körper gebunden, Schneider, Das Wesen des Psychischen. S5 der aus sinnlichen Qualitäten sich aufbaut; ebenso dürfte ein Be- wusstsein, dass Vorgänge an den letzten Teilchen der Materie wahrnimmt, an eben diese Teilchen selbst gebunden sein. Dann hätten wir in unserm Körper zweierlei Bewusstseine zu unter- scheiden: ein elementares physisches — wie man es nennen kann — das nur den letzten Teilchen in uns zukommt und den Reiz- ‚inhalt in seiner elementaren Beschaffenheit perzipiert, und ein sekundäres sogen. psychisches, das dem ganzen Ich zukommt und den Reizinhalt nur in sinnlich-qualitativer Form kennen lernt. Bei der wissenschaftlichen Betrachtung identifizieren wir uns mit dem physischen Bewusstsein. Das scheint mir die einfachste Art und Weise zu sein, um zu einer hinreichenden Würdigung des Verhält- nisses von Reiz- und Empfindungsinhalt zu gelangen; jedenfalls liegt in söleher Annahme nicht die geringste Nötigung, das Psy- chische als Hirnprodukt aufzufassen. Verfolgen wir unser Problem weiter, um es möglichst er- schöpfend zu erfassen. Wenn wir annehmen, dass die Farbe im Nerv durch Energiebetätigung „entsteht“, so setzt das eine besondere Energieart voraus, da keine der uns bekannten als Bildner von Psychischem aufgefasst werden kann. Aber auch mit der Annahme einer spezifischen „Nervenenergie“* (Ostwald) ist nichts gewonnen, weil wir uns eben überhaupt keine Energie, die Psychisches bildet, vorstellen können. Das Psychische ist kein Tätigkeitszustand irgendeines Substrates, sondern selbst bestenfalls ein Substrat, d. h. an ihm können sich wieder energetische, nämlich geistige Vorgänge abspielen. Nun drängen uns zur Annahme eines Perzep- tums zwei Momente: die Körperreaktion, die einen Nervenvorgang voraussetzt, und die Empfindung. Die Reaktion sagt nichts weiter aus als dass eine Perzeption stattfand; die Beschaffenheit des Reiz- inhaltes lernen wir dagegen aus dem Empfindungsinhalt kennen. Wenn nun das Perzeptum nur durch Analyse des Empfundenen zu gewinnen und somit gleichfalls psychischer Natur ist, so kann unmöglich das Empfundene Produkt des Nervenvorgangs sein, da sonst das gleiche auch für das Perzeptum gelten müsste. Um das Perzeptum nach außen verlegen zu können, muss auch das Em- pfundene extrojiziert werden. Wie wir auch die Frage ın Angriff nehmen, immer folgt, dass Psychisches nicht ım Nervensystem entstehen kann, vielmehr ein Äußeres ist, das an den Nerven- vorgang angekettet erscheint, gleich dem Reizinhalt, mit dem es sich substanziell durchaus deckt. Wir können aber in unseren Betrachtungen noch weiter vorwärts- schreiten. Das Psychische muss zu einer Energie, die am Körper- material sich äußert, in Beziehung stehen, da es für den Körper reaktionsbestiminend ist. Gäbe es im Körper nur chemische Vor- gänge (von den physikalischen sei hier ganz abgesehen), so bliebe sb Schneider, Das Wesen des Psychischen. ganz unerfindlich, warum wir Farben unterscheiden und überhaupt durch Empfindungen in unserem Tun bestimmt werden. Denn nur ein subjektives Element kann im Ich bedeutungsvolle Wirkung entfalten, das Psychische ist aber, wie eben auf mehrfache Weise zwingend gezeigt wurde, nichts Subjektives, sondern etwas Objek- tives. Als rein Objektives nun, das zu keiner Energie in Beziehung stünde, erschiene es als vollständig überflüssiges Epiphänomen, da es ins chemische Geschehen nicht einzugreifen vermöchte; außer- dem aber ließe sich in keiner Weise einsehen, wie wir überhaupt zur Empfindung kämen, da dem chemischen Material in uns nicht zweierlei Empfindungsweisen zugeschrieben werden können. Ein bedeutungsloses Epiphänomen ist nun das Psychische ganz sicher nicht. Darüber Worte zu verlieren erscheint eigentlich ganz über- flüssig. Hunger reizt uns zur Tätigkeit, nach Gesehenem lenken wir unsere Schritte, Töne machen uns stutzen, Gerüche zwingen zum Aufatmen, Wärme verlangsamt den Schritt, Druck hemmt ıhn vollständig, Mag auch das Lid rein reflektorisch sich schließen, so heißt das doch nicht im geringsten, dass in diesem Falle über- haupt nichts empfunden wird und nur ein physikalischer Einfluss bestimmend wirkt, sondern es heißt nur, dass die Empfindung nicht in unserem Individualbewusstsein, sondern in einem untergeordneten Organbewusstsein vorkommt. Wer aber hiervon nicht überzeugt ist, der sei auf die höheren psychischen Prozesse: vorstellen und denken verwiesen, die nur ein fanatischer Materialist aus Reflex- ketten abzuleiten versuchen kann. Jeder unbefangen Denkende- muss in uns Wesen, deren Tun nur aus ihrer Psyche verstanden werden kann, sehen; hält er sich nun die weiter oben dar- gelegten Resultate klar vor Augen, so wird er notwendigerweise zur Annahme einer vitalen Energie gedrängt, die sich im Nerven- system der chemischen gesellt. Da erscheint es nun sehr erwünscht, dass auch zahlreiche andere Tatsachen zur Annahme einer vitalen Energie hindrängen. In meinem Buche: Vitalismus (1903 bei F. Deuticke, Wien) habe ich zu zeigen versucht, dass überhaupt kein einziger am Organismus sich abspielender Vorgang ohne Be- teiligung vitaler Energie statthat; im letzten Jahre konnte ich für die elementare Plasmabewegung der Protozoen diese Beteiligung sogar mit ziemlicher Sicherheit erweisen «siehe in Arbeiten a. d. Zoolog. Institute Wien Bd. 16), so dass ich, bevor die hier mit- geteilten Betrachtungen angestellt wurden, überzeugter als je von der energetischen Vitalität der Lebewesen war. In der Beziehung des Psychischen auf eine spezifische — vitale — Energie, liegt eigentlich schon die Erklärung für die Verknüpfung des Psychischen mit dem Körper. Wenn der Körper nur unter dem Einfluss von Empfindungsinhalten sich betätigen kann, so er- scheint bereits unsere dritte oder Hauptfrage beantwortet: die ee Schneider, Das Wesen des Psychischen. S7 Objekte, die wir in der Psyche vorfinden und die das Tun des Subjekts (Ichs) bestimmen, müssen diesem in irgendeiner Weise zur Verfügung stehen; das Objektive muss dem Subjektaen gesetz- mäßig zugeordnet sein. Auffallend ist jedoch, warum die vitale Energie ich, selbständig zur Entfaltung kommt, sondern in ihrem Auftreten von chemischen Vorgängen lass ist. Der vom Reiz ausgelöste chemische Vorgang erscheint geradezu als Schlüssel, welcher das Tor unseres Bewisstseins öffnet und das psychische Phänomen, d. h. den Reizinhalt im sinnlich qualitativen Gewande, eintreten lässt. Warum aber bedarf es solchen Schlüssels? Diese wichtigste aller Fragen, die eigentlich psychophysische, ist selbst- verständlich außerordentlich schwer zu beantworten, indessen glaube ich durch Verwertung einer Analogie Antwort geben zu können. Ich wiederhole hier, was ich bereits 1905 in meiner Arbeit über „Plasmastruktur und -bewegung“ (in den Arbeiten aus den Wiener Zoolog. Instituten Bd. 16 p. 109) angedeutet und etwas näher in dem Artikel „Nirwana“ (in der Wiener Klinischen Rundschau 1905 Nr. 44-—46) auseinandergesetzt habe; neue Gesichtspunkte werden eingeflochten werden. Wir sehen die chemischen Vorgänge der anorganischen Welt begleitet von thermischen Erscheinungen, die, obgleich für das Wesen der chemischen Vorgänge an sich ganz bedeutungslos, doch notwendige Mitbedingungen, ja Voraussetzungen, derselben sind. Dieses Faktum ist ja genügend bekannt. Chemische Umsetzungen sind überhaupt nur oberhalb einer unteren Temperaturgrenze mög- lich und werden durch Wärmezufuhr beschleunigt, durch Abkühlung verlangsamt. Bei Oxydationen wird Wärme frei, bei Reduktionen gebunden. Man kann sich vorstellen, dass bei ersteren chemische Energie sich in Wärme umwandelt, etwa so wie beim Fall eines Körpers Schwereenergie in kinetische umgesetzt wird. Die Atome gehen dabei stabilere Beziehungen ein, d. h. ihre Affinitäten er- scheinen nun ausgiebiger gesättigt als früher, sie haben also an chemischer Energie verloren. Bei den Reduktionen wird dagegen Wärme in chemische Energie umgewandelt, diese also in den Atomen gesteigert. Folgende Tatsache ist nun besonders be- deutungsvoll: Wärme ist Molekularbewegung (oder überhaupt ein Tätigkeitszustand der elementaren Teile der Materie), chemische Energie dagegen haftet an den Atomen, ist also eine intra- molekulare Arbeit, vermutlich Momhewezung Wenn nun che- mische Energie sich in thermische umwandelt, so be- deutet das das plötzliche Auftreten eines Arbeits- zustandes an einem höher struierten Materiale. Nehmen wir an, dass sowohl die Atome wie auch die Moleküle mit Bewusstsein begabt seien, so würde ein und derselbe Vorgang, weil er sowohl Atome als auch ss Schneider, Das Wesen des Psychischen. Moleküle trifft, von beiden perzipiert und daher ın zweierlei Bew asstseinen erscheinen; in beiden Bewusst- seinen würde er sich ganz verschieden darstellen, ent- sprechend den differenten Energiearten, die er an Atom und Molekül auslöst. Somit lebten Atom und Molekül in ganz verschiedenen Welten, die dennoch in engster Ab- hängigkeit voneinander stünden. Meiner Ansicht nach steht die vitale Energie in einem analogen Verhältnis zur chemischen Energie wie die Wärme. Im Örganismus spielen sich dauernd chemische Um- setzungen an den Nährmaterialien unter dem Einfluss der vitalen Substanz ab, der hier gewissermaßen die Rolle der Wärme ver- tritt, d. h. eine unerlässliche Nebenbedingung der chemischen Vorgänge ist, ohne zu deren Wesen in direkter Beziehung zu stehen. Die Vorgänge in der lebenden Substanz sind in ihrer Eigenart nicht unbekannt; es sind Fermentationen, die, obgleich ihnen ohne Zweifel wichtige Besonderheiten zukommen, mit den Katalysen der anorganischen Materie verglichen werden dürfen. Bei Fermentationen, bezw. Katalysen wirkt scheinbar das Ferment, bezw. der Katalysator, allein durch seine Anwesenheit, als Be- schleuniger eines sonst nur ganz unmerklich sich abspielenden ne an Vorgangs. Dass Fermentationen und Katalysen nicht selbst typische chemische Vorgänge, sogen. Stufenreaktionen sind, muss wenigstens für all jene Beschleunigungen gelten, bei denen das Nissen von Stufenreaktionen nur eine Verzögerung der Hauptreaktion bedeuten würde (siehe Näheres bei Ostwald, Bredig u. a.); man kann sich vorstellen, dass das Ferment (bezw. der Katalysator) in eine vermutlich hen Beziehung zum Sub- strat tritt, wobei vitale Energie — vergleichbar der thermischen Energie bei anderen chensechen Vorgängen — frei wird. Ein er Vorgang am Tagma — wie wir die elementaren vitalen Teile des Organismus nennen wollen (siehe meine oben zitierte Arbeit über Plasmabewegung) — ruft im Tagma einen spezifischen Zustand, den Erregungszustand, hervor, der ich dem Wärmetanz der Moleküle vergleichen möchte. Wie nun freie Wärme anorga- nische chemische Vorgänge in ihrem Ablauf begünstigt oder über- haupt erst möglich macht, so erscheint auch freie vitale Energie als notwendige mare me chemische Umsetzungen (Stoffwechsel) im Organismus. Das heben ermöglicht ke. spielend fermentative Spaltungen und Synthesen, ns außerhalb des Organis- mus, ohne Zuhilfenahme von Katalysatoren, nur durch hohe Tem- peraturen, Drucke, elektrische Kräfte u. s. w. erzwungen werden können. Diese Vorstellung von Wesen und Bedeutung der elementaren vitalen Vorgänge scheint mir für unser Verständnis des Welt- Schneider, Das Wesen des Psychischen. 89 D y geschehens äußerst förderlich. Denn erstens bietet sie einen leicht fasslichen Einblick in die Eigenart des vitalen Geschehens, zweitens bringt sie aber auch die Katalyse, dies chemische Mysterium, dem Verständnis näher und weist dabei auf Analogien zwischen lebender und toter Substanz hin, die mit der Zeit wohl noch manch über- raschende Erweiterung erfahren dürften. Ich muss hier auf den Ostwald’schen Versuch, die Katalyse ihres geheimnisvollen Wesens zu entkleiden, hinweisen. Ostwald sagt auf p. 328 seiner Vor- lesungen über Naturphilosophie: „Auf Grund unzweckmäßiger me- chanischer Analogien hatte man sich in die Vorstellung hinein- gearbeitet, die Tatsache der Beschleunigung oder Verzögerung chemischer Vorgänge durch die Anwesenheit unverändert bleibender Stoffe bedürfe einer besonderen Erklärung, da sie eigentlich nicht möglich sei. Haben wir eingesehen, dass für chemische Vorgänge die Zeiteinheit noch frei ıst, so ist es die natürlichste Sache von der Welt, dass durch die Anwesenheit fremder Stoffe über diese freie Zeiteinheit eine bestimmte Verfügung getroffen werden kann. Die Sache wird allerdings anders, wenn man die chemischen Ge- bilde als hypothetisch-mechanische auffasst, die nur wegen der Kleinheit ihrer Glieder, der Atome, nicht als solche unmittelbar erkennbar sind. Dann ıst es freilich nicht einzusehen, wie fremde Stoffe, die keine chemischen „Kräfte“ auf die ım Umsatze be- teiligten Stoffe ausüben, deren Geschwindigkeit sollen beeinflussen können. Das ıst aber... nur ein Beweis mehr für die Unzuläng- lichkeit der atomistischen und mechanistischen Hypothesen.“ Ich glaube nicht, dass viele Chemiker diesen Ausspruch unter- schreiben dürften. Es wird ihnen nicht als die natürlichste Sache von der Welt erscheinen, dass fremde Stoffe durch ıhre bloße An- wesenheit die Zeiteinheit bei chemischen Vorgängen abzuändern vermögen, denn solche Annahme heißt, mit dem Begriff Zeit, fasse man ihn nun psychisch oder metaphysisch, sein Spiel treiben. Nehmen wir an, dass alle Stoffe eine Energiequelle enthalten, die unter bestimmten Bedingungen in Aktion tritt, nur bei den einen stärker als bei den anderen, so lässt sich die Katalyse allen anderen Naturvorgängen, die eben insgesamt energetische sind, ohne weiteres anreihen; bestreiten wir aber diese Energiequelle und fordern für chemische Vorgänge eine besondere Zeit, so geraten wir in dunkle Mystik, da die Wirkung der Stoffe an ein Wunder gemahnt. Zeit ist Form des Psychischen und erscheint beschleunigt oder verlang- samt nur entsprechend differenten Intensitätsstufen einer anderen Form des Psychischen, nämlich der Energie (siehe hierzu meinen Artikel Vitalismus im Biologischen Centralblatt 1905); ein anderes Mittel zur Abänderung des Zeitablaufs als Energiezufuhr kann es überhaupt gar nicht geben. Da die Katalysen den vitalen Vorgängen verwandt sind, so 90 Schneider, Das Wesen des Psychischen. liegt der Schluss nahe, dass bei beiden die gleiche Energie, die ich vitale nenne, wirksam ist. Ich stelle mir vor, dass sie durch Um- wandlung chemischer Energie entsteht und sich selbst wieder ın solche umzuwandeln vermag. Aber nur ihr Gegebensein ist durch chemische Vorgänge bedingt, in ihrem Verhalten erweist sie sich wie die Wärme vollkommen selbständig, da sie sich an einem ganz anderen Substrate, nämlich an den letzten Lebenseinheiten, den Tagmen, bezw. an def Katalysatoren, äußert. Wir wollen hier nur auf die Tagmen bezug nehmen und die Katalysatoren weiterhin ganz aus dem Spiele lassen. Insofern nun der vitale Vorgang an einem ganz anderen Substrate sich abspielt als der chemische, müssen auch, bei Annahme eines Bewusstseins der Tagmen, deren Empfindungs- inhalte ganz andere sein als bei den Atomen, da die Einflussnahme der Umgebung als differente erscheint. Das ist der Punkt, auf den alles ankommt und dessen Berücksichtigung mir das psychophysische Rätsel zu lösen scheint. In unserem Organismus haben wir zweierlei Substrate, an denen sich zwei Energiearten betätigen, zu unterscheiden. Das eine Substrat ist ein chemisches und an ihm kommt chemische Energie zum Ausdruck; das andere ist dasselbe Material nur in komplizierterer, höherer Darstellung, nämlich als Lebenseinheiten (Tagmen), an denen vitale Energie sich entfaltet. Da es ein und dasselbe Material ist, sokann es uns schließlich nicht wundernehmen, dass beide Energie- arten aufs innigste ineinander verwoben sind. Durch die gut begründete Annahme zweier Arten von Substraten und Energien erscheint nun aber das Gegebensein der psychischen Phänomene hinreichend erklärt. Wäre alles Geschehen ım Organismus nur Chemie, so gäbe es in uns nur Atombewusstsein, nicht aber ein tagmales oder sinnliches Bewusstsein, das vielmehr an das Auf- treten vitaler Energie gebunden ist. Wo beide Energien neben- einander herlaufen, zugleich in direktem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, wie es im Organismus der Fall ist, dort treffen wir auf eine Doppelwelt, die als Physis und Psyche schon seit alten Zeiten von den Menschen unterschieden wurde. Physis ist die Welt im atomalen Bewusstsein, Psyche im tagmalen Bewusstsein. Nur so ist der psychophysische Parallelismus auf- zufassen. Man darf nicht unter Physis das Welt- und Nerven- geschehen und unter Psyche ein daran angekettetes Epiphänomen, das wie ein Wunder dazu kommt, verstehen; vielmehr bezeichnet Psyche, wie ja schon früher bemerkt, die Natur ebensogut wie Physis, nur von einem höher veranlagten Bewusstsein, das die letzten Elemente in stofflich-sinnliche Komplexe (unsere Empfindungsinhalte) zusammenfasst, angeschaut. Empfin- dung ist Universalbegabung alles Seienden und tritt auf, Schneider, Das Wesen des Psychischen. 94 wenn am Seienden Tätigkeitszustände nachweisbar sind. Sie ist nicht Produkt des Tätigkeitszustandes, denn dieser ist eben weiter nichts als Vorgang an einem Substrat und es bliebe ganz unerfindlich, wie er sollte Empfindung produzieren können; sie ist vielmehr Beziehung des um- gebenden Seins (Empfindungsinhalt) auf das Geschehen am eigenen Sein. Dies Sein ist subjektiver Wille in letzter Instanz, der durch die empfundene Welt erregt wird. Weiter kann hier auf diese sekundären Fragen nicht ein- gegangen werden. Ich nannte unsere Psyche eine tagmale, indessen ist dazu mancherlei zu bemerken. Dass auch die primitivsten Tagmen empfinden und zwar prinzipiell gleichartig mit unserem ganzen Organismus, nämlich sinnlich-qualitativ, scheint mir ohne weiteres annehmbar, nur wird selbstverständlich diese Empfindung eine un- gemein primitive sein. Es fragt sich, wie aus der elementaren Tagmenempfindung unsere so hochdifferenzierte abzuleiten ist. In dieser Hinsicht möchte ich folgende Auffassung vertreten. Die Äußerungen vitaler Energie sind vermutlich für alle Tagmenarten gleichartig, zum mindesten können ihre eventuellen Differenzen uns hier gleichgültig!) sem. Verschieden aber ist in weitgehendem Maße die chemische Struktur der Tagmen, die für die Spezifität der Perzeption, und also indirekt auch der Empfindung, in Betracht kommt. Die Qualität des Sehpigments, das wir als eine Seiten- kette der lebenden Stäbchen- und Zapfenteilchen auffassen dürfen, entscheidet über die Art der Perzeption, da nur bestimmte Strahlen- arten in ihm Zerfall bewirken. In den Tagmen der Sehzellen wird also die Qualität der Sehempfindungen bestimmt (nicht aber etwa geschaffen!); wir dürfen die Sehempfindung nicht erst dem Gehirn zuschreiben, dem eine ganz andere Bedeutung zukommt. Es funktioniert als Schaltapparat, der die Beziehung der Sinnesgehiete zu den effektorischen Apparaten reguliert. Ich stelle mir nun vor, dass jede Nervenbahn, von der Sinneszelle bis zur Muskelfibrille, bezw. zur Drüsenzelle ete., eine vitale Einheit repräsentiert, in der sich ein und derselbe Erregungszustand ausbreitet, die daher ge- wissermaßen als Riesentagma erscheint. Für solche Auffassung spricht die Kontinuität der Neurofibrillen, in denen zweifelsohne der vitale Vorgang sich abspielt; erwähnt sei hier Pflüger’s 1) Wie mir scheint, können sich qualitative Differenzen der Erregungszustände nur auf die formale Ausgestaltung des Psychischen beziehen, also nur in Hinsicht auf die geistigen Vorgänge von Bedeutung sein. Aus solcher Annahme, die hier nicht näher diskutiert zu werden braucht, folgt ohne weiteres, dass Empfindungs- inhalte in ihrer sinnlich-stofflichen Beschaffenheit nicht durch Einflussnahme der Erregungszustände aufeinander verändert werden können. Eine Prinzipial- koordination des Psychischen hat nur Bedeutung fürs Geistige. 92 Schneider, Das Wesen des Psychischen. interessante Anschauung über die Beschaffenheit des Nerven- systems, nach welcher de leitenden Bahnen direkt Riesenmoleküle rellen sollen, ein Standpunkt, dem sich der meine eng an- schließt. Solche Einheiten erscheinen nur bei höherer Differen- zierung der Psyche notwendig. Indem durch sie die Empfindungen aller Sinnesgebiete zueinander in Beziehung gesetzt werden und außerdem die direkte Verbindung des Zentrums mit den effek- torischen Organen ermöglicht ist, kommt eine ausgiebige Ver- knüpfung der Individualpsyche mit den reagierenden Organen über- haupt erst zustande. Je vollkommener die Zentrierung, um so mehr erscheint die Abhängigkeit des Somas vom Subjekt gesichert. Ein Tier, das zahlreiche wohl gesonderte Nervenzentren besitzt, z.B. ein Gliederwurm, stellt sich als Summe von Individualpsychen dar, deren Unterordnung unter eine höchste Psyche nur schwach zur Geltung kommt. Wir sehen darum auch die Selbständigkeit der Teile hier deutlich ausgeprägt. Mit Erledigung der dritten Frage wurde zugleich, gewisser- maßen nebenbei, auch die vierte beantwortet: ob das an den Körper gebundene Psychische für dessen Reaktionen von Bedeutung ist oder nicht. Die Autwort lautete: das Psychische ist von der aller- größten Bedeutung, da es untrennbar der vitalen Energie sich verknüpft und diese die Arbeitsleistung der Organe überhaupt erst ermöglicht. Vitale Energie leitet das chemische Geschehen (Stoffumsatz), das nur Mittel zum Zweck, nämlich zur Betätigung des Somas, nicht diese selbst en Vitale Energie tritt auf durch Umwandlung chemischer Energie und greift en und bedingend in den Stoffwechsel ein. an wir uns nun, welcher Art Eieentlich die Beziehung der vitalen Energie zur chemischen ist, so kommen wir zu folgendem Resultate. Es handelt sich nicht bloß um eine einfache Parallelerscheinung, da die Wechselbeziehung gar zu auffällig hervortritt. Es handelt sich aber auch nicht um eine Kausalverbindung, welcher Ansicht manche Autoren huldigen, denn dann müsste der vitale Vorgang sich als else Glied in die chemische Kette einschieben und diese daher lokal eine Unterbr echung aufweisen. Für solche Annahme liegt aber kein Beweis vor, wir sind vielmehr auf Grund der ne noch recht spärlich vorliegenden exakten Untersuchungsbefunde "berechtigt anzunehmen, dass überall ım Nervensystem chemische Vorgänge sich in Anschluss an die Fortpflanzung des Erregungszustandes abspielen. Somit ist das psychophysische Wechselverhältnis eın durchaus eigenartiges, wenn auch kein Unikum, da das ee im wesentlichen analog dazu erscheint. Ich will übrigens durchaus nicht in Abrede stellen, dass sich vitale Schneider, Das Wesen des Psychischen. 93 Vorgänge ganz unabhängig von chemischen abspielen können. Über diesen Punkt lässt sich zurzeit wohl noch nichts Bestimmtes aussagen, jedenfalls erscheinen die an Reize gebundenen vitalen Vorgänge nicht in diese Gruppe gehörig. Das Hauptthema des Artikels ist erledigt. Wir wissen nun, dass die existentielle Selbständigkeit des Psychischen auch aposteriorisch erweisbar ist und begreifen trotz- dem die Abhängigkeit des Psychischen bei seinem Ein- tritt in unser Bewusstsein von den Nervenvorgängen. Man möchte vielleicht nun noch gern wissen, warum denn in letzter Instanz solehe Abhängigkeit überhaupt notwendig ist, da sie für das Räumliche und Zeitliche der Empfindungsinhalte nicht kon- statiert werden kann, vielmehr nur dem Qualitativen anhaftet, das doch auch nichts als Form, unter der sich Psychisches darstellt, ist. Die Beantwortung dieser Frage scheint mir nicht schwer: es handelt sich um eingeschränkte Veranlagung unseres individuellen Bewusstseins, wie sie sich aus der Natur der Sache ganz von selbst mit Notwendigkeit ergibt. Qualitative Erfassung der Welt ist, soweit es sich um Sinnesqualitäten handelt, nur in höchst eingeschränkter Weise möglich, weil in der ent- sprechenden psychischen Form die Welt in zahllose Einzelheiten aufgelöst erscheint, von denen nur ein ver- schwindender Teil, entsprechend den einzelnen Stand- punkten der Beschauer empfunden werden kann. Der Raum, als reine Ausdehnung, steht uns unbeschränkt zur Ver- fügung; die Zeit, als Sukzession von Einzelmomenten, kommt uns zwar immer nur in Einzelmomenten, in diesen aber für den ganzen Raum geltend, zu Bewusstsein; die qualitative Welt aber als Mannigfaltigkeitsform, zerstückelt in eine unendliche Zahl von Komplexen, die ihre räumlich-zeitliche Eingeschränktheit jedoch durch Buntheit aufwiegen. Jeder Komplex stellt ein individuelles Bewusstsein dar. Selbstverständlich schwankt die Breite des Kom- plexes bedeutend; die ganze Entwickelung der Welt gibt sich als Erweiterung der individuellen Bewusstseinsschranken zu erkennen. Im Lauf der Zeiten treten immer höhere Psychen hervor. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass zu einer wesentlichen Er- weiterung der Psyche eine veränderte, umfassendere Rezeption der qualitativen Weltinhalte nötig ist. Die sinnliche Erfassung der Welt bedeutet eine Verschmelzung von atomalen Einheiten in die höhere Einheit einer Sinnesempfindung; ebenso ist wiederum die geistig-formale Erfassung Mittel zur Verdichtung von Sinneseinheiten. In der potentiellen Erfassung wird die Form überwunden und jene wieder in der Anschauung der Welt als Wille oder gar als das Nichts (siehe hierzu meine Artikel: Vitalismus im Biologischen Centralblatt 1905 und: Nirwana in der Wiener Klin, Rundschau). 94 Schneider, Das Wesen des Psychischen. So steigert sich die Bewusstseinsveranlagung der Weltelemente und erscheint gekrönt im Auftreten von Bewusstseinen, die die ganze Welt umspannen. Wir können aus der Beschaffenheit eines Wesens herauslesen, welcher Art seine Psyche sein wird. Ohne weiteres ergibt sich, dass alle Pflanzen und Tiere eng zueinander gehören, da sie mit Sinnesorganen oder Vorstufen solcher ausgestattet sind. Allen Lebewesen muss demnach sinnliche Empfindung zu- kommen, ganz anders steht jedoch die Sache, wenn wir fragen, ob Pflanzen und Tieren auch formalqualitative, also rein geistige Erfassung der Welt, zukommt. Hierüber gibt uns nur das Formale am Organismus Auskunft, in dessen Beurteilung sind wir aber noch ungemein rückständig, obgleich hier gerade eine Fülle der interessantesten Probleme schlummert. Da ich in einem bald er- scheinenden Artikel in der Wiener Klin. Rundschau die Formfrage eingehender behandeln werde, so breche ich hier meine Betrach- tungen ab und betone nur, dass wir uns selbst überhaupt noch ganz ungenügend kennen, genauere Bekanntschaft jedoch uns über unsere Bewusstseinsveranlagung die wichtigsten Aufschlüsse geben wird. Wenn die Unmöglichkeit einleuchtet, eine in Sinnesqualitäten aufgelöste Welt in toto zu erfassen, wenn ferner in dem Gebunden- sein der qualitativen Welterfassung ans Nervensystem eine Regulativ- vorrichtung für die individuelle Begrenzung der Psychen erkannt wird, so bedarf es eigentlich keiner Worte mehr, die so fest ein- genistete Vorstellung auszurotten, dass Psychisches nur innerhalb individueller Bewusstseine existieren könne, außerhalb solcher aber gar nichts sei. Diese Vorstellung ist nichts anderes als ein Vorurteil, das sich aus dem Unverständnis für die Abhängigkeit des Psychischen vom Nervensystem zwar erklärt, nach Erklärung dieser Abhängigkeit aber ohne weiteres über Bord geworfen werden muss. E.v. Hartmann, Avenarius, Mach, Ziehenu.a. haben dagegen angekämpft, Berkeley hat es zurückgewiesen, da aber keiner dieser Forscher die existentielle Selbständigkeit der psychi- schen Phänomene genügend zu erweisen vermochte, so blieben ihre Einwände umsonst. Wer davon überzeugt ist, dass der Nervenvorgang für uns nur Schlüssel zum Eintritt in die qualitative Form der Weltpsyche ist, gewissermaßen der Vorhang, dessen Aufrollen uns den Blick auf die Weltbühne ermöglicht, der wird erkennen, dass psychisch und bewusst zwei Begriffe sind, die sich nicht voll- ständig decken. Psychisch ist alles in der Welt, da es sich uns räumlich-zeitlich-qualitativ darstellt; bewusst ist es uns aber nur, insofern es als Glied unserer indi- viduellen Psyche auftritt, aus der ausscheidend es für A Rosenthal, Bemerkungen zu dem Aufsatz „Das Wesen des Psychischen“. 95 uns unbewusst wird. Bewusst und unbewusst sind also nur Termini, die in Hinsicht auf Individuen Bedeutung haben und beide für Psychisches gelten; ein Individual- bewusstsein ist nichts anderes als ein Weltausschnitt und als solcher aus Psychischem aufgebaut, das im Laufe der Zeit und an verschiedenen Raumpunkten verschiedene Beschaffenheit aufweist. Die Resultate unserer Betrachtungen stellen eine klare Er- fassung des psychophysischen Tatbestandes dar. Kurz zusammen- gefasst lassen sie sich in folgender Weise formulieren. Unsere Reaktionen sind durch vitale Energie vermittelt, die durch Empfin- dungen ausgelöst wird. Die Empfindungsinhalte sind nichts anderes als die von einem höher veranlagten (tagmalen) Bewusstsein perzi- pierten Reizinhalte, welche chemische Vorgänge in uns auslösen. Chemische und vitale Vorgänge koinzidieren in ıhrem Auftreten und bedingen sich gegenseitig in einer Weise, die verglichen werden kann dem thermochemischen Wechselverhältnis, das bei anorganischen chemischen Vorgängen eine so bedeutsame Rolle spielt. Der psychophysische Tatbestand sagt also gar nichts über die Entstehung des Psychischen aus; da nun logischerweise der Gedanke einer Produktion des Psychischen vollkommen unberechtigt ist, so steht es für uns fest, dass das Psychische realiter existiert, die Welt also durch und durch psychisch ist und Empfindung, d. b. Vorfinden eines Dinges im Bewusstsein, nichts weiter bedeutet, als Eintritt dieses Dinges ın unser Individualbewusstsein, dessen Umfang durch Quantität und Qualität!) der vitalen Energie in uns bestimmt wird. Je mehr und je höhere vitale Energie in uns zur Entfaltung kommt, um so umfangreicher und höher qualifiziert!) ist der Weltausschnitt, der unser Bewusstsein repräsentiert. Auf die überaus bedeutsamen Folgerungen, die sich aus der neuen, hier vertretenen Auffassung des psychophysischen Tat- bestandes ergeben, kann in diesem Artikel nicht näher eingegangen werden. Interessenten seien vor allem auf meinen Aufsatz über das Wesen der Zeit (Wiener Klin. Rundschau 1905) verwiesen, ın dem die Beziehung unserer Vorstellungen zu den Empfindungen behandelt wurde. Bemerkungen zu dem Aufsatz des Herrn K. C. Schneider „Das Wesen des Psychischen“. Von J. Rosenthal. Herr K. C. Schneider wendet sich in vorstehendem Aufsatz gegen mich; er sagt, meine Auffassung von dem Wesen des 1) Die Qualität aufs Geistige, nicht aufs Sinnliche bezogen. 2 r % or 8 96 Rosenthal, Bemerkungen zu dem Aufsatz „Das Wesen ‘des Psychischen“. Psychischen laufe der seinigen schnurstracks zuwider; er könne die Richtigkeit der seinigen unwiderleglich beweisen, und damit sei auch die Unrichtigkeit der meinigen bewiesen. Ich weiß nicht, was Herr S. unter meiner Auffassung vom „Wesen des Psychischen“ versteht. Ich habe mich über diese Auffassung nirgends geäußert, weder früher, noch in dem Auf- satze „Physiologie und Psychologie“ (Centralbl. XXV, Nr. 21 u. 22), welcher ganz zufällig mit dem Aufsatz des Herrn S. zeitlich zu- sammentraf. Auf den Inhalt des letzteren einzugehen hatte ich keine Veranlassung, da dieser von der vergleichenden Psychologie handelte, die in meinem Aufsatz nur beiläufig gestreift wurde. Vom „Wesen des Psychischen“ zu sprechen hatte ich und habe ich auch heute keinen Anlass. Das sind metaphysische Fragen; ich aber fühle in mir keine metaphysischen Anlagen und vermeide deshalb, auf derartige Fragen einzugehen, was ich ja auch auf S. 717 meines erwähnten Aufsatzes ausdrücklich sage und was überdies aus dem ganzen Inhalt des Aufsatzes klar hervorgeht. Der Grund, warum mich Herr S. dennoch für einen Gegner seiner Auffassungsweise hält, ist wohl die auf S. 743 stehende Erörterung der Frage, ob die sogen. „psychischen Vorgänge“ dem Energiegesetze folgen, ob sie mit anderen Worten zugleich auch „materielle“ Vorgänge seien. Herr S. hat dabei übersehen, dass ich über diese Frage gar keine Meinung ausgesprochen habe, sondern nur einen hypothetischen „Jemand“ eine derartige Be- hauptung aufstellen lasse und das nur zu dem Zweck, um zu erklären, dass die Frage naturwissenschaftlich nicht (wenigstens jetzt noch nicht) entschieden werden könne!). Mein Standpunkt ist also der des „non liquet“, und das muss, glaube ich, der eines jeden Naturforschers sein. Herr S. dagegen, obwohl von Beruf Zoologe, ist reiner Philosoph. Auf dieses Gebiet kann ich ihm nicht folgen, weil ich mich dazu nicht für kompetent halte. Auch der Mehrzahl der Leser unseres Blattes wird es, wie ich glaube, lieber sein, wenn ich ihnen breitere Ausführungen philosophischer Spekulationen erspare. Das Biologische Centralblatt will seinen Lesern natur- wissenschaftliche Betrachtungen über tatsächliche Befunde bieten. Rein philosophischen Erörterungen darf es nur ausnahms- weise Raum gestatten. Es würde sonst Gefahr laufen, seinen natürlichen Boden zu verlieren. 1) Die Beschränkung auf die Jetztzeit ist natürlich nur aus Vorsicht gemacht, um unnütze Diskussionen mit solchen zu vermeiden, welche die Entscheidung von den Fortschritten der experimentellen Technik mit Sicherheit erwarten. Ich ziehe eben vor, in solchen Fällen mich jeder Aussage zu enthalten. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. = Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. 2 XXYVI.DBad. 15. Februar 1906. N 4. Inhalt: Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit (Schluss). — Kusnezov, Zur Frage über die Bedeutung der Färbung der Hinterflügel der Catocala-Arten. — Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken, Die Mutationslehre und die Zukunft der. Menschheit. (Vorläufige Mitteilung.) Von M. Schimkewitsch. (Schluss.) il. Wir sind nunmehr an eine andere Frage herangetreten, welche mit derjenigen über die Abstammung des Menschen im Zusammen- hange steht: ıst es notwendig, um die zwischen dem Menschen und den ihm zunächststehenden menschenähnlichen Affen bestehenden Unterschiede zu erklären, die Entstehung einiger der Gattung Homo eigentümlichen Merkmale auf Mutation zurückzuführen? Ich gehe hier nicht auf die Betrachtungen von Klaatsch (1899) über die Stellung einiger Primaten unter den übrigen Säugetieren ein, zu deren Gunsten sich Fischer (1903) auf Grund von Untersuchungen über die Entwickelung des Schädels und v. Bardeleben auf Grund seiner Studien über den Unterkiefer ausgesprochen haben; allein ich halte es — entgegen dem Gesichtspunkte von Linne, Darwin, Huxley, Vogt und Häckel, welchen sich in neuerer Zeit auch Branco und Schwalbe angeschlossen haben — kaum für möglich die Frage über die Abstammung des Menschen von derjenigen über die Abstammung der höherstehenden Affen zu trennen. Wenn der Mensch nach dem Ausspruch von Branco (1902) in der Diluvialperiode als ahnenloser Homo novus auftritt, so ist doch XXVI. 7 98 ‚Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. die Lücke zwischen dem fossilen Menschen und den höherstehenden Affen jedenfalls durchaus nicht so bedeutend, als dass man ge- zwungen wäre, für den Menschen einen besonderen genealogischen Ast anzulegen. Wie dem nun auch sein mag, so erscheint es doch besonders verführerisch in Anbetracht der erwähnten Lücke die Mutationstheorie auf die Entstehung des menschlichen Geschlechtes anzuwenden. Der am schärfsten ausgesprochene Unterschied zwischen dem Menschen und den Anthropomorphen ist das große Volumen des Schädels und das beträchtliche Gewicht des Gehirnes. Schon Wallace sagte, die Wilden besäßen ein größeres (uantum von Gehirn, als dies für sie notwendig wäre und erblickte darin eine vom Standpunkte der natürlichen Auslese unverständ- liche Erscheinung. Schon die Formulierung der Frage, welche darauf hinausläuft, wieviel Gehirn ein Wilder nötig hat, ist keine ganz wissenschaftliche, allein sie lässt den obenerwähnten scharf ausgeprägten Unterschied zwischen dem Menschen und den Anthropomorphen besonders deutlich hervortreten.. Von. unserem Gesichtspunkte aus betrachtet konnte der Mensch eben aus dem Grunde,. nachdem er die Zivilisation geschaffen hatte, als Sieger in dem Kampfe um das Leben auf dem Erdball hervorgehen, weil er eine Spezies mit hypertrophischem Gehirne repräsentierte. Bei- spiele von außerordentlicher, ja fast hypertrophischer Entwickelung einzelner Organe sind im, Tierreiche ziemlich häufig anzutreflen, so z. B. die ungeheure Entwickelung der Leber bei einigen Crustaceen, die übermäßige Entwickelung des Geweihes bei dem ausgestorbenen Oervus euryeeros u.a. m. Lässt sich die starke Entwickelung der Leber bei den Crustaceen auch als eine physiologische Notwendig- keit erklären, so finden wir doch für die fabelhafte Entwickelung des Geweihes bei Cervus euryceros keine Erklärung. Augenschein- lich ist hier infolge irgendwelcher Veränderungen in den Genital- oder Keimzellen die Hypertrophie eines Organes erfolgt, wie dies häufig in anormalen Fällen vorkommt. Das Auftreten einer Rasse mit außerordentlich stark entwickeltem Gehirne unter den An- thropomorphen hat das Entstehen menschlicher Kultur auf dem Erdball möglich gemacht, und die Bevölkerung des Erdballs würde bis zum heutigen Tage in ihrem primitiven Zustande verblieben sein, wenn diese Entstehung nicht stattgehabt hätte. Immerhin bleibt es für mich noch durchaus nicht aufgeklärt, ob dieses Merkmal plötzlich oder allmählich aufgetreten ist. Selbstverständlich ist der Unterschied zwischen dem Volumen des Schädels und dem Gewicht des Gehirns bei dem Menschen und den Anthropomorphen ein ganz ungeheurer. Das allergrößte mittlere Schädelvolumen bei den Primaten und zwar bei dem Gorilla beträgt bis zu 590 ccm, das kleinste mittlere Volumen bei Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 99 den niederen Menschenrassen — und zwar bei den Weddas — dagegen 1224 bei Männern und 1151 bei Frauen. Nur in einem einzelnen und dabei exklusiven Falle beobachtete Topinard ein Schädelvolumen von 623 cm bei einem Gorillamännchen. Zieht man jedoch die spätere Berechnung des Schädelvolumens bei Pithecanthropus nach Dubois (1899) in Betracht, die auf den minimalsten Annahmen beruht, so erweist es sich, dass das Volumen bei den Affen 855 cem erreichen: bei niederen Menschenrassen da- gegen in einzelnen Fällen bis unter 1000 cem herabgehen kann. So hat Flower bei den Weddas einen weiblichen Schädel von 960 eem Volumen zu Gesicht bekommen. Ein gleiches Herabgehen unter 1000 eem wird von anderen Forschern für Australierinnen (Turner) und Indianer (Morton) ‚beschrieben. Hat man es danach noch nötig, für die Erklärung der Ent- stehung dieses Merkmales die Mutationstheorie zu Hilfe zu nehmen, und können wir in diesem, wie auch in vielen anderen Fällen für die Vollständigkeit der paläontologischen Daten Bürgschaft leisten? Mir scheint, dass uns in diesem, wie auch in vielen anderen Fällen, unbedingt weder zugunsten der Mutation noch zugunsten der F lexuation entscheidende Argumente vorliegen. Nach Analogie mit den Anomalien men wir die Möglich- keit der Entstehung einer Rasse von Pygmäen, einer Rasse von Albinos, wenn eine solche existieren würde u. dgl. m. durch Mu- tation zulassen. Ob wir mit Nuesch (1903) für die Pygmäenrasse zwei Urrassen (eine kleine helle und eine größere schwarze) an- nehmen, oder mit E. Schmidt (1904) nur eine einzige Urrasse, — die Möglichkeit eines plötzlichen Auftretens solcher Rassen bleibt dieselbe. Allein zwischen diesen Pygmäen, deren mittlere Höhe bei Männern 144 cm, bei Frauen 134 cm beträgt, und den normalen Rassen besteht eine Reihe von Übergängen, wie z. B. die Be- wohner der Andamanainseln, die Buschmänner u. a. m. Andererseits zeichnen sich einige niedrigste Menschenrassen, wie die Weddas u. a. m. ebenfalls durch sehr geringe Körpergröße aus. Auch in der Frage über den Ursprung der Pygmäenrassen weisen demnach indirekte Betrachtungen scheinbar auf eine allmäh- liche Erwerbung dieses Merkmales hin. Im allgemeinen jedoch spricht das vergleichend-anatomische Studium der Anthropomorphen und der niedrigsten Menschenrassen durchaus nicht zugunsten einer Anwendung der Mutationstheorie in der Frage über die Abstammung des Menschen. Ebenso weist auch das vergleichend-anatomische Studium der Menschenrassen überall eher auf eine Allmählichkeit als auf eine Plötzlichkeit der bei diesen sich abspielenden Ver- änderungen hin. I00 Sehimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. NET: Können wir in bezug auf die stattgehabten und noch statt- habenden Veränderungen innerhalb der Gattung Homo die Mutations- theorie nicht heranziehen, so müssen wir uns naturgemäß der Frage über die Rolle anderer Faktoren zuwenden, und zwar über die Rolle der natürlichen und künstlichen Auslese in den Geschicken der Menschheit. Diese Frage ist der Gegenstand einer ungeheuren Literatur, allein ich werde einstweilen nur die eine Seite dieser Frage berühren, und zwar die allmähliche Ersetzung der natür- lichen Auslese durch die künstliche; ich stimme dabei mit der An- sicht derjenigen Forscher überein, welche annehmen, der Prozess der Auslese dauere in der menschlichen Gesellschaft auch noch bis zum heutigen Tage fort. Ein wesentliches Beweisstück für die wichtige Rolle der natür- lichen Auslese in der prähistorischen Epoche bietet uns die geo- graphische Verbreitung des kurzschädeligen und des langschädeligen Typus in Europa, wovon wir eine anschauliche Darstellung auf der Karte zu den „Crania Suecica“ von G. Retzius finden (vgl. Branco, 1902). Eine bedeutende Beimischung des langschädeligen Typus hat sich in den Grenzgebieten Europas erhalten — und zwar in ‚Skandinavien, im Norden Mitteleuropas, in Großbritannien, auf der Pyrenäischen Halbinsel, in Italien, Griechenland und auf den Inseln Südeuropas —, während der ganze zentrale Teil hauptsächlich von Kurzschädeln besetzt ist, welche wahrscheinlich in Gestalt eines mächtigen Stromes aus Asien nach Europa herübergeflutet waren und die Langschädel nach den peripheren Teilen verdrängt hatten. Andererseits hat Ammon (1893) nachgewiesen, dass die Lang- schädel in der städtischen Bevölkerung Badens einen größeren Prozentsatz ausmachen, als in der Landbevölkerung; hieraus kann man den Schluss ziehen, dass das Stadtleben Bedingungen bietet, an welche die Langschädel besser angepasst sind als die Kurz- schädel. Allerdings können wir den Schwankungen des Cephalindex nicht mehr dieselbe Bedeutung beilegen, wie dies von seiten der alten Schule von Anthropologen geschehen ist, allein diese Re- flexion bezieht sich nur auf die Schlussfolgerungen von Ammon, während die Verschiedenheit in dem Rassencharakter der lang- schädeligen und der kurzschädeligen Bevölkerung der prähistorischen Bevölkerung Europas wohl kaum bestritten werden kann. Ist es auch einem jeden verständlich, dass die internationalen Beziehungen bis jetzt die Sphäre des Kampfes ums Dasein nicht überschritten haben, so ist doch andererseits das Vorhandensein eines solchen Kampfes sowie die Offenbarung der natürlichen Auslese innerhalb ein und derselben politischen und ethnographischen Eın- heit noch” lange nicht so klar und anschaulich. Im übrigen lässt sich, abgesehen von der oben angeführten und anfechtbaren Aus- Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 101 legung der von Ammon festgestellten Tatsache, der Gedanke von der natürlichen Auslese in seiner weitesten Auffassung ganz be- quem auf die Erklärung einer ganzen Reihe von sozialen Er- scheinungen anwenden. Die allgemein bekannte Tatsache der verhältnismäßig großen Kräftigkeit und Ausdauer der Landbevölkerung im Vergleich mit der Bevölkerung der Städte lässt sich, worauf auch Ammon hin- gewiesen hat, nicht sowohl durch den Unterschied in den Lebens- bedingungen (um so mehr als dieser Unterschied in verschiedenen Hinsichten zuungunsten des Dorfes ausfällt), als durch die außer- ordentlich hohe Sterblichkeit unter den Kindern der Landbevölkerung erklären, durch welche das Überleben ausschließlich physisch kräf- tiger und ausdauernder Individuen garantiert wird. Der gleiche Gesichtspunkt und dieselbe Erklärung des Unter- schiedes wird von Reid in bezug auf den Alkoholismus bei ein und derselben Rasse in den verschiedenen Perioden ihres historischen Lebens wie bei den höher und geringer kultivierten Rassen angewendet. Die letzteren neigen, wie allgemein bekannt ist, mehr zum Alkohol- genuss, und die furchtbare Gier einiger farbiger Rassen nach Brannt- wein kann mit der gleichen Gier der höherstehenden Affen verglichen werden, welche sich ebenfalls nicht selten bis zum Tode betrinken. Der in dieser Beziehung bestehende Unterschied fällt sehr anschaulich in die Augen, wenn man zum Vergleiche Völkerschaften heranzieht, welche zwar einer gemeinschaftlichen Rasse angehören, aber auf verschiedenen Stufen der Kultur stehen, z. B. den Russen einer- seits und den Deutschen oder Franzosen andererseits. Nach den von Dr. Mendelsohn gesammelten Daten steht das Verhältnis der im Jahre 1901 in St. Petersburg von der Polizei in betrunkenem Zustande arretierten Personen zu der Bevölkerungs- zahl wie 1:23, in Berlin dagegen 1:315 und in Paris 1:20000 (Mittel der Veen 10 Jahre)}). In St. Petersburg vergiften sich jährlich mit Alkohol (d.h. be- trınken sıch zu Tode) 200 Menschen und außerdem sterben noch 300. Menschen indirekt infolge Betrunkenheit. Reid schreibt die erwähnten je nach der Kultur auftretenden Veränderungen in bezug auf den Alkoholismus dem Umstande zu, dass Individuen und Familien, welche Neigung zum Alkohol auf- weisen, allmählich aussterben. Auf diese Weise sind diejenigen Individuen und Familien, welche sich durch Unmäßigkeit, Mangel an Selbstbeherrschung und Bemeisterung sowie überhaupt durch expansive Natur auszeichnen, allmählich unter dem Einfluss des Alkoholismus ausgestorben. Den gleichen Standpunkt kann man auch auf die Auslegung 1) Die letzte Zahl ist nach den Ausführungen des Verfassers mit den zwei ersten nicht vergleichbar. 102 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. einer ganzen Reihe von Veränderungen im Charakter eines Volkes bei zunehmender Entwickelung der Kultur anwenden. Kriege, blutige Zusammenstöße, Zweikämpfe, überhaupt alle Arten von Blutvergießen haben vor allem die Vernichtung derjenigen Indi- viduen herbeigeführt, welche sich am leichtesten entzündeten und in Zusammenstöße verwickeln ließen, gleichzeitig aber auch sich durch unbarmherzige Grausamkeit auszeichneten, die es ihnen ge- stattete, mit verhältnismäßiger Ruhe fremde Leiden mit anzusehen. Das Blutvergießen hat sich selbst die Wurzeln beschnitten. Der Untergang einzelner, durch hervorragenden Altruismus ausgezeich- neter Personen für eine Idee, verändert naturgemäß nichts an dem allgemeinen Charakter dieses Jahrhunderte andauernden Prozesses. Überhaupt schieden die am meisten expansiven und am wenigsten ausgeglichenen Individuen infolge der Wirkung des Alkoholismus, des Blutvergießens und einiger anderer Faktoren, von welchen später die Rede sein wird, allmählich aus der Masse aus, während diejenigen Personen, welche sich durch Selbstbeherrschung und Gleichmütig- keit ihres Wesens auszeichneten, das Übergewicht bekamen. IX. Kriegerischer Geist, herausfordernde Streitsucht, rasche Ent- flammbarkeit, persönlicher Wagemut — alle diese Eigenschaften spielten eine ungeheure Rolle bei der Kriegführung mit primitiven Kampfesmitteln, welche in einem bestimmten Stadium der histo- rischen Entwickelung die fast fortwährende Beschäftigung eines großen Teiles des Volkes ausmachte. Allein diese selben Eigenschaften haben bei weitem nicht die gleiche Bedeutung für die friedlichen Beziehungen innerhalb eines Staates oder zwischen verschiedenen Staaten, ja sie erweisen sich hier bisweilen sogar als schädlich. Dagegen spielen ruhige Selbst- beherrschung, beständig ausgeglichenes Wesen, ein gewisses In- neres Gleichgewicht in den friedlichen Beziehungen und im Zu- sammenleben eine außerordentlich große Rolle. Die Menschheit passte sich demnach in der Person ihrer vorgeschrittenen Rassen immer mehr und mehr den friedlichen Formen des Zusammen- lebens an. Die Ausmerzung der am meisten nach Blut dürstenden und sich fremden Leiden gegenüber am passivsten verhaltenden Individuen hat noch eine andere Erscheinung zur Folge gehabt, welche wir die Verfeinerung des Nervensystems und die Zunahme der Sensibilität nennen wollen. Wir sind jetzt nicht mehr imstande, jene blutigen Schauspiele mit anzusehen, welche verhältnismäßig vor nicht langer Zeit eine Quelle des Genusses für die Menschheit bildeten, wie z. B. die Gladiatorenkämpfe und überhaupt die kriegeri- schen Spiele, deren Realismus bis zum wirklichen Tode reichte. Augenscheinlich ist in der Verfeinerung des Nervensystems Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 103 und der gesteigerten Sensibilität bei dem Kulturmenschen die Ur- sache für humane Behandlung, Philanthropie, Selbstaufopferung und überhaupt für alle altruistischen Gefühle zu suchen. Religiöse und Moralpredigten erzielen, wie dies von Richet ausführlich dar- gelegt worden ist, nur dann günstige Resultate, wenn sie auf einen durch die Auslese und die Kultur vorbereiteten Boden fallen; ist dies jedoch nicht der Fall, so führt selbst die höchste Moral, wie diejenige des Christentums, nur zu einer Entstellung derselben, wie wir dies bei den Wilden sehen und wie es im Mittelalter auch in Europa noch der Fall war. Diese Verfeinerung des Nervensystems ist nicht allein durch die Tätigkeit der Auslese bedingt, sondern vielleicht auch noch durch andere Faktoren. Das Mitgefühl für Leiden setzt unbedingt eine so hoch entwickelte Einbildungskraft voraus, dass der Mensch imstande ist, die Leiden eines anderen Wesens in Gedanken auf sich selbst zu übertragen und überhaupt sich an die Stelle dieses Wesens zu versetzen, möge es ein Mensch oder ein Tier sein. Eine solehe Einbildungskraft geht den Tieren vollständig ab und diese letzteren kennen daher kein Mitgefühl. Sie ist bei den primi- tiven Rassen schwächer ausgebildet als bei den kultivierten Rassen und das Mitgefühl ist daher bei ersteren lange nicht so stark aus- gebildet wie bei den letzteren. Das von der Entwickelung der Einbildungskraft abhängige Mitleidensgefühl, die Verfeinerung des Nervensystems und die Zunahme der Sensibilität wirken bei feind- seligen Beziehungen und blutigen Zusammenstößen direkt schäd- lich, dagegen bilden sie die Grundlage aller friedlichen sozialen Beziehungen der Menschen untereinander. Wie sehr der Krieg aufgehört hat mit der Stimmung der Menschheit zu harmonieren, und bis zu welchem Grade er die Kräfte ihres Nervensystems übersteigt, geht aus einer Menge von Tatsachen hervor. Hierher gehört die Entstehung einer ganzen Reihe von Sekten, deren Anhänger prinzipielle Gegner des Krieges und der Vergewaltigung sind (in der Art der russischen Ducho- borzen, der Mennoniten etc.), ferner das Zunehmen der .Zahl von Deserteuren in vielen Armeen (dieselbe beträgt in der Armee der Vereinigten Staaten bis zu 15°/,); endlich spricht hierfür auch die von verschiedenen Seiten bestätigte Tatsache der außerordentlich großen Anzahl von psychischen Erkrankungen während des russisch- japanischen Krieges. Die Zahl solcher Erkrankungen war so be- deutend, dass sich die Errichtung spezieller psychiatrischer Hospitäler auf dem Kriegsschauplatze als notwendig herausstellte, — eine Er- scheinung, welche in der Geschichte der Kriege wohl zum ersten Male vorgekommen ist. Es ist wohlmöglich, dass dem Kriege in dererwähnten Veränderung des menschlichen Nervensystems der allergefährlichste und dabei wahrscheinlich ein unbesiegbarer Feind erstehen wird. 104 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. X, Die erste Andeutung einer künstlichen Auslese finden wir auch bei den Tieren, allein hier erfolgt diese Auslese instinktiv. Darwin unterscheidet zwei Arten von künstlicher Auslese: eine bewusste und eine unbewusste. Wir ziehen für erstere die Bezeichnung einer methodischen, für die zweite die einer zufälligen Auslese vor. In dem Falle der sogenannten unbewussten Auslese handelt der Mensch ohne einen deutlich zum Bewusstsein kommenden Zweck, allein auch diese Gestalt der Auslese ist nicht denkbar ohne Teilnahme des Bewusstseins. Wenn wir uns andererseits da- mit einverstanden erklären, dass gewissen Tieren erste Erscheinungen der künstlichen Auslese eigentümlich sind, so müssen wir gerade diese Form der Auslese für eine unbewusste ansehen. Ich meine damit die Beziehungen, wie sie zwischen den Ameisen der Gattung Eeiton und einigen Pflanzen, sowie zwischen anderen Ameisen und gewissen Myrmecophilen, wie z. B. den Blattläusen bestehen. Diese instinktiven Beziehungen erinnern in vieler Hinsicht an die Be- ziehungen zwischen dem Menschen und den domestizierten Tieren und Pflanzen. Allerdings stellen es sich die betreffenden Ameisen nicht zur Aufgabe, irgendeine neue Rasse zu züchten, aber auch die Mensch- heit lässt sich auf den ersten Schritten in der Anwendung der künstlichen Auslese ebenfalls nur durch Zwecke der Domestizierung leiten. In bezug auf die Termitophilen hat Wasmann (1899) nach- gewiesen, dass einige Züge in ihrer Lebensweise unzweifelhaft ım Zusammenhange mit ihrer Organisation stehen. Es ist wohl mög- lich, dass die Pflege, welche die Ameisen den Blattläusen ange- deihen lassen, irgend einen Einfluss auf die Organisation dieser letzteren durch Auslese ausgeübt hat, so wie dies bei der Pflege vieler Haustiere durch den Menschen der Fall gewesen ist. Aus allem diesem können wir schließen, dass gewissen Tieren un- bewusste ÖOffenbarungen einer künstlichen Auslese eigentümlich sind, deren Vorhandensein zu Erscheinungen führt, welche der Domestizierung nahekommen. Die Rolle der natürlichen Auslese in der modernen Gesell- schaft scheint mir die folgende zu sein: die natürliche Auslese führt unausbleiblich zum Siege der friedliebenden und mitfühlenden Elemente auf Kosten der kriegerischen und durch Mangel an Ge- fühl ausgezeichneten Elemente. In dem gleichen Sinne wirkt ein anderer mächtiger Faktor — die künstliche Auslese, welcher auch in Zukunft weiter wirken wird. Der erste Schritt in dieser Richtung erfolgte bei dem Menschen schon vor sehr langer Zeit und die künstliche Auslese bezog sich ursprünglich auf die Beziehungen des Menschen zu anderen Tieren: schon zu einer Zeit, als die Morgenröte über der Menschheit erst Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 105 im Aufsteigen begriffen war, erwies sich die Mehrzahl der Haus- tiere als bereits dem Menschen unterworfen. Es versteht sich von selbst, dass der Mensch sich zuerst das zu eigen machte, wessen er ohne besondere Mühe habhaft werden konnte, d. h. er domesti- zierte diejenigen Tiere, deren günstige Eigenschaften als Haustiere ihm gesichert erschienen. Es erweist sich jedoch, dass der Mensch- heit während der Periode ihres kulturellen Lebens sehr wenig in dieser Richtung zu schaffen blieb, indem der prähistorische Mensch bereits den größten Teil dieser Aufgabe erfüllt hatte. Indem die Menschheit die Idee einer künstlichen Auslese auf ihre Beziehungen zu den Tieren übertrug, konnte sie nicht umhin, diese Idee auch in die Beziehungen der Menschen untereinander hereinzutragen. Die Knechtschaft oder Sklaverei war durch den Krieg hervorgerufen, d. h. durch den Kampf ums Dasein, allein der Gedanke, die Kriegsgefangenen zu Arbeiten zu verwenden und ihre Nachkommen zu Haustieren zu machen, ıst mit dem Gedanken an eine künstliche Auslese zwar nicht identisch, aber demselben doch immerhin verwandt. Eine Sklaverei entstand auch bei den Ameisen, jedoch nur auf instinktivrem Wege; alleın die anfängliche Voraussetzung, die Sklaverei hätte bei den Ameisen, wie dies auch in der Geschichte der Menschheit der Fall ist, das Auffressen der Kriegsgefangenen ersetzt, scheint sich nicht zu bewahrheiten. Sorg- fältige Beobachtungen von Wasmann (1905) legen dafür Zeugnis ab, dass die Sklaverei der Ameisen durch Begründung der so- genannten Adoptionskolonien entstanden ist, d.h. solcher Kolonien, welche durch Weibchen einer Art unter Beihilfe von Arbeiterinnen einer anderen Art gebildet wurden. Der Kindermord war ım Altertum sehr verbreitet und sogar durch Gesetze geheiligt. Er wurde ım .alten Griechenland, im alten Germanien, in Russland bei den Donischen Kosaken und den Bergvölkern des Kaukasus ausgeübt. Auch bis zum heutigen Tage besteht dieser Brauch bei den Wilden der dichtbevölkerten Inseln des Stillen Ozeans, bei den Eskimos, den Tasmaniern, den Dajaks und er ist sogar sehr verbreitet bei den Chinesen. In einigen Fällen werden nur Mädchen, in anderen auch Knaben getötet, wenn diese letzteren missgestaltet oder kränklich sind. Augen- scheinlich ist dieser Brauch, welcher zu einer Beschränkung der Bevölkerungszunahme führt, auf eine erschreckende Armut zurück- zuführen, allein der Gedanke einer Auslese ist in demselben doch mit ziemlicher Deutlichkeit ausgesprochen. Den Charakter einer künstlichen Auslese trug auch die Be- seitigung verschiedener antisozialer verbrecherischer Elemente aus der Gesellschaft, indem diese Elemente ihres Willens und ihres Lebens beraubt wurden; allein diese Waffe wandte sich bisweilen auch gegen ausgesprochen altruistische Elemente, wenn diese letz- 105 Sehimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. teren der herrschenden gesellschaftlichen Stimmung entgegengesetzt gesinnt waren. Die künstliche Auslese ist an und für sich weder wohltätig noch schädlich: es kommt dabei ausschließlich auf die Ziele an, welche sie verfolgt, sowie auf die Form, in welcher sie zum Aus- druck kommt. Die Kultur hat dieser Auslese andere Ziele und andere Aufgaben angewiesen, als diejenigen es sind, welche von den Wilden und den Völkern des Altertums verfolgt wurden; auch hat sie diese Auslese in mildere Formen geleitet, indem unser verfeinertes Nervensystem nicht mehr imstande ist den Anblick fremder Qualen gleichgültig zu ertragen. Die Menschen können sich nicht mehr glücklich fühlen, wenn nebenbei andere Menschen leiden. Die ursprünglichen Formen der Auslese — der Kinder- mord und die Sklaverei — sind zur Ummöglichkeit geworden und es wird niemandem mehr einfallen, sich von dem Anblick eines Leidenden dadurch zu befreien, dass er letzteren tötet. Die Auslese hat eine andere Richtung angenommen: es sollen die Leiden anderer erleichtert werden. Für die Erfüllung dieser Aufgabe stehen der Menschheit zwei Mittel zu Gebote: ein schwächeres — die Philantropie, und ein kräftigeres — die Einmischung des Staates zugunsten des ärmsten Teiles der Menschheit. Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die Unterstützung der Schwachen und die Hilfeleistung an die Kränklichen die Menschheit zu ent- arten drohen. Allein die Menschheit wird, nachdem sie einmal den Weg der künstlichen Auslese beschritten hat, natürlich ın dieser Auslese selbst Mittel finden, auch gegen diese Kalamität vorzugehen. Einstweilen erscheint es uns noch eigentümlich, ja fast lächer- lich, dem Rat eines Arztes zu folgen, indem wir auf eine beab- sichtigte Ehe verzichten. Aber die Zeiten ändern sich, und die Begriffe, um derent- willen die gegenwärtige Menschheit bereit ist, sich aufzuopfern, können mit der Zeit veraltet erscheinen und es werden an ihre Stelle neue, nicht weniger anspruchsvolle und nicht weniger be- achtungswerte Begriffe treten. Es ist wohl möglich, dass die Idee einer künstlichen geschlechtlichen Auslese, begründet auf der Be- seitigung schwächlicher Individuen von der Zeugung sich zu dem Begriffe einer moralischen Pflicht ausbildet. Ist doch das Bewusst- sein der Schädlichkeit blutschänderischer Ehen bis zu dem Grade eines Pflichtgefühles herangewachsen, während solche Ehen auf den ersten Stufen in der Entwickelung der Menschheit eine ganz gewohnte Erscheinung bildeten. Es ist auch darauf hingewiesen worden, dass der Menschheit, in ihrem Kampfe mit der Entartung, mit der Zeit auch die geschlechtliche Auslese zu Hilfe kommen wird, deren Rolle unzweifelhaft eine um so bedeutendere sein Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 107 wird, je mehr die Frau sich von der ökonomischen Knechtschaft befreit. Natürlich wird es vorkommen können, dass auch eine unabhängige Frau einen kränklichen oder hilflosen Mann heiratet, namentlich wenn man die wichtige Rolle im Auge behält, welche das Gefühl des Mitleids und der Selbstaufopferung in der Psychik des Weibes spielt. Doch werden wenigstens jene Fälle ausgeschieden werden, wo derartige Ehen durch die verzweifelte Lage der Frau, deren Ermattung im Lebenskampfe und den Durst nach den Freuden des Lebens bedingt sind. Kehren wir nunmehr zu der Frage über die zukünftige Rolle der künstlichen Auslese zurück. Man wird mit Bestimmtheit voraus- sagen können, dass die natürliche Auslese allmählich durch die künstliche verdrängt werden wird. In Gestalt schüchterner Schritte einer halbwilden Menschheit ım Gebiete der Domestizierung ent- standen, wird die künstliche Auslese unausbleiblich allmählich nicht allein die sozialen, sondern auch die internationalen Beziehungen umfassen. Der Schutz der schwachen und unkultivierten Rassen durch starke Kulturrassen, welcher einstweilen einen philantropischen Charakter trägt und gegenwärtig eine seltene Ausnahme bildet (wie z. B. das Verhalten der Vereinigten Staaten gegenüber den Indianern oder der russischen Regierung gegenüber einigen Fremd- völkern Sibiriens), wird zu einer allgemeinen Regel werden und konse- quenter durchgeführt werden können. Denn keine einzige Rasse ist so schlecht, dass sie nicht ihren Platz in der allgemeinen Kultur- arbeit der Menschheit finden könnte. Gegenwärtig können wir uns nicht, einmal vorstellen, welche Formen die Herrschaft der künst- lichen Auslese annehinen wird. Wir können nur die Überzeugung hegen, dass die künstliche Auslese zu denselben Resultaten führen wird, zu welchen uns die natürliche Auslese bisher leitete und weiterhin geleitet haben würde, d. h. zu der Entstehung einer für das kulturelle Leben am meisten angepassten Rasse. Allein wäh- rend die natürliche Auslese ihren Erfolg mit dem Preise von Millionen von Leben und unendlicher Leiden erkauft, wird die künst- liche Auslese dieselben Resultate ohne Opfer an Leben und mit einer minimalen Menge von Leiden erzielen. Derjenige Mensch, welcher freiwillig oder aufGrund der herrschenden Gesetze auf eine wünschens- werte Ehe verzichtet, wird naturgemäß viele schwere Augenblicke durchmachen. Allein wie sehr ir dabei die Art und Neise des Leidens selbst gemildert, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die natürliche Auslese derartige Fragen durch Kämpfe der Männ- chen auf Tod und Leben löste. Nur diese Kämpfe allein konnten die Beitigung der Schwachen und kranken Männchen von der Teil- nahme an der Erzeugung einer Nachkommenschaft sicherstellen. Nunmehr begreifen wir die nur scheinbare Wohltat der Fak- toren der natürlichen Auslese, auf welche wir hinwiesen, als von 108 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. dem Alkoholismus, Blutvergiesen und ähnlichen Erscheinungen die Rede war. Die Menschheit könnte in bezug auf jene Faktoren nur in dem Falle von einer Wohltat reden, wenn dies der einzige vorhandene Weg wäre. Sobald aber der Menschheit durch ihr Bewusstsein ein anderer Weg angewiesen wird, welcher zu den- selben Resultaten führt, ohne jedoch tödliche und furchtbare Leiden zu fordern, hat dieselbe kein Recht mehr von einer Wohltat des Kampfes ums Dasein und der natürlichen Auslese zu reden. XI. Es lässt sich unschwer erkennen, dass der künstlichen Auslese, selbst wenn man deren niedrigsten Formen, wıe die Domestizierung der Tiere und einige Arten der Sklavenhalterei in Betracht zieht, immerhin ein anderes Prinzip zugrunde liegt als der natürlichen Auslese: letztere stützt sich auf den Kampf ums Dasein, während die Domestizierung und die Sklavenhalterei eher an eine Kooperation oder genauer gesagt, an eine Symbiose erinnern. Es sınd Versuche unternommen worden, aus der Tatsache, dass die Symbiose keine seltene Erscheinung in der Tierwelt ist, auf die weitgehende Verallgemeinerung zu schließen, ın der Natur herrschten zwei Prinzipien: dasjenige einer Konkurrenz, wie es in dem Kampf ums Dasein zutage tritt, und dasjenige einer Kooperation, wie esin der Symbiose seinen Ausdruck findet. Allein augenscheinlich verdankt die Symbiose selbst ihre Entstehung dem Kampfe ums Dasein und ist auf die gleiche Weise entstanden, wie dies bei den Bündnissen von Völkern der Fall ist, d. h. zum Zwecke gemein- samen Schutzes oder gemeinsamen Angriffes. Die geringe Festig- keit der bei der Symbiose herrschenden Beziehungen wird durch den Umstand bewiesen, dass viele Formen des Parasitismus aus einer Symbiose entstanden sind: das Gleichgewicht braucht nur ın ganz geringem Maße erschüttert zu werden, um ein friedliches Zusammenleben in das Leben eines Tieres auf Kosten eines anderen Tieres übergehen zu lassen. Das Prinzip der Kooperation spielt in der Natur eine nur untergeordnete Rolle. Es besteht in einer gegenseitigen Hilfe im Interesse des Kampfes — und hat keinen weiteren Zweck. Es besteht außerdem ein gewisser Unterschied in der An- wendung des Prinzips der Kooperation in der menschlichen Gesell- schaft und dessen Anwendung in der Tierwelt. So groß die Analogie in der Entwickelung der Sklavenhalterei bei den Ameisen und Menschen auch sein mag, so ist dies doch nichts weiter wie eben eine Analogie. Bei ersteren ist es ein dauerhaftes Instinkt, bei letzteren — eine historische Phase in der Entwickelung; bei ersteren handeln sowohl die Sklavenhalter wie auch die Sklaven selbst unbewusst, indem sie sich diesem durch Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 109 die Auslese hervorgebrachten Instinkt unterwerfen, beı letzteren dagegen ist das Halten von Sklaven eine bewusste durch Zwang ausgeführte Handlung, welche jedoch natürlich in das allgemeine und vielleicht auch unvermeidliehe Schema der historischen Ent- wickelung der Menschheit hereingehört. Dieser Unterschied ist durch das allgemeine Gesetz von dem Ersatz der unbewussten Instinkte bei dem Menschen durch bewusste bedingt, ein Gesetz, welches von L. Stephen ausführlich dargelegt worden ist. Das Prinzip der Kooperation findet demnach eine nur sehr beschränkte Anwendung ım Tierreiche, während die Menschheit von diesem Prinzip im weitesten Maße Gebrauch macht. Die Menschheit hat bereits auf ihren ersten Schritten die Kooperation angewandt und wird dieses Prinzip zweifelsohne bis weıt über die Grenzen seiner gegenwärtigen Anwendung hinaus weiter entwickeln. Wenn das Prinzip der Kooperation aus dem Rahmen der Nationalität heraus- treten und zu einem Regulator der internationalen Beziehungen werden wird, dann kann die natürliche Auslese, welche diese Be- ziehungen gegenwärtig charakterisiert, durch die künstliche Auslese ersetzt werden und der Krieg wird dann zu einem Anachronismus. Die allmähliche Verdrängung des Prinzips des Kampfes und der natürlichen Auslese durch das Prinzip der Kooperation und der künstlichen Auslese in der Menschheit berechtigt uns zu der Hoff- nung auf einen endgültigen Sieg dieses letzteren Prinzips. Die Menschheit ist zu verständig um, einmal auf diesem Wege an- gelangt, von demselben wieder abzuweichen und wird früher oder später zu einem Bündnis der gesamten Menschheit zum Kampfe gegen die Natur gelangen. XI. Ich habe mit Absicht einen Faktor bis jetzt mit Stillschweigen übergangen, welchem von einigen Soziologen eine außerordentliche Bedeutung zugemessen wird: es ist dies der erziehende Einfluss der Kultur. Allein ich stelle mich in dieser Hinsicht auf den Standpunkt von Weismann und nehme an, dass eine jegliche Erziehung einen nur individuellen Charakter trägt, d. h. dass sie sich nur auf das- jenige Individuum erstreckt, welches erzogen wird, während auf dessen Nachkommenschaft nur das Resultat und zwar wiederum nur durch eine gleiche Erziehung übertragen werden kann. Was die Frage von der Übertragung der von den Eltern erworbenen Merk- male auf deren Nachkommen betrifft, so besitzen wir ja eigentlich nur die Angaben von Standfuß (1899) und Fischer (1901) be- züglich der Übertragung von Veränderungen in der Färbung bei Schmetterlingen, wobei diese Veränderungen durch die Einwirkung {10 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. anormaler Temperaturen auf die Puppen hervorgerufen wurden. Es ist dabei zu bemerken, dass sich bei den Insekten im Puppen- stadium sehr tiefeingreifende Prozesse histolytischen Charakters abspielen und dass der auf die Puppe ausgeübte Einfluss mit dem auf die Imago ausgeübten Einfluss nicht gleichbedeutend ist. Außerdem betreffen alle diese Veränderungen nicht morphologische Eigentümlichkeiten sensu strieto, sondern nur die Färbung. Letztere steht dagegen augenscheinlich in engem Zusammenhang mit einer ganzen Reise physiologischer Funktionen und nimmt außerdem als spezifisches Merkmal eine ganz besondere Stellung ein. Die von Schmankewitsch an Artemia angestellten Ver- suche können durch die Untersuchungen von Anikin (1889) und Butschinsky (1901) als durchaus widerlegt angesehen werden. Ich kann nicht umhin, auf einen weiteren Faktor hinzuweisen, welcher mit den vorhergehenden zwar in engem Zusammenhang steht, bisher aber zu wenig Beachtung gefunden hat. Es ist schon längst auf die Tatsache einer erblichen Übertragung der Fähigkeit zu intellektueller Arbeit als auf ein Argument zugunsten der Erblichkeit der Erziehung hingewiesen worden. In der Tat er- scheinen Kinder intelligenter Eltern, wenigstens anfangs, besser für den Unterricht und für geistige Beschäftigungen befähigt, als Kinder nicht intelligenter Eltern; allein andererseits liegen Be- trachtungen vor, welche gegen die Möglichkeit einer Vererbung geistiger Eigentümlichkeiten sprechen, wenn diese letzteren nicht eine Folge der physischen Organisation sind (Rawitz, 1904) und es will mir scheinen, als könne man dieser Tatsache eine ganz andere Auslegung geben. Ebenso allgemein bekannt ist auch die Tatsache, dass Menschen, welche sich ihr ganzes Leben hindurch mit physischer Arbeit abgegeben haben, durchaus keine geistigen Anstrengungen vertragen. Setzt man einen kräftigen und gesunden, aber gänzlich ungebildeten Bauern an das Alphabet, so wird er nach kurzer geistiger Anstrengung nicht selten in Ohnmacht fallen. Die Physiologen erklären diese Erscheinung dadurch, dass sich bei geistiger Ermüdung in dem Nervensystem Toxine ansammeln, welche dasselbe vergiften und eine Ohnmacht hervorrufen. Weichard (1905) gewann aus erschöpften Muskeln den Aus- zug eines Toxines, welcher in das Blut eines anderen Tieres ein- geführt, Ermüdungserscheinungen, in kleineren Dosen dagegen die Bildung eines entsprechenden Antitoxins im Blute des Versuchs- tieres hervorrief. Die Ursache, warum die Kinder intelligenter Eltern besser zu geistiger Arbeit befähigt sind, kann von zweierlei Art sein. Sie kann einmal individuell sein, indem diese Kinder früher zu lernen beginnen als die Kinder nicht intelligenter Eltern und ihr Organis- mus sich allmählich an die Erzeugung des nötigen Antitoxins ge- Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 411 wöhnt. Die Ursache dieser Erscheinung kann aber auch erblich sein, indem die Vergiftung des Körpers mit dem Ermüdungstoxin und der Antrieb zur Bildung des Antitoxins während des fötalen Lebens oder sogar bereits durch die Genitalzellen auf die Nachkommen- schaft übertragen wird. Ich stelle mich hierbei auf den Stand- punkt, dass das Toxin und das Antitoxin der Muskelermattung nicht identisch sind mit dem Toxin und dem Antitoxin der Nerven- ermattung, indem Menschen, welche öfters eine Ermüdung der Muskeln erfahren, nicht imstande sind selbst eine geringfügige Nerven- ermüdung zu ertragen und umgekehrt. Die Vergiftung der Genitalzellen ist eine in anderen Fällen so feststehende Tatsache, dass ıhrer Annahme an und für sich nichts im Wege steht. Durch eine solche Vergiftung erklärt sich die Einwirkung des Alkoholismus auf die Nachkommenschaft, die Vererbung gewisser Krankheiten, wie z. B. die Epilepsie, sowie die Vererbung einiger Formen von Immunität. In allen diesen Fällen kann die Übertragung sowohl durch die weiblichen, wie auch durch die männlichen Genitalzellen erfolgen. Einige Fälle der Erblichkeit von Enlepaie bedürfen übrigens an und für sich noch einer Bestätigung. Der tatsächlichen Über tragung der Epilepsie, welche bei Meerschweinchen durch Schläge auf den Kopf hervorgerufen wurde, auf die Nachkommen, wie sie aus den Versuchen von Brewn-Secquard hervorgeht, kann jene Tatsache gegenübergestellt werden, dass von Sommer (1900) eben- falls bei Meerschweinchen, aber infolge Durchschneidung des N. ischiadicus hervorgerufene Epilepsie nicht anf die Nachkommen- schaft übertragen wurde. Außer der Erblichkeit der Epilepsie haben wir oda noch eine ganze Reiche von Tatsachen, auf Grund deren die Möglichkeit zugegeben werden muss, dass im Blute eines Tieres uhelone be nen eine Einwirkung auf dessen Genital- zellen, und durch diese auf die physiologischen, keineswegs aber auf die morphologischen Eigentümlichkeiten der Nachkommen aus- üben können (vgl. Emery, 1893 u. folg.). Dieses ıst der Grund, warum ich, als von der Verfeinerung des Nervensystems und der erhöhten Sensibilität bei den Kultur- völkern die Rede war, den Vorbehalt machte, die natürliche Aus- lese könne im gegebenen Falle vielleicht nicht die einzige Ursache einer solchen Veränderung darstellen. Es ist wohl möglich, dass die geistige Anstrengung und die geistige Entwickelung überhaupt von einer Anhäufung solcher Toxine begleitet wird, welche in der gleichen Weise auf das Nervensystem einwirken und vielleicht auch ebenso dazu befähigt sınd, auf die Genitalzellen und folglich auch auf die Nachkommenschaft eine Einwirkung auszuüben. Durch die drei angeführten Faktoren — die natürliche Aus- lese, die künstliche Auslese und die Intoxikation der Genitalzellen — 112 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. wird die Progressivität der Veränderungen des Menschengeschlechts unter der Voraussetzung individueller Variationen zur Genüge auf- geklärt. Wenn Mutationen in der Vergangenheit der Menschheit eine Rolle gespielt haben würden und wenn sie sich periodisch offenbart hätten, so könnten wır mit vollem Rechte hoffen, dass es der Menschheit beschieden sein wird, mit der Zeit einmal eine neue Mutationsperiode anzutreten und vielleicht in beschleunigtem Tempo eine Rasse hervorzubringen, welche noch höher steht als alle jetzt auf dem Erdball vorhandenen Rassen. Allein die Vergangenheit lehrt uns, dass eine solche Hoffnung leichtfertig wäre. Von den drei erwähnten Faktoren kann der Mensch einstweilen nur den einen, und zwar die künstliche Auslese bewusst verwenden; dieser Faktor aber scheint mir allmächtig zu sein, jedenfalls nicht weniger allmächtig als die natürliche Auslese. Das oben Dargelegte kann in folgender Weise zusammen- gefasst werden: 1. Die Entstehung von Arten durch scharf ausgesprochene Variationen (Mutationen) sowie durch Anhäufung unbedeutender Variationen (Flexuationen) findet wahrscheinlich gleichzeitig im Tierreiche statt. 2. Es gibt drei Arten von Merkmalen, und zwar a) Merkmale, welche ausschließlich durch Mutationen entstehen können; b) Merk- male, welche durch Mutationen wie durch Flexuationen entstehen können und ce) Merkmale, welche ausschließlich durch Flexuationen entstehen können. 3. Der Charakter der durch Mutation entstehenden Merkmale kann hauptsächlich durch das Studium von Anomalien und Miss- bildungen bestimmt werden. 4. Die Flexuationen, Mutationen, Anomalien und Misbildungen repräsentieren eine Reihe von Abweichungen, deren Amplitude all- mählich anwächst, deren Häufigkeit des Auftretens aber im Gegen- teil abnimmt. 5. Neue Merkmale können nicht allein infolge von Entwicke- lungshemmung, sondern auch durch Atavismus auftreten; die neu entstehende Art kann daher solche Merkmale niederer Organisation aufweisen, welche bei einer nächstverwandten Ausgangsart fehlen. 6. Einige Merkmale, wie der Metopismus, erscheinen zwar für die betreffende Art im speziellen progressiv, können aber ihrem Wesen nach auf eine Entwickelungshemmung zurückgeführt werden oder weisen sogar einen atavistischen Charakter auf. 7. Auf die Frage über die Abstammung des Menschen kann die Mutationstheorie nur soweit angewendet werden, soweit sie auf andere Tiere anwendbar ist, d. h. wir könnten durch diese Theorie Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 113 nur die Entstehung von Merkmalen eines bestimmten Charakters erklären; das vergleichend anatomische Studium der anthropo- morphen Affen und der menschlichen Rassen spricht eher zugunsten allmählicher als zugunsten plötzlicher Veränderungen. 8. Die Weltgeschichte der Menschheit lässt sich auf einen Er- satz der natürlichen durch die künstliche Auslese zurückführen; während das Gebiet der Tätigkeit der ersteren allmählich immer mehr eingeschränkt wird, dehnt sich dasjenige der zweiten immer weiter aus. 9. Die natürliche Auslese hatte während der kriegerischen Periode in der Geschichte der Menschheit die Beseitigung der am meisten expansiven und grausamen Individuen, sowie das Über- wiegen solcher Individuen zur Folge, welche durch Selbstbeherr- schung und Mitgefühl ausgezeichnet waren. 10. Durch die Erscheinungen der natürlichen Auslese lässt sich die verringerte Neigung zur Trunksucht bei den Kulturrassen er- klären, indem die dem Trunke am meisten ergebenen Familien aussterben. Durch die natürliche Auslese lässt sich ferner die größere körperliche Kräftigkeit der Landbevölkerung im Vergleiche mit den Städtern erklären, indem unter ungünstigen Lebensbe- dingungen vorzugsweise junge Individuen mit schwacher Konstitution zugrunde gehen, endlich aber auch noch viele andere Erschei- nungen des sozialen Lebens. 11. Die künstliche Auslese, deren unbewusste Offenbarungen bereits bei den gesellig lebenden Tieren anzutreffen sind, wurde von dem Menschen anfänglich auf die ihn umgebende Tierwelt angewendet und führte zur Entstehung von Haustieren; nebenbei machte sie sich aber auch durch die Beseitigung schwacher und kränklicher Kinder, durch gewisse Formen der Sklavenhalterei und in der Beseitigung antisozialer verbrecherischer Elemente aus der Gesellschaft geltend. 12. Die Zn der Sensibilität und des Mitgefühls infolge der natürlichen Auslese (siehe Satz 9) und in Abhängigkeit von anderen, die Entwickelung des kulturellen Lebens begleitenden Faktoren verleiht der künstlichen Auslese andere Ziele und andere Formen. Die Erhöhung des Mitgefühls und der Sensibilität hat das Be- streben zur Verminderung fremder Leiden zur Folge und dies führt zur Entwickelung der Philanthropie, zur Einmischung des Staates zugunsten der ärmsten Bevölkerungsklassen, zur Fürsorge um die aussterbenden unkultivierten Rassen seitens der mehr kulti- vierten Rassen, sowie zu anderen Erscheinungen ähnlicher Art. 13. Ein mais Verhalten den A der Auslese gegen- über kann die Idee von der geschlechtlichen Auslese bei Ehen, durch Beseitigung sch ehe Individuen mit der Zeit zu der xXXVl. 8 114 Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. Stufe einer moralischen Pflicht erheben; in diesem Faktor, wie auch in einigen anderen, wird der Menschheit ein Mittel gegen die Entartung und Verschlechterung der Rasse geboten, wie sie bis- weilen durch humane Unterstützung der Schwächeren hervorge- rufen wird. 14. Der Idee der künstlichen Auslese muss sich unausbleiblich auf die internationalen Beziehungen ausbreiten und die kriegerischen Tendenzen in diesem Gebiet müssen friedlichen Tendenzen Platz machen, wie dies ın den internen Beziehungen ım Bereiche der einzelnen ethnographischen und politischen Einheiten bereits so deutlich zutage getreten ist. 15. Das Endresultat der Tätigkeit der künstlichen Auslese wird das gleiche sein, zu welchem auch die natürliche Auslese ge- führt hätte, d. h. die Entstehung solcher Rassen, welche für das kulturelle Leben am meisten angepasst sind; allein dieses Resultat, bei der natürlichen Auslese durch zahllose Leiden und das Opfer vieler Leben erkauft, wırd von der künstlichen Auslese mit einer geringeren Menge von Leiden und ohne Opfer an Leben erreicht werden. 16. Die natürliche Auslese ist der Ausdruck des Kampfprinzips, dıe künstliche Auslese — derjenige des Kooperationsprinzips. Das Prinzip der Kooperation findet im Tierreiche (Symbiose und einige andere Erscheinungen) nur eine äußerst beschränkte Anwendung. Es ıst dies ein Bündnis zum Zwecke der Verteidigung oder des Angriffes. In der menschlichen Gesellschaft muss das Prinzip der Kooperation, sobald es einmal zur Anwendung gekommen ist, ın der Zukunft unvermeidlich eine ungeheure Bedeutung erlangen und zu einem Bündnis der gesamten Menschheit im Kampfe gegen die Natur führen. 17. Die Erziehung und die Kultur üben nur auf diejenige Generation einen direkten Einfluss aus, welche diesen Faktoren unterworfen ist; es gibt aber auch einen indirekten Einfluss der Erziehung und der Kultur. Die Nachkommen imtelligenter Eltern sind, wenigstens anfangs, besser zu geistiger Arbeit befähigt, als die Nachkommen nicht in- telligenter Eltern; eine der Ursachen dieser Erscheinung ist in dem Umstand zu suchen, dass die Nachkommen der ersteren wäh- rend des fötalen Lebens und noch als Genitalzellen der Einwirkung des Toxins der Nervenermüdung unterworfen sind. Diese Intoxikation hat die Fähigkeit ein Antitoxin hervorzu- bringen, zur Folge und es ist wohl möglich, dass die Bedingungen eines kulturellen Lebens auch noch die Bildung einer ganzen Reihe von anderen Toxinen und ebenso eine entsprechende schützende Intoxikation der Genitalzellen hervorrufen. So kann z. B. die Verfeinerung des Nervensystems und die Erhöhung der Sensibilität Schimkewitsch, Die Mutationslehre und die Zukunft der Menschheit. 145 bei Kulturrassen vielleicht nicht ausschließlich durch die natürliche Auslese, sondern auch noch durch die Entwickelung der in diesem Sinne auf das Nervensystem wirkenden Toxine bedingt sein. Druckfehlerberichtigung. S. 35 Z. 4 von oben: spezifischer nicht gesperrt. 38,0 12 ;, ” Flexuationen statt Flexuation. „38 „ 10 ,„ unten: Entstehung von Arten statt Entstehung der Arten. »„ 39 „ 10 ,„ oben: gegebenen statt geplanten. 307,7 2178 ,; F allein seit statt allein als. a A Vertretern statt Vortretern. 20): 220), e gewonnen werden können statt gewonnen wurden. »» 39 „ 21 von unten: verbundene statt verbundener. BDO ld: 0, e gehört folgende Anmerkung: 1) Ich führe hier ein Beispiel aus dem gleichen Gebiete — der Systematik der Pantopoden — an. Carpenter und ich hielten drei Arten der Gattung Phoxichilus, und zwar Ph. spinosus Montagu, Ph. laevis Grube und Ph. vul- garis Dohrn, für selbständige Arten. Lars dagegen hält dieselben für identisch. Ich verfüge gegenwärtig über Exemplare aus dem Nördlichen Eismeer, dem Kanal, dem Golf von Neapel und dem Schwarzen Meer, und komme auf Grund von Ver- gleichung derselben miteinander zu dem Schlusse, dass diese Arten nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das auffallende Merkmal von Ph. spinosus — die Menge von Stacheln — ist bei den Exemplaren aus Roscoff schon weniger scharf aus- gesprochen, noch schwächer bei denjenigen aus Neapel, während die Form des Schwarzen: Meeres ganz wenig Stacheln besitzt. Auch die übrigen Merkmale sind nicht beständig. S. 39 Z. 11 von unten: größeren statt großen. BER39. 5. Cl r Knipowitsch statt N. M. Knipowitsch. 30. An... 5 mixtum statt nixtum, Kröyer statt Kröger. 39. 3°, = miztum statt mixtum. „ 40 „ 9 „ oben: logischerweise zulässig statt logisch. „ 40 „ 14 ,„ unten: subfossilem statt subfossilen. 3 er Endformen nicht gesperrt. 2. A ” drei Voraussetzungen statt die Voraussetzungen, „ 41 „ 15 ,„ oben: Aufeinanderfolge nicht gesperrt. le. 310 15, \ hier eine statt für eine. A 3 spricht eher für ein statt spricht für ein. AD A; a Eigenmann statt Eigennamen. BRAD 012, ;, = Cyclostomen statt Rundmäuler. BD 1A. . Cymonomus statt Gymonomus. „ 42, 3 „ unten: selbe Frage in Abhängigkeit statt selbe Abhängigkeit. „ 43, 5 „ oben: wohlausgebildeten statt wohlgebildeten. 3 19..;,; R anomaler statt anormaler. MAR, 28: ;, H Pharynxpaaren statt Pharynxhaaren. a ee 55 Fissiparität statt Finiparität. mA .:12 r der erste Schritt zum Übergang statt der Übergang. „ 44 „ 10, 8 u. 4 von unten: Hirudineen statt Blutegel. „ 45 „ 10, 26 u. 34 von oben: Kallima statt Kallina. „ 46 „ 12 von oben: die Vermutung aus, dass statt die Vermutung, dass. BAG. ;; “ Depigmentation statt Pigmentation. 116 Kusnezov, Die Bedeutung der Färbung der Hinterflügel der Catocala-Arten. Zur Frage über die Bedeutung der Färbung der Hinterflügel der Catocala-Arten. Von N. J. Kusnezov, Kustos am Zoologischen Museum der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg. Auf Seite 514—520 des XXIV. Bandes des Biologischen Central- blattes 1904 ıst ein Artikel von Herrn Schaposchnikow er- schienen, wo der Autor eine „neue Erklärung der roten Färbung im Hinterflügel bei Catocala Schr.“ zu geben bemüht ist. Dieser Ar- tikel hat in gewissen Kreisen ein zweifelloses Interesse erweckt, da in kurzer Zeit eine wörtliche Übersetzung von Herrn Austen (Ann. and Mag. of Nat. Hist. (7), XVI, 94, 1905, p. 445-452), ferner ein Referat von Herrn Laloy (Le Naturaliste (2), XXVI, 1904, p. 265) und endlich eine eingehende Kritik von Herrn Dr. Chr. Schröder (Biol. Centralbl., XXV, 1905, p. 51—63) erschienen sind. Mir ist dieser Artikel leider nur zu spät zu Gesicht gekommen, aber auch jetzt, sogar nach der Publikation der Schröder’schen Kritik, halte ich es nicht für überflüssig, auf das Fehlen jeder Neuheit ın den theoretischen Ergebnissen des Autors und auf die mangelhafte Begründung der letzteren hinzuweisen, sowie auch die Bedeutungslosigkeit oder unrichtige Beleuchtung der angeführten Tat- sachen, die hier und da auf einer unvollständigen Kenntnis der Biologie und sogar des Bestandes dieser Gattung basieren, darzu- legen, wobei ich die Erwägungen Schröder’s, die den Sachverhalt genügend aufklären, nach Möglichkeit nicht wiederholen will, sondern nur seine Kritik zu ergänzen bestrebt sein werde. In dem Titel der Arbeit schreibt der Autor, dass der von ıhm gegebene Erklärungsversuch der roten Hinterflügelfärbung bei Catocala in der Literatur neu sei; aus der weiteren Darstellung ergibt es sich aber ganz klar, dass diese Erklärung auf das Prinzip der Kontrastfärbung zwischen Vorder- und Hinterflügeln zurück- zuführen ist. Das Kontrastprinzip ist aber schon vor 15 Jahren vollkommen bestimmt ausgesprochen worden, ja sogar auch in be- treff der Catocola-Arten. Lord Walsingham hat nämlich in seiner „President’s address“ an die Londoner entomologische Gesellschaft ım Jahre 1890 das Prinzip der Kontrastfärbung, als einer Erscheinung, die ablenkend auf den Verfolger des Insekts wirkt, klar und genau entwickelt und durch Beispiele erläutert. Ich will diese Stelle seiner Rede wörtlich anführen, da ich dieses in Anbetracht der, wie es leider scheint, geringen Verbreitung der Walsingham’schen Hypothese nicht für überflüssig halte. Auf Seite L—-LII!) schreibt dieser Autor folgendes: „With regard to the uses of colour in insects for 1) Walsingham, Lord. The President’s adress. Proc ent. Soc. London, 1890, p. XLVIII—-LX; reprinted in: Psyche, VI, 180, p. 67. Kusnezov, Die Bedeutung der Färbung der Hinterflügel der Catocala-Arten. 117 protective, aggressive, or attractive purposes, so much has heen said and written that it seems difficult to add any new suggestion; but there is one point to which only a slight allusion is made ın Mr. Poulton’s book, and which I do not remember to have seen insisted upon elsewhere, — viz. the value of bright colours, tem- porarily displayed, as a means of inereasing the degree of seeurity derived from protective tints. My attention was lately drawn to a passage in Herbert Spencer’s „Essay on the Morals of Trade“. He writes: — „As when tasting different foods or wines the palate is disabled by something strongly flavoured from appreciating the more delicate flavour of another thing afterwards taken, so with the other organs of sense, a temporary disability follows an excessive stimulation. This holds not only with the eyes in judging of colours, but also with the fingers in judging of textures.“ — Here, I think, we have en explanation of the principle on which pro- teetion is undoubtedly afforded to certain insects by the posession of bright colouring on such parts of their wings or bodies as can be instantly covered and concealed at will. It is an undoubted fact, and one which must have been observed by nearly all colleetors of insects abroad, and perhaps also in our own country, that it is more easy to follow with the eye the rapid movements of a more conspieuous inseet soberly and uniformly coloured than those of an insect capable of changing in an instant the appearance it pre- sents. The eye, having once fixed itself upon an object of a certain form and colour, conveys to the mind a corresponding impression, and if that impression is suddenly found to he unreliable the in- struction which the mind conveys to the eye becomes also unreliable, and the rapidity with which the impression and consequent instruction can be changed will not always compete successfully with the rapid transformation effected by the inseet in its efforts to escape. I would take as a simple illustration the case of certain species of large grasshoppers (Oedipoda miniatum, Pallas, and coerulescens, L.), familiar to all who have traversed the stony slopes ofa Swiss mountain. These insects have bright red or blue hind wings, which are dis- played only in flight, and when at rest are folded up and completely concealed under the fore wings. The fore wings themselves are essentially protective in their coloration, absolutely ressembling the grey stones amongst which’ they rest. When the inseet is disturbed, it takes a short and rapid flight, remaining on the wing just long enough to attract the eye to its conspicuous colour, and alights suddenly and abruptly, usually at an angle from its direet line of flight, and is immediately concealed by its proteetive ressemblance to the surroundings. The very sudden loss of the conspicuous guiding colour of the hind wings so completely deceives the eye that there is much more diffieulty in marking the spot on 118 Kusnezov, Die Bedeutung der Färbung der Hinterflügel der Catocala-Arten. which the insect alights than there would be if such colour had never be displayed. In California 1 noticed a very similar instance in one of the Arctiadae (or Catocalidae), which had precisely similar habits. It frequented the dry stones in the bed of a river left by the shrinking of the water to its summer limits. It had orange hind wings with black bars or mottlings, which were very con- spieuous during its short flights, but on alighting it became almost absolutely invisible; the fore wings being coloured exactly as the stones among which it dropped, and from which it was not easily disturbed. — In our own country we have conspicuous instances inthe genera Cntocala, Triphaena, Heliodes, and others. Who has not noticed the deceiptive effect of the bright yellow under wings dis- played in the short flights of Tröphaena pronuba, and the- extreme diffieulty of following its movements at the moment when these are no longer visible, as it darts down among the grass-roots, where it is often extremely diffieult to deteet or to dislodge? If this protective effect of the partial and intermittent display of brilliant colouring is so obvious in relation to the human eye, must it not be at least equally so in relation to the eyes of its more natural enemies, such as birds, and have we not here indieated a new and distinet line of investigation as regard the use and advantage of brilliant eolours in many cases which cannot be accounted for by the theory that they are developed for the purpose of warning, or through their aestetic relation to courtship? Mr. Poulton has attempted to account for some of these appearances by the idea that birds in pursuit of inseets would strike with their beaks at the most conspieuous part, and that the body or more vital part would be thus protected at the expense of a few chips out of the hind wings; but in some instances, especially in exotie Arctiadae, the body itself is the more conspieuous and ornamented part ot the insect. For such cases this theory, however partially true it may be, would fail to account; moreover, it can scarcely be denied that the insect, if less eonspieuous in its flight, would be less likely to attract the attention of-the bird, and therefore less liable to attack.“ Dieser Hypothese Lord Walsingham’s schloss sich auch Hudson im Jahre 1898 vollkommen an; in der Einleitung zu seiner Arbeit „New Zealand Moths and Butterflies“ schreibt er auf S.XV !): „Contrast eolours. — In this class of colouring the fore wings only are proteetively coloured, the hind wings being very conspi- cuous. Contrast-colouring is well exemplified by several of the insects included in the genus Notoreas. The sudden exhibition of 1) Hudson, G. V. New Zealand Moths and Butterflies (Macrolepidoptera). London, 1598, in 4". Kusnezov, Die Bedeutung der Färbung der Hinterflügel der Catocala-Arten. 119 the hind wings during flight dazzles the eye of the pursuer. When the insect immediately afterwards closes its wings, and the fore wings alone are visible, it is extremely diffucult to see. This form of protective colouring was also first drawn attention to by Lord Walsingham.“ Nach diesen Hinweisen auf die Literatur der Hypothese der Kontrastfärbung fällt folglich die irrtümliche Behauptung Scha- poschnikow’s, dass vor dem Erscheinen seiner Arbeit alle Ver- suche die Bedeutung der grellen Flügelfärbung bei den Cntocala- Arten zu erklären, nur durch zwei Anschauungen vertreten seien, nach welchen die Färbung entweder als eine den Feind abschreckende, oder als eine die Aufmerksamkeit des Verfolgers auf einen für das Leben des Insekts unwesentlichen Teil des Körpers anlockende an- gesehen wird. Der Autor bestreitet ferner die Anwendbarkeit dieser beiden Erklärungsweisen im gegebenen Falle und sucht seine Meinung durch verschiedene Erwägungen zu stützen. Obgleich ich mich ın dieser Beziehung der Ansicht des Autors vollkommen anschließe und beide erwähnte Theorien für vollkommen unbrauchbar halte, die Färbung, wenigstens hinsichtlich der Catocala, zu erklären, finde ich jedoch, dass die Beweisführung des Autors ın vielen Fällen un- richtig ist und auf fehlerhaften Verallgemeinerungen basiert. So z B. sagt der Autor, dass der Versuch, die rote Färbung der Catocala-Formen als eine dem Feinde drohende darzustellen, vor allem in der Beobachtung auf ein Hindernis stößt, dass diese Falter schon ihre Ruheplätze verlassen, wenn der Feind noch in weiter Entfernung ist. Unter der Bezeichnung „Feind“ versteht der Autor wohl nur den Menschen, da es schwerlich jemandem gelungen ist, die Jagd anderer Feinde auf diese Schmetterlinge zu beobachten. Abgesehen nun von der Einseitigkeit der Behauptung des Autors hinsichtlich der Feinde der Catocala, entspricht seine Beobachtung bei weitem nicht der Wirklichkeit; sitzende Catocala lassen bei einiger Vorsicht den Beobachter ruhig herankommen (meine Beobachtungen über (! dilecta Hübn., nupta Linn., elocata Esp.; einige Arten sind sogar in keinem Falle scheu zu nennen, 2. B. C. pacta Linn. und concumbens W alk.). Auf diese Eigenschaft, verhältnismäßig ruhig zu sitzen, weist auch ferner der Umstand yin, dass mehrere europäische und amerikanische entomologische Praktiker die an Stämmen sitzenden Crtocala-Arten nicht mit dem Netze, sondern mit dem Glase zu fangen raten. Wie sich aber diese Schmetterlinge bei Annäherung ihrer natürlichen Feinde, der Vögel, Eidechsen etc. verhalten, darüber fehlt uns leider jeglicher Hinweis!). 1) Wie trügerisch aber überhaupt solche Schlüsse auf Grund von zufälligen Exkursionsbeobachtungen sind, zeigt, z. B. der Hinweis Caradja’s auf die Veränder- 420 Kusnezov, Die Bedeutung der Färbung der Hinterflügel der Catocala-Arten. Eine Zeile weiter sagt der Autor, dass diese Erklärungsweise außerdem dem Umstand widerspricht, dass die grelle Färbung der Catocala nur während des schnellen Fluges sichtbar wird; auf diese Behauptung kann ich zu mindestens erwidern, dass aufgescheuchte C. promissa Esp., dilecta Hübn., sponsa Linn. ete. meist auf einen anderen Baum herüberfliegen und dort fast immer noch ein Zeit- lang sitzend oder am Stamme hin- und herlaufend die Hinterflügel ausgebreitet halten, wobei die rote Farbe äußerst scharf hervor- sticht, — sich jedoch in keinem Falle sofort ruhig niederlassen und mit der Umgebung verfließen. Weiter weist der Autor auf die Haltlosigkeit der Hypothese hin, nach welcher die grelle Farbe die Aufinerksamkeit des Ver- folgers auf einen weniger wichtigen Körperteil ablenken soll; hier- gegen ließe sich nichts erwidern; man könnte allenfalls nur einige kleine Fehler notieren: so z. B. sagt der Autor auf S. 516, dass die bei der Autotomie abgeworfenen Körperteile überhaupt immer regeneriert werden, was natürlich ein Irrtum ist. Indem der Autor hiernach auf die Formulierung seiner Hypo- these der Kontrastfärbung der Vorder- und Hinterflügel übergeht, entwirft er ein Bild des Catocala-Fluges und der Umgebung des Schmetterlings, wobei aber die ganze Beschreibung einen aus- gesprochen anthropomorphen Charakter trägt und von rein menschlich- subjektiven Erwägungen spricht (z. B. die Beschreibung der „Seiten- sprünge“ des Schmetterlings und der „besonderen Anstrengung des Sehapparates“ des Feindes (eines Vogels), der einen grellen Gegen- stand, das fliegende Ordensband, fixiert; u. Ss. w.); allerlei solche Bilder, Erwägungen und Schlussfolgerungen über die Zweckmäßig- keit der Bewegung des Schmetterlings tauchen doch nur in der Seele der sammelnden Entomologen auf, der aber seine eigenen Augen und seine eigene Geschicklichkeit u. s. w. besitzt, weshalb die Übertragung der Begriffe unserer menschlichen Psyche auf die uns vollständig unbekannte Psyche der Tiere keineswegs statthaft ist (das Ordensband fliegt gewandt, aber vielleicht nur ım Vergleich mit der menschlichen Ungeschicklichkeit; der Flug ist schwer zu lichkeit der Eigenschaften von €. dilecta Hübn. in Abhängigkeit von Witterungs- verhältnissen (Caradja, A. Beitrag zur Kenntnis der Großschmetterlinge des „Departement de la Haute Garonne.“ Deutsch. Entomol. Zeitschr. Iris IV, 1893, p. 225). Dieser Autor schreibt: ©. dilecta „sitzt am Tage hoch oben am Stamme der Eichen. Wenn aber einmal das Thermometer 32—36" ©. anzeigt, schwüle Hitze herrscht und das Barometer dabei tief steht, so lässt sich das Tier herab und ruht nur ganz unten am Stamme. Der sonst scheue Schmetterling lässt sich dann leicht fangen, ja sogar unmittelbar spießen, und scheint durch die drückende Hitze ebenso erschlafft zu sein, wie der Entomologe, der ihn aufsucht.“ — Zu dieser Beobachtung Caradja’s fügt der Redakteur (Staudinger) hinzu, dass er im August 1854 auf der Insel Sardinien ein vollkommen analoges Verhalten bei C. dileeta in Abhängig- keit von Temperatur und Witterung beobachtet habe. Lei Kusnezov, Die Bedeutung der Färbung der Hinterflügel der Catocala-Arten. 121 verfolgen, aber diese Schwierigkeit existiert vielleicht nur für den beobachtenden Entomologen mit dem Sehvermögen eines Stadt- bewohners, u. s. w.). Außer diesen weitgehenden und jedenfalls unzulässigen anthro- pomorphen Erklärungen finden sich aber an dieser Stelle der Arbeit noch wirkliche Fehler: erstens ist hier (Seite 517) die Schreck- haftigkeit, der Catocala übertrieben, und zweitens ist die Schnellig- keit, mit der der Schmetterling nach der Flucht seine Hinterflügel verdeckt (aus dem Gesichtskreise „verschwindet“*) gleichfalls über- trieben, wie das schon oben erwähnt ist. Zu dieser Art von Fehlern gehört auch der Satz des Autors (Seite 518), dass „je größer der Schmetterling ist, desto weniger Nutzen er von seiner mimetischen Färbung zu ziehen vermöge“; die Fehlerhaftigkeit seiner Ansicht ist in diesem Falle für jeden Entomologen augen- scheinlich: man braucht sich nur der vollendeten Schutzfärbung der großen Callima, mehreren Sphingiden, endlich der kolossalen Thysania und vieler anderen zu erinnern. Infolgedessen ıst auch der Rückschluss aus diesem Satze falsch, dass „die größten Catocala- Arten auch die grellste Färbung zeigen“ und dass „diese rote Färbung wiederum besonders an den robustesten Vertretern ihrer Gattung zur Beobachtung kommen muss“, während in Wirklich- keit das Entgegengesetzte zutage tritt: einerseits sind. gerade die größten Vertreter der (utocala-Gruppe (C. fraxini Linn, vidua Sm. et Abb., riduata Guen., lacrymosa Guen., nivea Butl.!), agrippina Streck., relicta Walk,) bei vollkommenen Fehlen der roten Farbe in einförmige schwarze und graue Töne gekleidet (eine Ausnahme bildet €. marmorata Edw.), und, anderseits, stehen, was Flügellänge und Dimensionen des Thorax anbelangt, die roten Vertreter der Gattung den eben angeführten beträchtlich nach; ım Gegensatz dazu existieren nun nicht wenig kleine (atocala-Formen, deren Flügel ein grelles Rot schmückt (siehe unten). Endlich dürften die weiteren Erwägungen des Autors, dass „ferner die schwarz und weiß gebänderte Unterseite der Vorder- und Hinterflügel unseres Schmetterlings, welche die leichte Wahr- nehmbarkeit desselben sowohl in hellen als in dunklen Zwischen- 1) In betreff der großen ©. nivea Butl. ist unter anderem die folgende Be- obachtung Leech’s von Interesse (Leech, J.H. On the Lepidoptera from Japan and Corea. lart. III. Heterocera, Sect.. II. Noctues and Deltoides. Proc. Zool. Soc. London, 1889, p. 548): „this insect is a conspicuous object as it restson trunks of Oryptomeria, whereas its colour and ornamentation would render it almost unnoticed, if it rested on the young oaks which are common in the localities where it oceurs.“ Diese Beobachtung scheint darauf hinzuweisen, dass Ü. nivea nicht immer von ihrer Schutzfärbung Nutzen zu ziehen vermag. Eine ähnliche Be- obachtung habe ich wiederholt an €. elocata Esp. in der Krim gemacht, wo dieser Schmetterling häufig am Tage an weißen Wänden oder hellen Kalkfelsen sitzend getroffen werden kann, wobei er sich scharf von dem lichten Grunde abhebt. 122 Kusnezov, Die Bedeutung der Färbung der Hinterflügel der Catocala-Arten. räumen des Waldes bewirken, als Kontrastfarben der hellen und dunklen Waldstreifen erscheinen“, als vollständig unbegründet be- zeichnet werden. Warum meint der Autor, dass die Färbung der Unterseite der Catocala-Flügel mit dem Fond des Waldes an einem Sommertage kontrastiert? Gerade umgekehrt, wenn man schon in jedem Fall den Begriff von irgend einer Zweckmäßigkeit hier ein- führen will, so dürfte man schon eher zugeben, dass das Flimmern der hervorstechenden Streifen eines fliegenden Ordensbandes in der Perspektive eines Laubwaldes an einem Sommertage unbedingt in dem Spiel von Licht und Schatten verfließen muss. Der Hinweis endlich auf eine „Ergänzung“ der roten Farbe der Catocala-Hinter- flügels zu dem Grün des Waldfonds ist sogar theoretisch gänzlich unzulässig. Die nun folgende Erörterung über den Zusammenhang zwischen dem biologischen Lebensort der roten Ckwiocala-Arten und ihrer geographischen Verbreitung erscheint äußerst gezwungen. Der Autor behauptet z. B., dass „das Vorherrschen roter Arten in der nördlichen Hälfte Europas, wo sich unter sämtlichen Catocala- Arten nur zwei nicht rote finden, besonders charakteristisch ist“; allein eine einfache Übersicht des Katalogs von Staudinger und Rebel 1901 zeigt uns, dass von den 20 paläarktischen Catocala- Arten mit deutlicher roter Färbung der Hinterflügel, mehr als 15 auf die südlichen Länder fallen, 7 auf Mittel- und nur 5 auf Nord-Europa kommen; auf Nord-Amerika verteilen sich die Catocala- Arten (Dyar’s Katalog 1902) hinsichtlich der Größe und Farbe der Hinterflügel gleichfalls ohne jegliche Abhängigkeit von der Breite des Ortes oder dem Typus der Wälder (eher hinge die Verbreitung dann schon von der geographischen Länge ab, da z. B. die schwarzen Formen in den westlichen Staaten fehlen). Die Charakteristik der Wälder, die im nördlichen Europa weniger dicht sein und eine größere Perspektive haben sollen, als im Süden, was nach der Meinung des Autors den Ordensbändern gestattet, sowohl von ihrer Geschicklichkeit als auch von ihrer Färbung Nutzen zu ziehen — ist absolut willkürlich und bei weitem nicht zutreffend. Die Erörterungen über die Feinde der Ordensbänder (Seite 519) sind bloße Voraussetzung und entbehren einer faktischen Stütze. Die einzige dem Tatbestand entsprechende Bemerkung ist der allbekannte Hinweis auf die Fledermäuse, als die Haupt- vertilger unserer Schmetterlinge; auf die übrigen Mängel der Beweisführung in diesem Abschnitt der Arbeit weist schon Schröder (l. ec.) hin. Auf Grund solcher willkürlicher Voraussetzungen hält es der Autor für möglich sogar zu verstehen, warum die roten Catocala- Arten in den paläarktischen und nearktischen Gebieten verbreitet sind und z. B. in den tropischen Ländern „von älterem Charakter* Kusnezov, Die Bedeutung der Färbung der Hinterflügel der Catocala-Arten. 123 fehlen. Dieser Erklärungsversuch wird aber durch keinerlei An- gaben mehr bekräftigt und dokumentiert. Indem der Autor in den Schlusszeilen die Sprache auf die relative Größe der roten und gelben Arten bringt, verfällt er in den Irrtum, dass die gelben Arten bei weitem nicht die Größe der roten erreichen; man braucht sich aber nur der großen (. sub- nata Grote, piatrix Grote, palaeogama Guen., neogama Sm. et Abb., cerogama Guen., nebulosa Edw. u. a. zu erinnern, um sich von der Fehlerhaftigkeit auch dieser Behauptung zu überzeugen; umgekehrt sind nun viele von den roten Arten, z. B. ©. lupina Herr.-Schäff., desiderata Staud., optima Staud., repudiata Staud., verriliana Grote u. a. nicht größer als die meisten gelben Ordens- bänder. Zu guter Letzt führt der Autor als die für die aufgestellten Behauptungen charakteristische Art (©. elocata Esp. an, irrt sich aber hierbei in zwei Richtungen: vor allem schmückt die Hinter- flügel dieses Schmetterlings nicht das typische reine Rot, wie bei 0. sponsa Linn. delecta Hübn., promissa Esp. u. a., sondern die Farbe erinnert an ein sattes Lachsfarben; zweitens aber ist die Lebens- weise dieses Schmettenlings keineswegs eine solche, wie sie Herr Schaposchnikow überhaupt in seiner Arbeit schildert, da man 0. elocata gerade als den charakteristischen Vertreter des Südens und vor allem des südöstlichen Europas und Vorderasiens bezeichnen kann, also für Gebiete, deren Wälder keineswegs einen mittel- europäischen Typus haben. Somit finden sich in der Arbeit des Herrn Schaposchnikow keinerlei neue Tatsachen oder Beobachtungen, während das All- bekannte nur zu sehr verallgemeinert und tendenziös übertrieben ist. Das neue Erklärungsprinzip eines Kontrastes des Eindrucks als Folge des Farbenkontrastes ist gleichfalls nicht neu. Die Tat- sache aber, dass die Ordensbänder, bei verhältnissmäßig einförmiger Lebensweise, auf den Hinterflügeln Pigmente von gänzlich ver- schiedenem Charakter tragen, bleibt uns nach wie vor ein Rätsel. Die Methode, mit Hilfe deren Herr Schaposchnik ow diese kom- plizierten und tiefen Fragen der Biologie zu lösen gedenkt, ist doch etwas zu einfach und subjektiv; die primitiven Beobachtungen eines Exkursanten sind dazu nicht genügend, und die Hinweise auf die Psychologie der Vögel und Schmetterlinge jedenfalls unzulässig. Auch der alleraufrichtigste Wunsch, mit so einfachen Beohachtungs- mitteln so verwickelte Fragen in der Stille des Arbeitszimmers durch Spekulationen zu entscheiden, führt leider nur zu oft zur Fabrikation von Tatsachen. Wenn nun in der Tat auf diese „vorläufige Mitteilung“ eine eingehendere Arbeit über diese Frage folgen soll, müsste der Autor wohl seine Anschauungen von Grund auf umarbeiten und sich zunächst 124 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. mit der Literatur der Frage und dem eigentlichen Objekt, dem Genus Catocala, dessen Studium er augenscheinlich noch nicht recht begonnen hat, näher bekannt machen. Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. Von Hermann Jordan, Privatdozent für Zoologie an der Universität Zürich. Zwei Gründe veranlassen mich dazu, eine kurze, aber mög- lichst zusammenhängende Übersicht über die Ergebnisse meiner Untersuchungen an Schnecken!) zu geben: Einmal musste ich wünschen, denjenigen Lesern, die sich nicht eingehend mit der Frage beschäftigen wollen, alles dasjenige, was allgemeimeres Interesse nicht zu entbehren schien, von dem Ballast des Beweises entkleidet, anzubieten. Ferner aber wurden die ın Frage kommen- den Publikationen in rein „physiologischen“ Zeitschriften veröffent- licht. Da nun aber die Zoologen, ın deren Gebiet nach meiner Überzeugung diese Untersuchungen fallen, bislang in unerklärlicher Weise den physiologischen Teil ihres Faches ignorieren, ent- sprechende Zeitschriften aber unberücksichtigt lassen, so war es mein Wunsch, diese Zusammenfassung ın einem allgemein biologi- schen Publikationsorgane der Öffentlichkeit zu übergeben. Auf Grund des Gesagten wird man ın den folgenden Zeilen an be- weisenden Zahlen und Argumenten nur eben das hochnotwendigste erwarten und nicht vergessen, dass Beweise für die Behauptungen, Berücksichtigung anderer Ansichten, soweit Hypothesen in Betracht kommen, in den zitierten Publikationen (besonders den beiden letzten) zu finden sind. — Die Fähigkeit, Reize von außen zu empfangen, die durch sie bedingten Veränderungen nach bestimmten Stellen des Orga- nısmus hinzuleiten, an denen hierdurch wiederum Formverände- rungen verursacht werden, diese Fähigkeit scheint bei den Protozoen „Grundfunktion des Protoplasma“ zu sein. Gleich allen diesen „Grundfunktionen“ verteilt sich auch diese im Laufe der phylogenetischen Entwickelung auf verschiedene Elemente (Arbeitsteilung) und es tritt — eine bekannte Übergangsform über- gehen wir — schon sehr früh folgendes Organsystem als Träger der ın Frage stehenden Funktion auf: Rezeptoren („Sinnes- zellen“) sind darauf eingerichtet, durch Intensitätsdifferenzen der 1) H. Jordan, 1901. Die Physiologie der Lokomotion bei Aplysia limacina. Zeitschr. Biol. Bd. 41, p. 196—238. — 1905. Untersuchungen zur Physiologie des Nervensystems bei Pulmonaten. Pflüger’s Archiv, I. Bd. 106, p. 159—228, II. Bd. 110, p. 533—597. = Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. 125 auf sie wirkenden äußeren Energien derartig verändert zu werden, dass sie eine uns unbekannte Energieform in das leitende System hinein zu entsenden befähigt werden. Dieses leitende System besteht aus sogenannten Nerven- netzen, die ihrerseits aus Nervenfasern mit eingestreuten Nerven- zellen zusammengesetzt sind. Diese Gebilde vermögen die, ihnen von den Rezeptoren zukommende Energie nach allen Seiten hin (also nicht auf bestimmter Bahn) zu leiten, dergestalt aber, dass die Leitung langsam und mit beträchtlichem Verlust an der be- treffenden Energie selbst, vor sich geht: Je größer die Entfernung vom Rezeptor, desto geringer wird die Wirkung des Reizes sein. Die Effektoren sind, neben Drüsenzellen, glatte Muskeln. Die Leistungen dieses elementaren Systems hat vornehmlich Bethet) eingehend bei den Medusen untersucht, bei Tieren also, deren animale Organisation sich im wesentlichen auf jenes Nerven- muskelsystem beschränkt. Wir wollen der Kürze halber ein solches System: „System I. Ordnung“ nennen. Diese Leistungen nun haben sich alle auf mehr oder weniger komplizierte Leitungsvorgänge in den Nervennetzen zurückführen lassen: 1. Die Medusen sind einfacher Reflexe fähig; berührt man nämlich den Schirmrand solch einen Tieres, so schlägt sein Manu- brium dem Reizorte zu. Diese scheinbar so „zielstrebig* zweck- mäßige Reaktion erklärt sich ungezwungen aus den oben bereits angeführten Figenschaften der Nervennetze. Denn diejenigen Teile der Manubriummuskulatur werden ja von dem Reize am stärksten getroffen, die der Reizstelle zugekehrt sind, zu denen also relativ die kürzeste Leitungsstrecke führt. Diese Annahme hat sich experi- mentell beweisen lassen. Die gleiche Erscheinung der Erregungsübertragung tritt uns noch in zwei Modifikationen entgegen: 2. Die schwache, aber dauernd von den Hauptsinnesorganen (Randkörpern) ausgehende Erregung vermag keine eimheitliche Kontraktion der Muskeln zu bedingen, sondern ruft auf Grund einer Reihe von Eigenschaften, vornehmlich der Nervennetze, jene rhyth- mischen Kontraktionen hervor, durch welche die Medusen sich ım Wasser fortbewegen. 3. Die durch Erregung einmal verursachte Kontraktion weicht zwar, nach Erlöschen jener Ursache, neuerlicher Erschlaffung; doch ist diese letztere — besonders bei bestimmten Muskelarten — keine absolute. Ein gewisser Verkürzungsgrad wird dauernd beibehalten, -ein Zustand, den Joh. Müller bekanntlich Tonus genannt hat. Mit dieser dreifachen Folge einfacher Erregungsleitung in den 1) Albrecht Bethe. Allgemeine Anatomie und Physiologie des Nerven- systems. Leipzig, Georg Thieme, 1902. 426 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. Nervennetzen erscheint uns also ein solches System 1. Ordnung als. ein Individuum mit durchaus abgerundeten Eigenschaften, mit denen es sich den äußeren Bedingungen seines Daseins anzupassen vermag. Im Laufe der phylogenetischen Entwickelung entstehen aus diesem System I. Ordnung, Systeme höherer Ordnung dadurch, dass jenes mit sogen. Zentralganglien in Verbindung tritt. Dieses Stadium wird repräsentiert durch einige niedere Würmer, Ascidien u. a.m., es findet aber diese Einrichtung ihre höchste Ausbildung bei den Mollusken. Im großen und ganzen stellt der Hautmuskelschlauch unserer Schnecken (der Objekte dieser Untersuchungen also) nichts anderes dar, als ein System I. Ordnung, und seine Eigenschaften sind durch- aus denjenigen der Medusen analog: d. h. sie besitzen die Fähigkeit, elementare Reflexe, lokomotorische Rhythmen und Tonus hervorzu- bringen. Zu diesem Hautmuskelschlauche kommt dann — wie angedeutet ein „Zentralnervensystem“. Dies besteht bekanntlich — soweit es für die eigentlich lokomotorische Muskeltätigkeit in Betracht kommt — aus paarigem „Pedal-* oder Unterschlundganglion, und aus dem Cerebralganglion; auch letzteres ist ursprünglich paarig angelegt. Eigentlich ist es falsch, die Kommunikation dieser Ganglien mit dem Hautmuskelschlauche „Nerven“ zu nennen, handelt es sich doch in Wirklichkeit um intrazentrale Bahnen, denn das Nerven- netz können wir nicht zum peripheren Nervensystem (im Sinne der Wirbeltierphysiologie) rechnen. Gegenstand meiner Untersuchungen sind die nervösen Vor- gänge bei der Lokomotion der Schnecke, Hingegen handelt es sich (vorläufig wenigstens) weniger um eine Analyse der Vorgänge innerhalb des Systems I. Ordnung, als vielmehr um folgende Frage: Wenn das System I. Ordnung, wie wir sahen, aller elementaren Funktionen fähig ist, wozu bedarf es dann noch eines „Zentral- nervensystems“?!) Wir wollen dazu übergehen, diese Frage an den einzelnen Erscheinungen, die das Tier uns bietet, zu beantworten. I. Der Tonus. Der Tonus also ist ein dauernd beibehaltener relativer Ver- kürzungsgrad gewisser Muskeln, bei den Schnecken aber des ge- samten Hautmuskelschlauches. Der hierdurch auf den Inhalt dieses Schlauches (Organe, Blut) ausgeübte Druck bewirkt es, dass die Schnecken, ohne ein eigentliches Skelett zu besitzen, jene bekannte halbfeste Konsistenz aufweisen: Denn der Druck pflanzt sich nach allen Seiten gleichmäßig, also auch auf die Muskeln selbst, fort. 1) Richtiger wäre zu sagen: eines zentralisierten Nervensystems, ein Ausdruck, durch den die Ganglien rein morphologisch von den Netzen geschieden werden. Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. 197 Dergestalt belasten sich diese Muskeln bei zunehmender Verkürzung immer mehr, und entlasten sich bei eintretender Erschlaffung. Der Tonus drückt sich also in der maximalen Belastung aus, die der Muskel bei bestimmter Länge zu tragen vermag, Ben dass beide Größen sich mit dem Tonus, und zwar in entgegen- gesetzter Richtung ändern. Im folgenden mögen die experimentell gefundenen Tatsachen, soweit sie auf die Tonusregulierung von seiten der Ganglien Bezug haben, ın aller Kürze mitgeteilt werden. Die Pedalganglien haben auf den Tonus einen ganz ent- scheidenden Einfluss. Entfernt man sie beim lebenden Tiere, so zeigt dieses dauernd (ev. Monatelang) einen erhöhten Tonus; d.h. aber, das Tier stellt eine fest zusammengeballte runzlige, dabei ee mige Masse dar (Aplysıa). Um diese Erscheinung analysieren zu können, wurde der zu untersuchende Schneckenmuskel mit einer Eichel ceonichiewage (Briefwage) in Verbindung gebracht, also nach dem Prinzip des gegen eine Feder arbeitenden Muskels verfahren. Auf diese Weise konnten die im Innern des Tieres herrschenden Verhältnisse nachgeahmt werden; das heißt es. trıtt bei Kontraktion Mehr- belastung, bei Erschlaffung aber Entlastung ein. Zugleich ist es möglich, Werte unmittelbar von der Wage abzulesen, die den Veränderungen des Muskelzustandes proportional sind. Abso- lute Werte nn den Tonus gewinnen wir mit dieser Vorrichtung nicht. Denn jede nach dern Prinzip, aber mit anderen Dimen- sionen verfertigte Wage, bei der also das Verhältnis zwischen Muskelverkürzung und Lastveränderung ein anderes sein würde, lieferte andere Werte. Aber absolute Werte sind bei diesen „Tonusmuskeln* an sich schon deswegen niemals zu erhalten, weil bei ihnen ein absoluter Nullpunkt (vollständige Erschlaffung) nicht zu erzielen ist, sie weisen stets einen mehr oder weniger zufälligen Verkürzungsgrad auf. Von diesem also hängt das (maßgebende) Verhältnis zwischen Wage und Muskel ab, wozu noch kommt, dass wir dem Muskel, die inneren Verhältnisse nachahmend, eine wiederum nicht gegebene, sondern willkürliche Ausgangsbelastung geben müssen. Was wir erhalten, sind Vergleichswerte, dann nämlich, wenn die zu untersuchenden Muskeln in gleichem Verhältnisse zu je einer Wage stehen, beide Wagen müssen einander genau gleich sein: so also tragen beide Muskeln bei gleicher Länge!) gleiche Last. Die Stellung 1) Dem hieraus sich ergebenden Postulate absolut gleicher Länge der Muskeln kann man, streng genommen, nur genügen, wenn man die Versuche am gleichen Muskel Antellt, ohne seine Lage zur Wage zu ändern. Wo das nicht möglich ist, wählt man „gleich große“ N montiert sie im gleichen Erregungszustande, und eliminiert die Fehler durch häufige Wäederholang. Auf diese Weise haben sich durchaus konstante Verhältnisse (nicht Werte) ergeben. 125 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. des Muskels zur Wage (also den Grad der Belastung) ändert man durch eine Kurbel, die durch einen Faden nebst Haken mit dem, der Wage entgegengesetzten Ende des Tieres in Verbindung steht. Um mit dieser Vorrichtung den Tonus oder dessen Regulierung zu untersuchen, können wir auf zweierlei Weise verfahren: 1. Wir belasten den Muskel derartig, dass er (bei einer be- stimmten Länge) das Gewicht eben zu tragen vermag. Wir lassen gewisse Agentien auf den Muskel wirken und lesen die Gewichts- veränderungen ab, die den Schwankungen des Tonus proportional sind. Oder aber 2. wir überlasten den Muskel: dieser wird sich durch Tonusverlust anzupassen suchen und sich dadurch entlasten. In welchem Grade er dies tut, sei vorab der Gegenstand unserer Untersuchung (an Helix ausgeführt): Bei dieser letzteren Versuchsanordnung lässt sich der oben dargetane Einfluss der Pedalganglien unmittelbar zeigen. Denn der Muskel, der mit seinem Pedalganglion nicht mehr in Verbindung steht, leistet geringerer Überlastung (d—7,5 g) wesentlich mehr Widerstand als der „normale“, auch vermag er (der ganglienlose Muskel) zuletzt, nach stattgefundener Anpassung, ein höheres Ge- wicht zu tragen, als der normale. (Beispiel: der Ganglienlose trägt 3 g als Minimum, während sich der Normale auf 0,5 g „konstant“ einstellt.) Ganz anders greifen die Pedalganglien ein, wenn wir eine hohe Ausgangsbelastung wählen (‚„Hochbelastung“ z. B. 25 9): Wir haben an unseren beiden Wagen je ein „normales“ und ein ganglienloses Tier mit je 25 g belastet. Sofort zeigt uns der Fall des Zeigers an, dass die Muskeln sich dem Gewichte anzupassen suchen; vorab bewirkt das Ganglion auch hier schnelleren Fall, jedoch nur bis zu einer gewissen, je nach Individuum verschiedenen Grenze (die z. B. etwa bei 6g liegt, oft aber schon viel höher). Wäh- rend der, dem Ganglienlosen entsprechende Zeiger in gleichmäßigem langsamen Tempo fällt, reduziert (bei jener Grenze) der andere plötzlich seine Bewegung auf ein Minimum, so dass er von dem ersteren überholt wird. Ja, zuletzt trägt (im Gegensatze zum ersten Versuche) der ‚„normale“ Muskel das höhere Gewicht (e. g. der ganglienlose Muskel 3,5 g, der „normale“ 5g und mehr. Der Tonusgrad — 0 wird übrigens nachweislich auf diese Weise nicht erreicht). Hieraus ergibt sich, dass Exstirpation der Pedalganglien nach geringer Belastung Anstieg, nach hoher Belastung Fall des Tonus bedingt. Zwischen beiden Extremen liegt eine Zone, in der der gleiche Eingriff für den tonıschen Zustand der Musku- latur bedeutungslos ist, dergestalt, dass Peripherie und Zentrum in „tonischem Gleichgewicht“ zu verkehren scheinen. Die Begründung dieser letzten Behauptung mag später folgen. (Schluss folgt.) Verlag von Georg Thieme in Leipzig, _ Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. RXVIBa 91 März 1908. Yası Inhalt: Loew, Bemerkungen zu W. Burek’s Abhandlung über die Mutation als Ursache der Kleisto- gamie. — Jordan, Die Leistungen des Zentrainervensystems bei den Schnecken (Schluss). — Chwolson, Lehrbuch der Physik. — Boruttau, Die Elektrizität in der Medizin und Biologie. Czapek, Biochemie der Piianzen. Bemerkungen zu W. Burck’s Abhandlung über die Mutation als Ursache der Kleistogamie. Von E. Loew. Eine unter obigem Titel jüngst veröffentlichte!) Abhandlung von W. Burck veranlasst mich zu den nachfolgenden kritischen Ausführungen über.das Thema. Jene Arbeit fördert neben einer Anzahl wertvoller Neubeobachtungen auch eine so eigenartige Auf- fassung über Wesen und Entstehen der kleistogamen Pflanzen zutage, dass für jeden, der sich mit blütenökologischen Fragen be- schäftigt, eine Stellungnahme zu den von Burck entwickelten Gesichtspunkten unabweisbar ist. Dazu kommt für mich noch der persönliche Grund, dass der hochgeschätzte Autor der genannten Schrift eine von mir gelegentlich gegebene Begriffsbestimmung der Pseudokleistogamie als unrichtig?) hinstellt, ohne dabei einige meiner früheren Veröffentlichungen über kleistogame Blüteneinrichtungen ®) in Betracht zu ziehen. Da diese Beobachtungen mir aber für die Erörterung der hierher gehörigen prinzipiellen Fragen einiges Ge- 1) In: Recueil des Travaux Botan. N6erlandais. Vol. 1, 2 (1905), p- 1—-128. 2A a80: P- 24. 3) Die Kleistogamie und das blütenbiologische Verhalten von Stellaria pallida Pire. Abh. Bot. Verein Prov. Brandenburg XLI (1899), S. 169—183. Die Bestäubungseinrichtung von Vieia lathyroides L. Flora 1899, 8. 397-403. XxXVv1. 9 130 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. wicht zu haben scheinen, kann ich nicht umhin, zur Rechtfertigung meines Standpunktes die obengenannte Schrift Burck’s an vor- liegender Stelle mit einigen Randbemerkungen zu begleiten und zugleich eine zusammenhängende Erörterung der Hauptfragen an- zuschließen. Zur Orientierung des Lesers schicke ich zunächst eine zu- sammengedrängte Inhaltsangabe der Burck’schen Abhandlung voraus. Nachher erst will ich die darin vorgetragenen Anschauungen vom entgegengesetzten Standpunkt aus kritisch beleuchten und da- durch zu weiterer Klärung der noch strittigen Fragen auch meiner- seits beizutragen suchen. 1: Anknüpfend an die grundlegende Arbeit von K. Goebel!) vom Jahre 1904 über die kleistogamen Blüten und die Anpassungs- theorien beabsichtigt W. Burck „auf den von Goebel mitgeteilten Daten weiterbauend“ eine „andere und bessere Lösung für die Fragen nach der Entstehung und dem Wesen der kleistogamen Pflanzen“ (a. a. ©. S. 9) zu gewinnen. Das Schwergewicht der von (soebel ausgeführten Beobachtungen und Kulturversuche lag in dem außerordentlich klar und überzeugend hervortretenden Ergebnis, dass die kleistogamen Blüten durch Ernährungsstörungen herbei- geführte Hemmungsbildungen sind, in denen die Befruchtung ebenso wie sonst in normalen Blüten, jedoch frühzeitiger, eintritt und wohl Reduktionen, aber nicht eigentliche Neuanpassungen an Selbst- bestäubung vorkommen. Sehr große Bedeutung hat nach Goebel das entwickelungsgeschichtliche Vorausgehen der kleistogamen vor der chasmogamen Blütenform; er fand letztere auch in dem Falle später als erstere angelegt, wenn sie — z.B. bei Viola — aus den schon ım Vorjahr gebildeten Knospen erst im nachfolgenden Früh- ling zu voller Entfaltung kommen. Die chasmogamen Blüten stellen nach Goebel ferner große Ansprüche an die Ernährung und setzen reichliches Baumaterial zu ihrer Bildung voraus. Von diesem Ge- sichtspunkt geleitet gelang es Goebel, Kulturexemplare von Viola silvatica und Viola odorata var. semperflorens, dıe vorher kleistogam geblüht hatten, durch Trockenhaltung und reichliche Besonnung in der ersten Hälfte des Juli zur Bildung der in dieser Jahreszeit ganz ungewöhnlichen, chasmogamen Blüten zu bringen. DasKleistogam- werden der Blüten steht hiernach weder mit dem Mangel an Be- stäubungsvermittlern noch mit der Sterilität der chasmogamen Blüten in ursächlichem Zusammenhange: die kleistogamen Blüten treten nicht deshalb auf, weil die chasmogamen Blüten keinen Samen ansetzen, sondern „die Samenbildung in diesen kann unter- bleiben, weil kleistogame Blüten vorhanden sind“. 1) Biolog. Centralbl. XXIV (1904), S. 673—697; 737—753; 768—787. Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 431 Gegen den Erfahrungssatz Goebel’s, dass die kleistogamen Blüten bei normaler Entwickelung den chasmogamen vorangehen, wendet sich W. Burck im ersten Teil seiner Abhandlung (S. 9 —23), indem er zu zeigen versucht, dass bei Ruellia tuberosa, deren Blüten- einrichtung er bei Batavia in allen Jahreszeiten an den dort reich- lich verwilderten Exemplaren untersuchen konnte, die beiderlei Blütenformen sowohl gleichzeitig als in beliebigem Wechsel hinter- einander produziert werden können). Auch einige andere Fälle von anscheinend gleichzeitigem Auftreten der beiden Blütenformen werden von Burck nach eigenen Beobachtungen z. B. an Commelina benghalensis oder aus der Literatur mitgeteilt. Das entwickelungs- geschichtliche Verhalten der zweierlei Blüten, sowie andere erst durch Goebel’s Untersuchungen klargestellte Momente werden dabei von Burck gar nicht in Betracht gezogen. Es folgt im zweiten Hauptabschnitt (S. 23—52) der Abhand- lung nach einigen Auseinandersetzungen über die Begriffe kleisto- gam und pseudokleistogam, auf die erst im zweiten Teile dieses Aufsatzes einzugehen sein wird, eine ausführliche Darstellung von den Blütenverschlusseinrichtungen bei Myrmecodia tuberosa und bei Anonaceen, wie Arten von Artabotrys, Oyathocalyx, Goniothalamus. Anona und Unona. Von einer Anzahl dieser Pflanzen hatte W. Burck schon in zwei älteren Arbeiten?) eine ausgezeichnete Dar- stellung ihrer Bestäubungseimrichtung gegeben. In der jetzt ver- öffentlichten Abhandlung werden die früheren Ergebnisse durch Mitteilungen über früher nicht näher untersuchte Arten ergänzt und auch Vergleichungen mit nächstverwandten, aber nicht geschlossen- blütigen Formen angestellt, so dass dieser Teil der Arbeit in wissenschaftlicher Hinsicht sicher großen Wert hat. Zu richtigem Verständnis der nachher auftauchenden Fragen müssen einige Haupt- ergebnisse der Beobachtungen Burck’s hier’ kurz mitgeteilt werden. Bei Myrmecodia tuberosa zeigt sich die Nektarabsonderung in der geschlossenen Blüte, deren vier Kronzipfel an der Mündung stets ganz dicht aneinanderschließen, vollkommen normal; auch be- finden sich die Bestäubungsorgane vor dem Auswachsen der Krone im Zustande der Protogynie; erst später bei fortschreitendem Längenwachstum der Korolle werden die ihr angewachsenen vier Staubblätter mit den nun geöffneten Beuteln derart an den vier ihnen opponierten Narben vorübergeführt, dass Pollenkörner an den Narbenpapillen haften bleiben. 1) Bei Impatiens noli tangere und I. parviflora hat Goebel (a. a. O. S. 682) selbst nachgewiesen, dass die kleistogamen Blüten auch nach den chasmogamen auftreten können. 2) Sur l’organisation florale chez quelques Rubiacdes. Ann. d. Jard. Botan. de Buitenzorg. IV, p. 17—20. — Über Kleistogamie in weiterem Sinne und das Knight-Darwin’sche Gesetz. Ann. d. Jard. Botan. de Buitenzorg. VIII, p. 125—139. r 9% 132 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. Bei einer Anzahl von Anonaceen, wie Artabotrys Blumei, A. suaveolens, Cyathocalyx xeylanicus, Anona muricata und anderen Arten der Sektion Guanabani, desgleichen bei Goniothalamus giganteus und anderen Spezies dieser Gattung bleiben die drei inneren Kron- blätter stets geschlossen und bilden eine Art von Hohlkappe über der Säule des vielgliedrigen Andröceums und Gynäceums; die beiderlei letzteren Organe haben eine solche Lage gegeneinander, dass direkte Autogamie unmöglich erscheint. Die Bestäubung findet auch erst beim Verwelken der ın natürlicher Lage hängenden Blüten statt, wobei die abfallenden Kronblätter die Stamina mit- nehmen und die Beutel an den Narben vorübergeführt werden. Der Verschluss der Blüten ist der Anlage nach kein vollständiger, da bei den meisten Arten mit Ausnahme von Anona muricata an der Basis der drei inneren Kronblätter je ein Eingangstor aus- gebildet ist; dieses wird jedoch von außen dadurch verschlossen, dass sich die äußeren Kronblätter dicht über die Öffnung legen. Bei Anona muricata besitzen die drei inneren Kronblätter dach- ziegelige Knospenlage und bleiben von Anfang bis Ende des Blühens vollkommen geschlossen, während die drei äußeren Kron- blätter ın der Knospe klappiıg aneinanderschließen und später an der ausgewachsenen Blüte auseinanderweichen. Bei einer dritten Gruppe von Arten wird der Blütenschluss durch die äußeren Kron- blätter hergestellt, indem hier die drei inneren Kronteile — wie bei Anona retieulata — nur als ebensoviele kleine Schüppchen an- gedeutet sınd, oder wie bei Unona-Arten aus der Sektion Dasy- maschalon völlig fehlen. Bei Anona reticulata fallen die Kronblätter gegen Ende des Blühens nicht ab, sondern vertrocknen all- mählich und „ihre Nägel greifen dabei unter den Staubfaden- zylinder hindurch, infolgedessen bei der Zusammenziehung der Krone die Staubgefäße loslassen und gleichsam auf die Narben getrieben werden“ (S. 44). Bei Unona cleistogama und coelophlaea sind die äußeren Kronblätter derart längs ihrer Mediane eingefaltet, dass ihr Querschnitt einen dreistrahligen Stern bildet; ihre Basal- teile umschließen eng die Bestäubungsorgane und berühren sich an den Rändern, ohne verwachsen zu sein. Die Bestäubung findet auch in diesem Falle erst beim Abfallen der Blütenblätter durch die mitgenommenen und an den Narben vorübergeführten Staub- blätter statt. Es ist bemerkenswert, dass in allen diesen Fällen die Be- stäubungsorgane, d. h. Narbe und Antheren, weder durch ihre gegen- seitige Lage noch durch ihre physiologische Beschaffenheit ın der unverwelkten Blüte zu einer frühzeitigen und zwangsmäßigen Auto- gamie genötigt sind, wie wir sie sonst in kleistogamen Blüten ge- wöhnlicher Art, oft unter gegenseitiger Fixierung von Narben und Antheren durch auskeimende Pollenschläuche, anzutreffen pflegen. Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 133 Nach meiner Auffassung liegt das Charakteristische der von Burck bei Myrmecodia tuberosa und den oben genannten Anonaceen aufgefundenen Blütenverschlusseinrichtungen darin, dass bei ihnen 1. die chasmogame Blütenform völlig fehlt — eine Tatsache, die Burck im weiteren Verlaufe seiner Darstellung durch das „Latentwerden“ des chasmogamen Zustandes erklärt: 2. spezifische Hemmungsbildungen der Blütenorgane — abgesehen vom Blütenverschluss — fehlen, vielmehr in einem Falle (bei Anona muricata nach S. 40) sogar eine Ver- größerung der drei inneren Kronblätter im Vergleich zu ver- wandten, offenblütigen Arten beobachtet wird; endlich 3. die Selbstbestäubung nicht zwangsmäßig (in obigem Sinne), sondern entweder erst beim Welken und Zusammenziehen der Krone (bei Anonaceen) oder bei nachträglichem Wachstum der letzteren in der deutlich dichogam angelegten und nektar- absondernden Blüte (bei Myrmecodia) — also wie auch sonst viel- fach in chasmogamen, autogamen Blüten — eintritt. Mit den geschilderten, durch ihren konstanten Verschluss sicher merkwürdigen Blüten stellt Burck noch einige andere Vorkomm- nisse in Parallele. So fand er bei drei Arten der Araceengattung Homalomena die Spatha beständig geschlossen, infolgedessen ihre sonst normalen, weiblichen Blüten durch den Pollen der männ- lichen bestäubt werden müssen. Dauernder Blütenverschluss scheint außer bei einigen schon von Ch. Darwin angeführten Orchideen (Schomburgkia, Cattleya, Epidendron und Thelymitra) auch bei einer Ohrysoglossum!)-Art nach Forbes, sowie bei Bulbophyllum_ cleisto- gamum und bei Liparis cleistogamum nach J. J. Smith vorzu- kommen. Bei Tainia penangiana, die Burck im Garten - von Buitenzorg beobachtete, entwickelten die aus Java und Amboina stammenden Exemplare immer geschlossene Blüten, die aus Pe- nang stammenden trugen dagegen offene Blüten (S. 49). Dieser hier auftretende Wechsel zwischen zweierlei Blüten- formen veranlasst Burck, aus der Literatur noch einige weitere Vorkommnisse heranzuziehen, in denen sich die kleistogame Blüte von der daneben vorkommenden, chasmogamen entweder gar nicht oder nur wenig unterscheidet, wie z. B. bei Zathyrus Nissolia nach Darwin, Hordeum vulgare und distichum nach Hildebrand, Juncus bufonius nach Batalın uud Ascherson, Gentiana Pneu- monanthe nach Graebner u. s. w. — lauter Fälle, bei denen die oben bei 2 und 3 hervorgehobenen Merkmale nicht zutreffen und außerdem die chasmogame Blütenform ja nicht fehlt. 1) Nach Angabe von Forbes in: A Naturalist’s Wanderings in the Eastern Archipelago (p. S4—85) war dieses Chrysoylossum ein kultiviertes Exemplar, das, in Mr. Lash’s Garten bei Kosala wuchs. 134 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. Der dritte Hauptabschnitt (S. 52—73) der Arbeit von Burck beschäftigt sich vorzugsweise mit der „Bedeutung der chas- mogamen Blüte für die kleistogame Pflanze“. Das hier vorgebrachte, ziemlich weitschichtige und vorzugsweise nach be- kannten Angaben der Literatur zusammengetragene Material lässt sich unter folgende Sätze zusammenfassen (S. 72— 73): a) Bei vielen kleistogamen Pflanzen kommt die chasmogame Blüte nicht mehr zur Entwickelung. Es sind dies die bereits oben angeführten Fälle von Anonaceen, Myrmecodia, Orchideen und Homalomena. b) Die chasmogame Blüte tritt bei anderen Pflanzen sehr un- gleichmäßig auf und scheinbar unter Mitwirkung vieler auf ihre Entwickelung günstig wirkender Faktoren, während sie sich leicht unterdrücken lässt. Das gilt z. B. von Impatiens noli tangere, 1. fulva, Ruellia tuberosa u. a. c) Die chasmogamen Blüten bleiben den kleistogamen gegen- über häufig in der Minderzahl, z. B. bei Ruellia tuberosa ın Batavia, Impatiens noli tangere bei Amberg in Bayern nach Goebel, bei Impatiens fulva in Surrey nach A. W. Bennett, bei Amphicarpaea monoica nach Miss Adeline Schively in Nordamerika. d) Die chasmogamen Blüten setzen bei einigen Pflanzen wie Voandzeia*), Leersia, Eranthemum niemals Frucht an oder erscheinen bei anderen an bestimmten Standorten ganz oder teilweise steril (Amphicarpaea, Veola-Arten, Oxalis Acetosella). e) Die chasmogamen Blüten sonst kleistogamer Pflanzen „bringen beinahe immer selbstbefruchteten Samen hervor“ (S. 73). Als Be- weis dafür zitiert Burck Lathyrus Nessolia, Ononis minutissima, Vandellia nummularifolia, Impatiens noli tangere, Oxalis Acetosella (sämtlich nach Darwin’s Kulturversuchen unter Insektenabschluss), ferner Lamium amplexicaule, Spergularia salina und Polygala-Arten nach Mac Leod, Vieia lathyroides (nach dem Botan. Jahresbericht), Ruellia tuberosa und Cardamine chenopodifolia nach Burck’s eigenen Beobachtungen, Juncus bufonius (nach Ascherson), KEranthemum .cinnabarinum und erenulatum (mach John Scott), Amphicarpaea mo- noica nach Miss Adeline Schively, endlich Arten von Schom- burgkia, Cattleya, Epidendrom und Thelymitra, die sich nach Darwin selbst bestäuben, und Cnpsella bursa pastoris nebst Pisum sativum nach Goebel, deren kleistogame, durch kümmerliche Ernährung hervor- gerufene Blüten Burck (S. 63—64) jedoch zu den pseudokleisto- gamen stellt. 1) Aus den chasmogamen Blüten entwickelte Früchte von Voandzeia sub- terranea wurden von Taubert beobachtet (nach Engler in Sitzungsb. K. Akad. Wissensch. Berlin 1895, V, S. 65—66). Für Leersia führt Burck selbst (a. a. O. .S. 124) Fälle an, in denen die aus der Blattscheide hervorgetretenen Teile der In- floreszenz fertile Blüten trugen. Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 155 f) Wenn die chasmogame Blüte einer mit zweierlei Blüten- formen auftretenden Pflanze „dann und wann mit Pollen einer an- deren Pflanze befruchtet wird, bringt solche Kreuzung ıhren Nach- kommen nicht die Vorteile, welche bei so vielen anderen Pflanzen von einer Kreuzbefruchtung die Folge sind“ (S. 75). Die hierzu zitierten Kulturversuche Darwin’s an Ononis minutissima und Vandelia nummnularifolia mit Pflanzen aus gekreuzten und aus kleistogam erzeugten Samen erwiesen nämlich kein entschiedenes Übergewicht zugunsten der durch Kreuzung erzeugten Pflanzen (S. 66— 70). Auch Pisum satirum, das zwar keine echt kleisto- gamen Blüten besitzt, aber während vieler Generationen sich auf dem Wege der Selbstbestäubung durch Samen fortgepflanzt hat, ist also „wohl niemals empfindlich für die Folgen der Selbst- bestäubung gewesen“ (S. 71). Dagegen ist bei Viola tricolor, die außerordentlich empfindlich für die nachteiligen Folgen der Selbst- befruchtung ist, eine völlig autogame Unterart: V. tricolor arvensis entstanden. Aus allen diesen unter a bis f aufgeführten Tatsachen zieht Burck den Schluss, dass „Pflanzen, welche einen Vorteil aus einer Kreuzung ziehen, keine kleistogamen Pflanzen werden können“, und dass „umgekehrt eine Kreuzung den Nachkommen kleistogamer Pflanzen keinen Vorteil bringt“ (S. 72). Das schließliche End- ergebnis dieser ganzen langen Auseinandersetzung lautet dahin, dass „die chasmogame Blüte für die kleistogame Pflanze von geringer Bedeutung“ sei. Im nächstfolgenden Teil seiner Abhandlung (S. 73—117) be- gibt sich W. Burck, ohne dabei wesentliche Neubeobachtungen oder Versuche anzuführen, vorwiegend auf das Gebiet der Speku- lation. Er denkt sich, dass die Blüten einer Pflanze gelegentlich „durch Mutation“ geschlossen bleiben können, — was ja an sich eine nicht unwahrscheinliche Vorstellung ist —, und fragt sich dann, ob „eine solche Mutation der Pflanze einen Vorteil bringt oder nicht“ (S. 74). „Bei solchen Pflanzen, wo die Vorteile mehr oder weniger beträchtlich waren, hat die Mutation eher Feld gewinnen können, als bei anderen, wo der Vorteil von geringerer Bedeutung war, und in vielen Fällen hat sie die nicht mutierten Individuen ihrer Art offenbar ganz verdrängen können, und ist die Mutante sogar die Stammform einer großen Zahl von Arten geworden“ (S. 75) — so bei Goniothalamus, Artabotrys u. a. — „So kommen wir jetzt auf ganz anderem Wege als im vorausgehenden Abschnitt und bei Erwägung, auf welche Weise die Kleistogamie aller Wahr- scheinlichkeit nach entstanden ist, zu dem nämlichen Schluss: dass eine Pflanze, deren Nachkommen aus selbstbefruchtetem Samen an Stärke und Fruchtbarkeit denjenigen aus gekreuzten Samen nach- stehen, keine kleistogame Pflanze werden kann, und umgekehrt, 136 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie*. dass eine kleistogame Pflanze aus einer Kreuzung keinen Vorteil ziehen kann.“ ' Ausdrückhieh wird von Burck hier jetzt die Unterscheidung von zwei Hauptgruppen von Pflanzen mit geschlossenen Blüten als sehr wichtig hervorgehoben, nämlich der einen, zu der die von ihm genannten Anonaceen, ferner Myrmecodia tuberosa, Homalomena u. a. gehören und von der die chasmogame Blütenform überhaupt nicht bekannt ist, während bei der zweiten Gruppe neben kleisto- gamen Blüten immer auch chasmogame, wenigstens unter gewissen Lebensbedingungen oder an bestimmten Lokalitäten, angetroffen werden; letztere Gruppe besteht aus den im gewöhnlichen Sinne kleistogamen Pflanzen wie Arten von Rwellia, Impatiens, Viola u.a. Burck bezeichnet (S. 79) die erstere Gruppe von Pflanzen als die der konstant kleistogamen Varietäten, weil er annimmt, dass hei ihnen das Vermögen zur Erzeugung chasmogamer Blüten völlig la- tent geworden ist. Bei der zweiten Gruppe von Pflanzen, bei denen dagegen sowohl das Artmerkmal, als das durch Mutation entstandene Merkmal beide aktiv geblieben sind, soll es sich um kleistogame Zwischenrassen handeln, die sich ähnlich verhalten wie viele von de Vries untersuchte Gartenvarietäten. Bei diesen kleistogamen Zwischenrassen scheint die Mutation bisweilen nur lokal aufzutreten, so dass es bestimmt abgegrenzte, geographische Gebiete gibt, in denen die chasmogame Form völlig fehlt oder doch äußerst selten ist. Das wird zunächst an solchen Pflanzen näher erläutert, bei denen sich die zweierlei Blütenformen nur wenig — nämlich meist nur in einem einzelnen Merkmal — von- einander unterscheiden, wie an Leersia oryxoides (S. 85) nach Angaben vonDuval-Jouvein Frankreich und an Juncusbufonius nach Batalin in Zentralrussland. Ähnliches gilt auch für den von Graebner be- obachteten Fall gelegentlicher Kleistogamie bei Gentiana Pneumo- nanthe, für die von Magnus bei Kissingen beobachteten, geschlossen bleibenden Blüten von Spergularia salina, für den von Knuth an- geführten Fall von Drosera, für die von Darwin näher unter- suchte Vandellia nummularifoha, weiter für die von Graf Solms- Laubach beschriebenen Heteranthera-Arten, wie H. callaefolia, H. Potamogeton, und H. Kotschyana, die nach Burck’s Ansicht (S. 89) möglicherweise „drei verschiedene Formen ein- und derselben Mittel- rasse“ von ungleicher geographischer Verbreitung sind, endlich auch für das: durch Kerner von Marilaun näher geschilderte Ver- halten von Viola sepinecola in Gebirgstälern Tirols. Bei der nun folgenden Erörterung der Frage, ob eine Mutation auch für solche kleistogamen Pflanzen anzunehmen ist, bei denen sich die zweierlei Blütenformen in mehreren Merkmalen voneinander unterscheiden, betrachtet Burck zunächst zwei bei diesen Pflanzen hervortretende Erscheinungen gesondert: nämlich einerseits den Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 157 Blütenschluss, andererseits das Auftreten von Blüten ungleicher Größe und Form, die entweder auf den nämlichen Pflanzenstock beschränkt sind oder auf verschiedene Individuen verteilt sein können, wie es bei den sexuell varıierenden Pflanzen in ungemein großem Umfange mit zahlreichen Abstufungen vorkommt. Alle diese Formen fasst Burck nun mit den kleistogam blühenden Pflanzen, sowie den einfach- und gefülltblütigen Gartenvarietäten unter dem Ausdruck: Diaphoranthen zusammen und nimmt für diese ganze Gruppe eine ähnliche Entstehung der abweichenden Form durch Mutation aus der ursprünglichen an, wie sie von de Vries für die gefüllten Blüten aus einfachen gezeigt worden ist. Gibt man diese Prämisse als bewiesen zu, dann muss: 1. die eine Reihe der sexuell varıierenden Pflanzen, nämlich die auf getrennten Stöcken männlich oder weiblich gewordenen Formen der andro- und gynodiözischen Pflanzen, ferner die echt diözischen Arten und die kleinblütigen Formen mit zweierlei ent- weder allogam oder autogam ausgeprägten Zwitterblüten, die als „Diaphoranthen im engeren Sinne“ bezeichnet werden, mit den konstant kleistogamen Varietäten von Myrmetodia, Anona- ceen u.s. w. verglichen werden, und ebenso müssen 2. die auf gleichem Stock variierenden, andro- und gyno- monözischen Formen wie z. B. der Labiaten, Sıleneen u. a., die monözischen Diaphorauthen wie Salıra Clinopodium, und die Formen, welche zwitterige und eingeschlechtige Blüten auf demselben Indi- viduum tragen, wie Viburnum, Hydrangea, Centaurea u. a., mit den kleistogamen Zwischenrassen auf ein- und dieselbe Stufe gestellt werden. Die Deutungen, die bisher von verschiedenen Forschern wie Hildebrand, Darwin, H. Müller, Ludwig, Düsing u.a. dem Wechsel des Geschlechts und der Blütengröße beigelegt worden sind, kann Burck nicht als stichhaltig gelten lassen, weil sich ihre Erklärungen vielfach widersprechen. Erst Beijerinck hat darauf aufmerksam gemacht, dass z. B. die weibliche Form einer gyno- dıözischen Art, die durch den Pollen der Zwitterpflanze befruchtet wird, aus nn Samen immer wieder selbst reproduziert wird, ebenso wie aus Samen gefülltblütiger Azaleen, der durch Betsubins mit Pollen einfachblütiger Sorten gewonnen wurde, immer wide sowohl einfache als gefülltblütige Stöcke erhalten werden. In analoger Weise gehen aus Samen einer echt kleistogamen Pflanze neben chasmogamen auch wiederum kleistogame Nachkommen hervor. Dagegen sollen aus den Samen pseudokleistogamer Pflanzen, deren Blüten nur durch die äußeren Bedingungen modifiziert sind, immer nur chasmogame Nachkommen a: werden. Darin er- blickt Busch einen Beweis dafür, de: der Blütenverschluss der echt kleistogamen Pflanzen von äußeren Bedingungen I 138 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. ebenso unabhängig ist, wie das Auftreten weiblicher Pflanzen unter den Nachkommen einer gynodiözischen Art. Als Stütze für diese Annahme werden die bekannten Kultur- versuche Strasburger’s mit diözischen Pflanzen angeführt, die nur den Schluss zulassen, dass bei ıhnen das Zahlenverhältnis der beiden Geschlechter — unabhängig von äußeren Bedingungen — auf die Nachkommen übertragen wird. Auch hebt Burck hervor, dass die Gynodiözie nicht, wie gewöhnlich angenommen, als Über- gangsstufe der Zwitterform zur Diözie aufzufassen sei; es bedarf hier vielmehr einer neuen Mutation, bei der außer den Staub- blättern auch das Gynäceum getroffen wird, denn andernfalls müsste die Pflanze im gynodiözischen Zustande verharren. Auch die Kulturversuche von Willis mit gynodiözischem Origanum vulgare, bei denen eine periodische Zu- und Abnahme in der Zahl der weiblichen Blüten zu konstatieren war, sprechen dafür, dass die hier auftretenden Reduktionen in der Zahl der Staubblätter mit Abänderungen der Blattzahl oder der Verzweigung parallel sind, wie sie de Vries z. B. bei Trifokum pratense quinquefolium, Plan- tago lanceolata ramosa u. a. beobachtete. Alle diese Beweisstützen zusammenfassend lässt sich also nach Burck (8. 109) folgendes sagen: „Der Unterschied zwischen den- jenigen Pflanzen, wo die geschlossene Blüte nur durch den Blüten- schluss, und denjenigen, wo sie sich auch noch durch Rückbildungs- erscheinungen von der chasmogamen Blüte unterscheidet, ist der Tatsache zuzuschreiben, dass bei den ersteren reine, syste- matischeArten, bei den letzteren aber diaphorantheZwischen- rassen kleistogam geworden sind.“ Für die Richtigkeit dieser Anschauung führt Burck als tat- sächlichen Beleg zuletzt noch das Auftreten von verkleinerten, aber offenen Blüten neben kleistogamen an, wie es z.B. für Viola biflora von Lindman, für V. odorata und silvatica von Goebel, für Oxalis Acetosella von Darwın und Rössler, für Campanula colorata von Darwin, für Ruellia tuberosa von Burck selbst, für Amphicarpaea monoica von Miss Adeline Schively, für Kran- themum-Arten von John Scott beschrieben worden ist. In diesen Fällen zeigt sich die Rückbildung aus der chasmogamen Blüte teils in der Verkleinerung der Krone und anderer Blütenorgane, teils im Schwinden von Blumenblättern, Staubblättern und Nektarien, teils aber auch in der Form des Ausstäubens und der Pollination, so dass hier also „ganz augenscheinlich diaphoranthe Varietäten und Zwischenrassen kleistogam geworden sind“. Der letzte Abschnitt der inhaltsreichen Abhandlung Burck’s fasst die wesentlichen Ergebnisse in 10 Sätzen zusammen und sucht von der Hypothese aus, dass es sich bei der Mehrzahl der kleisto- gamen Pflanzen -— nämlich bei allen mit den zweierlei Blüten- Loew, Bemerkungen zu ‚„Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 13‘ ’ „ D fe} 8) formen ausgestatteten Gewächsen — um Zwischenrassen handelt, näheren Aufschluss auch über die Faktoren zu gewinnen, die das Auftreten und die Fruchtbarkeit der chasmogamen Blüte beein- flussen. Es zeigt sich hier eine gewisse Reziprozität zwischen den beiden Blütenformen, indem z. B. an Pflanzen von Commelina benghalensis die reichlich offene Blüten tragen, nur spärlich die kleistogame Form beobachtet wird und umgekehrt. Die kleistogam erzeugten Samen hatten in diesem Fall ein etwa doppelt so gr es: Gewicht als die chasmogam entstandenen. „Sie ziehen alson einen großen Teil der Nährstoffe an sich, und dies hat ohne Zweifel einen großen Einfluss auf die Bildung offener Blüten.“ Ähnliche Verhältnisse hat Miss Adeline Schively auch für Amphicarpaea monoica nachgewiesen. Der Schlusspassus der Abhandlung lautet: „Alles zusammen- fassend, was wir jetzt von den Faktoren wissen, welche auf das Auftreten der chasmogamen Blüte bei kleistogamen Zwischenrassen ihren Einfluss ausüben, sehen wir, dass zunächst das Hervortreten der normalen Blüte in hohem Maße befördert wird durch die Lebenslage im ausgedehntesten Sinne des Worts, d.h. nicht nur durch die Nahrungsverhältnisse, sondern auch durch alles, was der Er- nährung der Pflanze zuträglich ist, wie z. B. eine genügende Be- leuchtung, eine hinreichende Temperatur u. s. w., dass aber auch und zumal bei denjenigen Pflanzen, welche frühzeitig eine beträcht- liche Menge kleistogamer Blüten bilden, das Auftreten der chas- -mogamen sowie die Fertilität dieser letzteren durch diese kleisto- samen Blüten, welchen die Bildungsstoffe zuströmen, beeinflusst werden mit der Folge, dass entweder die chasmogamen Blüten nicht angelegt werden oder wenn sie doch gebildet werden, sie doch nicht ihre Früchte reifen können.“ IR Dem Leser wird nicht entgangen sein, dass die oben wieder- gegebenen Darlegungen Burck’s in zwei ungleichartige Partien zerfallen, nämlich in einen empirischen, auf tatsächlichen Beobach- tungen beruhenden Teil und in einen spekulativen, der die Mutations- lehre von de Vries zu Hilfe ruft. In letzterem Abschnitt ist die Art der Schlussfolgerung diese: 1. Durch die Beobachtungen und Bastardierungsversuche von de Vries ist die Existenz von Zwischen- rassen bei Gartenvarietäten erwiesen. — 2. Die Mehrzahl der kleisto- gamen Pflanzen, ausgenommen die reinen, systematischen Arten, bei denen die chasmogame Form völlig „latent“ geworden ist, sind mit den einfach- und gefülltblütigen Gartenvarietäten und anderen Diaphoranthen, wie besonders den sexuell variierenden Pflanzen, auf ein- und dieselbe Stufe zu stellen. — 3. Also sind die kleistogam- chasmogam blühenden Pflanzen diaphoranthe Zwischenrassen und 140 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie‘“. die von de Vries für solche Rassen ermittelten Vererbungsgesetze gelten auch hier! Mir leuchtet weder die logische Konsequenz dieses offenbaren Zirkelschlusses ein, in dessen zweitem Satze das vorausgesetzt wird, was bewiesen werden soll, noch kann ich es als durch Tatsachen bewiesen erachten, dass die mit zweierlei Blütenformen ausgestatteten Pflanzen mit den sexuell variierenden auf ein- und dieselbe Stufe zu stellen wären. Denn in diesem Falle müssten die chasmogamen Blüten eingeschlechtig und die kleistogamen zwitterig sein, oder es müsste zwischen ihnen die umgekehrte Sexualverteilung herrschen, was beides bei den zwitterblütigen, kleistogam-chasmogamen Pflanzen tatsächlich nicht zutrifft. Höchstens könnten solche Pflanzen, die wie Viola tricolor, Erodium eicutarium, Arten von Euphrasia u. a. auf getrennten Stöcken zweierlei zwitterige Blütenformen, eine allogame und eine autogame tragen, also die Diaphoranthen Burck’s im engeren Sinne, mit den chasmogam-kleistogam blühenden Pflanzen verglichen werden, da auch bei diesen — wenn auch in der Regel auf demselben Stock — die offenen Blüten vorwiegend oder teilweise für allogame, die geschlossenen regelmäßig für rein auto- game Bestäubung eingerichtet sind. Es würde die von Burck als bewiesen angenommene Hypothese besagen, dass Abänderungen in der Geschlechtsverteilung der Blüten, die zugleich Änderungen in der Natur ihrer bei der Befruchtung gepaarten Keimzellen zur Folge haben, auf ein- und derselben Stufe stehen mit bloßen Wachstums- und Hemmungsvorgängen der Blütenteile — einschließ-- lich der Bestäubungsorgane wie wir sie bei der Reduktion einer chasmogamen Blüte zu einer kleistogamen in so mannigfaltiger Form, aber immer in Abhängigkeit von äußeren Faktoren, beobachten. Es braucht ja die bestimmte Reduktionsform nicht notwendigerweise ın die Keimzellen einzutreten, ebensowenig wie die durch irgend ein Lebensverhältnis verkleinerten Blätter eines Baumes immer ın der gleichen Reduktionsform auf die Nach- kommen vererbt werden. Die weibliche Blüte einer gynodiözischen Pflanze muss durch fremden Pollen bestäubt werden und muss!) heterogenetische Samen produzieren; die chasmogame Blüte einer mit den zweierlei Blütenformen versehenen Pflanze kann aber ebensowohl durch eigenen wie durch fremden Pollen bestäubt werden, wenn nicht besondere Einrichtungen das eine oder andere unmöglich machen, und sie kann daher im allgemeinen sowohl autogenetische als heterogenetische Nachkommen liefern. Ob das eine oder das andere tatsächlich geschieht, hängt ebenso von äußeren Lebensbedingungen ab, wie der Wechsel zwischen ‘der chasmogamen und kleistogamen Blütenform. Nur die Fähigkeit 1) Abgesehen von Parthenogenese und den ihr gleichwertigen Vorgängen. Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 141 zu. dieser Variation erscheint vererbbar, nicht die be- stimmte Form als solche. In welche elementaren Eigenschaften im Sinne von de Vries!) ıst aber diese schließlich in den Keimzellen oder in noch kleineren Erblichkeitseinheiten zu suchende Variationsfähig- keit der mit zweierlei Blütenformen ausgestatteten Pflanzen zu zerlegen ? Die Beantwortung dieser Frage und eine Kritik der mit ihr zusammenhängenden Hypothese Burck’s würde ein tieferes Ein- gehen auf die prinzipiellen Voraussetzungen der Mutationslehre von de Vries nötig machen, als es der Absicht des vorliegenden Aufsatzes entspricht. So bedeutsam die genannte Lehre für die Erkenntnis der Vererbungsgesetze bei Hybridverbindungen ist, kann sie doch nicht auf die Legitimverbindungen?) zwischen In- dividuen ein- und derselben Spezies — und nur solche kommen hier in Betracht — ohne weiteres übertragen werden, wie dies Burck ohne eigentlich tatsächliche Gründe unternimmt. Es fehlen uns bei den sexuell varıierenden Pflanzen viel zu sehr die not- wendigen genaueren Erfahrungen über die hier so wechselnden Verhältnisse der Blumengröße, der Dichogamie und der Geschlechts- differenzierung, desgleichen über die Abhängigkeit dieser Variationen von Ernährungsbedingungen und anderen äußeren Faktoren, wie z. B. dem Wechsel der Jahreszeit, ebenso sehr auch statistische Feststellungen der Korollengröße und der Erbzahlen in den Einzel- generationen — lauter Probleme, die mit recht bedeutenden, ex- perimentellen Schwierigkeiten umgeben sind —, so dass ein irgend- wie haltbares Urteil über die in Rede stehenden Vererbungsfragen bei den sexuell variierenden Pflanzen zurzeit ganz ausgeschlossen erscheint. Haben doch die von Goebel an dem viel engeren Kreise der kleistogamen Pflanzen angestellten Untersuchungen ge- zeigt, wie große Lücken die genauere Kenntnis dieser von so zahl- reichen Forschern behandelten Klasse von Blumeneinrichtungen noch aufweist! Und W. Burck wollte ja nach eigenem Geständnis) auf den von Goebel festgelegten Daten weiter bauen, er verliert 1) Vgl. de Vries. Die Mutationslehre. Leipzig 1901-1903, II. Bd., 8. 5. 2) Wenn Correns (Über Vererbungsgesetze, Berlin 1905, S. 9) jede Vereinigung zwischen ungleich veranlagten Keimzellen als Bastardierung bezeichnet und die gleichen Vererbungsgesetze für Legitimverbindungen wie für Hybridverbindungen (in gewöhnlichem Sinne) annimmt, so müsste bei den kleistogamblühenden Pflanzen doch erst bewiesen werden, dass die autogam befruchteten Keimzellen der chasmo- gamen Blüte andersgeartete Nachkommen liefern als die ebenso befruchteten Keim- zellen der kleistogamen Blüte; dass die allogam entstandenen Kreuzungsprodukte der offenen Blüte erblich anders veranlagt sind als die Nachkommen aus rein autogamen Verbindungen, ist allerdings von vornherein anzunehmen. Einige hierher gehörige Züchtungsversuche werden weiter unten Erwähnung finden. 3 Ar232107 8.19; 449 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. aber diesen wertvollen Gesichtspunkt über seinen Mutationsannahmen nur zu sehr aus dem Auge. Ich kann daher nicht weiter auf dies bypothetische Gebiet ein- gehen, sondern beschränke mich in folgendem auf den Nachweis, dass die Auffassung Burck’s von den kleistogamen Blüteneinrich- tungen mit zahlreichen Beobachtungen anderer Forscher, die er sämtlich ebenso unberücksichtigt lässt, wie meine eigenen kleinen Beiträge zur Blütenökologie, ın einer ganzen Reihe entscheidender Punkte in Widerspruch steht. In erster Linie gilt dies von der Stellung, die Burck den konstant geschlossenblütigen, von ihm zuerst genauer beschriebenen Formen der Anonaceen, der Myrmecodia tuberosa u. a. gegenüber den kleistogam-chasmogam blühenden Pflanzen anweist. Mit vollem Recht hebt er selbst den tiefgreifenden Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen hervor, den er sogar auf ihre ungleiche Abstammung zurückführen will. Aber sind die von Burck beschriebenen, kon- stant geschlossenen Blüten überhaupt kleistogam in dem Sinne, den wir blütenökologisch mit diesem Ausdruck verbinden? Burck wird antworten, sie haben doch auch geschlossene Blüten! — Wie sehr diese Auffassung eine rein äußerliche, das Wesen der Sache gar nicht berührende ist, lässt sich leicht nachweisen. Die kleistopetalen Blüteneinrichtungen. Es ıst Burck völlig entgangen, dass gerade über konstant ge- schlossenblütige, aber sonst in ihren Blütenorganen nicht reduzierte Pflanzen anderweitige, in Südamerika angestellte Beobachtungen vorliegen, die zum Vergleiche mit den von ihm selbst entdeckten Vorkommnissen herausfordern. So fand Ule!) in der Serra do Itatiaia Brasiliens an der Melastomacee Purpurella cleistopetala regel- mäßig Blüten, deren Kronzipfel fest zusammenneigen, ohne dass ein spontanes Öffnen zustande kommt. Dabei sind die Bestäubungs- organe protandrisch und die Honigabsonderung ist ebenso normal wie in den von Burck beschriebenen Blüten der Myrmecodia tube- rosa. Ule sah mit Pollen bepuderte Ameisen in die Blüten ein- dringen und fand auch an der Korollenspitze durchlöcherte Blüten, weshalb er Hummeln als die vermutlichen Bestäuber annimmt. Wie dem auch sei, ıst doch die allogame Einrichtung der Blüten und die fehlende Zwangsbestäubung hier ebenso deutlich wie bei denen von Myrmecodia und den geschlossenblütigen Anonaceen. Noch ausgeprägter und verbreiteter findet sich die gleiche Ein- richtung bei Bromeliaceen. Hier hatte bereits Fritz Müller?) 1) Berichte Deutsch. Botan. Gesellsch. XIII (1895), S. 415—420; XIV (1896), S. 169—178. 2) Ebenda XIII (1895), S. 160—162. Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. 143 bei Nidularium-Arten, wie N. stella rubra u. a. bemerkt, dass die Krone aus dem Kelch hervortritt, ohne sich zu öffnen, und schließ- lich zu einer schlüpfrigen Masse zerfließt. „Schon wenn die Krone den Kelch erst um 2 cm überragt, findet man oft die fest aneinander- liegenden Ränder ıhrer Zipfel mit weißem Blütenstaub bedeckt, den ein besuchender Kolibri an ihnen abgestreift hat. Will man die Blume bestäuben, so muss man ein Blumenblatt abbiegen und festhalten; losgelassen schmiegt es sich sofort wieder den beiden anderen an“ — mit diesen Worten äußert sich Fritz Müller!) über den ihm sehr auffallenden Fall. Ule fand diese Verschluss- ‚ einrichtung bei etwa 20 Arten der Gattung Eunidalarium?) auf; _ auch hier sind die sonstigen Einrichtungen der Blüte wie Nektar- absonderung, Art der Pollenausstreuung u. s. w. von gewöhnlicher Kleistogamıe durchaus verschieden, wie denn auch Kolibris als tatsächliche Besucher festgestellt wurden. Einen direkten Beweis dafür, dass in diesem Fall durch die Tätigkeit der Vögel nicht bloß ein gewaltsames Öffnen der Krone, sondern wirksame Xeno- gamie nl Befruchtung eintritt, liefern die verschiedenen von Fritz Müller und Ule beobachteten Bastarde?) der Gattung Nidularium — so z.B. N. Paxianum X procerum Lindm. —, da hier nur die Kolibris mit ihrem kräftigen Schnabel imstande sind den Blüten- verschluss zu öffnen. Oder will Burek annehmen, dass in diesem Fall das Zustandekommen der Bastarde etwa auf Windbestäubung zurückzuführen wäre? Auch diese Annahme könnte die Tatsache der eingetretenen Fremdbestäubung nicht umstoßen! (Fortsetzung folgt.) Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. Von Hermann Jordan, Privatdozent für Zoologie an der Universität Zürich. (Schluss. Diese Fähigkeit der Pedalganglıien, eine Funktion des Systems I. Ordnung Deo Bedarf (wie wir sehen werden) zu steigern und zu verringern, können wir noch an anderen Anpassungser Sean dartun: Lässt man nämlich eine Last auf den Schneckenmuskel eine Zeitlang einwirken, und entfernt man diese Last hierauf, so reagiert der Muskel Arch Tonuszunahme. Je stärker er durch das Gewicht gedehnt wird, um so größer wird diese Reaktion sein. Öfteres Wiederholen des eiduehes bedingt natürlich einen mehr und mehr wachsenden Dehnungsgrad (Tonusarmut), da es zu einer 1) A. a. ©. S. 18. 2) Berichte Deutsch. Botan. Geseilsch. XVI (1898), S. 360—362. 3) Ebenda XVII (1899), S. 51—63. 444 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. Restitution zur Norm niemals ganz kommt. Es nehmen dergestalt die Ausschlagsgrößen mit der Zahl der angestellten Versuche zu. Auch diese Reaktion steht unter dem Einflusse der Pedalganglien: Das ganglienlose Tier wird schon zu Beginn der Versuche, also bei geringer Dehnung mit beträchtlicher Verkürzung auf Entlastung antworten (e. g. 1g). Es wird aber trotz häufiger Wiederholung und Anwendung sehr hoher Belastung (70 g) niemals sehr weit über die Anfangsleistung hinausgehen (e. g. Maximum 2—2,7 89). Ganz anders verhält sich das Tier, welches sich noch ım Besitze seiner Ganglien, oder doch der Pedalganglien befindet: Es wird vorab den Eingriff gar nicht oder fast gar nicht beantworten (etwa 0,2 8). Mehr und mehr steigen die Werte, um schließlich schon. bei 50. g Ausgangsbelastung sich auf 6,5 g zu belaufen! Dazu kommt, dass das „normale“ Tier stets alle Reaktionen wesentlich schneller ausführt, als das „System I. Ordnung‘. Ehe wir nun dazu übergehen wollen, obiges Material: zu ver- arbeiten, müssen wir noch Versuche kennen lernen, die sich auf eine zweite wichtige Frage beziehen: Welchen Gesetzen gehorcht die Regulierung des Tonus, die wir als solche soeben kennen ge- lernt haben. Die Beherrscher des Tonus sind die Pedalganglıen. . Das Cerebralganglion hat auf die oben mitgeteilten Erscheinungen gar keinen Einfluss. Im der Norm ist die Aufgabe dieser Zentren im wesentlichen Herabsetzung oder Hemmung des Tonus. Es sınd aber die Pedalganglien nicht dergestalt echte Hemmungszentren, dass deren Erregung Tonusfall zur Folge hätte. Im Gegenteil, Reizung dieser Zentren, oder der von ihnen ausgehenden Bahnen, hat eine Zunahme der Belastung (Verkürzung) der Muskulatur zur Folge. Wir können auch auf anderem Wege die Pedalganglıen in Erregung versetzen: durch Aufpinselung anisotonischer (Kochsalz-)Lösungen ; stets mit dem Erfolg, dass der Gesamttonus steigt. Dabei bleiben die Ganglien unvermindert erregbar. Auf der anderen Seite fällt der Tonus in sehr beträchtlichem Grade, wenn wir jene Zentren schwach kokainisieren, so aber, dass ihre Funktion (Erregbarkeit) nicht. beeinträchtigt erscheint. Wenden wir höhere Kokaindosen an, so dass schließlich die Erregbarkeit der Pedalganglien schwindet, so steigt der Tonus in gleichem Maße, als hätten wir diese nervösen Organe exstirpiert. Der herabgesetzte Erregungszustand des Ganglion bedingt also Herabsetzung des Tonus und umgekehrt. Aber nicht nur des Ganglion. Vermindern wir nämlich den Tonus durch Belastung in einer Muskelpartie, die mit einer anderen nur mehr durch das Zentralnervensystem kommuniziert, so fällt der Tonus auch in dieser letzteren, steigt aber auf Entlastung. Dieser Versuch (,„Halbtier- versuch“) wird an einem Präparate ausgeführt, welches man wie Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. 145 folgt herstellt: Man durchschneidet den Hautmuskelschlauch einer Schnecke in der Medianebene, unter vorsichtigster Schonung der zentralen Nervenelemente, aber auch nur dieser. Nun bringt man eine der beiden symmetrischen Hälften in Verbindung mit der Wage, während die andere mit einem Gewichte belastet wird. Was die Vorsichtsmaßregeln betrifft, welche dieser Versuch ver- langt, so muss ich natürlich auf die Hauptpublikation verweisen (Pflüger’s Arch. Bd. 106, p.211ff.). Um besonders hohe Werte fällt im registrierenden Teile der Tonus, wenn dieser (der registrierende Teil) ab origine „hoch“ belastet war (15—25g). An Stelle des Zentralnerven- systems kann auch ein Stück des Nervennetzes treten, dergestalt, dass man beim Zerteilen des Hautmuskelschlauches einmal das Gangliensystem entfernt, dann aber eine Muskelbrücke belässt. Die Beeinflussung der einen Seite durch die andere ist in diesem Falle eine viel geringere, teilweise sogar schwer nachzuweisende, vor- nehmlich weil die Verbindung durch das Nervennetz eine schlechte ist. Welche Bedeutung hat nun das dargetane Verhalten innerhalb des Lebens unserer Objekte? Ich habe schon darauf hingewiesen, dass ohne jenen relativen Verkürzungsgrad der Muskulatur, also ohne den dauernd von dieser auf den Inhalt der Leibeshöhle aus- geübten Druck, die Schnecke einem schlaffen Sacke zu vergleichen wäre, der irgendwelche zweckmäßige Bewegung auszuführen nicht imstande sein würde. Denn jede Muskelverkürzung bedarf eines Stütz- punktes (e. g. eines Skeletts) sowie einer Kraft, die dem Muskel zum Antagonisten dient, soll anders eine Bewegung des ganzen Tieres erzielt werden. Jene beiden Funktionen liegen den Muskeln selbst ob, und zwar leisten sie diese eben durch ihr Vermögen, einen relativen Verkürzungszustand beibehalten, dadurch aber den Leibes- höhleninhalt unter Druck versetzen zu können. Ich brauche doch wohl nicht darauf hinzuweisen, wie oft turgeszente, an sich weiche Körper den Habitus und die Funktionen mehr oder weniger harter Gebilde anzunehmen imstande sind etc. Sowenig wir bei unseren Versuchen Rücksicht nahmen auf eine bestimmte Last, oder auch nur auf ein bestimmtes Verhältnis zwischen Verkürzung und Belastung, sowenig existieren solche absolute Werte in der Natur: Legt man eine Helix in Wasser, so findet man, dass sie schon nach etwa 1—2 Stunden dick auf- geschwollen ist: Es ist Wasser in das Innere des Tieres ge- drungen und hat daselbst total die Druckverhältnisse abgeändert. Diesen Versuch finden wir — wenn ich so sagen darf — in der Natur in großen quantitativen Varietäten vor: von Schwankungen der Feuchtigkeit, also etwa von großer Dürre, bei der die Schnecke einen bedeutenden Prozentsatz ihres Wassers verliert, bis zu dem nicht seltenen Falle, dass solch ein Tier ins Wasser fällt, ohne sich — eine Zeitlang wenigstens — retten zu können. XXVl. 10 446 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. All diesen Druckdifferenzen wird sich die Muskulatur anzu- passen haben. Und wir haben gesehen, dass das System I. Ordnung für sich dieser Anforderung zu genügen vermag: Übertriebene Be- lastung wird mit langsamem Tonusfall, Entlastung aber mit ent- sprechendem Anstieg beantwortet. Die Funktion des Pedalganglion ist, dieser Anpassung die notwendige Beschleunigung zu verleihen, und sie quantitativ zu regulieren: Bei geringer Druckzunahme passt sich die normal regulierte Muskulatur schneller und ergiebiger an, bei übertriebenem Eingriff verhindert das Zentrum zu weit- gehende Dehnung der Muskeln: offenbar wird eine Mittelstellung eingenommen, die für Muskeln und Organe durchschnittlich ein Mindestmaß von Schädigung bedingt. Ganz entsprechend liegen die Dinge für die Anpassung an Entlastung: auch hier umgreifen die extremen Werte des normalen Tieres die wenig modifizierbaren Mittelwerte des Systems I. Ordnung. Während dergestalt die Pedalganglien berufen sind, die An- passung der Muskeln an Bedingungen zu regulieren, die für den ganzen Hautmuskelschlauch gelten, so haben wir auch schon den Mechanismus des Tonusausgleiches kennen gelernt, der dann ein- setzt, wenn einzelne Teile der Muskulatur gewaltsam beeinflusst werden: Tonusverminderung ın einem Teile des Tieres verursacht Tonusfall in dem anderen. Hierdurch kann ein großer Ausgleich erzielt werden. Il. Die Erregung. Dass der Tonus bei der Lokomotion des Tieres wesentlich be- teiligt ıst, hörten wir schon. Seine Bedeutung reicht aber über diejenige eines Skeletts hinaus, wie folgende Betrachtung lehren mag: Ich habe eingangs darauf hingewiesen, dass der Hautmuskel- schlauch der Schnecke — gleich der Meduse — befähigt ist, loko- motorische Rhythmen auszuführen und zwar sind auch diese Rhythmen Funktion des Systems I. Ordnung. Denn wenn es auch Schnecken gibt, die nach Entfernung der Ganglien keinerlei Wellen- bewegung mehr auszuführen imstande sind, so dürfte das doch kaum einem anderen Umstande zuzuschreiben sein, als der beson- ders geringen Leitfähigkeit ıhrer Netze; ein Reflex kann seinen Weg über Bahnen (Ganglien) oder über die Netze nehmen, das lässt sich leicht zeigen; auf einen einfachen Reflex aber soll ja die Lokomotion zurückgeführt werden. Zur Begründung obiger An- nahme (dass also das System I. Ordnung und nicht das Pedal- ganglıon Sıtz des Lokomotionsreflexes sei) mag hier die Tatsache genügen, dass z. B. viele Zimax-Arten keiner Ganglien zur Aus- führung der Fußperistaltik bedürfen. Diese Rhythmen unterscheiden sich dadurch von denjenigen der Meduse, dass sie nicht aus syn- chronen Kontraktionen, sondern in echter (Anti-)Peristaltik bestehen. D, h. aber: in gewissen, unter Umständen schwankenden -Ab- Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. 147 ständen kontrahiert sich die Muskulatur des Fußes, und es laufen die Kontraktionsphasen gleichförmig stets von hinten nach vorn, dergestalt, dass es auf der Kriechfläche des Fußes — der Sohle — zu den schon oben so benannten Wellen kommt. Wie diese Wellen durch Haften entsprechender Phasen an der Unterlage zur Lokomotion dienen können, ist leicht einzusehen. Wenn diese Bewegung nun auf einen „einfachen“ Reflex (im Gegensatze zur rätselhaften Tätigkeit eines „Zentrums“) zurück- geführt werden soll, so muss gezeigt werden, warum die Muskulatur eine derartige schwankende Erregbarkeit aufweist, denn eine solche dürfte die einzige Erklärungsmöglichkeit für unsere Frage bieten. Hier gilt also das gleiche Problem wie bei jedem Rhythmus, ob dieser im Herzen, bei der Meduse, oder bei einer Kolbendampf- maschine stattfindet: das zeitweise Ausschalten eines Bewegungs- faktors, das temporäre Versetzen eines solchen ins „refraktäre Stadium“). v. Uexküll ist der erste gewesen, der für dieses refraktäre Stadium den Tonus verantwortlich gemacht hat. Die Erregbarkeit eines Muskels, sagt dieser Forscher, ist abhängig von seinem Tonus, dergestalt, dass beide Größen umgekehrt proportional zueinander sind. Ein Muskel mit niederem Tonus zieht die Erregung an, im Gegensatze zu dem, gegen jede Erregung abgeschlossenen Muskel mit hohem Tonus. Diesen Satz beweist v. Uexküll!) vorab für den Schlangen- stern, und zwar folgendermaßen: Entfernt man solch einem Tiere alle Arme bis auf einen, und durchtrennt den Nervenring an der Stelle, die diesem Arme gegenüberliegt, von ihm also durch die Mundscheibe geschieden ist, so wird der Arm stets dem Reizorte zuschlagen, solange er zur Mundscheibe radiär steht: Diejenige Muskelpartie kontrahiert sich, die am unmittelbarsten von der Er- regung getroffen wird (vgl. Manubrium der Meduse). Ganz anders, wenn wir das Tier vertikal aufhängen, derartig, dass der Arm in der Ebene der Mundscheibe herabhängt, das obere der unter- suchten (in der gleichen Ebene sich befindenden) Muskelbündel gedehnt, das untere aber verkürzt ist: Nunmehr wird, wo wir auch reizen, der Arm nach oben schlagen: der gedehnte Muskel zieht die Erregung an, der verkürzte ist refraktär. Unsere Aufgabe also ist, folgende Fragen zu beantworten: 1. Ist auch bei der Schnecke der Tonus für die Erregbarkeit maß- gebend? 2. Kann auf Grund von Kenntnis der Gesetzmäßigkeit, die für die Erregung gilt, die Lokomotion erklärt werden. Wir 1) Refraktäres Stadium nicht im Sinne strenger Definition: es braucht sich nicht unbedingt um strenge Unerregbarkeit zu handeln. 2) v. Uexküll, Studien über den Tonus II. Die Bewegung der Schlangen- sterne. Zeitschr. Biol. Bd. 46. 10* 148 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. werden diese letzte Frage vorläufig erschöpfend nicht behandeln, sondern lediglich deduktiv zeigen, dass eine solche Erklärung mög- lich ist. Aus dieser Deduktion werden wir das Recht nehmen, als zweites Objekt dieser Untersuchung die Erregbarkeit und ihre Regulierung durch die Ganglien zu wählen. Wir werden sehen, dass wir die Lösung des Rätsels normaler Lokomotion hier- bei auch um ein Stück fördern können; wir wollen aber im Auge behalten, dass — vorläufig wenigstens — nicht dieses Rätsel selbst es ist, welches uns zu beschäftigen hat, sondern die Kenntnis der (Gesetze, deren wir späterhin zur Analyse der Lokomotion bedürfen. Vornehmlich aber gilt es, die Tätigkeit des Gangliensystems zu er- gründen, von dem die Lokomotion ja nicht unmittelbar abhängig ist. Ist die Erregbarkeit auch bei der Schnecke abhängig vom Tonus? Wir belasten einen Schneckenmuskel niedrig (etwa mit 5 g) und be- stimmen die Grenze seiner Erregbarkeit, d. h. den größtmöglichen Rollenabstand eines Induktionsapparates, bei dem der Muskel eben noch zur Verkürzung gebracht wird. Nun belasten wir, durch An- Den Verhältnissen bei Helix ent- sprechend stellt das Schema die Inner- Rr vation der Lokomotion so dar, dass der Impuls über das Pedalganglion geht. Nach unserer Annahme trifft Netz Netz die Erregung unmittelbar nur AB; mit welcher Strecke BU nur durch £ B 4 das Netz kommunisiert. ziehen der Kurbel, den Muskel „hoch“ (etwa 20 g) und finden, dass wir den Rollenabstand wesentlich vergrößern müssen, um jene Grenze zu erreichen. (Genügt dieser Versuch, um auch nur hypothetisch das loko- motorische Wellenspiel zu erklären? Wir wollen diese Frage an einem Schema untersuchen. Wir denken uns den Schneckenfuß in zwei Abschnitte zerlegt und nehmen an, dass die Erregung den Teil AB unmittelbarer treffe als BC, so also, dass AB sich kontrahieren kann, während die, durch den größeren Leitungswiderstand nunmehr abgeschwächte Erregung in BC keine Reaktion hervorzurufen vermag. Durch die Kontraktion von AB wird das Blut aus den intramuskulären Lakunen in die Strecke BC gepresst (das ist eine Tatsache), hierdurch wird BC gedehnt, und die ursprünglich zu schwache Erregung genügt nun- mehr auch BC zur Kontraktion zu veranlassen. Aber wie weit wird diese Kontraktion gehen? Darüber lehrt unser Versuch gar nichts: wir haben im zweiten Falle den Muskel neu (höher) be- lastet und erhalten daher, was die Ausschläge des Wagenzeigers an- ‚Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. 149 betrifft, inkommensurable Werte (vgl. das über Technik oben Ge- sagte). Wir. haben von diesen Werten daher auch gar nicht ge- sprochen. Zweı Möglichkeiten haben wir hier zu unterscheiden, je nach unserer hypothetischen Vorstellung vom Wesen des Tonus: 1. Der Tonus ist der mechanisch beibehaltene, rein muskuläre Verkürzungszustand, der durch Erregung erzeugt worden ıst. Dann wird jedem Kontraktionszustande auch ein bestimmter Erregungs- grad entsprechen, der jenen eben zu erzeugen, nicht aber zu ver- ändern vermag: BC wird sich zusammenziehen bis dieser Zustand erreicht ıst: es kann dieser aber im besten Falle der Ausgangslage entsprechen. Dass dies nicht genügt, um die normale Loko- motion zu erklären, bei der energische Kontraktion (von BC nicht erreichbar) ausgiebiger Dehnung folgt (in AB wegen der mangel- haften Kontraktion von BC nicht zu erreichen), liegt auf der Hand: Nach einigem Hin- und Herschwanken vielleicht würde die ge- samte Muskulatur in Kontraktion verharren, die am stärksten bei A, am schwächsten bei € wäre. Zur Erklärung der Lokomotion müssten wir ganz andere Gesetze heranziehen. 2. Ganz anders wird dieses Verhalten, wenn Tonus und Er- regung dergestalt zweierlei sind, dass beispielsweise ein hochgradig auf Erregung hin kontrahierter Muskel arm an Tonus sein kann: Dann und nur dann wird BU imstande sein, nach vermindertem Tonus eine Arbeit zu leisten, deren Amplitude durch den Ausgangs- zustand nicht beschränkt ist. Es wird der gleichbleibende Reiz nicht nur genügen, diesen Zustand wieder herzustellen, sondern der Muskel wird sich über ıhn hinaus zusammenziehen können, da ja der Tonus dauernd geringer, die Erregbarkeit daher dauernd größer ist als zu Beginn des fingierten Versuches. So wird Strecke BC die Strecke AB dehnen können, um dadurch dieser neuerlich das Übergewicht zu verleihen, so dass das Spiel von neuem be- ginnt, wenn ein Tonusausgleich den entsprechenden Erregungs- phasen auf den Fuß folgt. Obwohl ich für diese letztere Annahme schon experimentelle Stützen habe, soll sie uns hier sowenig be- schäftigen als die Frage, ob der Muskel mit geringerem Tonus die Erregung sozusagen vom „refraktären“ Muskel wegsauge, so dass dieser der (an sich unwirksamen) Erregung vorübergehend gar nicht ausgesetzt ist. N Mit anderen Worten: Wenn wir die Lokomotion und ihre Regulierung durch das Zentralnervensystem als unsere eigentliche Aufgabe betrachten, wir aber Erregbarkeit, zu unserem unmittel- baren Vorwurf erwählen wollen, so müssen wir zeigen, dass eın tonusärmerer Muskel mehr Arbeit leistet als ein tonusreicherer, und zwar auch: von dem gemeinsamen Nullpunkte aus berechnet, an dem beide bei gleicher Belastung gleiche Länge aufweisen 150 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. (unserem „Ausgangspunkt“): denn nur unter dieser Bedingung kann die Erregbarkeit zur Erklärung der Lokomotion selbst herangezogen werden. Um dieser Anforderung zu genügen, müssen wir zwei Muskeln mit verschiedenem Tonus, aber genau gleichem Verhältnisse zur Wage beobachten, damit wir sagen können: gleiche Last, also auch gleiche Länge: Wir werden am gleichen Muskel, dessen Verhältnis zur Wage konstant bleibt, die Arbeitsleistung (Zahl der Gramm, um die er sich belastet) bei mehr oder weniger hohem Tonus fest- stellen müssen. Diesen mehr oder weniger hohen Tonus können wir auf verschiedene Weise bedingen, natürlich nicht durch Be- lastung des Muskels, da hierbei die obige Bedingung nicht zu er- füllen wäre. Hingegen leisten folgende Agentien gute Dienste: Wärme, Kokain, auf die Pedalganglien aufgepinselt, starke Reizung, die dem eigentlichen Versuche voraufgeht, vor allem aber: Belastung einer Tierhälfte, während die andere, mit ihr durch das Zentral- nervensystem kommunizierend, dem eigentlichen Versuche dient („Halbtierversuche*). Bei „niederer Belastung‘ des registrierenden Muskels, bedingen alle diese Agentien einen Tonusfall, der sich an der Wage nur sehr wenig dokumentiert. Reize ich nun mit immer gleichen Einzelschlägen, so finde ich, dass nach dem Ein- griffe der (gleiche) Muskel den Wagenzeiger auf eine größere Grammzahl treibt, als vorher: Also auch vom gleichen Nullpunkte an gerechnet, leistet der tonusärmere Muskel mehr Arbeit. Voraus- setzung ist, dass das Tier seines Oerebralganglion beraubt ist, es ist gleichgültig, ob die Pedalganglien zugegen sind oder nicht, ab- gesehen vom „Halbtierversuch“, bei, dem sie ja die Verbindung zwischen beiden Teilen herstellen müssen. 2. B. „Halbtierversuch“ (ohne Oerebralganglion). Reizung des registrierenden Teiles mit Einzelschlägen (Induk- tionsapparat). Belasteter Teil Registrierender Teil Er Er Erreicht nach trägt Einstellung Reizung 5 5 g 30 7 10,3 0 7,9 8 Damit ist der experimentelle Beweis erbracht, dass Strecke BO nach Dehnung dergestalt an Erregbarkeit gewinnt, dass sie sich beı gleichem Reize über ihren Ausgangszustand hinaus zusammenziehen kann. Damit ist aber auch die Möglichkeit gegeben, durch Erregbar- keitsdifferenzen die Lokomotion zu erklären, eine Möglichkeit, von der wir hingegen keinen unmittelbaren Gebrauch machen wollen. Sie soll es aber begründen, dass wir uns im folgenden dem Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. 151 Studium der Erregbarkeit selbst zuwenden, d. h. also wiederum der Regulierung der Erregbarkeit durch die Ganglien. Die Pedalganglien. Bei Reflexerregung spielen die Pedalganglien die gleiche Rolle, wie nach Loeb das einzige Ganglion von Ciona: Das normale Tier weist größere Erregbarkeit auf als das ganglienlose. Diese Er- scheinung ist jedoch zurückzuführen auf die geringere Leitfähigkeit peripherer Netze verglichen mit den zentralen Bahnen. Reizt man nämlich diese letzteren mit und ohne Pedalganglıen, so erhält man stets gleiche Ausschläge, wenn wenigstens die Entfernung der Pedalganglien nicht zugleich den Tonus verändert, Peripherie und Zentrum also sich im „tonischen Gleichgewichte“ befinden. Kurz, die Pedalganglien regulieren die Erregbarkeit nur insofern, als sie den Tonus zu beeinflussen vermögen, von dem ja seinerseits die Erregbarkeit abhängt. In der Tat bedingt schwache Kokainisierung der Pedalganglien, wie wir sahen, nicht nur Tonusfall, sondern auch gesteigerte Erregbarkeit, und es versteht sich fast von selbst, dass nach diesem Versuch, durch Exstirpation oder totale Lähmung des. gleichen Zentrums, die Erregbarkeit fällt. Dieses letzte Re- sultat können wir auch erhalten, wenn wir durch Erregung der Ganglien den Tonus steigern (Kochsalzaufpinselung). Das Cerebralganglion: Haben dergestalt die Pedalganglien keinen unmittelbaren Einfluss auf die Erregbarkeit, so können wir im Üerebralganglion recht eigentlich den Beherrscher von Lokomotion und Erregbarkeit erkennen. Stellt man die Grenze der Erregbarkeit (Minimaler, d. h. eben noch wirkender Strom, gemessen durch Rollenabstand) oder bei gleichbleibendem Reize die Ausschlagshöhe bei einem normalen Tiere fest, und entfernt dann das Cerebralganglion, so ergibt sich unmittelbar darauf nicht nur gesteigerte, sondern anfänglich auch zunehmende Erregbarkeit. 2. B. 1. Erregbarkeit bei Reizung der Bahnen. Normales Tier Grenze der Erregkarbeit bei R. A.!) 3,75 cm Cerebralloses Tier ,, > a Y z 5,25 cm 2. Arbeitsleistung bei Reflexerregung. Einstellung Nach Stromschluss 8 8 r Normales Tier 2 3,6 Cerebralloses Tier 72 7,0 Alle Beispiele entstammen natürlich größeren Zahlenreihen, von‘ denen ein Teil l. e. abgedruckt ist. Es kann uns nicht mehr wundernehmen, dass das Cerebralgang- 1) Aus Opportunitätsgründen verstehe ich unter R. A. den Abstand des äußeren Randes der Primär- vom inneren Rande der Sekundärrolle. Ein Übergreifen beider Rollen findet also gar nicht statt. 152 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. lion, dadurch, dass es Erregbarkeit und Arbeitsleistung zu regulieren vermag, auch einen entscheidenden Einfluss auf die Lokomotion hat; und zwar handelt es sich — wie wir nach obigem ableiten können, um einen normalerweise hemmenden Einfluss. Eine Aplysia, der man das Üerebralganglion exstirpiert hat, verfällt in dauernde lokomotorische Bewegungen, vor allem ihrer Schwimmorgane (Parapodien); eine Bewegung, die sie spontan zu inhibieren nicht imstande ist. Bei einseitiger Operation (Durch. schneidung des Üerebropedalkonnektivs) resultieren ausgesprochene Kreisbewegungen um die normale Seite. So ist solch ein Tier vergleichbar einer Dampfmaschine mit stets geöffnetem Drossel- ventil, welche in der Ruhe durch eine Bremse am Laufen ver- hindert wird!). Dass dieser Einfluss auf die Erregbarkeit ein un- mittelbarer ist, dass er nämlich ohne das Zwischenglied Tonus zustande kommt, geht aus der — uns schon bekannten — Unab- hängigkeit dieses letzteren von jenem Zentrum hervor. Wir haben also 2 Regulatoren der Erregbarkeit kennen ge- lernt, die an sich völlig unabhängig voneinander sind: Den Tonus (der dem Pedalganglion unterstellt ist) und das Cerebralganglion. Wie ee nun diese beiden Herrscher zusammen und wer hat die Suprematie? Wir können in einem Schneckenfuße die Erregbarkeit derart steigern, dass nach neuerlicher Entlastung, trotz Exstirpation des Verebralganglion, ein Rückgang der Erregbarkeit nachzuweisen ist. 7. B. Normales Tier, Ausgangsbelastung 20 g, Grenze der Erregbarkeit bei R.A. 2,5 cm. Gleiches Tier, ohne Gerebrale und auf 2,5g entlastet, Grenze der Erregbarkeit bei R.A. 2,0 cm. (Belastet man nun wieder mit 20 g, so ist bei R. A. 3 cm die en noch nicht erreicht, d. h. aber, beide Regulatoren können ihre Wirkung summieren oder einander entgegensetzen.) Andererseits sind alle jene milden Agentien, mit denen wir haben nachweisen können, dass der ganglien- oder doch cerebral- lose Muskel nach Tonusminderung gesteigerte Erregbarkeit aufweist, auf die Arbeitsleistung (Ausschlagshöhe) des normalen Tieres ohne Einfluss. In der Wärme und ım der Kälte belastet sich bei gleichem Reize der Muskel mit der gleichen Grammzahl, exstirpiert man das Üerebralganglion, so wird in der Wärme, wie wir ja sahen, der Ausschlag größer: Die Erregbarkeit (maximaler Rollen- abstand) und die Steilheit der Kontraktionskurve aber nehmen in der Wärme auch beim Normalen zu. Es ist ganz eigentümlich, mit w eleher Präzision das Cerebralganglıon plötzlich an fast genau 1) Das Cerebralganglion hat außerdem große Bedeutung bei der Aufrichtung des auf der Seite liegenden Tieres. Doch will ich auf dies Verhalten hier nicht eingehen. « Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. 153 der nämlichen Stelle der schnellen Bewegung ein Ende macht, an der vorher — in der Kälte — die träge Kontraktion sistierte. Ja, nicht selten erhalten wir in der Wärme die kleineren Ausschläge, obwohl der Anlauf eine bedeutende Mehrleistung zu versprechen schien. Ganz die nämlichen Ergebnisse liefern „Halbtierversuche“: Ob wir die eine Hälfte belasten oder nicht, solange wir dem Tiere das Öerebralganglion belassen, erhalten wir stets die gleichen Aus- schläge. Es wäre nun gänzlich verkehrt, wollte man annehmen, ledig- lich durch eine Abstufung zwischen dem Eingreifen beider Regula- toren sei es möglich, alle Reaktionen des Tieres zu verstehen. Sie hängen vielmehr in hohem Grade vom mehr oder weniger „aktiven“ Zustande des Cerebralganglion ab. Dieser Zustand ist — soweit sein Einfluss auf die ihm unterstellte Funktion in Frage kommt — vollständig analog den uns schon bekannten „Zuständen“ der Pedal- ganglien. Wieder haben wir die Erscheinung, dass geringe Lähmung (mäßige Dosis Kokain auf das Oerebrale aufgepinselt) die normale Funktion des Ganglion steigert, also die Erregbarkeit noch mehr herabsetzt als in der Norm. Absolute Lähmung hingegen (oder Exstirpation) vernichten jene Funktion, die Erregbarkeit (Arbeits- leistung) steigt; was aber das seltsamste ist: den gleichen Effekt erzielen wir, wenn wir das Cerebralganglion künstlich in „aktiven“ Zustand versetzen, d. h. wenn wir Kochsalzlösung auf das Ganglion aufpinseln. Auch dann steigt die Erregbarkeit, ja es ist wahr- scheinlich, dass sie sogar über diejenige hinausgeht, die dem System I. Ordnung an sich zukommt (umgreifende Wirkung der Ganglien, vgl. oben den Tonus). Denn es handelt sich bei dem Versuche durchaus nicht um eine direkte Erregung vom Üerebralganglion aus: eine solche tritt unmittelbar auf, und muss der ursprünglichen Ruhe Platz gemacht haben, ehe wir unsere Versuche beginnen. Auch um eine Reizsummation im wortwörtlichen Sinne handelt es sich nicht, eine solche würden wir bei den, direkten Reizen wesentlich zugänglicheren Pedalganglien noch viel mehr erhalten müssen. Es nimmt aber im Gegenteil nach Bepinselung dieses Zentrums mit NaCl die Erregbarkeit ab. Ist es uns auch .noch nicht gelungen, ohne Hypothesen die Mechanik der Lokomotion zu erklären, handelt es sich doch um eine Aufgabe, die wir ausdrücklich erst späterhin in Angriff nehmen wollen, so scheint es doch, dass wir die Elemente dieser Mechanik kennen: Den Tonus (Blutdruck) und dessen Beherrschung der Er- regbarkeit („refraktäres Stadium“). Andererseits — und das scheint mir das Wichtigere zu sein — konnten wir einen Einblick in die Regulation des lokomotorischen Apparates durch die Ganglien ge- winnen; 154 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. Bei den Arten, deren Nervennetze hinreichend gut leiten (e. g. Limax variegatus) haben die Pedalganglien für die Lokomotion geringe Bedeutung: Das Wechselspiel zwischen Tonus und Erregung im System 1. Ordnung vollzieht sich auch ohne ihre Anwesenheit, und mit der Annahme, dass diese Zentren den Gesamttonus ın Schranken halten müssen, soll sich innerhalb der Muskulatur die feine Abstufung der Bewegungen entwickeln, deren eine Schnecke fähig ist, mit dieser Annahme dürfte alles gesagt sein. Jene Abstufung aber ıst voll und ganz das Werk des Üere- bralganglion, bedingt durch die Abstufungen seines aktiven Zu- standes. Dieser aber wird zweifellos hervorgerufen durch die Haupt- sinnesnerven, die ın ıhm münden. Und damit scheint mir ein Hinweis gegeben zu sein, auf die Möglichkeit, ein Problem eigen- tümlichen Reizes zu lösen: Dass bei Metazoen nicht Reflexe auf Tropismen, wie man glaubte, diese letzteren hingegen gerade auf Reflexe zurückzuführen seien, ist in der letzten Zeit oftmals hervor- gehoben worden. Das Oberzentrum empfängt den betreffenden Reiz; wie kann nun aber solch ein Oberzentrum einen Reflex be- einflussen, dessen Bahn mit ihm gar nichts zu tun hat? Dass wir es nicht mit der reflexstörenden Funktion eines erregten Ober- zentrums zu tun haben, von der z. B. Goltz spricht, sahen wir schon, da Erregung des Üerebralganglion ja den Reflex im Gegen- teil steigert. Mir scheint, die experimentelle Analyse dieses Zu- sammenhangs ist uns gelungen; einen „Erklärungsversuch“ werden wir weiter unten wagen. Wenn also z. B. Licht erregend auf das Cerebralganglion wirkt, so wird — gleich wie im Experiment, bei dem NaÜl auf das Öerebrale aufgepivselt wurde — der normale, an sich zu schwache Reiz genügen, um das System 1. Ordnung in Bewegung zu setzen. Dieser stets vorhandene Reiz wird ım Schatten durch das Üerebralganglion hingegen wirkungslos gemacht: die Tiere kommen im Schatten zur Ruhe, sind „negativ heliotropisch“, ohne also dass das Licht einen Reflex auszulösen vermöchte. Ich wieder- hole, es sei dies der Hinweis auf eine Erklärungsmöglichkeit, nicht mehr, doch werde ich später auf die Frage zurückkommen. Ich möchte auch in dieser Zusammenfassung nicht versäumen, auf die vierfache Wirkungsweise des Kokain hinzuweisen. Sicher- lich handelt es sich bei der „schwachen Lähmung“ nicht um eine voraufgehende erregende Wirkung, da jegliche Erregung auf die Zentren stets entgegengesetztes Verhalten der Muskeln bedingt. Ich glaube bestimmt sagen zu dürfen, dass folgende 4 Erscheinungen. auf Eigenschaften der Zentren, nicht aber auf je nach Quantität variierende Eigenschaften des Kokains zurückzuführen sind: Auf die Pedalganglien wirken schwache Dosen erregbarkeitsteigernd (tonusvermindernd), starke hingegen erregbarkeitsvermindernd (tonus- steigernd). Umgekehrt wirken auf das Cerebralganglion schwache Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. 155 Dosen dergestalt, dass die Erregbarkeit fällt, starke, dass sie steigt, wobei der Tonus gar nicht beeinflusst wird. Es erübrigt ein Versuch, die im obigen mitgeteilten Erschei- nungen untereinander in kausale Beziehung zu bringen, sie zu „er- klären“. Wir sind fast auf Schritt und Tritt dem Begriffe „Hem- mung“ begegnet, und zwar sowohl einer „Hemmung“ oder Ver- minderung des Tonus, als der Erregbarkeit. Unter Hemmung hat man nun eigentlich die Erscheinung zu verstehen, dass auf Reiz bestimmter Nerven (e. g. Herzvagus) ein vorher bestehender aktiver Zustand vermindert wird. Man hat versucht (Literatur vgl. Original- arbeiten) auch bei den Schnecken die dargetanen Hemmungs- erscheinungen in der Art zu erklären, wie man sich die Herzvagus- wirkung vorstellte. Danach waren die Bahnen (oder Nerven) der Schnecken, soweit sie zentrifugal leiteten, aus hemmenden und er- regenden Fasern zusammengesetzt; danach war ferner der Tonus nichts als der mechanisch vom Muskel beibehaltene, durch Er- regung erzeugte, durch Hemmung zu lösende Verkürzungszustand des Muskels; auch die Erregung wurde nach dieser Annahme durch zentrifugale Hemmung vermindert und vernichtet. Mir scheint, diese Annahmen lassen sich mit den gefundenen Tatsachen nicht in Einklang bringen: Vorab haben zentrifugale Hemmungsfasern sich nicht nachweisen lassen. Jeder Reiz einer Bahn oder eines Ganglion bedingt am Apparate messbare Ver- kürzung, bei beliebiger Reizintensität, und es ist doch nicht anzu- nehmen, dass bei einem System, dessen Hauptaufgabe Hemmung ist — wie wir sahen — die erregenden, nicht aber die hemmenden Fasern — vorherrschen. Würden die Pedalganglien „Hemmungszentren“ für den Tonus sein, so wäre nicht einzusehen, warum dessen schwache Lähmung Tonusfall, seine Reizung oder seine Entfernung aber Steigerung bedingen sollte. Vielleicht wird man sagen, das Kokain und das Kochsalz wirken nur auf das, sicher gleichfalls vorhandene erregende System der Pedalganglien. Gut. Aber dann muss unter Kokain- wirkung auch das hemmende System dominieren, ja schließlich einzig übrig bleiben und Reizung der Pedalganglien unter Kokain- wirkung müsste unbedingt Tonusfall zur Folge haben: Das Gegen- teil ist der Fall; auch dann erhalten wir bei allen möglichen Variationen der Reizintensität und der Giftwirkung stets nichts oder Kontraktion. Der „Halbtierversuch“* würde nach der Theorie von zentri- fugalen Hemmungsnerven sagen: hohe Belastung, also hoher Dehnungsgrad einer Hälfte bedingt einen Hemmungsreflex ın der anderen. Der Tonusversuch mit Hochbelastung würde dagegen sagen: Hoher Grad von Dehnung bedingt wenigstens im gleichen Muskel 156 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. einen Reflex, demzufolge der Verkürzungsgrad höher ist, als wenn wir durch Ganglienexstirpation den Reflex unmöglich gemacht haben. Beide Resultate scheinen sich aber in etwa zu widersprechen: im besten Falle erhielten wir zwei komplizierte Mechanismen, deren Wirkung sich zum größten Teile gegenseitig annulieren würde. Warum sollte sich ferner ein gedehnter Muskel über seine Aus- gangslage, bei unverändertem Reize, zusammenziehen können? Mit der Ausgangslage hat er seinen alten „Tonus“, der ja nichts ist als ein Ver- kürzungsgrad auf Erregung, erreicht und sollte doch refraktär sein. Tatsächlich lässt sich aber auch experimentell zeigen, dass Verkürzung auf Erregung und tonische Verkürzung wesensverschieden sind. Ganz analoge Verhältnisse haben wir ja auch für das Öerebralganglion und seine Beeinflussung der Lokomotion kennen gelernt: Gleiches Verhalten auf Reize hin, gleiches Verhalten gegenüber Giften, ein Verhalten, das uns zur gleichen Argumentation veranlasst. Be- lassen wir es bei dieser (nicht erschöpfenden) Argumentation; mir scheint, sie zwingt uns, davon abzusehen, die dargetanen Erschei- nungen auf echte, d. h. zentrifugale Hemmung zurückzuführen. Wenn die Hemmung nicht durch eine zentrifugale Bewegung zu- stande kommt, muss sie in zentripetaler Richtung verlaufen, denn um eine Bewegung, um ein „Geschehen“ handelt es sich unbedingt. Das klingt dem Wirbeltierphysiologen befremdlich. Man überlege aber folgendes: Wo wir durch Dehnung oder Vergiftung!) in einem Teile ein Minimum erzeugen, verursacht dieses in allen Nachbar- teilen ebenfalls ein solches, und umgekehrt. Denken wir uns das Nervensystem unserer Objekte erfüllt mit einer uns wesens- unbekannten Energie. Ihr statisches Potential in den motorischen Nervenenden etwa ist stets proportional dem Muskeltonus (es soll uns die Frage, wie das möglich sei, hier nicht beschäftigen). Wahr- scheinlich auf reflektorischem Wege erzeugt, würde dieses Potential stets ein zu hohes sein, stünde das System I. Ordnung nicht mit dem Pedalganglion in Verbindung, das stets ein minderes Potential aufweist. Unsere Energie aber folgt dem für alle leitbaren Energien gültigen Gesetz vom Ausgleiche, auf Grund dessen also stets Energie nach den Pedalganglien abfließt, entsprechend den experimentell dargetanen Erscheinungen. Den (bipolaren) Ausgleich beweisen also die Versuche, bei denen wir im Zentrum künstlich das Potential veränderten: Verminderten wir es, so erfolgte ein stärkerer Ausgleich (Tonusfall); vermehrten wir es, oder entfernten (lähmten) wir das Zentrum, so konnte nur geringerer, oder gar kein Ausgleich erfolgen: der Tonus stieg. Mir scheint, nach diesem Gesetze würden sich alle uns be- 1) Wir können im „Halbtier“tonusversuch die eine Seite, anstatt sie zu be- lasten, schwach kokainisieren, mit gleichem Resultat. Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. 157 kannten Erscheinungen des Tonus leicht erklären lassen, oder richtiger: gilt das Gesetz, so muss sich der Schneckenmuskel derart verhalten, wie die Versuche es gezeigt haben: Dass bei Belastung der normale Muskel schneller an Tonus einbüßt als der ganglien- lose, das braucht nach obigem nicht erklärt zu werden. Nun aber — nämlich nach Hochbelastung — kommt der Punkt, an dem Zentrum und Peripherie in „tonischem Gleichgewichte“ sich be- finden. Das wird dasjenige Stadium sein, in dem normales und ganglienloses Tier gleichschnell sich entlasten und in dem Exstir- pation der Pedalganglien auf den Tonus keinen Einfluss hat. Als drittes Stadium muss ein, dem Ursprünglichen umgekehrtes Ver- hältnis eintreten: die Peripherie hat das geringere Potential, wird also nach dem Ausgleichsgesetze von den Zentren gespeist, stellt sich daher höher ein als das System I. Ordnung und verliert rapid an Tonus, wenn wir nun die Pedalganglien exstirpieren. Die Verhält- nisse, die wir bei Entlastung eines vorher belasteten Muskels fanden, sind genau die gleichen, es hieße den Raum einer Zeitschrift miss- brauchen, wollte man diese, oder gar die „Halbtier“versuche im einzelnen erklären. Ganz analoge Verhältnisse ergeben sich für die Funktionen des Cerebralganglion, die wir vorab ganz unabhängig vom Tonus betrachten wollen. Von den Rezeptoren des Systems Il. Ordnung geht dauernd Erregung aus, welche gleich dem Tonus dem ee vom Aus- gleiche gehorcht, mit dem Unterschiede, dass Erregung nicht die statische, sondern die dynamische Form einer uns unbekannten Energie ist. Stets von den gleichen Organen (den Rezeptoren) ausgehend, läuft sie auch innerhalb derselben Bahn stets nur in einer Richtung. Einen bipolaren Ausgleich — gleich dem Tonus — braucht daher diese Energieform nicht zu haben; weder zwingen uns Experimente, noch Argumente zur Annahme eines bipolaren Aus- gleiches: Das Ausgleichsgesetz imponiert also hier als ein Gesetz „loci minoris resistentiae‘“ (größtes Gefälle), weil für die Erregung die Be- wegung als gegeben gilt, und nur die Richtung erklärt zu werden braucht. Dass dieses Gesetz im Prinzip gleich dem Ausgleichsgesetze ist, dürfte einleuchtend sein, besonders wenn man das Gesagte auf andere Energiearten überträgt: Die Gesetze des Tonus a ver- gleichbar denjenigen, die man etwa an verschiedenen elektrischen Konduktoren, mit verschiedenem Potential, die untereinander leitend verbunden sind, würde beobachten können. Hingegen sind die- jenigen Vorgänge der Erregung analog, die in komplizierten Strom- leitungen stattfinden. Denn — auf unser Objekt zurückkommend — der Strom, der in System I. Ordnung kreist, geht, wenn das Ge- fälle nach den motorischen Nervenenden geringer ist als nach dem Zentrum (Cerebralganglion), zu diesem, um daselbst vernichtet zu 158 Jordan, Die Leistungen des Zentralnervensystems bei den Schnecken. werden. Das Gefälle zwischen Peripherie und Cerebralganglion ist abhängig von seinem „Potential“, wobei ich jedoch bemerke, dass ich nicht weiß, in welchem Verhältnis dieses zum „tonischen Potential“ steht. Sicher ıst, dass es den gleichen Gesetzen gehorcht: Es lässt sich durch schwache Kokainisierung vermindern, dann ist das Ge- fälle zum Zentrum größer und es geht dem System I. Ordnung noch mehr Erregung verloren, daher geringere Reaktion; umgekehrt, wenn wir durch Kochsalz das Potential steigern (Hypothese von den Tropismen) oder durch Entfernung oder Lähmung des Ganglion, verhindern, dass dorthin überhaupt Energie abfließt. Man sieht, eine Reihe von Fragen sind ın dieser Hypothese offen gelassen; neben der Energievernichtung, vornehmlich das Verhalten zwischen tonischem Potential und Erregung in Zentrum und Peripherie. Es wäre auch kaum schwer gewesen, hierfür Er- klärungsmöglichkeiten zu erdenken, allein es handelt sich hier um Fragen, die dem Experimente noch zugänglich sind, darum bitte ich, in einer späteren Untersuchung dieses zu Worte kommen lassen zu dürfen, ehe wir ans „Erklären“ gehen. Ich glaube dies mit um so größerer Zuversicht sagen zu können, als ich schon jetzt über Befunde verfüge, die über den Weg dieser Untersuchung kaum mehr einen Zweifel lassen: Befunde, die sich auf die Beein- flussung des Tonus durch Erregung und des Zustandes im Üerebral- durch das Pedalganglion beziehen. Derartige Gesetze haben sich nicht nur für Schnecken auf- stellen lassen. v. Uexküll hat, teilweise vor mir, ähnliches an Echinodermen und Würmern gefunden. Ihm gebührt die Priorität für das Ausgleichsgesetz im Nervensystem niederer Tiere. Und wenn ich hervorhebe, dass ich unabhängig zu ähnlichen Anschauungen (vor Publikation seiner Arbeit über Seeigel)!) gekommen bin, wenn ich bei allen oben mitgeteilten Untersuchungen und Überlegungen möglichst ohne un: der Resultate des ae Korschers vorgegangen bin, so geschah das gewiss nicht, um ihm von dieser a, auch nur ein Atom streitig zu machen: Wenn aber zwei Beobachter unabhängig voneinander durch die Tatsachen gezwungen worden sind, ee von den bisher verbreiteten, Ward Anschauungen zu gewinnen, so wird man ihnen doch keine Vore nenne vorw ren am wenigsten aber die Über- einstimmung dem Zufalle zuschreiben können. Zürich, Januar 1906. 1) v. Uexküll. Die Physiologie des Seeigelstachels. Zeitschr. Biol., Bd. 39, 1900. p. 73—112. Chwolson, Lehrbuch der Physik. 159 O. D. Chwolson. Lehrbuch der Physik, 3. Bd. Die Lehre von der Wärme. Übersetzt von O. Berg. Gr. 8. XI und 985 Seiten. Mit 259 eingedruckten Abbildungen. Braunschweig. Vieweg und Sohn. 1905. Der dritte Band des Ch wolson’schen Lehrbuchs ist von einem anderen Übersetzer verdeutscht worden als die beiden früher an- gezeigten Bände (vgl. Ctbl. XXIII, 544; XXIV, 639), konnte aber trotz- dem erst nach Verlauf eines längeren Zeitraumes veröffentlicht werden, da der Verf. den Text einer eingehenden Umarbeitung (gegen die erste russische Ausgabe) unterworfen hat. Ich will nicht wieder- holen, was ich zur Kennzeichnung dieses Werkes bei Besprechung der früheren Bände gesagt haben. Ich hebe nur hervor, dass gerade die Wärmelehre her vorragende Bedeutung für den Biologen, insbesondere den Physiologen hat, und dass die gründliche und dabei klare Darstellung, welche die neuesten Fort schritte der Physik in experimenteller wie theoretischer Beziehung voll berücksichtigt, dem Belehrung suchenden Physiologen sehr willkommen sein muss. Ganz besonders das achte Kapitel „Grundlagen der Thermo- dynamik“* und das 14. Kapitel „Gleichgewicht. sich berührender Körper. Phasenregel. Lösungen“, in welchem die für die Biologie so wichtigen Erscheinungen der Kryoskopie, des osmotischen Drucks, der Diffusion u. s. w. abgehandelt werden, können durch ihre eingehende Behandlung der theoretischen Grundlage dieser neuen Gebiete der physikalischen Forschung jedem willkommen sein, welcher auf ihnen zu arbeiten hat. Das Studium des Werkes ist nicht eben leicht, zumal die Kenntnis der elementaren Physik und eine gewisse Kenntnis der höheren Mathematik vorausgesetzt wird; die "darauf verwendete Mühe wird aber reichlich belohnt durch den Gewinn reiferer und klarerer Einsicht in schwierige Fragen der theoretischen Physik. J. R. H. Boruttau. Die Elektrizitätin der Medizin und Biologie. Eine zusammenfassende Darstellung für Mediziner, Naturforscher und Techniker. Gr. 8. XI u. 194 Seiten. Wiesbaden. J. F. Bergmann. 1906. Die Elektrizitätslehre hat für die Medizin und die Biologie im allgemeinen eine so hervorragende Bedeutung gewonnen, dass ihre gesonderte, für die Vertreter dieser Gebiete berechnete Dar- stellung gewiss berechtigt ist. Ich glaube aber, dass Herr B. besser getan hätte, die Aufgabe, die er sıch gestellt hat, etwas enger zu begrenzen. Den Technikern gewährt das Buch höchstens einen ungefähren Einblick in die Aufgaben, welche die Verwendung elektrischer Apparate in der Medizin und Biologie an sie stellen, sonst aber werden sie von den Gesetzen der elektrischen Erschei- nungen wohl etwas mehr wissen, als sie aus dem Buche lernen können. Für die Mediziner und Biologen dagegen ist die Dar- stellung der Grundlehren der Elektrizität zu kurz und zu frag- mentarisch geraten, als dass sie aus ihnen wirklich ein wissen- 160 Czapek, Biochemie der Pflanzen. schaftliches Verstehen dieser Grundlehren schöpfen könnten. Eine ausführlicher und mehr didaktisch durchgearbeitete Darstellung hätte dem Zweck sicherlich besser entsprochen. Sie wäre dem Buche zugute gekommen, wenn auch sein Umfang dadurch ein größerer geworden wäre. Gerade weil die in Betracht kommen- den Leser infolge ihrer Vorbildung weder Verständnis für mathe- matische Ableitungen noch gut entwickeltes Anschauungsvermögen für die Auffassung verwickelter Vorgänge mitbringen, ist es not- wendig, ihnen durch nicht zu knappe, präzise und klare Darstellung zu Hilfe zu kommen. Das ist keine leichte Aufgabe, aber sie hat für denjenigen, der ihr gewachsen ist, auch ihren Reiz. J.R. Czapek, F. Biochemie der Pflanzen, II. Bd. Gr. 8. XII u. 1026 S. Jena, Gustav Fischer, 1905. Der vorliegende Band bildet mit 1026 Seiten (einschließlich ausführlicher Register) den Beschluss des Werkes, das in jeder Hin- sicht als ebenso verdienstvoll wie mühevoll bezeichnet werden muss. Wenn Czapek im Vorwort meint, „dass es für den einzelnen fast ausgeschlossen ıst, das hier gesteckte Ziel in befriedigender Weise zu erreichen“, so darf ihm die Kritik getrost zugestehen, dass er ein großes und schwieriges Unternehmen in nahezu vollen- deter Weise durchgeführt hat. Bei der sich von Jahr zu Jahr steigernden Anhäufung wissenschaftlichen Materials ist ein Hand- buch wie dieses von unschätzbarem Wert; und das gerade in der Biochemie, welche doch, den mehr und mehr zurückgedrängten gegnerischen Meinungen zum Trotz, als der Kern und Grundstock aller Lebenserscheinungen angesehen werden muss, und zugleich als der einzige Weg, von dem aus wir vielleicht zu einer wissen- schaftlichen Lösung der Lebensrätsel gelangen können. In der Einteilung des Stoffes wechseln chemische und physio- logische Gesichtspunkte miteinander ab, doch in einer Weise, wie sie geboten war ım Interesse der Übersichtlichkeit für den Physio- logen. Der Band beginnt mit der allgemeinen und speziellen Bio- chemie der Eiweißkörper, denen sich die stickstoffhaltigen Endprodukte anschließen. Darauf folgt die Darstellung der Sauerstoffresorption (Atmung, Gärung u. Ss. w.), weiter das Vorkommen zyklischer und azyklischer stickstofffreier End- produkte, und die Rolle der Mineralstoffe im pflanzlichen Stoffwechsel. Den Schluss bildet ein Kapitel über chemische Reizwirkungen. Aus der “Darlegung des Bekannten ergibt sich der Ausblick auf noch Unbekanntes; so dient das Werk gleichzeitig als An- regung und als Grundlage zu weiteren Forschungen. Hugo Fischer (Berlin). Verlag von Geote Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. XXYVI.Ba. 15. März 1906. 18 6. Inhalt: Loew, Bemerkungen zu W. Burek’s Abhandlung über die Mutation als Ursache der Kleisto- gamie (Fortsetzung). — W. Biedermann: Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln, — Kaserer, Über die Oxydation des Wasserstotfes und des Methans durch Mikroorganismen. — Müller-Pouillets Lehrbuch der Physik und Meteorologie. Bemerkungen zu W. Burck’s Abhandlung über die Mutation als Ursache der Kleistogamie. Von E. Loew. (Fortsetzung..) Eine weitere Analogie zu den von Burck angeführten Fällen von Araceen (Homalomena) mit stets verschlossener Spatha, bei denen die Bestäubung der Blüten trotzdem zustande kommt, bietet ein von H.G. Hubbard!) der Blüteneinrichtung nach beschriebenes, aber sonst unbekanntes Philodendron, in dessen geschlossene Spatha Pärchen einer Nitidulide (Maerostola) der Begattung und Brut- versorgung wegen eindringen; die sich entwickelnden Larven leben von dem Pollen der inzwischen herangereiften, männlichen Blüten; der entwickelte Käfer verlässt dann, mit Pollen beschmiert, die schließlich faulenden Blütenstände und dringt in eine frische, ge- schlossene Spatha ein, wobei er die stark protogynen, weiblichen Blüten bestäuben muss?). 1) Insect fertilization of an Aroid plant. Insect Life Vol. VII (1895), p. 340. 2) Die in dieser Schilderung bedenklich auffallenden Lücken habe ich in meiner Bearbeitung von Knuth’s Blütenbiolog. Handbuch III, 1 (1904), S. 90 ausdrück- lich hervorgehoben. XXVl. 11 162 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. Jedenfalls hätte die längst bekannte Blüteneinrichtung von Fieus, deren Rezeptakeln bei manchen Arten!) an der Mündung durch die Ostiolarschuppen so dicht verschlossen werden, dass die den Pollen übertragenden, weiblichen Gallwespen nur unter Ver- lust ihrer Flügel einzudringen vermögen, von Burck berücksichtigt werden müssen, wenn er annimmt, dass Blütenverschluss immer Kleistogamie, d. h. Selbstbestäubung bei verschlossen Türen be- dingt. Denn erstens gibt es für gewisse Bestäuber keine ver- schlossenen Türen, und zweitens sind geschlossene Blüten nicht notwendigerweise autogam! Als Beispiel einer geschlossenblütigen Pflanze ist endlich die von älteren, nordamerikanischen Forschern, wie Beal, Asa Gray mehrfach erwähnte Gentiana Andrewsii anzuführen, deren Blüten sich nach dem übereinstimmenden Zeugnis neuerer Beobachter wie Ch. Robertson?) und R. J. Webb?) niemals öffnen, Nektarsekretion besitzen und von Hummeln bestäubt werden, die die übereinander- gefalteten Lappen der Krone auseinander biegen, um den Honig zu gewinnen und dabei wegen der Blütenkonstruktion Xenogamie herbeiführen müssen, sobald sie das Verfahren an mehreren Blüten hintereinander wiederholen. Robertson (a.a. 0.) bringt diese Ge- wohnheit der Bestäuber mit den Blumeneinbruchsgewohnheiten ge- wisser Bombus-Arten in Zusammenhang und meint, dass, wenn eine Blüte den Honig zu früh absondert, es von Vorteil sein könne, unnütze Gäste durch Blütenverschluss abzuhalten und nur geeignete Besucher zuzulassen. Wenn letztere Vorstellung auch als unbeweisbar keine Geltung haben kann, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass die Blüte von Gentiana Andrewsii — wenigstens unter Umständen — auf allo- gamem Wege bestäubt und befruchtet wird, obgleich ihre Krone gewissen Bestäubern gegenüber ebenso verschlossen bleibt, wie es für die geschlossenblütigen, aber trotzdem bastardbildenden Arten von Nidularium durch Ule gezeigt worden ist. In allen diesen eben aufgezählten Fällen liegen also Blüten- einrichtungen ganz ähnlicher Art vor, wie sie Burck für Myrme- codia tuberosa und gewisse Anonaceen, Äraceen u. s. w. beschrieben hat; beide Blüten besitzen die gleiche Art des Blütenverschlusses, ähnliche Allogamie und erst nachträglich eintretende Selbstbestäu- bung, sowie den gleichen Mangel eigentlicher Hemmungsbildungen. Allerdings sind in den von Burck aufgefundenen Fällen die zu- gehörigen Bestäuber bisher unbekannt geblieben. Trotzdem liegt 1) Vgl. D.Cunningham. On the phenomena of fertilization in Ficus Rox- burghü. Caleutta 1859. Von mir ausführlich in Knuth’s Handbuch (a. a. O. S. 236— 235) besprochen. 2) Transaet. St. Louis Acad. Science V (1888--1891), p. 577—578. 3) Americ. Naturalist XXXII (1898), p. 265. Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 163 der Verdacht möglicher Fremdbestäubung auch bei ihnen vor. So beschreibt Forbes!) die Blüten von Myrmecodia tuberosa als so loeker geschlossen, dass sie sich bei Berührung öffnen. Auch sind bei manchen Anonaceen die Eingangstore, die an der Basis der inneren Kronblätter zum Andröceum und Gynäceum führen, viel- leicht für Käferarten zugänglich, die die äußeren, dicht über den basalen Löchern liegenden Kronblätter zu durchbeißen vermögen. ‚Endlich sind tatsächlich Käfer als Bestäuber von südamerikanischen Anonaceen, wie z.B. Anona Malmeana R.E. Fr. durch Malme?) nach- gewiesen. Diese Andeutungen mahnen mindestens zur Vorsicht, solche geschlossenen Blüten nicht ohne weiteres als für ausschließ- liche Selbstbestäubung eingerichtet zu betrachten. Da Ule?) für die von ihm bei Purpurella und bei Bromelia- ceen gefundenen Blüten den Namen kleistopetal vorgeschlagen hat, der geschlossene Blüten mit allogamer Einrichtung bezeichnen soll, habe ich keinen Anstand genommen, diese Bezeichnung auf die ganze Gruppe von konstant geschlossenen Blüteneinrichtungen anzuwenden, bei denen 1. die Blütenorgane nicht durch deutliche Hemmungsbildungen getroffen sind; 2. die Selbstbestäubung nicht frühzeitig und zwangsmäßig, sondern erst nachträglich — bei den Anonaceen beim Welken und ‚Abfallen der Krone, bei der protandrischen Myrmecodia tuberosa durch sekundäres Vorüberstreifen der Antheren an den Narben — eintritt; 3. deutliche Merkmale von allogamer Einrichtung, wie Nektar- absonderung, Dichogamie, weiter Abstand zwischen Narbe und Antheren u. dgl. vorhanden sind, so dass in einer Reihe von Fällen wie bei Bromeliaceen, Purpurella, Gentiana Andrewsii, ferner in ausgedehntem Umfange bei Arten von FVeris auch tatsächlich Fremd- bestäubung der für gewisse Bestäuber geschlossenen, für andere aber zugänglichen Blüte vollzogen wird; 4. die chasmogame Nebenform fehlt, so dass der Blüten- verschluss zum Artcharakter gehört. Auf den nicht glücklich gewählten Namen Kleistopetalie®) kommt wenig an, viel aber auf die dadurch zum Ausdruck gebrachte und auch von Burck selbst hervorgehobene Unter- scheidung zwischen zwei im Blütenverschluss zwar äußerlich über- 1) A Naturalist’s Wanderings in the Eastern Archipelago, p. 80-81. 2) Nach Rob. E. Fries: Die Anonaceen der zweiten Regnell’schen Reise. Arkiv för Botanik. Stockholm. Bd. 4, Nr. 19 (1905), p- 15—16. 3) Berichte Deutsch. Botan. Gesellsch. XIV (1896), S. 163. 4) Vielleicht ließe sich Kleistanthie dafür setzen, da diese Bezeichnung auf Formen wie Homalomena, Leersia, Gerbera Anandria, Ficus u.a. besser passt als der von den Kronblättern hergenommene Ausdruck Kleistopetalie. 2 164 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. einstimmenden, aber in ihren sonstigen Einrichtungen und in ihrem ökologischen Wesen grundverschiedenen Pflanzengruppen. Burck hält nach These 1 seiner Abhandlung daran fest, als kleisto- game Pflanzen solche zu bezeichnen, „deren Blüten alle oder zum Teil den Insekten und dem Wind verschlossen sind, so dass sie sich nur selbst bestäuben können.“ Wenn also eine geschlossene Blüte eines bastardbildenden Nidularium tatsächlich auf allogamen Wege durch Hummeln oder Kolibris bestäubt wird, dürfte sie Burck nach seiner Erklärung nicht als kleistogam gelten lassen, obgleich sie im übrigen die größte ökologische Übereinstimmung mit den von ıhm selbst als kleistogam beschriebenen Blüten- einrichtungen von Myrmecodia u. a. aufweist. Freilich sind bei diesen letzteren die Bestäuber bisher nicht beobachtet; auch ist nicht tatsächlich Fremdbestäubung, sondern nur spät eintretende Autogamie wahrgenommen worden. Aber da auch deutliche Ein- richtungen für Allogamie nicht zu leugnen sind, hätte bewiesen werden müssen, dass die geschlossen bleibenden Anonaceen- und Myrmecodia-Blüten unter allen Umständen nur mit eigenem Pollen fruchtbar, für den Pollen aller anderen Individuen gleicher Spezies jedoch steril sind. Solange Burck diesen Beweis durch direkte Bestäubungsversuche nicht erbringt, muss ich bei meiner bisherigen, in dem blütenbiologischen Handbuch von Knuth (III, 1 u. 2) durch- geführten Auffassung stehen bleiben; nur auf jenem Wege ließe sich meiner Ansicht nach die Veranlagung der kleistopetalen Blüten zu ausschließlicher Selbstbestäubung nachweisen! Das gegenseitige Verhältnis der offenen und der geschlossenen Blüte bei den echt kleistogamen Pflanzen. Betrachten wir jetzt die Beziehungen der chasmogamen Blüte zur kleistogamen. Erstere wird von Burck wegen ıhrer häufig zu beobachtenden Sterilität als ökologisch ziemlich bedeutungslos hin- gestellt, während er andererseits zu beweisen sucht, dass „nur eine selbstbefruchtete, chasmogame Pflanze kleistogam werden“ konnte. Schon in diesen Annahmen liegen mancherlei Widersprüche. Bei vollkommener Sterilität der chasmogamen Blüten konnte die be- treffende Pflanze überhaupt nicht zu kleistogamen Blüten gelangen, wenn sie solche nieht von vornherein in ihrer ersten Urgeneration schon besaß, da sie ja aus den chasmogamen Blüten keine Samen zu bilden vermochte. Nimmt man umgekehrt ausreichende Fruchtbarkeit der ursprünglichen, nur chasmogam blühenden Pflanze an, konnte diese dann ohne die Hilfe der kleistogamen Blüten- form viele Generationen hindurch reichlich genug Samen produ- zieren, so dass wieder wie auch bei der vorigen Annahme der eigentliche, ökologische Grund des Kleistogamwerdens unerklärt bleibt. Etwas plausibler wird die Sache, wenn wir von vornherein Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 165 für die ursprünglich nur offenblütige Pflanze sowohl autogenetische Fortpflanzung durch Selbstbestäubung als heterogenetische durch Fremdbestäubung — also einen ähnlichen, von äußeren Lebens- bedingungen abhängigen Wechsel der Fortpflanzungsart annehmen, wie er tatsächlich bei zahlreichen, jetzt lebenden Pflanzenarten be- obachtet wird. Aus diesem Zustande heraus konnte sich dann durch den Einfluss äußerer Faktoren vielleicht eine vorwiegend oder ausschließlich allogam eingerichtete, offene Blütenform und daneben eine ausschließlich autogame, geschlossene Form auf gleichem Stock herausbilden; eine Analogie dazu bieten die auf getrennten Stöcken allogam und autogam eingerichteten Pflanzen, bei denen es aber wie bei Viola tricolor mit der Nebenform arvensis nicht zur Kleistogamie kommt, weil die ausschließlich autogam eingerichtete Blüte die kleistogame Form vollkommen ersetzt. — Aber absolut zwingend ist auch diese Voraussetzung nicht! Man könnte z. B. den phylogenetischen Ursprung der beiden Formen in eine Urzwitterpflanze mit geschlossenen oder nur periodisch sich öffnenden Blüten, sowie mit frühzeitig und zugleich empfängnis- reifen Bestäubungsorganen verlegen, aus der sich dann eine offene, allogame Form durch ungleichzeitiges Reifen der Antheren bezw. der Narben in ähnlicher Weise herausdifferenziert hätte, wie die männlichen und weiblichen Blüten zahlreicher Angiospermen aus einer ursprünglichen Zwitteranlage, während die geschlossene und streng autogame Zwitterblüte ebenfalls erhalten blieb. Es wäre dann die kleistogame Blüte die phylogenetisch ältere Form und die mit progressiven Merkmalen ausgestattete, chasmogame die Jüngere, wobei sich das entwickelungsgeschichtliche Vorangehen der geschlossenen vor der offenen Blüte als weiteres Beweisstück heran- ziehen lässt. Gewonnen wird in unserem Fall durch solche hypothetischen Vorstellungen nur wenig, auch wenn man dabei etwa mit der An- nahme von gesonderten Vererbungsanlagen, mit dem Merkmalpaar: chasmogam-kleistogam, dem Spaltungsgesetz Mendel’s und der Prävalenzregel operieren wollte, deren Gültigkeit für den vorliegen- den Fall doch erst versuchsmäßig bewiesen werden müsste! Burck lässt sich auf eine so schwierige Untersuchung auch gar nicht ein, sondern wägt nur die Vorteile der chasmogamen und kleistogamen Blüteneinrichtung gegeneinander — doch nicht einmal mit aus- reichender Objektivität — ab. Es zeigt sich dies besonders in seinen beiden Behauptungen, dass „Pflanzen, welche einen Vorteil aus der Kreuzung ziehen können, keine kleistogamen Pflanzen werden können“, und dass „umgekehrt eine ‚Kreuzung den Nach- kommen kleistogamer Pflanzen keinen Vorteil bringt“. Legitime Kreuzung zieht immer, sofern sie von Befruchtungserfolg begleitet ist, heterogenetische Nachkommenschaft nach sich und muss daher > 466 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. im physiologischen Sinne für die chasmogamen Blüten einer im Blütenschluss veränderlichen Pflanze genau die gleiche Wirkung und Bedeutung haben wie für die offenen Blüten einer nur chas- mogam blühenden Pflanze, da in beiden Fällen heterogenetisch er- zeugte Nachkommen entstehen müssen. Auch können sich legitime Kreuzung und reine Selbstbestäubung als gegensätzlich niemals phy siologisch vertreten, ebensowenig wie die unkın einer weib- lichen Blüte durch die einer männlichen ersetzt werden kann. Die Frage, ob die aus einer legitimen Kreuzung hervorgegangenen Nachkommen den aus Inzucht unter fortgesetzter Selbstbestäubung entstandenen Abkömmlingen in gewissen Eigenschaften wie Wuchs- kraft, sexueller Stärke u. dgl. voranstehen, wie dies aus den Züchtungsergebnissen Daran in einer Reihe von Fällen, aber durchaus nicht in allen, hervorgeht, hat nur Bedeutung, Sobald es sich um größere oder kleinere Chancen der Erhaltungsfähigkeit einzelner Formen im Kampfe um das Dasein handelt. Und da zeigt gerade bei den chasmogam-kleistogam blühenden Pflanzen eine einfache Vergleichung, dass die chasmogame Blüten- und Be- stäubungseinrichtung mindestens in gleichem Grade durch sehr Sehlreiche Generationen hindurch wie die kleistogame, sich erhalten hat, so dass von einem Unterliegen oder Ausgemerzt- werden der ersteren Form, trotz der in ihrer Natur begründeten, schwächeren Fruchtbarkeit!) durchaus nicht die Rede sein kann. Burck verkennt völlig die physiologische Ähnlichkeit zwischen einer ausschließlich sich selbst anmlon offenen und einer ebensolchen geschlossenen Blüte, die beide autogenetischen und also hinsichtlich der Art der Vererbung gleichwertigen Samen liefern ebenso übersieht er den großen Abstand, der die geschlossene Blütenform von einer offenen, aber zugleich allogam und autogam eingerichteten Blüte trennt. Letztere produziert, wenn sie über- nn normalen Lebensbedingungen unterliegt und dann ihrer Be- stäubungseinrichtung hend legitim ac) und befruchtet wird, stets auch eine mehr oder weniger große Zahl von hetero- _ genetischen Nachkommen, die in ihren Eigenschaften gewisse, wenn auch äußerlich nicht sofort erkennbare Unterschiede gegenüber dem autogenetisch entstandenen Nachwuchs besitzen. Für das Leben der Einzelart unter natürlichen Lebensbedingungen kann der heterogenetische Weg der Fortpflanzung ökologisch vorteilhafter sein, als der autogenetische oder auch umgekehrt — daher ja der 1) Die Fruchtbarkeit der allogamen Form ist im allgemeinen deshalb schwächer als die der rein autogamen, weil das Eintreten von Bestäubung und Befruchtung bei ihr unsicherer ist, als bei rein autogamer Blüteneinrichtung; andererseits kann sie, wenn wirklich Bestäubung und Befruchtung erfolgt, größere Samen und kräf- tigere Nachkommen liefern, als die ausschließlich autogam bestäubte Blüte, obgleich auch dies nicht in allen Fällen zutrifft. Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 167 außerordentliche Wechsel und das vielfache Ineinanderfließen der Bestäubungseinrichtungen bei den verschiedenen Arten der Blüten- pflanzen! Aber wir dürfen, ohne den Tatsachen ins Gesicht zu schlagen und trotz Darwin’s gegenteiliger Versicherung, nicht ein Gesetz formulieren, nach welchem eine den Blütenpflanzen von ihren Uranfängen aus den höheren Sporenpflanzen mitgegebene Befruchtungsart mit Notwendigkeit ‘die entgegengesetzte, ebenso gleichberechtigte aus dem Felde schlagen muss. Die Konsequenz der Anschauung Burck’s wäre die, dass es einerseits keine kleisto- gam blühende Pflanze mit ehasmogamen, selbststerilen Blüten geben könnte, obgleich er selbst solche Fälle, z. B. bei Ruellia be- schreibt, andererseits auch die autogamen, selbstfertilen und offen- blütigen Pflanzen sich längst sämtlich in kleistogam blühende — als der ökologisch allein vorteilhaften Form — umgewandelt haben müssten. Und doch gibt es bekanntlich eine ganze Anzahl solcher auf der Stufe ausschließlicher Autogamie verharrender Pflanzen! Ein instruktives Beispiel dafür bietet die von mir!) in Ihrer Bestäubungseinrichtung näher untersuchte Vieia lathyroides. Hier treten die Reduktionen der Blütenorgane — wie z. B. die mona- delphische Ausbildung der Staubblätter im Gegensatz zur dia- delphischen anderer stärker allogam eingerichteter Vicia-Arten, der Verlust der Honigsekretion und der Verbindungseinrichtungen zwischen Flügeln und Kiel, das frühzeitige Ausstäuben der Polien- zellen und ihr Auskeimen auf den in nächster Nähe der Antheren befindlichen, empfängnisreifen Narben an der ganz normal ge- stalteten und buntgefärbten, offenen Blüte hervor. Diese ist nur um einen kleinen Schritt von Kleistogamie entfernt; würde die Selbstbestäubung in einem noch früheren Stadium der Blüten- entwickelung regelmäßig eintreten, in dem die umschließenden Blütenorgane nicht weiter wüchsen, der Kiel geschlossen bliebe und das Hervortreten der Geschlechtssäule bei Druck auf.die Carina verhindert wäre, würde niemand an der kleistogamen Natur?) der Blüte zweifeln. Wie aber echt kleistogame Blüten in diesem Falle aussehen müssten, lässt sich durch Vergleich der Blüten von Vicra lathyroides mit den aus unterirdischen Knospen hervorgegangenen Blüten nahe verwandter, amphikarpischer Vieia-Arten wie V. amphi- carpa, V. pyrenaica und V. angustifolia leicht feststellen. V. lathy- roides könnte nur dann zu einer echt kleistogamen Pflanze werden, wenn sie die Fähigkeit zur Anlage unterirdischer Sprosse und Blüten in gleicher Weise besäße, wie die amphikarpischen, ver- wandten Vicia-Arten. Da dies nicht der Fall ist, unterbleibt bei ıhr 1) Flora 1899, S. 397—--463. 2) Die Blüte von Vieia lathyroides ist von einem ungenannten Verfasser in der Zeitschr. d. Naturw. Vereins der Provinz Posen (V. Jahrg. 1898, S. 20—21) als kleistogam beschrieben worden. 168 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“, trotz der ganz augenscheinlichen Reduktion der chasmogamen Blüte und trotz ıhrer ausschließlichen Selbstbestäubung der letzte Schritt zur Kleistogamie: der Blütenschluss. Es sind somit zum Kleistogam- werden selbst einer rein autogamen Blüte immer noch innere, spezifische Anlagebedingungen nötig, die von Art zu Art wechseln und von äußeren Lebensbedingungen unabhängig erscheinen. Im Gegensatz dazu hat eine große Zahl anderer Pflanzen — ganz ähnlich wie die offenblütigen Pflanzen mit allogamer und autogamer Blüte auf getrennten Stöcken — eine Differenzierung in eine offene, allogam-autogame und eine ausschließlich sich selbst bestäubende, geschlossene Blütenform erworben, wobei regelmäßig die mehr rezessive Form der zeitlichen Anlage nach früher auf- tritt, als die mehr progressive, ohne dass eine Abänderung dieser Entwickelungsfolge ausgeschlossen ist. Es geschieht dies unter deutlichem Einfluss der Lebenslage und des umgebenden Mediums auch bei denjenigen Pflanzen, bei denen die Kleistogamie gewohn- heitsmäßig und scheinbar unabhängig von äußeren Umständen auf- tritt. Die von Vöchting, Goebel und anderen Forschern ange- stellten, direkten Versuche sind ein schlagender Beweis dafür und wenn Burck die Unabhängigkeit der echt kleistogamen Blüte von äußeren Faktoren hätte beweisen wollen, hätte er zunächst die Un- zulänglichkeit der betreffenden Versuche darlegen müssen. Aber auch vom ökologischen Standpunkte aus lässt sich eine Abhängig- keit der echt kleistogamen Pflanzen von der gesamten Lebenslage nachweisen, wenn man die verschiedenen, spezielleren Lebens- verhältnisse und ökologischen Ausrüstungen der kleistogam blühen- den Pflanzenarten kategorienweise miteinander vergleicht. Wir finden z. B. die kleistogame Blütenform neben der chasmogamen verbreitet bei Pflanzen, die die Fähigkeit zu geokarpischer Frucht- und Samenreife besitzen wie mehrere Leguminosen (Amphicarpaea, Vieia-Arten), Commelina benghalensis u.a., bei denen sich der Einfluss der Verdunkelung auf die unterirdisch angelegten oder auf die in den Erdboden eingeführten Blütenanlagen geltend macht, ferner bei teilweise untergetaucht lebenden Wasser- und Sumpfpflanzen — wie einigen nordamerikanischen Arten von Potamogeton, Pontederiaceen, Subularia, Arten von Van- dellia, Juncus bufonius, Leersia oryxoides u.a. —, bei denen das Wasser eine ähnliche Minderung der Lichtintensität bewirkt, bei Wüsten- und Steppenbewohnern, wie besonders den nord- amerikanischen Arten von Helianthemum'!), wie H. canadense und 1) Vgl. J. Barnhart (Bull. Torr. Botan. Club XXVII, 1900, p. 589—592). Noch zahlreichere Fälle von Kleistogamie bei Cistaceen hat W. Grosser (in S1. Jahresber. Schlesisch. Gesellsch. f. vaterl. Kultur (1903), II. Abteil., S. 1—10) zusammengestellt. Bei Helianthemum-Arten mit völlig ausgeprägter Differenzierung der beiderlei Blütenformen ist das Auftreten der chasmogamen Frühlingsform von Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 169 majus, deren stark reduzierte Herbstblüte an den Eintritt der kühleren und feuchteren Jahreszeit gebunden erscheint, desgleichen bei Schattenpflanzen, wie Arten von Impatiens, Viola, Oxalis acetosella u. a., bei denen der fördernde Einfluss einer gesteigerten Lichtintensität auf die Bildung normaler Blüten nicht zu leugnen ist, endlich auch bei einer Gruppe von Pflanzen, bei denen eine ganze Infloreszenz durch den Verschluss einer Blattscheide oder der Hüllkelchblätter, wie z. B. bei Leersia, Arten von Polygonum und bei der Composite Gerbera Anandria kleistogam gemacht wird und die Einzelblüten dadurch dem Lichteinfluss entzogen sind. Hier ist auch zu beachten, dass das gewohnheitsmäßige Abwechseln zwischen der offenen und geschlossenen Blütenform bei einigen polymorphen Gattungen, wie besonders Viola, Impatiens und Helianthemum in den verschiedensten Gebieten der Erde und unter sehr ungleichen Klimaten mit auffallender Regelmäßigkeit auftritt. So sind kleistogam-chasmogam blühende Viola-Arten außer in der alten Welt und in Nordamerika auch in Chile (nach Reiche), Brasilien (nach Fritz Müller), in Neu-Seeland (nach G. M. Thomson) und auf den Sandwich-Inseln (nach H. Heller) gefunden worden!). Auch die mit Viola verwandte Gattung Hybanthus besitzt beide Blütenformen; bei einer von Bernouilli?) in Guatemala beobach- teten Art soll die kleistogame Form zur Regenzeit auftreten, bei dem nordamerikanischen AH. concolor entwickelt sie sich besonders an schattigen Stellen. Es könnte dies regelmäßige Auftreten der beiden Formen bei nahe verwandten, aber geographisch weit ge- trennten Arten als ein Beweis dafür angesehen werden, dass hier doch auch Vererbungserscheinungen im Spiele sind — gewiss aber dann in dem Sinne, dass nur die Fähigkeit zur Produktion der zweierlei Formen, nicht aber die bestimmte einzelne Form, ver- erbt wird. Dass der meist an die Jahreszeit gebundene Wechsel in so ungleichen geographischen Gebieten übereinstimmend auftritt, erklärt sich ohne Zweifel daraus, dass die Pflanzen an den ver- schiedensten Orten in gleicher oder doch analoger Weise den wechselnden Bedingungen von Beleuchtung, Ernährung, Feuchtig- keit u. s. w. ausgesetzt sind; es sind also einfach Fälle von Parallel- variationen infolge gleichsinnig wirkender Ursachen. Überdies zeigt sich z. B. beim Vergleich der Helianthemum-Arten von Nord- amerika°) mit denen der alten Welt wie besonders Ägyptens nach der Darstellung von P. Ascherson®), bei ersteren ein auffallend der kleistogamen Herbstform wohl auf ähnliche entwickelungsgeschichtliche Vor- gänge wie bei Viola nach Goebel zurückzuführen. 1) Vgl. Knuth’s Handbuch der Blütenbiologie III, 1, S. 502—506. 2) Bot. Zeitung 1869, S. 18—19. 3) Vgl. die zitierte Abhandl. von W. Grosser. 4) Die Bestäubung einiger Helianthemum-Arten. Sitzungsber. Gesellsch. naturf. Freunde 1880, S. 97—108. 170 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. stärkerer Polymorphismus und eine stärkere Reduktion der Blüten- organe in der kleistogamen Form als bei den altweltlichen Spezies, was deutlich auf lokale Anpassungsunterschiede hinweist. Weiter sind bei den tropischen und bei unseren einheimischen Orchideen mit zweierlei Blütenformen, wie z. B. Limodorum abortivrum!) im Vergleich zu den von Burck in Buitenzorg beobachteten Arten wie Tainia penangiana wiederum ganz andere Nebenfaktoren für das wechselnde Auftreten der chasmogamen und kleistogamen Blüte maßgebend, auf die hier nur hingedeutet zu werden braucht, um die Unzulänglichkeit der Anschauung Burck’s über das gegen- seitige Verhältnis dieser beiden Blütenformen darzutun. Eine dieser Auffassung ebenfalls entgegenstehende Erfahrungs- tatsache ergibt sich aus der Vergleichung des Verhältnisses, in welchem die Gesamtzahl der bisher bekannten kleistogamen und zugleich insektenblütigen Pflanzenarten zu der Zahl ebensolcher, aber anemophil eingerichteter Formen steht. Vom physiologischen Standpunkt ist es ja gleichgültig, ob Blüten durch Insekten oder durch den Wind mit Pollen versorgt werden, da in beiden Fällen die Wirkung der Fremdbestäubung auf heterogenetischen Nach- wuchs die gleiche ist. Aber in ökologischem Sinne gibt der Unter- schied zwischen der verhältnismäßig geringen Zahl von kleisto- gamen, windblütigen Pflanzen gegenüber einer 4—5mal größeren Zahl?) von geschlossenblütigen Pflanzenarten mit stark ausgeprägter Entomophilie, z. B. aus den Familien der Violaceen, Cistaceen, Balsaminaceen, Papilionaceen, Scrophulariaceen, Campanulaceen, Örchidaceen, Pontederiaceen u.a. uns einen deutlichen Fingerzeig dahin, dass bei stärkerer Ausprägung allogamer, auf Insekten- bestäubung eingerichteter Blütenkonstruktionen zugleich auch die entgegengesetzte Neigung zur Bildung reduzierter, auf Selbst- bestäubung angelegter Blüten zunimmt. Im Gegensatz zu Burck lässt sich also sagen: Je mehr eine Pflanzenart stärker differenzierte, entomophile Blüten besitzt, desto mehr wird für sie auch die Pro- duktion geschlossener, autogamer Blüten zu einer ökologischen Notwendigkeit, ohne dass dabei die eine Blütenform die andere — wenigstens ın der Mehrzahl der Fälle — zu verdrängen oder zu ersetzen vermag. Im einzelnen kommt es auf die spezifische 1) Vgl. v. Freihold’s Beobachtungen über diese Pflanze in Verh. d. Bot. Ver. Provinz Brandenburg. 19. Jahrg, XXITII-XXVH. — Kirchner, Mit- teilungen über die Bestäubungseinrichtungen der Blüten I. Stuttgart 1900, S. 356—357. 2) Die in Knuth’s Handbuch der Blütenbiologie I, S. 71—74 gegebene, sehr unvollständige Liste der bisher beschriebenen, kleistogamen Pflanzen zählt etwa 25 anemophile und über 130 entomophile Arten auf; auch wenn alle neuerdings be- kannt gewordenen oder von Knuth übersehenen Fälle von echter Kleistogamie hinzugezählt werden, kann sich das gegenseitige Zahlenverhältnis der beiden Kate- gorien nur unwesentlich ändern. Loew, Bemerkungen zu ‚„Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 171 Lebenshaltung der bestimmten Art an, ob sich für sie die chas- mogame Form vorteilhafter erweist als die kleistogame oder um- gekehrt. Das zum Aufbau der Blüten, bezw. der Samen notwendige Baumaterial wird entsprechend der spezifischen Lebensausrüstung der Einzelart bald mehr der chasmogamen Blüte, wie es Goebel zeigte, bald mehr der kleistogamen Form zugewendet, wie es nach Miss Adeline Schively bei Amphicarpaea monoica der Fall zu sein scheint. Es brauchen aus diesem Grunde auch die Gewichts- und Zahlverhältnisse der Früchte und Samen bei den verschiedenen Arten von kleistogamen Pflanzen durchaus nicht einer allgemeinen Regel zu folgen. Beide Formen von Blüten, die offene so- wohl wie die geschlossene, sind im ökologischen Sinne zur Erhaltung der damit ausgerüsteten Art, gleich not- wendig und gleich nützlich. Sie gewähren der Pflanze die Möglichkeit, je nach den vorherrschenden, natürlichen Lebens- bedingungen ihre Bestäubungseinrichtung und ihre Samenbildung bald mehr der autogenetischen, bald mehr der heterogenetischen Fortptlanzung anzupassen. Stimmt man dieser durch das tatsächliche Verhalten der echt kleistogamen Gewächse bestätigten Anschauung zu, so sind alle weiteren Betrachtungen über die Bedeutungslosigkeit der chas- mogamen Blütenform gegenüber der geschlossenen, wie sie Burck anstellt, ziemlich überflüssig. Ihre von Burck so stark betonte Unfruchtbarkeit oder besser ihre mehr oder weniger wechselnde Fruchtbarkeit ist ja nicht das Zeichen einer sexuellen Schwäche, sondern nur der erfahrungsgemäße Ausdruck dafür, wie weit die Einzelart unter den gegebenen Lebensverhältnissen tatsächlich mittels der offenen Blüten zur Befruchtung und zur Samenbildung zu ge- langen vermag. Was darüber z. B. für Rxellia tuberosa in Batavia sich feststellen ließ, braucht darum durchaus nicht auch im der amerikanischen Heimat dieser Art gültig zu sein. Ebenso bedarf es bei Anerkennung des obigen Satzes von der prinzipiellen Gleichberechtigung der beiderlei Blütenformen hier keines näheren Beweises, dass die kleistogame Blüte als eine der ausschließlich autogamen, offenen Blüte nächststehende Form mit dieser durch mancherlei und sogar unregelmäßig auftretende Über- gangsbildungen in fluktuierender Variation verbunden sein muss, wozu die Abhandlung Goebel’s neue und interessante Belege liefert. Wenn der Blütenverschluss der kleistogamen Pflanzen eine Hemmungsbildung darstellt, muss er auch in verschiedenen Stufen der Ausbildung auftreten. Solche Fälle existieren in der Tat, wenn sie auch von Burck nicht berücksichtigt worden sind. 172 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. Kleistogame Blüten, die sich nach vollzogener Selbstbestäubung Öffnen. Eine derartige Blüte habe ich schon früher!) von Stellaria pallida Pir& beschrieben. Diese Art oder Form unterscheidet sich einerseits in einer Reihe nicht sehr hervorstechender, vegetativer und reproduktiver Merkmale von der gemeinen, kosmopolitischen Stellaria media, andererseits steht sie der letztgenannten Art so nahe, dass sie von manchen Systematikern als bloße Varietät (St. media var. pallida oder var. apetala), von anderen als Nebenart derselben auf- gefasst wird. A. Schulz?) bezeichnet sie als eine „stellenweise völlig kleistogam gewordene“ Form der Stammart. In den Blüten dieser Stellaria-Form, die ich in reichlicher Menge an den Havel- ufern bei Potsdam und Spandau in der Mark Brandenburg im April 1895 antraf, trat die Autogamie immer schon in der noch jugendlichen Knospe — von 3—3,2 mm Länge bei einer durch- schnittlichen Länge der erwachsenen Blüte von ca. 4mm — ein, wobei das in der Regel nur in der Einzahl ausgebildete Staubblatt sich mit seiner Anthere einem der Narbenäste anlegte und mit den Papillen letzterer durch zahlreiche aus der aufgesprungenen Anthere auskeimende Pollenschläuche verbunden war. Trotz der schon in der Knospe eintretenden Bestäubung und Befruchtung, die an mehreren Beobachtungsreihen aufeinanderfolgender Entwickelungs- stadien der unbefruchteten und befruchteten Blüte festgestellt wurde, pflegt sich die Blüte bei Sonnenschein nachträglich zu öffnen; dann ist jedoch ihr Durchmesser fast um die Hälfte kleiner als an der normalen, sternförmig ausgebreiteten Blüte der Stammart; auch sind ihre Kronblätter als winzige, gelbliche oder grünliche Schüppcehen auf fast ein Drittel der normalen Länge reduziert und die an der Basis der Staubfäden sonst deutlich ausgebildeten Nektarien sind fast spurlos verschwunden. Aber trotzdem ist die Pflanze damit noch nicht zu ausschließlicher Autogamie gelangt, da in manchen Blüten nicht nur ein einziges, sondern noch 1—2 weitere Staub- blätter zur Ausbildung kommen können, die erst später — kurz vor oder während der Blütenöffnung — ausstäuben und in der Regel auch nicht durch auskeimende Pollenschläuche ihre Antheren an den Narbenpapillen fixieren. Außerdem kommen, wie A. Schulz?) zuerst auffand, in Ausnahmefällen rein weibliche Blüten vor, die hier vermutlich durch Vererbung aus der bisweilen gynodiözischen Stammform zu erklären sind. Ich habe mich bisher allerdings nicht durch direkte Beobachtung davon überzeugen können, dass diese abweichenden, rein weiblichen Blüten durch den Pollen der 1) Abhandl. Botan. Verein Prov. Brandenburg, XLI (1899), Ss. 169—183. 2) A. Schulz. Beiträge zur Kenntnis der Bestäubungseinrichtungen und Geschlechtsverteilung II. Kassel 1590, S. 55. 3) A: m. 0..,3:,183. Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 175 überzähligen, erst später heranreifenden Stamina bestäubt werden. Der Anlage nach ist eine solche Fremdbestäubung aber sicher möglich. Wie soll man nun nach den von Burck entwickelten Gesichts- punkten die Blüte von Stellaria pallida deuten? Da die Pflanze sexuell variiert und zugleich deutliche Merkmale von Kleistogamie zeigt, scheint hier eine in der Entwickelung zur Kleistogamie be- griffene, diaphoranthe Zwischenrasse vorzuliegen. Insofern Stellaria pallida aber auch einer durch bestimmte, taxinomische Merkmale gekennzeichneten Verwandtschaftsreihe, d. h. einer sogen. Art, Nebenart oder Varietät — angehört, die ihre Eigenschaften auf die Nachkommen unverändert überträgt, muss sie zugleich als eine reine systematische Art im Sinne von de Vries betrachtet werden, bei der die chasmogame Form latent geworden ist. Das ist schon ein bedenklicher Widerspruch, da er den Gegensatz zwischen den beiden von Burck aufgestellten Kategorien aufhebt. Dann lässt sich aber ganz und gar nicht die nachträglich eintretende Blüten- öffnung und noch weniger die Existenz weiblicher Blüten und der Allogamie dienender, überzähliger Staubblätter erklären. Kurz wie man die Sache auch deuten mag — das von Burck für die kleistogamen Blüten aufgestellte Entwickelungsschema versagt hier völlig! Der Fall von Stellaria pallida gibt nieht nur ein gutes Beispiel für die Unzulänglichkeit der Auffassung von Burck, sondern liefert auch einen neuen Beweis für die Richtigkeit des von K. Goebel zuerst mit Schärfe betonten Satzes, dass die kleistogamen Blüten Hemmungsbildungen mit frühzeitig — hier schon in der jugend- lichen Blütenknospe — eintretender Selbstbestäubung sind. Da bei Stellaria pallida nach frühzeitig eingetretener Selbstbestäubung die Kronblätter, die Nektarien u. s. w. auf dem erreichten Ent- wickelungsstadium stehen bleiben, ohne sich trotz nachträglicher Blütenöffnung weiter zu entwickeln, wobei augenscheinlich das sonst zur Ausgestaltung dieser Teile verwendete Baumaterial nun den befruchteten Samenanlagen zugute kommt und auf die Ausbildung der Samen verwendet werden kann, tritt der hemmende Einfluss der frühzeitigen Selbstbestäubung auf das Auswachsen der Blüten- blätter unzweideutig hervor. Diese öffnen sich dann nachträglich wie sonst in normalen Blüten, worin sich ihre Abstammung von einer offenblütigen Form deutlich dokumentiert. Der Eintritt fluktuierender Variation kann in diesem Falle nicht geleugnet werden, indem hier offenbar eine noch nicht vollkommen fixierte Zwischen- und Übergangsform zwischen einer chasmogamen und einer kleistogamen Blüte vorliegt. Gleichzeitig entsteht die Frage, ob und inwieweit die eben beschriebene Stellaria pallida sich in ihre chasmogame Stammform zurückführen ließe — eine Frage, 174 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. auf deren Lösung durch Kulturversuche ich schon früher, leider bisher ohne Erfolg, hingewiesen habe. | Ein zweites, lehrreiches Beispiel einer autogam in der Knospe bestäubten und dann nachträglich sich öffnenden Blüte hat E. War- ming!) aus Grönland von der dort heimischen Campanula uniflora beschrieben. Auch bei dieser tritt das Austreiben der Pollen- schläuche zu den Narbenpapillen schon in der geschlossenen Knospe ein. Trotzdem erlangen die Blüten später die normale Beschaffen- heit; aus der Mündung der blaugefärbten Krone ragt dann der dreilappige Griffel ein wenig hervor und auch die Honigabsonderung an der Basis des Fruchtknotens findet in gewöhnlicher Weise statt. Die Fruchtreife der Pflanze in Grönland ist außerdem sicher ver- bürgt?). Die sonst bei Campanula-Arten allgemein auftretende Protandrie der Bestäubungsorgane wird bei (. uniflora in Grönland somit durch frühzeitig in der Knospe eintretende Homogamie und damit verbundene Kleistogamie ersetzt. Der Zusammenhang dieses Wechsels in der Bestäubungs- einrichtung mit den arktischen Lebensbedingungen ist in diesem Falle ganz augenscheinlich, wenn derselbe auch nicht auf Rechnung der Insektenarmut Grönlands zu setzen sein dürfte, wie dies War- ming — allerdings mit Vorbehalt — annimmt‘). Für den hier vorliegenden Zweck genügt der Hinweis, dass bei (umpanula uniflora in stark ungünstiger Lebenslage die Blüten rein autogam und zu- gleich ohne wesentliche Reduktion ihrer Teile pseudokleistogam geworden sind. Wir dürfen annehmen, dass dieser Vorgang nicht bloß bei den von Warming beobachteten Exemplaren, sondern auch an zahlreichen anderen oder vielleicht allen Individuen von CO. umniflora eintritt, die in Grönland den gleichen klimatischen Faktoren ausgesetzt sind. In anderen Gebieten, in denen die ge- nannte Art ebenfalls vorkommt, wie z. B. in Gebirgstälern des nördlichsten Skandinaviens — könnte diese Pseudokleistogamie vielleicht weniger stark hervortreten oder auch ganz fehlen. Es führt uns der Fall von C(ampanula uniflora auf eine weitere Erörterung über das Wesen der pseudokleistogamen Blüte. Die Unterschiede zwischen der unecht- und echtkleistogamen Blüte. Nach Burck sollen die echtkleistogamen Blüten von den äußeren Lebensbedingungen unabhängig, die pseudokleistogamen 1) E. Warming. Om Byeningen og den formodede Bestsvningsmaade af nogle gronlandske Blomster. Kjsbenhavn 1886, p. 52—53. 2) J. Abromeit. Botan. Ergebnisse der von der. Gesellschaft f. Erdkunde zu Berlin unter Leitung von Dr. v. Drygalski ausgesandten Grönlandsexpedition nach Dr. Vanhöffen’s Sammlungen bearbeitet. Phanerogamen. In: Biblioth. botan. Heft 42, S. 61—62. 3) Näheres hierüber s. in meiner Blütenbiolog. Floristik des mittleren und nördlichen Europa sowie Grönlands. Stuttgart 1894, S. 112—127, Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 175 dagegen von denselben abhängig sein. Er bezeichnet es als un- richtig, dass ich die letzteren als solche definiert habe, in denen die Organe keine wesentliche Verkleinerung oder Verkümmerung erfahren, da nach Hansgirg’s ursprünglicher Erklärung pseudo- kleistogame Blüten durch äußere Bedingungen, wie Beleuchtung, Überflutung mit Wasser, Mangel an Wärme, übermäßige Trocken- heit u. dgl. hervorgerufen werden sollen. Folgendes dürfte zu meiner Rechtfertigung genügen. Zunächst kann nach den einwandsfreien Darlegungen Goebel’s und auch nach meiner Überzeugung, die ich schon vor Publikation der ge- nannten Arbeit und lange vor Niederschrift jener von Burck an- gegriffenen Definition vorzugsweise aus Vöchting’s ausgezeichneter Untersuchung über den Einfluss geminderter Lichtintensität auf das Entstehen kleistogamer Blüten gewonnen hatte, kein Zweifel darüber bestehen, dass auch die echtkleistogamen Pflanzen in der Bildung ihrer beiderlei Blütenformen von äußeren Lebensfaktoren abhängig sind. Ich konnte also unmöglich einen Unterschied aufstellen, wo tatsächlich keiner vorhanden ist. Nur der starke oder schwache Grad der eintretenden Reduktion z. B. in der Aus- gestaltung des Perianths, der Verkümmerung der Staubblätter und der Nektarien, die Art der Pollenausstreuung und Pollenablage u. s. w. gibt die Möglichkeit, eine gewisse, wenn auch nicht scharfe Grenze zwischen den echt- und unechtkleistogamen Pflanzen zu ziehen. Übrigens sieht Goebel den hier in Rede stehenden Unter- schied als belanglos an. Höchstens könnte man — so sagt er!) — von habitueller und induzierter Kleistogamie reden — eine treffende Bezeichnung, die ich gern aufgenommen haben würde, wenn ich sie beim Niederschreiben der von Burck bemängelten Definition gekannt hätte. Schließlich ist diese Begriffsbestimmung an einer Stelle von mir gegeben worden, wo es zunächst auf propädeutische Zwecke ankam, nämlich in einem Verzeichnis von Kunstausdrücken zur Orientierung des Anfängers. Hätte Burck sich die Mühe geben wollen, konnte er z. B. aus meiner Arbeit über Stellaria pallida ersehen, dass ich die Begriffe echt- und unecht- kleistogam nur im herkömmlichen Sinne gebrauche. Burck selbst ist es, der dem bisher üblichen Begriffe der Kleistogamie eine un- richtige Ausdehnung gegeben hat, indem er ihn auf die kleisto- petalen Pflanzen mit allogam-autogamer Bestäubungseinrichtung anwendete. Oder glaubt Burck etwa, dass Darwin die kleisto- petalen Blüten, wenn er sie gekannt hätte, als kleistogam aner- kannt haben würde? Sicher hätte er sie als den Triumph der Natur über die üblen Folgen der Selbstbestäubung gefeiert, da in ihrem Bau der Zweck der Fremdbestäubung deutlich ausgeprägt 1) A. a. O. 8. 677. 476 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. ist und wenigstens bei einer Reihe hierher gehöriger Formen wie bei Purpurella und bei Bromeliaceen durch die Ausbeutung seitens geeigneter Bestäuber auch tatsächlich erreicht wird. Vor dieser Tatsache verschließt Burck leider die Augen und hat damit die ganze, von ihm gerügte Begriffsverwirrung selbst hervorgerufen. In diesem Zusammenhange ist es auch zu erwähnen, dass Hansgirg!) die von Burck beschriebene Blüte von Myrmeecodia fuberosa zu den pseudokleistogamen Formen stellt, weil sie ihm offenbar mit diesen wegen des Mangels von eigentlichen Hemmungs- bildungen am nächsten verwandt erschien. Dass dies aber nicht zulässig sein kann, weil hier die chasmogame Nebenform ganz fehlt und außerdem die Blüte nicht auf vorauseilende Selbstbestäubung veranlagt ist, dürfte aus den vorangehenden Erörterungen über die kleistopetalen Blüteneinrichtungen einleuchtend sein. Auch die übrigen von Burck zur Unterscheidung der echt- und unechtkleistogamen Pflanzen aufgestellten Merkmale erweisen sich den Tatsachen gegenüber als nicht stichhaltig. Ganz besonders betont er, dass hier bei den echtkleistogamen Pflanzen die Eigen- schaft des Blütenschlusses vererbbar sei, da aus ıhrem Samen immer wieder Stöcke mit kleistogamen und chasmogamen Blüten hervor- gehen, während nach seiner Ansicht aus dem Samen einer pseudo- kleistogamen Blüte nur Individuen mit offenen Blüten entstehen sollen. Letzteres wird durch die Erfahrung widerlegt, da z. B. ausschließlich pseudokleistogam blühende Hordeum-Rassen ?) bekannt sind, bei denen der Spelzenschluss erblich fixiert ist und die sich ausschließlich autogenetisch fortpflanzen. Es ist also hier sogar ausschließliche Vererbung der pseudokleistogamen Form unter ge- wissen Lebensbedingungen möglich, wie sie ebenso für die vorhin erwähnte Campanula uniflora ın Grönland anzunehmen ist. Ein ökologischer Unterschied ist in diesen beiden Fällen allerdings vorhanden, da die kleistogam blühenden Hordeum-Pflanzen Kunst- produkte sind, während die kleistogame Campanula Grönlands eine unter natürlichen Lebensbedingungen wachsende und durch diese hervorgerufene Form darstellt. Da aber die genannte Campanula ihre geschlossenen Blüten nach vollzogener Bestäubung nachträglich ebenso öffnet wie die echtkleistogame Stellaria pallida, betrachte ich diese beiden Fälle als vollgültigen Beweis dafür, dass hier der chasmogame Blütencharakter nicht vollständig unterdrückt oder rezessiv geworden ist und also nur eine Vererbung der Variations- fähigkeit — oder anders ausgedrückt, eine undifferenzierte Anlage zu den beiderlei Blütenformen in der befruchteten Eizelle — anzu- 1) Ant. Hansgirg. Physiologische und phykophytologische Untersuchungen. Prag 1893, S. 167. 2) S. Correns, Über Vererbungsgesetze, S. 9. ur Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 177 nehmen ist. In Übereinstimmung damit ergaben auch die be- kannten Kulturversuche H. Hoffmann’s!) mit kleistogam blühenden Pflanzen von Lamium amplexicaule, dass die aus den geschlossenen Blüten erhaltenen Samen nur teilweise wieder ausschließlich kleisto- gam blühende Individuen lieferten; eine volkommene Fixierung des Blütenschlusses liegt hiernach auch bei den echtkleistogamen Pflanzen nicht vor, zumal bei diesen Versuchen der Einfluss un- günstiger Lebensbedingungen nicht ausgeschlossen wurde. Da uns genauere und umfangreichere Erfahrungen über die Vererbung der chasmo- und kleistogamen Blütenform auf die Nachkommen in längeren Generationsreihen, ebenso vergleichende Bestäubungs- versuche mit kleistogam und chasmogam erzeugtem Pollen auf weiblich ausgebildeten oder kastrierten Blüten der Versuchspflanze zurzeit noch fehlen, halte ich es für überflüssig, hier die Ver- erbungsfragen weiter zu erörtern. ‘Jedenfalls liegt nach dem bis- herigen Standpunkt des Wissens keine Veranlassung vor, auf Grund von Vererbungsunterschieden eine scharfe Grenze zwischen echt- und unechtkleistogamen Pflanzen zu ziehen?). Da die von Burck angegebenen Unterscheidungsmerkmale sich nach dem Vorausgehenden als nicht stichhaltig erwiesen haben, entsteht die Frage, ob überhaupt eine irgendwie haltbare Grenze zwischen den beiderlei Formenreihen existiert. Zwischen den beiden Blütenformen in entwickelungsgeschicht- lich-morphologischem Sinne nach Goebel gewiss nicht! Trotzdem will mir scheinen, dass zwischen den nach Zeit und Ort regelmäßig zwischen beiden Blütenformen wechselnden, habituell kleistogamen Pflanzen und den induziert kleistogamen, die während der Blütezeit in unregelmäßiger Weise je nach Wetter- und Standortsverhältnissen ihre Blüten öffnen oder geschlossen halten, doch im ökologischen ®Sinne ein Unterschied besteht. Bei ersteren werden nach den Untersuchungen Goebel’s schon die noch sehr jugendlichen Blüten- anlagen im Entwickelungsgange des betreffenden Pflanzenstockes — wenigstens von einem gewissen Moment an — durch die ge- samte Lebenslage entweder zur chasmogamen oder zur kleistogamen Entwickelungsrichtung hingelenkt, während bei induzierter Kleisto- gamie (d. h. bei den pseudokleistogamen Pflanzen) die Förderung 1) Botan. Zeit. 1883, S. 294—297., 2) Der von Burck als Beweis der Nichtvererbbarkeit des pseudokleistogamen Blütencharakters angeführte Fall von kümmerlich ernährten, geschlossen bleibenden Blüten von Pisum sativum und Capsella bursa pastoris, wie sie von Goebel an sonst normalen Stöcken beobachtet wurden, beweist eine ganz äußerliche Auffassung der Frage. Die aus dem pseudokleistogamen Samen erzeugten, chasmogam blühen- den Individuen können doch unter denselben Lebensbedingungen wie ihre Stamm- pflanzen wiederum einzelne geschlossen bleibende, kümmerlich ernährte Blüten erzeugen. Die Art der Vererbung ist also keine wesentlich andere als bei den echt- kleistogamen Pflanzen. xXXVI. 12 178 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. oder Hemmung erst kurz vor dem Aufblühen an den schon ziem- lich erwachsenen Blütenorganen zur Wirkung gelangt. Eine pseudo- kleistogame Pflanze kann sich somit nicht direkt in eine echt- kleistogame umformen, wohl aber eine offene, fast ausgewachsene Blüte in eine unechtkleistogame. Man könnte also den Unterschied dahin festsetzen, dass bei der habituellen Kleistogamie die ge- schlossenen Blüten auf entwickelungsgeschichtliche Bildungs- hemmungen, bei der induzierten dagegen auf Entfaltungs- hemmungen zurückzuführen sind. Doch mag auch dieser Unterschied als fraglich hingestellt bleiben, da Zwischen- und Übergangsfälle zwischen beiden Formen, z. B. bei den nordameri- kanischen Helianthemum-Arten kaum fehlen dürften. Hier ist es notwendig, noch eine von Burck übersehene Be- ziehung der Pseudokleistogamie zu einer anderen, bei zahlreichen Pflanzen verbreiteten Blüteneinrichtung etwas näher ins Auge zu fassen. Die induzierte Kleistogamie (Pseudokleistogamie) in Zusammenhang mit anderweitigen Einrichtungen des Blütenschlusses. Der pseudokleistogame Blütenschluss als Entfaltungshemmung tritt besonders bei solchen Pflanzen auf, deren Perianthblätter in- folge innerer Einrichtungen die Fähigkeit eines periodischen Öffnens und Schließens oder auch des sogen. ephemeren Blühens besitzen, bei dem sich die Blüten nach kurzer, meist nur wenige Stunden dauernder Anthese für immer schließen. Da durch den Blüten- schluss in zahlreichen allogam-autogam oder auch rein autogam eingerichteten Blüten auf rein mechanische Weise ein direktes Anpressen der ausstäubenden Antheren mit den in gleicher Höhe stehenden, geschlechtsreifen Narben, und damit also Selbstbestäu- bung!) veranlasst werden kann, bedürfen die verschiedenen, hier ® vorkommenden Fälle einer genaueren, vergleichenden Betrachtung. Bekanntlich ist es das Verdienst von Hansgirg?), die Ötfnungs- und Schließungsbewegungen der Blütenblätter, die er als gamo- tropische mit der Bestäubung in Beziehung bringt, in größerem Umfange untersucht und auch in ihrer Abhängigkeit von äußeren Faktoren, wie besonders von Wärme und Licht, näher studiert zu haben. Auf die anatomische und physiologische Seite dieser Unter- suchungen soll hier nicht eingegangen werden. Für unseren öko- logischen Zweck genügt der Hinweis, dass eine auffallend große Zahl von pseudokleistogam blühenden Pflanzen in ihren Blüten- 1) Auf den Zusammenhang ungünstiger Lebensbedingungen mit dem Autogam- werden der Blüten machte auch P. Magnus in Sitzungsber. Gesellsch. naturf. Freunde zu Berlin 1888, p. 52—53 aufmerksam. 2) Ant. Hansgirg. Physiologische und phykophytologische Untersuchungen. Prag 1893, S. 6—181. Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 179 blättern die offenbar hereditär gewordene Eigenschaft des periodi- schen Öffnens und Schließens oder des epheineren Blühens besitzt. Als solche Pflanzen sind teils nach der Zusammenstellung von Hansgirg, teils nach anderweitigen Beobachtungen folgende vor- zugsweise der europäischen Flora angehörige Arten zu nennen: Alsineae: Stellaria media, Spergula arvensis, Cerastium semidecan- drum und (©. arvense, Spergularia rubra (nach a ephemer und pseudokleistogam), Sayina procumbeus und , Linnaei (nach A. Schulz!) periodisch geschlossen und ke; kleistogam). Stileneae: Silene nocturna und 8. inaperta halten ihre Blüten während der hellsten, wärmsten Tagesstunden geschlossen und besitzen zugleich auch kleistogame Blüten (nach Lindman)?). Oxalidaceae: Oxalis Acetosella, hat en sich öffnende Blüten, zeigt zugleich Übergänge zwischen den chasmogamen Und kleistogamen Blüten (nach Rössler)?). Ranunculaceae: Ranuneulıs aquatilis, Blüten periodisch sich schließend, bisweilen pseudokleistogam (nach Hansgirg). Droseraceae: Die Blüten der einheimischen Drosera-Arten sind nach Hansgirg‘) sehr lichtempfindlich und an trüben Tagen geschlossen; in Übereinstimmung mit der Angabe von Goebel)) ind ich sıe bei en immer Beöffnet. Bennett, Hansgirg, Knuth und Warnstorf — letzterer für D. anglica — geben auch kleistogame (bezw. pseudokleistogame) Blüten an. Portulacaceae: Portulaca oleracea (nach Hansgirg ephemer und pseudokleistogam). — NMontia rivularis. Nach meinen Be- obachtungen bei Wittenberg, desgl. nach Kirchner’s®) Be- obachtungen im Schwarzwalde öffnen sich die Blüten bei Sonnenschein; sie befruchten sich nach Kerner im _ge- schlossenen Zustande. Cistaceae: Helianthemum guttatum. Die ephemeren Blüten öffnen sich nach P. Ascherson’) in den frühen Morgenstunden, die Blumenblätter fallen dann ab und die Kelchblätter schließen sich so schnell und mit so starkem Druck, dass die Staub- beutel gegen die Narbe gepresst werden und Selbstbestäubung 1) A. Schulz. Beiträge zur Kenntnis der Bestäubungseinrichtungen ete. II. Kassel 1890, S. 33—39. ; 2) Lindman. Remarques sur la floraison du genre Silene L. Acta Horti Bergiani Bd. III, Nr. 13, Stockholm 1897. 3) Rössler in Flora 1900, S. 498 4) A. a. 0. S. 54. 5) Flora 1904, S. 780. 6) Kirchner. Mitteil. über die Bestäubungseinr. d. Blüten IT. Stuttgart 1900, 8. 358. 7) P. Ascherson. Die Bestäubung einiger Helianthemum-Arten (a. a. O.), S. 104—105. 1 DES 180 Biedermann, Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. zwangsmäßig erfolgt. — W. Grosser!) deutet bei den nord- amerikanischen Cistaceen ausdrücklich auf den Zusammenhang zwischen Ephemerie der Blüten und ihrer Pseudokleistogamie hin; ın letzterem Falle wird keine anhängende Petalenkappe beobachtet, wie sonst bei echter Kleistogamie. Scrophulariaceae: Zahlreiche Arten von Veronica, wie V. hederae- folia, serpyllifoha, agrestis, triphyllos, Oymbalaria (nach Hans- girg ephemer und pseudokleistogam). Campanulaceae: Arten von Specularia. Blüten periodisch schließend (nach Hansgirg) und kleistogam in verschiedenen Formen. — Desgl. Arten von Campanula. — Vgl. den Fall von (©. uniflora auf S. 138. Gentianaceae: Arten von Gentiana wie @. Pneumonanthe, @. utriculosa u.a. haben nach Hansgirg periodisch sich schließende Blüten. @. Pneumonanthe wurde von Graebner gelegentlich in kleistogamer Form beobachtet. Bei @. utriculosa, die bei Sonnenschein ihre Blüten sternförmig öffnet und bei Regen- wetter schließt, fand ich in letzterem Falle bei Oberstdorf im Allgäu die Blüten in späteren Stadien immer auf autogamem Wege bestäubt; anfangs steht die protogyne, den Schlund völlig schließende Narbe über den noch geschlossenen An- theren, so dass Selbstbestäubung in diesem Zustande ausge- schlossen ıst?), später krümmen sich die Narbenränder soweit herab, dass sie mit den inzwischen geöffneten Antheren ın Berührung kommen. (Schluss folgt.) W. Biedermann: Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. In: Jenaische Denkschrift XI. Festschrift für Ernst Haeckel, 1904, p. 217—300. Mit 16 Fig. im Text. Die vorliegende, für den Physiologen und Histologen gleich wichtige Arbeit macht uns mit den optischen Vorgängen bekannt, durch welche tierische Schillerfarben und Metallglanz hervorgerufen werden. Sie lehrt uns gleichzeitig an der Hand eines peinlich ge- nauen Studiums der morphologischen und histologischen Verhält- nisse, die in der Struktur der betreffenden Organe gegebenen Be- dingungen kennen, an welche diese optischen Phänomene gebunden sind. Verf. bespricht zu allererst die verschiedenen Theorien, welche zur Erklärung der tierischen Schillerfarben ım Laufe der Zeit aufgestellt wurden. Er erörtert, die Theorie der Gitter- DW. Grosser'(a.'3,.0))/8..6. 2) Vgl. über die Bestäubungseinrichtung von Gentiana utriculosa: E. Fisch, Beiträg. z. Blütenbiolog. Bibl. bot. Heft 48, S. 17—18. Biedermann, Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. 181 farben Pagenstecher’s, der feinen Risszeichnungen Wallace's, der Farben dünner Blättehen Brücke’s, der Farben trüber Medien Häcker's, der Oberflächenfarben Walter’s, der optischen Resonanz Rossogonoffs, um sich hierauf den Ergebnissen seiner eigenen Untersuchungen zuzuwenden. Zuerst macht uns Biedermann mit den Schillerfarben schuppenloser Käfer bekannt, bei denen die Verhältnisse noch relatıv einfach und übersichtlich erscheinen, und behandelt in eingehender Weise die Farbenerscheinungen bei Smaragdisthes africana, eines Käfers, dessen Flügeldecken bei auffallendem Licht und senkrechtem Auf- blick smaragdgrün gefärbt sind und schönen Atlasglanz zeigen. Diese grüne Farbe geht jedoch in Blau über, wenn der Flügel der in der Nähe des Fensters mit seiner Längsachse in der Richtung des einfallenden Lichtes orientiert ist, von der Zimmerseite her ın schräger Richtung betrachtet wird und zwar erscheint er um so reiner blau, je größer der Einfallswinkel des Lichtes ist. Es ist hierbei hervorzuheben, dass für einen gegebenen Einfallswinkel die Schillerfarbe in diesem wie ın der Mehrzahl der Fälle bei Käfern sich fast ganz unabhängig von der sonstigen Orientierung des Objektes erweist. Verursacht wird der grüne bezw. blaue Schiller durch eine feine gelbbräunlich gefärbte Chitinlamelle die die Eigenschaft hat, auf dunkelm Grund grün zu schillern und im Flügel einer dunkeln Pigmentschicht aufgelagert ist. Diese feine Chitinlamelle bildet die sogen. Emailschicht der Flügel- decken, die, wie wir auch aus dem Folgenden sehen werden, den eigentlichen Sitz der Färbungsphänomene beim Käfer darstellt. Diese Emailschicht besteht aus drei Teilen: einem äußeren Grenz- häutchen (Kutikula), einer oft gelb pigmentierten Stäbchenschicht und einer dunkelgefärbten dritten Schicht mit deutlicher Zell- zeichnung. Die ganze aus diesen drei verschieden gestalteten Lamellen bestehende Emailschicht lässt sich durch langsames Mazerieren glatt von der übrigen Chitinmasse des Flügels abheben. Wird die Email- schicht entfärbt, so ist bei Smaragdisthes africana das Verschwinden der Farbenerscheinung die Folge, dadurch aber, dass die entfärbte Schicht auf dunkeln Untergrund gelegt wird, kann der Schiller künstlich erneuert werden, derselbe ist aber dann nicht mehr grün sondern blau gefärbt. Sehr wichtige Anhaltspunkte für die Beur- teilung der Natur der Schillerfarben bei Käfern erhielt der Verf. durch die Untersuchung des noch gänzlich pigmentfreien Emails auf dem Flügel der Puppe eben ausgeschlüpfter Käfer von Cetonia aurata. Die Flügeldecken der Käfer waren noch merklich kleiner wie normal, gelblichweiß gefärbt, weich, etwas gerunzelt und viel dicker, als am völlig erhärteten fertigen Käfer. Trotzdem ließ die Oberfläche der Flügeldecken schon in diesem Stadium schönen 182 Biedermann, Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. Farbenschiller erkennen. Im geraden Aufblick waren die Flügel- decken metallischglänzend gelbgrün, bei sehr schrägem Lichteinfall veränderte sich der Oberflächenschimmer durch Grün und Blau hin- durch in Veilchenblau. Wurde die Emailschicht von dem darunter liegenden Flügelchitin abgeschabt, so ergaben sich dünne, farblose, ganz durchsichtige Lamellen, die in Wasser und Alkohol untersucht, schöne Interferenzfarben zeigten. Unter dem Mikroskop hatte ein solches Emailplättchen die Struktur eines Perlmutterdünnschliffes. Zahlreiche in parallelen Reihen angeordnete äußerst dünne, glashelle Chitinplättehen lagen dachziegelförmig übereinander und bildeten eine außerordentlich zarte Kutikula, welche in erster Linie für das Auftreten der Interferenzfarben verantwortlich zu machen ist. Durch Senken des Tubus konnte man die durch ihre Stäbchen- struktur ausgezeichnete Mosaikschicht zur Anschauung bringen. Von diesen Beobachtungen ausgehend ergibt ein Vergleich mit den Flügeldecken des ausgewachsenen Käfers, dass bei letzterem die Farbeneffekte durch das Zusammenwirken der Interferenzfarben mit den später entstehenden, in tieferen Chitinlagen lokalisierten Pigmenten zustande kommt. Bei manchen der Cetonia aurata ver- wandten Arten bleiben die Flügeldecken zeitlebens auf der Fär- bungsstufe der jungen Cetonien stehen, weil sich in ihrer Pigment- schicht nur wenig Farbstoff ablagert. Bei solchen Käfern kann man das Farbenspiel der Flügel dadurch wesentlich erhöhen, dass man sie unter Alkohol auf dunkelm Grund betrachtet. Auf einen ähnlichen perlmutterartigen Bau der Emailschicht sind die Farben der Prachtkäfer (Buprestiden) zurückzuführen, von denen Verf. eine Reihe der schönsten Vertreter zu untersuchen Gelegenheit hatte. Auch hier ist es die Emailschicht, die den Metallglanz verursacht und die hier nur einen dünnen Überzug der kräftigen Flügeldecke bildet. Während bei den im vorstehenden angeführten Käfern die Farbenerscheinungen auf dem Exoskelett großenteils durch Inter- ferenzerscheinungen zu erklären sind und auf die Farben dünner Blättehen zurückgeführt werden können, finden wir bei ZLytta vesicatoria, der spanischen Fliege, ein Grün, das eine typische Strukturfarbe darstellt. Die Farbe ist hier nicht durch dünne Blättchen erzeugt, sondern an Strukturverhältnisse im Flügel ge- bunden, die z. B. durch Einlegen der Flügel in Alkohol zerstört werden können. Der Flügel wird in Alkohol eingelegt goldbronze- farben, ohne dass eine chemische Veränderung des Pigmentes ein- tritt, denn an der Luft erhält der Flügel seine vorhergehende Färbung wieder zurück. Werden die getrockneten Flügeldecken dieses Käfers in Kalilauge mazeriert, so lässt sich nach 1—2 Tagen die Emailschieht abheben, die im durchfallenden Licht betrachtet, aus einem bräunlichgelben Zellmosaik zu bestehen scheint, deren Biedermann, Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. 183 einzelne Feldehen durch helle Zwischenlinien getrennt sind. Jedes Feldchen springt uhrglasartig konvex nach außen vor. Durch eine eigenartige Struktur der Emailschicht ıst auch der helle messinggelbe Glanz auf den Flügeldecken des Anophlognathus aureus bedingt, der, wenn der Flügel des Käfers in verdünnte Kalilauge eingelegt wird, verschwindet. Der Flügel ıst nach dieser Behandlung gelbbraun gefärbt. Die Emailschicht besteht hier aus zwei Chitinlamellen, einer sehr dünnen, durchsichtigen, farblosen äußeren Lamelle und einer ebenfalls dünnen, gelbgefärbten, mit deutlicher Zellzeichnung versehenen inneren Schicht. Zwischen den beiden Chitinlamellen befindet sich eine in diesem Fall leicht nach- weisbare Luftschicht, auf deren Vorhandensein der ungewöhnlich starke Glanz des Käfers zurückzuführen ist. Die Untersuchungen ergaben übereinstimmend, dass sich die Erscheinungen des Metallglanzes und farbigen Schillers bei Käfern durch eine gewisse schematische Einförmigkeit auszeichnen. In der Mehrzahl der Fälle findet man nämlich bei senkrechtem Aufblick die farbig schillernden Flächen kupferrot, bronzefarbig, oder ın verschiedenen Nuancen gelbgrün (goldgrün) glänzend. Seltener erscheint Blau und Violett. Bei schrägem Aufblick, d. h. bei wachsendem Einfallswinkel des Lichtes macht sich dann immer ein Farbenwechsel bemerkbar, „und zwar im Sinne der Aufeinanderfolge der Spektralfarben nach ihrer zunehmenden Brechbarkeit. Bildet Rot den Ausgangspunkt, so werden in der Regel alle Farbenstufen bis Violett durchlaufen, entsprechen der ersten Ordnung der New- ton’schen Farben dünner Blättchen“. Es bleibt noch fraglich, wie weit bei Cetonia, Patosia und Anophlognrathusder stufenartige, perlmutterähnliche Bau der äußersten Lagen der Emailschicht für die Schillerfarben verantwortlich zu machen ist, oder ob es sich lediglich um Interferenz von Strahlen handelt, die an den vorderen und hinteren Begrenzungsflächen der dünnen Blättchen reflektiert werden. Am einfachsten liegen die Verhältnisse überall da, wo sich das schillernde, farblose Häutchen an der Oberfläche der Flügeldecken isolieren lässt, wie bei jungen Cetonien, oder an den zarten durchsichtigen Flügeln mancher Neuro- und Orthopteren (Chrysopa und die meisten Libellen). Für solche glimmerartig irisierenden Blättchen gilt die Regel, dass der Farbeneffekt in voller Schönheit nur dann hervortritt, wenn der Untergrund dunkel ist. Das dunkle Pigment in den Flügeln ist daher für die Schillerfarben nur insofern von Bedeutung, als die gefärbte Schicht den dunkeln Grund bildet, der das Sichtbar- werden der Farbenerscheinung begünstigt und auch modifiziert. Neben der äußeren farblosen Kutikularschicht trägt in verschieden hohem Maß die unter ihr liegende „Stäbchenschicht“ zu der Fär- bung der Käfer bei. Bei den metallischglänzenden Carabiden ist 184 Biedermann, Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. der Farbenglanz an das äußerste Häutchen allein gebunden, er ver- schwindet, sobald diese Grenzlamelle zerstört wird. Anders ver- hält es sich bei Smaragdisthes. Hier bewirkt in erster Linie die Stäbchenschicht in Verbindung mit ihrem gelben Pigment den grünen Schiller. Die unpigmentierte bezw. ıhres Pigmentes be- raubte Stäbchenschicht wirkt als „trübes Medium“. Sie erzeugt auf dunkelm Grund Blaufärbung, die durch Beimischung des Pig- mentgelb in Grün übergeht. Es ıst interessant, dass diese Stäbchen- schicht, sowohl in ihrem Bau wie auch in ihrer Wirkung in auf- fallender Weise an die dıe blaue Farbe bei Vogelfedern erzeu- gende Emailschicht erinnert. Verf. erwähnt ferner, dass nach den neuesten Untersuchungen von Ambronn auch bei den durch pracht- vollen Metallglanz ausgezeichneten Crustaceen, den Sapphirinen, die leuchtenden Schillerfarben von dicht aneinanderliegenden prisma- tischen, stark reflektierenden Stäbchen verursacht werden und so- mit auf gleiche Ursachen, wie die metallischen Farben der Käfer zurückzuführen sind. Dem optischen Verhalten dieser Stäbchen nach zu urteilen, handelt es sich bei Käfern wie bei Sapphirinen um eine Schicht pallisadenartig dicht aneinander gerückter, optisch einachsiger, anisotroper Gebilde, die bei den Käfern jedenfalls aus Chitin bestehen. Die Schillerfarben der Sapphirinen und jene der schuppenlosen Käfer sind somit im allgemeinen auf die gleichen physikalischen Ursachen zurückzuführen. Biedermann untersuchte des weiteren die physikalische Natur des an der Oberfläche des Chitinpanzers der Käfer reflektierten Lichtes und fand, dass in dieser Beziehung auffällige Unterschiede bestehen. In einzelnen Fällen war das zurückgeworfene Licht so gut wie gar nicht polarisiert, in andern Fällen handelte es sich um eine fast vollkommen elliptische Polarisation. Der zweite Teil des Biedermann’schen Werkes beschäftigt sich mit den Farbeneffekten der Käfer- und Schmetterlings- schuppen. Viel öfter als bei schuppenlosen Käfern spielen bei den schuppen- tragenden Formen die Interferenzerscheinungen eine Rolle, die durch dünne Luftschichten hervorgerufen werden. Dies gilt z. B. für die Färbung eines hellgrünen Rüsselkäfers, der im Juni und Juli auf Gras und Gebüsch vorkommt (Phyllobius sp.). Bei Lupen- vergrößerung erscheint die ganze Oberfläche der Flügeldecke des Käferchens mit goldgrünglänzenden Pünktchen besät. Wird der Käfer indessen mit Alkohol benetzt, so ist keine Spur mehr von seiner früheren Färbung zu erkennen, das ganze Objekt ist dann undurchsichtig schwarzbraun. Unter stärkerer Vergrößerung beob- achtet man lauter kurze, annähernd senkrecht zur Längsachse des Flügels verlaufende gelb, grün oder blaugrün glänzende Querbinden, die, wenn das Objekt mit der Längsachse in der Richtung des Biedermann, Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. 155 einfallenden Lichtes orientiert wird, an der konvexen Oberfläche der Flügel, nach Drehung um 90° dagegen nur an der der Licht- quelle zugewendeten Fläche hervortreten, und an der anderen Seite ganz fehlen. Jede der strahlenden Querbinden verläuft über die Mitte eines konvex gekrümmten (muschelförmigen) Schüpp- chens. Jedes Querband wird durch eine Anzahl dunkler Linien, die Rippen der Schuppe, in Striche aufgelöst, die parallel der Schuppenachse nebeneinander liegen. Die Farbe der schillernden Bänder ist, wie auch bei den schuppenlosen Käfern, von dem Ein- fallswinkel des Lichtes abhängig und so kommt es, dass an den konvexen Oberflächen der Flügeldecken, wo das Licht senkrecht einfällt, gelbgrün, an den schräg abfallenden Seitenflächen, wo der Neigungswinkel des Lichtstrahles größer ist, blaue Farben- töne vorherrschen. Die isolierten Schuppen erscheinen auch im durchfallenden Licht intensiv gefärbt und zwar im allgemeinen komplementär zu ihrer Farbe, die sie im reflektierten Licht besitzen. Nach völliger Imbibition mit irgendeiner Flüssigkeit werden dieselben farblos bezw. blassgelblich, da die als dünnes Blättchen wirkende, in der Schuppe eingeschlosene Luftschicht verdrängt wird. Wie bei Phyllobius so bilden auch pigmentierte lufthaltige Schuppen die Ursache der Färbung des brasilianischen Käfers Entimus impervalıs. Die Farben der einzelnen Schüppchen sind hier gewöhnlich sehr verschieden und oft stoßen auf einer Schuppe komplementäre Farbenbezirke aneinander und sind von unregelmäßig gezackten Grenzlinien eingefasst. So kann die Schuppe in eine vordere oder hintere Hälfte, oder aber in durch schräge Linien getrennte Be- zırke getrennt werden. Verf. erklärt diese Verschiedenheit in der Färbung der Schuppenbezirke durch die dünnere oder diekere Luft- schicht, die von den Schuppenmembranen eingeschlossen werden. Wird die Luftschicht im Innern der Schuppen durch ein anderes Mittel, durch Alkohol oder Glyzerin ersetzt, so verlieren die Schuppen ihre Färbung ım auffallenden Licht nicht vollkommen, dieselbe wird nur schwächer. Eine dünne Luftschicht in den Schuppen erzeugt auch bei Hoplia eoerulea das schöne metallische Blau. Der Betrachtung der lufthaltigen Käferschuppen reiht Bieder- mann eine Besprechung der Farbeneffekte bei lufthaltigen Schmetterlingsschuppen an. Bei den weißen perlmutterglänzenden Schuppen der Argynnis Lathonia fand er, dass die Luft einerseits in den, hohle Röhren oder Kanäle darstellenden Rippen der oberen (äußeren) Schuppen- lamelle, andererseits aber in dem dünnen flachen Hohlraum zwischen beiden Lamellen enthalten ist. Durch Alkohol kann die Luft in den Schuppen verdrängt werden und es werden alsdann die Schuppen 156 Biedermann, Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. farblos und durchsichtig wie Glas, unter dem Mikroskop bemerkt man aber dunkle Pigmentkörner, die sich besonders dicht in der Nähe der Schuppenwurzel befinden. Wie bei fast allen schillern- den Schmetterlingsschuppen, so ist auch hier für starke Licht- reflexion die Orientierung der Schuppe in bezug auf die Einfallsrich- tung des Lichtes von wesentlicher Bedeutung. Der Silberglanz ist am stärksten, wenn die Schuppenachse dem Fenster parallel läuft und er verschwindet fast gänzlich, wenn man das Präparat in der Ebene des Objekttisches um 90° dreht. Auf dieselbe Ursache ist der viel lebhaftere Silberglanz der die Unterseite, namentlich der Hinterflügel zierenden Flecken, bei Dione moneta aus Kolumbien zurückzuführen. Seltener wie Silberglanz ist bei den Schmetter- lingsschuppen Goldglanz. Am schönsten wurde derselbe bei Plusia chrysitis, einer Noktuide aus Anasıa, beobachtet. Der Gold- glanz wird hier durch die total reflektierende Luftschichten in Verbindung mit der gelben Eigenfarbe der Schuppenmembranen her- vorgerufen. Der Glanz des unserem Dukatenfalter verwandten Polyommatus ochimus wird auf dieselbe Weise erzeugt. Bei den blauen Schuppen von ZLycaena bellargus vührt der Farbenglanz ebenfalls von interferierenden Luftschichten her, deren Farbenpracht dadurch erhöht wird, dass die Schuppen auf einem dunkeln Grund, den pigmentierten Grundschuppen ruhen. Die blaue Farbe wird indessen nicht gleichmäßig von der Schuppe zurückgestrahlt, die- selben gewähren vielmehr ein Aussehen, als wären sie mit einem lebhaft blauglänzenden Staub bedeckt, was auf eigenartige Struk- turen der Schuppenmembran zurückzuführen ist. Werden die Schuppen von Alkohol imbibiert, so ändert sich ihre Farbe in Grün. Häufig ist es auch die Schuppenform, die die Farbeneffekte er- heblich beeinflusst. So z. B. bei Amblypodia Tamiris, wo die Ober- fläche der Schuppe wellig gefaltet ist. Dreht man den auf dem Objekttisch liegenden Flügel langsam in der Richtung des Uhr- zeigers, so sieht man das Blau sich rasch mehr und mehr ver- dunkeln, aber nicht gleichmäßig auf der ganzen Schuppenoberfläche. Es treten vielmehr parallel der Schuppenachse abwechselnd dunkle und hell leuchtende, ziemlich breite Streifen auf, was nur auf eine verschiedene Reflexion der Lichtstrahlen an den Wellenrücken und in den Wellentälern zurückzuführen ist. Noch auffälliger ist die Beziehung der Schuppengestalt zur Schuppenfärbung bei Diorhina perianda, hier zeigt sich, dass der Einfallswinkel der Lichtstrahlen nicht nur für die Farbe, sondern auch für die Intensität des reflek- tierten Lichtes von Bedeutung ist, und dass schon sehr geringe Niveaudifferenzen genügen, um die Reflexionserscheinungen wesent- lich zu schwächen oder zu verstärken. In bezug auf die Natur ihrer Schillerfarben schließen sich die tropischen Papilioniden und namentlich die Morphiden ebenfalls Biedermann, Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. 187 den Lycaeniden an. Am kompliziertesten sind die optischen Ursachen, die die Farben des Morpho peleides hervorrufen. Es befinden sich hier ausnahmsweise zwei Lagen in verschiedenen Farben schillern- der Schuppen übereinander. Unter den schillernden Schuppen ist noch eine dritte Lage dunkel pigmentierter Grundschuppen. Dem- entsprechend ist auch der Schiller unter den verschiedenen Bedin- gungen sehr wechselnd, wenn auch weniger prächtig und gesättigt in der Farbe wie bei anderen Morphiden. Im einzelnen stellen die Oberschuppen durchsichtige stark ge- wölbte Elemente dar, die etwa die Form einer halben Wallnuss- schale besitzen und an der Oberfläche stark vorspringende hohle lufthaltige Rippen tragen, die sich leicht stellenweise ablösen. Im vorderen Drittel sind die Schuppen besonders stark nach unten abgebogen. Bei schwacher Vergrößerung erscheinen diese luft- haltigen Rippen im durchfallenden Lichte blau; wo sie fehlen, oder nicht lufthaltig sind, tritt dagegen ein gelblicher Farbenton hervor. Die Schuppen der zweiten Lage unterscheiden sich in ihrem Bau nicht wesentlich von den blau schillernden Schuppen anderer Mor- phiden. Jede einzelne Schuppe ist wie ein Hohlziegel geformt, d. h. um ihre Längsachse flach gebogen. Da, wie bereits erwähnt, Farbe und Glanz der schillernden Schuppen wesentlich durch den Einfallswinkel des Lichts beeinflusst wird, so ist es selbstverständ- lich, dass bei unebenen Schuppen auch die Farbeneffekte mit jeder Lageänderung des Flügels andere werden. Bei den Morphoarten mit hohlspiegelartig gebauten Schillerschuppen sind die Flügel in zwei Lagen glanzlos und m zwei andern glänzend. Wenn nämlich die Flügel des Falters so orientiert werden, dass der Flügeivorder- rand dem Fenster zugekehrt ist (Lage II), so erscheint die Flügel- fläche gleichmäßig strahlend blau, während sich die beiden weißen Fleckenbinden mit einem rosaroten Hauch überziehen. Derselbe Farbeneffekt wird erzielt, wenn wir den Schmetterling im Sinne des Uhrzeigers um 180° drehen (Lage IV). Ist dagegen Flügel- wurzel (Lage I) oder Flügelspitze (Lage III) dem Fenster zugekehrt, so macht der prächtige blaue Schiller einer glanzlosen Braun- färbung Platz. Bei Morpho peleides fehlt nun das Intensitätsmaximum des gespiegelten Lichtes in den Lagen II und IV, weil hier die den Schillerschuppen der übrigen Morpho-Arten entsprechenden Rle- mente der zweiten Schuppenlage in den Hauptlagen II, III und IV dunkel erscheinen, in Lage IV mit einem noch deutlichen blauen Schimmer. Die tiefere Schuppenlage von M. peleides ist nur nahe der Lage I intensiv blau gefärbt. Die Oberschuppen reflektieren in den verschiedenen Lagen abwechselnd grünliches oder blaugrün- liches Licht. Infolge der besonderen Form und Lage der Schiller- schuppen tritt also bei diesem Schmetterling des für die Morphiden sonst so charakteristische strahlende Blau mehr in den Hintergrund, 188 Biedermann, Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. so dass es nur unter besonderen Bedingungen den Sieg über den grünlichen Schiller der Oberfläche davonträgt. Wie bei den Lycaeniden, so schillern auch die Flügel der Morpho-Arten, wenn sıe unter Alkohol gebracht werden, und zwar von Grün durch Blau zu Violett, vorausgesetzt, dass das Licht unter immer größerem Einfallswinkel die reflektierende Fläche trifft. Dieser Schiller ist bei Morpho noch weit farbenprächtiger wie bei Lyeneniden. bei M. rhetenor folgen sich die Farben von Grün durch alle Nuancen des Blaugrün zum Blau bis zu einem präch- tigen gesättigten Violett. Bei M. peleides, wo sich beide Schuppen- lagen an dem Schiller zu beteiligen scheinen, treten außer den grünen auch noch purpurne, sowie rein rote und gelbe Töne auf. Meistens ist bei unebeneren Schmetterlingsschuppen die Schuppen- fläche derart gekrümmt, dass sıch das vordere Schuppenende nach hinten und unten, d.h. nach dem Außenrand des Flügels zu, mehr oder weniger umgebogen zeigt. Viel seltener scheint das Umge- kehrte der Fall zu sein, das z. B. bei Euploea deione zutrifft. Bei Euploea dione schillern nur die Vorderflügel dunkelblau und zwar bei geradem Aufblick ausschließlich ın der ersten Flügelhauptlage, d.h. wenn der freie Außenrand der Flügel vom Fenster abgekehrt ist. In keiner andern Stellung ist bei genau horizontaler Flügel- lage Schiller zu beobachten. Dieses Verhalten lässt sich darauf zurückführen, dass die breiten schaufelförmigen Schillerschuppen nach vorne, d. h. nach der Flügelwurzel hin umgebogen sind und zwar besonders stark am Flügelvorderrand. Außerdem ist jede Flügelschuppe schräg von der Flügelebene anfgerichtet, so dass die Schuppenfläche nach der Schuppenwurzel hingeneigt verläuft. Ähnlich verhält es sich bei den Männchen von Hypolymnus bolina, das auf jedem der vier ganz dunkelbraunen Flügeln in der Mitte einen weißen, von einem mattblau schillernden Hof umgebenen Fleck besitzt. Auch der Schiller unserer einheimischen Apatura- Arten ist auf Rechnung der nach oben umgebogenen Schuppen zu schreiben, wie bereits B. Walter erkannt hatte, und nicht, ent- sprechend der Annahme Spuler’s durch die Schuppenskulptur zu erklären. Manchmal, wie z. B. bei Apatura cherubina sind die schillernden Farbeneffekte dadurch noch komplizierter, dass die Schuppen ın verchiedener Weise gekrümmt und zur Flügelachse ver- schieden gestellt sind. Da wo bei Schmetterlingen grüner Schiller angetroffen wird, entsteht er oft aus einer Kombination des optischen Blau mit gelben oder rotgelben Pigmentfarben. Es sind nament- lich verschiedene Papilioarten, die hierfür Belege abgeben. Bei Ornithoptera pegasus, deren Hinterflügel in jeder horizon- talen Lage mattgrün erscheinen, sind die einzelnen Deckschuppen im auffallenden Licht grasgrün, im durchfallenden blutrot gefärbt, und man erhält bei stärkerer Vergrößerung betrachtet, den Ein- Biedermann, Die Schillerfarben bei Insekten und Vögeln. 189 druck, als ob diese blutrote Färbung von körnigen Kinlagerungen herrührte, während die Grundsubstanz der Schuppenmembran homogen gelbgefärbt erscheint. Es zeigt sich indessen bei näherer Untersuchung, dass die roten Körnchen nichts anderes darstellen, wie kleine Bezirke der oberen Schuppenmembran, welche im auf- fallenden Licht grün schillern und daher ım durchgehenden Licht komplementär rot erscheinen. Die mannigfachen und unvergleichlich glänzenden Schiller- farben von Urania eroesus verdanken ihr Zustandekommen nur zum allerkleinsten Teil dem Zusammenwirken von optischen und Pigmentfarben. Die Vorderflügel dieses Schmetterlings sind blau und unten schwarz und grün gebändert. Bei geradem Aufblick geht das Grün in Rötlichgelb, bei schräger Betrachtung in Blau- grün oder Blau über. Auf den Hinterflügeln sind außer diesen Farben noch ein bei Schmetterlingen sonst sehr seltenes glänzendes Gelbrot, sowie Hellgelb und Violett vertreten. Immer bestätigt sich die Regel wieder, dass mit zunehmendem Einfallswinkel des Lichtes die Farben sich in der Richtung von dem weniger brech- baren, roten Ende des Spektrums nach dem brechbareren, dem violetten Ende verschieben. Wie bei vielen schillernden Käfern so durchlaufen hier einzelne Stellen unter den erwähnten Umständen fast die ganze Reihe der Spektralfarben. Form und Lage der Schuppen zur Flügelebene bedingen auch hier eine außerordent- liche Mannigfaltigkeit der Farbenänderung, wenn sich beim Drehen des Objekttisches die Schuppen in immer wechselnder Lage dem Licht darbieten. Auch hier kann durch einen Tropfen Alkohol, der von den Schuppen sehr rasch aufgenommen wird, momentan aller Farbenglanz vollkommen erlöschen, um erst nach dem Trocknen wiederzukehren. Im durchfallenden Licht erscheinen die Schiller- schuppen von Urania croesus schön grün, sie tragen an ihrer Ober- fläche zahlreiche, sehr scharf ausgeprägte, aber ziemlich weit von- einander abstehende Längsrippen, die eine Art Katenulierung zeigen. Die Zwischenräume erscheinen völlig homogen durchsichtig und man kann sich davon überzeugen, dass von ihnen im durchfallenden Licht und ebenso bei auffallender Beleuchtung die Farbe ausgeht. Ähnliche Verhältnisse wie bei Käfern und Schmetterlingen traf Verf. auch bei schillernden Vögeln an, z. B. bei Kolibris. Auch hier war der prächtige farbige metallische Schiller auf Inter- ferenzerscheinungen zurückzuführen, die sich an den Fiederchen voll- ziehen. Jedes Fiederchen der Kolibrifeder stellt eine nach vorne spitz zulaufende Hohlrinne dar, die so um die Längsachse gedreht ist, dass ihre Höhlung nach vorne, ihr konvexer Rücken nach hinten der Federwurzel zugekehrt ist. Längs der Mitte des Rückens verläuft ein etwas zugeschärfter Kiel, von dem nach beiden Seiten die dünnen membranösen Wände der Hohlrinne aufsteigen. Die- 190 Kaserer, Über die Oxydation des Wasserstoffes selben sind durch schief verlaufende Querlinien in rhombische Felder geteilt, die den Eindruck platter Zellen machen und im durch- fallenden Licht Einlagerungen von körnigem, bräunlichgelbem Pig- ment erkennen lassen. Da nun ausschließlich die konvexe äußere Fläche der Rinnenwände schillert, so ıst es verständlich, warum nur in gewissen Lagen der Feder farbiger Schiller bemerkbar ist. Es verhält sich hier genau so wie bei den Schmetterlingsschuppen, die, wie z. B. bei Apatura cherubina, ebenfalls Hohlrinnen dar- stellen. Im durchfallenden Licht zeigen auch die schillernden Federn komplementäre Farben. Während bei Schmetterlings- schuppen die Schillerfarben nach Zusatz von Alkohol zu schwinden pflegen, so beobachtet man bei den Kolibrifedern zunächst keine Farbenänderung. Bleiben die Federn indessen längere Zeit ın Glyzerin, so tritt an Stelle metallischgrünen Schillers solcher von tiefroter Farbe, während sich vorher rotgefärbte Stellen in blaue und blaue in grüne verwandeln. Überblicken wir nochmals die Gesamtheit der uns von Bieder- mann mitgeteilten Resultate, so sehen wir, dass die Schillerfarben bei Käfern, Schmetterlingen und Vögeln (Kolibri) auf Interferenz- erscheinungen zurückzuführen sind und dass, die glänzenden Farbeneffekte nicht, wie es von Walter angenommen wurde, von der Gegenwart eines Schillerstoffes abhängen. Die Interferenz der Lichtstrahlen wird entweder durch dünne Chitinplättehen — schuppenlose Käfer — oder aber durch dünne Luftschichten, die die Hohlräume der Schuppen und Fiederchen erfüllen, bedingt. Je nachdem verhalten sich die schillernden Organe auch verschieden bei Benetzung. Die durch Chitinlamellen hervorgerufenen Schiller- farben verschwinden nicht, wenn die Flügeldecke z. B. in Alkohol gebracht wird, es tritt auch keine wesentliche Änderung in dem Farbenton des Schillers ein. Handelt es sich dagegen um eine interferierende Luftschicht, so geht der Schiller unter Alkohol ver- loren, weil letzterer in die Hohlräume der Schuppen leicht ein- dringt und die Luft daraus verdrängt. Eine Mittelstellung nehmen die Schillerfarben der Vogelfedern (Kolibri) und einiger Schmetter- lingsschuppen ein, die erst bei längerer Einwirkung des Benetzungs- mittels ihren Farbenton ändern. M. v. Linden (Bonn). Kaserer, H. Über die Oxydation des Wasserstoffes und des Methans durch Mikroorganismen. Ztschr. f. d. landwirtschaftl. Versuchswesen in Österreich. Jahrg. 1905. Verfasser beobachtete die höchst auffallende Tatsache, dass in Gärkölbehen, die mit einer bestimmten Nährlösung (0,1°/, NH,C, 0,05%, K,HPO,, 0,2%/, MgSO,, 0,1°/, NaHCO,, Spur FeCl,) beschickt Kaserer, Über die Oxydation des Wasserstoffes. 191 und mit etwas Boden beimpft waren, ein langsamer Verbrauch von in den geschlossenen Schenkel eingeführtem Wasserstoffgas stattfand. Obzwar es nicht gelang, Reinkulturen von Mikro- organismen zu gewinnen, so kann die Beteiligung von Lebewesen an der Erscheinung kaum zweifelhaft sein; denn fortgesetzte Über- tragung hatte stets den gleichen Erfolg, welcher ohne Impfung ausblieb, ebenso äber auch ausblieb, wenn an Stelle der Nähr- lösung nur destilliertes Wasser gegeben wurde; auch gelang es, dureh wiederholte Beigabe von Wassertoff, eine dichte Bakterien. haut auf der inneren Wasseroberfläche der Gärkölbchen heranzu- züchten. Da die Erscheinung sich nur bei Sauerstoffzutritt zeigt, so dient der Wasserstoff hier wohl als Ate »mmaterial, während der Kohlenstoffbedarf aus Kohlensäure gedeckt wird. Die als Ursache der beobachteten Vorgänge anzunehmenden Mikroorganismen erfordern in dreifacher Hinsicht unser Interesse. Erstens bilden sie eine neue Gruppe chlorophylifreier, dabei aber autotropher Organismen, deren wir bisher nur die Nitrifikations- bakterien und gewisse Schwefelbakterien (nur ein Teil dieser ist autotroph) kannten. Zweitens reihen sie sich den nitrifizierenden und den Schwefelbakterien als eine dritte Klasse von Wesen an, die nicht, wie alle anderen, Kohlenstoffverbindungen ver- atmen; an Stelle dieser tritt für die Atmung bei den einen Stick- stoff, bei den anderen Schwefel, bei der neuen Gruppe der Wasserstoff. Drittens erhalten wir durch die vorliegenden Be- ‚ obachtungen eine wenigstens teilweise Antwort auf die Frage, was aus dem bei der anaöroben Fäulnis und Gärung (insbeson- dere bei der Buttersäuregärung) entweichenden Wasserstoff wird; zum Teil wird dieser zweifellos in die Atmosphäre abge- schieden, je nach Umständen wird aber ein größeres oder geringeres Maß, zugleich mit der freiwerdenden Kohlensäure, alsbald wieder von den "fraglichen Mikroben aufgenommen und ihrem Stoffwechsel dienstbar gemacht. Dem Boden bleibt somit ein gewisser Teil von organischer Substanz bewahrt, der ohne jene Mikroben ver- loren gehen würde. Am ausgiebigsten wurde die Erscheinung nach Impfung mit Bracheboden beobachtet; hier, wo durch lebhafte Zersetzung von Pflanzenresten Wasserstoff und Kohlensäure gebildet werden, können sich vermutlich die fraglichen Organismen besonders stark ver- mehren. Nach derselben Methode wurde auch die Existenz Methan zersetzender Bakterien wahrscheinlich gemacht; das Methan würde denselben auch als Kohlenstoffquelle dienen. Die Nitrifikation konnte in den Kulturen stets erst dann ein- setzen, wenn der Wasserstoff bezw. das Methan vollständig ver- braucht war. Hugo Fischer (Berlin). 192 Müller-Pouillet, Lehrbuch der Physik und Meteorologie. Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Physik und Meteorologie. Zehnte umgearbeitete und vermehrte Auflage. Unter Mitarbeitung von O. Lummer, A. Wasmuth, J. M. Pernter, Karl Drucker, W. Kaufmann, A. Nippoldt, heraus- gegeben von Leop. Pfaundler. Erster Band. Mechanik und Akustik, bearbeitet von L. Pfaundler. Gr. S. XVII und 801 Seiten und 841 Figuren. Braunschweig. Vieweg u. Sohn. 1905. 1906. Zur Bearbeitung dieser neuesten Auflage des allbekannten Lehrbuchs, dem schon viele Generationen von Physikern und Bio- logen eine etwas eingehendere Kenntnis der Physik verdanken, als sie dıe kürzeren Lehrbücher vermitteln können, hat sich Herr Pfaundler mit den oben genannten Gelehrten verbunden. Er selbst hat den ersten Band übernommen, und auch diesen nur, nachdem v. Wild, welchem die Verlagshandlung zuerst die Neu- bearbeitung des Werkes übertragen hatte, über der Arbeit ge- storben war. Aus der Bearbeitung Wild’s hat Herr Pf. Teile des metrologischen Abschnittes übernommen, welchen der Ver- storbene, seiner persönlichen Neigung entsprechend, sehr sorgfältig und ausführlich behandelt hatte. Im übrigen ist er mehr seiner früheren Darstellungsart gefolgt, so dass die vorliegende Auflage sich nicht wesentlich von der neunten unterscheidet. Die Dar- stellungsart ıst bekannt genug. Sie geht mehr auf die genauere Beschreibung von Untersuchungsmethoden und Apparaten aus, wobei freilich die logische Entwickelung der einzelnen Tatsachen aus- einander, durch welche erst die ganze Lehre zu einer Wissenschaft erhoben wird, etwas zu kurz kommt. Wegen der Bekanntheit der früheren Auflagen muss ich mich auf diese kurze Anzeige be- schränken, kann jedoch eine Bemerkung nicht unterdrücken. Auf S. 714 werden die Zungenwerke mit membranösen Zungen als „Lippenpfeifen“ bezeichnet, während vorher (S. 619) dieser Name ganz richtig für die bekannten Orgelpfeifen gebraucht wird und später (bei Besprechung des menschlichen Kehlkopfs S. 774) der freilich auch nicht ganz richtige Ausdruck „membranöse Zungen- pfeifen“ vorkommt. Die folgenden von den neuen Mitarbeitern zu besorgenden Bände werden vielleicht Gelegenheit geben, auf besondere Eigenheiten derselben einzugehen. Da es lauter wohl- bekannte, um die einzelnen Zweige, welche sie bearbeiten sollen, wohlverdiente Forscher sınd, ıst das Beste von ihnen zu erwarten. So wird denn das Buch auch weiter dazu beitragen, die Kenntnis der Physik bei Studierenden, Lehrern an Mittelschulen und bei solchen, welche von ihr Anwendung zu machen haben, auszubreiten. Die physikalische Literatur ist bis auf die neuesten Erschei- nungen berücksichtigt worden, wie u. a. daraus hervorgeht, dass die neue Quecksilberpumpe, welche Herr Gaede auf der Natur- forscherversammlung zu Meran demonstriert hat, in einem Nach- trag beschrieben wird. J. R. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Di. K Goebel, und. 'Dr.-R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. ‚Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn. Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. XXVT. Ba. 1. April 1908. RR. Inhalt: Pine, Bemerkungen zu W. Burck’s Abhandlung über die Mutation als Ursache der Kleisto- gamie (Schluss). — Salensky, Über den Vorderdarm des Polygordius und des Saccocirrus. Artom, Note eritiche alle osservazioni del Loeb sull’ Artemia salina. — Piepers, Über die sogenannten „Schwänze“ der Lepidopteren. — Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. — Wiesner, Jan Ingen-Housz. Sein Leben und sein Wirken als Natur- forscher und Arzt. — Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. — Kleinpeter, Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart. — Vogler, Archiv für Hydro- biologie und Planktonkunde. Bemerkungen zu W. Burck’s Abhandlung über die Mutation als Ursache der Kleistogamie. Von E. Loew. (Schluss. Primulaceae: Anagallis arvensis und Centuncuhıs minimus (Blüten periodisch sich schließend und pseudokleistogam nach Hans- girg). — Lysimachia nemorum schließt ihre Blüten bei Regen- wetter und befruchtet sich dann selbst (nach Kerner). Vgl. auch die Beobachtungen Kirchner’s!), der Nektar: absunderung an der im Sononcdenn geöffneten Blüte feststellte. Liliaceae: Gagea pratensis hat‘ (nach Hansgirg) periodisch sich schließende Blüten und bestäubt sich nach Warnstorf?) in geschlossenem Zustande leicht auf autogamem Wege. — Desgl. andere Arten von Gagea (nach Hansgireg). l) Kirchner. Mitteil. über die Bestäubungseinrichtung der Blüten IIT. Stuttgart 1902, S. 12—13. 2) C. Warnstorf. Blütenbiologische Beobachtungen aus der Ruppiner Flora im Jahre 1895. Verh. d. Bot. Ver. Prov. Brandenburg, NXXVIIT, 8. 57. XXVlI. 13 194 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie‘. Tridaceae: Sisyrinchium anceps. Die Blüten sind nach Hansgirg ephemer und pseudokleistogam; ich sah sie von einer winzigen Apıide besucht). Juneaceae: Bei dieser Familie ist nach Buchenau’s?) eingehenden Untersuchungen Ephemerie der Blüten sehr verbreitet. Zu- gleich ist ein besonderer Mechanismus am Blütenboden, bis- weilen auch an der Innenseite der Staubblätter und der Basis der Perigonblätter, ausgebildet, der die Blütenöffnung bewirkt. Trotz der meist kurzen Dauer der Anthese sınd die meisten Arten im Anfangsstadium des Blühens ausgezeichnet protogyn; auch wird die Fremdbestäubung durch das eigentümliche, von Buchenau beschriebene Blühen „ın Pulsen“ begünstigt. Mittelstufen zwischen Chasmogamie und Kleistogamie be- obachtete P. Ascherson bei Juncus bufonius; Buchenau fand auch J. capitatus und vielleicht J. pygmaeus kleistogam blühend. Gramineae: Auch bei dieser Familie liegen bekanntlich in dem Schwellkörper der Lodiculae spezifische Einrichtungen zum Öffnen der Spelzen vor und ebenso sind zahlreiche Arten durch kurze Dauer der Anthese ausgezeichnet. Kleistogamie bezw. Pseudokleistogamie wurde nicht bloß bei einzelnen Ge- treidevarietäten (Triticum spelta, Hordeum xeocriton, H. distichum u. a.), sondern auch bei wildwachsenden Gräsern (Stipa-Arten nach Godron, Hordeum murinum u. a.) beobachtet?). Die Durchsicht des obigen Verzeichnisses‘) macht ersichtlich, dass hier zwei ganz verschiedenartige Vorkommnisse zu unter- scheiden sind, nämlich einerseits solche Blüten, in denen bei Blütenschluss notwendigerweise Autogamıe eintritt, und andererseits Blüten, die ursprünglich für Fremdbestäubung veranlagt sind und bei denen der Blütenschluss nur dann zu Selbstbestäubung führt, wenn die Fremdbestäubung unterblieb und die Blüteneinrichtung z. B. durch inzwischen veränderte Lage der Bestäubungsorgane wie in dem Fall von Gentana utriculosa zu Autogamie übergegangen ist. Eine obligatorische Verknüpfung zwischen Blütenschluss und ausschließlicher Autogamie, wie sie Burck annimmt, liegt also für die letztere Kategorie von Blüten gar nicht vor. Es kann z. B. eine protogyn eingerichtete, nur für 1) Blütenbiolog. Beiträge. Pringsh. Jahrb. XXIII (1892), S. 250. 2) Fr. Buchenau. Über die Bestäubungsverhältnisse bei den Juncaceen. Pringsh. Jahrb. XXIV, 1892, S. 363— 424. 3) Vgl. meine Blütenbiologische Floristik. Stuttgart 1894, S. 365 —373. 4) In den Listen Hansgirg’s sind noch zahlreiche andere Arten, z. B. aus den Familien der Nymphaeaceen, Cruciferen, Malvaceen, Geraniaceen, Elatinaceen, Hypericaceen, Convolvulaceen, Polemoniaceen, Hydrophyllaceen, Pontederiaceen, C'ommeiinaceen u. a. angeführt, die gamotropisch und zugleich pseudokleistogam sind. Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 195 wenige Stunden sich öffnende Blüte einer Juncaus-Art während der Zeit ihrer Öffnungsperiode durch den Wind auf allogamen Wege bestäubt werden und sich dann schließen, wobei der Blütenschluss ganz ohne Einfluss auf die Art der Befruchtung bleibt. Tritt zu- fälligerweise keine Kreuzung ein und schließt sich dann die ephe- mere Blüte für. immer, ist Selbstbestäubung ıhr letzter Ausweg, um zu Fortpflanzung zu gelangen. Besitzt sie dagegen die Fähig- keit des periodischen Schließens und Öffnens, kann sie immer noch während einer Öffnungsperiode Kreuzbefruchtung erfahren. Nur die vorauseilende oder wenigstens sehr frühzeitige, gleichzeitige Reife der Bestäubungsorgane sowie auch deren möglichst nahe Lage ıst für den Eintritt ausschließlicher Selbstbestäubung der eigentlich ausschlaggebende Faktor. Es dürfen daher periodisch sich schließende oder ephemere Blüten, für die jenes Merkmal nicht zutrifft, auch nicht als pseudokleistogam gelten, wıe dies von manchen Autoren ohne weiteres angenommen wird, die jede ab- norm geschlossene Blüte ohne nähere Untersuchung als autogam befruchtet betrachten. Je mehr die äußeren Lebensverhältnisse an einer Pflanze mit periodisch sich schließenden oder ephemeren Blüten, die zugleich für allogame und autogame Bestäubung eingerichtet sind — z. B. durch ausreichend hohe Temperatur, größere Zahl wolkenloser und regenfreier Tagesstunden, schwache und warme Winde, reichlichen Insektenbesuch u. s. w. —, Fremdbestäubung begünstigen, desto mehr wird eine solche Pflanze auch die durch Blütenschluss her- beigeführte Autogamie entbehren können. Ein ganz anderes Bild ergibt sich aber unter ungünstigen Lebensverhältnissen, mögen sie nur lokal und vorübergehend sein oder durch die geographische Lage bedingt, auf größeren Gebieten und dauernd zur Herrschaft gelangen. Jetzt greift der abnorme Blütenverschluss als Schutz- mittel ein, die Perianthblätter zahlreicher periodisch sich schließender und ephemerer Blüten unterlassen die Öffnungsbewegung, und die Bestäubung findet schließlich trotz der ursprünglich allogamen An- lage doch auf autogenetischem Wege statt — eine ökologische Änderung, die sich schließlich nicht nur auf einzelne, sondern auf sämtliche Blüten eines kleineren oder größeren Gebiets erstrecken kann, soweit sie die ın Rede stehenden Blütenverschlusseinrich- tungen überhaupt besitzen. Ä In letzterer Hinsicht sind besonders solche Fälle wichtig, ın denen ein andauerndes Geschlossenbleiben von sonst periodisch geöffneten oder ephemeren Blüten festgestellt werden konnte. So fand P. Magnus!) von Spergularia salina bei Kissingen nur Exem- plare mit geschlossener, blassgefärbter Krone und offenbarer Nei- 1) Sitzungsber. Gesellsch. naturfersch. Freunde zu Berlin 1858, S. 29—32. 13* 196 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie‘. gung zu Kleistogamie, während die Pflanze von P. Ascherson!) in Ägypten, von Mac Leod?) in Belgien und von mir bei Stass- furt auch mit normal geöffneten Blüten und ausgebreiteten, rosa gefärbten Kronblättern beobachtet wurde; Hansgirg?’) führt den Fall auf Wärmeempfindlichkeit der Blüten zurück. A. Schulz) konstatierte die tatsächlich eintretende Selbstbestäubung in den meist geschlossenen Blüten. Der letztgenannte Beobachter’) ver- mochte auch von Sagina Linnaei var. micrantha am kleinen Teich im Riesengebirge während einer Zeit von 16 Tagen keine einzige, offene Blüte aufzufinden, obgleich die Exemplare reichlich Frucht angesetzt hatten; ıch fand die Blüten der großblütigen Form ebenso wie A. Schulz*) bei Halle, in den Vormittagsstunden im Juli 1898 bei Mittelberg ın den Allgäuer Alpen sternförmig geöffnet und an den episepalen Staubblättern stark nektarabsondernd. Noch viel ausgeprägtere Verhältnisse gleicher Art fand E. Warming’) in (Grönland und auf dem Dovrefjeld in Norwegen; er beobachtete ausschließliche Selbstbestäubung, die vielfach schon ın der ge- schlossenen Knospe — ähnlich wie bei der vorhin beschriebenen Stellaria pallida — stattfand, bei folgenden Alsineen: Sagina nodosa, Alsine biflora, A. strieta, A. groenlandica, Cerastium trigynum und €. alpinum; die offenen Blüten letzterer Art sahen Holmgren°) und Eckstam’) dagegen auf Spitzbergen von Fliegen und kleinen Ichneumoniden besucht. Auch in Grönland sind es vorzugsweise die Blüten der Alsıneen mit ıhren für Licht und Wärme besonders empfindlichen Öffnungsmechanismen, die unter der Ungunst der Wetter- und Standortsverhältnisse zu Pseudokleistogamie mit aus- gedehnter, lokaler Verbreitung übergehen. Vielleicht gehört der merkwürdige, früher erwähnte Fall von Gentiana Andrewsi in Nordamerika gleichfalls hierher, der wegen der ın der Blüte un- zweifelhaft möglichen Fremdbestäubung die Unzulänglichkeit des von Burck für die kleistogamen Blüten aufgestellten Einteilungs- prinzips schlagend dartut. Um nicht missverstanden zu werden, will ich hier ausdrücklich 1), Au ar 0,890: DL Ara, OST 30: 3) A. Hansgirg. Physiolog. Untersuchungen, S. 30. }) A. Schulz. Beiträge zur Kenntnis der Bestäubungseinrichtungen und der Geschlechtsverteilung bei den Pflanzen. I. Kassel 1858, S. 16. 5) A. Schulz. Sitzungsber. Gesellsch. naturf. Freunde zu Berlin 1888, 8.51. 6) A. Schulz. Beiträge etc. II. 1890, S. 39. 7) E. Warming. Om Caryophyllaceernes blomster. Botan. Forenings Fest- skrift, 1890, p. 194—296. S) Holmgren. Bidrag till kännedomen om Beeren Eilands och Spetsbergens Insekt-Fauna. Stockholm 1869, p. 20 u. 23. )) Eekstam. Einige blütenbiologische Beobachtungen auf Spitzbergen. Troms. Museums Aarshefter XX, 1898, p. 26. Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. 197 darauf hinweisen, dass die Pseudokleistogamie durchaus nicht in allen Fällen mit gamotropischen Eigenschaften der Perianth- blätter Hand in Hand geht. Dass aber diese Verknüpfung in zahl- reichen Fällen besteht, ıst aus den oben mitgeteilten Tatsachen mit Sicherheit zu schließen, und das wirft immerhin ein gewisses Licht auf die Entstehungsursache der induzierten Kleistogamie mindestens bei denjenigen Pflanzen, die die Einrichtungen des periodischen Schließens, bezw. des ephemeren Blühens und parallel damit auch die voreilende, gleichzeitige Reife der Bestäubungs- organe von ihren Vorfahren ererbt haben. Die Frage, inwieweit die bestimmte, geschlossen bleibende oder sich öffnende Blütenform bei eimer kleistogam-chasmogam blühenden, wildwachsenden Pflanzenart unter normalen Lebens- bedingungen als fixiert und vererbbar zu betrachten ist, muss ich hier bei Schluss meiner kritischen Auseinandersetzungen als eine noch offene bezeichnen. Es veranlasst mich dazu außer einigen schon im Vorhergehenden mitgeteilten Erwägungen besonders das tatsächliche Vorkommen von zwei im vorigen nicht näher erörterten Kategorien kleistogamer Pflanzen, die Burck ohne schärfere Unter- scheidung mit den kleistogamen Pflanzen in gewöhnlichem Sinne vermengt hat. Eine Ausnahmestellung nehmen zunächst solche Arten ein, bei denen die chasmogame und die echtkleistogame Form deutlich und unzweifelhaft getrennte, geographische Areale inne haben, wie dies zwar nicht bei Juncus bufonius, Leersia oryxoides und anderen von Burck angeführten Beispielen, wohl aber bei mehreren Arten von Vandellia und Ilysanthes') — wenigstens nach den bisherigen Er- mittelungen — der Fall zu sein scheint. Hier lässt sich vielleicht die Frage entscheiden, ob die kleistogame Form unter normalen Lebensbedingungen ebenso wie unter abnormen vollkommen fixiert ist oder nicht. Eine zweite Kategorie von noch zweifelhaften Ausnahmefällen bilden solche echtkleistogamen Pflanzen, bei denen die chasmogame Form -— wie z. B. bei der Lythracee Ammania latifola nach der aus- drücklichen Versicherung von Koehne?) — vollkommen unbekannt ist und die zugleich echte Zwangsbestäubung (nicht etwa neben möglicher Autogamie auch noch allogame Blüteneinrichtung) be- sitzen. Ist bei einer solchen Pflanze die chasmogame Form nicht bei einer nahverwandten Nebenart aufzufinden, wie sie z. B. Stellaria media für St. pallida darstellt, wäre damit wenigstens ein sicherer Fall absoluter Fixierbarkeit der kleistogamen Form nachgewiesen! 1) Vgl. J. Urban. Studien über die Scrophulariaceengattungen Ilysanthes, Bonnaya, Vandellia und Lindernia. Ber. Deutsch. Botan. Gesellsch. II (1884), S. 429-442, 2) Lythraceae in Engler’s Pflanzenreich, Heft 7, S. 12. 195 Loew, Bemerkungen zu „Burck, Mutation als Ursache der Kleistogamie“. Die kleistopetalen Blüten können wir nicht als beweiskräftig gelten lassen, da ihre Einrichtungen unzweifelhaft auf Allogamie hinweisen und sie trotz ihres Verschlusses tatsächlich unter Um- ständen durch bestimmte Besucher mit Pollen anderer Blüten be- stäubt werden. Wichtigste Ergebnisse. 1. Die von Burck entdeckten, konstant geschlossenblütigen Pflanzen wie Myrmecodia tuberosa, gewisse Anonaceen u.a. dürfen nicht als kleistogam betrachtet werden, weil ihre Blüten weder deutliche Hemmungsbildungen noch Zwangsbestäubungseinrichtungen besitzen. Da ganz ähnliche, in Südamerika vorkommende Formen nach Fritz Müller und Ule tatsächlich durch Kohbris oder Insekten be- stäubt werden, sind derartige Blüteneinrichtungen als kleistopetal (nach Ule) von den echtkleistogamen Pflanzen im gewöhnlichen Sinne zu unterscheiden. 2. Die chasmogame und die kleistogame Blütenform der zwischen den beiderlei Blüten nach Zeit und Ort wechselnden Pflanzen können ihrer Entstehung nach nicht durch die Fertilitätsverhältnisse erklärt werden. Im allgemeinen, ökologischen Sinne haben beide Formen die gleiche Bedeutung für die Erhaltung einer mit ihnen aus- gestatteten Pflanzenart, da die offene Form vorwiegend oder teil- weise der heterogenetischen, die geschlossene Form ausschließlich der autogenetischen Fortpflanzung dient. Unter bestimmten Lebens- bedingungen und. bei den verschiedenen Pflanzenarten kann die eine Form sich vorteilhafter erweisen als die andere, ohne dass sie sich gegenseitig zu verdrängen vermögen. Die kleistogame Blüte erscheint in Übereinstimmung mit den entwickelungsgeschicht- lichen und experimentellen Beweisen Goebel’s als eine durch un- günstige Lebenslage, wie vor allem Ernährungsstörungen, hervor- gerufene Hemmungsbildung, bei der der vorauseilend und gleichzeitig eintretende Reifezustand der Bestäubungsorgane und ihre in der Blütenkonstruktion gegebene, nachbarliche Lage zwangsmäßige Selbstbestäubung herbeiführt. Der Blütenschluss hat nur sekundäre Bedeutung und kann daher unter Umständen z. B. bei Stellaria pallida nach vollzogener Bestäubung auch wieder aufgehoben werden, so dass der Fremdbestäubung ein letzter Ausweg eröffnet wird. 3. Induzierte (unechte) und habituelle (echte) Kleistogamie sind zwar morphologisch durch zahlreiche Übergangsstufen ver- bunden, trotzdem aber ökologisch — wenigstens in ihren beiden Extremen — recht verschieden. Nach einer von Goebel zuerst gegebenen Andeutung lässt sich die induzierte Kleistogamie auf Entfaltungshemmung, die habituelle auf Bildungshemmung zurückführen. 4. Die induzierte Kleistogamie ist in zahlreichen Fällen mit gamotropischen Eigenschaften des Perianths (d. h. Offnungs- und Salensky, Über den Vorderdarm des Polygordius und des Saceoeirrus. 199 Schließungsmechanismen desselben) verbunden. Es führt dies unter ungünstigen Lebensbedingungen und bei vorauseilend autogamer Einrichtung der betreffenden Blüten zu ausgedehnter Verbreitung pseudokleistogam blühender Formen, z. B. in Gebirgsgegenden oder in arktischen Ländern wie Grönland. 5. Die Erblichkeitsverhältnisse der kleistogamen Pflanzen be- dürfen ebenso wie die der sexuell variierenden Pflanzen eine er- neute, den Gesichtspunkten von de Vries, Correns Tschermak und anderer Forscher Rechnung tragende Untersuchung. 6. Die Annahme von Burck, die kleistogamblühenden Pflanzen als Zwischenrassen im Sinne von de Vries zu betrachten, wird weder durch Versuche noch durch anderweitige Beweismittel unter- stützt. Die kleistogame Blütenform ist keine Mutation, sondern eine von den äußeren Lebensbedingungen abhängige Variation. Über den Vorderdarm des Polygordius und des Saccocirrus. Von W. Salensky (St. Petersburg). Die Anatomie der niederen Anneliden: der Archianneliden und des Saceoeirrus ist für die Entscheidung mehrerer, morphologischer Fragen von besonderer Wichtigkeit. Die diesbezügliche anatomische Literatur besteht aus mehreren wertvollen Arbeiten, die aber zu der Zeit publiziert wurden, als die mikroskopische Technik noch lange nicht die gegenwärtige Vollkommenheit erreicht hat. Des- wegen erscheinen die Angaben der früheren Forscher in einigen Beziehungen unseren gegenwärtigen Bedürfnissen nicht vollkommen entsprechend und bedürfen einer neuen Prüfung. Durch diese Motive geleitet, habe ich vor zwei Jahren die anatomischen Unter- suchungen an den genannten Tieren vorgenommen. Die Resultate meiner Studien werden ausführlich in dem zweiten Teile meiner „Morphogenetischen Studien an Würmern“ publiziert. Hier will ich vorläufig einige Beobachtungen über den eigentümlichen Bau des Vorderdarms von Polygordius und Saccoeirrus mitteilen. Es ist bemerkenswert, dass der Vorderdarm der so nahe stehenden Annelidenformen, wie Protodrilıs und Polygordius einen bedeutenden Unterschied in seinem Bau zeigt. Während Proto- dribıs einen stark entwickelten, mit Muskeln und mit einem kom- plizierten Zahnapparat ausgerüsteten Schlundkopf versehen ist, soll Polygordius nach den Angaben von Fraipont einen nur schwach ausgebildeten und undeutlich vom Ösophagus begrenzten Schlund besitzen. Ob bei Polygordius überhaupt ein bauchständiger, schlauch- förmiger Schlund vorhanden sein soll, konnte ich aus den Unter- suchungen von Fraipont nicht ermitteln; es schien mir deswegen, 00 Salensky. Uber den Vorderdarm des Polygordius und des Saccocirrus. dass eine strenge Homologie zwischen dem Schlunde dieser beiden Vertreter der Archianneliden nicht durchgeführt werden könnte. Meine nächste Aufgabe bestand darin, den Vorderdarm dieser beiden Archiannelidengattungen aus eigener Erfahrung genau kennen zu lernen, um die Hauptpunkte zu gewinnen, auf die man bei der Vergleichung zwischen den Vorderdarm derselben sich stützen könnte. Durch die Untersuchung der Quer- und der Längsschnitte wurde erwiesen, dass Polygordius ebenso wie Saccocirrus einen sack- förmigen, bauchständigen Schlund besitzt, Fig. 1. welcher demjenigen von Protodrilus als N . homolog betrachtet werden kann und nur N karl durch seine viel schwächere Ausbildung BR ( von dem letzteren sich unterscheidet. Der { ie Hauptunterschied zwischen denzweiSchlund- formen besteht hauptsächlich darin, dass I, E der Schlund von Polygordius und Saceoeirrus f mer A Ser der Muskulatur entbehrt und nur aus einer | N Stv durch eine Mesodermlage überzogenen 7: Epithelschicht zusammengesetzt ist, während a PZn derjenige des Protodrilus mit einer sehr Pe} „St starken und kompliziert gebauten Muskulatur versehen ist. Die starke Entwickelung der N Muskeln ın dem Schlunde von Protodrilus i | steht offenbar mit dem Auftreten eines hoch entwickelten Kauapparates in demselben im | innigsten Zusammenhange. 5 es En Bei der Untersuchung des Schlundes er vordere leil Von FolYy- Te 7” von Polygordius und Saceoeirrus sind einige gordius neapolitanus von der Bauchseite. 7Zy—Ten- Neue morphologisch wichtige Tatsachen ar takelganglion; Stv — vor- vorgetreten, welche ich hier speziell be- dere Schlundtaschen; sth sprechen will. — hintere S ase . : 5 ER Biere Schlundtaschen D Betrachtet man einen mit Hämalaun Scom = Schlundkommis- suren; Set — Rinne des gefärbten und aufgehellten Polygordius nea- vorderen Schlundsackes. politanus von der Bauchseite, so erkennt man schon bei schwacher Vergrößerung, dass die Mundöffnung nach vorne von einer blasenförmigen Auftreibung, nach hinten von einem bogenförmig gekrümmten ee Hautwulst be- grenzt ist. Die en: ln will ich als Oberlippe (Fig. 1 0, den hinteren Wulst a Unterlippe (Fig. 1 UT) bezeichnen. Die erste ist von dem Kopfteil durch eine taschenförmige Hauteimstülpung getrennt. In der Mitte der Mundhöhle ist der vordere Teil des ns erkenntlich, welcher an den gefärbten Präparaten in- folge der starken Färbung seiner Zellenkerne gewöhnlich sehr deut- lich hervortritt. Derselbe erscheint in Form von zwei taschen- förmigen Säcken, die durch einen median liegenden tiefen Einschnitt Salensky, Über den Vorderdarm des Polygordius und des Saccoeirrus. 201 voneinander getrennt sind (Fig. 1er). Diese Taschen, welche ich als vordere Schlundtaschen bezeichnen werde, treten bei den total betrachteten Tieren, sowie auch auf Längsschnitten ın der Form von zwei unter einem spitzen Winkel stehenden, nach vorn auseinanderweichenden, vorne zugespitzten Säcken hervor. Bei der genauen Betrachtung des Tieres mit den mittelstarken Linsen kann man schon bemerken, dass dıe vorderen Schlundtaschen nach vorne in dünne, helle Kanäle sich fortsetzen, welche bis auf die vordere Grenze der Oberlippe reichen und hier durch kleine, zu beiden Seiten der Oberlippe liegende ovale Öffnungen ausmünden (Fig. 1Ssp»). Wir werden weiter sehen, dass diese Kanäle eigentlich Rinnen sind und dass ihre Öffnungen nur ihre vorderen Schlussenden darstellen. Histologisch bestehen die vorderen Schlundtaschen aus einer Epithelschicht, deren Zellen im basalen Teile hoch und zylindrisch sind, nach vorne aber viel niedriger werden; daraus lässt sich die zugespitzte Gestalt der Schlundtaschen erklären. Gehen wir weiter zu dem hinter der Unterlippe liegenden Teile des Vorderdarms über, so treffen wir auch hier zwei andere Aus- sackungen an, welche ich als hintere Schlundtaschen (Fig. 1Sch) bezeichnen will. Dieselben liegen tiefer als die vorderen, sind von der Haut überdeckt und treten deswegen an den total betrachteten Tieren nicht so scharf wie die vorderen Schlundtaschen hervor. Sie erscheinen hier in Form von zwei hellen, dünnen Streifen, die ebenfalls nach vorne sich richten, auseinanderweichen, die Unterlippe erreichen und hier durch zwei spaltenförmige Öffnungen ausmünden. In histologischer Beziehung sind die hinteren Schlundtaschen von vorderen dadurch verschieden, dass ıhre Wände dünner sind und zum größten Teile aus kubischen niedrigen Zellen bestehen. Die eben beschriebenen Bilder, welche wir an den total be- trachteten Tieren und an den Längsschnitten beobachten, können uns zum Schluss führen, dass wir in den eben besprochenen Schlund- taschen mit röhrenförmigen Säcken zu tun haben, welche mit ihren hinteren Enden mit der Schlundhöhle in offener Verbindung stehen, mit den vorderen nach außen münden. Die Untersuchung. der @Querschnittserien zeigt aber, dass die Schlundtaschen etwas anders gebaut sind, als es nach den longitudinalen Schnitten zu sein scheint. Es erweist sich namentlich, dass die vorderen Schlundtaschen keine ‘Säcke, sondern rinnenförmige Ausstülpungen der dorsalen Wand des Vorderdarms darstellen und sich nach vorne in feine Ektoderm- rinnen sich fortsetzen, die bis auf die vordere Grenze der Ober- lippe reichen und hier aufhören. Fig. 2 stellt einen Querschnitt durch die Oberlippe dar, an deren beiden Seiten zwei Ektoderm- rinnen gelagert sind. Verfolgt man diese letzteren nach hinten, so kann man sich überzeugen, dass sie in die Schlundtaschen über- gehen, welche letztere ebenfalls als zwei im Inneren der Mundhöhle 202 Salensky, Über den Vorderdarm des Polygordius und des Saceocirrus. liegende rinnenförmige, dick wandige Ausstülpungen der dorsalen Wand des Vorderdarms erscheinen (Fig. 3 Stv). Die vorderen Schlundtaschen lassen sich in der Querschnittserie sehr weit verfolgen; selbst in dem hinteren Teile des Ösophagus, wo die Schlundtaschen nach außen resp. in die Leibeshöhle nicht mehr hervortreten, kann man doch in dem Lumen des Osophagus zwei dorsale Aussackungen bemerken, die ihrer Lage nach den vorderen Schlundtaschen entsprechen. Wenn also die vorderen Schlundtaschen in Form von zwei nach außen heraustretenden Rinnen erscheinen, sind die hinteren Drei @Querschnitte durch den vorderen Teil des Fig. 4. Polygordius neapolitanus. Ry Rqg = Rückengefäß; Dms — dorsale Muskel- en bänder; Vms — ventrale Muskelbänder; Wg = EEE DE De Wimpergruben ; Bg = Bauchgefäße; Sem = iR a N Schlundkommissuren ; Stv — vordere Schlund- taschen; Sth — hintere Schlundtaschen, welche Pt IN 12\_--Stv auf der Fig. 4 zur Allen des Schlundes sich ef bu N‘ 1 Bg vereinigen. ASS Schlundtaschen etwas anders gestaltet. 2a, el Die Untersuchung der hinter der unteren E an \ Lippe geführten Querschnitte (Fig. 4) ul Sth Sem führt uns zur Überzeugung, dass der Vorderdarm hier aus zwei voneinander scharf gesonderten Teilen: eines dorsalen (Str) dickwandigen und eines ventralen (Sth) dünnwandigen besteht Der erste bietet eine Fortsetzung der vorderen Schlundtaschen und geht nach hinten ın das Ösophagus über; dieser Teil ist aus den schlanken und hohen, dieht gedrängten, zylindrischen Epithelzellen zusammengesetzt (Fig. 4 Ser). Der zweite Teil stellt einen nach den Seiten sich ausbreiten- den, in dorsoventraler Richtung abgeplatteten, ventral gelegenen, dünnwandigen Sack dar, welcher aus einem medialen und zwei lateralen Teilen besteht. Die letzteren (Fig. 4 Str) sind nun die- jenigen Schläuche, welche wir als hintere Schlundtaschen bezeichnet haben. Alle diese Teile bilden zusammen den bauchständigen Salensky, Uber den Vorderdarm des Polygordius und des Saccocirrus. 205 Schlundsack, den ich für ein Homologon des Schlundes des Proto- drilus oder vielmehr der Epithelbekleidung derselben halte. Er ist nach hinten abgerundet, nach vorne von der Unterlippe begrenzt und nimmt seine Lage ın dem vorderen Rumpfsegment ein, wie es aus der Fig. 1 ersichtlich ıst. Die Untersuchung der hinteren Schnitte durch den Schlund zeigen, dass die lateral liegenden hinteren Schlundtaschen nicht bis an das hintere Ende des Schlundes reichen, sondern vor demselben aufhören. Das hintere Ende des Schlundes besteht nur aus dem medialen Teile, welche endlich in ein Membran sich verwandelt und den Ösophagus von der Bauch- seite begrenzt. Die nach vorne von der Unterlippe geführten Quer- schnitte bringen den Nachweis, dass die beiden hinteren Schlund- taschen, nachdem sie die Unterlippe erreicht haben, weiter nach vorne in zwei ektodermale Rinnen übergehen, welche weit bis auf den Wurzeln der vorderen Schlundtaschen verfolgt werden können. Dieselben Querschnittsbilder weisen zugleich darauf hin, dass die hinteren Schlundtaschen nicht mit der Mundöffnung zusammen, sondern durch selbständige, die zu beiden Seiten der Mundöffnung verlaufenden Ektodermrinnen sich ausmünden. Die topographische Lage dieser Rinnen lässt sich am besten an denjenigen Schnitten studieren, welche durch den vorderen Teil derselben geführt sind und samt der Rinnen auch die vorderen Schlundtaschen getroffen haben. Einer von diesen Querschnitten ist auf der Fig. 3 abge- bildet und soll dazu dienen, zu zeigen, dass die Rinnen der hin- ‘teren Schlundtaschen im Ektoderm liegen und ziemlich weit von der Mundöffnung abstehen. Der Bau des Schlundes von Saceoeirrus papillocereus ıst dem- jenigen des Polygordius vollkommen ähnlich. Die Unterschiede zwischen den beiden Schlundsäcken beziehen sich auf Einzelheiten, welche vielmehr einen taxonomischen als morphologischen Wert besitzen. Bei Saccocirrus treffen wir ebenfalls einen dünnwandigen Schlundsack, welcher nach den beiden Seiten in die beiden hinteren Schlundtaschen sich fortsetzt, die nach vorne in Schlundrinnen übergehen. Die letzteren sind hier etwas kürzer als bei Polygordius. Die vorderen Schlundtaschen zeichnen sich beim Saccoeirrus eben- falls durch einen verhältnismäßig kleineren Umfang, sind bedeutend kürzer als beim Polygordius und.münden an der hinteren Grenze des Kopflappens aus. Die morphogenetische Bedeutung der in diesen Zeilen aus- einandergesetzten Tatsachen ist klar genug. Dieselben weisen darauf hin, dass im Vorderdarme der Anneliden paarige Aussackungen sich ausbilden, welche selbständig nach außen münden. Obwohl das vordere Paar dieser Schlundtaschen keine geschlossenen Schläuche, sondern Rinnen darstellen, stehen dieselben in den gleichen Be- 204 Artom, Note critiche alle osservazioni del Loeb sull’ Artemia salina. ziehungen zum Vorderdarm wie die beiden hinteren abgeschlossenen Schlundtaschen und können die letzteren als homolog betrachtet werden. Das wichtigste Ergebnis der geschilderten anatomischen Tatsachen besteht darin, dass die Schlundtaschen von Polygordius und von Saceoeirrus ihrer Lage und ihren Beziehungen zum Vorder- darm nach eine unzweifelhafte Homologie mit den Schlundtaschen des Balanoglossus und der Wirbeltiere aufweisen. In diesen Tat- sachen, die hoffentlich bei der genauen Untersuchung des Vorder- darms anderer Anneliden bedeutend vermehrt werden, finden wir einen neuen Beweis für die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Anneliden und den Wirbeltieren, welche schon durch viele anderweitige anatomische und embryologische Gründe in so hohem Grade wahrscheinlich gemacht worden ist. St. Petersburg, den 14. Februar 1906. Note critiche alle osservazioni del Loeb sull’Artemia salina. Del Dr. Cesare Artom, assistente presso l’Istituto di Zoologia ed Anatomia Comparata della R. Universitä di Cagliari. Un piecolo erostaceo della acque delle saline, I’ Artemia salina, divenuto famoso dopo le classiche esperienze dello Schmanke- witsch, desta ancora oggidi un grande interesse. Interesse vera- mente del tutto giustificato perche I’ Artemia salina & uno dei pochi organısmi il quale sia adattato a vivere nelle acque della pıü diversa concentrazione, da 6° B. sno a 27°B. Ed in relazione appunto alle condizioni d’ambiente cosi diverse nelle quali I’ Artemia puo vivere, ıl suo corpo si modifica talmente, che ai tempi dello Schmankewitsch venivano fatte dell’ Arzemia salina, due specie ben distinte e ben caratterizzate: una delle basse concentrazioni (Artemia salina) e una della alte (Artemia mulhausenti). Lo Sehmankewitsch riusci colle sue esperienze a dimostrare che I’ Artemia mulhausenii non & che I’ Artemia salina degradata dalla salsedine. E lo Schmankewitsch, avendo inoltre notato che " Artenwva delle basse concentrazioni presenta certi caratteri morfo- logici che egli interpretö come caratteri di convergenza verso il genere Branchipus (fillopodi di cui quasi tutte le specie vivono nelle acque dolci), espresse l’opinione, che l’ Artemia delle basse concentrazioni, ch’ eglı ottenne anche sperimentalmente, possa: „...nurals eine niedere Form eines Branchipus gelten, und folglich nur eine Übergangsform von Artemia zu Branchipus und eine Mittelform zwischen diesen beiden Arten darstellen“: ed aggiunge: „Eine solche Form kann auch als Ur- oder Wurzelform der Arten Branchipus und Artemia gelten (4), p. 114. - Artom, Note ceritiche alle osservazioni del Loeb sull’ Artemia salina.. 9205 Data limportanza tutta speciale che sı attribuisce oggidi all’am- biente fisico-chimico per tentare di spiegare i piü complessi feno- meni biologici, si comprende benissimo che’ oggi piüı che mai debbano essere seguite con grande interesse tutte le osservazioni che riguar- dano Il’ Artemia salina. E cıö non solo per cercare di risolvere i numerosi e interessanti problemi relativi all’influenza dei cambia- menti dell’ambiente sulla variazione dei caratteri morfologiei degli animali, ma anche per cercare di spiegare il fenomeno della parteno- genesi indefinita, fenomeno che presentano le Artemie di molte localıtä come ad esempio quelle delle Saline di Marsiglia e di Capodistria, ın cui anche durante lunghe e ripetute osservazioni, non fu mai trovato neppure un solo maschio (6). Sı comprende pertanto benissimo che il fatto della variazione nella forma e nelle dimensioni dell’ Artemia, e il modo stesso di riprodursi veramente degno di considerazione, abbiano attratta l'attenzione del Loeb, il quale a profitto delle sue teorie, si servi appunte dei risultati a cui giunsero i naturalisti che di tali questioni si sono occupati. Per brevitä rimando senz’altro il lettore al capitolo del Loeb del 1° volume dei suoi Studies in general Physiology-— Chi- cago! —. The University.of Chicago Press 1905; pP. 237, capitolo intitolato: Some remarks on the experiments of Schmankewitsch. — In tutto questo capitolo i dati dello Schmankewitsch non sono anzitutto esposti in modo perfetta- mente esatto; ma c1ö che sovra ogni altra cosa © da rimproverare al fisiologo americano & di avere coll’ autoritä del suo seritto con- validata e confermata un’ opinione piü che dallo Schmankewitsch ammessa da molti suoi contemporanei. I quali male interpretando il suo lavoro, credettero fosse possibile cambiare artificialmente una specie in un’altra non solo, ma di convertire persino il genere Artemia nel genere Branchipus. Ora anzitutto lo Schmankewitsch non affermöo mai questo esplicitamente: sebbene nelle sue pagine domini un certo spirito di trasformismo, facilmente spiegabile se si riflette che in quell’ epoca molti lavori tendevano alla dimostrazione diretta della trasformazione delle specie. Ma se anche questo fosse stato detto trent’anni fa, l’asserire oggidi ancora come fa il Loeb che le Schmankewitsch sia riuscito a convertire I’ Artemia in un Branchipus, non & dar prova dı profonda e moderna coltura zoologica specialmente dopo le eritiche alle deduzioni delle Schmankewitsch e sovratutto dopo quelle piü recenti di Samter e Heymons eomparse nel 1902. Se poi il Loeb avesse letto con maggiore attenzione i lavori dello Schmankewitsch, forse non avrebbe seritto quanto segne: „If we do not allow ourselves to be influenced by the nomenclature of the systematist, the experiments and 206 Artom, Note critiche alle osservazioni del Loeb sull’ Artemia salina. observations of Schmankewitsch show that the effect of the concentration of the salt shows itself most distinctly inthelongitudinal growth oftheentire animaland ofsome of ıts organs: and this always in such a way that with an Increaseinthe concentration ofthe solution the longi- tudınal growth of the entire anımal or the individual organs ıs decreased. The result is therefore similar to that obtained in the previous experiments: wherefore I believe that the influence of concentration upon the con- version of the genera Artemia into Branchipus is to a large extent nothing but an expression ofthe dependence of anımal growth upon the absorption of water.“ — Non avrebbe il Loeb sceritte queste parole, ripeto, per la ragione sempli- cıssıma che lo Schmankewitsch trovö le Artemie delle maggiori dimensioni non giä nelle basse concentrazioni come crede il Loeb, ma invece nelle medie concentrazioni e precisamente tra ı 12° eı 15° B. — I datı somatometricı in fattı riferiti dallo Schmanke- witsch.(5), p. 457—465 e nota2 p. 463 e confermatı completamente per quanto riguarda I’ Artemia salina dı Caglıarı in un mio lavoro sulla varıazıone che verra quanto prima pubblicato, non lasciano al- cun dubbio su questo fatto: L’ Artemia salina dı Caglıarı e di Odessa, se favorevoli tutte le condizioni dı vita e di svi- luppo, hanno generalmente maggiori dimensioni nelle acque dai dodici ai quindici Beaume&, che non nelle basse concentrazioni. Datı questi fattı, che cosa sı deve conchiudere? Che non sı puö imputare unicamente ad un semplice fenomeno osmotico la causa della variazıone nella lunghezza del corpo dell’ Artemia, perche se cıö fosse, le massime dimensioni dovrebbero sempre trovarsı in quelle Artemie che, vivendo nelle acque poco concentrate, assorbi- rebbero attraverso le membrane semipermeabili delle loro cellule una maggiore quantıta dı acqua. Perciö la spiegazione del Loeb non puö in questo reggere dal momento che ı fatti le sono pre- cisamente contrari. — Ma nei lavorı del Loeb v’ha dı piü! Ed & un brano (Vol. 2° p. 684) ıl quale merita proprio di essere integralmente riferito: „I have read somewhere the state- ment that Artemia salina ıs parthenogenetic, while Branchipus ıs not. Branchipus is a fresh-water Crusta- cean which, if raised in concentrated salt solutions (salt lakes), becomes smaller and undergoessome other changes. In that case ıt ıs called Artemia (!). If Artemia ıs parthe- nogenetic, while Branchipus is not, ıt would mean that the unfertilized eggs of the Branchipus cannot develop in fresh water, while they are able to develop in solu- tions of much higher osmotic pressure. This would be Artom, Note critiche alle osservazioni del Loeb sull’ Artemia salina. 907 identical with our observation on the artificial partheno- genesis of Echinoderms and Ohaetopterus.* Dunque il Loeb ripete in modo ancora piü esplieito che il Branchipus, erostaceo di acqua dolce, messo in acqua salsa cangia dı forma e in tal caso viene chiamato Artemia! E resta in tal modo spiegato in modo molto semplice e limpido perche 1’ Artemia & partenogenetica, mentre il Branchipus non lo & Ma anche queste spiegazioni del Loeb contrastano con 1 seguenti fattı: 1. Esistono Artemie forse partenogenetiche, che vivono nelle acque dolei e che ciö non ostante sono Artemie, rimangono Artemie e non diventano Branchipus (3), p. 60. 2. Esistono Branchipus (Branchipus ferox e Branchipus spi- nosus) 1 quali vivono nelle acque salse, e che probabilmente, come fu dimostrato per altri Branchipus non sono partenogenetici e che infine poi non ostante la salsedine delle acque in eui vivono, sono Branchipus, rımangono Branchipus enon diventano Artemie (3), p. 60. 3. Esistono Artemie che vivono nelle acque di saline, le quali non sono partenogenetiche malgrado la pressione osmotica alla quale sono sottoposte le uova in acque cosi rieche di sali come sono quelle delle saline') (1). — Conchiudendo: le inesattezze in cui incorse il fisiologo americanoa proposito dell’ Artemia, meritavano di essere rilevate specialmente perche il lettore dei suoi seritti non zoologo, non sıa indotto ad ammettere come veri aleunı fatti che invece non corrispondono perfettamente alla realtä e non accetti poi come esaurienti certe spiegazioni a tutta prima assai lusinghiere?). Caglıarı. Febbraio 1906. Indicazioni bibliografiche. 1. Artom, ©. Ricerche sperimentali sul modo di riprodursi dell’ Artemia salina Lin. di Cagliari. Biol. Centralbl. Bd. XXVI, Nr. 1. — Gennaio 1906. Loeb, J. Studies in general physiology. — Chicago 1905. . Samter, M. und Heymons, R. Die Variationen bei Artemia salina Leach und ihre Abhängigkeit von äußeren Einflüssen. Anhang zu den Abhand- lungen der kgl. preuß. Akad. d. Wissenschaften. Berlin 1902. 4. Schmankewitsch, W. J. Uber das Verhältnis der Artemia salina Miln. Edw. zur Artemia milhausenii Miln. Edw. und dem Genus Branchi- pus Schäff. Zeitschr. f. w. Zool. Bd. XXV, 1875. 1) La mancanza della partenogenesi fu da me constatata I’ anno scorso nell’ Ar- temia salina di Cagliari. Per maggiore sicurezza nelle mie conclusioni, gli esperimenti sul modo di riprodursi dell’ Artemia di Cagliari sono in quest’ annoripetuti e controllati. 2) Un altro autore il quale fa dipendere le variazioni nelle dimensioni del corpo dell’ Artemia semplicemente da un fenomeno osmotico, &® P’ Höber, il quale suppone che „die Leibeswand einer Artemia sei gebildet durch eine elastische Blase von komplizierter Form, angefüllt mit einer Salz- lösung und die Blase habe die Eigentümlichkeit, zwar für Wasser durchlässig zu sein, nicht aber für die gelösten Salzteilchen“ (Biolog. Centralbl., XIX. Bd., Nr. 8, 15. April 1899. — p. 274) 208 Piepers, Uber die sogenannten „Schwänze“ der Lepidopteren. 5 „ I I 5. Schmankewitsch, W. J. Zur Kenntnis des Einflusses der äußeren Lebens- bedingungen auf die Organisation der Tiere. Zeitschr. f. w. Zool. Bd.29, 1877. 6. Siebold, ©. V. Über Parthenogenesis der Artemia salina. Sitzungsber. d. kgl. Akad. d. Wissensch. zu München. Bd. 29, 1873. Piepers: Über die sogenannten „Schwänze“ der Lepidopteren. Deutsch. Entom. Zeitschr. Iris, herausgegeb. v. d. Entom, Verein „Iris“ zu Dresden. Jahrg. 1903, p. 247 —285. Bei einer großen Anzahl von Schmetterlingen finden sich schwanzartige Bildungen an den Hinterflügeln, dieselben sind in- dessen nach den Familien und Gattungen sehr ungleich verteilt. Bei den Syntomiden, Bombyciden und Noctuiden finden sich geschwänzte Formen verhältnismäßig selten, während sie unter den Geometriden viel häufiger auftreten. Unter den Rhopa- loceren ist die Zahl der geschwänzten Schmetterlinge besonders groß, namentlich bei den Papilioniden. Bei den Pieriden treffen wir nur Schwanzrudimente. Nicht selten sind die Flügel nah ver- wandter Arten dadurch verschieden, dass die einen schwanzförmige Anhängsel besitzen, die der anderen nicht, und Verf. berichtet, dass sogar bei CUhrysophanus phlacas L., der ın den Niederlanden in drei Generationen fliegt, die Individuen der mittleren oder Sommergeneration meistens kurze Anhängsel aufweisen, während die Vertreter der Frühlings- und Herbstgeneration diese Zierde ge- wöhnlich entbehren. Es kommt auch vor, dass von einer Schmetter- lingsart nur das eine Geschlecht deutlich entwickelte Schwänze trägt. In der Länge, Breite, Zahl und Gestalt der Schwänze sind auch große individuelle Schwankungen zu beobachten und Verf. führt mehrere Fälle an, wo gut entwickelte Anhänge in vollkommen rudimentäre Bildungen übergehen. Die Schwanzbildungen sind, so verschieden sie auch gestaltet sein mögen, immer am Hinterrand, nie am Vorderrand der Hinterflügel eingesetzt. In der Regel werden die Schwänze durch Ausläufer einer oder mehrerer Flügel- adern gebildet und von schmalen Stückchen des Flügelgewebes begrenzt. Es kommt indessen auch vor, dass da, wo zwei Adern hervorstehen, nur der gerade dazwischen liegende Teil des Flügel- gewebes an der Schwanzbildung beteiligt ist. Zuweilen wird das Anhängsel auch allein durch die Verlängerung eines solchen, zwischen zwei Adern liegenden Gewebes gebildet, während die Adern selbst nicht, oder nicht mehr verlängert sind; es scheint in solchen Fällen eine Rückbildung der Adern stattgefunden zu haben. Je nachdem sich eine oder mehrere Flügeladern an der Bildung der Schwänze beteiligen, ist auch deren Gestalt eine abweichende. In langen, schmalen Schwänzen ragt gewöhnlich nur eine einzige Ader hervor, meistens ist es die vierte. An breiten Schwänzen pflegen sich mehrere Adern zu beteiligen. Piepers, Über die sogenannten „Schwänze“ der Lepidopteren. 209 x Bei den Papilioniden mit einem Schwanz befindet sich dieser immer auf der 4. Ader, ausgenommen Ornithoptera paradisea Stdgr., deren Schwanz durch die 1. Medianader (2. Seitenrandader) ge- bildet wird. Unter den Pieriden sind geschwänzte Formen selten, wo solche vorkommen, beteiligt sich auch die 4. und 3. Ader an der Bildung. Die Lycaeniden haben längere Anhängsel auf Ader 1b, kürzere auf Ader 2 und bisweilen auch auf Ader 3. Bei den Nymphaliden unterliegt die Verteilung der Schwänze am Flügelrand großen Verschiedenheiten. Dem Genus Charaxes Ochs. sind meistens zwei Spitzen auf Ader 2 und 4 eigen, von denen bald die eine, bald die andere am längsten ist. Beim Genus ProthoeHb. wird das Anhängsel durch eine Verlängerung der Ader 3 und 4 und dem dazwischen liegenden Flügelgewebe gebildet. Bei der Gattung Aallima W estw. befindet sich Ader 1b ın dem Schwanze, der hier das Stielchen der bekannten Mimicry-Blattzeichnung auf der Flügelunterseite darstellt. Die Vanessen zeigen ebenfalls mehrere hervorstehende Ecken und Spitzen. Auch bei den Morphiden, den Brassoliden, Satyriden und Hesperiden kommen schwanz- artige Bildungen vor. Unter den Heteroceren finden sich lange Schwänze bei den Zygaeniden und hier wird stets der längste Schwanz durch die 4. Ader gebildet. Die längsten Schwänze von allen Lepidopteren haben die Arctia-Arten (A. luna A., A. selene Hb., A. moenas Doubl., A. isabella Graells.). Die Bombyciden sind meist schwanzlos, viele Noctuiden lassen noch Spuren früherer Spitzen erkennen. Unter den Geometriden sind geschwänzte Formen sehr gewöhnlich. Zuweilen sind die Anhängsel sehr lang, wie beim Genus Erateina Doubl. und werden von der 4. Ader gebildet. Beim Genus Selenia Hb. findet man verschiedene Spitzen und auch andere Geschlechter zeigen Rudimente derselben auf Ader 2, 3 und 4. Selten begegnen wir Schwänzen bei Mikrolepidopteren, wo aber solche vorkommen, befinden sie sich ebenfalls auf Ader 4. Von Bedeutung für die Ansicht des Verf., dass wir in den Sehwanzbildungen alte, ursprüngliche Charaktere vor uns haben, ist die Tatsache, dass die von Samuel H. Scudder abgebildeten tertiären Schmetterlinge dergleichen Anhängsel, sowie spitzenförmige Bildungen an den Vorderflügeln aufweisen. Die schwanzartigen Anhänge sind nach den Beobachtungen Piepers für das Tier nutzlos, und es liegen keinerlei Anhalts- punkte vor, dass Falter mit besonders stark entwickelten Angängen, vor anderen, bei denen sie weniger gut entfaltet sind, in irgend einer Weise bevorzugt wären. Auch ist die Variabilität der Aus- bildung innerhalb der verschiedenen Geschlechter einer Art, bei Lokalrassen, saisondimorphen Formen, ja selbst bei verschiedenen Individuen desselben Geschlechtes so groß, dass sie dadurch nicht den Eindruck einer durch Zuchtwahl erhaltenen nützlichen Eigen- XXVI 14 210 Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. schaft machen. Verf. bestreitet nıcht, dass die Schwanzbildungen vielleicht früher Bedeutung für ihren Träger gehabt haben, ist aber der Meinung, dass diese Organe jetzt in Rückbildung begriffen sind. Ein derartiger Rückbildungsprozess gibt sich in der verschiedensten Richtung zu erkennen, einmal in einer Verschmälerung, dann aber auch in einer Verkürzung der schwanzartig ausgezogenen Fläche und Pıiepers führt eine Reihe von Beispielen an, die diesen Re- duktionsprozess veranschaulichen. Er kommt zu dem Schlusse, dass da, wo bei den Imagines nah verwandter Formen verschiedene Stufen der Schwanzbildung verfolgt werden können, die kürzeren oder schmäleren Schwänze stets derjenigen Art oder Rasse zu- kommen, deren Raupen in bezug auf ihre Zeichnungsmerkmale fortschrittlicheren Charakter tragen. Verf. bespricht schließlich noch mehrere Fälle, die zeigen, dass neben dem Rückbildungsprozess der Flügelanhänge bei den Schmetterlingen, auch ein Reduktions- prozess der Flügel selbst zu beobachten ist, der bei vielen Formen noch von einer Degeneration der Flügelschuppen begleitet wird. Was nun die Anschauungen Piepers über die Rückbildung der Schwanzanhänge der Lepidopterenflügel betrifft, so kann Ref. dieselben, soweit es die Schwanzanhänge der Vanessenflügel be- trifft, nur durchaus bestätigen. Wenn wir bei Vanessa levana-prorsa, vo, oder urticae das Wachstum der Flügel in der Puppe von An- fang an beobachten, und die verschieden alten Puppenflügel mit- einander vergleichen, so ergibt es sich ohne weiteres, dass bei der die Raupenhaut abstreifenden Puppe, Schwanzbildungen an den Flügeln vorhanden sind, die dem älteren Falterflügel vollkommen fehlen. Merkwürdig ist es, dass hier in der Puppe der Schwanz- fortsatz am Hinterflügel durch die 3., 4. und 5. Ader gebildet wird, und die 4. Ader in die Spitze ausläuft. Der kleine, oft ein kurzes Schwänzchen bildende Fortsatz im ausgewachsenen Schmetterlingsflügel wird allen durch die 5. Ader gebildet. Es vollzieht sich somit hier während der Ontogenese des Falters eine Rückbildung und Verschiebung der Schwanzbildung innerhalb weniger Tage und Ref. behält sich vor, auf den Verlauf dieses eigenartigen atrophischen Prozesses bei einer anderen Gelegenheit noch näher einzugehen. M. v. Linden (Bonn). Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. (Fortsetzung.) ') Von Christian Ernst in Metz. 2. Verhalten einer Sanguinea-Kolonie beim Erscheinen des ersten Männchens. Am 26. Juli 1902 fasste ich bei Dags- burg ein künstliches Nest'von F. sangwinea mit F. fusca als Hilfs- ameisen und bildete aus der normalen Kolonie eine anormale, in- 182 Bd. XV, NT. 2: Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. 214 dem ich eine Anzahl Puppen von F. rufa zusetzte. Die Sanguinea waren vertreten durch 3 Teile Arbeiterinnen, 1 Teil Puppen und ungefähr 7 geflügelte Weibchen. Das Umlogieren vom Fangglas ins Nest ging verhältnismäßig leicht von statten, abgesehen von den Schwierigkeiten, die die Sangwinea-Weibcehen machten. Von diesen ging nur ein einziges durch das Verbindungsröhrchen frei- willig hinter den Arbeiterinnen hinüber, die übrigen wurden von den Arbeiterinnen an den Kiefern gepackt und rückwärts ziehend hinübergeschleppt. Das war aber auch die einzige Aufmerksamkeit der Arbeiterinnen für die Weibchen, so lange ich das Nest hatte. Die Arbeiterinnen begegneten diesen mit derselben Gleichgültigkeit, wie man sie in allen Nestern befruchteten und unbefruchteten Weibchen gegenüber beobachten kann. In den nächsten Tagen krochen aus den Puppen weitere Ar- beiter und Weibchen aus, ohne dass diesen größere Aufmerksam- keit geschenkt wurde, außer den bekannten Hilfen beim Aus- schlüpfen. Am 31. Juli zeigte sich eine plötzlich auftretende, auf- fällige Änderung des gesamten Lebens. Ich möchte den Ausdruck Aufregung hierfür nicht gebrauchen, weil er mir für das Beobachtete zu stark erscheint, und weil die Änderung eine dauernde war. Aber die Emsigkeit und Rührigkeit, die m dem erst seit 5 Tagen be- zogenen Neste natürlich waren, nahmen an diesem Tage nachmittags, gerade während ich das Nest beobachtete, deutlich wahrnehmbar um einen starken Ton zu. Es war kein besonderer Zufall, dass ich eben diesen Augenblick erhaschte, denn ich war frei von Geschäften und gab mich fast den ganzen Tag mit diesem Neste ab. Es scheint mir notwendig dies zu erwähnen, weil ich es für möglich halte, dass ich die gradweise Abstufung der Lebensintensität nicht gemerkt haben würde, wenn die Beobachtungen des Nestes flüchtiger gewesen wären und zwischen zwei, den Vorgang einschließenden Besichtigungen ein ganzer Tag gelegen hätte. Die Steigerung der Lebensintensität, die sich mir im ersten Eindruck als freudige Bewegung oder Er- regung darstellte, war so sichtlich, dass ich mich noch heute der genaueren Tageszeit erinnere, obschon ich in meinem Tagebuche die Stunde, die mir unwesentlich erschien, damals nicht vermerkt hatte. Genau zur selben Zeit war in einer Ecke aus der einzigen männlichen Sangwinea-Puppe ein unbehilfliches, tapperiges Männ- chen ausgekrochen. Ich würde diese beiden Erscheinungen nicht ohne weiteres in ursächlichen Zusammenhang bringen; aber dieses ziemlich hilflose Männchen war vom Augenblick seines Ausschlüpfens an von einer kleinen Schar von Arbeiterinnen umgeben, ähnlich dem Hofstaat, der sich um die Bienenkönigin sammelt. Es waren dies ausschließlich Sanguinea; von den Fusca, die wie gewöhnlich mehr und emsiger die Nestgeschäfte besorgten, habe ich nie eine in dieser Korona bemerkt. Die Sangsinea drängten sich um das 14* 9193 Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. "NL, ? oO Männchen, begleiteten es, erwiesen ıhm allerlei Freundlichkeiten und Zärtlichkeiten, und wenn Arbeiterinnen ihren Platz in der Korona verließen, traten andere an ihre Stelle. In meinem Tage- buch habe ich notiert: „Ist beständig von 4—5 Sanguinea um- geben, die es mit großer Zärtlichkeit behandeln. Die Arbeiterinnen werden ıhm sogar durch ihre Zudringlichkeit unbequem, da es noch kaum auf den Beinen stehen kann.“ Das dauerte bis zum 9. August. An diesem Tage bemächtigte sich der Weibchen eine geradezu wilde Aufregung, die lange an- ° hielt und nach meinen Notizen nach am 18. August beobachtet wurde. Die Weibchen drängten mit Ungestüm überall dahin, wo sie hoffen durften, das Nest verlassen zu können. Hauptsächlich an Futter- und Abfallrohr und stets zu mehreren. Sie stießen an den Enden der Rohre mit dem Kopf an die Abschlusskorke, zerrten daran mit den Füßen, zwängten den Kopf in die Lücken zwischen Kork und Glas und bissen auch an den Korken herum. Noch bei keinem Tier habe ich die Gewalt des furchtbarsten Triebes in so Mitleid erregendem Grade beobachtet, wie bei diesen Sangwinea, die Befreiung und Befriedigung suchten und sich vor dem Hindernis wie gepeitscht abmühten. Nachdem die Brunst einmal vergangen war, hat sie sich bei diesen Weibchen nie mehr wiederholt. Am 17. August morgens fand ich das Männchen tot, auf dem Rücken liegend. Der Körper wurde tagsüber von einer Arbeiterin zwecklos hin- und hergetragen und fand sich am folgenden Tage im Abfallrohr. Eine Kopulation im Neste, wie sie meines Wissens bisher nur Wasmann in seinem bekannt gewordenen großen Sanguinea-Nest erlebt hat, hatte nicht stattgefunden. Soweit ich weiß, ist das merkwürdige Gebaren von Arbeiter- innen bei Erscheinen eines Männchens bisher noch nicht beobachtet worden, ich möchte deshalb selbst meine Beobachtung einer Kritik unterwerfen, ehe ich Folgerungen daraus ziehe. Ich scheide dabei alles aus, wo Irrtum oder falsche Auffassung durchaus ausgeschlossen sınd. Dann bleibt nur eins, was auf Täuschung beruhen könnte, nämlich der für meine Folgerungen wichtige Punkt, dass das Er- scheinen des Männchens ım ganzen Nest eine erhöhte Lebens- freudigkeit hervorgerufen habe. Es muss zugegeben werden, dass in diesem doch recht wesentlichen Punkte ein Irrtum deshalb leicht vorkommen könnte, weil es sich nicht um eine vollständig neue Erscheinung, sondern nur um eine Steigerung der bisherigen Lebens- tätigkeiten handelte, und weil die Möglichkeit vorliegt, dass etwas von eigenem Fühlen in die beobachteten Tatsachen hineingetragen worden sei. Ich will auch nicht unbemerkt lassen, dass ich zu gewöhnlichen Zeiten in anderen Nestern nie dergleichen, auch keine Korona wahrgenommen habe. In künstlichen und natürlichen Nestern von Lasius, Formica, Solenopsis, Tetramortum, Myrmica Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern, 215 habe ich, wie wohl alle Beobachter, immer nur die auffallende Gleichgültigkeit bemerkt, mit der die Arbeiterinnen an den Ge- schlechtern vorübergehen. Solenopsis vielleicht ausgenommen, wo die winzigen Arbeiterinnen gern auf der kolossalen Königin herum- krabbeln. Demgegenüber muss ich nochmals hervorheben, dass ich bis zum Ausschlüpfen des Männchens das Formica-Nest 5 Tage fort- dauernd unter Beobachtung hatte, dadurch ein ganz festes, deut- liches Bild von dem Tun der kleinen Kolonie erworben hatte, und dass ich gerade zugegen war, als das Männchen mit Hilfen den Kokon verließ. Ich war also wohl in der Lage, die einzelnen, an sich nicht sehr bedeutenden Änderungen zu bemerken, die ich in ihrer Gesamtheit als erhöhte Lebensfreudigkeit bezeichnen kann. Als Beleg für die Genauigkeit der Beobachtung mag ein Detail dienen. Ich lernte schon in diesen ersten Tagen die Sanguinea kennen, die von Anfang an mit der Starrheit eines Berliner be- rittenen Schutzmannes am Fütterungsrohr Wache hielt. Es war immer dieselbe, lange Wochen hindurch. Ich hatte sie mit der Lupe an einem kleinen Fehler der einen Antenne kennen gelernt und freute mich immer, wenn ich das Tierchen stets wieder auf seinem Posten fand. Dazu kommt, dass sich die Lebensfreudigkeit der Tiere in der nächsten Umgebung des Männchens zu einer wirklichen Korona verdichtete, in der ich die Affekterreguangen in der oben geschil- derten Weise wahrgenommen habe. Und wie hier eine starke psychische Bewegung mit der räumlichen Entfernung von dem er- regenden Mittelpunkt abnahm, so liegt es auch nahe, dass der be- kannten Teilnahme der Arbeiterinnen am Hochzeitsfluge der beiden Geschlechter, indem sie Männchen und Weibchen zum Nest hinaus- begleiten, sie selbst herausdrängen u. dgl., dass diesen näheren Begleiterscheinungen des Hochzeitsfluges zeitlich entferntere psy- chische Bewegungen vorausgehen, die ın ihrer Richtung jenen durchaus entsprechen und sie vorbereiten. Für die Deutung der auffallenden Bewegung, die das Erscheinen des Männchens unter den Sangwinea-Arbeiterinnen verursachte, schien es mir von Wert zu wissen, ob dieses Männchen in der Kolonie das erste des Sommers sei. Ich zerstörte deshalb das in einem morschen Tannenstumpf befindliche Nest so weit, als es die ungünstigen Umstände zuließen, und fand zwar noch zahlreiche ge- flügelte Weibchen, aber kein einziges Männchen. Dass ich nicht in die letzten Tiefen des Nestes gedrungen war, ersah ich daraus, dass ich auf kein befruchtetes Weibchen stieß, da diese sich ın ihrer instinktiven Ängstlichkeit baldigst in die Tiefe geflüchtet hatten. Man hätte aber erwarten dürfen, dass von den sehr be- schränkten Männchen, die nicht einmal Freund und Feind unter- 214 Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. scheiden, eins oder das andere in den oberen Nestteilen in der Nähe der unbefruchteten Weibchen geblieben wäre, wenn über- haupt Männchen in dem Neste gewesen wären. Das am 31. Juli erscheinende Männchen hätte auf die Sanguinea-Arbeiterinnen auch kaum den auffallend starken Eindruck gemacht, wenn diese an den Anblick von Männchen vom Mutterneste her gewöhnt gewesen wären. Ich bin deshalb geneigt zu glauben, dass jenes Männchen für die Sangwinea das erste des Sommers überhaupt war. Zur Erklärung der merkwürdigen, der Gefühlssphäre ange- hörenden Erscheinung mag zunächst festgestellt werden, dass die Ameisen im ganzen ein sehr entwickeltes Gefühlsleben besitzen, und dass von den zusammengesetzten Gefühlen viele durch ent- sprechende Ausdrucksformen direkt nachweisbar sind. Bei den intelligenteren Ameisen sind Affekte, wie Freude, Zorn, Angst, Er- wartung, Misstrauen, Überraschung, Schreck, Wut, gewohnheits- mäßig mit so typischen Ausdrucksbewegungen verknüpft, dass der Schluss von ihnen auf die entsprechenden Gemütsbewegungen mit Sicherheit gezogen werden kann. Von den bekanntesten Beispielen nenne ich nur eines, Haltung und Gebärde der Sanguinea, wenn sie gereizt oder durch einen unerwarteten Anblick plötzlich er- schreckt wird. Aber auch feinere, seltener beobachtete Unterschiede im Aus- druck innerer Zustände lassen sich unschwer erkennen. Ich führe einige voneinander verschiedene Formen der Spannung an. Wenn die Sangwinea im künstlichen Nest ein wenig an den über dem Glase bewegten Finger gewöhnt worden ist, dann lässt sie allmäh- lich die Gebärden des Zornes, und der Ausdruck geht in den einer Spannung über, mit der sich nur noch Lust und Bereitschaft zum Angriff verbindet. Die durch den Finger erschreckte Fusca zeigt gleichfalls starke Spannung, aber man sieht es selbst dem unbe- wegten Tier deutlich an, dass es Spannung der Furcht ist. Diese beiden Ausdrucksformen kommen um so deutlicher heraus, weil die ganze Körpergestalt der zwei Tiere auf diese psychischen Zu- stände hinweist und ihren äußeren Ausdruck erleichtert. Der eben- mäßige, kraftvolle, Stärke anzeigende Körper der Sanguinea gehört einem mutigen, kühnen Geschöpf; mit ihrer zierlichen, schlanken Gestalt ist die Fusca auf die Flucht angewiesen. Als weiteres Beispiel der Spannung führe ich die schon oben erwähnte Sanguinea an, die am Nesteingang Posten stand. In ihr bildete sich so deutlich und unverkennbar gespannte Aufmerksamkeit mit ruhiger Sicherheit ab, dass ich nur den Vergleich wiederholen kann, dessen ich mich oben bedient habe. Endlich erwähne ich noch eine Aus- drucksform der Spannung, die ich bei einer gezähmten Rufa wahr- nahm. Das sonst recht beherzte Tier war später, wohl durch die Vereinsamung, ziemlich eingeschüchtert, und der an sich recht ge- Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. 2 drungene Körper erhielt bei den Zähmungsversuchen bisweilen eine sonderbare, in die Länge gezogene Gestalt, indem Vorderfüße und Vorderleib neugierig nach vorn drängten, Mittel- und Hinterfüße aber, wie von Angst gelähmt oder zu schneller Flucht bereit, hinterher schleppten. Feindschaft und Hass gegen Insassen jedes fremden Nestes sind bei allen Ameisen typisch. Aber auch bei Bewohnern des- selben Nestes kommt es vor, dass eine Arbeiterin auf eine be- stimmte andere einen besonderen Hass wirft und sie lange mit großer Hartnäckigkeit verfolgt. Beweise von Liebe, Freundschaft, Wohlwollen, Mitleid sind, wie auch Lubbock bestätigt, seltener, wenn man hierzu nicht die Gewohnheiten rechnet, dass die hungernde Ameise von der gesättigten auf eine gewisse Bettelgebärde hin ge- füttert wird, und dass die Ameisen bei Nestwechsel oder Gefahr zögernde oder säumige Genossen gern tragend in Sicherheit bringen. Dass die Ameisen im Kampf verwundete Gefährten fortschaffen und pflegen, wird mehrfach berichtet, auch von Wasmann. Da- gegen habe ich mich, wie auch Lubbock, oft darüber gewundert, wie wenig die Ameisen sich um einen in Not geratenen Gefährten kümmern. Von einem merkwürdigen, lang dauernden Freundschafts- verhältnis zwischen einer isolierten Königin und Arbeiterin von Lasius flarus und den Ausdrucksformen ihrer gegenseitigen Neigung und Anhänglichkeit habe ich an anderer Stelle berichtet. Alle Gemütsbewegungen der Ameisen, mögen sie auffällig und selten oder gewöhnlich sein, haben das Gemeinsame, dass sie sich immer mit einem bestimmten Vorstellungskreis in ursächlichen Zusammenhang bringen lassen. Selbst verschiedene Grade oder Modifikationen derselben Gemütsbewegung lassen einen sölchen Zusammenhang erkennen. Wer das an einem ganz einfachen Bei- spiel sehen will, gebe einem Nest von Lasius niger, das durch ein- seitige Zuckerfütterung fleischhungrig gemacht ist, das eine Mal ein Stückchen Kalbfleisch, ein andermal einige Sanguinea-Puppen, endlich eine tote Schmeißfliege und beobachtete die Verschieden- heit der Wirkung. Oder man setze in das nicht zu weite Futter- röhrchen einer, nur an den Anblick des weißen Zuckers gewöhnten Sanguinea-Kolonie eine lebende Stubenfliege, die sich in dem Röhr- chen nur unvollkommen bewegen kann, und beobachte die erste zum Futter gehende Sanguinea. Von dem Augenblick der ersten erstaunten Wahrnehmung an über die misstrauische Annäherung hinweg bis zu dem Zeitpunkt, wo sich die Sangwinea wütend auf den zappelnden Fremdling stürzt, kann man eine ganze Skala von (Gemütsbewegungen bemerken. Es stimmt auch mit unseren eigenen Erfahrungen überein, dass kein Gefühl für sich besteht, sondern dass es stets mit Vor- stellungselementen zu einem zusammengesetzten psychischen Ge- 216 Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. webe verknüpft ist. Als objektive und subjektive Seite des Er- fahrungsinhaltes bilden Vorstellung und Gefühl zusammen ein inniges organisches Ganze, in dem bald die psychischen Bestandteile in einer Art Gleichgewicht stehen, bald durch Vorherrschen der Ge- fühlsbetonungen oder der Vorstellungsinhalte eine einseitige Rich- tung hervortritt. Denn wie sich mit klarem Vorstellen eine ge- wisse Gefühlsstumpfheit, ein Ausfall-von normaler Gefühlsbetonung verbinden kann, so können auch unklare, dumpfe, dem Blickpunkt des Bewusstseins weit entrückte Vorstellungen von starken Gemüts- bewegungen begleitet sein, deren Intensität zu dem Vorstellungs- inhalt in gar keinem Verhältnis steht. So nur soll es aufgefasst werden, wenn ich sage, dass der freudigen Gemütsbewegung der Sanguinea beim Erscheinen des ersten Männchens auch eine bestimmte Vorstellung zugrunde liegen muss. Man mag sich die Klarheit dieses Bewusstseinsinhaltes so gering denken, wie man will, aber über die Tatsache selbst kommt man nicht hinweg. Dabei soll nicht gesagt sein, dass dem einzelnen Individuum dieser Bewusstseinsgrad zukomme. Aber jedes ein- fache Ameisennest ıst nach allen Beziehungen hin eine fest be- grenzte, jedes andere ausschließende Einheit, und diese ist nicht bloß räumlich, körperlich, sondern in höherem Grade, wıe die zu- sammengesetzten Nester und gemischten Kolonien lehren, geistig durch Einheitlichkeit des Fühlens, Wollens und Vorstellens. Es ist eine psychische Einheit höheren Grades als die des einzelnen Individuums, wenn auch nicht so geschlossen wie im Bienenvolk, wo die Glieder stärker verbunden und aufeinander angewiesen sind und das Zusammengehören in eine einzige Spitze ausläuft. Es ist also Gemeinsamkeit der Hoffnung, die das Volk ın freudige Be- wegung versetzte. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt ein an- scheinend unbedeutender Nebenumstand größeren Wert. Die Ein- heit des Bewusstseins, in der die durch Instinkte geschützte Volks- wohlfahrt beschlossen liegt, kann nur den Sanguinea, nicht aber ihren stammesfremden Sklaven, den Fesca zukommen. Hiermit stimmt die Beobachtung überein, dass ın dem kleinen Hofstaat, den die Sanguinea um das Männchen bildeten, sich nie eine Fusca vorfand. — 3. Arbeiterinnen von einer unbefruchteten Königin. — Bei der Kolonie von Lasius niger, die mir die Königin des kleinen Versuchsnestchens von Lasius flavus tötete, machte ich eine merk- würdige Erfahrung, bei der ich trotz sorgsamer Beobachtung an- fangs einen Irrtum oder ein Versehen vermutete. Es handelt sich um die bisher nie angefochtene Erscheinung, dass unbefruchtete Eier der Ameisen nur Männchen ergeben. So war bis vor kurzem überall zu lesen, und meine eigenen Erfahrungen an zerstreuten Beobachtungsnestern, z. B. von Solenopsis fugax am St. Quentin, Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. 217 haben die Entartung durch Männchenbrütigkeit bestätigt. Diese Anschauung war mir auch von früher her geläufig, wo ich die Drohnenbrütigkeit der Bienen häufiger und eingehender kennen lernte, als mir lieb war. Nach der bei den Bienen unzweifelhaft festgestellten Tatsache, dass aus unbefruchteten Eiern nur Drohnen entstehen, und den bei den Ameisen bekannt gewordenen Erfah- rungen, war es begreiflich, dass der für die Bienen stets gültige und bei den Ameisen bis dahin bestätigte Satz, allgemein auch auf die Ameisen übertragen wurde. Aus v. Buttel-Reepen’s Buch über die stammesgeschicht- liche Entwickelung des Bienenstaates erfuhr ich vor einiger Zeit, dass Prof. Reichenbach in einer kleinen künstlichen Kolonie von 11 Arbeitern von Lasius niger aus Eiern dieser Arbeiter typische Arbeiter erhalten habe. Diese Nachricht war so erstaunlich und widersprach allen bisherigen Anschauungen so sehr, dass v. Buttel- Reepen dazu mit Recht sagen konnte, er habe es anfangs als schlechten Scherz aufgefasst, als Prof. Reichenbach ihm diese Mitteilung auf der Zoologenversammlung in Gießen zuerst münd- lich gemacht habe. Aus meinen Beobachtungen kann ich hierzu eine ergänzende Mitteilung machen. Im September 1902 fasste ich am Bois des troıs tetes, zwischen Rozerieulles und Gravelotte, eine starke Kolonie von Lasius niger und stellte zuhause, als die Kolonie aus dem Fangglas in das künst- liche Nest übergeführt worden, war, unter den zahlreichen Ar- beiterinnen und Larven 2 befruchtete und 5 unbefruchtete Weib- chen fest. Da ich in den ersten Wochen darnach bei dieser meiner ersten Zasius-Kolonie hauptsächlich mit Ernährungsversuchen und richtiger Wasserversorgung beschäftigt war, achtete ich wenig darauf, dass die unbefruchteten Weibchen von den Arbeiterinnen viel an den Flügeln gezerrt und umhergezogen wurden. Um so mehr, als es mir auch nur auf Erhaltung der 2 befruchteten Weib- chen ankommen konnte. Am 16. November bemerkte ich aber, dass auch das eine der befruchteten Weibchen von einer Arbeiterin so fest am Bein gepackt worden war, dass es nur schwer gehen konnte und öfters umfiel. Während der: Beobachtung wurde es liegend von 7 anderen Arbeiterinnen betrillert und beleckt. Am 17. November lag es fest auf einer Seite, sterbend und wurde dabei noch etwas betrillert und beleckt. Am folgenden Tage war es in 3 Teile zerrissen, und an den Stücken saßen saugende Arbeiterinnen. Bis zum Frühjahr verschwanden noch einige unbefruchtete Weib- chen, die lange mit zerfetzten, zerschlissenen Flügeln herumgelaufen waren, und am 5. April bemerkte ich. zu meinem Verdruss auch das Fehlen des zweiten befruchteten Weibcehens. Das Tier, an dem der Bestand der Kolonie hing, wurde damals lange von mir gesucht, und die Hoffnung, es wiederzufinden, konnte ich wochen- 218 Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. lang nıcht aufgeben. Aber es war und blieb verschwunden, war jedenfalls getötet und an der Abfallstelle vergraben worden. Die Lasius, die das Nest immer sehr reinlich hielten, hatten nämlich eine Ecke für den Abfall gewählt und speicherten da allen Abfall, z.B. auch die Kokons in einer kompakten Schicht zwischen Boden und Decke auf. Bis zu dieser Zeit waren nun auch die Larven, die bei dem Einsetzen der Kolonie vorhanden waren, herangewachsen, ver- puppten sich, und junge weißgraue Arbeiterinnen schlüpften später aus. Am 31. Mai entdeckte ich auf einmal zahlreiche frische Eier. Indem ich an meine Drohnenmütterchen des Bienenstaates dachte, war ich zuerst zweifelhaft, ob ich die Eier der unbefruchteten Königin oder einer Arbeiterin zuschreiben sollte. Der 7. Juni hob allen Zweifel. In meinem Tagebuch steht unter diesem Datum: Die Königin hat ein Eichen halb heraushängen und lässt es nach einigem Umherlaufen fallen. Einige Tage darauf waren es 3 große Klumpen von Eiern. Aus diesen Eiern, deren Entwickelung ich genau verfolgen konnte, wie aus den Eiern der folgenden 2 Jahre entwickelten sich Arbeiter, und nichts als Arbeiter. 4. Wie eine Königin von Solenopsis fugax Eier legt. — Mehr der Merkwürdigkeit halber, als weil ich mir viel Interessantes versprochen hätte, hielt ich zeitweise mehrere kleine Kolonien von Solenopsis fugax. Die Tiere sind zudem überaus leicht zu halten, da sie nur sehr geringe Pflege verlangen und in jedem Behälter gedeihen. Neben anderen Versuchen hatte ich eine kleine Kolonie mit einem befruchteten Weibchen in einen’ liegenden Lampenzylinder kleinster Größe gesetzt, dessen bauchige Wandung sehr dünn aus- getrieben war und so gute Beobachtung vom Boden her mit der Lupe ermöglichte. Denn ‚die Solenopsis suchen mit der Königin alsbald im Glas den tiefsten Punkt auf und richten diesen als ge- räumige Kinderstube ein, von der nur mehrere Gänge nach oben gebaut werden, die als Ausgänge dienen. Diese Kinderstube nimmt alles Interesse in Anspruch, denn die auf der Oberfläche herum- kriechenden Arbeiterinnen sind langweilige Geschöpfe. Wenn ich mit der Lupe die Bruthöhle auf der Unterseite des Zylinders absuchte, schaute ich natürlich zuerst nach dem glänzen- den, schweren Hinterleib der Königin, der bei den langsamen Be- wegungen, schwerfällig auf dem Glasboden hinschleppte. Eines Morgens, bevor ich noch die Königin erblickte, sah ich mit der Lupe eine Arbeiterin, die ein winziges Eichen mit den Kiefern wegtrug. In demselben Augenblick sah ich auch die Spitze des Hinterleibes der Königin. Eine Arbeiterin stand davor, ‚streichelte oder drückte leise mit Vorderfüßchen und Antennen — genauer konnte ich es trotz Lupe bei der Kleinheit der winzigen Tierchen nicht erkennen — ein Eichen quoll hervor, die Arbeiterin fasste Ernst, Einige Beobachtungen an künstlichen Ameisennestern. 219 es mit den Kiefern und trug es weg. An ihre Stelle trat sofort eine neue Arbeiterin, machte dieselben Manipulationen, nahm das vorquellende Eichen und trug es fort. Viermal sah ich denselben Vorgang, bis eine Wendung des Hinterleibes mir die weitere Be- obachtung entzog. Am folgenden Tage sah ich den Vorgang noch ein einziges Mal. Mein Tagebuch sagt dazu: Das Eichen kommt ganz langsam und wird von der Arbeiterin anscheinend mit den Kiefern halb herausgezogen. 5. Zähmung einer Formica rufa. — Zu diesem Versuche entnahm ich die Aufa einem künstlichen anormalen Nest von Sanguinea, dem die Rufa früher als Puppen zugesetzt worden waren. Die Bewohner dieses Nestes waren schon etwas zahmer, so dass z. B. der am Glas bewegte Finger kaum mehr Eindruck auf sie machte, wenn sie sich nicht gerade ın Aufregung befanden. Die in ein fingerlanges Glasröhrchen gesetzte Aufa hatte sich nach 3 Stunden schon soweit beruhigt, dass sie den an die eine Öffnung gehaltenen Finger neugierig betastete. Nach Berührung schreckte sie indes stets heftig zurück und gewöhnte sich nur allmählich auch an leises Bewegen des Fingers. Um dies zu erreichen, gab ich Honig oder Zuckerkrümchen grundsätzlich nur mit dem Finger und wischte nach jeder Fütterung alle Reste im Glase sorgfältig ab. Nach Verlauf eines Monats schien mir das Ergebnis günstig genug, um einen Schritt weiter zu gehen. Ich wollte sehen, wie weit die Rufa an ihre Wohnung gewöhnt wäre, wenn die gewöhn- lich mit einem Kork verschlossene Öffnung, die auch die Fütterungs- stelle war, offen gelassen wurde. Als das Gläschen auf einer größeren Unterlage geöffnet wurde, näherte sich die Rufa langsam a Öffnung mit al Zeichen limit: Aufmerksamkeit und Scheu. Scharf vorgestreckte Fühler, gestreckter- Leib mit stark nach- ziehendem Hinterleib und nachziehenden Hinterbeinen, so dass das an sich gedrungene Tier fast schlank aussah — ganz das Bild eines Tieres, das der Neugier nicht widerstehen kann und sich doch jeden Augenblick zu rückwärtiger Flucht bereit hält. An diesem Tage begnügte sich die Rufa mit neugierigem Betasten und Unter- suchen der Glasöffnung. So auch noch am folgenden Tage, aber zwei Tage darauf kletterte sie heraus, am Rande herum und bis zu 2 cm Entfernung auf die Unterlage hinaus, eilte von da aus aber mit den Zeichen des Schreckens in das Röhrchen zurück. An einem der folgenden Tage entfernte sich die herausgelassene Rufa ein Stück weiter von der Öffnung, wurde unruhig, erkannte den Rückweg nicht, eilte furchtsam hin und her und lief geängstigt von der Base auf den Tisch, so dass ich sie mit einem bereit gehaltenen Stück Watte auffangen und in das Röhrchen zurückbringen musste. Nach diesem Vorfall war sie sichtlich scheuer. Sie schreckte bei den 9) Wiesner, Jan Ingen-Housz. Sein Leben und sein Wirken. Fütterungsversuchen vor dem Finger viel mehr zurück als je zuvor und verlängerte die freiwilligen Hungerpausen bis zu 7 Tagen. Erst nach einem weiteren Monat hatte die Rufa sich soweit wieder gewöhnt, dass sie ohne Scheu und anhaltend Zuckersaft vom Finger saugte und dass ich den Finger dabei leise bewegen konnte. Bald konnte ich auch während der Fütterung den Finger soweit von der Glasöffnung entfernen, dass das Tier mit dem Körper zur Hälfte außerhalb des Gläschens war, und am 5. Mai, als 3 Monate nach Isolierung der Rufa verstrichen waren, gelang es mir, die saugende Ameise soweit aus dem Röhrchen herauszu- zıehen, dass der ganze Körper außerhalb der Glasröhre war, so dass das Tier sich nur noch mit den Hinterfüßchen auf den Glas- rand stützte. Diese Erfolge brachten mich leider auf den Gedanken, dass es möglich sein müsse, von dem Tier höhere Leistungen auf einem anderen Wege zu erreichen. Die langen Hungerpausen ließen auf ein geringes Nahrungsbedürfnis schließen, das regelmäßig und oft dargereichte Wasser wurde dagegen stets gierig angenommen. Wie sehr empfindlich aber die Ameisen gegen sparsame Verab- reichung von Wasser sind, erfuhr ich zu meinem Leidwesen bei den hierauf gegründeten weiteren Versuchen, bei denen mir das Tier, ohne dass ich wesentlich mehr erreicht hätte, im vierten Monat der Isolierung einging. J. Wiesner. Jan Ingen-Housz. Sein Leben und sein Wirken als Naturforscher und Arzt. Unter Mitwirkung von Prof. Th. Escherich, Prof. E. Mach, Prof. R. v. Töply und Prof. R. Wegscheider. Mit einem Titelbild, zwei Textillustrationen und einem Faksimile. 8° X und 2528. Wien 1905. Karl Konegen (Ernst Stülpnagel). Der botanische Kongress, welcher ı. J. 1905 zu Wien abge- halten wurde, gab Herrn W., dem verdienstvollen Pflanzenphysio- logen der dortigen Universität, Anlass, seine längst schon in Angriff genommenen Arbeiten über das Leben und die wissenschaftlichen Leistungen des Jan Ingen-Housz zum Abschluss zu bringen. Sie liegen jetzt in dem oben genannten vortrefflichen Werke vor,‘ das als. Festgabe für die Teilnehmer an jenem Kongress diente. Das ist wohl hinreichend begründet durch den Umstand, dass Ingen- Housz, obgleich ein geborener Holländer, einen großen Teil seines Lebens zu Wien zugebracht und dort die Grundgedanken seines Hauptwerks zuerst erfasst hat. Mit Recht stellt Herr W. Ingen-Housz als einen der Be- gründer der Pflanzenphysiologie hin. Wie Stephen Hales die mechanische Seite dieses Wissenszw eiges begründet hat, so Ingen- Housz die chemische. Denn ıhm verdanken wir den wissenschaft- lichen Nachweis der grundlegenden Tatsache, dass die grünen Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. 221 Pflanzenteile unter Mitwirkung des Lichtes CO, aufnehmen und O, abscheiden, dass dagegen im Dunkeln das Umgekehrte stattfindet. Zwar wurde dieses Verdienst lange Zeit verk annt und seinem Zeit. genossen Senebier zugeschrieben, aber Herr W. weist sozusagen archivarısch nach, wie sehr damit dem wirklichen Entdecker Un- recht geschehen ist, ein Unrecht, an dem die unmittelbaren Zeit- genossen und nicht zum wenigsten Senebier selbst die Haupt- schuld tragen, und das erst Spät, insbesondere durch Sachs, wenigstens in etwas wieder gut gemacht worden ist!). Jetzt, wo Herr W. das ganze Quellenmaterial vorlegt, wird niemand mehr den richtigen Sachverhalt verkennen. Die Darstellung der pflanzenphysiologischen Untersuchungen des Ingen-Housz nımmt den breitesten Raum in Herrn Ws Buche ein. Daneben werden aber auch seine sonstigen physikalischen und chemischen Untersuchungen, seine segensreiche Wirksamkeit als Arzt (er war einer der eifrigsten Verbreiter der Blatternimpfung) und als edler Mensch anschaulich geschildert. Das Buch wird ge- wiss jedem Leser großen Genuss bereiten, schon durch die edle Wärme, mit welcher der Herr Verfasser für seinen Helden eintritt, ohne jemals den Boden klarer, unparteischer Geschichtsdarstellung zu verlassen. J. Rosenthal. H. Driesch. Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. (Bd. 3 der Natur- und Kulturphilosophischen Bibliothek.) Kl.8, X u. 246 Seiten, Leipzig. Joh. Ambr. Barth. 1905. In dieser „Bibliothek“, deren erster Band, die „Philosophie der Botanık“* von J. Reinke, in Bd. XXV, Nr. 9 dieses Blattes von den Herren H. Fischer und Kienitz-Gerloff besprochen worden ist, hat Herr Driesch, der bekannte Verfechter des Vita- lismus, ein Buch erscheinen lassen, in dessen erstem Hauptteil er eine Geschichte der vitalistischen Lehren (ich verstehe nicht, warum er ihn „Vitalismus als Geschichte“ betitelt) gibt. Er beginnt mit Aritoles, bezeichnet dann die Zeit von Lotze bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts als die der „Kritik und materialistischen Reaktion“ und lässt endlich als letzte Epoche die des „neueren Vitalismus“ folgen. Im zweiten Hauptteil (S. 169 bis Schluss) wird dieser neuere Vitalismus in seinen Einzelnheiten dargestellt und begründet. Die Anschauungen des Verfassers sind so allgemein bekannt, auch in verschiedenen Aufsätzen desselben im Biol. Cen- tralblatt wiederholt dargestellt, dass ein Eingehen auf sıe an dieser Stelle unnötig erscheint. Sie kommen, wie unsere Leser wissen, auf die Behauptung einer „Autonomie der Lebensvorgänge* hinaus, 1) Eine im wesentlichen richtige Darstellung des Sachverhalts findet sich übrigens doch öfter in der neueren Literatur. Vgl. u.'a. meinen Vortrag über La- voisier, Verhandl. d. Ges. d. Naturf. u. Ärzte, 63. Vers. zu Bremen 1890. T. 8. 112. — Biol. Centralbl. X, 524. 999 Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. d.h. auf den Satz, dass die Lebenserscheinungen durch eigene Ge- setzmäßigkeiten beherrscht werden, welche nicht auf die bekannten, in der unbelebten Natur herrschenden Gesetze zurückgeführt werden können. Die Beweise für diesen Satz werden neben dem auch in früheren Perioden üblichen Hinweis auf die „Zweckmäßigkeit“ haupt- sächlich den Tatsachen der Regeneration entnommen. Wenn man der so ausgesprochenen Behauptung den Zusatz „bisher nicht völlig“ zufügt, so wäre ihre Richtigkeit wohl im allgemeinen anzuerkennen. Die Ge- schichte der Wissenschaft lehrt uns aber auf Schritt und Tritt die alte Wahrheit, dass man niemals niemals sagen solle. Wir kennen die Grundgesetze des unorganischen Geschehens gewiss noch nicht alle. Die Elektrizitätslehre, die neu aufgetretene Wissenschaft der physi- kalischen Chemie und vieles andere lehren uns, wie auf viele Be- ziehungen durch die glückliche Auffindung einer neuen Tatsache ein helles Licht fallen kann, von dem man kurz vorher noch keine Ahnung hatte. Was die zukünftige Forschung noch aufdecken wird, vermag niemand vorauszusagen. In der Wissenschaft von den Lebenserscheinungen aber stehen wir erst in den allerersten Anfängen. Die Tatsachen der Entwickelungsgeschichte z. B., die Beschreibung der aufeinanderfolgenden Formen sind Bausteine zu einem erst in der Zukunft aufzurichtenden Gebäude. Die genaue Kenntnis der einzelnen Tatsachen ist die notwendige Voraussetzung für jede Wissenschaft, aber sie ist noch nicht die Wissenschaft selbst; denn diese besteht in dem Nachweis des Zusammenhangs der Tatsachen untereinander. Die ersten Versuche zu einer solchen Behandlung der Wissenschaft haben eben erst begonnen. Da scheint es mir doch zu früh, schon jetzt behaupten zu wollen, dass diese Vor- gänge „unmöglich“ nach allgemeinen, auch in der unbelebten Natur geltenden Gesetzen sich vollziehen. Gewiss gibt es bei allen Lebens- erscheinungen bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die neben den in der unbelebten Natur geltenden bestehen, ebenso wie z. B. die magne- tischen Erscheinungen sich nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten vollziehen, neben und unbeschadet der allgemeinen Gesetze der Schwere u. s. w. Wer solche „Lebensgesetze* auffindet, wird sich ein großes Verdienst erwerben. Im voraus zu behaupten, dass diese „Lebensgesetze“ ganz und gar von den Gesetzen der unbe- lebten Natur und in ihrem Wesen durchaus von ihnen verschieden sein müssten, dazu haben wir jedoch keine Veranlassung. Und mit der bloßen Behauptung, dass es solche „autonome*, d. h. von den anderen ganz unabhängige Gesetzmäßigkeiten gebe, ist dem Fortschritt der Wissenschaft wenig gedient. Wenn jene „Lebens- gesetze“ gefunden und begründet sein werden, wird der weitere Fortschritt nur darin bestehen können, dass sie als Spezialgesetze allgemeinerer Naturgesetze erkannt werden, und dass man sie aus jenen ableiten kann, wenn man die besonderen Bedingungen kennt, unter denen sich die Erscheinungen in dem betreffenden Falle voll- ziehen. Und damit komme ich zu dem Schluss, dass es zum Fort- schritt der Wissenschaft, der uns doch allen am Herzen liegt, er- sprießlicher wäre, Schritt für Schritt auf dem Wege der Erforschung Kleinpeter, Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart. 225 jener Spezialgesetze fortzuschreiten und es unsren Nachkommen zu überlassen zu entscheiden, wie diese Gesetze mit den sonst er- kannten allgemeinen Naturgesetzen in Einklang zu bringen sein werden. J. Rosenthal. H. Kleinpeter. Die Erkenntnistheorie der Naturforschung der Gegenwart. Unter Zugrundelegung der Anschauungen von Mach, Stallo, Olifford, Kirch- hoff, Hertz, Pearson und Ostwald dargestellt. Kl. 8, XII u. 156 S. Leipzig 1905. Joh. Ambr. Barth. Im Anschluss an die im Titel genannten Forscher sucht der Verfasser, bekannt hauptsächlich als “Übersetzer von Werken eines Teils der genannten Autoren, die allen oder den meisten derselben gemeinsamen Vorstellungen über die Grundsätze und Tragweite der Erkenntnistheorie zusammenfassend darzustellen. Er legt dabei hauptsächlichen Nachdruck auf das, was nach seiner Meinung jetzt schon als gesicherter Besitz anzusehen ist, während er die kritisch- historische Beurteilung der verschiedenen Ansichten einer späteren Bearbeitung vorbehält. Naturforscher, welche über die Grundlagen der Naturerkenntnis nachgedacht haben, werden mit des Verfassers Betrachtungsweise im allgemeinen einverstanden sein können, wenn sie auch in der einen oder anderen Einzelnheit zu anderen Ergeb- nissen gelangt‘ sein sollten. Ein angehängtes Verzeichnis wich- tiger Schriften über den Gegenstand wird denen willkommen sein, welche sich mit demselben noch mehr vertraut machen wollen, als es die Darstellung des Verfassers erlaubt. Jh. Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde. Herausgegeben von Dr. Otto Zacharias, Direktor der biologischen Station zu Plön. (Stuttgart: Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung [E. Naegelel. Bd. I. Heft 2. Ausgegeben am 1. Oktober 1905. Heft 3. Ausgegeben am ]. Februar 1906.) Wir haben vor nicht gar langer Zeit das erste Heft dieser „Neuen Folge der Forschungsber. a. d. biolog. Station zu Plön‘ angezeigt. Die nunmehr vorliegenden zwei weiteren Hefte schließen sich würdig dem ersten an. Es muss genügen, an dieser Stelle eine ganz kurze Übersicht über deren Inhalt zu geben. Im zweiten Heft wird zunächst die Arbeit von G. Huber über die Montigglerseen (Südtirol) zu Ende geführt. Dieser Teil be- schäftigt sich nun hauptsächlich mit dem Plankton, und zwar ebenso einlässlich mit Zoo- wie Phytoplankton. Es werden nicht nur trockene Listen der vorkommenden Lebewesen gegeben, sondern jede einzelne Art oder doch Artengruppe wird in ihrem Verhalten das Jahr hindurch einlässlich behandelt, mit spezieller Berück- sichtigung der Variabilität. Der Zooplanktontolog namentlich wird diese Massen von Beobachtungen häufig zu Rate ziehen müssen. Reichliches Beobachtungsmaterial enthält auch die folgende 224 . Vogler, Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde. kleinere Arbeit von Dr. V. Brehm: „Zur Kenntnis der Mıkrofauna des Franzensbader Torfdistriktes“. Daran schließt sich ein kleiner Aufsatz von Hugo Reichelt (Leipzig): „Zur Diatomeenflora des Schöhsees bei Plön“. Den Schluss macht die Reproduktion von 23 Original-Mikrophotogrammen von Zacharias selbst, deren Originale auf der Hydrobiologischen Ausstellung zu Moskau 1903 mit einem ersten Preis ausgezeichnet worden waren. Das dritte Heft eröffnet ein großer Aufsatz des Herausgebers über „Das Plankton als Gegenstand eines zeitgemäßen biologischen Schulunterrichtes“. Da wir diesem Aufsatz eine sepa- rate Besprechung im Biol. Centralblatt widmen, genügt an dieser Stelle ein Hinweis darauf. E. Lemmermann (Bremen) bespricht „Das Plankton einiger Teiche in der Umgegend von Bremerhaven“. Da sich die Be- obachtungen über ein ganzes Jahr erstrecken, so lässt sich auch hier die Periodizität ım Auftreten der einzelnen Formen leicht konstatieren. Über die Bedeutung der Planktontologie für die Meeresforschung im allgemeinen orientiert uns der „Vater der quantitativen Plankton. forschung“, Viktor Hensen: „Die Biologie des Meeres”, Rede, gehalten am Stiftungsfest des naturwissenschaftlichen Vereins in Kiel. Mehr referierender Natur ist der Aufsatz von G. Kar sten, Bonn, „Über das Phytoplankton der Deutschen Tiefsee- -Expedition“, der ein recht anschauliches Bild gibt von der Verschiedenheit des Planktons unter den verschiedenen Breiten. — Das eigentümliche Phänomen der „Meeresverschleimung im Golfe von Triest während des Sommers 1905“ behandelt Professor J. Cori (Triest). Als die Erzeuger dieses Meerschleims betrachtet er die Peridineen, welche bei en Enzystierung eine quellbare Gallerte abscheiden. Dr. V. Brehm berichtet über „Einen neuen Corycaeus aus dem adriatischen Meere“; Zacharias über „Eine neue Dietyochide aus dem Mittel- meer“. Ein Autorreferat von A. Pascher über seine Arbeit: „Zur Kenntnis der geschlechtlichen Fortpflanzung bei Stigeoclonium sp.; und ein einlässliches Referat des Herausgebers über die gewiss sehr interessante Arbeit von Max Samter: „Über die geographische Verbreitung von Mysis relicta, Pallasiella qudrispinosa und Ponto- poreia affimis in Deutschland“, schließen dieses Heft. Diese kurze Übersicht zeigt wieder die Mannigfaltigkeit ‘des Gebotenen, und doch macht es uns den Eindruck, dass die Hydro- biologen und Planktontologen der Zeitschrift noch nicht die Be- achtung schenken, die sie verdiente. Wie die Plöner Station eine Art Zentrum der Süßwasserbiologie darstellt, so sollte sich auch dieses Archiv mehr und mehr zu einem Zentralorgan für solche Bestrebungen auswachsen. St. Gallen, Februar 1906. Prof. Dr. P. Vogler. Verlag von Georg I in Leipzig, ne 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. XXVI.Bd. 15. April 1906. M 8. Inhalt: Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. — Kranichfeld, Die Erhaltung und die Kontinuität günstiger Varianten. — Heinz, Handbuch der experimentellen Patho- logie und Pharmakologie. — Zacharias, Das Plankton als Gegenstand eines zeitgemälsen biologischen Schulunterriehts.. — Snyder, Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft nach den Ergebnissen der neuesten Forschungen. — Hertwig, Allgemeine Biologie. — Fuchs, International Catalogue of sceientifie Literature. — Hayduck, Uber die Bedeutung des Eiweils im Hefenleben, — Henriksen, The Danish Arctie Biologieal Station in Greenland. Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. Von L. Jost. Um die Abhängigkeit des Pflanzenwachstums von der ‘Tem- peratur festzustellen, braucht man kein Thermometer und keinen Maßstab; man sieht in jedem Frühjahr, wie durch die zunehmende Wärme das Wachstum gesteigert wird. Als man die Beziehung zwischen Temperatur und Wachstum in der Pflanzengeographie und Phänologie zuerst wissenschaftlich verwerten wollte, da setzte man als selbstverständlich voraus, dass das Wachstum proportional mit der Temperatur zunehme. Eine bessere Einsicht in die Be- einflussung des Wachstums durch die Temperatur finden wir schon bei De Candolle (1832), doch hat erst Sachs (1860) vollen Ein- blick in die Gesetzmäßigkeiten erlangt. Er fand, dass das Wachs- tum bei einem für jede Spezies bestimmten „Minimum der Temperatur“ beginnt, dass es bei einem „Maximum“ aufhört, und dass es bei einem (gewöhnlich dem Maximum näher als dem Mini- mum liegenden) Temperaturwert seine größte Intensität erreicht. Diesen Punkt nennt Sachs das „Optimum“. Maximum, Minimum und Optimum bezeichnet er später als die „Kardinalpunkte*“ der Temperatur. XXVI. 15 996 Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. \ Wenn wir die Resultate, die Sachs z.B. für die Abhängig- keit des Wurzelwachstums von der Temperatur fand, in Form einer Kurve geben, so erhalten wir Fig. 1; auf der Abszisse sind die Temperaturgrade verzeichnet, die Ordinaten stellen die in zweimal 24 Stunden erreichten Längen (Millimeter) der Keimwurzel von Zea Mays vor. Schon im Handbuch der Experimentalphysiologie (1865, S. 69) und noch deutlicher im Lehrbuch der Botanik (1874, S. 700) weist dann Sachs darauf hin, dass man eine ähnliche Kurve — wir wollen sie „Optimum“kurve nennen — auch für andere physio- logische Funktionen erhält, die von der Temperatur abhängen, so z. B. für die Chlorophylibildung, die Sauerstoffausscheidung im Sonnenlicht, die Reizbarkeit der Fig. 1. Mimose, die Protoplasmabewe- gung. Aber nicht nur die Tem- peratur, auch das Licht liefert eine ähnliche Kurve, insofern als bei der Wellenlänge von 0,0005889 mm die optimale Wir- kung für die CO,-Assımilation liegt (Sachs 1874, S. 718). In seinen Vorlesungen über Pflanzen- physiologie (1882, S. 233) endlich hat dann Sachs die Wichtigkeit dieser Optimumkurve noch sehr viel schärfer hervorgehoben. Er schreibt: „Man geht wohl nicht zu 5 20 383 30 35 weit ın der Annahme, dass jede | Abhängigkeit!) einer physio- logischen Funktion von irgendeiner äußeren Einwirkung diese Form einer zuerst auf- und dann wieder absteigenden Kurve annımmt und dass wir in der letzteren eines der fundamentalen (sesetze der Physiologie vor uns haben. Da wir nun jede Abhängig- keit einer Vegetationserscheinung von äußeren Einwirkungen als Reizbarkeit bezeichnen dürfen, so repräsentiert die genannte Kurven- form also das fundamentale Gesetz der Reizbarkeit.* Es ist wohl vielfach übersehen worden, dass dieses (Gesetz schon einige Jahre vorher von L. Errera (1878) ebenfalls als ein allgemein für die Organismen charakteristisches ausgesprochen worden ist. Als dann später (1896) Errera in einem Essai noch- mals auf das Optimum zu sprechen kam, bemühte er sich nicht nur, zu zeigen, dass es für physiologische Vorgänge bei Tieren und 1) Dies und das folgende bei Sachs nicht gesperrt. Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. 227 De Pflanzen im gleicher Weise gilt, sondern er legte außerdem ganz besonderen Nachdruck auf die Tatsache, dass auch in der anorga- nischen Natur wenigstens gelegentlich eine Optimumkurve auftrete. „Ne se presente-t-il pas vers 4° une sorte d’optimum de tempera- ture pour la densite de l’eau liquide, vers 33° pour la solubilite du sulfate de soude, a partir de 65° jusq’a 98° pour la solubilite du sulfate ferreux?* (weitere Beispiele 1. c. S. 26ff.). Eine kritische Stellung zu der Optimumkurve nimmt Pfeffer ein. In seiner Pflanzenphysiologie (1904, II. S. 78) sagt er: „Über- haupt wird die graphische Darstellung der meisten physiologischen Reaktionen eine analoge Kurve liefern... Indes muss sich nicht gerade in allen Fällen... ein ausgesprochenes Optimum einstellen. Dieses fehlt z. B. in der Atmungskurve, die mit der Temperatur bis zum Eintritt der Schädigung ansteigt, während die Kurve der Kohlensäureassimilation unter denselben Umständen ein Optimum zeigt.“ Bei diesem Hinweis auf die Abhängigkeit der Atmung von der Temperatur stützt sich Pfeffer namentlich auf die Unter- suchungen von Kreusler (1885—90), die nicht ohne Widerspruch. geblieben sind. Clausen (1890) und Ziegenbein (1893), zwei Schüler Detmers, sind es namentlich, die für ein Optimum bei der Atmung eingetreten sind. Darüber ist man sich einig, dass bei hohen Temperaturen, die dem Tötungspunkt der Pflanze nahe liegen, ein Abfall der Atemkurve erfolgt; der Streit dreht sich nur darum, ob dieser Abfall schon ein Ausdruck der Schädigung der Pflanze ist, oder ob er bereits bei einer Temperatur erfolgt, die noch unschädlich ist. Die Kontroverse ist um so schwerer zu entscheiden, als das Temperaturmaximum nicht, wie man’ wohl glauben könnte, ein scharf fixierter Punkt ist. Vielmehr spielt bei seiner. Bestimmung die Dauer seiner Wirkung eine ganz bedeutende Rolle. So hat schon 1863 Sachs gezeigt, dass z. B. die Mimose für einige Minuten eine Temperatur von 50° C. und ‚darüber ertragen kann, während sie bei längerer Einwirkung dieser Temperatur so gut zugrunde gehen dürfte wie andere Pflanzen. Nun sind in neuester Zeit einige Arbeiten erschienen, die offenbar die angedeutete Streitfrage aus der Welt schaffen und die ein noch sehr viel weiter gehendes Interesse dadurch besitzen, dass sie die Frage nach dem Gang der physiologischen Reaktionen im Vergleich zu chemischen Reaktionen in vitro aufwerfen und zum Teil beantworten. Dass die Atmung und die Kohlensäure- assimilation Prozesse sind, die als chemische Reaktionen bezeichnet werden müssen, ist ganz selbstverständlich, wenn auch diese Vor- .gänge eventuell durch das Substrat, in dem sie sich abspielen, sehr kompliziert sein mögen. Jedenfalls ist es viel näher liegend, 15* 228 Jost, Uber die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. sie mit Oxydationen und Reduktionen oder sonstigen chemischen Umsetzungen zu vergleichen, die sich an in Wasser gelösten Stoffen abspielen, als mit der Dichtigkeitsänderung des Wassers oder mit der Lösung von Salzen, wie das Errera getan hat. Nach van t Hoff (1901) hängt nun bei zahlreichen chemischen Vorgängen die Reaktionsgeschwindigkeit ın der Weise von der Temperatur ab, dass sie sich mit dem Steigen der Temperatur um 10° C. in der Regel verdoppelt bis verdreifacht; der Quotient für zwei Ge- schwindigkeiten im Temperaturintervall von 10° (= q,,) beträgt also 2—31), Unter den Beispielen van t’Hoffs (l. c. 225) inter- essiert den Biologen neben einigen Enzymwirkungen namentlich auch die Pflanzenatmung, die auf Grund der Beobachtungen von Clausen an Zupine, Mays und Syringa hier angeführt wird. Inner- halb der Temperaturgrenzen 0 und 25° soll hier q,, = 2,5 sein. Dieser Hinweis van t’Hoffs auf das biologische Gebiet ist nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen. Es hat zunächst Cohen (zitiert nach Höber 1902, S. 324) aus Versuchen von Hertwig berechnet, dass die Entwickelungsgeschwindigkeit der Froschembryonen nach der van t’Hoff’schen Regel von der Temperatur abhängt. Ent- sprechendes zeigte Abegg (1905) auf Grund von Beobachtungen Peter’s an Seeigeleiern. Als dann im Jahre 1904 die vortreffliche Experimentaluntersuchung Matthaer’s über die Abhängigkeit der 00,-Assimilation des Laubblattes von der Temperatur erschienen war, hat sowohl A. Kanitz (1905) wie F. Blackman (1905) die Resultate dieser Untersuchung mit der van t’Hoff’schen Regel verglichen. Besonders fruchtbringend erscheint uns die Diskussion Blackman’s. Von ıhr gibt das Folgende eine kritische Besprechung. Außerdem sollen noch einige naheliegende Erscheinungen, die Blackman nicht berührt hat, in den Kreis der Betrachtungen ge- zogen werden. Zunächst müssen wir den Untersuchungen von Miss Matthaei unsere Aufmerksamkeit schenken. Wir können nicht besprechen, durch welche besonderen Vorsichtsmaßregeln und Versuchsanord- nungen diese Untersuchungen den früher ausgeführten überlegen sind, wir erwähnen nur, dass mit einzelnen, abgeschnittenen Blättern von Prunus Laurocerasus experimentiert wurde, die in einem kon- tinuierlichen Strom einer relativ kohlensäurereichen Luft bei ver- schiedenen Temperaturen einer starken künstlichen Lichtquelle exponiert wurden. Jede einzelne Temperatur, die, wenn nötig, thermoelektrisch im Blatte selbst bestimmt wurde, wirkte ‘zunächst einmal 1!/, Stunden auf das Blatt ein; dann erst wurde von Stunde zu Stunde die vom Blatt zerlegte Kohlensäure bestimmt und aus 1) In der van t’Hoff’schen Tabelle sind auch andere Werte für den nn Qı. zu finden. Im einen Extrem beträgt er 1,2, im anderen 7. Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. 229 diesen Werten nach Berücksichtigung der Atmung — die folgende Kurve gewonnen (Fig. 2, ausgezogene Linie). Wie man sieht, handelt es sich um eine typische Optimum- kurve; die Kardinalpunkte liegen bei — 6°, 457° und —53°. Bei Betrachtung dieser Kurve hat Kanitz (1905) konstatiert, dass sie zwischen 0 und 37° der van t’Hoff’schen Regel entspricht und x Auf der Abszisse ist die Temperatur angegeben. Die Ordinaten bezeichnen die pro Stunde assimilierten Mengen von CO, (in Milligramm). Die ausgezogene Kurve (I) entspricht den ersten Ablesungen. Die gestrichelten Kurven sind auf Grund von Be- stimmungen entworfen, die in aufeinanderfolgenden Stunden gemacht wurden (ZII—IV). einen mittleren Quotienten q,, — 2,06 ergibt. Im einzelnen zeigt dieser Quotient folgende Differenzen: Das 10°) (10—-20°) (20— 30°) «30— 37°) 2,40 2,12 1,76 1,81 In diesem Fallen des Quotienten erblickt Kanitz eine weitere Bestätigung der van t’ Hoff schen Regel, denn diese sagt in der Tat, dass der Quotient mit steigender Temperatur abnehmen soll. 250 Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. Von dem oberhalb 37° gelegenen Teil der Kurve sagt Kanitz, er sei „natürlich unserer Betrachtung entzogen“ und von dem unter- halb 0° gelegenen bemerkt er, dass er eine sehr starke Vergrößerung des Quotienten (28,7) anzeigt. Diese „gibt den hemmenden Ein- fluss der großen Kälte auf den Assıimilationsvorgang wieder.“ Es mag dem Chemiker Befriedigung gewähren, zu konstatieren, dass bei gewissen mittleren Temperaturen die Geschwindigkeits- änderung der CO,-Assimilation in der gleichen Weise von der Temperatur abhängt wie die anderer Reaktionen; für den Physio- logen, hat zweifellos gerade die Frage nach der Veränderung der Reaktionsgeschwindigkeit bei den Temperaturen, die dem Minimum und dem Maximum naheliegen, das größere Interesse. Mit dieser Frage, wenigstens mit einem Teil derselben, mit den Ursachen der Veränderung der Geschwindigkeit in der Nähe des Optimums hat sich Blackman (1905) beschäftigt. Er frägt zu- nächst, wie müsste die Assımilationskurve aussehen, wenn sie nach der van t’Hoff’schen Regel gestaltet wäre? Er berechnet zu dem Zweck den Quotienten q,, für das Intervall 9—-19°. Er findet den Wert 2,1. .Damit konstruiert er dann die in Fig. 3 gestrichelte Kurve, er nimmt also an, dass q,, innerhalb der in Betracht kommenden Temperaturen primär keine Veränderung erfahre. Diese hypothetische Kurve wird von der realen Kurve (Fig. 2) nur bei niederen Temperaturen erreicht; je höher die Temperatur, desto mehr bleibt der Wert der Assımilation hinter dem hypo- thetischen Wert zurück. Nun haben aber die quantitativen Studien von Miss Matthaei gezeigt, dass bei niederer Temperatur bis zu 23,7° 0. (B im Fig. 2) die Assimilationsgröße in aufeinanderfolgenden Stunden im wesentlichen ungeändert bleibt, dass sie aber bei 30,5° 0. und noch mehr bei höheren Temperaturen mit der Zeit in gesetz- mäßiger Weise sınkt. Folgende Mengen Kohlensäure (Zehntel- milligramm) wurden pro Stunde und pro 50 cm? Blattfläche assı- miliert (nach Berechnung von Blackman 1905, 284). Stunden nach Beginn 30,50 37,50 40.50 der betr. Temperatur 3 ) 11/,—21|, 157 2% 147 211,—3!], 140 176 108 3'/,—-4|, 129 139 95 41/,—5!|, 120 109 48 Daraus entnehmen wir, dass die in Fig. 2 dargestellte aus- gezogene Kurve nicht als die Assımilationskurve schlechthin be- zeichnet werden kann; denn wenn die betreffende Temperatur länger eingewirkt hat, so erhalten wır andere Assimilationskurven (II—IV), die mit gestrichelten Linien eingezeichnet sind. Abge- sehen von der sukzessiven Größenabnahme des Optimums zeigt sich vor allem eine Verschiebung seiner Lage: es liegt bei der Jost, Uber die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. 231 ersten Bestimmung (Kurve I) bei 37,5° C. oder wahrschemlich noch höher, vier Stunden später (Kurve IV) bei 30,5%. Welche von Fig. 3. 60 En S a SeRBei er Die 10 20 30 +0 Fa 50°. Theoretische Kurve der Abhängigkeit der Assimilation von der Temperatur. Assi- milation in Milligramm zerlegter CO, pro Stunde angegeben. diesen Kurven ıst nun die richtige? Offenbar keine! Denn es i oO geht ja aus den Beobachtungen hervor, dass die höheren Tem- peraturen die Assimilation herabdrücken, und es kann keinem Zweifel 232 Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. unterliegen, dass diese ihre Wirkung sofort mit ihrem Einsetzen beginnt. Wenn wir also unser erstes Resultat nicht erst 2!/, Stunden ach Beginn der Temperaturwirkung, sondern sofort mit ihrem Tee, erhalten könnten, so würden wir zweifellos eine viel steilere Kurve erhalten. Leider lässt nun aber die verwendete Methode eine Bestimmung des Initialwertes der Assimilation nicht zu. Da ist Blackman auf einen guten Gedanken gekommen, um über diesen Wert auf einem anderen Wege eine Vorstellung zu be- kommen. Er trägt die fallenden Werte der Tabelle in ein Ko- ordinatensystem ein, dessen Abszisse die Zeit, dessen Ordinaten die Assimilation darstellen und verlängert die so erzielten Kurven rückwärts. Es stellt sich heraus, dass man so primäre Assimilations- werte erhält, die mit denen der hypothetischen Kurve Fig. 3 recht gut übereinstimmen. Das wird am deutlichsten, wenn man in Fig. 3 das Abszissenintervall, das 2!/,° entspricht, willkürlich als Zeitintervall von einer Stunde benützt und so die sukzessiven Werte bei 30,5°, also C,, C,, C,, ©; in einem Abstand von 2, 3, 4, 5 Stunden von C, und entsprechend D, bis D,, E, bis E, Eintnagt: Werden die Kurven rückwärts verlängert, so zeigt sich, dass man ihnen keine große Gewalt anlegen muss, um sie zu den theoretischen Werten C, bezw. D,, E, zu lenken. Daraus schließt Blackman, dass . hypothetische Kurve der Fig. 3 in der Tat die primäre Assimilationskurve ist. Des ist demnach keine Optimumkurve. Das Optimum wird bloß vorgetäuscht, weil die theoretischen Initialwerte bei 30° langsam, bei 40° rasch sinken. Mit dem Steigen der Temperatur kommen wir dann bei etwa 48° an eine ne bei der die Herabdrückung des theoretischen Wertes so rasch erfolgt, dass die Assimilation praktisch gleich Null wird. Dieses deutet die Ordinate FF, an. Gegen diese Deduktion lassen sich ach Einwände machen. Ein Blick auf Fig. 3 zeigt, dass D, weit außerhalb der D-Kurve liegt (zufällig ist er ın die E- Ku geraten!) und Punkt E,, der gar nicht eingezeichnet ist, liegt auch nicht am richtigen Ort (vgl. Tabelle S. 230). Wichtiger ac uns, dass die ganze Hypothese auf zu schwacher ee Basis ruht. Die Präzision der Matthaei’schen Experimente kann die geringe Anzahl derselben nicht aufheben und die maßgebenden Versuche sind tatsächlich alle nur ein einzigesmal ehrt worden (Matthaei l.c. 104. Exp. 58, 59, 60). . Da '..aber die Konstanz der Assımilation bei niederen Temperaturen (vgl. z. B. Matthaei Exp. 56 u. 57) keines- wegs eine absolute war, vielmehr beträchtliche Schwankungen auch hier zur Beobachtung kamen, so ist eben doch nicht ausge- schlossen, dass die Werte bei 30° C. und höher auch von Zufällig- keiten beeinflusst wurden. In der Tat hat denn auch Miss Mat- thaei die Einzelwerte nicht zur Berechnung des zeitlichen Verlaufes Jost, Uber die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. ae der Herabdrückung der Assimilation verwendet; das hat erst Black- man getan. Unseres Erachtens wären dazu mehr Beobachtungen nötig gewesen und vor allem eine andere Methode, die eine früher beginnende und in kürzeren Intervallen wiederholte Messung der Assimilationsgröße erlaubt hätte: die Gasblasenmethode. Wir kommen hierauf alsbald zurück. Trotz dieser Bedenken scheint uns die Deduktion Blackman’s sehr bedeutungsvoll. Wir halten es für recht wahrschein- lich, dass die Assimilationskurve nur durch die sekundären Schä- digungen bei höheren Temperaturen eine Optimumkurve wird. Die primäre, theoretische Kurve unterscheidet sich von anderen Re- aktionskurven nicht, wenn sie vielleicht auch nicht ganz so aussieht wie die Kurve in Fig. 3. Damit ist dann aber auch gesagt, dass die Assimilationskurve prinzipiell mit der Atmungskurve übereinstimmt und der Streit um das Optimum bei der Atmung ist wesenlos geworden. Denn es kann kaum einem Zweifel unter- liegen, dass die Depression der Atmung die im Clausen’s Ver- suchen oberhalb 40° allgemein eintritt, auf einer Schädigung beruht. Diese Schädigung braucht nicht tödlich zu werden. So gut wie wir bei 30° ©., einer Temperatur, die die Pflanze zweifellos dauernd ertragen kann, eine Depression der CO,-Assimilation sehen, ebenso kann oberhalb 40° C. eine Atmungsdepression auftreten, die dann mit höheren Temperaturen rasch an Intensität zunimmt. Bei 45° ist aus Clausen’s Zahlen kein sicherer Schluss auf die Abnahme der Atmung mit der Zeit zu machen, weil zu große Schwankungen auftreten, bei 50° ©. ist aber der zeitliche Abfall ganz evident. Der Unterschied zwischen Atmungs- und Assımilations- kurve dürftedemnach hauptsächlich darin zu suchen sein, dass der Atmungsvorgang sich resistenter als die Assı- milation gegen den schädigenden Einfluss der Tem- peratur erweist. — Es liegen bis jetzt keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass auch schon bei 30° C. im Laufe einiger Stunden eine bemerkenswerte Schwächung der Atmung erfolge. Dennoch entspricht die Atmungsintensität bei 30° gegenüber 20° durch- aus nicht dem Faktor q,, der bei 0° oder bei 10° errechnet werden kann. Uberhaupt weicht die Atemkurve in sämtlichen Versuchen Olausen’s weit ab von der Gestalt, die man erhalten würde, wenn man sie nach van t’Hoff’s Angabe mit dem Quotienten q,, = 2,5 kon- struieren wollte. Tatsächlich sinkt der Wert q,, sehr stark: T 1 | | Nat || | | | Atmungsquotient g,, | 0° | 50.) 10° 150 | 200.1 25% | 30° | 35° | 40° k | Sih | 183 Pral au ]uahen sale: Lupinus luteus \ |. & 110.5 1.247 DELETE 3 1101 0,4 Zea Mays zeimende Samen.) || o’g| 24 20 LORLEN 1,2) 1,0| 09| 0.6 Syringa chinensis, Blüten . 2,6 2,4 “= =, 1,5 IB, ao. LE 108 234 Jost, Uber die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. Dieses allmähliche Sinken des Quotienten schon bei niederen Temperaturen ist zweifellos durch die Blackman’sche Hypothese nicht zu erklären, es ist entweder eine rein chemische primäre Erscheinung oder es ist durch unbekannte Einflüsse sekundär entstanden. Wir erinnern uns, dass van t’Hoff eine Abnahme von 4,, mit der Temperatur angibt und dass Kanitz die bei der CO,-Assımilation beobachtete Abnahme in dieser Weise erklären wollte. Somit wird uns die Blackman’sche theoretische Kurve (Fig. 3) von neuem Bedenken einflößen; wir werden vermuten, dass die theoretische Kurve für Atmung und für Assımilation nicht so steil verläuft. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass diese primäre Kurve durch den Einfluss der Temperatur weiterhin deprimiert wird. Wenn wir nun nach der Art dieses Temperatureinflusses fragen, so sind wir in Ermangelung aller Tatsachen auf Vermutungen und auf Analogieschlüsse angewiesen. Zunächst müssen wir konstatieren, dass ein solcher Temperatureinfluss nicht nur bei, Atmung und Assımilation sich bemerkbar macht. Schon oben wurde auf die allmählich sich summierende Schädigung hoher Temperaturen bei Mimosa aufmerksam gemacht. Wir können jetzt hinzufügen, dass auch bei Bakterien z. B. ähnliches beobachtet worden ist. So zeigte Eidam (1875), dass eine Temperatur von 45—47° C., wenn sie während '!/, bis 3 Stunden auf Bacterium Termo einwirkt, keine Schädigung hervorruft; wirkt sie aber länger als 4 Stunden ein, so war eine spätere Entwickelung bei optimaler Temperatur um so mehr gehemmt, je länger die Dauer der schädigenden Temperatur war. Betrug diese 12 oder mehr Stunden, so war die Entwickelungs- fähigkeit überhaupt vernichtet. Wenn wir uns nach analogen Einwirkungen anderer Faktoren auf die CO,-Assımilation umsehen, so werden wir zunächst an die Liehtwirkung denken. Es ist ja schon lange bekannt, dass intensives Sonnenlicht den Chlorophyllfarbstoff zerstört. Wir unterlassen aber die Diskussion der älteren Literatur und besprechen nur die neueste Arbeit auf diesem Gebiet von Pantanellı (1904). Sie ist gleichzeitig mit der Matthaei's erschienen und ergänzt sie in wesentlichen Punkten. Pantanellı arbeitete mit der bekannten Gasblasenmethode, die in außerordentlich kurzer Zeit schon Messungen der Assımilationsgröße erlaubt und deshalb bei einer etwaigen mit der Zeit vorschreitenden Änderung dieser Größe gute Dienste leisten muss. Einige mit Elodea ausgeführte Versuche sind in der folgenden graphischen Darstellung (Fig. 4) zusammengestellt. Die Abszisse gibt die beim Versuche verwendete Lichtintensität t/, bis 64/ Sonnenlicht an. In der Ordinate jeder untersuchten Intensität ist die Zahl der in der Zeiteinheit (Sekunde) ausgeschiedenen Gasblasen als Maß der: Intensität aufgetragen. Es ıst dann ferner die Ver- Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. 235 änderung dieser Intensität in der Zeit durch eine nach rechts laufende Kurve ausgedrückt, wobei die Entfernung von 8 Licht- einheiten willkürlich für die Zeit von 10 Minuten gewählt wurde. Im allgemeinen ist die Assimilationsgröße beim Beginn einer be- stimmten Lichtintensität und nach einer Einwirkung von 15 Mı- nuten eingezeichnet; nur bei J=!/,, 1 und 4 ist außerdem auch noch der Wert nach 52 Minuten mitgeteilt. Eine gestrichelte Kurve verbindet die Assimilationswerte, die nach 15° Einwirkung der betreffenden Intensität erhalten werden. Die Darstellung lehrt, ‘dass die Initialwerte der Assimilation von J=!/, bis zu J=4 stetig steigen; während aber bei J=!/, und J = 1 der anfängliche Wert auch nach 52’ erhalten ist, nimmt Fig. 4. - > = Ki REES NFETERZE ren rn ar Te RE Van // | ; ; ! ; i ‘ ' i ; 1 Se 1.4 9 16 2 36 +9 64 derselbe bei J — 4 kontinuierlich und zwar der Zeit direkt pro- portional ab. Ebenso finden wir bei allen höheren Lichtintensitäten im Laufe von jeweils 15‘ einen sehr starken Rückgang. Wir be- merken zugleich, dass auch die Initialwerte von J = 4 ab immer mehr sinken und man könnte deshalb geneigt sein, die Intensität 4 oder 1 als optimal anzusprechen; J— 4, wenn man als optimale Intensität die Helligkeit bezeichnet, bei der anfangs die maximale Leistung erfolgt, J = 1, dagegen, wenn man für die dauernde höchste Leistung die Bezeichnung Optimum passender findet. Dass bei genauerem Zusehen keine dieser Intensitäten als Optimum schlechthin bezeichnet werden darf. werden wir später sehen (S. 242). Einstweilen interessiert uns der Abfall der Assimilation bei starker Beleuchtung, den wir dem Abfall bei höherer Temperatur vielleicht 936 Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. an die Seite stellen dürfen, wenn er auch anscheinend nach anderen Gesetzen erfolgt als jener. Das letzte Wort über die Art des Ab- falles wird freilich erst dann ausgesprochen werden können, wenn auch der Einfluss der Temperatur auf die Assimilation mit der Gasblasenmethode an Elodea studiert sein wird. Was wissen wir nun aber über die Ursache der Assimilations- schwächung bei hoher Lichtintensität? Pantanelli hat den Vor- gang mit der Ermüdung des Muskels verglichen und er findet die Ähnlichkeit zwischen beiden Vorgängen ganz frappant, wenn er die Assimilation nicht kontinuierlich, sondern intermittierend er- folgen lässt. Die Erholung tritt um so rascher und ausgiebiger ein, je kürzere Zeit die Exposition dauerte und je schwächer das Licht war. Die Ursache der Ermüdung kann nicht in der An- häufung von Assimilationsprodukten liegen, dann bei einer größeren Zufuhr von CO, nimmt die Assimilation noch zu. Auch die im starken Licht tatsächlich erfolgende Chlorophylizerstörung kann nicht die Ursache der „Ermüdung“ sein. Da die Ermüdung außer- ordentlich rasch durch Ruhe aufgehoben wird, so müsste auch die Regeneration des Chlorophylis sehr schnell vonstatten gehen. Nach Pantanelliı fehlt indes der sehr verbreiteten Anschauung einer fortwährenden Zerstörung und Wiederbildung von Chlorophyll die experimentelle Grundlage durchaus. Da wo eine nachweisbare Chlorophylizerstörung eingetreten ist, da tritt niemals eine Neu- bildung ein, es erfolgt vielmehr früher oder später der Tod. So- mit bleibt nichts anderes übrig als die Ursache der Ermüdung im Protoplasma des Chloroplasten zu suchen. „Das Plasma der Chloro- plasten arbeitet, ermüdet und erholt sich; das Chlorophyll bleibt dabei in den meisten Fällen primär ganz indifferent“ — so lautet das Hauptresultat der Studien Pantanellr’s. Diese Anschauung ließe sich wenigstens zum Teil auch dann noch aufrecht erhalten, wenn gezeigt werden könnte, dass ein En- zym die Ursache der CO,-Assimilation ist. Dass dieser Nachweis früher oder später geliefert werden dürfte, daran zweifelt wohl kaum jemand. Wenn er geliefert ist, so ii man aber doch das Protoplasma nicht außer Bechune Taspn dürfen, da es die Wir- kung der Enzyme zu regulieren pflegt. Trotzdem wird es von Interesse sein zu untersuchen, ob in der Abhängigkeit der Enzym- tätigkeit von der Temperatur sich irgendwelche Analogien zu den Ermüdungserscheinungen der Chloroplasten darbieten. Wegen aller Details verweisen wir, auf Kapitel 10 im 2. Band von Duelaux’s Mikrobiologie und erwähnen hier nur' folgendes: Da es sich bei der Enzymwirkung um einen rein ‚chemischen Vorgang handelt, so sollte man glauben, seine Abhängigkeit von der Temperatur ließe sich ın einer Kurve darstellen etwa von ‚der Form OA in Fig: 5. Statt dessen tritt uns eine ausgesprochene Optimumkurve entgegen, Jost, Uber die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. 937 deren Gipfel freilich häufig bei höherer Temperatur liegt als bei der Kurve OMC. Nun ist bekannt, dass die Enzyme unter dem Einfluss der Temperatur zerstört werden, so dass ihre Wirksamkeit bei niederer Temperatur sehr langsam, bei mittlerer Temperatur schon nennenswert und bei hoher Temperatur ganz rapid abnimmt. Stellt die Ordinate OD die Wirksamkeit eines Enzyms bei 0° vor, so liefert die Kurve DB ein Bild der Abnahme der Enzymwirkung mit der Temperatur. Es ist leicht zu verstehen, wie sich die beiden Fig. 5. be) 70 20 30 40 50 60 70°C. Schema nach Duclaux. Kurven OA und. DB zur Optimumkurve OC zusammensetzen. Auch vom Licht ist bekannt, dass es schädlich und schließlich tödlich auf Enzyme ‚einwirkt. Man geht also kaum zu weit, wenn man sagt, die bei der CO,-Assimilation beobachteten Ermüdungszustände können sehr. wohl durch eine Zerstörung des hypothetischen En- zyms bewirkt sein; die Erholung dürfte dann von der Neubildung dieses Enzyms durch das Protoplasma herrühren..' Es ist nicht ohne Interesse, hier zu bemerken, dass die schädigende Wirkung 238 Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. äußerer Faktoren an den Enzymen sich ganz besonders dann geltend macht, wenn diese ıhre spezifische Tätigkeit nicht ausüben können (cfr. Duclaux 1899). Vielleicht können wir damit die bekannte Tatsache in Beziehung setzen, dass Laubblätter am Licht im kohlen- säurefreien Raum viel rascher zugrunde gehen als im dunklen Raum (Vöchting 1891, Jost 1895). Die Zerstörung des Chlorophylis erfolgt offenbar im Sonnenlicht dann ganz besonders rasch, wenn es nicht arbeiten kann. Das Absterben des Blattes ist wahrschein- lich erst eine Folge der Schädigung des Chlorophylis. Sehen wir uns nach anderen chemischen Vorgängen im Orga- nismus um! Im Anschlusse an die Atmung werden wir die Gärung zu betrachten haben. Trotz vieler und guter Untersuchungen liegt doch z. Zt. über die Abhängigkeit der alkoholischen Gärung von der Temperatur kein klares einwandsfreies Resultat vor. Von allen den Schwierigkeiten, die da zu überwinden sind, wollen wir hier nicht sprechen. Wir wollen nur einige der einschlägigen Versuche Chudiakow’s (1894) betrachten. Zunächst einen Versuch, in dem die Hefe in reinem Zucker:(10°/,) ohne Nährsalze bei Luftzuleitung gehalten wurde. Die folgende Tabelle gibt an, wieviel Milligramm CO, in zwei Versuchen bei verschiedenen Temperaturen gebildet wurde. 20° 25° 30° 35% 40° In?*l »Stunde.s. =. ne 2900 98 107 114 87 In?2-Stunden® 7.7. 0 2 # 46,5 57,5 79,5 56 41 Man sieht sofort, hier haben wir eine Optimumkurve vor uns. Während aber bei !/,stündiger Einwirkung jeder geprüften Tem- peratur ihr Gipfel auf 35° liegt, finden wir ihn bei jeweils 2stündiger Einwirkung auf 30°. Die Analogie mit den Resultaten Matthaei’s bei der CO,-Assimilation springt in die Augen, und man wird ver- muten dürfen, dass auch hier die primäre Kurve keine Optimum- kurve sei. Dass die mit der Zeit fortschreitenden Hemmungen gerade in einem Absterben der Hefe unter diesen speziellen Kultur- bedingungen bestehen, wie Chudiakow glaubt, ist von diesem Forscher nicht bewiesen worden und ist nach anderweitigen Er- _ fahrungen nicht recht wahrschemlich. Begnügen wir uns also mit der Tatsache der Hemmung und betrachten wir noch eine andere Versuchsreihe Chudiakow’s, in der die Hefe außer Zucker auch weinsaures Ammonium und Aschenbestandteile erhielt (Vers. 22 u..:23,.1..€...526). Abgegebene CO, in Milligramm. Stunde 25 35° 40° 1 17,4 26,5 31,4 2 18,2 25,4 19,5 3 20,5 21,2 14,2 4 162 17:3 82 Jost, Uber die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. 239 Stunde 25° 35° 40° 5 14,2 13,2 4,3 8 14,5 9,5 2% 10 12,5 6,2 — 13 82 5,2 = 29 3 —- —. Da sehen wir die rapide Abnahme der Gärung bei 40°, eine weniger rasche bei 35° und eine langsamere bei 25°. Die Folge ıst, dass das Maximum der Leistung in der ersten Stunde bei 40°, in der zweiten bei 35° und in der fünften bei 25° liegt. Der Abfall erfolgt aber (namentlich bei 25°) nicht so regelmäßig, dass man versuchen könnte, so wie das Blackman bei der Assımilation getan hat, daraus die primäre Kurve zu konstruieren. Für die Gärung sind wir dank den Untersuchungen Buchner's über das wirksame Enzym besser orientiert als bei der Atmung und Assımilation. Es ıst darum von Interesse, zu sehen, wıe die im Reagenzglas stattfindende Gärung durch Zymase von der Tem- peratur abhängt. Leider können wir aber die betreffenden Ver- suche (Buchner, 1903, S. 148) nicht verwenden, weil sie nicht mit reiner Zymase angestellt sind, sondern mit einem Gemisch von Enzymen, darunter auch solchen, die die Zymase selbst angreifen. So hat denn auch Buchner selbst die rasch auftretende Schwächung der Zymase schon bei mittleren Temperaturen auf die Wirkung eines im Preßsaft enthaltenen tryptischen Enzyms zurückgeführt. Neben Assımilation der Kohlensäure, Atmung und Gärung gibt es eine Fülle von chemischen Vorgängen, die unter dem von Black- man eingeführten Gesichtspunkt betrachtet werden können, wenn einmal die nötigen Untersuchungen ausgeführt sein werden. Für die drei genannten Prozesse aber können wir schon jetzt, trotz der Lückenhaftigkeit des Tatsachenmaterials, sagen, dass sie Vorgänge sind, die primär ohne Optimum verlaufen. Das zur Beobachtung kommende Optimum ıst die Wirkung sekundärer Einflüsse und dementsprechend hat es keine ein für allemal feststehende Lage. Von anderen Lebenserscheinungen in der Pflanze, für die ein Temperaturoptimum angegeben wird, wollen wir jetzt noch die Protoplasmabewegung und das Wachstum kurz ins Auge fassen. Dass an der Protoplasmabewegung chemische Vorgänge beteiligt sind, daran ist nicht zu zweifeln. Da sie aber ganz gewiss nicht allein maßgebend sind, so ist die Anwendung der Blackman’schen Betrachtungsweise von vornherein problematisch. Aus der Dar- stellung von Ewart (1903) kann man ersehen, dass die Lage der Kardinalpunkte der Plasmaströmung bei einer bestimmten Spezies vom Alter, vom Außenmedium, von der Dauer der Exposition und von der Geschwindigkeit der Temperaturänderung abhängt. Dem- nach ist es ganz selbstverständlich, dass die Optimumkurve die von Schäfer (1898) z. B. nach den Beobachtungen Velten’s entworfen 940 Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. worden ist, keinen Anspruch darauf machen kann, eine primäre Kurve zu sein. Da eine ausführliche Besprechung aller in Betracht kommenden Umstände viel zu weitläufig wäre, so wollen wir hier nur eine Tatsache anführen, die im Zusammenhang mit dem bisher Besprochenen von Interesse ist. Ewart (1903, S. 62) hat einige Angaben für XNitella translucens gemacht, aus denen sich folgende Geschwindigkeiten (in « pro Sekunden) berechnen lassen: | 25° | 30 | 400 | 450 Dauer der Einwirkung. . . 246° | .45120°7 15507 20739 09.1446. ZI TAR Geschwindigkeit . . . . » 57 80 773] 1022774 65.5154 HOT 34727 Man kann aus diesen Angaben nur entnehmen, dass der Ein- fluss der Temperatur und zwar schon einer niedrigen Temperatur von 30° in kurzer Zeit eine Abnahme der Strömungsgeschwindig- keit veranlasst, die bei höherer Temperatur stärker und rascher hervortritt; welcher Art diese Hemmung ist, kann man nicht sagen, insbesondere wissen wir nicht, ob sie der bei Assimilation, At- mung etc. beobachteten verwandt ist. Wenn wir zum Schluss nochmals auf das Wachstum zurück- kommen, mit dessen Abhängigkeit von der Temperatur wir unsere Erörterungen begonnen haben, so begeben wir uns auf ein Gebiet so komplizierten Geschehens, dass es vielleicht nur Zufall ist, wenn da und dort die Gültigkeit der van t’Hoffsschen Regel nach- gewiesen werden kann. Die Bildung von Zellulose, die ja für das Wachstum notwendig ıst, ist freilich ein Prozess, der sehr wohl nach der van t’Hoff’schen Regel vor sich gehen könnte. Dagegen hängt die Regulierung der Anlagerung der entstandenen Zellu- lose, ihre Verwendung zu Flächen- oder zu Dickenwachstum, durchaus von unerforschter Protoplasmatätigkeit ab, von der wir nicht sagen können, ob und welchen chemischen Gesetzen sie folgt. Eine große Anzahl von Beispielen für die Lage der Kardinal- punkte der Temperatur bei dem Wachstum der Pflanzen hat Pfeffer (1904, S.87) aus der Literatur zusammengestellt. Auffallend ıst da die ın manchen Fällen niedrige Lage des Optimums. So soll es für Acer platanoides bei 24° C., für Mucor racemosus bei 20 —25°, für Hydrurus bei 10° und für Baeillus eyaneo-fuscus bei 10° liegen. Sieht man sich die Angaben der betreffenden Autoren näher an, so zeigt sich, dass sie ın der Regel als Optimum die Temperatur bezeichnet haben, bei der im Laufe von vielen Tagen und Wochen das beste Gedeihen erfolgte. Wachstumsmessungen in kurzen aufeinanderfolgenden Fristen sind bei höheren Temperaturen an- scheinend überhaupt nicht ausgeführt worden. Die Messungen Askenasy’s (1890) sind bei höchstens 28—29° Ü. angestellt; sie Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. 41 zeigen, dass die Maiswurzel bei dieser Temperatur ım Laufe von mehreren Stunden ım Wachstum nicht nachlässt. Sie könnte es aber bei längerer Dauer dieser Temperatur tun, und andere Ob- jekte könnten noch empfindlicher sein. Hierüber muss nun aber einstweilen jede Diskussion ruhen, bis die nötigen Untersuchungen vorliegen. Soviel kann man indes schon heute sagen: es wäre ein Irrtum zu glauben, das Wachstumsoptimum seı ein unabänderlicher Fixpunkt. Sehr lehrreich sind z. B. die Versuche Thiele’s (1896), der zeigen konnte, dass Penicillium bei Kultur auf Glykose und Glyzerin sein Optimum bei 25° ©., dagegen auf Ameisensäure bei 27°C. hat. Da dieser Autor nicht etwa die Wachstumsgeschwindig- keit gemessen, sondern die Zeit nach Tagen bestimmt hat, die zur Vollendung eines gewissen Entwickelungszustandes nötig war, so wären für unsere Zwecke präzisere Versuche auf diesem Gebiete durchaus nötig. Es ıst kaum daran zu zweifeln, dass Art, Menge und Konzentration der Nährstoffe die Fig. 6. Lage der Kardinal- punkte allgemein beeinflussen dürfte. Dass das Maß des Wachstums nicht nur vonder Tem- peratur abhängt, ist ja allgemein be- kannt. Auch die anderen, früher be- trachteten Prozesse, 1 e 3 ja überhaupt alle | Vorgänge im Organismus hängen von zahlreichen inneren und äußeren Faktoren ab. Man hat nun, wie Blackman auseinandersetzt, vielfach geglaubt, man könne den Einfluss eines einzelnen Faktors studieren, wenn man diesen allein variieren lässt, alle anderen Faktoren dagegen konstant erhält. So hat Reinke (1883) gezeigt, dass die Assi- milation von Elodea zunächst mit der Lichtintensität steigt, um dann, nach. Erreichung eines bestimmten Wertes, bei fernerer Steigerung der Intensität konstant zu bleiben. Als Kurve dargestellt würde dieses Resultat so aussehen (Fig. 6): Den unerwarteten Verlauf dieser Kurve hat schon Pfeffer (1897, 1, 324) dahin interpretiert, dass möglicherweise „die begrenzte Zufuhr der Kohlensäure den Chloroplasten nicht gestatte, eine höhere Zersetzungstätigkeit zu entfalten“, und Pantanelli hat neuerdings die Richtigkeit dieser Vermutung Pfeffer’s exakt nach- gewiesen. Nach seinen Versuchen liegt das Optimum der Licht- intensität für Elodea bei einem ÜO,-Gehalt des Wassers von 10°), XXVl. 16 349 ‚Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. bei '/, des Sonnenlichtes, bei 20°, CO, ist dagegen eine 16mal so große Lichtintensität optimal (vgl. S. 235). Der eine Faktor, der CO,-Gehalt, hat also die Wirkung des anderen Faktors Licht- intensität eingeschränkt, und deshalb spricht Blackman von „lumiting factors“, die meist, ohne dem Experimentator zu Bewusst- sein zu kommen seine Resultate in sehr wesentlicher Weise beein- flussen. Als weitere Beispiele für solche „einschränkende Fak- toren“ seien noch die folgenden Fälle angeführt. Kreusler sah bei seinen Versuchen mit Rubus eine Zunahme der Assimilation mit der Temperatur eintreten, bis bei 15° ein Optimum erreicht wurde, das sich dann bis 30° oder darüber annähernd konstant er- hielt. Die Kurve hat also in ihrem Verlauf viel mehr Ähnlichkeit mit Fig. 6 als mit der in Fig. 2 reproduzierten Assımilationskurve; der Grund liegt nach Matthaeı einzig und allein darin, dass die von Kreusler verwendete Lichtintensität als beschränkender Faktor auftrat und die bei den Temperaturen über 15° mögliche CO,- Assımilation nicht ın ganzer Größe auftreten ließ. Ein Beispiel aus dem Gebiete des Wachstums liefern Unter- suchungen über Bambusa, die in Ceylon von Lock (1904) und in Japan von Shibata (1900) ausgeführt worden sind. Lock findet, dass in Öeylon das Wachstum direkt proportional der Luftfeuchtig- keit ist, während Shibata es in Japan der Temperatur proportional setzt. Die Differenz der Resultate erklärt Blackman in sehr ein- leuchtender Weise dadurch, dass er auf die Verschiedenheiten des Klimas der beiden Länder verweist. In Ceylon war zurzeit der Untersuchung eine dem Wachstum außerordentlich günstige. Tem- peratur gegeben, und wenn dennoch die Zuwachse nicht immer die maximale Höhe erreichten, so lag das an dem beschränkenden Einfluss einer ungenügenden Wasserzufuhr; umgekehrt war in Japan Wasser stets im Überfluss vorhanden und die Temperatur spielte die Rolle des beschränkenden Faktors. So wie in diesem Falle für jede Temperatur eine ganz be- stimmte Menge von Wasser nötig ist, um das bei dieser Temperatur mögliche Wachstumsmaximum zu realisieren, so ist auch bei der Assımilation für jede Lichtintensität eine bestimmte CO,-Menge notwendig. Will man also von einem Optimum an Wasser oder Kohlensäure überhaupt sprechen, so muss man sagen, dass dieses Optimum mit dem Ausmaß der anderen Faktoren varılert. Genau die gleiche Betrachtung können wir aber bei jedem einzelnen Faktor bei allem physiologischen Geschehen anstellen — ein Optimum für einen bestimmten Faktor kann also überhaupt nur dann kon- statiert werden, wenn alle übrigen Faktoren in genügender In- tensität wırksam sind und auch dann noch ist die Lage des Opti- mums keine ein für allemale bestimmte, sondern eine mit der Zeit varııerende. Jost, Über die Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus. 243 Die Betrachtungen, die in den vorstehenden Zeilen mitgeteilt wurden, suchen zunächst zu zeigen, dass die chemischen Prozesse in der Pflanze in derselben Weise von der Temperatur abhängen wie die Reaktionen, die wir außerhalb des Organismus im Labora- torıum studieren. Die Geschwindigkeit nimmt also so zu, dass sie sich bei einem Temperaturintervall von 10° C. verdoppelt bis ver- dreifacht. Die Temperatur hat aber außerdem noch einen anderen Einfluss Auf den Organismus. Sie schädigt oder sie ermüdet ihn, und je höher sie steigt, desto rascher macht sich die Schädigung geltend und desto schneller schreitet sie voran. Die Wirkung dieser beiden Erfolge der Temperatur findet dann ihren Ausdruck in einer Optimumkurve, die also durchaus nicht die primäre Ab- hängigkeit des Prozesses von der Temperatur ausdrückt und die ihre Gestalt auch mit der Zeit ändert, ihren Gipfel nach niederen Temperaturen zu verschiebt. Da wir nachweisen können, dass auch bei der Liehtwirkung ganz die gleichen Erscheinungen auftreten, so werden wir vermuten dürfen, dass alle Optimumkurven in der- selben Weise zu erklären sein dürften. Diese Vermutung aber hat zum mindesten dadurch Wert, dass sie eine Fülle von Unter- suchungen anregen kann. Unter diesen Umständen empfiehlt es sich vielleicht für die Physiologie —- von der Ökologie sehen wir hier ganz ab —, den Begriff des Optimums überhaupt aufzugeben und dem Vorschlage Pantanelli’s entsprechend diejenige Intensität des äußeren Faktors, bei der dauernd die größten Werte des physiologischen Prozesses erzielt werden, als „Maximum“, das jetzige Maximum als Ultra- maximum zu bezeichnen. Vielleicht werden aber auch noch an- dere, bessere Vorschläge gemacht. Gut wäre es jedenfalls, mit defi- nitiven Reformvorschlägen zu warten, bis auch am unteren Ende der physiologischen Kurve die Abweichungen von der chemischen Kurve ursächlich ergründet sind. Vor allem wird erst festzustellen sein, ob auch hier der primäre Wert der Assimilation im Laufe der Zeit deprimiert wird und ob es vielleicht etwas oberhalb von 0° einen Punkt gibt, bei dem der theoretische Wert dauernd reali- siert ist. Literatur. Abegg (1905). Zeitschrift für Elektrochemie. Nr. 33. Askenasy (1890). Berichte d. botan. Gesellsch. 8, 61. Blackman (1905). Annals of Botany 19, 281. Buchner, E. und H. und M. Hahn (1903). Die Zymasegärung. München. De Candolle, A. P. (1832). Physiologie vegetale. Paris. 2, 634. Chudiakow (1894). Landw. Jahrb. 23, 391. Clausen, H. (1890). Ibid. 19, 893. Duclaux (1899). Trait& de microbiologie. Paris. 2. Eidam (1875). Cohn’s Beitr. z. Biologie I, 3, 208. 16° 244 Kranichfeld, Die Erhaltung und die Kontinuität günstiger Varianten. De Errera (1878). Bull. Soc. bot. Belg. 17, 246. — (1896). L’optimum (Extr. d. 1. Revue de l’universit& de Bruxelles 1). E wart (1903). On the physies and physiology of protoplasmie streaming in plants. Oxtord. Höber (1902). Physikalische Chemie der Zelle. Leipzig. van t’Hoff (1901). Vorlesungen über theoretische und physikalische Chemie. 2. Aufl. Braunschweig 1. Jost (1895). Jahrb. f. wiss. Botanik 27, 403. Kanitz, A. (1905). Zeitschr. f. Elektrochemie Nr. 42. Kreusler, U. (1855—1890). Landw. Jahrb. 14—19. Lock (1904). Zitiert nach Blackman (1905). Matthaei (1904). Phil. Transactions of the Royal Society of London. B, 197,47. Pantanelli (1904). Jahrb. wiss. Botanik 39, 167. Pfeffer (1597—1904). Pflanzenphysiologie. Leipzig. Reinke (1883). Botan. Zeitung 41, 697. Sachs (1860). Jahrb. wiss. Bot. 2 (Ges. Abh. 1, 49). — (1863). Flora (Ges, Abh. 1, 85). _— (1565). Handbuch der Experimentalphysiologie der Pflanzen. Leipzig. — (1874). Lehrbuch der Botanik. 4. Aufl. Leipzig. = (1882). Vorlesungen über Pflanzenphysiologie. Leipzig. Schäfer (1898). Flora 85. 135. Shibata (1900). Zitiert nach Blackman (1905). Thiele (1896). Die Temperaturgrenzen der Schimmelpilze. Dissert. Leipzig. Voechting (1891). Botan. Zeitung 49, 113. Ziegenbein (1893). Jahrb. wiss. Bot. 25, 563. Die Erhaltung und die Kontinuität günstiger Varianten. Eine Replik auf die Entgegnung von R. Kossmann. Von Hermann Kranichfeld. In meinem Aufsatz in Nr. 25 des Jahrgangs 1905 hatte ich nachgewiesen, dass auch ein Organisationsvorteil von der Größe, wie ihn komplizierte adaptive Einrichtungen bieten, einer einzeln auftretenden Variante die durchschnittliche Erhaltung gegenüber den Nichtvarianten nicht sichern kann, da er die Variante immer nur in bestimmten Gefahren schützt, die Nichtvarianten aber in den anderen Gefahrenkomplexen durch ihre Überzahl den Varianten überlegen sind. R. Kossmann scheint ın seiner Entgegnung ın Nr.1 d. Blattes anzunehmen, dass in der Auffassung Darwin’s, nach welcher die Erhaltung komplizierter Mutationen schon deswegen nicht wahr- scheinlich ist, weil sie in der Regel den Charakter von Monstrosi- täten zeigen und erhebliche Mängel in der Harmonie der Organi- sation besitzen, zugleich eine Widerlegung meiner Schlussfolgerung liege. Das ıst natürlich nicht der Fall. Kossmann übersieht, Kranichfeld, Die Erhaltung und die Kontinuität günstiger Varianten. 945 dass der Austrag der Frage, ob wirklich komplizierte Mutationen vorkommen oder nicht vorkommen, ob sıe ın ersterem Falle er- haltungsmäßig sind oder schon an ihrer Organisation zugrunde gehen müssen, in keinem Falle gegen meine Argumentation geltend gemacht werden kann. Könnten so große Organisationsvorteile, wie sie die komplizierten adaptiven Einrichtungen gewähren, bei Vari- anten nicht angenommen werden, so würde die Wahrscheinlichkeit der Erhaltung der einzelnen Variante gegenüber den an Zahl über- legenen Nichtvarianten nur noch kleiner werden. Noch ein zweiter Einwand Kossmann’s bezieht sich auf das von mir gewählte Beispiel. Wenn von 2000000 Eiern eines Stör- satzes 5°/, einer Gefahr erliegen, während die eine Mutante in- folge ihres Organisationsvorteils ın ihr erhalten bleibt, „dann sind doch wohl* — meint Kossmann — „höchstwahrschein- lich die übrigen 95°/, des Satzes ebenfalls gegen diese Gefahr geschützt gewesen“. Höchstwahrscheinlich ist diese Annahme jedenfalls nicht, denn es wird ‚mit ihr ein vollständiges Nonsens konstruiert. Die betreffenden 95°/, der Nachkommen sind nach meiner — wie mir scheint — selbstverständlichen Voraussetzung nicht gegen die Gefahr geschützt, sondern ihr nicht preis- gegeben gewesen. Mit diesen beiden Bemerkungen ist, soweit ich sehen kann, die Einzelkritik Kossmann’s erschöpft. Sie beruhen auf leicht erkennbaren Missverständnissen. Was bei ıhm nun folgt, ıst eine eingehendere Darstellung des Selektionsprozesses, wie er sich nach Wallace und Weismann vollzieht. Diese Darstellung selbst, die in korrekter Weise bekannte Vorstellungen wiederholt, kann kaum zu einer Gegenkritik Veranlassung geben — höchstens könnte man finden, dass sie trotz der Anmerkung das Quetelet’sche Varıations- gesetz zu wenig berücksichtigt. Doch täuscht sich Kossmann, wenn er meint, dass mit ıhr allein schon die von mir gegen die Selektionstheorie geltend gemachten Bedenken niedergeschlagen werden. Der Gedankengang Kossmann’s ist offenbar folgender: Die einzig berechtigte Selektionstheorie ist die Weismann's. Meine Bedenken können sich daher nach ihm vernünftigerweise auch nur gegen diese Theorie richten und müssen in sich zusammen- fallen, wenn sie ihren Voraussetzungen nicht Rechnung tragen. Die Schlussfolgerung hat zwei Fehler. Sie beruht erstens auf einer logisch unzulässigen Quaternio terminorum. Ich habe tatsächlich, wie ohne weiteres ersichtlich ist, zunächst nicht die Selektions- theorie Weismann’s im Auge gehabt. Zweitens bleiben meine Bedenken — allerdings in einer etwas anderen Formulierung — auch für die Weismann’sche Selektion bestehen. Die Unwahrscheinlichkeit der Erhaltung und der Kontinuität von Abänderungen springt am meisten bei Mutanten in die Augen, 246 Kranichfeld, Die Erhaltung und die Kontinuität günstiger Varianten. jenen „zufälligen, nur von Zeit zu Zeit auftretenden, sprungweise sich ändernden Formen“, in welchen die Vertreter der Mutations- lehre das Material für die Selektion erblicken. Darum richteten sich meine Ausführungen ın erster Linie gegen diese, und nicht gegen Weismann. nn Kossmann, wie aus seinen Worten Be orgeht, glaubt, eine solche Ser bei mir nicht voraus- setzen zu konnen, da es sich bei jenen Forschern doch nur um eine zu vernachlässigende „kleine Gruppe von Pseudodarwi- nisten“ handele, die zu widerlegen kaum der Mühe wert sei, so hat er sich dabei wohl nicht nur über meine Absicht ge- täuscht. Die betreffende Richtung des Darwinismus, die übrigens den Anspruch erhebt, echte Darwın'sche Gedanken zu ver- folgen (Hugo de Vries, Mutationslehre I, S. 27ff.), tritt, wie mir scheint, ee ın letzter Zeit stark in den Vordergrund. Als ihr Hauptrepräsentant kann H. de Vries bezeichnet werden. Es gehört zu ihr aber noch eine große Anzahl gleich hervorragender und von de Vries unabhängiger Forscher, wie Cope, Dollo, Bateson, Scott, Koken, Korschinsky — um nur einige Namen zu nennen. Etwas anders sind die Voraussetzungen für die Erhaltung in der kritischen Periode, wenn wir mit Weismann die individuellen Variationen für die Artbildung in Betracht ziehen. Es lässt sich aber zeigen, dass die Hauptthese, dass die Varianten wegen ihrer Minderzahl den Nichtvarianten in der einzelnen Generation durch- schnittlich unterliegen müssen, auch für sie ın Geltung bleibt. In dem Kossmann’schen Beispiel gehen von einem Satz von 2000000 Eiern infolge Austrocknens 400000 zugrunde, und zwar sollen es, seiner Voraussetzung entsprechend, die gegen diese Gefahr am wenigsten geschützten Eier sein. Es müssen dann wegen des symmetrischen Baues, welchen die Kurven für die individuellen Variationen zu haben pflegen, von den erhalten gebliebenen 1600000 Eiern 600000 ebensoweit unter dem Mittelwert der betreffenden Eigenschaft, wie andere 600000 über diesem Mittelwert liegen. Diese 1200000 Eier entsprechen daher in ihrem Durchschnitt genau dem Mittelwert selbst. Wir können sie als die „Nichtvarianten“ ansehen. Die noch übrig bleibende Gruppe von 400000 Eiern, für welche nach Vernichtung der 400000 ungünstigsten Varianten die korrespondierenden Minusyarianten fehlen, vermag allein den Mittel- wert zu verschieben. Sie umfasst daher die eigentlichen „Varianten“ Es verhält sich demnach die Anzahl dieser „Varianten“ zu der der „Nichtvarianten“ auch in dem Kossmann’schen Beispiel, bei dem die Vernichtung in dem einen Gefahrenkomplex enorm hoch ange- nommen ist, wie 1:3. D. h.: Wenn in emer Generation zufällig zwei günstige „Varianten“ zur Fortpflanzung gekommen sind, so müssen sich durchschnittlich in den drei folgenden Generationen Kranichfeld, Die Erhaltung und die Kontinuität günstiger Varianten. 247 „Nichtvarianten“ behaupten. Die Galton’sche Regression wird so bei der Weismann’schen Selektion immer Gelegenheit haben, ein- zugreifen und den etwa erreichten Fortschritt auf ein Minimum zu reduzieren. Dass unter besonderen Verhältnissen, wie Koss- mann noch hervorhebt, in einem Gefahrenkomplex einmal die große Mehrzahl der Nachkommen vernichtet werden kann, ändert an dieser Erwägung nichts. Es blieben dann allerdings „sicher nur Individuen von über durchschnittlicher Widerstandsfähigkeiterhalten“, aber ebenso sicher wird keins von ihnen zur Fortpflanzung kommen. Denn wir müssen annehmen, dass die durchschnittliche Zahl der Nachkommen einer Spezies eben gerade genügt, um ihr trotz der ihr drohenden Gefahren den Bestand zu sichern. Wird ein Satz in einem Gefahrenkomplex stärker als gewöhnlich reduziert, so sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum von ıhm ge- schlechtsreif wird, unter 1. So gering nun auch auf diese Weise bei der Weismann’schen Selektion im einzelnen Falle der Zuwachs wird, so wäre doch, wenn man nur die Erhaltung der Variationen in Betracht zieht, bei ihr immerhin eine Artbildung möglich. Die individuellen Variationen unterscheiden sich ja von den Mutationen dadurch, dass sie Jahr- tausende und Jahrmillionen hindurch in jeder Generation in der- selben Weise auftreten. Es könnten sich daher da, wo sie im Spiel sind, die minimalsten Variationsinkremente doch allmählich zu einem merklichen Betrag summieren; es fragt sich nur auch bei ihnen, ob eine Akkumulierung der betreffenden Variations- inkremente möglich ist. Kossmann ist auf diese Frage nicht eingegangen. Sie muss aber, wenn die Weismann’sche Se- lektion einmal in die Diskussion gezogen wird, wenigstens in Kürze besprochen werden. Der von mir geführte Nachweis, dass man bei den Variationen bezw. Mutationen eine Akkumulierung nicht annehmen könne, ging von der Voraussetzung aus, dass die- selben rein zufällige Erscheinungen sind. Man kann gegen ihn ein- wenden, dass bei den individuellen Variationen, soweit sie von dem Quetelet’schen Variationsgesetz beherrscht werden, diese Voraus- setzung nicht zutrifft. Ihr Auftreten ist kein rein zufälliges. Wenn im einzelnen Falle für eine Eigenschaft durch Versuch der Mittel- wert und die Amplitude der Variation bestimmt ist, lässt sich die Größe und Anzahl der weiteren Variationen nach dem binomischen Lehrsatz berechnen. Diese Gesetzmäßigkeit steht unzweifelhaft fest; sie konnte jedoch bei meinen Schlüssen unberücksichtigt bleiben, da die individuellen Variationen, soweit sie dem Quetelet/- schen Variationsgesetz folgen, für eine Akkumulierung überhaupt nicht in Betracht kommen. Sie beruhen nicht auf einer Verände- rung der inneren Struktur des Keimplasmas und bilden darum gar nicht Variationsinkremente im Sinne Weismann’s. Nach den 948 Kranichfeld, Die Erhaltung und die Kontinuität günstiger Varianten. experimentellen Untersuchungen von H. de Vries sind sie in der Hauptsache nichts als Ernährungsmodifikationen, wenn man Er- nährung im weitesten Sinne fasst und darunter alle äußeren Ein- flüsse, wie Belichtung, Wärme, Feuchtigkeit, Nahrungszufuhr u. s. w. versteht, die auf die Entwickelung der Keimpflänzchen wie die der Mutterpflanzen, auf welchen der Keim entsteht, einwirken. Dabei sind die verschiedenen Entwickelungsmöglichkeiten im Keimplasma schon gegeben. Es wird nur je nach den äußeren Umständen, unter denen sich die Entwickelung vollzieht, die eine oder die an- dere von ihnen ausgelöst. Die individuellen Variationen gleichen so als einfache Reaktionen der Keimplasmastruktur auf die äußeren Einwirkungen den Klängen eines Klaviers, dessen Tasten ange- schlagen werden. Sie sind Äußerungen schon vorhandener Eigen- schaften der Spezies und können darum ebensowenig zu Eigen- schaften werden, wie aus den Klängen eines Instrumentes ein In- strument entsteht. Mit dieser Auffassung stimmt die Erfahrung überein, welche die mathematische Variationsstatistik bei ıhren exakt ausgeführten Versuchen einer künstlichen Zuchtwahl gemacht hat. Es ist das vor allem von de Vries hervorgehoben worden. Doch müssen wir bei alledem, besonders wenn wir nicht nur die Entwickelung der Pflanzen, sondern auch die der Tiere ins Auge fassen, annehmen, dass die bei jedem Satz von Jungen oder Säm- lingen auftretenden Verschiedenheiten in der äußeren Form nicht nur in Ernährungsmodifikationen bestehen, sondern wenigstens zum Teil auch auf kleine Verschiedenheiten der inneren Keim- struktur beruhen. In letzteren haben wir dann die Weismann- schen Variationsinkremente, welche an sich eine neue Art bilden könnten. Indem diese uns aber als etwas ganz Akzidentielles er- scheinen, d. h. als etwas, das zufällig bald an dem einen, bald an dem anderen Individuum auftreten kann, erhebt sich gegen ihre Akkumulierung derselbe Widerspruch, welchen wir bei den zufälligen Mutationen aus der Forderung der Kontinuität derselben abgeleitet hatten. Auch für die Akkumulierung einer größeren Anzahl solcher Variationen wird der Wahrscheinlichkeitsgrad annähernd gleich Null. Aus diesen Schwierigkeiten könnte man vielleicht durch eine Hypothese herauskommen, welche den auf einer Veränderung der inneren Struktur beruhenden Variationen den Charakter des Akziı- dentiellen nimmt. Das ist für die Mutationen durch die Prämu- tationslehre von de Vries geschehen. Bei ihr ist aber die Selektion Darwin’s etwas ganz anderes geworden. Sie trägt nicht mehr die Bausteine zur neuen Art zusammen, sondern greift erst ein, wenn die Elementarart bereits fertig ist. Eine Erklärung der adaptıven Bildungen kann sie jedenfalls — darin hat Weismann sicher Recht — nicht leisten. Auf die Frage, ob sich für die Selektion [4 Heinz, Handbuch der experimentellen Pathologie und Pharmakologie. 249 im Sinne Darwin’s noch ein Ausweg in der Germinalselektion von Weismann eröffnet, kann hier nicht eingegangen werden'). R. Heinz. Handbuch der experimentellen Pathologie und Pharmakologie. I. Bd., 2. Hälfte, S. 481--1102. Gustav Fischer. Jena 1905. Die vorliegende zweite Hälfte vom ersten Band des Heinz'- schen Handbuches, über deren erste Abteilung im vergangenen Jahr referiert wurde, enthält die Kapitel „Muskelsystem* und „Herz“; die Darstellung der experimentellen Studien am Herzen umfasst allein über 400 Seiten. Damit ist schon gesagt, von welcher Reichhaltigkeit das dargebotene Werk ist. In der Tat ist hier in be- wundernswerter Weise ein gewaltiger und anerkannt spröder Stoff zu einem handlichen und sicherlich unentbehrlichen Instrument biologischer Forschung verarbeitet worden. Die schon im ersten Teil verwendete Gliederung je in einen allgemeinen Teil, in dem die normale und pathologische Anatomie und Physiologie des be- treffenden Organsystems abgehandelt wird, in einen methodologischen Teil, der durch reichliche und klare Abbildungen illustriert wird, und in einen speziellen Teil, welcher die Einflüsse der einzelnen Droguen schildert, macht, soweit der Ref. bis jetzt urteilen kann, das Zurechtfinden in dem ungeheuren Gebiet recht bequem. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden; man kann das Werk nur aufs Wärmste empfehlen und wünschen, dass dem Autor die Bewältigung seiner großen Aufgabe weiter so gelingt. R. Höber (Zürich). O. Zacharias, Das Plankton als Gegenstand eines zeitgemäfsen biologischen Schulunterrichts. So lautet der Titel eines größeren Aufsatzes, mit dem der un- ermüdliche Kämpe für die Süßwasserbiologie das dritte Heft des von ihm herausgegebenen „Archivs für Hydrobiologie und Plankton- kunde“ (Stuttgart, Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung 1906) eröffnet. Das Thema erscheint heute, da die Biologie aufs neue und hoffentlich erfolgreich Anstrengungen macht, sich im Lehrplan 1) Als Ergänzung zu Bd. XXV, S. 664 Anmerkung möchte ich noch hinzu- fügen, dass die dort gegebene Formel vollständig 21 Be lautet. Wenn n jedoch, wie gewöhnlich, ein vielfaches von e ist, wird der Ausdruck > Ve positiv u. < I u, kann darum vernachlässigt werden. 950 Zacharias, Das Plankton als Gegenstand eines zeitgem. biol. Schulunterrichts. unserer Gymnasien und Realschulen die ihr gebührende Stellung zu erkämpfen, wichtig genug, dass dem Aufsatz an dieser Stelle eine etwas einlässlichere Besprechung gewidmet werde. Zacharias geht aus von den Erfahrungen, die er selbst mit den Primanern in Plön gemacht hat, denen er eine Reihe von Vorträgen mit Demonstrationen über Plankton halten konnte, welche bei den angehenden Studenten großes Interesse fanden. Und er versucht nun, weitere Kreise für die Einführung des Planktons als Lehrgegenstand zu interessieren. Dazu wendet er sich an sämt- liche Lehrer der Naturgeschichte auf den verschiedenen Schulstufen und zeigt, wie vielseitige Anregung den Schülern dadurch geboten werden kann. Er denkt sich den Lehrer hinausziehend mit seiner Schülerschar zum nahen See oder Teich; dort werden mit dem Planktonnetz einige Züge gemacht, und dann womöglich schon an Ort und Stelle gezeigt, welches mannigfaltige Leben in dem schein- bar toten Wasser herrscht. Unter dem Mikroskop werden später die Fänge etwas näher untersucht; da lernen die Schüler dies bunte Getriebe der kleinen Tier- und Pflanzenwelt kennen, im engen Raum beisammen, in intimster Abhängigkeit voneinander: Da sehen sie kleine, blaugelb- liche oder bei auffallendem Lichte ganz weiß aussehende Wesen, die mittelst beweglicher Cilien umherrudern. Das sind die Infu- sorien im engeren Sinne. Zwischen ihnen bewegen sich die „Geiseltierchen“. Manche von diesen besitzen rote Augenpunkte und eine hellgrüne Färbung; noch andere sind von einer Panzer- hülle umgeben und von gelblich-brauner Färbung. Es sind die Vertreter der artenreichen Gattungen Peridinium und Ceratium. Oft ist aber das ganze Plankton eines Gewässers von zahllosen grünen Flocken (Clathrocystis) oder winzigen Fadenknäueln (Ana- baena) durchsetzt u. s. w.“ Wer Plankton aus eigener Anschauung kennt, kann sich leicht die Schilderung selbst erweitern; und wer nicht in dem Falle ist, mag sich ein Planktonnetz anschaffen und nach Zacharias’ Anleitung selbst auf den Fang gehen. Der Referent weiß aus eigener Erfahrung, welchen Eindruck dieses bunte Gewimmel von Leben auf die Schüler macht, wenn es ihnen zum ersten Male vorgeführt wird; und er sieht mit Zacharias gerade in diesem ein wichtiges Moment dafür, die Schüler für den Stoff zu interessieren. Mit Recht betont aber der Verfasser unseres Aufsatzes, dass es sich nie darum handeln kann, vom Schüler die bleibende Kenntnis aller Einzelformen zu ver- langen; ein paar besonders hervortretende Typen wird er sich ja so wie so einprägen. Dagegen gibt das Plankton wie kaum ein an- derer Stoff Gelegenheit, die "Abhängigkeit der Lebewesen von- einander zu zeigen: die mikroskopisch kleinen Algen liefern die Urnahrung; auf ıhnen fußt das Leben der chlorophylifreien Pflänz- chen und Tiere, vom Infusor bis zur Daphnia; von diesen leben wieder die kleineren Fische u.s. w. Da sehen wir im kleinsten Teich, gleichsam mit Händen zu greifen, den ewigen Kreislauf des Stoffes; wie nichts eigentlich untergeht, alles nur die Form wechselt. Zacharias, Das Plankton als Gegenstand eines zeitgem. biol. Schulunterrichts. 251 Ganz besonderen Wert legt Zacharias auf „die mikroskopi- schen Naturobjekte als Ausgangspunkt für ästhetische Betrach- tungen“. Um die Bedeutung des Planktons in dieser Beziehung recht anschaulich zu machen, bildet er eine Reihe der schönsten Formen ab, aber freilich, wie der Kenner gestehen muss, nur eine kleine Auswahl; aber auch diese ist beweisend genug. Dass durch das Plankton die Freude am Schönen mächtig gefördert werden kann, liegt auf der Hand; und das ist in unserer Zeit, wo so oft das Nützlichkeitsprinzip im Leben herrscht, ein nicht zu unter- schätzender Faktor im Schulbetrieb. Das sind so einige Hauptmomente, die Zacharias für die Einführung des Planktons als Lehrgegenstand aufführt. Sie sprechen gewiss sehr eindringlich dafür, dass man zum mindesten den Ver- such machen sollte, überall, wo es irgend angeht. Es gibt ja da allerdings einige „schultechnische“* Schwierigkeiten, wie die mikro- skopischen Demonstrationen im Klassenunterricht, die dem Unter- richt überhaupt zur Verfügung stehende beschränkte Zeit,. die Ver- anstaltung von Exkursionen. Aber diese Schwierigkeiten werden sich an den meisten Orten überwinden lassen, wenn nur einmal der biologische Unterricht Eingang gefunden hat in die oberen Klassen. Der Haupteinwand wird wohl der sein: woher der Lehrer die Zeit nehmen soll für diese Erweiterung des Lehrstoffes? Darauf antworten wir ıhm, dass es sich im Grunde gar nicht um eine „Erweiterung“, sondern nur um eine andere” Gruppierung des Stoffes handelt. Von Infusorien, Diatomaceen, mikroskopischen Krebsen u. s. w. sprechen wir ja so wie so im Unterricht; und da gibt uns dann eine „Planktonexkursion“ mit nachfolgender Be- sprechung eine günstige Gelegenheit, diese ganze buntgemischte Gesellschaft dem Schüler vorzuführen. Und er wird sie weniger vergessen, als wenn wir ıhm stundenlang darüber vordozieren. Dass die Sache möglich ist, zeigen übrigens auch die Briefe, die Zacharias als Anhang zu seinem Aufsatz abdruckt. Soviel zum sachlichen Inhalt des Aufsatzes. Wir sehen uns darın — von einzelnen Kleinigkeiten natürlich abgesehen — mit Zacha- rıas vollständig einig; aber wir haben noch eine andere Bemerkung zu machen, die wir nicht unterdrücken können, eine mehr formelle. Der Aufsatz ist für ein weiteres Publikum, nicht nur für spezielle Fachmänner, geschrieben; darum enthält er natürlich vieles, was dem Planktontologen längs geläufig ist. Das ist selbstverständlich und zu rühmen, da nur so das Interesse geweckt wird. Unter der Hand des Autors ist aber der Aufsatz 'ausgewachsen zu einer Streitschrift über moderne Gymnasien überhaupt, und das gefällt uns nicht. Wozu auch in einer so speziellen Frage diese alte Polemik auf- nehmen? Es genügt doch zu konstatieren, dass die Biologie mehr Berücksichtigung zu fordern hat im Lehrplan: und dann bei der Sache bleiben, die im Titel versprochen ist, beim Plankton als Unterrichtsmittel. Wir führen dies hauptsächlich deswegen an, weil wir fürchten, der eine oder andere Kollege möchte sich durch die gelegentlich 252 Hertwig, Allgemeine Biologie. etwas bitteren — oder sollen wir, nach dem, was wir sonst von Zacharias gelesen haben, sagen: „verbitterten“? — Bemerkungen abstoßen und gegen die Sache einnehmen lassen. Er sei gebeten, solche Stellen einfach zu überschlagen. Im übrigen empfehlen wir nochmals das Büchlein, das auch separat zu haben ist, allen Lehrern der Naturgeschichte und Verwandten. St. Gallen, Februar 1906. Prof. Dr. P. Vogler. Karl Snyder. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft nach den Ergebnissen der neuesten Forschungen. Autorisierte deutsche Übersetzung von Hans Kleinpeter. Kl. 3, VII u. 306 S. e Mit 16 Bildnissen. Leipzig 1905. Joh. Ambr. Barth. Das Buch bezweckt, die großen naturwissenschaftlichen Er- rungenschaften der letzten Jahre einem größeren Leserkreise zu- gänglich zu machen. Wenn es nun, wie der Übersetzer ganz richtig bemerkt, selbst dem mit der Entwickelung auf einem Spezial- gebiet Vertrauten, schwer wird, dem Fortschritt auf der ganzen Linie zu folgen, so wird es einem einzelnen noch schwerer sein, Lesern ohne besondere Vorkenntnisse von dieser großartigen Ent- wickelung auf allen Gebieten sichere Kenntnis zu übermitteln. Dass Herr S. der Mann sei, dem diese große Aufgabe gelungen wäre, davon hat mich das Buch nicht ganz überzeugt. Er weiß freilich viel und versteht auch, es in entsprechender Form vorzutragen. Aber da, wo ich ihn kontrollieren kann, bleibt er doch meistens auf der Oberfläche oder trägt geradezu Irriges vor. Um ein Buch zu schreiben, wie es dem Verfasser vorschwebte, dazu hätte es wohl des Zusammenwirkens vieler und zwar hervorragender Männer der Wissenschaft bedurft. Trotzdem enthält das Buch doch viel Gutes und kann selbst solchen, die sich berufsmäßig mit einer Naturwissenschaft befassen, nützlich sein, indem es auf Dinge auf- merksam macht, welche näher kennen zu lernen sonst nicht mög- lich war. Den Laien aber macht es wenigstens etwas mit den groß- artigen Errungenschaften der neuesten Forschungen bekannt, gibt ihm auch einen ungefähren Begriff von den Methoden der For- schung, welche diese Errungenschaften ermöglicht haben. J. R. Oskar Hertwig. Allgemeine Biologie. Zweite Auflage des Lehrbuchs „Die Zelle und die Gewebe“. Gr. 8. XVI und 649 Seiten. 371 Abbildungen. Jena. Gustav Fischer. 1906. Herr ©. Hertwig, der bekannte Anatom in Berlin, hat sein Lehrbuch „die Zelle und die Gewebe“ in vollkommen umgearbeiteter Form unter dem Titel „allgemeine Biologie“ neu herausgegeben. Wie zu erwarten war, bildet die morphologische Seite, d. h. alles, FE Hertwig, Allgemeine Biologie. 2553 was wir von den Formgestaltungen, der Entwickelung und Ver- mehrung der Zellen und der aus ihnen hervorgehenden Gewebe wissen, den Schwerpunkt des Werks. Daran knüpfen sich Be- trachtungen über das Wesen dieser Vorgänge und Versuche zu ihrer „Eklärung“. Dagegen tritt das eigentliche Physiologische ım engeren Sinne verhältnismäßig zurück. Wenn auch ganze Kapitel den „Lebenseigenschaften der Zelle“ gewidmet sind, so liegt es doch ın der Natur des Objekts, dass hierbei fast auschließlich von Erscheinungen die Rede ist, welche zum kleinen Teil mit bloßem Auge, hauptsächlich aber mit dem Mikroskop beobachtet werden. Was über die chemischen Vorgänge gesagt wird, ist dagegen mehr aus der Analogie mit den entsprechenden Vorgängen an den zu höheren Lebewesen vereinigten Zellgemeinschaften und Zellderivaten erschlossen, als direkt an den Zellen selbst beobachtet worden. Auch sind diese Abschnitte verhältnismäßig kurz behandelt und beschränken sich auf das Allgemeine, ohne auf Einzelfragen einzu- gehen. Noch kürzer ‚sind die physikalischen Vorgänge behandelt. Dass der Hnuptteil des Werkes, also der morphologische, eine Fülle wertvoller Beobachtungen und damit jedem Interessenten reiche Belehrungen bringt, ist bei der bekannten Sachkenntnis des Herrn Verfassers selbstverständlich. In der Tat ist wohl alles nach dieser Richtung bisher Erforschte mit musterhafter Klarheit dargestellt, das noch Zweifelhafte mit scharfsinniger Kritik be- leuchtet, die noch zu lösenden Aufgaben hervorgehoben. In den theoretischen Teilen seines Buches setzt sich der Herr Verfasser mit den bedeutendsten Autoren auf diesem Gebiet, Nä- geli, Spencer, Weismann u. A. auseinander und entwickelt ausführlich seine Biogenesistheorie, welche mit den Anschauungen der beiden zuerst genannten Forscher in vielen Stücken überein- stimmt. Er übernimmt u.a. von Nägeli die Vorstellung, dass die lebende Substanz aus „Micellen“, d. h. besonderen, durch Zusammen- tritt von Proteinsubstanzen mit Imbibitionswasser aufgebauten, kristallähnlichen Molekulargruppen aufgebaut sei, welche die lebende Substanz ähnlich zusammensetzen, wie es bei der unbelebten die Molekeln tun. Die so zusammengesetzten Zellen, deren wesentliche morphologische Bestandteile Protoplasma und Kern sind, besitzen aber nach ihm einen von ihrer Abstammung bedingten Art- charakter, so dass schon dadurch der Weg, den sie bei der Ent- wickelung zurücklegen können, im voraus bestimmt wird. Ihre weiteren Schicksale im einzelnen werden dann durch das umgebende Medium sowohl wie durch gegenseitige Beeinflussung der aus der Eizelle hervorgegangenen Einzelzelle bestimmt. Worin jener „Art- charakter* begründet ist, kann freilich nicht gesagt werden. Denn dass er ererbt, d.h. durch die Entwickelung der Vorfahren bedingt sei, kann kaum als eine „Erklärung“ bezeichnet werden. 54 Fuchs, International Catalogue of scientific Literature. Ich stehe nicht an, die Formulierung des Verfassers als eine glückliche zu bezeichnen, da sie die wichtigsten der bekannten Tatsachen kurz zusammenfassend in anschaulicher Weise darstellt. Dass in dieser Zusammenfassung gewisse Seiten des empirisch Ge- fundenen eben nur rekapituliert und mit etwas anderen Worten nochmals behauptet werden, teilt diese Theorie mit allen anderen | „Lebenstheorien“. Es ist bei dem heutigen Stande unserer Er- kenntnis nicht möglich, in der Vereinfachung unserer Vorstellungen, in der Subsumierung des ganzen Inhalts unserer Kenntnis unter eine einzige Grundannahme weiter zu gehen. Auf Einzelnheiten einzugehen ist bei der Anzeige eines Werks, das eine solche Fülle von tatsächlichem Material bringt, kaum möglich. Auch da, wo der Berichterstatter vielleicht über den einen oder den anderen Punkt eine abweichende Ansicht haben sollte, wird er doch immer den Eindruck erhalten, dass der Ver- fasser nach reiflicher Erwägung aller Umstände zu seiner Ansicht gelangt ist und sie auf Grund sehr genauer Detailkenntnis mit Geschick vertritt. Wollte er seine abweichende Ansicht begründen, so müsste er eine Abhandlung, wenn nicht gar ein neues Buch schreiben. Der Referent beschränkt sich deshalb auf die kurze Bemer- kung, dass nach seiner Ansicht in den im engeren Sinne physiologischen Betrachtungen manche Punkte nicht scharf genug formuliert und nicht ganz genügend behandelt sind. Darin liegt aber kein Vor- wurf für den verdienten Verfasser; denn welcher einzelne könnte heutzutage diese beiden großen Gebiete, Morphologie und Physio- logie, wirklich vollkommen beherrschen? Nur den Wunsch möchte der Referent zum Ausdruck bringen, dass bei einer Neubearbeitung des Buches die Grundbegriffe Ursache, Kraft, Leistung, Arbeit, Auslösung schärfer gefasst und in besserer Übereinstimmung mit den jetzt feststehenden Bedeutungen dieser Ausdrücke verwendet werden möchten. Aber auch, wer an‘diesen Mängeln Anstand nimmt, wird gern bedenken, dass der eigentliche Wert des Buches auf einem anderen Gebiet liegt und wird dankbar die reiche Be- lehrung anerkennen, welche er aus ıhm zu schöpfen vermag. J. Rosenthal. International Catalogue of scientific Literature. Third annual issue. Q. Physiology including experimental Psychology, Pharma- cology and experimental Pathology. Von dem internationalen Katalog der wissenschaftlichen Lite- ratur liegt die Abteilung @ vor, welche die Physiologie mit Ein- schluss der experimentellen Psychologie, Pharmakologie und ex- perimentellen Pathologie umfasst und die Literatur der Jahrgänge 1901—1903 umfasst. Das umfangreiche Buch enthält zuerst eine Hayduck, Über die Bedeutung des Eiweiß im Hefenleben. 255 in vier Sprachen (englisch, französisch, deutsch, italienisch) abge- fasste Gesammtübersicht der Hauptabteilungen, sowie der einzelnen Unterabteilungen, welche mit den nach dem Dezimalsystem ge- ordneten Nummerschlüsseln versehen sind, woran sich ein 'alpha- betisches Sachregister anschließt. Die zweite Abteilung umfasst den alphabetisch geordneten Autorenkatalog mit Aufzählung der Titel, Erscheinungsorte und Hinweis auf die verwandten Fächer, während die dritte Abteilung einen nach Materien geordneten Katalog der Literatur enthält. Den Schluss des Bandes macht ein Zeitschriftenverzeichnis, das neben den: ım Texte für die betreffen- den Zeitschriften gebrauchten Abkürzungen auch die Abonnements- preise der Journale enthält. Die ganze Anordnung ermöglicht ein leichtes Auffinden der betreffenden Spezialliteratur, die nach vor- genommenen Stichproben keine wesentlichen Lücken enthält, so dass das Werk sicher die Literaturarbeiten wesentlich erleichtert. R. F. Fuchs (Erlangen). F. Hayduck. Über die Bedeutung des Eiweils im Hefenleben. Berlin 1906. Verlag von Paul Parey. Der Verfasser gibt die Arbeiten, die in den Jahren 1878 bis 1903 aus dem Institut für Gärungsgewerbe hervorgegangen und in den von jenem Institut herausgegebenen Zeitschriften veröffentlicht wurden, in chronologisch geordneten, kurzen Referaten wieder und gestaltet sie dadurch, dass er durch verbindenden Text die Ent- wickelung einer Arbeit und der anderen ins rechte Licht rückt, zu einem einheitlichen Ganzen. Der Bericht zerfällt in zwei Teile. Der erste beschäftigt sich mit den Arbeiten über die Stickstoff- ernährung der Hefe und die davon abhängigen quantitativen Ver- änderungen im Hefeneiweiß. Der zweite Teil knüpft an die Ent- deckung des Gärungsenzyms der Hefe, der Zymase, durch Eduard Buchner an und führt uns ın die Lebensabwandlung der Hefezelle ein, wie sie durch das Mit- und Gegeneinanderwirken der Enzyme bedingt ist. Durch die Enzymlehre werden Erscheinungen aufge- klärt, für die in den Arbeiten des ersten Teiles keine befriedigende Erklärung gefunden werden konnte, so dass trotz der Zweiteilung der einheitliche Charakter der Arbeiten gewahrt bleibt. Die be- sprochenen Arbeiten besitzen ein weit über die Grenzen der Gä- rungsgewerbe hinausgehendes Interesse und bieten jedem, der den Geheimnissen des Hefenlebens und der Hefenarbeit auf Grund der Eiweißabwandlung in der Hefe nachzuforschen bemüht ist, ein eben :o reichhaltiges wie wertvolles Material. 256 Henriksen, The Danish Aretie Bielogical Station m Greenland. The Danish Arctic Biological Station in Greenland. In Biolog. Centralblatt for Aug. 15, 1905, I published a short articl@ about the proposed Biological Station in Greenland. I am now able to state that the money for the erection of the building is donated by Hrr. Justitsraad P. Holck of Copen- hagen and the Danish government has promised to pay the running expenses of the station. The site chosen for the station is on Disco Island near the colony of Godhavn. This place is according to authorities a well chosen vantage-ground for the study of arctie biology, and the plan has received the most hearty approval of German, English, American, Swedish and Danish biologists. The station will be built during the summer of 1906 and open to ınvestigators in 1907. It will be ın charge of a resident in- vestigator. Hrr. Cand. Mag. M. P. Porsild, who proposed the plan, is the chosen director of the station. The station is open to investigators, foreign and Danish alıke, free of charge. There is free lodging in connection with the station and all facilities as motor-launch, boats, sledges, instruments, books, ete., are also free of charge. A native guide to carry tents and other material for shorter expeditions can be had at this station, but longer expe- ditions must be done at the expense of the visiting scientists. It ıs estimated that a stay in Greenland during a summer will cost about 1500 marks, covering the fare both ways between Copenhagen and Greenland. Steamers for Greenland leave Copen- hagen in May and June and leave Disco Island in August and September. The great interest connected with such a station from a biological, geological and geographical point of view need not to be empha- sized here and I believe the Danish government and especially the future director ought to be congratulated for his zealous effort to bring this plan to a successful end. Prof. C. OÖ. Whitman, in recommending the plan said: „It is a unique undertaking and if adequately supported it has every promise of proving and epoch- making event in the biologieal world.“ Or ın the words of Prof. J. Loeb, „The future of biology lies in the marine laboratories*. Detailed information for those who intend to study in the laboratories may be had by writing Hrr. Cand. Mag. M. P. Porsild, Botanical Museum, University of Copenhagen, Denmark. Martin E. Henriksen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblalt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwiekelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte, Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. zXVIBca. u Mai 1908. 9. Inhalt: Ursprung, Die Erklärungsversuche des en reoben Diekenwachtums. — Popoff, Fisch- färbung und Selektion. — W einberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen Fuchs, Physiologisches Praktikum für Mediziner. Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstums. Von A. Ursprung. Trotzdem es sich bei dem exzentrischen Dieckenwachstum um eine Erscheinung handelt, die allgemein verbreitet und allgemein bekannt ist, so findet man sie doch heute in den Lehrbüchern in der Regel kaum erwähnt, während ihr früher, wo die Untersuchungen doch noch viel lückenhafter waren, eine ausführliche Besprechung gewidmet wurde. Auch in den Handbüchern wird das exzentrische Dickenwachstum meist mit wenigen Worten erledigt!). Es ist das um so weniger begreiflich, als es sich weder um eine seltene noch um eine erst seit kurzem bekannte Erscheinung handelt. Beinahe jeder Stamm und Ast zeigt an der einen oder anderen Stelle eine exzentrische Verlagerung des Markes und die ersten Beobachtungen gehen bis auf Malpighi zurück. Knight, Hugo von Mohl, ehe beschäftigten sich mit dieser ade und in neuerer Zeit wurde ihr besonders von Kny, Wiesner, Hartig und Schwarz große Aufmerksamkeit geschenkt. 1) Eine Ausnahme bildet Haberlandt’s Physiologische Pflanzenanatomie, die schon in den alten, besonders aber in der neuesten Auflage die Erscheinung ziemlich eingehend bespricht. XXVl. 17 958 Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstums. In meinen „Untersuchungen über das exzentrische Dicken- waechstum an Stämmen und Ästen“ (25) versuchte ich die bis jetzt bekannten, auf die genannten Organe sich beziehenden morpho- logischen Tatsachen zusammenzustellen und die vorhandenen Lücken durch eigene Untersuchungen etwas auszufüllen. In der vorliegen- den Abhandlung will ich die Versuche besprechen, die bisher ge- macht wurden, um diesen Wachstumsmodus zu erklären). Die sämtlichen Erklärungsversuche lassen sich in zwei große Gruppen einteilen, die ganz verschiedener Natur sind, in kausalmechanische und kausalfinale. Diese Trennung ist auch in der folgenden Be- handlung durchgeführt. Die verschiedenen Arten des exzentrischen Dickenwachstums sind jeweils gesondert behandelt. Die weitere Einteilung richtet sich nach den Ursachen, die zur Erklärung herangezogen wurden. A. Kausalmechanische Erklärungsversuche. a) Hyponastie. Nach den Ursachen, welche die Hyponastie bewirken sollen, lassen sich sechs verschiedene Gruppen von Erklärungsversuchen unterscheiden. Als bewirkende Ursachen werden in Anspruch ge- nommen: Schwerkraft, Längsdruck, Beleuchtung, Feuchtigkeit, Rindendruck, Ernährung. 1. Schwerkraft. Da das stärkste Dickenwachstum nach unten erfolgt, so ist es leicht verständlich, dass schon die ersten Be- obachter die Ursache in der Schwerkraft suchten. Die Einwirkung sollte bald eine mehr unmittelbare, bald eine mittelbare sein; im ersteren Falle waren die Vorstellungen recht rohe. Der erste Erklärungsversuch der Hyponastie findet sich 1833 bei Decandolle (1), dem überhaupt nur diese Art des exzentrischen Dickenwachstums bekannt war. Es wird die Annahme „eines in- folge der Schwere stattfindenden Durchsickerns der Nahrungssäfte von der oberen Seite nach der unteren“ gemacht. „Flösse der Nahrungssaft in geschlossenen Gefäßen, so wäre obige Tatsache unmöglich; wenn derselbe aber durch die Interzellulargänge strömt, so ist sie sehr leicht zu begreifen.“ Auch Hugo v. Mohl (2) nimmt 1862 an, dass der absteigende Nahrungssaft, dem Gesetz der Schwere folgend, in horizontal oder schief liegenden Zweigen in größerer Menge auf der unteren Seite des Zweiges zum Stamme fließe und diesen Teil stärker ernähre. Da der Nahrungssaft nicht in den Interzellularen fließt und sich nicht einfach dem Gesetz der Schwere folgend im unteren Teil des Astes sammelt, ähnlich wie das Regen- wasser auf dem Grunde eines Steinhaufens, so fällt diese Hypo- 1) Bis jetzt wurden die Erklärungsversuche des exzentrischen Diekenwachstums kritisch besprochen von Kny (19) und Schwarz (17). Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Diekenwachstums. 259 these. Die Unrichtigkeit der als selbstverständlich betrachteten Voraussetzung, das ungleiche Wachstum sei die Folge ungleicher Ernährung, wird später dargetan werden. Komplizierter ist die un gsweise, welche 1867 G. Kraus (8) der Schwerkraft zuschreibt. Nach ıhm verursacht die Schwere ein Breiterwerden der Zellen des Rindengewebes auf der Astunterseite, womit eine Verminderung der Querspannung auf der Astunterseite verbunden ist. Infolge dieser verringerten Spannung sollen sich die Nährstoffe auf dieser Seite anhäufen und der Holzkörper daher stärker wachsen. Dass die Hyponastie nicht auf diese Weise zu- stande kommen kann, geht schon aus den Versuchen Krabbe’s (8) hervor, nach denen die Rindenspannung viel zu gering ist, um auf das Dickenwachstum einen Einfluss ausüben zu können. Derselbe Autor wies ferner (9) nach, dass an exzentrisch gewachsenen Stämmen und Ästen die Tangentialspannung der Rinde an dem Orte maxi- malen Wachstums am größten ıst, solange die Rinde keine wesent- lichen Veränderungen erfahren hat. Wiesner (11) nimmt 1868 an, dass die Zellbildung, wenn sie im Sinne der Schwere erfolgt, be- schleunigt werde, hingegen eine Verzögerung erfahre, wenn hierbei die Schwere zu überwinden ist. Die Unrichtigkeit dieser Annahme ergibt sich aus dem Vorkommen der Epinastie und noch besser aus der Tatsache, dass an demselben Ast hyponastische und epinastische Stellen vorhanden sein können. Eine merkwürdige Ansicht spricht Gabnay (10) 1892 aus. Nach ıhm ist der Bildungssaft der Nadel- hölzer einfacher und spezifisch schwerer als der der Laubhölzer, da auch die Struktur des Nadelholzes eine einfachere ist und sein spezifisches Gewicht größer ist. Der Bildungssaft der Nadelhölzer soll ferner gegen die Sonnenstrahlen weniger empfindlich sein, als derjenige der Laubhölzer. Hiernach könnte natürlich ein Ast nicht an der einen Stelle hyponastisch, an einer anderen epinastisch sein. Es ergeben sich somit aus der Annahme Konsequenzen, die mit den zu erklärenden Erscheinungen nicht übereinstimmen, so dass es gar nicht nötig ist, auf den bedeutungslosen Erklärungsversuch selbst näher einzugehen. 2. Längsdruck. R. Hartig (20) äußert sich 1896 in einer Abhandlung über das Rotholz der Fichte folgendermaßen: „Die Organe der Unterseite bilden sich unter der Einwirkung eines . Längsdruckes, da der Ast durch das Gewicht der Zweige nach unten umgebogen wird. Es entsteht hier deshalb Rotholz.“ Inwiefern „deshalb“ Rotholz entstehen soll, ist aus dieser Arbeit nicht zu ersehen, dagegen drückt sich Hartig in einem anderen Aufsatz (21) etwas deutlicher aus, bei Besprechung der Windwirkung. „Der Druck des Windes übt einen Reiz auf das Plasma der Kambium- schicht aus, welche in zweckentsprechender Weise durch gesteigertes Wachstum (und durch Dickwandigkeit der Organe) auf diesen Reiz 17* 360 Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstums. reagiert.“ Was für einem Zweck entsprochen werden soll, ist aller- dings nirgends angegeben. Für uns handelt es sich jetzt jedoch nur darum, zu untersuchen, ob der Längsdruck auf der Unterseite als Ursache der Hyponastie aufgefasst werden darf. Eine der primitivsten Forderungen, die an eine Hypothese gestellt werden, ist die, dass die aus ihr sich ergebenden Folgerungen den Tat- sachen nicht widersprechen. Nun habe ich aber nachgewiesen (25), dass die Koniferenäste auch Epinastie aufweisen können; der Längs- druck steht also selbst bei den Koniferenästen nicht immer mit stärkerem Dickenwachstum in Zusammenhang. Annähernd vertikal stehende, bajonettartig verbogene Koniferenstämme befolgen in ihrem Wachstum das Prinzip der Ausgleichung der Krümmungen, wobei das stärkste Dickenwachstum bald auf der Seite des Längs- druckes, bald auf der gegenüberliegenden Seite stattfindet. Von einer Hypothese verlangt man ferner, dass aus der hypothetisch angenommenen Ursache nicht ebensogut wie die gegebene Tatsache eine andere sich ableiten lässt. Nun können wir aber mit eben demselben Recht behaupten, dass der Längsdruck das Dickenwachs- tum verlangsame, denn bei allen .epinastischen Ästen fällt die Seite stärksten Längsdruckes mit dem schwächsten Dickenwachstum zu- sammen. Schwarz (17) schließt 1599 aus den ihm bekannten Tatsachen, dass der Druck als alleinige Ursache des exzentrischen Dicken- wachstums der Kiefer anzusehen ıst. „Man wird sich jedoch hüten müssen, die hier gewonnenen Anschauungen ohne weiteres auf an- dere Pflanzen zu übertragen. Schon der Gegensatz zwischen Pflanzen mit hyponastischen und epinastischen Zweigen weist auf Unter- schiede hin, welche durch die verschiedene Reaktionsfähigkeit der einzelnen Spezies gegen Druckwirkungen bedingt sein dürften, was jedoch erst durch spezielle Untersuchungen zu beweisen wäre.“ Während Hartig, wie später gezeigt werden soll, neben dem Druck auch noch andere Faktoren zur Erklärung herbeizieht, sieht Schwarz den Druck als alleinige Ursache an. Die Tatsache, dass an Pinus-Ästen auch Epinastie vorkommt, wär damals eben noch nicht bekannt. Es wäre wohl auch die schon a priori nicht sehr glaubwürdig erscheinende Vermutung von der verschiedenen Re- aktionsfähigkeit der einzelnen Spezies nicht ausgesprochen worden, wenn man die häufigen Abwechslungen von Epinastie und Hypo- nastie an demselben Ast schon gekannt hätte. 3. Beleuchtung. Nachdem Kraus in der oben angegebenen Weise den Einfluss der Schwerkraft besprochen, fügt er hinzu: „Den Einfluss des Lichtes auf das Exzentrischwerden des Holz- körpers hat man sich ebenso zu denken.“ Da die vorausgesetzte Wirkung der Schwerkraft nicht stattfindet, so muss auch die An- nahme eines „ebenso“ wirkenden Lichtes unrichtig sein. Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstums. 261 4. Feuchtigkeit. Wiesner (12) zählt unter den Faktoren, welchen für das Zustandekommen der Hyponastie eine Bedeutung zukommen soll, auch die Feuchtigkeit auf, und bespricht ihre Wirkungsweise an Ginkgo, wo der Reichtum an Lentizellen auf der Astunterseite Hand in Hand mit der Hyponastie des Holzes geht. „Dieses relativ häufige Auftreten der Lentizellen hängt in erster Linie mit der größeren Feuchtigkeit zusammen, welcher in der Regel das untere Periderm ausgesetzt ist und im Zusammenhange damit dürfte die Begünstigung der Zellteilung im unteren Kambium stehen.“ Wenn auch die Feuchtigkeit auf der Unterseite des Astes etwas größer ist als auf der Oberseite, so ist doch nicht einzu- sehen, warum damit eine stärkere Kambiumtätigkeit parallel gehen soll. Die Wirkung der Feuchtigkeit kann als eine unmittelbare oder als eine mittelbare, durch die Vermehrung der Lentizellen bedingte, aufgefasst werden. Im ersten Fall hätten wir einen direkten Einfluss relativ kleiner Feuchtigkeitsdifferenzen der Luft auf turgeszente Zellen, die im Innern eines Organes liegen, das einen peripheren Korkmantel besitzt. Eine solche Annahme ist aber zum mindesten gänzlich unwahrscheinlich und darf erst dann Beachtung finden, wenn sie durch Versuche gestützt werden kann. Im zweiten Fall würde die reichere Ausbildung der Lenti- zellen günstig auf das Kambium wirken, was ja a priori wohl glaubwürdig erscheint; so lange aber das faktische Bestehen des vorausgesetzten Zusammenhanges weder durch vergleichende Be- obachtungen noch durch Experimente nachgewiesen ist, handelt es sich um eine bloße Vermutung. Die jetzt bekannten Tatsachen scheinen mir übrigens über die Bedeutung der Feuchtigkeits- differenzen ein ziemlich sicheres Urteil zu erlauben. Wenn von zwei benachbarten Fagus-Ästen von gleichem Alter, gleicher Ge- stalt und gleicher Lage der eine epi-, der andere hyponastisch ist, wenn sogar an demselben Ast epinastische und hyponastische Schnitte vorkommen, so geht daraus mit größter Deutlichkeit hervor, dass in diesen Fällen die supponierten Feuchtigkeitsdifferenzen selbst dann nichts erklären könnten, wenn sie die vermutete Wir- kung haben würden. Nun schreibt aber Wiesner (12, p. 682): „Diese Anschauung wird durch die Tatsache nicht umgestürzt, dass bei den Laubhölzern der Hypotrophie Epitrophie vorangeht, oder dass der anfänglichen Hypotrophie eine Zeit hindurch Epitrophie folgt. Es greift hier ein anderes Moment ein, welches fördernd auf das oberseitige Diekenwachstum einwirkt und nach Maßgabe seiner Stärke die Hypotrophie verringert, aufhebt oder sogar be- dingt, dass nunmehr bis zu einer bestimmten Grenze bloß Epı- trophie herrscht.“ Dieses neue Moment besteht in der reichlicheren Entwickelung der Axillarknospen an der Astoberseite. Es ist jedoch zu bemerken, dass diese Beobachtung nur an Zuniperus Sabina ge- 962 - Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstums. macht wurde und dass sie daher nicht generalisiert werden darf. Aber selbst in diesem einzigen Fall fand sich nicht Epinastie, son- dern nur schwächere Hyponastie und es ist eine einfache Ver- mutung, dass dieselbe mit der Bildung der Axillarknospen in ur- sächlichem Zusammenhang stehe. 5. Rindendruck. Detlefsen (14) bezeichnet den durch Be- lastung oder Form des Organs hervorgerufenen Rindendruck, ohne Beziehung zur Schwerkraft, als die Ursache des exzentrischen Dickenwachstums, wobei ganz allgemein die Stelle stärker in die Dicke wachsen soll, an welcher der Rindendruck kleiner ist. Diese Behauptung ist in dieser allgemeinen Form unrichtig, wie schon früher erwähnt wurde, aber auch für diejenigen Fälle, in welchen wirklich das stärkere Diekenwachstum an der Seite schwächeren Rindendruckes auftritt, ist die Unhaltbarkeit der Rindendrucktheorie durch die Untersuchungen Krabbe’s nachgewiesen worden. Nach Kny (18) ist der Rindendruck ebenfalls, wenn auch nicht einzig, von Bedeutung. Durch Verschiedenheiten im anatomischen Bau der Rinde und im Zellinhalt bei verschiedenen Pflanzen und die dadurch bedingte verschiedene Wirkung von Temperatur- und Feuchtigkeitsdifferenzen auf den Rindendruck wird von demselben Autor auch versucht, eine Erklärung der Tatsache anzubahnen, dass an gleichgelagerten Ästen bald Hyponastie, bald Epinastie zu be- obachten ist. Durch die Krabbe’schen Versuche haben auch diese Spekulationen ıhre Bedeutung verloren. 6. Ernährungsdifferenzen. Kny (19) ist der Ansicht, dass bei der ausgesprochenen Hyponastie der Koniferen eine „bevorzugte Ernährung der Unterseite“ mitwirken „muss“. Nach Wiesner (12) erscheint bei ausgesprochener Anisophyllie das Holz an jener Seite des Stammes gefördert, welche die größeren Blätter trägt. „Es liegt am nächsten, anzunehmen, dass die in den unteren größeren Blättern vor sich gehende verstärkte Produktion plastischer Stoffe die Ursache der Hypotrophie ist.“ Auch im Jahre 1895 schreibt Wiesner (13), dass „im Grunde genommen die einseitige Wachs- tumsförderung auf einseitig gesteigerter Ernährung beruhen muss“ ... „Wenn ich aber sage, dass die einseitige Wachstumsförderung auf einseitig gesteigerter Ernährung beruht, so sind damit die vorge- führten Fälle einseitiger Wachstumsförderung keineswegs erklärt. Es ist durch den gewählten Ausdruck die Erscheinung kaum mehr als umschrieben. Denn die einseitig gesteigerte Ernährung erfordert selbst erst eine nähere Erklärung.“ Wenn wirklich die einseitige Wachstumsförderung auf einseitig gesteigerter Ernährung beruht, dann muss eine im Wasser lebende Algenzelle, die an einem Ende wächst, dort besser ernährt sein, als im übrigen Teil. Diese und ähnliche Betrachtungen dürften zeigen, dass die Zufuhr von Nahrungsstoffen das Wachstum nicht Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Diekenwachstums. 265 bedingt, sondern nur ermöglicht, und dass ein Organ trotz der besten Ernährung nicht wächst, wenn es nicht zum Wachsen geneigt ist. Die Wachstumsförderung beruht nicht auf gesteigerter Ernährung, sondern es fließen umgekehrt die Nahrungsstoffe haupt- sächlich jenen Stellen zu, an denen sie vorwiegend verbraucht werden. Es ıst somit schon die Voraussetzung, die von diesen Ernährungs,„theorien“ als selbstverständlich hingenommen wird, unrichtig. Nachdem durch diese Betrachtungen gezeigt wurde, dass es zurzeit eine kausal-mechanische Erklärung der Hyponastie nicht gibt, sollen die für die Epinastie herbeigezogenen Erklärungs- versuche besprochen werden. b) Epinastie. Außer durch den Rindendruck wurde die Epinastie nur noch durch die Lichtwirkung zu erklären versucht. 1. Rindendruck. Durch die Untersuchungen von Krabbe wurde nachgewiesen, dass diesem Faktor keine Bedeutung zu- kommen kann. 2. Beleuchtung. Da das Licht durch eine dickere Rinden- und Borkenschicht nicht eindringen kann, so ist eine Einwirkung nur im Jugendzustand möglich, worauf schon von Kny (19, p. 17) aufmerksam gemacht wurde. Nun findet sich aber eine Förderung des Dickenwachstums der Oberseite nicht nur an jungen, sondern auch an alten Ästen und Stämmen. Ein Zusammenhang zwischen der Epinastie und der Einwirkung des Lichtes auf das Kambium ist somit nicht vorhanden. Nach dem Gesagten braucht die unbe- gründete und nichtssagende Behauptung Gabnay’s (10), die Bildungs- säfte der Laubhölzer seien gegen den Einfluss des Sonnenlichtes empfindlicher als die der Nadelhölzer, nicht mehr als erwähnt zu werden. c) Exzentrisches Dickenwachstum vertikaler Organe. Am zahlreichsten sind die Versuche, die Exzentrizität verti- kaler Stämme zu erklären; die exzentrische Ausbildung des Stamm- querschnittes ist ja auch für den Forstmann von praktischem Inter- esse. Folgenden Ursachen wurde die Exzentrizität zugeschrieben: Himmelsrichtung, Zentrifugalkraft, Rindendruck, Wind, Längs- druck, Ernährung. 1. Himmelsrichtung. Die Ansicht Muschenbroeck’s (4), nach welcher die Kälte des Nordens das Diekenwachstum hindert, basıert auf der unrichtigen Voraussetzung, die Jahresringe seien auf der Nordseite schmäler. In ähnlicher Weise spricht sich auch Wilhelm (5) aus. Hartig (22) dagegen schreibt: „Ob die ausge- sprochene Vermutung, das häufig verminderte Dickenwachstum der 264 Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstuns. Südseite der Bäume sei einem hemmenden Einfluss der direkten Sonnenwirkung zuzuschreiben, begründet ist, wäre noch näher zu prüfen.“ 2. Zentrifugalkraft. Musset (7) fand an den von ihm gemessenen Stämmen einen größeren ÖOstwestdurchmesser und schriebdies der durch die Umdrehung der Erde hervorgerufenen Zentrifugalkraft zu. Wäre diese Annahme richtig, dann müsste dieser Durchmesservergrößerung eine allgemeine Verbreitung zu- kommen, was nicht der Fall ıst. Es leuchtet aber auch sonst ein, dass eine solche Vermutung nicht als Erklärungsversuch gelten kann, denn weder durch Experimente, noch durch theoretische Be- trachtungen wurde die Möglichkeit einer solchen Wirkung der Zentrifugalkraft zu erweisen versucht. 3. Rindendruck. Knight (6) hatte gefunden, dass bei einem Bäumchen, das sich, infolge einer entsprechenden Befestigung, unter dem Einfluss des Windes nur nach Nord und Süd bewegen konnte, der Durchmesser ın Richtung der Bewegung zu dem dazu senkrechten sich verhielt wie 13:11. Der Versuch dauerte vom Winter bis zum darauffolgenden Herbst. Sachs (15) gibt hierfür die folgende Erklärung. Durch das Hin- und Herbiegen wurde die Rinde jedesmal auf der konvexen Seite gedehnt und so gelockert, wodurch eine Verminderung des Rindendruckes an diesen Stellen bedingt war. Eine Folge des schwächeren Rindendruckes ewar dann das stärkere Dickenwachstum. Knight selbst suchte die Erschei- nung auf Verschiedenheiten in der Ernährung zurückzuführen. Eine ähnliche Anschauung wie Sachs hat auch Nördlinger (16). Ein- seitige Förderung des Dickenwachstums soll nach ıhm ferner durch einseitiges Aufreißen der Rinde und dadurch hervorgerufene Ver- minderung des Rindendruckes bedingt sein können. Die Unrichtig- keit der Rindendrucktheorie wurde, wie schon früher erwähnt, von Krabbe erwiesen. 4. Wind. Nach Nördlinger (16) ist auf exponierten Punkten des Berg- oder Hügellandes, sowie in Alleen, welche keinen Schutz gegen den herrschenden Sturm haben, die Exzentrizität in die Augen springend und erklärt sich „durch teilweise Lähmung der das Kambium einengenden Rinde auf der dem Winde zu- und der vom Wind abgekehrten Seite“. Hartig (21) führt an, dass die Fichten in der Umgebung Münchens auf der dem Wind entgegen- gesetzten Seite die breiteren Ringe und das festere Holz besitzen. Wenn er dann weiter schreibt: „Es handelt sich dabei im wesent- lichen um eine Reaktion des Baumes gegen den Druck, den der Wind ausübt, und dem durch breite Ringe und Festigkeit des Holzes auf der entgegengesetzten Baumseite entgegengewirkt wird,“ so gibt er hiermit nur eine Umschreibung der Beobachtungstatsache, nicht aber eine Erklärung. Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstums. 265 5. Längsdruck. Schon aus der eben angeführten Stelle geht hervor, dass Hartıg die Exzentrizität auf den durch den Wind ausgeübten Längsdruck zurückführen will. Etwas deutlicher drückt er sich an einer anderen Stelle derselben Abhandlung aus: „Der Druck des Windes übt einen Reiz auf das Plasma der Kambium- schicht aus, welche in zweckentsprechender Weise durch gesteigertes Wachstum (und durch Diekwandigkeit der Organe) auf diesen Reiz reagiert.“ Es wird aber nirgends auseinandergesetzt, worin die Zweckmäßigkeit dieser Reaktion bestehen soll und somit die teleo- logische Erklärung nicht gefördert, auch der kausal-mechanische Zusammenhang zwischen Wind und gefördertem Dickenwachstum bleibt so dunkel wie zuvor. Dass auf der vom Wind abgekehrten Seite ein Längsdruck ausgeübt wird, ıst klar, aber der Nachweis, dass dieser Längsdruck das Wachstum steigert, fehlt. Eingehender beschäftigte sich Schwarz (17) mit dieser Frage; derselbe kommt nach Verarbeitung eines reichen Untersuchungsmateriales zum Schlusse, dass „der Druck als alleinige Ursache des exzentrischen Dickenwachstums der Kiefer anzusehen“ ist. „Jene Seiten, auf welche ein Zug ausgeübt wird, bleiben im Wachstum sehr zurück, während an der Druckseite das Wachstum in abnormer Weise ge- steigert wird.“ Es ist nun allerdings richtig, dass bei der Kiefer in der Regel das stärkere Dickenwachstum auf der Druckseite liegt, aber von dieser Regel gibt es Ausnahmen, welche zeigen, dass die Schwarz’sche Hypothese selbst für die Kiefer nicht zutrifft. So sind bajonettartig verbogene Stämme nach dem Prinzip der Aus- gleichung der Krümmungen gebaut, wobei das stärkere Dicken- wachstum bald auf die Druck-, bald auf die' Zugseite zu liegen kommt. Stämme, die in einer Ebene hin- und herpendeln, zeigen in dieser Ebene das stärkste Dickenwachstum, während nach Schwarz der Querschnitt kreisförmig sein müsste. Ich habe früher (23) an Hand eines von Schwarz abgebildeten Querschnittes gezeigt, dass das Dickenwachstum in diesem Falle auf der Zugseite um ebensoviel vermindert wurde, als es auf der Druckseite eine Förderung erhielt. Wenn aber der Zug das Dickenwachstum um gleich viel hemmt als der Druck dasselbe fördert, so müssten bei einem gleichmäßig hin- und herpendelnden Baum die Reize, die eine Kambiumzelle erfährt, in ihrer algebraischen Summe gleich Null sein und die Tätigkeit des Kambiumringes an allen Stellen dieselbe bleiben. 6. Ernährung. Die erste Ernährungshypothese stellte Knight (6) im Jahre 1803 auf. Die Verdiekung des Stammes der Apfelbäumchen, die in einer Ebene hin- und herpendelten, war hauptsächlich in der Bewegungsebene erfolgt, was auf die Er- leichterung der Saftbewegung zurückgeführt wurde. Die Tatsache, dass auch Stämme, die sich nicht vornehmlich in einer bestimmten 265 Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstums. Richtung bewegen, starke Exzentrizität besitzen, weist auf die Un- wahrscheinlichkeit des Erklärungsversuches hin. Seine Unrichtig- keit geht aus der allgemeinen Besprechung der Ernährungshypo- thesen hervor. Nach Hartig (22) wandern die auf einer bestimmten Seite der Baumkrone erzeugten Stoffe genau in lotrechter Richtung abwärts, wenn der Längsverlauf der Organe ein lotrechter ist und keine Hindernisse in der Abwärtsbewegung eintreten. „Zeigt der Baum Drehung, dann bewegen sich auch die Bildungsstoffe in einer spiraligen Richtung um den Stamm abwärts. Aus dem Gesagten erklären sich mannigfache Erscheinungen der Exzentrizität des Jahrringbaues. An einseitig beasteten oder beleuchteten Bäumen entwickelt sich in der Regel der größere Zuwachs an der beasteten Seite, doch kommen häufige Ausnahmen vor, die wahrscheinlich auf den schrägen Verlauf der Organe zurückzuführen sind.“ Später erwähnt Hartig (20) eine Fichte, welche einseitig beastet war, aber — infolge einseitiger Windwirkung — auf der Seite schwächerer Beastung stärkeres Dickenwachstum zeigte. Hieraus geht aufs neue hervor, dass eine genügende Ernährung nur einer der Fak- toren ist, die das Wachstum ermöglichen, dass aber andere Momente darüber entscheiden, ob Wachstum stattfindet und wie es vor sich geht. Die bei Besprechung der Hyponastie angeführten allgemeinen Erörterungen gelten natürlich in gleicher Weise für diesen Fall und brauchen nicht wiederholt zu werden. Schon früher hatte auch Kny (19, p. 30) die Ansicht ausgesprochen, dass eine ein- seitige |Förderung der Belaubung eine entsprechende einseitige Begünstigung des Diekenwachstums zur Folge haben müsse. Alle übrigen Autoren, die sich darauf beschränkten, den Zusammenhang zwischen exzentrischem Wachstum und einseitiger Kronen- und Wurzelausbildung zu studieren, kann ich hier übergehen, da sie sich mit der Feststellung der Tatsachen begnügten, ohne den Versuch einer Erklärung zu machen. Von diesen kausal-mechanischen Erklärungsversuchen beziehen sich nur wenige auf das Gesamtgebiet des exzentrischen Dicken- wachstuns, die meisten beschränken sich auf die Stämme oder auf die Äste und können auch in letzterem Falle nur für Epinastie öder nur für Hyponastie Geltung haben. Schon a priori können alle jene Erklärungsversuche, die nur für einen oder einige der genannten Spezialfälle bestimmt sind, kein großes Vertrauen bean- spruchen, denn entweder waren dem betreffenden Autor die übrigen ‘ Fälle exzentrischen Dickenwachstums überhaupt nicht bekannt oder sie wurden absichtlich unberücksichtigt gelassen. Eine Erklärung des exzentrischen Diekenwachstums muss sich aber auf alle seine Erscheinungsformen erstrecken. Vom kausal-mechanischen Stand- punkt aus liegt eine solche Erklärung zurzeit nieht vor, ja sie ıst Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstums. 267 sogar, wie wir gesehen haben, nicht einmal für einen der Spezial- fälle vorhanden. Hier ist noch zu bemerken, dass Wiesner neben äußeren Faktoren auch innere Ursachen für das Zustandekommen der Exzentrizität verantwortlich macht. B. Teleologische Erklärungsversuche. Nachdem im ersten Abschnitt gezeigt worden war, dass eine kausal-mechanische Erklärung zurzeit nicht möglich ist, sollen nun die teleologischen Erklärungsversuche einer kritischen Besprechung unterzogen werden. | a) Hyponastie. Die von mir zuerst im Jahre 1900 (23) und später 1901 (24) ausgesprochene Vermutung, die Verlegung des Diekenwachstums auf die Unterseite hänge bei nach unten gebogenen Ästen mit der Materialersparnis zusammen und lasse sich auf diese Weise teleo- logisch erklären, hat sich nicht bestätigt. Es muss allerdings zu- gegeben werden, dass zu einer bestimmten Verdiekung der Konkav- seite weniger Material verbraucht wird als zur Anbringung einer entsprechenden Verdickung auf der konvexen Seite und es ist auch anzunehmen, dass bei der sonst so ökonomischen Verwendung des Materials beim Aufbau der Stämme und Äste in diesem Punkte keine Ausnahme gemacht wird, falls nicht aus anderen Gründen ein abweichendes Verhalten vorteilhafter erscheint. Dieses ab- weichende Verhalten findet sich nun aber tatsächlich ın der Natur; als Beispiel mögen die nach oben gekrümmten Koniferenstämme und Äste dienen, die hyponastisch sind. Eine genauere Prüfung zeigte, dass das Prinzip vom der möglichst ökonomischen Verwen- dung des Baumaterials in diesen Fällen nur scheinbar nicht be- folgt wird. Bereits im Jahre 1901 hatte ich die Vermutung ausgesprochen, es könnte vielleicht bei einem exzentrisch gebauten Ast die Biegungs- festigkeit in der natürlichen Lage eine größere sein als in der inversen. Die damals ausgeführten Versuche zeigten auch, dass an dem untersuchten Balken von Fraxinus die Biegungsfähigkeit in der einen Lage kleiner war als in der um 180° gedrehten, aber über das Verhältnis der Bruchfestigkeit in den verschiedenen Rich- tungen konnte natürlich durch diese Experimente nichts ermittelt werden. Einen wesentlichen Fortschritt bedeutet in dieser Be- ziehung die von Sonntag (27) eingeführte Versuchsmethode, nach welcher die Zug- und Druckfestigkeit der Gewebe auf der Ober- und Unterseite des Astes bestimmt wurde. Es zeigte sich, dass bei Picea das Holz auf der Oberseite, also auf der Zugseite, zug- fester ist als das Holz auf der Unterseite, der Druckseite, während umgekehrt die Druckfestigkeit des Holzes auf der Unterseite größer ist als auf der Oberseite. Aus diesen Versuchsresultaten ergibt 968 Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstums. sich eine teleologische Erklärung dafür, dass das Rotholz auf der Unterseite und das Weißholz auf der Oberseite sich findet, aber wozu mehr Rotholz als Weißholz gebildet wird, also die Zweck- mäßigkeit der Hyponastie der Picea-Äste ist hieraus nicht ersicht- lich. In meiner letzten Arbeit über diesen Gegenstand (26) glaube ich nun endlich die Antwort auf diese Frage gefunden zu haben, indem ich die Größe der Druckfestigkeit der Unterseite mit der Größe der Zugfestigkeit der Oberseite verglich, und nicht, wie das bisher geschehen war, die Druckfestigkeit auf der einen Seite mit der Druckfestigkeit auf der anderen und die Zugfestigkeit auf der einen Seite mit der Zugfestigkeit auf der anderen. Es zeigte sich, dass bei dem untersuchten stark hyponastischen Picea-Stamm die Druckfestigkeit des Druckholzes geringer war als die Zugfestigkeit des Zugholzes. In diesem Falle und in ähnlichen Fällen ist die Hyponastie deshalb zweckmäßig, weil auf diese Weise die geringere Qualität durch größere Quantität ersetzt wird. Dass aber außerdem auch das Prinzip der Materialersparnis eine Rolle spielen kann, indem es imstande ist, die Hyponastie zu schwächen und sogar in Epinastie überzuführen, habe ich früher dargetan (25). Es geschah dies bei der Besprechung schlangen- förmig gekrümmter Äste und Stämme, die in ihrem Dickenwachs- tum das Prinzip der Ausgleichung der Krümmungen befolgen, das sich dureh die damit verbundene Materialersparnis als sehr zweck- mäßig erweist. b) Epinastie. In ähnlicher Weise, wie die für die Hyponastie aufgestellte Vermutung erwies sich auch die von mir zu gleicher Zeit für die Epinastie gegebene als unhaltbar. Denn die Voraussetzung, dass Epinastie nur bei nach oben gekrümmten Organen sich finde, für diese aber Regel sei, stimmt mit den Beobachtungen nicht überein. Einmal gibt es nach oben gekrümmte Organe, die hyponastisch sind und dann zeigt sich Epinastie auch an anders gestalteten Or- ganen, wie z. B. an den geraden, horizontalen Eriodendron-Ästen. Später fand ich dann, dass eine Vergleichung der Druck- und Zug- festigkeit auf den beiden antagonistischen Seiten zu einer teleo- logischen Erklärung der Exzentrizität der Eriodendron-Äste führt; die Zugfestigkeit der Zugseite ist in diesem Falle geringer als die Druckfestigkeit der Druckseite und es ist daher zweckmäßig, dass durch eine stärkere Verdickung der Oberseite die geringere Qualität durch größere Quantität ersetzt wird. Die Festigkeitsverhältnisse sind denen von Picea gerade entgegengesetzt und es ist daher klar, dass auch das Diekenwachstum im umgekehrten Sinne verläuft. Falls Differenzen zwischen der Zug- und Druckfestigkeit nicht bestehen oder klein sind, so können auch andere Faktoren dafür maßgebend sein, welche Art des Diekenwachstums eingeschlagen Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Diekenwachstums. 269 wird. Bei dem untersuchten, einfach gebogenen Fagus-Stamm liegen die Festigkeitsverhältnisse annähernd so, wie das eben ange- nommen wurde und es erklärt sich daher, dass das Dickenwachs- tum, dem Prinzip der Materialersparnis entsprechend hauptsächlich auf der konkaven Seite, als Epinastie, erfolgt, besonders da hier- durch noch eine, wenn auch geringe Verkürzung des Hebelarms bewirkt wird, mit dem das Gewicht von Stamm und Krone wirkt. Die Epinastie der Bretterwurzeln endlich ist leicht verständlich, da bei dieser Art des Diekenwachstums der Bodendruck nicht zu überwinden ist und die Biegungsfestigkeit des Stammes natürlich mehr erhöht wird, wenn das stützende Brett über dem Boden sich findet, als wenn es in denselben eingewachsen ist. e) Exzentrisches Dickenwachstum vertikaler Organe. Es ist von vornherein klar, dass die für die Hyponastie und Epi- nastie gegebene teleologische Erklärung ohne weiteres auf vertikale Organe auszudehnen ist. Der Unterschied besteht nur darin, dass die biegende Kraft hier nicht die Schwerkraft ist (einseitige Kronen- ausbildung ausgenommen), sondern der Wind. Für den Baum kommt es selbstverständlich nicht auf die Natur der biegenden Kraft an, sondern einzig auf die Richtung und Größe der Kraft. Wir werden daher auch hier auf der Zugseite schwächeres Dickenwachstum haben, wenn ihre Zugfestigkeit größer ist als die Druckfestigkeit der Druckseite. Wenn die Festigkeitsverhältnisse umgekehrt liegen, wird auch die Zugseite im Wachstum gefördert sein und wenn endlich die Differenzen klein sind oder ganz fehlen, so werden an- dere Faktoren den Ausschlag geben. ' Ist der Stamm verbogen, bajonettartig oder schlangenförmig, dann kommt noch das Prinzip der Krümmungsausgleichung in Be- tracht, durch dessen Befolgung nicht ‘nur an Material gespart, sondern auch die durch jede Krümmung bedingte Biegungskraft eliminiert wird. Früher als die Spezialfälle hatte die Erscheinung des exzen- trischen Diekenwachstums im großen und ganzen eine teleologische Erklärung gefunden. Bereits im Jahre 1900 (23) wies ıch darauf hin, dass die Epinastie, die Hyponastie und die Exzentrizität verti- kaler Organe ein Schutzmittel gegen Biegung vorstellen und später (24) ging ich auf die Besprechung der hierdurch bedingten Zweck- mäßigkeit näher ein. Allerdings wurde durch diese Untersuchungen nur dargetan, wozu der mit exzentrischem Wachstum verbundene elliptische Quer- schnitt dient und welchen Zweck die Verlegung der großen Achse der Ellipse in die Richtung der biegenden Kraft hat. Dies ist aber auch das einzige Merkmal, das den verschiedenen Fällen des 970 Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Dickenwachstums. exzentrischen Diekenwachstums gemein ist. Eine einfache, theo- retische Betrachtung zeigte ferner, dass allfällige Abweichungen von dieser Regel keine wirklichen Ausnahmen zu sein brauchen, da derselbe Zweck ebensogut auf andere Weise erreicht werden kann. Tritt an die Stelle eines elliptischen Querschnittes, also einer größeren Massenproduktion in Richtung der biegenden Kraft eine bessere qualitative Ausbildung der Gewebe, so vermag der runde Querschnitt dasselbe zu leisten. Später hat dann besonders Sonntag (27) diese und ähnliche Fragen eingehend behandelt und meine theoretischen Betrachtungen durch experimentelle Unter- suchungen bestätigt. Haberlandt weist in der 3. Auflage seiner Pflanzenanatomie (29) darauf hin, dass er bei Erwähnung der starken vertikalen Abplattung der Astbasis einiger Kandelaberbäume (28) die dadurch bedingte Erhöhung der Biegungsfestigkeit hervorgehoben habe. Die betreffende Stelle war mir allerdings nicht bekannt; dagegen schrieb Haberlandt drei Jahre später (29, 2. Aufl.), dass sich nicht sagen lasse, ob mit dem exzentrischen Dickenwachstum der Zweige und Äste ein biologischer Vorteil verbunden ist. Hartig (21) sagt zwar, dass beim exzentrischen Bau des Fichten- stammes der Baum in zweckentsprechender Weise auf den äußeren Reiz reagiere, er gibt aber nicht an, worin die Zweckmäßigkeit liegt. Wir haben gesehen, dass es zurzeit nicht möglich ist, das exzentrische Diekenwachstum kausal-mechanisch zu erklären, dass aber eine teleologische Erklärung sowohl für die Erscheinung im großen und ganzen, als auch für die einzelnen Spezialfälle vorliegt. Die experimentellen Untersuchungen, welche der Erklärung der Spezialfälle zugrunde liegen, beziehen sich allerdings erst auf einige wenige exzentrische Organe, welche als möglichst typische Bei- spiele für die verschiedenen Arten des Dickenwachstums ausgewählt wurden. Es muss die Aufgabe weiterer Untersuchungen sein, diese Versuche auf möglichst viele Spezies auszudehnen. Für die Richtig- keit der gegebenen Erklärung spricht das zurzeit bekannte Tat- sachenmaterial, dann aber auch schon von vornherein ihre logische Herleitung aus einfachen mechanischen Prinzipien und ihre Zurück- führung auf umfassende und allgemein gültige Naturgesetze. Um eine möglichst ökonomische Verwendung des Baumaterials handelt es sich, wenn der regelmäßige Fichtenstamm und seine Äste als Träger von gleichem Widerstand ausgebildet sind, wenn die An- ordnung der mechanischen Elemente in den zug-, druck- und biegungsfesten Organen nach den Regeln der Mechanik erfolgt, wenn ein Organ in Richtung der biegenden Kraft einen größeren Durchmesser besitzt als in der dazu senkrechten, wenn in bajonett- oder schlangenförmig gekrümmten Stämmen das Dickenwachstum nach dem Prinzip der Ausgleichung der Krümmungen vor sich geht und die Druckfestigkeit der Druckseite der Zugfestigkeit der Zug- Ursprung, Die Erklärungsversuche des exzentrischen Diekenwachstums. 271 seite durch exzentrisches Wachstum möglichst gleich gemacht wird. Immer läuft es darauf hinaus, mit dem zu Gebote stehenden Material die größtmöglichste Festigkeit zu erzielen. Zum Schlusse mögen noch einige Bemerkungen über die Ter- minologie beigefügt werden. Ich habe absichtlich die alten, von Schimper eingeführten Bezeichnungen Epinastie und Hyponastie beibehalten, obschon sie ja nachher auch für eine ganz andere Wachstumserscheinung gebraucht wurden und daher die Gefahr eines Missverständnisses nicht ausgeschlossen ist. Es ist jedoch immer leicht, durch einen kleinen Zusatz jede Zweideutigkeit zu vermeiden; gewöhnlich aber wird sich aus dem Zusammenhang ohne weiteres ergeben, welche Art Epi- oder Hyponastie gemeint ist. Die von Wiesner vorgeschlagenen und von ihm und seinen Schülern seitdem angewendeten Ausdrücke Epitrophie und Hypo- trophie schließen die Annahme in sich, dass die Erscheinung auf einseitig gesteigerter Ernährung beruhe (13, p. 486) und wären da- her sehr gut gewählt, wenn die Annahme richtig wäre; nun wurde aber gezeigt, dass das exzentrische Diekenwachstum nicht auf Er- nährungsdifferenzen beruht, und damit ist denn auch das Urteil über die Anwendbarkeit dieser Ausdrücke gegeben. Denn entweder soll der für eine Erscheinung gebrauchte Terminus gar nichts ent- halten, was auf die Erklärung hindeutet, oder aber das richtige. Freiburg (Schweiz), März 1906. Literaturverzeichnis. 1. Decandolle, Pflanzenphysiologie, übersetzt von Röper. 18533. 2. Hugo von Mohl, Einige anatomische und physiologische Bemerkungen über das Holz der Baumwurzeln. Bot. Ztg. 1862. 3. G. Kraus, Die Gewebespannung des Stammes und ihre Folgen. Bot. Ztg. 1867. 4. Muschenbroeck, Introductio ad philosophiam naturalem. 1762. 5. Wilhelm, Unterhaltungen aus der Naturgeschichte. 1810. Bd. I, p. 141. 6. Knight, Nachricht von einigen Versuchen über das Absteigen des Saftes in den Bäumen. 1803. Ostwald’s Klassiker Nr. 02. 7. Musset, Comptes rendus. Vol. 65, p. 1867. 8. Krabbe, Über das Wachstum des Verdiekungsringes und der jungen Holz- zellen in seiner Abhängigkeit von Druckwirkungen. Abhandl. d. Berliner Akad. 1884. 9. Krabbe, Über die Beziehungen der Rindenspannung zur Bildung der Jahres- ringe und zur Ablenkung der Markstrahlen Sitzungsber. d. Berliner Akad. 1882. x 10. Gabnay, A fäk exczentriezitäsa, 1892. Ref. in Just’s Jahrb. XX, 1. 11. Wiesner, Beobachtungen über den Einfluss der Erdschwere auf Größen- und Formverhältnisse der Blätter. Sitzungsber. d. Wiener Akad. 1868. 12. — Untersuchungen über den Einfluss der Lage auf die Gestalt der Pflanzen- organe, Sitzungsber. der Wiener Akad. Bd. CI, Abt. 1. 1892. 13. — Über Trophien, nebst Bemerkungen über Anisophyllie. Ber. d. Deutsch. Bot. Ges. 1895. 14. Detlefsen, Versuch einer mechanischen Erklärung des exzentrischen Dicken- wachstums verholzter Achsen und Wurzeln. Schulprogramm, Wismar 1881. 973 Popoff, Fischfärbung und Selektion. 15. Sachs, Lehrbuch der Botanik. 3. Aufl., 1873. 16. Nördlinger, Ovale Form des Schaftquerschnittes der Bäume. Centralbl. f. d. ges. Forstwesen. 1882. 17. Schwarz, Dickenwachstum und Holzqualität von Pinus silvestris. Berlin 1899. 18. Kny, Uber das Dickenwachstum des Holzkörpers ete. Sitzungsber. d. Ges. naturf. Freunde. Berlin 1877. 19. — Über das Diekenwachstum des Holzkörpers. Berlin 1882, 20. R. Hartig, Das Rotholz der Fichte. Forstl. nat. wiss. Zeitschr. V. Jahrg. 1896. 21. — Forstl. nat. wiss. Zeitschr. V. Jahrg. 1896. 2. Heft. 22. — Lehrbuch der Anatomie und Physiologie der Pflanzen. 1891. 23. Ursprung, Beiträge zur Anatomie und Jahresringbildung tropischer Holz- arten. Dissertation. Basel 1900. 24, — Beitrag zur Erklärung des exzentrischen Dieckenwachstums. Ber. d. Deutsch. Bot. Ges. 1901. 25. — Untersuchungen über das exzentrische Diekenwachstum an Stämmen und Ästen. Beihefte z. Bot. Centralbl. 1905. 26. — Untersuchungen über die Festigkeitsverhältnisse an exzentrischen Organen und ihre Bedeutung für das exzentrische Diekenwachstum. Beihefte z. Bot. Centr. 1906. 27. Sonntag, Über die mechanischen Eigenschaften des Rot- und Weißholzes der Fichte und anderer Nadelhölzer. Jahrb. f. wiss. Bot. 1903. 28. G. Haberlandt, Eine botanische Tropenreise. 1893. 29. — Physiologische Pflanzenanatomie. Fischfärbung und Selektion. Von M. Popoff. Die merkwürdigen Erscheinungen der Färbungen im Tier- und Pflanzenreich haben bekanntlich bei deszendenztheoretischen Speku- lationen eine große Rolle gespielt und speziell für die Selektions- lehre wichtiges Beweismaterial geliefert. Ich brauche hier nur an die Fälle von Mimikry und sympathische Färbung bei Vögeln, Säugetieren und Insekten hinzuweisen. Um so verwunderlicher ist es, dass man bisher eine Gruppe des Tierreichs nahezu ganz un- berücksichtigt gelassen hat, bei welcher eine ganz auffallende Ein- heitlichkeit der Färbung zu Erklärungsversuchen geradezu heraus- fordert. Ich meine die umfangreiche Gruppe der Fische. In dieser Gruppe nämlich, welche vom ersten Blick an eine außerordentliche Mannigfaltigkeit der Färbung aufweist, ist eine unverkennbare Regel- mäßigkeit im Erscheinen von einigen Farbentönen zu bemerken: fast alle Fische haben einen silberglänzend gefärbten Bauch, wäh- rend die Rückenseite meist dunkel abgetönt ist. Zwar gibt es Ausnahmen von der hier aufgestellten Regel. Es kommt vor, dass der Silberglanz der Bauchseite durch einen, mehr oder minder ausgebildeten, mattgelben Schleier bedeckt ist. Diese Änderung des Glanzes der Bauchfärbung tritt besonders deutlich hervor, wenn man pelagische Meeresfische mit solchen vergleicht, die in großen Flüssen, in Teichen und in nicht besonders kristallklaren Seen leben: die pelagischen Meeresfische sind wunder- u ce ei Popoff, Fischfärbung und Selektion. 273 voll silberglänzend, während bei den letzteren diese Färbung durch eine gelblich schimmernde ersetzt ist. Weitere Ausnahmen sind z. B. in der Familie der Salmoniden gegeben, Fischen, die trotz der Durchsichtigkeit des Wassers viel- fach eine braune, rötliche oder eine andere dunkle Färbung auf- weisen. Der Lebensweise nach sind aber einige von diesen Arten Nachtfische (suchen sich die Nahrung vorwiegend in der Nacht, z. B. Salmo fario), andere dagegen leben versteckt unter Steinen, Wurzeln, Wasserpflanzen ete. Als eine dritte Ausnahme von der regulären Silberfärbung nenne ich die Tiefseefische, bei denen eine Differenzierung in der Bauch- und Rückenfärbung gewöhnlich nicht vorhanden ist — der ganze Fisch ist gleichmäßig dunkel gefärbt. Einen Übergang zu den Fischen der Oberfläche bilden Fische, welche oberhalb von 500 m leben und bei denen nur eine Andeutung von Differenzierung der Färbung vorhanden ist —, die Verschiedenheit in Färbung des Bauches und des Rückens ist verschwommen. Die in engem Zusammenhang mit der Klarheit des Wassers mit großer Regelmäßigkeit wiederkehrende silberglänzende Bauch- färbung der Fische drängt unwillkürlich zu der Idee, dass sie nicht Ausdruck einer zufälligen Erscheinung sein kann. Es muss irgend eine wirksame Ursache da sein, welche die große Gesetzmäßigkeit hervorgerufen hat. Da die silberglänzende Färbung eine konstante Verteilung aufweist, muss sie von irgendwelchem Vorteil für das Individuum sein, sie muss unter dem starken Einfluss der natür- lichen Zuchtwahl gestanden sein und heute noch sich unter ihm befinden, — diesem Einfluss, der nicht nur nötig ist, um ein Merk- mal bis zu einer gewissen Vervollkommnung zu bringen, sondern dessen stete Wirkung auch unentbehrlich ist für die Erhaltung des einmal gewonnenen Standes. i Eine ın dieser Richtung versuchte Erklärung wird nur dann als genügend und annehmbar betrachtet werden können, wenn sie nicht nur den Zusammenhang von silberglänzender Färbung und der Klarheit des Wassers mit allen seinen Modalitäten befriedigend erklärt, sondern wenn man auch die so stark ausgeprägten, oben aufgeführten Abweichungen von der Norm von ihr aus verständlich machen kann. Bei der Besprechung der ‘in der Literatur vorliegenden Ver- suche, die Färbung der Fische zu erklären, sehe ich von den Fällen ab, in denen auffällige, meist bizarre Färbungen und Formen, z. B. Form und Färbung von Phyllopteryx eques, Antennarius marmoratus, Lophius etc. aus den besonderen Lebensbedingungen der betreffen- den Tiere, meist im Sinne der Mimikrylehre erklärt worden sind. Ich verweise ın dieser Hinsicht auf die Arbeiten von Darwin, Wallace, Pouchet, Marquis de Folin, Prince u. a. XXV]. 1S TA Popoff, Fischfärbung und Selektion. Mit dem Silberglanz beschäftigt sich Mandoul. Er sucht den chemisch-physikalischen Ursachen, welche das Auftreten der silber- glänzenden Färbung verursachen, näher zu kommen und findet einen engen Zusammenhang zwischen den sogen. „pigments de la serie urique“, zu denen auch das Guanin gehört, und der Vervoll- kommnung der exkretorischen Organe. „Leurs abondance (der „pig- ments urique*) est en rapport avec un developpement incomplet de l'appareil excereteur et correspond vraisemblablement a une epuration insuflisante ... Les dechets imparfaitement @limines chez les Vertebres inferieurs, sS’accumulent dans l’organisme et vont se fixer dans les teguments notamment oü ıls sont utilises secon- dairement dans la coloration. La peau supplee le rein insuffisant* (p. 372 — Recherches sur les colorations tegumentaires — Ann. Sc. N. T. 18). Trotz dieser rein chemischen Erklärung der ersten Entstehung der sıilberglänzenden Färbung, gibt der Verfasser zu, dass dieselbe, einmal die Farbe vorhanden, durch die natürliche Zuchtwahl weiter fixiert und entwickelt werden kann (p. 422). Später werde ich nochmals die Gelegenheit haben, auf die Wir- kung der chemisch-physikalischen Ursachen zurückzukommen. Man könnte auch daran denken, die Erklärung, welche Tayer für die helle Farbe der Bauchseite der Wüstentiere gegeben hat, auf die Färbung der Fische anzuwenden. Eine derartige Erklärung verlangt jedoch nur eine lichte Färbung der Bauchseite, dass an- statt dieser Färbung ein intensiver Silberglanz vorliegt, würde un- berücksichtigt bleiben. Ebenso würden eine Menge charakteristischer Züge in den Lebensbedingungen und dem Bau der Fische keine Berücksichtigung finden, auf die ich genauer eingehe, weil sie für die folgenden Auseinandersetzungen von Wichtigkeit sind. Erstens, — die seitliche Stellung der Augen (Ausnahme davon machen nur die Fische aus der Familie der Pleuronectidae, —- Pleuro- nectes, Rhombus), die Unbeweglichkeit des Kopfes, die nicht be- sonders große Beweglichkeit der Augen selbst und das Weasser- leben, bringen es mit sich, dass die Sehverhältnisse der Fische von denen der anderen Tiere etwas abweichen: die Fische werden: die Wasseroberfläche und die in höheren Wasserschichten schwimmende Beute immer unter einem gewissen Winkel sehen; in diesem Fall aber wird der Verfolger nur den Bauch und die Seiten ' des ver- folgten Fisches sehen. Die in der gleichen Wasserschicht schwim- menden Fische werden zwar ganz gesehen, aber diesen letzten Fall können wir ganz außer acht lassen, da es bekannt ist, dass in der- selben Wasserschicht fast nur gleich große Fische schwimmen, die als Nahrung ihresgleichen gar nicht in Betracht kommen, weil die größeren Fische, welche die kleineren verfolgen, gewöhnlich auch tiefer schwimmen und dadurch ihre Beute immer unter einem ziemlich großen Winkel sehen. Popoff, Fischfärbung und Selektion. MER ELD Neben diesen Sehverhältnissen der Fische ist ein zweites wichtiges Moment die Beleuchtung des Wassers, Für die Beleuchtung des Wassers kommen nur die in das Wasser eingedrungenen Sonnenstrahlen in Betracht, deren Zahl von der Größe des Einfallswinkels abhängig ist. Von den senkrecht auf die Wasseroberfläche fallenden Strahlen werden nur 18 von 1000 wieder in der Luft reflektiert, alle übrigen dagegen dringen in das Wasser ein. Wenn aber die gleiche Strahlenmenge unter einem Winkel von 40° die Wasseroberfläche erreicht, dann werden 22 von 1000 wieder reflektiert. Die Zahl wächst von 65 auf 1000 bei einem Einfallswinkel von 60°, bei 80° dagegen erreicht sie schon 333 von 1000. — Die Stärke der Beleuchtung wird aber auch durch die Wölbungen, die die immer etwas unruhige Wasserober- fläche aufweist, und die als konvexe Linsen wirken, erhöht (Forel)?). Die Tiefe, die das in das Wasser eingedrungene Licht erreicht, ist auch verschieden und hängt von der Klarheit des Wassers ab. Forel hat gefunden, dass das Wasser der Seen stets größere Mengen von suspendierten Partikelchen enthält und infolgedessen nicht so durchsichtig als das Meereswasser ist. In dem Genfersee z. B. ist: die Sehgrenze durchschnittlich 6,6 m während des Sommers und 12 m während des Winters (bei diesen Zahlen ist der Sonnen- stand außer acht gelassen). Die im Jahre 1866 von Secchi ge- gemachten Beobachtungen stellen die Sehgrenze im Mittelmeere auf 35,5 m bis 42,5 m fest, und de Pourtales findet diese Grenze in dem Atlantischen Ozean 50 m tief liegen?). Von den ange- führten Sehgrenzen nach der Tiefe zu nimmt die Beleuchtung des Wassers allmählich ab, um schließlich in volle Dunkelheit überzu- gehen. Diese Grenze, bei welcher also nicht einmal mehr die photo- graphische Platte das Licht wahrnehmen kann, liegt im Genfersee 150 m tief. Die Wasserschichten aber, in welchen sich gewöhnlich die Fische aufhalten, liegen in der Nähe der Wasseroberfläche. Aus allen diesen Angaben geht deutlich hervor, dass die Be- leuchtung des Wassers sehr stark ist. Für das Aussehen aber, welches die Oberfläche des Wassers dem Fische bietet, ist nicht das 'eingedrungene Licht als solches maßgebend, sondern der Teil desselben, welcher nach aufwärts, durch die in dem Wasser suspen- dierten Partikelchen, reflektiert wird. Alle Strahlen, die dabei die Wasseroberfläche unter 'einem Winkel, bei dem die Erscheinung der Totalreflexion auftritt (dieser Winkel beträgt 48°, oder wenn man den Salzgehalt des Wassers berücksichtigt — 45°—48°, er- 1) Müller, Lehrbuch der Physik. 2) Forel — Le lac Leman. 3) Obgleich wegen der verschiedenen Versuchsanordnung die Zahlen von Forel, Secchi und de Pourtal£&s nicht ganz präzis vergleichbar sind, so lassen sie doch die größere Durchsichtigkeit des Meeres zur Genüge hervortreten. 18° 976 Popoff, Fischfärbung und Selektion. reichen, werden durch die letztere ins Innere des Wassers wieder- gespiegelt, wodurch die Wasseroberfläche matt silberglänzend er- scheinen wird. Die oben erwähnten Sehverhältnisse der Fische bringen es mit sich, dass der Fisch die Wasseroberfläche gewöhnlich unter einem B [ | N = “ u i . RanT Beh | \ / Vz Saguldau a yo Winkel sieht, bei dem die Erscheinung der Totalreflexion auftritt (die Fälle dagegen, wo die Lichtstrahlen in dem Kegel ABC hinein- fallen, werden ziemlich selten sein, und dann wird der Fisch eine stark beleuchtete Oberfläche sehen)!), folglich sieht er auch die Wasseroberfläche vorwiegend mehr oder minder. silberglänzend. Unter dem gleichen Winkel wird er aber auch den silberglänzend gefärbten Bauch seiner Beute sehen: der silberglänzend gefärbte untere Teil des Fischkörpers wird sich auf eine gleich silberglänzend erscheinende Wasseroberfläche projizieren, wird, sozusagen, mit dieser silberglänzenden Oberfläche zusammenfließen, und unter Um- ständen nicht sichtbar sein. Jene Fische, welche die Färbung am vollkommensten aufweisen, haben die größte Möglichkeit, den Augen des Verfolgers zu ent- gehen, — die Färbung fällt auf diese Weise unter die Wirkung der natürlichen Zuchtwahl, wird mehr und mehr vervollkommnet und kommt schließlich zu ihrem jetzigen Zustand. — Die im großen ganzen ähnlichen Lebensbedingungen der Fische erklären anderer- seits die weite Verbreitung und die Konstanz der silberglänzenden Färbung. Nichts ist natürlicher als das Auftreten von gleichen Veränderungen bei verschiedenen Individuen, die unter gleichen Existenzbedingungen leben, und nichts ist einheitlicher, als diese Existenzbedingungen in der Klasse der Fische: alle leben in dem Wasser und alle haben als Hauptfeinde wieder Fische, — zwei Ursachen, welche überall und immer denselben schon geschilderten Zusammenhang aufweisen werden. 1) Von hier ausgehend hat man versucht, die hellere Bauchfärbung der F ische zu erklären. Br v 1 Popoff, Fischfärbung und Selektion. DIN Wenn wir aus der verschiedenen Durchsichtigkeit des Meer- und Seewassers hervorgehenden Schlüsse ziehen, und sie im Zu- sammenhang mit der en gemachten Erklärung für die Ursachen der den Fischfärbung bringen wollen, werden wir die folgenden "Schwankimgen in der silberglänzenden Färbung zu er- warten haben: 1. Alle in der Nähe der Wasseroberfläche schwimmenden, ein pelagisches Leben führenden Fische müssen einen stark sılber- glänzenden Bauch haben; 2. mehr in der Tiefe schwimmende Fische werden bläulich- silberglänzend sein müssen, weil mit der Tiefe die Erscheinung der Totalreflexion an Deutlichkeit abnimmt; 3. Fische, welche an der Sehgrenze leben, werden die starke ns zwischen Bauch- und Rückenfärbung nicht aufweisen; 4. die in en Meerestiefen lebenden Fische werden eine gleich- mäßige Färbung haben, weil die nötigen Bedingungen, nl die De der silberglänzenden ebene Ve a dort gänz- lich fehlen; die in trübem Wasser, in Teichen und in Flüssen mit schlammigem Boden lebenden Fische weisen einen gelblichen Schimmer in der Färbung auf, weil in allen diesen Fällen bei der Totalreflexion die mattsilberglänzende Wasseroberfläche durch einen gelblichen Schleier gedämpft wird. Diese gelbliche Schat- u muss mit der Trübung des Wassers ner . die ein Nachtleben führenden Fische, welche zu Vorliebe ım en Boden, ın Löchern, unter Ästen, Steinen u. S. w. versteckt en müssen die silberslänzende Färbung entbehren, weil die dazu nötigen Bedingungen fehlen: 7. die zwischen Wasserpflanzen, Algen und zwischen den Korallenriffen lebenden Fische haben die Färbung des umgebenden Mediums angenommen. In allen diesen Fällen sind die Erschei- nungen der Mimikry und der sympathischen Färbung als nützlicher für das Individuum wirksam geworden; die verschiedenen Gattungen ein und derselben Familie und die verschiedenen Arten ein und derselben Gattung müssen im Zu- sammenhang mit der verschiedenen Klarheit des Wassers, in welchem sie leben, auch eine Verschiedenheit in der Stärke der silber- glänzenden Färbung aufweisen. Diese Verschiedenheit ist mit Sicherheit zu erwarten, weil die von gemeinsamen Ahnen abstam- menden Gattungen ein und derselben an oder die einen ge- meinsamen en ung habenden Arten ein und derselben Fe ungeachtet der Teens dieser Urform, sich ım Laufe der Zeit infolge der durch die ee nedene Wasserklarheit gegebenen Exı- stenzbedingungen auch allmählich ın ver edaner ae ver- ändert haben müssen, bis schließlich die Färbung dem Grad der 278 Popoff, Fischfärbung und Selektion. Klarheit des Wassers sich völlig anpasste. Wenn z. B. zwischen den vielen pelagisch lebenden Gattungen einer vorwiegend Meeres- familie sich auch eine in dem Süßwasser lebende Gattung vorfindet, so muss diese auch eine Verschiedenheit in dem Glanz der Fär- bung aufweisen; — alle Meeresgattungen dagegen, wenn sie ein ausschließlich pelagisches Leben führen, müssen eine überein- stimmende Färbung haben; 8. wenn ein und dieselbe Art sich an verschiedene Lebens- weise angepasst hat, d. i. wenn sie zugleich Vertreter in den Teichen und in den klaren Seen und Flüssen hat, oder, wenn neben den in dem Süßwasser lebenden Individuen sich auch solche vorfinden, die konstant in dem Meer leben, so müssen die veränderten Be- dingungen auch verändernd auf die silberglänzende Färbung ein- wirken: die im trüben Wasser lebenden müssen einen gelblichen Schimmer bekommen und sich dadurch von den rein silberglänzen- den, im klaren Wasser schwimmenden, unterscheiden, die Bewohner des Meeres müssen glänzender als die des Süßwassers sein. Alle diese Fälle von Veränderung in der Färbung im Zusammen- hang mit dem Wechsel der Durchsichtigkeit und der Beleuchtung des Wassers müssen, nach der schon entwickelten Auffassung, mit Notwendigkeit auftreten. Sollten die Tatsachen in der Natur einer dieser Konsequenzen widersprechen, so würde sich die Erklärung als unzureichend erweisen. Darum werde ich einen kurzen Über- blick über die Färbung der Fische geben und gleichzeitig versuchen, die verschiedenen Variationen in der Färbung vom Standpunkt der vertretenen Auffassung aus zu erklären. Dafür, dass die in der nächsten Nähe der Wasseroberfläche schwimmenden Fische gewöhnlich auch am stärksten silberglänzend sind, ist ein Beweis die große, typisch pelagisch lebende Meeres- familie der Ofupeidae mit ihren zahlreichen Gattungen und Arten. — Ferner alle Vertreter der Familie Scomberidae — d.1.: 1. Unter- familie Scomberini mit Gattung Scomber, Auzius, Thynus und Pelamys ; 2. Unterfamilie Carangini mit Gattung Trachurus. Caranz; 3. Unterfamilie Centronotini mit Gattung Nawcrates, Lichia, Sertola, Temnodon ete. ete.. — Hier sind auch die Fische der Gattung Al- burnus, Corregonus u. S. w. zu erwähnen. 2 Als Vertreter der in dem klaren Süßwasser lebenden und in der Nähe der Wasseroberfläche schwimmenden Fische kann die Gattung Gasterosteus mit ihren zahlreichen Arten: @. laevis,; @. aculeatus, G. leiurus u. s. w. angeführt werden. Alle sind stark silberglänzend. Die in tieferen Schichten des klaren Wassers schwimniende Lucioperca sandra ist auch silberglänzend, aber die Farbe ist bläu- lieh angehaucht, — eine Färbung, welche jetzt vollkommen ver- ständlich ist. Popoff, Fischfärbung und Selektion. 279 Interessant ist aber der Farbenwechsel in der großen Familie der Salmonidae, von der ich nur zwei Arten anführen werde, welche die Hauptmerkmale der Familie in sich zusammenfassen: Salmo fario weist fast keine Differenzierung in der Bauch- und Rücken- färbung auf. Der Fisch ist rötlich-braun gefärbt — lebt vorwiegend zwischen Gräsern, Wurzeln, Baumästen und unter Steinen ver- steckt —, manche halten ihn ‚sogar für einen vorwiegend Nacht- leben führenden Fisch. Die für das Auftreten einer starken Diffe- renzierung in der Bauch- und Rückenfärbung nötigen Bedingungen konnten bei dieser Lebensweise nicht vorhanden sein. Der der- selben Gattung angehörende und im Meer pelagisch lebende Salmo salar hat einen silberglänzenden Bauch. Diese beiden angeführten Beispiele zeigen uns zwei von gemeinsamen Ahnen stammende und in verschiedenen Lebensbedingungen gekommene Tiere, welche eine beträchtliche Differenz in der Färbung aufweisen, die in voll- kommenster Übereinstimmung mit den Erwartungen der gemachten Annahme steht. Haben die zwei einer und derselben Gattung angehörenden Arten die gleichen Lebensgewohnheiten, so stimmen sie auch ın der Färbung ganz überein. Das letzte ist der Fall, wenn sogar die betreffenden Arten in ganz verschiedenen Medien leben, d. i. wenn die eine Art Süßwasser-, die andere dagegen Meeresbewohner ist. Ein Beispiel dafür sind Oottus gobio und Cottus bubalis, welche der Familie Triglidae angehören. Die beiden Arten haben eine grünlich-graue Färbung: sie halten sich beide mit Vorliebe zwischen Wassergräsern und Algen auf, — die erste Art ist ein Süßwasser- bewohner, die zweite dagegen lebt im Meere. — Eine andere Gattung, welche Vertreter sowohl im Süß- wie auch ım Meeres- wasser hat, die in den oberen Wasserschichten schwimmen, ist Blennius (Familie Blennüidae). — Die Blennius Rouxi ist stark silberglänzend und lebt in dem klaren Meereswasser, beim blennius cagnotha dagegen, welcher in nicht besonders klarem Süßwasser lebt, ist in der Bauchfärbung eine gelbliche Nuance vorhanden. Diese Gattung weist darauf hin, wie eng der Zusammenhang zwischen Färbung und Klarheit des Wassers ist, trotzdem, dass die beiden Arten das pelagische Leben beibehalten haben. Gleiche Verhältnisse haben wir auch in der Familie Pereidae und hauptsächlich in einer von den drei Unterfamilien: Pereini, Serranini, Apogonini. Drei von den vier Gattungen, in welchen die Unterfamilie Pereini zerfällt, sind See- und Flussbewohner, die vierte Gattung Zabrax dagegen lebt in dem Meer. Die Süßwasser- gattung Perca mit P. fluwiatilis; Gattung Acerina mit A. cernua; die Gattung Aspro mit, A. vulgaris ete. haben eine gelblich- oder gelb-bräunlich gefärbte Bauchseite, da sie ziemlich tief und nicht alle in gleich klarem Wasser schwimmen. Bei den im Meer leben- 280 Popoff, Fischfärbung und Selektion. den Labrax lupus und L. punctatus aber ist die Färbung eine weißlich-silberne. Bevor ich zur Betrachtung der ın den Meerestiefen lebenden Fische (die abyssalen Fische) übergehe, möchte ich die Verhältnisse bei der Familie Gadidae besprechen. Die zwei ihr angehörenden Unter- familien: @adini und Morini sind ausschließlich Meeresbewohner, führen ein pelagisches Leben und alle, ohne Ausnahme, haben eine stark silberglänzende Bauchseite. Ganz anders liegt dagegen der Fall ın der Unterfamilie Zotini. — Die Gattung Lota hat Ver- treter sowohl ım Süßwasser wie auch ım Meere. Der Süßwasser- bewohner Lota vulgaris hat eine dunkelgefärbte Unterseite: — lebt hauptsächlich im Wasser mit schlammigen Boden, — ja sogar im Schlamm versteckt. Die ım Meer lebenden Spezies Lota molva und Zota elongata, welche die gleiche Lebensweise wie die im Süß- wasser lebende aufweisen, stimmen mit den letzteren auch in der Färbung überein; bei den Meeresbewohnern ist nur eine lichtere Nuance in der Färbung vorwiegend. Alle Fische, welche in Tiefen von 1000—5000 m leben, weisen keine Differenzierung in der Färbung der Bauch- und Rückenseite auf: fast alle sind vorwiegend gleichmäßig dunkel gefärbt. Warum die hellen Farben bei den Tiefseefischen nicht vertreten sind, ist eine ganz andere Frage. Wichtig ist für uns, dass mit Ausbleiben der Be- dingungen, welche die silberglänzende Färbung der Bauchseite her- vorrufen, auch die Differenzierung in der Färbung der Bauch- und Rückenseite nicht vorhanden ist. Bei der Färbung der Tiefseefische sind aber auch Unterschiede zu bemerken, auf die ich kurz hinweisen will. Walter erwähnt bei Besprechung der Tiefseefauna, dass in Tiefen von ungefähr 500 m Fische leben, welche einen lichter gefärbten Bauch mit gelblich-braunen, grünlichen oder violetten Nuancen haben. Diese Tatsache lässt sich ın folgender Weise erklären. Die früher von manchen Zoologen vertretene Auffassung, dass der Ursprung der litoralen Fauna in der Tiefseefauna zu suchen sei, ist schon längst gänzlich aufgegeben worden. Nach dieser Auffassung sind die Tiefen des Ozeans als ein enorm großes Laboratorium anzusehen, in welchem die Arten entstehen, um nachher nach der Oberfläche emporzukommen. Heute wird die Tiefseefauna vorwiegend als ein Ableger der litoralen Fauna angesehen, indem allmählich die, durch den Kampf ums Dasein von der Oberfläche nach der Tiefe zu ge- drängten Arten sich, ım Laufe der Zeit, an die ganz anderen Lebens- bedingungen in der Tiefe angepasst haben. Die mehr. als 100 m tief lebenden Fische stellen somit ein Übergangsstadium zwischen der litoralen und der abyssalen Fauna dar. Diese Vermutung findet in der schon besprochenen lichteren Färbung des Bauches seine Bestätigung. Die früher ın der Nähe der Wasseroberfläche leben- Popoff. Fischfärbung und Selektion. 281 den Fische, die einen silberglänzenden Bauch besaßen, haben bei dem allmählichen Zurückdringen in die Tiefen auch nach und nach die silberglänzende Färbung eingebüßt, weil die Bedingungen, welche diese Färbung hervorgerufen haben und deren stete Wirkung für ihre Erhaltung unbedingt notwendig ist, mit dem Zunehmen der Tiefe allmählich ausblieben, die Färbung daher an Deutlichkeit verloren hat und nur durch den starken Einfluss der Vererbung sich als letzte Reste in der lichten Bauchfärbung dieser Übergangs- fischfauna erhalten hat. — Eine Deutung der Tatsachen in umge- kehrtem Sinne ist unmöglich, weil in einer so großen Tiefe die Bedingungen, welche die ersten Spuren von einem lichter gefärbten Bauch hervorrufen können, gänzlich fehlen. Es bleiben mir nur noch jene Fälle zu erwähnen, wo Indi- viduen einer und derselben Art infolge der verschiedenen Lebens- bedingungen eine Variation in der silberglänzenden Färbung aul- weisen. In dieser Beziehung ist der Fisch Lucioperea sandra anzuführen, der. sowohl: als ständiger Bewohner des Meeres, wie auch der Flüsse und Seen bekannt ist. Die silberglänzende Fär- bung der Meeresbewohner tritt bei den Süßwasserbewohnern zu- gunsten einer mehr oder minder, je nach der Klarheit des Wassers, mattglänzenden oder dunkleren Färbung zurück. Ein anderes Bei- spiel: die ständig im Meere lebenden Exemplare von Osmerus eper- lanus sind stark silberglänzend, eine Färbung, die bei den Süß- wasserbewohnern einer mehr dunkleren Platz macht. Gleiche Verschiedenheiten weist auch Thymalus vulgaris auf: „Die starke silberglänzende Färbung der Bauchseite dieses Fisches ist großen Schwankungen unterworfen: bei den in klarem Wasser lebenden Exemplaren ist sie immer heller als bei Individuen, welche in trübem Wasser sich aufhalten“ (Sabanjeeff — „Die Fische Russ- lands“). Ähnliche Verhältnisse zwischen Färbung und Klarheit des Wassers erwähnt auch Heckel. Eine Anzahl anderer Fische: — Salmo salar, Acerinäa cernua, etc. etc., weisen die gleichen Schwan- kungen ın der Färbung auf. Zum Schlusse will ich die Vermutung von Sabanjeeff er- wähnen, der annimmt, dass möglicherweise der Wechsel ın der Fischfärbung in Zusammenhang mit der Nahrung, mit der Frische des Wassers, mit dem Alter u. s. w. steht. Ohne den Einfluss der verschiedenen chemischen und- physikalischen Agentien in Abrede zu stellen und ohne das Mitwirken dieser Ursachen auch bei dem Wechsel der Färbung verkennen zu wollen, möchte ich nur be- merken, dass diese Ursachen nicht die auffallende Verteilung der silberglänzenden Färbung erklären können. Die Beschränkung dieser Färbung hauptsächlich auf die Bauchseite und das gänzliche Fehlen einer umgekehrten Verteilung weisen daraufhin, dass diese Ver- teilung vorteilhaft für das Individuum gewesen sein muss, und 282 Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. ich habe versucht, diesen Fall der Farbenverteilung als eine höchst ausgeprägte Schutzfärbung aufzufassen, indem ich gleichzeitig auch die wirkende Ursache, — welche die einmal aufgetretene silber- glänzende Färbung bis zu ihrer jetzigen Vervollkommnung gebracht hat, zu erklären suchte. Die chemischen Ursachen, welche das Auftreten der silber- glänzenden Färbung im Organismus verursachen, mögen sehr ver- schiedenartiger Natur sein. In dieser Beziehung haben die Unter- suchungen Mandoul’s einen glücklichen Anfang gemacht. Das Ziel dieses Aufsatzes war, die Verteilung und die Variation der so verbreiteten silberglänzenden Färbung in der Fischklasse zu erklären. Wir haben gesehen, dass die Rolle, welche die natürliche Zucht- wahl bei dieser Verteilung gespielt hat, unverkennbar ist. — Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. Von Dr. Richard Weinberg, Dorpat. Bei der speziellen Ausarbeitung eines größeren Beobachtungs- materials über die Variationen der Körpergröße, der unteren und oberen Grenze des Wuchses lebender Individuen, sowie der Volum- verhältnisse des Schädelinnenraumes fand sich eine Veranlassung, die Frage nach der Entstehung und Bedeutung des sogen. Zwerg- wuchses unter normalen und pathologischen Bedingungen eingehender zu verfolgen. Eine nähere Bekanntschaft mit dem gegenwärtigen Zustande der Angelegenheit ergab, außer mehreren Bänden von Notizen geographischen, historischen, pathologischen und zoologischen In- halts, die bestimmte Einsicht, dass es sich hier um eine Reihe zum Teil außerordentlich verwickelter Verhältnisse handelt, die noch für längere Zeit einer endgültigen allgemein-biologischen Auffassung entzogen bleiben dürften. Die folgenden Zeilen sind zunächst bestimmt, auf Grund jener Vorstudien die wichtigsten Gesichtspunkte, die in neuester Zeit von der Diskussion in Betracht gezogen würden, kurz zusammenzüfassen, soweit sie ein allgemein-naturgeschichtliches Interesse haben. Im Ans schluss daran können sodann einige in der bisherigen Behandlung der Frage übergangene Sätze ihre Erörterung finden mit der Absicht, die Vorstellung von Inhalt und Umfang des Gegenstandes zu erweitern. Im allgemeinen zerfällt der Gegenstand in mehrere Abschnitte, die eine besondere Betrachtung verdienen, nämlich: | 15 1. Zwergwuchs als Variation unter gewöhnlichen Bedingungen der Körperentwickelung; 2. Zurückbleiben des Wuchses unter pathologischen Verhält- nissen, als Folge von Störungen der embryonalen Anlage oder der postembryonalen Ausbildung; endlich ) Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. 285 3. Zwergwuchs als gemeinsames Kennzeichen größerer ge- schlossener Gruppen, Arten und Rassen, welcher Zustand allein dem Begriffe der Pygmäen oder Rassenzwerge entspricht. Ein allgemein-biologisches Interesse beanspruchen hier zunächst die unter 1 und 3 bezeichneten Zustände, da sie wegen ihrer even- tuellen Beziehungen zu den Vererbüngs- und Abstammungsfragen in neuerer Zeit ein Gegenstand aufmerksamer Studien waren. Über sogen. pathologischen Zwergwuchs („Kümmerzwerge”, Lili- puts) liegt bereits eine nicht unansehnliche Kasuistik vor, die unter anderem bezeugt, dass die Erscheinung in einzelnen Fällen erb- lich übertragen wird und mit Ausbildung einer Reihe degenera- tiver Zustände einherzugehen pflegt. Die Körpergröße der Kümmer- zwerge liegt dabei in der Regel vollkommen außerhalb der normalen Variationsbreite, wie wir dies jetzt namentlich auf Grund der anthropometrischen Massenerhebungen in Amerika, Deutschland, Russland mit Sicherheit feststellen können. Unter vorläufiger Umgehung dieser Gruppe von Zwergen, die in der Kritik noch Erwähnung finden werden, wendet sich die Dar- stellung unmittelbar zu der biologisch bemerkenswertesten Erschei- nung der menschlichen Zwergspezies oder Rassenzwerge, jener rwyuaioı des Homer, über die schon dem Sänger der Odyssee, ebenso wie dem Hesiodos, dem Aristoteles, wie wir sehen werden, authentische Nachrichten zuflossen, während die spätere Geschichte bis an die 70er Jahre — Schweinfurth’s erste Entdeckungen — nur von ausschweifender Phantasie und skeptischem Misstrauen gegenüber dem Vorkommen zwerghafter Menschenstämme durch- drungen war. 18 Man müsste es einmal versuchen, eine von anatomischen Merk- malen ausgehende Gruppierung der Pygmäen durchzuführen, falls die Tatsachen dazu hinreichen werden. Die Ansicht, dass die Pygmäen der Hauptsache nach nur eine verkleinerte Ausgabe ihrer großwüchsigen Umgebungen darstellen, erweist sich schon für eine oberflächliche Betrachtung in mehreren Beziehungen als mangelhaft und schematisch. Hier können wir jedoch, da es auf eine allgemeine Übersicht zunächst ankommt, einer zoologischen Klassifikation noch entraten und uns mit einer Zusammenfassung der geographischen Verteilung lebender Pygmäen begnügen'). 'Obenan steht natürlich der afrikanische Kontinent, als in jeder Beziehung klassisches Verbreitungszentrum echter Pygmäenvölker. a) Zentralafrikanische Pygmäen. Im Kongobassin finden wir 1) Die hier gegebene allgemeine Übersicht der Pygmäenverbreitung geht ab- sichtlich nicht ins Einzelne. Eine fast vollständige Zusammenstellung der älteren Literatur mit kartographischer Aufzeichnung der Pygmäenvölker findet man in einem der Bände der Zeitschrift der Geographischen Gesellschaft zu Berlin. 284 Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. die Akka im Stamme der Monbuttu, über die bekanntlich Schwein- furth die ersten Nachrichten brachte; etwas südlicher von ihnen am Iturifluss die Atchua, denen sich hart am Äquator die Watwa Stanley’s anschließen; es folgen im Bereiche der südlichen Neben- flüsse des Kongo die Batua von Francois und Wolf, sowie die Zuata-Chitu von Schütt, die vielleicht zum Teil mit Wolfs Batua identisch sind. b) Südafrikanische Pygmäen. Es handelt sich hier im wesent- lichen um die gegenwärtig dem Herzen Südafrikas angehörenden Buschmänner zwischen 18—27° SB. und 20—24° ÖL. Gr. Etwas nördlicher, um den 15. Breitengrad liegt das Gebiet der Mucas- sequere von Serpa Pinto. c) Ostafrikanische Pygmäen sind nur als spärliche Stämme bekannt: Waberiquimos am Kilimandscharo, ferner einige Gruppen am Nordrande des Viktoriasees (Felkins und Wilson), am Äquator die Watua, an den Nilquellen die Doko. Auch Madagaskar soll (Bougainville) Pygmäenvölker führen (Quimos). d) Westafrikanische Pygmäen. Als solche sind aus Loango zu nennen die durch Lenz und Du-Chaillu bekannt gewordenen Don’goe, Obongo und Bakke-Bakke, sowie die auffallend kleinen Bojaeli, sämtlich von der Kongomündung bis etwa in die Ozowe- gegend verbreitet. Asien erscheint reich an Zwergvölkern. Vorderindien hat im Osten die Kaders, Mulcers und Kanikars (Jagor), im Nordosten die Putuas, Djangals, Juangas, im Süden die Vedas und Naya- Kurumbas von Jagor. Ueylons Weddas kennen wir jetzt durch Sarasin’s Monographie als Subpygmäen. Malakka führt die Orang-Semang und die Orang-Sakai, zu denen Mielucho-Maclay vorgedrungen sein soll; Celebes die Toradjas und Toalos (Sarasin), Java die Tengeressen (Kohlbrugge), Borneo die Utu-njar (Nieu- wenhuis); Sumatra die Alas und Gajos u. s. w. Von den An- damanen her kennt man den Stamm der Myncopies, die Aka-Kedes, Bojingijis, Aka-Jawais. Auch die Negritos der philippinischen Inseln werden noch zu den Pygmäen gezählt. Lässt man die Grenze des Zwergwuchses etwas höher, bis ın die Gegend von 160 cm hinaufrücken, dann würden in Asien noch die Ainu und Japaner hinzuzurechnen sein!), ebenso eine Reihe von Stämmen in Indien (Chama, Kuki, Murong), ferner die Malaien, deren durchsehnittliche Körperhöhe mit 160 cm angegeben wird. In Neu-Guinea rückt das Vorkommen von echten Pygmäen mit wenig über 140 cm Körpergröße neuerdings in das Bereich der Wahrscheinlichkeit?). I) In Europa würden demnach die Lappländer hierher gehören. 2) K. Weule, Zwergvölker in Neu-Guinea. Globus 1903. Bd. LXXXIJI, Nr. 16, 8. 247 u. Polit.-anthropol. Revue 1902, Nr. 9. Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. 285 Ob in Amerika geschlossene Stämme echter Pygmäen vor- kommen, unterliegt noch der Diskussion. Die mittlere Körper- größe der Peruaner soll übrigens 160 em nicht überragen (d’Orbigny). Auch unter den Botokuden sollen hin und wieder Pygmäen ange- troffen worden sein (Ehrenreich); ebenso auffallend kleine Knochen im La Platagebiet (Ten-Kate); in anderen Gegenden waren Nano- cephale ungewöhnlich reichlich vertreten!). Aber im ganzen scheint es sich auf dem amerikanischen Kontinente eher um eine spora- dische Verbreitung pygmäenhafter Wuchsverhältnisse zu handeln. Man gewinnt bei der Lektüre der Pygmäenliteratur, insbesondere derälteren Berichte entschieden den Eindruck, dass die Maßangaben, sofern sie für gesunde, erwachsene Individuen gelten sollen, mit einer gewissen Kritik aufzunehmen sind. Immerhin hat es den Anschein, dass der Sitz der kleinsten Pygmäen, mit einer Körpergröße von 120--130—140 cm, also der echten homerischen „Fäustlinge“ auf afrikanischem Boden zu suchen sein möchte. Dass unter den Batua, einer allgemeinen Angabe zufolge, Individuen von nur 90 cm Höhe vorkommen sollen, ist vorläufig eben nur eine Angabe. Asiens Pygmäen gehen durchweg über 140 cm Standhöhe. I. Sergi hat, soweit bekannt, zuerst die Behauptung aufgestellt, dass es in Europa und seinen südlichen Halbinseln eine typische Pygmäenbevölkerung gibt, die nicht auf Eigenvariation der dort vorhandenen Stämme beruht, sondern durch Invasion echter Zwerg- rassen aus Afrika entstanden und durch Vererbung sich inmitten der großgewachsenen Elemente erhalten und befestigt hat. In ganz Westeuropa, in Südrussland, in Italien, besonders aber in Sardinien und Sizilien konnte er eine, wie es ıhm schien, bedeutende Anzahl kleiner Schädel mit einem Kubikinhalt unter 1300 („Elatto- cephalie“) und unter 1150 („Mikrocephalie*) nachweisen. Er ging dabei von der Überzeugung aus, dass solche Nanocephalie gleich den übrigen erblichen Eigenschaften des Gehirnschädels ein ebenso untrügliches Anzeichen von Zwergwuchs darstellt, wie das Maß der Körperhöhe. Was übrigens diese letztere betrifft, stützte sich Sergi zur weiteren Begründung seiner Theorie zugleich auf die Beobachtung, dass die Zahl der Kleinwüchsigen (unter 145 cm) sich namentlich in Süditalien und ‘seinen Inseln als recht bedeutend (mehr als 1!/,°/, der Wehrpflichtigen), herausstellte, während fast 1) J.. Ranke, Abhandl. Bayr. Akad. Wiss. 1900, II. Kl., Bd. XX, Abt. III, S. 631. - Über altperuanische Schädel von Ancon und Pachacaniäc, gesammelt von J. K. H. Prinzessin Therese von Bayern. Unter 209 und 10 &. Peruanerschädeln gab es je 7 mit einer Kapazität von 1050—1200. — Virchow fand Nanocephale unter alten nicht deformierten Peruanerschädeln sehr häufig, unter mehreren Hunderten, die er untersuchte, drei zu 1060, 1100 und 1192 cem Inhalt. 286 Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. volle 15°/, wegen Mindermaß (unter 156) militärische Untauglich- keit bewiesen (Mantia, Sergı, Niceforo). Die Hypothese, die daraufhin aufgebaut wurde, lautete in dem Sinne, dass mindestens im Osten des europäischen Kontinents, sowie in den Umgebungen des Mittelmeerbeckens eine pyg- mäenhafte Bevölkerung bestanden haben muss, als deren direkte Nachkommen wir die noch jetzt dort verbreiteten Zwerge anzu- sehen haben?). Es ist leicht einzusehen, dass wir es hier mit einer recht weit- gehenden Hypothese zu tun haben. Denn was tatsächlich feststand, war gewiss nicht mehr, als das Vorhandensein einer Anzahl Minderwüchsiger innerhalb der gegenwärtigen Bevölkerungen eines Teiles der alten Welt. Es handelte sich also zunächst um eine Darstellung des Vorkommens bestimmter Größenvariationen. Auch die nano- cephalen Schädelfunde, die Sergi aufführt, rührten ja aus Perioden her, die nicht allzutief in das Mittelalter zurückreichten, so vor allem die aus den alten Kurgangräbern Moskowitiens. War die Hypothese haltbar, dann durfte man den Nachweis erwarten, dass auch in früher, vorgeschichtlicher Zeit kleine Menschenvarietäten eine Verbreitung hatten. Dieser Beweis wurde in der Tat geliefert. Man fand pygmäen- hafte Skelette von unter 160 cm berechneter Körperlänge, von 150, ja von 140 und 130 cm in einer ganzen Reihe prähistorischer Stätten Europas, hin und wieder in Gemeinschaft großgewachsener Menschen. Die berühmte neolithische Grotte von Schweizersbild war besonders ergiebig an Pygmäen?); weitere Funde flossen aus Frankreich, zu- letzt auch aus Schlesien. Recht auffallend und bedeutsam erschien der Nachweis ungewöhnlich kleiner Skelette in diluvialen Schichten (Umgebung von Nizza, Verneau). Zu den winzigsten Pygmäen, schätzungsweise (nach den Röhrenknochen) bis auf 1 m hinab, die aus vorhistorischer Zeit genannt werden, gehören die aus Schweizeri- schen Fundstätten herrührenden (Nuesch, Kollmann). Auch ın Egisheim im Elsaß, sowie in Worms am Rhein sollen ähnliche Knochenreste, die auf Körperlängen bis zu 120 em hinab deuteten, vorgekommen sein (Thilenius). In Oberägypten dürfte die Zahl der Pygmäen um die Zeit 1) Giuseppe Bergi, Varietä umane nnickideääktehir e pigmeii di Aolüpee Bollet, Real. Accadem;, Medic. Roma 1893. XIX. p. 11 (fasc. 2). »ı 2) J. Kollmann, Der, Mensch- von Schweizersbild, in: Nuesch: Das Schweizersbild, eine Niederlassung aus paläolithischer und, neolithischer Zeit. : Denk- schriften d. Schweizer. Naturforsch. Gesellsch. 1895, Bd. XXXV, und: Die in der Höhle von Dachsenbüel gefundenen Skelettreste. Denkschr. Schweizer. "Naturforsch. Gesellsch. 1903. — Vorher erschien: J. Kollmann, Das Schweizersbild bei Schaaff- hausen und Pygmäen in Europa. Zeitschr. f. Ethnologie 1894. Fuchs, Physiologisches Praktikum für Mediziner. 287 zwischen 4 und 6 Jahrtausend vor Christus enorm groß gewesen sein, wenn es zutrifft, dass in den der dortigen Stein- und Metall- epoche angehörenden Grabstätten um Abydos herum, über die Flinders Petrie und Mac Iver berichten, etwa 20°, Pygmäen angetroffen wurden'). Es versteht sich von selbst, dass es auf Millimetergenauigkeit hier nicht ankommen kann, ganz abgesehen davon, dass die Längen- beziehungen zwischen Extremitätenskelett und Wirbelsäule und Kopf nach Individualität, Rasse u. s. w. nicht unbeträchtlichen Variationen unterliegen. Auch ist das Geschlecht, sowie das Alter der Skelettstücke, um die es sich in diesen Fällen handelte, bei den Schätzungen mit in die Berechnung gezogen worden. Patho- logischer Zwergwuchs schien nicht vorzuliegen. (Schluss folgt.) R. F. Fuchs. Physiologisches Praktikum für Mediziner. Wiesbaden, J. F. Bergmann 1906. XV u. 261 Seiten. 93 Abbildungen. Das vorliegende Werk ist als ein Leitfaden für den praktischen Gebrauch bei der Anstellung der. physikalisch-physiologischen Versuche gedacht, deren Ausführung heute den Medizinstudierenden obliegt; das Werk soll seine Ergänzung nach der Seite der chemisch- physiologischen Methodik demnächst in einem ähnlichen Werk von OÖ. Schulz finden. Dem Zweck entsprechend, als ein Arbeitsbuch zu dienen, wird in dem Werk eine größere Anzahl von Experimenten eingehend und gut verständlich beschrieben und die Ausführung der Versuche durch reichliche und vortreffliche Illustrationen erleichtert. Die Auswahl der geschilderten Versuche ist natürlich bis zu einem be- stimmten Grade von vornherein gegeben; gewisse Experimente aus der Physiologie des Kreislaufs, der Atmung, der Bewegung bieten sich von selbst. Über diese Grenze hinaus wird eher der individuelle Geschmack zu entscheiden haben. Das Ziel der physiologischen Praktika kann heute ja wohl wesentlich darin 'gesucht werden, dass die Mediziner sich erstens einige ' Phänomene, welche allgemein die lebenden Wesen kenn- zeichnen, wie etwa die Phänomene der Reizbarkeit, der Ermüdbar- keit, der Arbeitsfähigkeit, gut einprägen, und dass sie zweitens bestimmte Symptome des normalen Lebens, welche dem Arzt zur Abgrenzung gegen das Pathologische stets gegenwärtig sein müssen, so gründlich wie möglich kennen lernen und sich auf ihre Fest- stellung mit gewissen Apparaten einüben; zu diesen Symptomen gehören etwa die Zahl der Blutkörperchen, die Eigenart der Nerven- erregbarkeit mit dem konstanten Strom, der Krümmungsradius der Hornhaut. Dieses Ziel ist natürlich von den Studierenden nur durch Überwindung mancher technischen Schwierigkeiten zu erreichen. 1) D. R. Mac Iver, The earliest inhibitants of Abydos. Oxford‘ 1901. 988 Fuchs, Physiologisches Praktikum für Mediziner. Ich betrachte es deshalb als eine der wichtigsten Aufgaben des Kurs- leiters, die Technik der einzelnen Aufgaben so einfach als möglich zu gestalten, ohne die Klarheit der Versuchsresultate zu beein- trächtigen.. Die oft eingeräumten Übertreibungen, deren sich viele Anatomen ım Präpariersaal durch die Forderung einer minutiösen Präparierweise und der Darstellung von allerhand Finessen schuldig machen, müssen die Physiologen davor warnen, aus den Medizin- studierenden, für welche die Physiologie bis zu einem gewissen (Grade doch nur propädeutisches Fach ist, geschulte Experimentatoren machen zu wollen. Betrachtet man unter diesen Gesichtspunkten die Auswahl der von Fuchs dargestellten Versuche, so ist nach meiner Ansicht die- selbe im wesentlichen als wohl gelungen anzusehen; jeder Mediziner wird sich des Buches mit großem Nutzen ‚bedienen, und jeder Kursleiter wird auf ıhm fußen können. Deshalb bitte ich in einigen kritischen Bemerkungen, welche ich hinzufüge, auch nicht eine Schmälerung der wertvollen Leistung des Autors zu erblicken, sondern nur einen kleinen Beitrag zu den Erfahrungen, welche augenblick- lich noch alle Physiologen in Deutschland bei den erst vor einigen Jahren allgemein eingeführten Praktika sammeln. 1. überwiegen nach meiner Meinung die technischen Schwierigkeiten bei der als Aufgabe vorgeschlagenen Freilegung des Säugerherzens oder des Halssympaticus, bei der Messung der Blutgeschwindigkeit, beim Studium des Bell’schen Satzes, der Rindenzentren- und Bogengangs- funktion viel zu sehr, als’ dass es vorteilhaft erscheinen kann, die Studierenden auf diese Experimente einzuüben. 2. scheint es mir als überschritten Versuche wie Nr. 7: „Wirkung von Harnstoff und Borsäure auf die Froschblutkörperchen“, oder wie Nr. 46: „Reizung des Muskels durch Ammoniakdämpfe“ die einem Mediziner-Praktikum zu ziehenden Grenzen. 3. meine ich, dass gegen einen Versuch, wie Nr. 68: „Extirpation des Großhirns der Taube“, nicht bloß die technische Schwierigkeit spricht, sondern vor allem auch der Um- stand, dass hier nur eine Tage bis Wochen andauernde Beobach- tung des operierten Tieres die volle Belehrung geben kann. Als Ergänzung kämen dafür bei einer späteren. Neubearbeitung des Werkes vielleicht u. a. noch ın Frage: die Bestimmung. des osmotischen Druckes organischer Flüssigkeiten mit Hilfe der Gefriermethode und die Bestimmung ihrer Leitfähigkeit, die Bestimmung der Vis- kosität einer Flüssigkeit, die Bestimmung der Arbeit für den Flüssigkeitsdurchfluss durch Rohre, die Beobachtung der Ermüdung am Ergographen, Versuche über Farbenmischung, der Nachweis der Eigentümlichkeiten des Dämmerungsapparates. Ich wiederhole aber, dass gegenüber den großen Vorzügen, welche die vom Autor ge- troffene Auswahl ebenso wie die Art seiner Darstellung bieten, diesen Ausstellungen keine erhebliche Bedeutung zuerkannt werden darf. R. Höber (Zürich). Verlag von Georg Thieme in Leipzig, _Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und: Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. SZVIDa 15. Mai 1906. 12 10. Inhalt: Morgan, Are the Germ-Cells of Mendelian Hybrids “Pure” ? — Fuchs, Wilhelm Ronx, Die Entwickelungsmechanik, ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft. — Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen (Schluss). — Zacharias, Annales de Biologie lacustre, publies sous la direction du Prof. Dr. Rousseau, Are the Germ-Cells of Mendelian Hybrids “Pure”? T. H. Morgan. In a recent article (Science XXII 1905) I have questioned the generally accepted view of the purity of. the germ-cells in Men- delian hybrids, and have pointed out how the results can be inter- preted in another way, that seems to be more in accord with established facts. Mendel showed that his results could be explained by assuming that two kinds of germ-cells are formed in hybrids. He also assumed that these germ-cells are pure in regard to any one of two contrasted characters. The idea that there must be two kinds of germ-cells to account for the Mendelian proportion has lead to the acceptance of Mendel’s suggestion that these two kinds must be pure in regard to the characters in question, and so convinced of this latter interpretation do some modern ex- ponents of Mendelism seem to be, that they ignore, or put to one side, certain well established facts that are not in harmony with the assumption, of “pure” germ-cells. The most important fact that can not be interpreted on the assumption of pure germ-cells is found in the heredity of extracted recessives. These have been shown to possess in a latent con- dition the ceontrasted qualities of one grandparent, as well as the XxVI. 19 90 Morgan, Are the Germ-Cells of Mendelian Hybrids “Pure”? dominating characters of the other. For ıinstance, an albino mouse crossed with a gray gives gray young. These inbred give some grays and some whites. The latter (the extracted recessives) con- tain gray “blood”, which can be demonstrated by crossing them with black mice, when gray oflspring will be produced. Now, on the generally accepted view, the extracted recessive, the white in thıs case, has been formed by the union of a pure, white- bearing spermatozoon wıth a pure, white-bearing egg, but this interpretation obviously fails to account for the appearance of the gray color when the extracted white mouse is crossed with a black. As a matter of fact ıt has been recognized in recent years by several investigators that the extracted recessives do carry the characters of both grandparents, although the dominant character has been supressed in such a way that ıt usually does not appear as long as the extracted recessives ar@ inbred, but reappears when the extracted recessives are crossed with mice of other colors. My contention ıs, that, ıf this is the case, the germ-cells of the hybrid are not pure, and that if the extracted recessives are im- pure, the extracted dominants by parity of reasoning are also im- pure in the same sense. I have suggested how we can account for the Mendelian proportion by another assumption, namely, by that of alternating dominance and latency of the contrasted cha- vacters in the germ-cells of the hybrid. My object in writing this second paper is, first, to clear up a point in regard to the extracted dominant which is insufficiently developed in my former paper, although fully implied ın the for- mulae there given, and, in the second place, to point out certain possibilities for further work, that are not apparent, on the cur- rent Mendelian assumptions. Lastly the condition of Uu6not’s yellow mice must be given further consideration. Let me recall the main point in my former paper in regard to the two kinds of germ-cells of the hybrid. If we obtain a hybrid by erossing a white, W, and a gray, G, mouse, all of its cells wıll contain both the white and the gray characters; the latter dominating the former. Whether these characters are re- presented in the chromosomes of the cells, or in the protoplasm is immaterial for the present point of view. The germ-cells of the hybrid will contain, at first, these two sets of contrasted cha- racters, but at some time in their history, one of the two con- trasted characters becomes dominant, the other becoms latent. These germ-cells may be represented by the formulae G (W) and (G) W, indicating that in the one case the white, (W), and in the other the gray, (G), character has become latent. If some mechanism exists in the egg by which equal proportions of these two kinds of germ-cells are formed, the Mendelian proportion will Morean, Are the Germ-Cells of Mendelian Hybrids “Pure”? 291 be given, as explained more fully below. A cell division would seem to be the simplest form of such a mechanism, but it is not necessary to assume that the formation of the alternating domi- nance takes place in this way, and the question may be profitably left open for the present. When the two kinds of sperm-cells meet the two kind of egg-cells three kinds of individuals will result in the proportion of 3:1: thus: GW) (GW GW): e)W 1, G(W) 2, G(W) (G)W +1, (G)W. In this formula G(W) is the extracted dominant, with white in the latent eondition; (G)W is the extracted recessive with gray latent; and G(W) (G)W is the dominant recessive; in which the white is recessive or free, and in a different relation to the gray than in the other cases. It is, in fact, in the same relation as in the first hybrid, GW, formed by erossing directly a gray and a white mouse. Therefore this midle group gives the same result as does the hybrid of the first generation. The different relation of the gray and white in the middle group is owing to the way in which it has been formed, vız., by he union öf the two germ-cells G(W) and (G)W in each of which a different character, W or 6, is in the “free” condition, hence ın the next generation these two characters alternately domimate and become latent. It may be claimed for my idea that it explains as well as does the ordinary view the Mendelian proportion; second, that it aceounts for the presence in the extracted recessive of latent cha- “ raeters; third, that it puts the extraeted dominant and the ex- tracted recessive on the same footing; and fourth, that it shows why the middle term of the Mendelian equation gives a different result from the end terms. In the next place I should like to point out a theoretical possibility regarding the extracted dominants and the extracted recessives. What should we expect to happen if an extracted dominant, G(W), is erossed again with a pure white (if such really exist)? The hybrid will be gray as has been shown, but it will be a gray, according to my hypothesis, formed by the union of G(W) and W, i. e. it will be G(W)W. Will the additional white produce an effect on the gray color, and if not in one generation can the influence be increased by repeating the process with other extracted dominants in subsequent generations? Perhaps the problem could be better tested for two colors not so strongly opposed as gray and white. Gray and black, or gray and choco- late might, give better results. In the literature there are, ın fact, 19% 39) Morgan, Are the Germ-Oells of Mendelian Hybrids “Pure”? cases recorded, where the pure dominants are not pure, but show traces of the recessive character. This is paraticularly the case for poultry, as shown by the results of Bateson, Hurst, and Daven- port. We can see how cases of this sort may shade off into cases of blended inheritance, so that it may become extremly diffieult in practice to piek out the three Mendelian types. In fact, on my view that neither of the two extracted forms are really pure, the results depend largely on the relative strengths of the two con- trasted characters, and the Mendelian cases do not in principle differ from cases of blended inheritance, except in so far as the contrast is more or less sharp. On general grounds this seems to me to be a distinet advantage in favour of my view. On the cur- rent view of pure gametes there is in principle a hard and fast line drawn between blended inheritance and Mendelian inheritance, but even the Mendelian literature does not always bear out this inter- pretation. Let us next examine certain theoretical possibilities for the extracted recessives, (G)W. If a white mouse of this kind is crossed with a gray, the young will all be gray. They will be (G)WG, and their germ-cells G(WG) and W(GG); and since in each there is a free character, they will, if inbred, give the Mendelian proportion again, unless the addition of the latent & produces some influence on the result, so that more gray germ-cells are likely to be formed. If this occurred it would increase the proportion of gray offspring in the next generation giving more grays than is expected on the Mendelian scheme. If this should prove to be the case, could we by sucessive back crosses between the extracted recessive and dominant parent alter the Mendelian proportion for this group? Improbable as the result may seem it may be worth while testing; for, as yet we do not know how a latent quality like that of the gray in an extracted recessive behaves when more of the same color is added; whether, for instance, it still remains in its latent condition, or simply unites with the added color of the same kind. Whether union of a free and a latent color means addition of these colors we do not at present know. These and other questions must be determined by further experiment. While it has been shown experimentally that the extracted recessive contains the dominant character in a latent form, it has not been shown, except in Darbishire’s experiment, that the ex- tracted dominant contains the recessive character in the latent form, which must be the case if my view is correct. It is evident why this difference between the two cases should exist, because the latent color of the extracted recessive can be demonstrated in one generation, while it requires two generations to demonstrate the latent color of the extracted dominant. Morgan, Are the Germ-Oells of Mendelian Hybrids “Pure” ? 2953 For example; if an extracted recessive W(G) is crossed with B, the offspring will be WGB, i. e., gray. The outcome must be accounted for by the presence of the gray in W(G). On the other hand if an extracted dominant G(W) is cros- sed with B, the offspring is gray because this color dominates both black and white. Similarly if the extracted dominant, B(W), is crossed with G the offspring ıs gray; or ıf G(B) is erossed with white still the gray dominates. In all combinations, therefore, with the extracted dominant ıt is impossible to bring out the latent color in the first generation for the obvious. reason that it ıs domi- nated by the dominant; but in the second generation, that results from inbreeding, it should be possible to demonstrate the presence of the latent color of the grandfather who was an extracted dominant. For example: the extracted dominant G(W) crossed with B, as above, gives the gray mouse GWB, whose germ-cells would be G(WB), W(GB), B(GW) which will produce gray, black, and white mice, in the following proportion 1G, 2GW, 2GB, 2 BW, 1B, 1W. Since the first three terms of this series are gray mice, and the next two black mice, and the last only white, there are 5 grays, three blacks, and one white. The white must owe its orıgin to the color of the extracted dominant. The number of white mice expected in this combination ıs quite small and a large number of offspring of this generation might be required to demonstrate its occurence. By making another combination, how- ever, it ıs possible to increase the expectation. If, for instance, we start with an extracted dominant G(B) and cross ıt with a white mouse, we get a mouse GWB, whose germ-cells will be G(BW), B(GW), W(GB). These will give the same kinds of young as for the case just given; and in the same proportion, but since the black color ıs here derived from the latent color of the extac- ted dominant there will be three mice of this color to five grays and one white. In the literature I know of one case that seems to show something of this kind. Darbishire!) found that when ex- tracted dominants (pink eyed mice with spotted coats) were crossed with white mice, some of the offspring were white, which is not the expectation if the germ-cells of the extracted dominant are pure; for, they should give the same result as when individuals of the pure strain are crossed with albinos. But these do not give any white! It should also be noted that the ex- tracted dominants, when inbred, gave one albino to thirty-two spotted individuals showing that while the extracted dominants approached the condition of breeding true, they did not do so invariable. 1) Biometrica. 3. Jan. 1904. 294 Morgan, Arc the germ-cells of Mendelian hybrids “Pure”? In my former paper I made an attempt to account for the exceptional behaviour of yellow mice as given by Cu6not on the assumption that he was dealing with extracted dominants and dominant-recessives, and therefore his material was contaminated, hence he could not expect to obtain yellow mice having pure yellow gametes represented by the formula YY, but only those represen- ted by the formulae Y(G) and Y(G)B. Nevertheless if the yellow mice behave in inheritance in the same way as do the other col- ors there should be obtained a race of extracted »dominants, Y(G) that would breed true inter se, provided Uuenot’s statement, that yellow always dominates all other colors is correct. In regard to the failure of all yellow mice to breed true it seemed to me that Cu6not’s statement was not clear, for, he laid his main em- phasıs on the impossibility of obtaining yellow mice with pure gametes, YY, (which if my interpretation is correct would not be the case under the conditions of his experiment), rather than on the failure to get a race of yellow mice, that produce only yellow mice. | wrote to Professor Ou6not and he informs me that he found that none of his yellow mice breed true, but in all cases throw a certain number of black or of gray or of chocolate mice, according as their ancestry has been contaminated by these colors. This aceords with the interpretation that Professor Wilson gave of his results in opposition to my own (Science XXIII. 1906). Uuenot interpreted his results to mean that extracted domi- nants are not produced in the case of yellow mice In other words, the first term of the Mendelian proportion is lacking. He offers the following ingenious hypothesis to account for this suppo- sed result. Yellow-bearing spermatozoa never fertilize yellow- bearing eggs. In other words, selective fertilization of the germ- cells occurs for mice of this color. He cites, as possibly a parallel case, that of the ascidian, (iona, studied by Castle and myself, in which self-fertilization does not occur, or only in a small number of cases. The results are obviously not exactly the same, for, while the spermatozoa of Ciona do not fertilize the eggs of the same individual, they fertilize readily the eggs of other indivi- duals, while in the yellow mice the sperm of a given individual fails to fertilize the yellow bearing eggs of all other individuals, on Uuenot’s assumption. However, Gu&enot meant probably no more than to point to a case where selective fertilization has been shown to take place. Why do not yellow mice form a true race as do mice of other colors? Is ıt really due to the failure of the yellow-bearing sperm to fertilize the yellow -bearing eggs, as Cu6not suggests, or can any other explanation be offere a? I could not but feel that the suggestion of selective fertilization is improbable, and for that reason I made an Morgan, Are the Germ-Cells of Mendelian Hybrids “Pure”? 295 attempt to account in an other way for the results, and in so far as I tried to show that pure gametes were not to be expected from extrac- ted dominant forms, I believe Imay have found the clue that will lead to a more probable solution of the problem. Cu¬ has shown in the following way that yellow dominates all other colors. Assuming, as he does, that all yellows are dominant recessives, VB for instance, he finds when these are erossed with a pure strain, gray let us say, that he gets 50 per. cent. yellow and 50 per. cent. of the other color, (or colors when more than one is present). Cue¬’s equation for this would be CY CG CG UG CYGG (CGCG Since CYCG gives yellow, the yellow is thus shown to domi- nate the gray gamete. I should express the same result in a somewhat different way thus: Y(G) (Y)G G G Y(G,G NMGE The result is the same, so far as the formulae show the domıi- nance of the yellow over gray. If, as I suppose, extraeted yellow dominants are also formed, we should expect them, from analogy with other colors, to produce when inbred only yellow mice, and also when crossed with mice of other colors; but as this was found by Cu¬ not to be the case, he assumes, as has been said, that dominant yellow mice are not produced. There is, ho- wever, another way in which we may account for the results. If we assume that extracted dominants are formed in the case of yellow mice, as in all other cases, but that the two colors do not remain in the usual relation of dominance and lateney, but alter- nately become dominant and latent in the germ-cells, we can account for all of Cuenot’s facts. Thus an extracted yellow domi- nant Y(G) produces germ-cells Y(G) and (Y)G, which will give on inbreeding, if in equal numbers, three yellows to one gray'). When these yellows are erossed with other colors the expeetation would be 50 per. cent. of each. The results are those that Cuenot’s yellow mice give. My assumption, in regard to the behaviour of the germ-cells’of the yellow mice, is not purely ar- bitrary, for there are cases on record of other colors in which 1) If as many Y(G) are produced as (Y)G. If not, more of the offspring will be gray. Cu@not insists that there is a deficieney in yellow mice, when yellows are inbred. May not this disparity be due to the smaller number of the yellow gametes formed by the yellow mice? Possibly the extracted dominants and the dominant recessives might be separated by taking into consideration the relative number of yellow and gray (or black) offspring that they produce. 296 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. it has been shown that a race, originating in an extracted dominant ancestor, may occasionally produce an individual showing the con- trasted character, and this must be due to the formation of some germ-cells in which the latent character becomes the dominant one. It may seem that my explanation of the yellow mice amounts to the same thing in the end as Cuenot’s, since I assume that the extracted dominants behave, as far as their germ-cells are con-- cerned, in the same way as do the dominant recessives. The resemblance between the two points of view is however only super- ficial; and there remain certain fundamental differences in the two interpretations. On my view there is no selective fertilization of the two kinds of gametes, and there is no failure in the Mendelian proportion. The yellow mice follow the same rule in these respects that all other colors follow, but they differ from the ‚other mice in the failure of the yellow to dominate the other colors in the extracted dominants. Finally, I may add that while this interpretation of the yellow mice ıs possible on my hypothesis of the impurity of the germ-cells of hybrids, it ıs impossible on the assumption of “pure” germ-cells; for, on the latter assumption there is no latent color in extracted dominants, and hence no chance for them to produce two kinds of germ-cells. Those who accept the hypo- thesis of pure gametes must find some other way out of Ouenot’s dilemma, and, perhaps, selective fertilization may be as plausible an assumption as any other. Columbia University. March 1. 1906. Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik, ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft. Leipzig Wilhelm Engelmann 1905. XIV + 284 S. gr. S. 2 Tafeln und 1 Textfigur. Referat von R. F. Fuchs, Erlangen. Als erstes Heft einer von dem Begründer der modernen Ent- wickelungsmechanik herausgegebenen Monographienreihe: „Vorträge und Aufsätze über Entwickelungsmechanik der Organısmen“ ist das oben genannte Werk erschienen, welchem der wesentlich erweiterte Vortrag Roux’s auf der Breslauer Naturforscherversammlung zu- grunde gelegt ist. Die Sammlung verfolgt den Zweck einzelne Gebiete der Entwickelungsmechanik in monographischer Zusammen- fassung gemeinverständlich darzustellen, um dieses weite und in- teressante Forschungsgebiet allen Biologen zugänglich zu machen. Es kann nur mit Freuden bcgrüßt werden, dass Roux zunächst eine zusammenfassende Darstellung über die Ziele und Aufgaben, sowie die bisherigen Leistungen der entwickelungsmechanischen Forschung an die Spitze des neuen Unternehmens stellt, aus der Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 997 klar hervorgeht, was wir alles der unermüdlichen Forscherarbeit Roux’s selbst, sowie gleichstrebender Forscher an wichtigen Tat- sachen und theoretischer Erkenntnis verdanken. Es muss dies be- sonders betont werden, da das prinzipiell Neue in den Bestrebungen und Leistungen der Entwickelungsmechanik nicht immer von gegne- rischer Seite richtig gewürdigt und manches unzutreffende Urteil über Roux’ Bestrebungen gefällt worden ist. Wer eine neue Disziplin begründet, muss zunächst einmal die Ziele seiner Be- strebungen darlegen und sein Arbeitsgebiet theoretisch durcharbeiten, um zu einer strengen Fassung der Probleme und der zu stellenden Aufgaben zu gelangen. Denn eine einfache An- häufung experimentell oder anderweitig ermittelter Tatsachen kann hier nicht genügen, sondern es muss eine Zusammenfassung und Ableitung der erkannten Allgemeinheiten erst erfolgen, wenn wir zu einem Gesamtbilde der Forschungsergebnisse und -Aufgaben ge- langen wollen. Wir müssen es deshalb dankbar anerkennen, dass Roux, der als experimenteller Forscher so große und viele wichtige Erfolge errungen hat, sich der schweren und, wie die Erfahrung gelehrt hat, undankbaren Aufgabe unterzogen hat, das ganze um- fangreiche Gebiet theoretisch durchzuarbeiten und eine systematische Gliederung der gesamten Disziplin zu schaffen, welche die Weiter- arbeit nicht nur erleichtert, sondern auch wesentlich fördert. Das vorliegende Buch gibt einen Überblick über die Aufgaben und Erfolge der Entwickelungsmechanik, es kann als eine Eın- führung in dieses Gebiet bezeichnet werden, deren Studium jedem Biologen von großem Nutzen sein wird und deshalb dringend em- pfohlen werden soll. Sein Studium erfordert allerdings ernste Arbeit, die aber durch die Fülle von Belehrung, welche sie trägt, reichlich belohnt wird. Roux hat seinem Buche noch den Untertitel „Eine Ergänzung zu den Lehrbüchern der Entwickelungsgeschichte und Physiologie der Tiere“ hinzugefügt. Dieser Hinweis hat, fast möchte man sagen „leider“, seine vollste Berechtigung. In den beiden Lehrbüchern der allgemeinen Physiologie hat nur Verworn die Probleme der Entwickelungsmechanik einer knappen Behandlung unterzogen, während Rosenthal sie aus dem Kreise seiner Erörterungen als den morphologischen Disziplinen zugehörig gänzlich ausgeschieden hat. Die Lehr- und Handbücher der Physiologie betrachten aber das ganze Gebiet der Entwickelungsmechanik als nicht zur Physio- logie gehörend; ja es gilt sogar als Übergreifen in ein fremdes Gebiet, wenn ein Physiologe in seinen Arbeiten den Fragen der Entwickelungsmechanik näher tritt. So kommt es, dass unter den deutschen Physiologen nur ganz vereinzelte an der entwickelungs- mechanischen Forschung beteiligt sind, und dieses ganze Forschungs- gebiet die Spezialdomäne der Anatomen und Zoologen geworden 9958 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. ist. Und doch sind die Probleme und Forschungsmethoden durch- aus dem Gebiete der Physiologie zuzuzählen. Dass diese Anschau- ung richtig ist, lehrt ein Vergleich mit der Botanik. Keinem modernen Pflanzenphysiologen würde es einfallen, das Gebiet der Entwickelungsmechanik als nicht zur Pflanzenphysiologie gehörig auszuscheiden; im Gegenteil, in allen Lehr- und Handbüchern der Pflanzenphysiologie ist entwickelungsmechanischen Betrachtungen ein weiter Raum gegönnt. Diese richtige Erkenntnis der Botaniker ist auch dem Gesamtgebiete wesentlich zugute gekommen, indem die Entwickelungsmechanik der Pflanzen schon weit fortgeschritten ist. Bei diesem Urteil ist allerdings von dem Hauptteil der Ent- wickelungsmechanik des Embryo abzusehen, bezüglich deren die zoologische Entwickelungsmechanik Dank der grundlegenden Arbeit Roux’s der botanischen weit voraus ist. Im folgenden soll nun der Inhalt des Roux’schen Buches wiedergegeben werden, wobei die allgemeinen abgeleiteten Erkennt- nisse ausführlicher dargestellt werden, während die speziellen Tat- sachen nur kurz, oder auch nur andeutungsweise berührt werden. Während die deskriptive Entwickelungsgeschichte auch in ihrer denkbarsten Vollkommenheit nur die rein formale, gestaltliche Seite des ganzen Entwickelungsgeschehen verzeichnet, kann sie niemals etwas über die Faktoren aussagen, welche die formalen Veränderungen des sich entwickelnden Organismus bewirken. Die von Roux neuinaugurierte Forschungsrichtung, welche sich der Ermittelung der Wirkungsfaktoren und ihrer Wirkungsweisen, weniger exakt Ursachen genannt, zuwendet, hat ihr Begründer kausale Forschungsrichtung oder kurzweg Entwickelungsmechanik genannt. Es haben zwar bedeutende morphologische Forscher, wie O0. Hertwig und ©. Rab], die kausale Forschung im Sinne Roux’s als überflüssig erklärt, unter Berufung auf Kirchhoff, welcher als Ziel der Mechanik, dieser am exaktesten ausgebauten Wissen- schaft, die vollständige und einfachste Beschreibung des Naturgeschehens hinstellt. Für den Physiker ist aber nur die Ab- leitung eines sogenannten Gesetzes, z. B. des Fallgesetzes, eine solche Beschreibung im Kirchhoff’schen Sinne, weil es den ganzen Erscheinungskomplex genügend erklärt. Wollen wir den Kirch- hoff’schen Satz auf die organischen Naturwissenschaften anwenden, was gewiss zulässig ist, dann muss uns als Endziel unserer Forschungsrichtung vorschweben, alles Naturgeschehen, in unserem besonderen Falle das ganze Entwickelungsgeschehen, in einer Formel mathematisch auszudrücken. Denn nur eine Formel von der Ge- stalt E=f (a,b,e...) ist die einfachste Beschreibung im Kirch- hoff’schen Sinne; dass in dieser Formel alle auf den ablaufenden Prozess einwirkenden Faktoren vertreten sein müssen, ist ganz selbstverständlich, denn sonst wäre sie eben’ keine erschöpfende Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 299 Funktionsformel, sonst könnte sie den sich abspielenden Prozess nicht als Funktion aller in Betracht kommenden Faktoren dar- stellen. Wenn also auf irgend eine Disziplin der organischen Naturwissenschaften der genannte Kirchhoff’sche Satz anwend- bar ist, so ist er es vor allem auf die Bestrebungen der Entwickelungsmechanik. Um die gestaltenden Wirkungsweisen analysieren zu können, müssen nach Roux zwei Entwickelungsperioden unterschieden werden, eine Periode der vererbten Gestaltung, es ist die „Periode der Organanlage“, und eine zweite Periode der funk- tionellen Ausgestaltung des Angelegten. Die erste Periode ist die des direkten Gestaltens durch die Tätigkeit der im Keimplasma implizite enthaltenen „Gestaltungsmecha- nismen“, sowie die Periode des Selbsterhaltens der angelegten Teile, ohne dass sie dazu der Funktion bedürfen. Eine genaue Begrenzung dieser Zeitperiode scheint mir kaum möglich zu sein, da wir niemals anzugeben vermögen, wann ein ae: Gebilde zu funktionieren zumal:es nicht erwiesen ist, dass die Funktion embryonaler Fe bezw. Organe mit der des ausgebildeten Ürga- nısmus übereinstimmen muss. Ferner wäre oh zu bedenken, dass selbst zu Zeiten, in denen ein aktives Funktionieren uns noch ganz unmöglich erscheint — ohne dass wir aber dafür einen aus- reichenden Grund anzugeben vermöchten —, das embryonale Ge- bilde immer von Reizen getroffen wird, weil wir eine Entwickelung bei Fernhaltung aller Reize nicht herzustellen imstande sind. Dem sich entwickelnden Organismus aber die Reizbarkeit absprechen wollen, hieße ihn zur toten entwickelungsunfähigen Masse machen. Schließ- lich kommt auch noch die passive Beanspruchung des sich ent- wickelnden Gebildes mit in Frage, die als Reizgeschehen anzusehen ist. Alle diese Überlegungen lassen es mir zweifelhaft erscheinen, ob es eine Entwickelungsperiode ohne alle Funktion gibt, obwohl sie theoretisch vorstellbar wäre. Zwar könnte dagegen die normale Entwickelung der Halbembryonen und kleinerer abgesprengter Teile angeführt werden. Aber auch in diesen Spezialfällen lässt sich die eakon. oder wenigstens passive Beanspruchung nieht ausschließen. In der zweiten Pe der der funktionellen G estaltung, wird das in der ersten Periode (des vererbten Wachstumes) Gebildete weiter fortgeführt und erhalten. Die Art der Organfunktion ist zunächst von der typischen Beschaffenheit des Keimplasmas bestimmt, aber auch der embryonale Gebrauch der Organe ist seiner Art und Größe nach noch wesentlich in dem so hergestellten Mechanismus des Lebewesens selber begründet. Dem- entsprechend wird im Beginn der zweiten Periode noch typisch Gebildetes entstehen, das wenn auch indirekt unter der determinie- renden Wirkung der Vererbungsstruktur des Keimplasmas steht. 300 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. Erst wenn die gestaltlichen Leistungen der zweiten Periode durch den Willen oder durch äußere, fremde Faktoren bestimmt werden, dann kommen „Anpassungen“ zustande. Diese können aber nur vom „Typischen“ Abweichendes produzieren, weil typisch nur das ım Keimplasma determinierte ist. Zwischen den beiden Perioden finden nach Roux allmäliche Übergänge statt. Die erste Periode zerfällt in mehrere ursächlich voneinander verschie- dene Unterabteilungen für jede vorkommende Art von typischer Entwickelung. Die Art der typischen, wie sich ergeben hat vielfach unter Selbstdifferenzierung von Teilen verlaufenden Entwickelung unterscheidet Roux in eine explizite erstmalige oder primäre Deter- mination vom Ganzen auf seine Teile, also Determination durch Zusammenwirken vieler Teile, um das Kleinere, Einzelne, zu be- stimmen; zweitens in die Ausführung des auf diese Weise deter- minierten, drittens in eine oder mehrere Nachdeterminationen vom Ganzen auf die Teile, oder von großen auf kleine Teile. Diese Vor- gänge erfolgen durch Wechselwirkung von Teilen aufeinander, die als abhängige Determination bezeichnet wird. Die ersten ursächlichen Erklärungen des tierischen Entwicke- lungsgeschehens gehen auf His zurück, welcher wie K. E. v. Baer, Pander, Lotze alle formbildenden Vorgänge auf ungleiches Wachs- tum der verschiedenen Keimblätter und auf Stauungen an weniger wachsenden Nachbarteilen zurückzuführen suchte, ohne aber einen ex- perimentellen Beweis für seine Annahme zu erbringen und ohne darüber Aufschluss zu geben, ob dieses Gestaltungsprinzip das einzig mögliche ist. Einen Fortschritt stellen die Arbeiten von His, (Goette, Rauber, Strasser und anderen dar, welche die Form- wandlungen der Organe und Gewebe auf Veränderungen ihrer Elementargebilde, der Zellen, zurückführten. Das dabei direkt be- obachtete typische Geschehen gestattet jedoch verschiedene mögliche Abteilungen, außerdem müssen aber die Zellvorgänge selbst ursächlich erforscht werden. Diese Untersuchungen konnten dem- nach nur Wahrscheinlichkeitsresultate liefern, ohne beweisende Schlüsse auf die wirkenden Faktoren zuzulassen. An diese Unter- suchungen schloss sich eine Reihe von Versuchen zur Erzeugung künstlicher Missbildungen, von denen die Versuche von Dareste, besonders aber jene von L. Gerlach hervorgehoben seien, da letzterer Forscher bereits einen bestimmt gerichteten Versuch zur Erzeugung von Doppelmissbildungen anstellte. Wenn dabei auch das erstrebte Zuel zunächst noch nicht erreicht wurde, so führten L. Gerlach’s Versuche doch zur Ausbildung einer wertvollen Methode für ent- wickelungsmechanische Versuche am Hühnerei. Um zu einer tieferen ursächlichen Erkenntnis des Entwicke- lungsgeschehens vorzudringen, mußten vor allem die allgemeinsten Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 301 Fragen der Entwickelungslehre neu aufgegriffen werden. Zunächst musste entschieden werden, ob bei der Entwickelung der Organismen überhaupt Mannigfaltigkeit neu erzeugt werden kann (Neoepi- genesis), oder ob die Entwickelung nur mit einer Umwandlung bereits im Ei verborgener Mannigfaltigkeiten in sichtbare einhergeht (Neoevolutio), oder ob es sich um eine Vergesellschaftung beider Prozesse handle. Die Untersuchungen haben nun ergeben, dass tatsächlich Mannigfalten neu produziert werden können und zwar in so hohem Grade, dass es &igentlich wunderbar erscheint, dass immer wieder derselbe Ausgangspunkt der Entwickelung, das Ei, neuher- vorgebracht werden kann. Alle drei genannten Entwickelungs- möglichkeiten sind also denkbar, es fragt sich nur, ob und in welchem Umfange sie an der Entwickelung des Organismus be- teiligt sind. Die Erforschung dieser Frage bietet außerordentliche Schwierig- keiten, weil wir nicht wissen, ob bei einer beobachteten Erscheinung nur die uns in ihrer Wirkungsweise bekannten Faktoren allein be- teiligt sind, ferner ist uns nicht der ganze Wirkungsumfang ein- zelner Faktoren bekannt, so dass wir Gefahr laufen, nicht das ganze von ihnen bewirkte Geschehen vollständig beobachtet zu haben. Zudem geschieht bei der normalen Entwickelung so vieles gleich- zeitig, dass wir die Einzelveränderung nicht mehr auf einen be- stimmten Gestaltungsfaktor beziehen können. Aus diesen Gründen lassen sich aus der einfachen Beobachtung des normalen und typischen Entwickelungsablaufes keine sicheren ursächlichen Schlüsse ziehen. Als einziges Hilfsmittel, um zu einer eindeutigen ursächlichen Erkenntnis des Entwickelungsgeschehens zu gelangen, bietet sich uns das richtig angestellte Experiment dar, welches aber nur dann eine Aussicht auf Erfolg verheißt, wenn wir zuvor den zu untersuchenden Vorgang theoretisch nach allen möglichen Kompo- nenten hin zergliedert haben und aus der hieraus gewonnenen Kenntnis eine exakte Fragestellung ermitteln, deren Beantwortung durch ein eindeutiges Experiment möglich ist. Deshalb müssen wir uus an erster Stelle eine Übersicht über die verschiedenen Arten von Wirkungsfaktoren verschaffen, die an jedem Geschehen beteiligt sind. Das Entwickelungsgeschehen hat wie jedes Geschehen Faktoren, welche die Art des Geschehens bestimmen (spezifische, deter- minierende Faktoren), dazu kommen die Ursachen des Ortes des Geschehens (Örtsfaktoren), der Zeit (Beginn-, Fortdauer-, Endigungsfaktoren), sowie die Intensitäts- und Richtungs- faktoren. Diese Faktoren können verschieden und getrennt sein, oder auch zum Teil zusammenfallen. Sie alle müssen im Spezial- fall einzeln ermittelt werden. Ferner muss untersucht werden, wie der Zustand des Untersuchungsobjektes, an dem die Einwirkung 302 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. der einzelnen Faktoren untersucht wurde, zustande gekommen ist. So kommen wir immer weiter zurück bis zur Entstehung des Eies und Samenfadens und endlich durch die ganze Phylogenese hin- durch bis zu jenen Faktoren, welche die niedersten Lebewesen ent- stehen ließen. Die Lebewesen können zur Zeit nur durch die Charakterisierung ihrer Leistungen annähernd vollständig definiert werden. Nach dieser funktionellen Definition sind die Lebewesen Naturkörper, welche sich aus in ihnen selbst liegenden Ursachen verändern (Selbstveränderung, Dissimilation), das Veränderte ausscheiden (Selbstausscheidung) und das Veränderte unter Aufnahme neuen Stoffes (Nahrung) durch dem Unveränderten Gleiches ersetzen (Selbstwiederbildung, Assımilation), bezw. mehr als ersetzen (Selbst- wachstum). Außerdem besitzen sie das Vermögen der Reflex- und sogen. Selbstbewegung, sowie der Selbstteilung, die wieder mit Vererbung, also Selbstübertragung von Eigenschaften des Ganzen auf die Teilprodukte (Nachkommen) verbunden ist. Dazu kommt als letzte, seinerzeit von Roux als elementare Eigenschaft der Lebewesen aufgestellte Eigentümlichkeit die Selbstregulation in der Vollziehung aller dieser Vorgänge im Sinne einer gesteigerten Selbsterhaltungsfähigkeit des ganzen Gebildes. Die Selbstregulation bewirkt zugleich die höhere Einheitlichkeit der Lebewesen. Erst durch alle diese Vorgänge wırd das Leben auf seiner niedersten Stufe ausreichend gekennzeichnet. Durch diese Vorgänge ist die Selbsterhaltung trotz des Stoffwechsels gewährleistet; durch die Selbst- regulation ist eine Anpassung an den Wechsel der Umgebung (Selbst- anpassung) ermöglicht. Bei den höheren Lebewesen kommt zu diesen Minimalleistungen noch dazu das Vermögen zur Selbst- ausbildung besonderer Gestaltungen und Eigenschaften, einschließ- lich der seelischen, sowie das Vermögen der Selbstübertragung dieser neuen Eigenschaften auf die Nachkommen durch Selbstteilung und Selbstentwickelung von einem scheinbar einfachen Übertragungs- zustand, dem Keimplasma, aus. Die Lebewesen gestalten und er- halten sich selbst (Selbstdetermination). Die Grundlage hierzu sowie der Kontinuität des Lebens liegt ın der Assımilation, weshalb auch „nur der Assımilation fähige Variationen vererbbar sind“. In Übereinstimmung mit Haeckel, Pflüger u. a. vertritt auch Roux den Standpunkt, dass das Leben aus zufälligen, zu= nächst chemischen Vorkommnissen auf „natürliche“ Weise ohne Mitwirkung eines zwecktätigen Agens (Schöpfer) entstanden sein kann. Während aber Haeckel die kernlosen Moneren als niederste Vorstufen des Lebens (Probionten) ansieht, die auf einmal ent- standen sein sollen, erblickt Roux in den Moneren bereits niederste Lebewesen (also keine Probionten), zu deren Entstehung bereits Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 305 ein langes Vorgeschehen nötig war, indem die Grundfunktionen sukzessive aufgetreten sind und in langsamer Züchtung von zu- fälligen Variationen aus zu größerer Manni; sfaltigkeit und größerer Vollkommenheit der Selbsterhaltung des de verbessert worden sind. (Entstehung des ersten Lebens durch sukzessive Züchtung der Grundfunktionen). Der Ma des Lebens war nach Roux vom gleichzeitigen Auftreten der Dissimilation und Assimilation, sowie der Seihälan- scheidung des Veränderten abhängig. Als Vorbedingung der Assı- milation war noch die Seiesuftalme von Ertzstaffen (Nahrung) notwendig. Ferner muss zur Erhaltung und Ausbreitung dieser Vorstufen des Lebens die Assımilation größer sein als ih Dissi- milation, wodurch eine Vermehrung (Selbstwachstum) ermöglicht wird. Da die Flamme alle diese Eigenschaften hat, so liegt nichts Prinzipielles gegen die Möglichkeit des gleichzeitigen Selbstent- stehens der entsprechenden Grundfunktionen des Lebens vor. Es kann demnach der chemische Grundprozess des Lebens schon aus der Zeit des glühenden Erdballes herstammen. Die Flamme stellt zudem ein Gebilde mit typischem morphologischen Bau dar, indem man einen Kern (inneren dunklen Kegel) und emen Rindenteil (die Hüllen) mit besonderen Leistungen unterscheiden kann, ja man kann sogar von einem Mund (Nahrungszufuhrstelle, Basıs) und einem After (spitze Ausscheidungsstelle) sprechen. Diese typischen Ge- staltungen sind durch äußere physikalische Umstände (Schwerkraft) een Durch allerdings beschränkte Selbstdetermination ge- schehen nur Dissimilation und Assımilation. Alle Träger der ge- nannten vier Eigenschaften (Selbstveränderung, Selbstaufnahme, Selbstanbildung und Selbstausscheidung) sind zwar von der Um- gebung verschiedene, der Selbsterhaltung fähige Gebilde; aber sie sind noch keine Lebewesen und werden von Roux Isoplasson (Gleiches-Bildner) genannt wegen der eigenartigsten Leistung, der Assimilation. Das Isoplasson kann als ein dem Verworn’schen Biogen identischer Begriff angesehen werden, nur kommt beim Isoplasson auch die Formbildung zum Ausdruck, während das Biogen mehr die chemischen Umsetzungen hervorhebt. Die Flamme stellt ein Isoplasson dar; sie besitzt sogar Selbst- regulation und Überkompensation im Ersatze des Verbrauchten, also Wachstum. Tritt zu den. vier Grundleistungen des Isoplassons die Reflexbewegung bezw. Selbstbewegung hinzu, dann stellt das Gebilde ein Autokineon (Selbstbeweger) dar. Diese Bewegungen können durch anorganische Wirkungen hervorgebracht werden und rein anorganisch erworben sein, wie aus den Versuchen von Quincke, Bütsehli, Rhumbler, Roux hervorgeht, die an Tropfen aus anorganischem Material den Protistenbewegungen ähnliche Be- wegungen beobachtet haben. Ja sogar eine Aktivierung eines 304 Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. Energievorrates ist bei solchen Gebilden möglich, ohne dass sie eine im einzelnen bestimmte typische morphologische Struktur haben. Sie können eine, noch variable physikalische, z. B. waben- artige Mischung von nur wenigen chemischen Substanzen darstellen, von der jeder größere zufällig mechanisch abgetrennte Teil alle Eigenschaften des Ganzen hat. Auch Ortsveränderungen des in einem flüssigen Medium befindlichen ganzen -Gebildes können durch die Bewegungen zustande kommen, ohne dass dazu eine typische morphologische Struktur notwendig wäre. Isoplasson und Autokineon sind die nötigen Vorstufen der niedersten Lebewesen, also wirk- liche Probionten. (Fortsetzung, folgt.) Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. Von Dr. Richard Weinberg, Dorpat. (Schluss.) III. Die allgemeine biologische Bedeutung der Pygmäen liegt nun in der Annahme einer Beziehung derselben zu der Stammes- entwickelung der Menschheit. Kollmann, der die Funde aus Schweizersbild selbst in mono- graphischer Darstellung behandelt hat, gelangte in neuerer Zeit (1902) zu einer allgemeinen Auffassung der systematischen Stellung der Pygmäen innerhalb des Menschengeschlechts '). Da das Verhalten der Funde aus neolithischer, Bronze- und slavischer Zeit in West- und Mitteleuropa mit dem Vorhandensein lebender Pygmäen in Asien, Afrika, in dem südlichen Inselarchipel und auch mit dem neuerdings betonten Vorkommen solcher in Amerika (Ranke, Ten Kate) in Übereinstimmung steht, sofern die in allen diesen Kontinenten beobachteten kleinen Abarten des Menschen- geschlechts durch besondere Merkmale von den großen abweichen, erblickte Kollmann hierin ein Ergebnis von allgemeiner Trag- weite, das zu der Annahme einer ursprünglichen Zusammen- setzung des Menschengeschlechts aus Pygmäen und aus hochgewachsenen Rassen anregt. Da ferner die Pygmäen gewiss aus früherer als aus neolithischer Zeit herrühren, mussten — führt Kollmann weiter aus — die beiden Formen mindestens gleichzeitig in der Entstehungs- epoche der Menschheit auftreten. „Wenn es die Großen waren, die zuerst auftraten, dann mussten nach den allgemeinen ent- wickelungsgeschichtlichen Prinzipien die Kleinen doch ebenfalls mitentstehen. Eine doppelte, unabhängige Entstehung des Menschen- 1) J. Kollmann, Die Pygmäen und ihre systematische Stellung innerhalb des Menschengeschlechtes. Verhandl. Naturf. Gesellsch. Basel, Bd. XVI, 1902 (Vortrag, Juli 1901), S. S5—117. Weinberge, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. 305 © fe) geschlechts ist naturwissenschaftlich betrachtet eine Unmöglichkeit. In solchen Streitfällen ist die Kardinalfrage am Platze: Gibt es eine Deszendenz oder gibt es keine? Bekennt sich ein Naturforscher zu der großen Lehre von der Deszendenz, so bleibt kein anderer Ausweg, als die Annahme, dass die Pygmäen und die Großen in einem Deszendenzverhältnis zueinander stehen. Dann aber muss irgend eine Entscheidung gegeben werden. Da liegen nur zwei Möglichkeiten vor; entweder stammen die Kleinen von den Großen ab, oder die Großen von den Kleinen. Das erstere läuft auf die Degenerationshypothese hinaus, die unhaltbar und falsch ist. Es bleibt also deszendenztheoretisch nur die zweite Möglichkeit be- stehen, dass die Großen von den Kleinen abstammen. Hieran knüpft nun der Satz an, in dem Kollmann die syste- matische Bedeutung der Pygmäen zusammenfasst: „Die Pyg- mäen sind als Urrassen aufzufassen, -dıe zuerst in die Erscheinung traten. Aus ihnen haben sich dann, durch Mutation, die hochgewachsenen Rassen entwickelt.“ Es wurde hier absichtlich ın extenso zitiert, um die Meinung des Autors der Hypothese vollkommen genau wiederzugeben. Mit Ein- wendungen wollen wir uns hier nicht befassen, sondern die weitere Begründung kurz darzustellen versuchen. Es wird zunächst hervorgehoben, dass schon die ganze Erschei- nung der Rassenzwerge den Forschungsreisenden immer den Ge- danken der „Urrasse“ nahelegte. Sie haben etwas Primitives, Urspringliches an sich im Vergleich zu den großen Rassen. Auch die vorhandenen Überlieferungen fassen die Pygmäen als Urrassen ım Sinne der ersten Bewohner eines Gebietes auf. Auch die naturwissenschaftliche Anschauung einer Hervor- bildung der Großrassen aus Pygmäen im Wege des Transformismus . hat stammesgeschichtlich keine grundsätzlichen Bedenken. „Die kleinen Formen der Pflanzen und Tiere sind immer den großen vorangegangen. Zuerst erschienen die Kleinen auf dem Schauplatz, dann erst kamen die Großen, die sich aus den Kleinen entwickelten im Laufe der Zeit. Das Gegenteil stände in offenem Widerspruch mit den Regeln der Entwickelung. Der aufsteigende Gang schreitet wie ein ehernes Gesetz fort. Die Forschungen der Zoologie, der Botanik, der vergleichenden Anatomie und der Paläontologie be- stätigen dies überall. Die Riesenamphibien, die Riesensaurier, die Riesenvögel, die großen Raubtiere, die großen Einhufer und die großen Wiederkäuer — sie alle sind nicht unvermittelt sofort als große Formen entstanden, sondern haben sich aus den verwandten, nahestehenden kleinen Arten allmählich entwickelt.“ Folgt die Genealogie des Menschen den gleichen Regeln, dann wäre vorauszusetzen, dass die großen Menschenrassen aus Pygmäen hervorgegangen sind. XXVl. 20 306 Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. Den Neandertalmenschen und seine Stammesgenossen von Spy und Krapina sieht Kollmann lediglich als einen divergierenden Zweig vom Stamm der großen Rassen an!). Ihn und den Pithec- anthropus von Java in eine direkte Abstammungslinie zu bringen, hält Kollmann aus mehreren Gründen für bedenklich; u. a. aus der entwickelungsgeschichtlichen Überlegung, dass die Menschheit nicht zuerst flache Schädel hatte, sondern im Gegenteil hohe. Er weist hier auf die bekannte Beobachtung hin, dass die Ähnlichkeit junger Affenkinder mit Menschenkindern sehr viel größer ist, als die der entsprechenden erwachsenen Formen untereinander. „Alle Er- fahrungen der Tierzüchter bezeugen, dass die Weiterentwickelung bei der Frucht schon im Innern des Mutterleibes einsetzen muss, soll ein höheres Ergebnis der Züchtung erreicht werden. An dem eben geborenen Sprössling prägen sich zumeist schon die neuen Merkmale aus. Ebenso verhält es sich bei der Naturzüchtung. Da nun die Affenfeten und die kleinen Kinder von Anthropoiden durch hohen Scheitel ausgezeichnet sind, so müssen wir nach den Erfahrungen der Züchtung annehmen, dass die Affenkinder, die mit der Aussicht auf Vervollkommnung dem Mutterschoß entsprangen, nicht allein mit guter Kopfform und mit viel Gehirn auf die Welt kamen, sondern noch mehr: der Sprössling durfte nieht in die rohe Schädelform der Mutter und des Vaters wieder zurücksinken; er musste wenigstens zu einem ansehnlichen Teil die günstigen Eigen- schaften weiter entwickeln, die er als Kind besaß. Ich glaube, es existiert kein berechtigter Grund, an dieser Auffassung zu zweifeln. Dann aber entstanden niemals zuerst Menschenrassen mit plattem Scheitel und vorspringenden Augenbrauenbogen aus den Menschenaffen, sondern im Gegenteil solche mit hohem, gut ent- wickeltem Kopfe, wie ihn die Affenfeten, die Pygmäen und die großen Rassen heute besitzen.* In dem nebenstehenden Schema bezeichnet das untere große Rechteck die erste Periode der Menschenentwickelung, die der Urhorde aus kleinen, gleichartigen, unter sich übereinstimmen- den Formen, die aus einem einzigen Ursprungszentrum hervor- gegangen, sich nach und nach zu einem Urstamm von Pygmäen vermehrte. In der zweiten Periode (II) bildeten sich aus der Spezies der Rassenzwerge drei Unterspezies ebensolcher Pygmäen: eine zymo- triche (Weddas und indische Pygmäen), eineulotriche (Negritos, afrika- nische Zwerge), eine lissotriche (amerikanische Pygmäen), die abge- sehen von den Haaren schon Unterschiede der Hautfärbung und der ) J. Kollmann, Neue Gedanken über das alte Problem von der Abstam- mung des Menschen. Korrespondenzbl. d. Deutschen Anthropolog. Gesellsch. 1905, Nr. 2 und 3. Auch Globus 1905. Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. 307 Hirnschädelform aufwiesen!). Die Divergenz der Linien nach oben deutet auf Verbreitung über verschiedene Kontinente. Als dritte Schöpfungsperiode (III) bezeichnet Kollmann die Epoche des Auftauchens dreier großwüchsiger Subspezies (Gr.), LE a We ES ML V. Typen un D N 1 r a ER DON HR auoUBlle ee. Wr FA le ea EST it, Bauen 1, ralber Wil a Rn ISCH) ln RT rl u oh Dun: u ur Yu Bine REN [mir wu ef; lıj Kt Kuh al N un ve un! {dt uf Yı ul 1! N Kin mt Wr hr m Yı h S f ’ E N n N N ı t ı q Gr. = HMVUCH S \ - 7 x x fi I) x ' 1 { x N : N N \ ı l x ST \ n ' N ‘ x x Kr \ x 5 ‘ N N x x x x 1 ‘ x SE ® \ f i [} N x Sn \ Ku | Az x SER \ \ [) | - N Y x n H N ‘ s Ds | | x N {} 3 x ES Gr \ Gr. r EIEIN \ 1 III. P= Pygmäen \ Nur ‘ P ©) P & P® Gr. = Große Subspezies von 160 em ı ı Li 1) ı } ı I ı 1} (6) & ®) II. Subspezies der Pygmäen ı ’ 1 [4 1 ı 1} 1 l ı l ' l U N N a. Si ! [4 N 1 \ ‘ v G a) ‘ x 4 x G N: H ‘ [4 ZZ I. Urhorde von Pygmäen \ 1 ı & ı 1“ BSH, H = Anthropoiden mit hohem Scheitel (Tertiär) N 1 [4 \ ‘ UNE \ Y 7 Anthropoiden mit NE] itlehen Gang Kollmann’s Schema zur Erläuterung der Anthropogenesis. die die gleichen Unterschiede der Behaarung, Pigmentierung und Kopfformen annahmen, wie ihre kleinwüchsigen Muttersubspezies 1) In dem nebenstehenden Kollmann’schen Schema sind diese Differen- zierungen durch helle, schwarze und punktierte Kreise angedeutet. 20* 308 Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. (P.), aus einem gewissen Anteil welcher sie innerhalb einiger senerationen durch Mutation im Sinne von de Vries hervor- gegangen sind. Es ist die „große Tat der Geburt der hoch- gewachsenen Rassen, die durch ein größeres und schwereres Gehirn die Pygmäen übertrafen und für den Kampf um das Dasein und für die Beherrschung der Welt besser ausgerüstet wurden.“ Die vierte Evolutionsperiode der Menschheit erscheint als Ära der Rassenbildung aus den Subspezies oder Rassenkonti- nenten. In jeder Subspezies treten hinsichtlich der Gehirnkapsel Langschädel, Kurzschädel, Mesocephalen auf. Auch die Antlitz- formen erhalten ihre charakteristische Gliederung durch Ausbildung auffallender Merkmale, die durch Korrelation in Zusammenhang stehen. Kurz, es ist eine wichtige, tatenreiche, für alle Zukunft entscheidende Zeit, die wie Kollmann vermutet, um das Diluvium herum ihren vorläufigen Abschluss fand. Mit Kollmann’s fünfter Periode endlich gelangen in der Menschheit jene auch dem Tier- und Pflanzenreich in ganz analoger Weise zukommenden Lokalvarietäten zur Entwickelung, für die er den Namen „Typus“ in Anwendung bringt. Ihr Erscheinen be- zeichnet zugleich innerhalb der großwüchsigen Rassen das Ende jeglicher Mutationen, deren letzte mehr als 10000 Jahre zurück- liegen muss, da mindestens für die neolithische Zeit und das ge- samte Paläolithikum eine Persistenz der charakteristischen Merk- male an diesen Rassen anzunehmen ist auf Grund der Funde, die aus diesen Zeiten vorliegen. Wie die Pygmäen sich seit der bedeutungsvollen Epoche III weiter differenzierten, darüber liegen keine Daten vor, aber es ist anzunehmen, dass auch sie Mutationen erfahren haben müssen und dass den Mutationsperioden Zeiten der Konstanz gefolgt sind, „in denen eine fortschrittliche Umänderung der Formen trotz be- stehender Variabilität (Anomalien) ausgeschlossen blieb. Es ent- standen Dauertypen, wie sie ja auch für die Epoche der Gegen- wart charakteristisch erscheinen. Im Hinblick auf die bekannte Hypothese einer pathologisch- degenerativen Entstehung des Zwergwuchses im allgemeinen unter- scheidet Kollmann genau zwischen Kümmerzwergen, Liliputs, die in der Tat als Derivate pathologischer Bildungen (krankhafte Keimaffektion, Rhachitis) auftreten, und Rassenzwergen, die allein den Namen Pygmäen verdienen und mit jenen nur. äußerlich die geringe Körpergröße gemeinsam haben. Auch die Annahme, dass die jetzt lebenden Pygmäenstämme, wie die Wedda u.s. w., durch Nahrungsmangel allmählich entartete Abkömmlinge großwüchsiger Rassen sind, weist Kollmann auf Grund einiger gegenteiliger An- gaben zurück, mit der Bemerkung, dass von den vielen Pygmäen- skeletten, die in den Museen aufbewahrt werden, keines Spuren Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. 309 von Degeneration oder sonstigen pathologischen Bildungen dar- bietet. Die Auffassung der Pygmäen der verschiedenen Erdteile als eine durch gleichartige Lebensbedingungen begründete sogenannte Konvergenzerscheinung (v. Luschan'), Thilenius?) u.a.) zwischen- einander sonst nicht verwandten Formen hält Kollmann schon deshalb für wenig annehmbar, weil ein Umwandlungsprozess von großwüchsigen Individuen in Pygmäen gegenwärtig nur in Gestalt von Kümmerzwergen, nicht in Gestalt von Rassenpygmäen statt- findet. IV. Dass die Annahme eines Durchtrittes der Menschenentwicke- lung von tertiären aufrechtstehenden Anthropoiden mit hohem gewölbtem Schädel durch die Zwischenstufe der Pygmäen eine Hypothese ist, die weiteren Ausbaues bedarf, wird von Kollmann bei dem Hinweis auf ihre Diskussionsfähigkeit ausdrücklich betont. Wenn es auch im allgemeinen nicht einzusehen ist, warum man eine solche nur wegen der Ungewohnheit der Vorstellung an- fangs sonderbar erscheinende Hypothese, selbst wenn sie anderen Anschauungen noch so sehr widerspricht, von vornherein ablehnen sollte, hat sie, wie gewöhnlich, in der Kritik Widerstand gefunden, und zwar schon sehr bald nach ihrem ersten Auftauchen?). Da es in der Wissenschaft ja nicht auf die Unbestreitbarkeit einer aus- gesprochenen Idee ankommt, sondern die Wahrheit das allemige Ziel ist, will ich zur Beleuchtung der Sachlage hier auch einige der wichtigeren erhobenen Bedenken, deren wesentlichste, wie wir sahen, Kollmann selbst aufwarf und zu widerlegen bemüht war, 1) Vortrag auf dem Deutschen Kolonialkongress, Oktober 1902. Of. Globus Bd. LXXXIJ, 1902, S.281. L. glaubt, dass die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen Melanesiern und afrikanischen Negern gleichfalls auf Konvergenz beruhe. Er stützt seine Ansicht hinsichtlich der Pygmäen hauptsächlich auf Analogien aus dem Tier- und Pflanzenleben, wobei er an die Ähnlichkeit zwischen einander nicht verwandten Alpenpflanzen, sowie an die Geschichte der Ratiten, der großen straußartigen Lauf- vögel erinnert, welch letztere teils von Tauben, teils von Rallen oder Kranichen ab- stammen; zwischen afrikanischem Strauß, südamerikanischem Rhea und neusee- ländischem Moa ist keine Verwandtschaft vorhanden. 2) Centralbl. f. Anthropol. 1903, Heft 4, 8.233. Thilenius weist bei dieser Gelegenheit mit Recht darauf hin, dass es nicht ohne weiteres möglich ist, wie dies beispielsweise Weule tut, in allen kleinwüchsigen Elementen etwas gemeinsames, eine einheitliche Völkerschicht zu erblicken, die einer geologischen Formation gleich sich über weite Erdräume erstreckt. Nicht in jedem Fall von kleinem Wuchs handelt es sich um Rasse; ob Pygmäen, die man findet, Volk, Rasse, Kümmerform bedeuten, ist jedesmal von Fall zu Fall zu entscheiden. 3) Vgl. u. a. Hopf, Zwerge und Pygmäen. Korrespondenzbl. d. Deutsch. Gesellsch. f. Anthropol., Ethnol. u. Urgesch. 1901, Nr. 6. Hier begegnen wir noch der Vorstellung einer Entstehung von Zwergvölkern durch Einfluss ungünstiger Lebensbedingungen. 310 Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. kurz anführen, zumal sich ergeben dürfte, dass diese unser Interesse für die Sergi-Kollmann’sche Hypothese keineswegs vermindern. In methodischer Beziehung und soweit es sich um die Körper- länge handelt, kommt E. Schmidt zu dem Ergebnis, dass es auch nach Ausscheidung der krankhaft Kleingewachsenen zweifellos Zwerge im anthropologischen Sinne gibt!). Welche Grenzen für den „normalen“ Zwergwuchs man aber auch annehmen mag, immer bleibt es ein wesentlicher Unterschied, ob Einzelindividuen oder ganze Bevölkerungen Gegenstand der Betrachtung sind. „Die Vor- stellung, als ob die Mitglieder einer solchen Zwergrasse sämtlich Zwerge im Sinne des individuellen Zwergenwuchses seien, kann nur zu irrigen Meinungen und falschen Schlüssen führen.“ Die individuelle Variation muss sich, wie Schmidt hervorhebt, inner- halb einer Bevölkerung in viel weiteren Grenzen bewegen, als die des Durchschnittsmaßes der verschiedenen Rassen oder Rassen- glieder der Erde. Die Grenzen der Größenstufen dieser letzteren sind ganz anders zu ziehen, als bei der Abgrenzung des individuellen Zwergenwuchses innerhalb einer bestimmten Bevölkerung. Deshalb ist der auch von Kollmann angewandte Ausdruck Pygmäen der Bezeichnung Zwergrasse vorzuziehen. Berücksichtigt man die Indi- vidualgrößenstufen und die Durchschnittsgrößen der Stämme, dann ergibt sich mit Beziehung auf unseren Gegenstand die Notwendig- keit, zwischen Kleinwuchs (160-150 em) und Pygmäenwuchs zu unterscheiden, welch letzterem nur die unter 150 cm befindlichen Stufen entsprechen würden. Was nun den vor allem durch Nuesch und Kollmann durch- geführten Nachweis betrifft, dass auf europäischem Boden in prä- historischer Zeit Pygmäenbevölkerungen gelebt haben, so unterwirft E. Schmidt die hierher gehörigen Funde einer ausführlichen sach- lichen Beurteilung?), wobei nach Ausscheidung der seiner Meinung nach unzulänglichen Beweisstücke sich folgende Größenstufen als vorhanden herausstellen (s. nebenstehende Tabelle): Aber auch bei diesen Funden handelte es sich um berechnete Größen aus Körperteilen (Röhrenknochen), deren Verhältnis zum Wuchs immer mehr oder weniger variiert und Unsicherheiten be- dingen kann. Ferner erwägt E. Schmidt die Möglichkeit eines Einflusses pathologischer Bildungen, die gerade bei ganz kleinen Individuen in das Bereich der Wahrscheinlichkeit besonders weit hineinrückt. In einem Falle, wo zugleich ein sehr großer Kopf vorhanden war, wird auf etwaigen Kretinismus hingewiesen. Dazu kommt hinzu, 1) Emil Schmidt, Die Größe der Zwerge und der sogenannten Zwergvölker. Globus 1905, Bd. LXXXVII, Nr. 7, 8. 121. 2) Emil Schmidt, Prähistorische Pygmäen. Globus 1905, Bd. LXXXVII, Nr 9982309%u: 325: Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. 341 dass bei der Deutung von Funden als Pygmäen die sogenannte individuelle Variation, der Größenspielraum eimer jeden Rasse in Rechnung gebracht werden muss, der über und unter die Durch- schnittsgröße überall mehr oder weniger hinmausreicht. In Baden z. B., wo eine durchschnittliche Körpergröße von 165 em vorherrscht, haben 0,4°/, der Wehrpflichtigen Buschmanngröße (144 em), 1,31°/, Andamanergröße, 12,72°/, Weddagröße (157 cm). Außerdem ist bei einer Vergleichung der Pygmäengräberfunde aus der Stein- zeit mit dem Wuchs der heutigen Bevölkerung zu bedenken, dass beispielsweise die neolithischen Bewohner Frankreichs mit 162 cm schon an und für sich etwas kleiner waren, als die moderne Be- völkerung dieses Landes (165 cm). Als schwerstes Bedenken gegen I Berechnete Größe im Leben Funde Fundstätte cm | | 131 1 Ergolzwyl 136 1 Schweizersbild 13% 1 Grotte aux Fees 141 1 Schlesien 142 1 Schweizersbild 143 3 Fees, Chälons, Worms 144 1 Mentone, Baouss&e-Rousse 145 | 1 Chälons 147 | 3 Fees, Chamblandes, Dachsenbüel 148 4 | Schlesien, F&es, Fe&es 149 2 Fees, Schweizersbild, Mureaux 150 | 3 Schlesien, F&es, Chälons s./M. 151 1 Chälons 152 1 Chälons 153 3 Chälons, Mureaux, Fees 154 1 Chälons 157 1 Mentone die Pygmäentheorie endlich macht E. Schmidt geltend, dass bei der Beurteilung der Pygmäen die Wachstumsverhältnisse des weib- lichen Körpers innerhalb der Rassen zu wenig beachtet wurden, so dass man fragen darf, „ob die von Kollmann und Nuesch beschriebenen und angeführten kleinen Menschen als „Rassen- zwerge“, als „Pygmäen“ zu deuten oder vielmehr nichts anderes sind, als die kleinen und meist weiblichen Individuen einer fast mittelgroßen Rasse“? Auch Schwalbe hat in jüngster Zeit gegenüber Kollmann’s Anschauungen, ohne das Vorkommen lebender Pygmäenrassen zu leugnen, geltend gemacht!), dass es sich bei den bisher bekannt ge- l) G. Schwalbe, Zur Frage der Abstammung des Menschen. Globus 1905, Bd. LXXXVIII, Nr. 10. 312 Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. wordenen prähistorischen Pygmäen um keine verschiedenen Rassen, sondern nur jeweils um Größenvariationen innerhalb einer und derselben Rasse gehandelt haben möchte. Speziell warnt Schwalbe vor einer Verallgemeinerung des Satzes, dass in der Entwickelungs- reihe der Wirbeltiere die großen Formen immer auf die kleinen folgen, eine Annahme, die für die spezielle Abstammungsgeschichte einzelner Arten keineswegs immer zutrifft. Bei domestizierten (Pferd, Esel, Ziege, Rind, Huhn) sowohl, wie bei nicht domesti- zierten Tieren (Klephas melitensis, Wildschwein, Musteliden) kommen Zwergformen vor als lokale Variationen. Unter 340 Fischotter- schädeln waren bei vollkommen erwachsenen Exemplaren indivi- duelle Variationen mit einem Abstand von fast 20 mm Länge. zu finden, und doch handelte es sich um eine und die nämliche Art, Die Zwergrassen würden danach nur als besonders kleine Repräsen- tanten der großwüchsigen Stämme anzusehen sein. Mit Beziehung auf die Frage der Abstammung hält Schwalbe daran fest!), dass der sogenannte Homo primigenius vom Typus der Neandertal-Spyschädel „geologisch ungleich älter ist, als die Pygmäen, selbst wenn man deren Existenz in das jüngere Diluvium zurückverlegen wollte“; es kann also an eine Abstammung des großschädeligen Homo primigenius von Pygmäen schon ‚aus geo- logischen Gründen nicht gedacht werden. Andererseits betont Schwalbe, dass auch die Form des Gehirnschädels nieht für eine Hervorbildung aus Pygmäen spricht, denn die hochaufgerichtete Stirn, der bedeutende Kalottenhöhenindex u. s. w. der letzteren fällt voll und ganz in das Formengebiet des Homo sapiens, während der Neandertaler morphologisch einem primitiveren, älteren Schädel- typus entspricht. Das Wahrscheimlichste sei also immer noch, dass der Neandertaler zu den direkten oder indirekten Vorfahren des rezenten Menschen gehört; Formen wie die jetzt lebenden Pygmäen können aber keinesfalls als die nächsten Vorfahren aller Menschen angesehen werden. V, Bei der Ausmessung von rund 10000 Wehrpflichtigen unseres Landes, in dem bei Ausscheidung der offenkundig Pathologischen die mittlere Körperlänge um das 21. Lebensjahr zwischen 160 und 175 cm zu liegen scheint, habe ich mich vergeblich bemüht, eine natürliche Gruppierung der vorhandenen Variationen aufzufinden, die es gestatten würde, die tatsächlich bestehenden Variations- 1) Vgl. hierzu G. Schwalbe, Der Neandertalschädel. Bonner Jahrbücher, Bd. CXXXIX, S. 106, 1901. — Über die spezifischen Merkmale des Neandertal- schädels. Anatom. Anz., Ergänzungsheft zu Bd. XIX, S. 44, Jena 1901. — Die Stellung des Menschen im zoologischen System. Straßburger Medizin. Zeitg. 1903. — Vorgeschichte des Menschen. Braunschweig 1904. Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. 313 verhältnisse näher zu ergründen. Bedingte Gruppierungen ergeben ja ein verschiedenes Bild, je nachdem, welche Grenzen man für. die einzelnen Größenstufen annehmen will. Ich musste mich darauf beschränken, die realen Maße auf eine große Tafel nebeneinander zu stellen, die zeigen sollte, ob bei dem Umfang des Maternals, das mir zur Verfügung stand, eine Regelmäßigkeit der Varıa- tionsstruktur hinsichtlich der Körpergröße als vorhanden an- genommen werden darf. Es ist daraufhin für die hier verfolgte Aufgabe zu bemerken, dass die Variationen des Wuchses beim A nhen nach der unteren und oberen Grenze hin wahrscheinlich nicht ein gleiches Verhalten zeigen in dem Sinne, dass gewisse Größenzustände in der Um- gebung der oberen Grenze ander in ihrer Verbreitung bevorzugt erscheinen als andere, die in eine entsprechende Nähe der unteren Wuchsregion fallen. Unter rund 7000 Einzelmaßen, die für jene graphische Auf- zeichnung zunächst Verwendung en gab es mindestens 5 Indi- viduen mit einem Wuchs unter 145 cm, der auch in Gegenden mit geringerer Durchschnittsgröße schon als zwergenhaft angesehen werden muss. Dagegen war (bei gänzlicher Nichtvertretung der Stufen von 188 und 189) nur ein einziges Individuum mit vollen 190 em Körper- größe vorhanden; wirkliche Riesen fehlten also in diesen Be- obachtungsreihen, wie zu erwarten, ganz, für die Verhältnisse unserer hiesigen Bevölkerung auch annähernde Riesen. Dazu kommt, dass Maße unter 150 cm, die bei einem hoch- gewachsenen Stamme, wie dem von mir untersuchten, entschieden als auffallend klein rauschen sind, und, wie wir fr a sahen, von den meisten Beobachtern hedneungelas noch dem Pygmäenwuchse zugerechnet werden, 31mal vertreten ‘waren, also eine Häufigkeit von fast 1/,°/, aufwiesen. Ich will daraufhin keine weitgehenden Schlüsse aufbauen. Aber das eine, was zunächst hervorgeht, ist die Anschauung, dass es nicht gleichgültig sein möchte, ob man eine Rasse oder Bevölke- rung vom Gesichtspunkte der unteren oder der oberen Wuchs- variationen betrachtet. Man wird dabei in jedem Falle zu einem verschiedenen Resultat kommen, da die extremen Minderwüchsigen in der Variationsreihe deutlieh bevorzugt erscheinen. Es würde also ein etwaiger Versuch, der Pygmäentheorie der Menschheitsentstehung eine „Gigantentheorie* gegenüberzustellen, worauf schon hingewiesen worden ist, meiner Ansicht nach nicht auf Erfolg rechnen dürfen. Die Entwickelungsbedingungen der Organismen sind ja be- kanntlich an und für sich derartige, dass untere Stufen überall naturgemäß in einer gewissen Mehrzahl vorhanden sein können. 314 Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. Aber wenn wir vom Standpunkte der Rasse und Vererbung!) allein urteilen, dann würde in dem vorhin bezeichneten Verhalten der Wuchsvariationen etwas vorliegen, was, wie mir scheint, der Sergi- Kollmann’schen Lehre nicht widerspricht. VI. Der Nachweis prähistorischer Pygmäen ist, ohne eigentlich für die damit zusammenhängende Abstammungshypothese entschei- dend zu sein, sicher ein bedeutungsvoller Schritt, falls in der Tat eine stärkere Häufung solcher Typen in weit zurückliegenden Ent- wickelungsepochen wahrscheinlich gemacht würde. Während nämlich in anderen Kontinenten, wie wir sahen, noch jetzt mehr oder weniger geschlossene Zwergrassen gefunden werden, tritt dieser Typus in Europa sozusagen nur als gelegent- liche Variation in der gegenwärtigen Bevölkerung, als sporadische Erscheinung auf. Unter 45000 bayerischen Wehrpflichtigen fand Ranke nicht mehr als 43 Pygmäen unter 140 cm Körpergröße, und Quetelet hat berechnet, dass auf 1000000 französischer Konskribierter des 20. Lebensjahres etwa 1200 Individuen unter 132 cm vorkommen müssten. Für Amerika hat Gould ähnliche Feststellungen beigebracht. Man darf im Hinblick auf Kollmann’s Hypothese fragen, warum sich auf dem europäischen Kontinent allen — die Lapp- länder erreichen ja immerhin schon 160 cm und darüber — keine geschlossenen Gruppen von Pygmäen, keine Herde solcher, wie man sie in anderen Gebieten findet, erhalten haben? Es ist auch schwer zu verstehen, welche Umstände in einer der unsrigen so wenig zurückliegenden Zeit, wie es das Neolithikum Mitteleuropas ist, zu einer so ausgiebigen Vernichtung der Pyg- mäen, auf welche die Funde in Frankreich und in der Schweiz hindeuten sollen, geführt haben möchten? Die Sergi’sche Annahme eines einstigen Pygmäenstromes vom Süden her lässt uns hinsichtlich dieser Frage im Zweifel. Koll- mann hält sich an die Funde selbst, ohne auf die Stätten der ur- sprünglichen Hervorbildung seiner Pygmäentypen näher einzugehen. Falls die Wagner’sche Idee eines arktischen Schöpfungs- zentrums der Menschheit, die in neuerer Zeit besonders durch L. Wilser aufgenommen worden ist, einen wahren Kern hat, dann fände auch die Pygmäenhypothese darin eine gewisse Stütze. Denn die ältesten Wellen des primitiven Menschen mussten dem Ansturm 1) Dass Zwergwuchs auch beim Menschen erblich ist, weist Niceforo direkt nach. Unter 140 Zwergen von Sardinien mit einer Körpergröße unter 155 cm war Erblichkeit vorhanden bei SS von 98 männlichen und bei 5 von 6 weiblichen Zwergen, und zwar war der Nachweis der Erblichkeit in diesen Fällen außerordent- lich leicht zu führen. Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. 35 neuer, jüngerer Wellen ausweichen, und es konnten sich, falls Pyg- mäen zuerst entstanden sein sollten, wohl nur geringe Reste von ihnen unter den späteren, besser gerüsteten Entwickelungselementen auf die Dauer behaupten. v1. Zum Vorteil gereicht, wie mir scheint, der Pygmäentheorie der Menschenabstammung noch ein weiterer Umstand, der, soviel ich weiß, in der Diskussion bisher nicht in diesem Sinne verwertet worden ist. Ich meine die Tatsache, dass der Mensch seit dem Diluvium und Paläolithikum ‘in Westeuropa von seinem ersten Auftreten an, wie es scheint, an Größe deutlich gewonnen hat. Rahon berechnete für ; 2 E: . eine Körperlänge von Frankreich DENE A GE TEEN Nee al EA TR 1629 cm Nechtkikum Ne NE 721629 Ei Protohistorische: Zeit, Se... mama 1062, 7 Mittelalter . - . - : rer #1690- 169,7, 4% Diese Zahlen gelten sämtlich für männliche Individuen, doch ergaben die Messungen für das weibliche Geschlecht auch das gleiche Resultat. Neolithikum 1506 cm, Protohistorikum 1539 em, Mittelalter 155 cm. Die Angabe, dass einige frühhistorische Völker (Merovinger, Burgunder, Gallier) größer als der moderne Mensch gewesen sein sollen, ist nicht ganz sicher. Auch wird man sich der Beobachtung erinnern, dass mittelalterliche Panzerrüstungen den modernen Durchschnittsthorax nicht umspannen. VII. Die Ergebnisse der Bestimmungen des Gehirnvolums können nur mit großer Vorsicht auf die Verhältnisse der Pygmäen aus- gedehnt werden. Es darf aber als feststehende Tatsache angesehen werden, dass in sämtlichen Breiten eine gewisse Anzahl mäßig und extrem nano- cephaler Menschen zu den charakteristischen und konstanten Varia- tionen der Schädelausbildung gehört. Verbreitung der Nanocephalie in der männlichen Bevölkerung der Erde. ee Ten % | Extrem Nanocephale n - 5 2 | Bevölkerung u. Kapazität | Nanocephale (unter 1200) | 1100, I — 2681. Eutopser, .--....... 1289: AH, 22,000 H88- Asiaten. s wre... SAH 6.=.M 0: ,, 384 Amerikaner . . . 6216 0:5: 1436,07, #322 Alnkaner.n. re. Dis 10,4, 46=85,0 203 Australier, Sr, > Sean, N, 103.00 316 Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen Aus meinen eigenen hierbezüglichen Untersuchungen beschränke ich mich darauf, eine Zusammenstellung der Nanocephalen unter 5000 männlichen Museumsschädeln, bei denen die Herkunft bekannt war, zu liefern, aus der’man ersehen kann, dass die mäßigen Nano- cephalen durchschnittlich eine Verbreitung von 9,5°/, auf der Erde haben, die extrem Nanocephalen sich durchschnittlich in einer Häufigkeit von 19 pro Mille vorfinden. Beide Stufen zeigen in den verschiedenen Bevölkerungsgebieten die gleiche relative Verbreitung. Sie sind jedoch am stärksten in Ozeanien und Australien vertreten, demnächst bei den genuinen Amerikanern und auf dem afrıkanischen Kontinent, am schwächsten in Europa verbreitet. Da die angeführten Zahlenreihen entschieden auf konstante Beziehungen hindeuten, wird anzunehmen sein, dass auch die Nano- cephalie, gleich dem allgemeinen Pygmäenwuchs, zu den erblichen Charakteren gehören, ein Umstand, der in gewissem Sinne eben- falls der Kollmann’schen Theorie zugute kommt. Der Hinweis, dass auch die Nanocephalie als Ausdruck indi- vıdueller Variation bei den Rassen auftritt, hat indessen auch seine volle Berechtigung. I Im ganzen dürfte schon aus den vorstehenden Daten zu er- kennen sein, dass es für den Fernerstehenden nicht leicht sein möchte, gegenüber der Sergi-Kollmann’schen Theorie eine be- stimmte Stellung einzunehmen. Es ıst daran zu erinnern, dass die Bildung von Zwergrassen bei den Wirbeltieren an vielen Beispielen direkt zu verfolgen, aber nicht immer auf ihre Ursachen zurückführbar ist. In den 70er Jahren wurde eine kleine Anzahl wilder Trut- hühner auf eine der Inseln in der Nähe von Kalifornien übergeführt. Sie gediehen dort ausgezeichnet, und zehn Jahre später fanden sich zahlreiche Nachkommen derselben auf der kleinen Insel, das Gewicht der Exemplare war aber auf ein Drittel des Gewichts der eingeführten Exemplare gesunken. Im Laufe weniger Generationen hatte sich hier also eine Zwergform ausgebildet?). Vielleicht spielte Inzucht in diesem Fall eine gewisse Rolle. Es wird ja angenommen, dass die Wirkungen der Inzucht sich nicht nur in einer Erschöpfung des Fortpflanzungsvermögens äußern, sondern noch nach vielen Generationen zu einer Abnahme der Körpergröße führen können?). Es scheinen aber auch Kreuzungen zwischen verschiedenen Arten und Rassen einen gewissen Einfluss auf die Körpergröße zu üben, und zwar ebenso beim Tier wie bei dem Menschen. 1) J. E. V. Boas, Lehrbuch der Zoologie, 1890, S. 72. 2) Vgl. hierzu Biolog. Centralbl. ‘Bd. XIV, 8. 75. Weinberg, Die Pygmäenfrage und die Deszendenz des Menschen. 317 Nach den Mitteilungen von Studer existierte von der Diluvial- zeit an neben dem Wolf eine kleine (anis-Art, welche das Ver- breitungsgebiet des Wolfes teilte, aber im Süden darüber hinaus- ging und dabei allein Gelegenheit fand, auf das australische Festland zu gelangen. Diese Art Canis zerfiel nun in zwei Hauptvarietäten oder Unterarten: den Dingo der orientalischen Region und (unis ferox Bourg. der Paläarktis. Es gab mittelgroße und kleinere Rassen, wie Canis Mikii und hodophylax. Diese schlossen sich zu- erst dem Menschen an und wurden durch Zuchtwahl mannigfaltig verändert. Durch einfache oder wiederholte Kreuzung mit dem Wolf entstanden große Rassen an verschiedenen Orten'). Den gleichen Vorgang der Entstehung großgewachsener Rassen darf man wohl auch für andere Tierarten annehmen. Vom Menschen sind die hierhergehörigen Erfahrungen noch recht spärlich, aber einzelne Beobachtungen deuten an, dass auch der Mensch durch Kreuzung an Körpergröße gewinnen kann. Bei- spielsweise sollen, wie F. Boas gefunden hat?), Halbblutindianer größer von Wuchs sein, als Vollblutindianer, wobeı die Kreuzlinge (gewöhnlich Bastarde von Indianerin und Franzose) an Größe beide Elternrassen übertreffen. — X. Unsere Vorstellung von der Erscheinungsweise der Pygmäen wäre keine vollständige, wenn wir uns nicht zweier Eigentümlich- keiten erinnerten, die ihnen oder einem Teil von ihnen zugeschrieben werden: Infantilismus und Degeneration. Es handelt sich hier vor allem um die innerafrikanischen Pyg- mäen. Die Akka schildert uns Schweinfurth?°) in ähnlicher Weise wie Lenz die Obongo als fast vollkommen bartlos, mit auffallend großem Kopf, der einem schwachen Halse wie einem Stengel auf- sitzt, langem Rumpf und langen Armen, diekem Hängebauch, wie man ihn bei den Kindern der Araber und Egypter häufig findet, auffallend zartem Handskelett, schwachem Kinn, kugelförmigem Schädel mit kleinem Gesicht, großen Ohrmuscheln, die auch die Buschmänner haben im Gegensatz zu der schönen Ohrform der Neger. Dazu kommt ein unsicherer, schwankender Gang und eine auffallende geistige Zurückgebliebenheit. „Mein Liebling war nicht imstande“, schreibt Schweinfurth (a. a. ©. S. 153), „im Laufe von 1!/, Jahren, die er bei mir verlebte, so viel Arabisch zu lernen, um sich auch nur notdürftig darin verständlich zu machen, während meine anderen eingeborenen Begleiter sich in wenigen Monaten 1) Prähistorische Hunderassen in ihrer Beziehung zu den gegenwärtig lebenden Rassen. Abhandl. d. Schweizer. Paläontolog. Gesellsch. 1901, Bd. XXVIII. Zit. nach Globus Bd. LXXXI, S. 292. 2) Verhandl. d. Berlin. Gesellsch. f. Anthropol., Ethnolog. u. Urgesch. 1895. 3) Schweinfurth, Im Herzen Afrikas. 1874, Bd. II, S. 131ff. 318 Zacharias, Annales de Biologie lacustre. eine bewunderungswürdige Copia vocabularum zu eigen machten. Nsewüe hat es nicht weiter gebracht, als einige Bongophrasen zu lernen, die nur mir und meiner täglichen Umgebung verständlich waren. Ganz ähnlich lauten die Berichte über die Buschmänner*. Schweinfurth betont auch die eigentümliche Neigung der Akka zur Tierquälerei und zu allerhand unsinnigen Streichen (nächtliches Schießen auf Hunde im Lager u. s. w.), sowie ihre koboldartige Bosheit und ihre Freude über die abgeschnittenen Köpfe der A- Banga. Die Sprache der Akka findet er vollkommen unartikuliert. Zu den sogenannten Degenerationserscheinungen der afrika- nischen Pygmäen gehört jedenfalls nicht ihre schon erwähnte Hänge- bäuchigkeit, die Ascherson infolge besserer Ernährung schnell zurückgehen sah!). Ähnlich dürfte es sich mit der Magerkeit der Pygmäen verhalten. Was ihre gefältelte, runzelige Haut be- trifft, die Buschmännern und Akkas in gleicher Weise eigentüm- lich sein soll, so glaubte G. Fritsch darin eine Art Rassenmerk- mal zu erblicken, womit aber hinsichtlich der Degenerationsfrage nichts gesagt ist. Es wäre ja an und für sich nichts Besonderes, wenn einzelne Gruppen von Pygmäen infolge von ungünstigen Lebensbedingungen, isolierter Lage und dauernder Inzucht in Degeneration übergingen; denn analoge Erscheinungen sind auch bei großgewachsenen Rassen nicht allzu selten. Aber es geht nicht an, alle Pygmäen als Degenerationserscheinungen hinzustellen, wie man sich bei einem Blick auf die schönen Tafeln des Sarasinschen Ceylonwerkes leicht überzeugen kann. Annales de Biologie lacustre, publies sous la direction du Prof. Dr. Rousseau. Tome I, Fasc. 1 (Mars 1906) mit 25 Textfiguren und 2 Karten. Bruxelles. Am 1. Mai wird die erste belgische Süßwasserstation zu Over- meire-Donck (zwischen Gent und Brüssel) eröffnet werden. Die oben angezeigte periodische Zeitschrift ist das Publikationsorgan dieses neuen Instituts, dessen Leiter und Begründer Herr Pröf. Rousseau vom Musde Royal des Sciences naturelles in Brüssel ist. An vielen Orten des Auslandes sind in jüngster Zeit bio- logische Süßwasserstationen errichtet worden, und eben jetzt wieder ist ein wohlhabender Privatmann in Österreich dabei, im Verein mit einer Anzahl von Gelehrten in der Nähe von Lunz bei Wien ein Laboratorium zu dem Zwecke lakustrischer Forschungen zu be- gründen. Und wer einen Blick auf die Literaturyerzeichnisse des letztverflossenen Dezenniums wirft, der wird mit Überraschung, ge- wahren, welche außerordentliche Menge von Publikationen aus dem Gebiete der biologischen Seenkunde jetzt vorliegen -— eines Wissen- schaftszweiges, von dem selbst namhafte Fachleute noch vor einer 1) Zeitschr. f. Ethnologie 1876, S. 211. Zacharias, Annales de Biologie lacustre. 319 kurzen Reihe von Jahren die Ansicht hatten, dass er wohl eher als eine unterhaltende Liebhaberei, denn als eine ernste Beschäftı- gung zu betrachten sei, wovon fruchtbringende Resultate erhofft werden könnten. Wie schon so oft auf theoretischem und praktischem Gebiet, so hat auch im vorliegenden Falle die unwiderlegbare Logik der Tatsachen den Sieg über die Meinungen Einzelner davongetragen. Die jüngere Generation der Naturforscher ist nunmehr definitiv für den neuen, immer mehr aufblühenden Wissenschaftszweig der Hydro- biologie gewonnen, und als die klassischen Länder, wo diese For- schungen mit dem meisten Erfolg betrieben werden, sind die Schweiz und Nordamerika zu bezeichnen. In Deutschland wird ihnen gegenüber mehr eine wohlwollende Duldung geübt, als dass sie mit jener Tatkraft gefördert würden, welche sie ihrer allge- meinen Bedeutung nach zweifellos verdienen. Die Geschichte der biologischen Station in Plön ist den Eingeweihten hinlänglich bekannt; das hiesige Institut hat bis vor wenig Jahren noch um das bloße Dasein kämpfen müssen, obgleich eine große Anzahl grundlegender Ar- beiten aus ihm hervorgegangen sind, und obgleich ın der bezüglichen Fachliteratur längst unumwunden anerkannt wurde, dass die Unter- suchungen am Gr. Plöner See (die mit den allerbescheidensten Mitteln zur Ausführung gelangten) eine reiche Quelle von Anregung für alle diejenigen gewesen sind, welche sich dem neuen Gebiete zuzuwenden begannen. Unvergessen sei es darum, und es möge bei dieser Gelegenheit aufs neue in Erinnerung gebracht werden, dass es in erster Linie der verstorbene preußische Kultusminister Exzellenz Dr. von Gossler gewesen ist, der den wissen- schaftlichen und praktischen Nutzen einer gründlichen Erforschung der Binnengewässer sofort erkannte und demgemäß zu fördern geneigt war. Und dieses ministerielle Vorgehen wurde dann sofort von Männern wie E. du Bois-Rey- mond, R. Virchow und Franz Eilhard Schulze mit autori- tatiren Empfehlungen, resp. Gutachten unterstützt. Aber der Betrieb des Plöner Instituts geschah zunächst nur mit den aller- schwächsten finanziellen Mitteln, so dass wohlhabende Privatleute — insbesondere auch der verstorbene F. A. Krupp — mehrfach zur Deckung der entstehenden Kosten das .Ihrige beitragen mussten. Es hat eines beträchtlichen Aufwandes von moralischer Energie und zielbewusster Arbeitskraft meinerseits und von seiten meiner gleichstrebenden Mitarbeiter bedurft, um unter so schwierigen äußeren Umständen zu beweisen, dass die uns zuteil werdenden Spenden für eine gute und nützliche Sache geopfert wurden. Dass dieses unbedingt der Fall gewesen ist, geht aus der vorliegenden Tatsache hervor, dass die lakustrische Forschung gegenwärtig nicht nur vollste Anerkennung erfährt, sondern dass sie auch von Jahr zu Jahr mehr in Aufnahme kommt. Wenn ich mir erlaube, auf die Verhältnisse von einstmals und Jetzt hier vor dem Forum der Fachgenossen mit deutlichen Worten hinzuweisen, so wird das von vielen verzeihlich gefunden werden, 320 Jacharias, Annales de Biologie lacustre. Gerade die belgische Süßwasserstation, deren Entstehungsgeschichte mir bis ins einzelne bekannt ist, hat in ihrer Genesis mit ähn- lichen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, wie die meinige. Nun ist aber auch dort die Indifferenz gebrochen worden und es erhebt sich gegenwärtig an einem großen, seenartigen Teiche in Overmeire eine stattliche Anstalt mit hellen Arbeitsräumen und reichhaltiger Bibliothek, welche in diesem Frühling noch ihre Arbeiten be- ginnen wird. Das eben erschienene I. Heft der „Annales de Biologie lacustre“ hat einen Umfang von 170 Druckseiten und bringt eine längere Reihe von interessanten Aufsätzen. Als Einleitung dazu hat der bewährte Altmeister der Seenforschung, Prof. F. A. Forel in Morges, ein Programm für die in Overmeire zu betreibenden Studien auf- gestellt. Dann veröffentlichen Poirier und Bryant eine Beschrei- bung der Gegend des Mont-Dore und der französischen biologischen Anstalt zu Besse. Diesem Kapitel folgt die Beschreibung einer brasilianischen Trichopterenlarve von G. Ulmer (einem Hamburger), welcher durch seine Arbeiten auf dem Gebiete der Phryganiden- kunde hinlänglich auch in deutschen Forscherkreisen bekannt ist. Weiter schreibt K. Loppens über einige Varietäten von Mem- branipora membranacea L., die im salzigen Wasser vorkommen. G. Schneider behandelt das Thema: Über den augenblicklichen Stand der Süßwasserforschung in Finland. L. Car referiert über das Mikroplankton der Karstseen. Thiebaud und F. Favre liefern einen Beitrag zur Kenntnis der Wasserfauna des Jura. H. Schou- teden berichtet über einige aspirotriche Infusorien. Die italienische Naturforscherin, Frau Dr. Rina Monti, hat sich mit einer ausge- zeichneten Arbeit über ihre neuesten Forschungen in einigen Seen des Ruitor-Massivs (Italien. Alpen) beteiligt, und den Schluss bildet ein Beitrag zur Algenkunde von Kamerun, den die Herren K. Gutwinski und Chmielewski zur Verfügung gestellt haben. Dr. E. Rousseau hat mit diesen „Annales“ eine Zeitschrift ins Leben gerufen, welche ihrem ganzen Zuschnitt und ihrer äußeren Ausstattung nach, den besten Eindruck erweckt. Zusammen mit dem „Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde*“ bildet die neue belgische Publikation ein gutes literarisches F örderungsmittel hin- sichtlich der Ausbreitung des Interesses an süßwasserbiologischen Forschungen. Ich betrachte Rousseau und seine Annales als treue Verbündete in meinem Bestreben, den lakustrischen Forschungen immer mehr Terrain zu erobern, wobei ich zum Schluss aber auch nicht unterlassen möchte, dem „Biologischen Öentralblatt“ für das seit Jahren hervorgetretene Wohlwollen zu danken, mit welchem es die neuen literarischen Erscheinungen auf dem Gebiete der Hydrobiologie stets berücksichtigt und seinem ausgedehnten Leser- kreise durch Referate zugänglich gemacht hat. Dr. Otto Zacharias (Plön). Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. - Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie % in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20. Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. XXVL.BdA ande "sel u. 18. Inhalt: Toyama, 'The Mendels laws of heredity as applied to the silk worms-erosses. — Simroth, Über den schwarzen Hamster als typische Mutation. — Fuchs, Wilhelm Roux, Die Ent- wiekelungsmechanik, ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft (Schluss). — Samuely, Die neueren Forscehnngen auf dem Gebiet der Eiweilschemie und ihre Bedeutung für die Physiologie. Mendel’s laws of heredity as applied to the silk-worm crosses. By Kametaro Toyamıa. (From the zoological institute, College of Agriculture, Tokyo Imperial University.) On account of the greatest interest taken by the scientific world on Mendel’s laws of heredity and on the discussion about their validity, following experiments on silk-worms (Dombyx mori, L.) ınay not be quite valueless, inasmuch as they show what practical application that principle may find when applied to a certain species of insects not heretofore studied ın this respect. The characters chosen for experiments are 1. colours of cocoons (yellow or white), 2. larval markings (striped, normal or no-markings), "8. forms of cocoons (spindle shaped or oblong;), 4. broods (unı-, di- or multivoltine). . The colours of cocoons. Experiments were conducted with the following erosses, some of which were reared through 18 generatians. XXVl. 21 322 Toyama, Mendel’s laws of heredity as applied to the silk-worm crosses. 1. Sıamese multivoltine whites X Siamese multivoltine yellows, 2. Siamese multivoltine yellows X Japanese univoltine whites, 3. Japanese univoltine whites X European univoltine yellows. Every breed above cited was reared by myself during five or more generations preliminary to the breeding experiments in order to test whether ıt is really a pure breed which spins cocoons of a single fixed colour or not. Since the disintegration of parent characters occurred in some of the second or third erosses the hereditary phenomena were much more complicated here than those in the first cross (Siamese whites X Siamese yellows) where no such phenomenon has been observed. We will at first consider the simpler cases and then pass over to the more complicated ones. A. Simpler cases. The first cross generation. When the “yellows” and the “whites” are allowed to breed together the first cross always gives . yellow cocoons with no ex- ception, in other words, the yellow character ıs dominant while the white is recessive. The’second cross generation. The offspring raised from this yellow form of the first gene- ration produces two kinds of cocoons, yellow and white in the pro- portion of three yellow to one white, namely in average: Number of parents White cocoons " Yellow cocoons 35 2,026 (25,03°],) 6,069 (74,96°],) In individual cases, the rates between white and yellow cocoons fluctuate between 21,64°/,: 78,35°/, and 30,6°/, : 69,39 %,- The third and the following generations. In the third and subsequent generations, the white form pro- duces offspring, all coming true to parents without exception, while the yellow one, on the contrary, produces two kinds of offspring, one spinning only yellow cocoons (which is called A form hereafter), the other (called B form hereafter) yellow as well as white in the proportion of yellow 75,1°/, to white 24,8°%,. Of the form A, we may distinguish two kinds, namely, 1. those which remain constant throughout succeeding generations (form a), 2. those which when paired inter se, will again split into white (about 25°/,) and yellow (about 75°/,) forms (form P). ‘ Toyama, Mendel’s laws of heredtiy as applied to the silk-worm crosses. 393 O< The proportion between the form a and f is not so constant as in the case of plants experimented by Mendel, Öorrens, De Vries, Tschermak and others. Of the form B, phenomena of segregation similar to those observed in the third generation are repeated in subsequent gene- rations when similar ones are bred together. The following table will serve to illustrate the phenomena of the segregation of their parent-characters in the ofispring: Whites’” X “Vellows’”. Cross generation: Therme. ue ce: abru..sallyellaws, The second . . . . . 75°], yellow + 25°], white. Some of offspring Some of offspring | uniform yellow consisting of 7 - —— ee ee fe = White (25°/,) and Yellow (75°,). I: = ' & re, | 18 f6 =) jeD} = ® PB > En = 2 w = © | oo 7 [77 TOT INGE NERTSINET: AU ROTER Im “= o > wendete sensaen2es = = =>odz2|ca ms todo 87 „Fl zZ == BOT 2 | 2 Le elle ade 1245287 5 © ar ao 24 Eee N ee = © oe, |ır% ar alehallzinacelsen ee de an. Ben een NEM ar bes zr esler le E ERELE era, ern Nee Beten B Sasse 5n| ST | BBeR22 oo. » oJ eo» nei oNS a5 =! aloe. 735.J = De S a | > oa eo ..3 or | 937 = = Oo na oO 80. Ir NE oO 80 4 Ssed—, = ES © = s5 285875 2C SIERONEISI HE 7 = Leine Su lele areas or] 9 "oa #rg Ss ae! oa, oo alarn Sasas#s|2Zungace |2 aa |. mE Sanieren oa mn man — | Han ı\5+# . D= Ser &n | = 27T g n> 908 oO oos5 io. oo-o%9 Dr am na (en| = a.= | a oz 03€ 00© - de Bean EE Sesae San>o res eis ao, | gsK28:l8 283-8 n— DIS. er ET Dave aD nn Sn If we compare our results with those obtained by Mendel and others in plants, we easily see that both agree very well except in the two points mentioned below: : The first consists in this that in plants when a dominant cha- racter is once separated from a hybrid parent as a uniform brood, it remains constant throughout subsequent generations, while with silk-worm it is not so, in as much as the yellow form, once sepa- rated as a uniform offspring, sometimes produces a mixed offispring subsequently. The second point of the difference is that the pro- portion between pure and hybrid dominant forms which appears in the third generation does not remain constant. This diserepaney may be due to the following causes: In the second cross generation, as Mendel taught us, there are two kinds of dominant forms, one pure dominant or D, another 21* 294 Toyama, Mendel’s laws of heredity as applied to the silk-worm cerosses. 924 N N hybrid dominant or DR. Now since in our case there is no means of distinguishing pure yellow (= pure dominant) from hybrid one, the crossing of these forms at random is the necessary result and we may reasonably expect to get three combinations, DX D, DRXD and DR X DR. In the former two combinations, all offspring ex- hibit the dominant character, while one of them (DR X DR), when mated together, will produce mixed ofispring. This may serve to illustrate the first discrepancy above eited. Similarly, from random mating within the forms D and DR, it will not be expeeted be produced DXD and DRXD in a con- stant proportion, which may explain the second of the diserepancies under discussion. B. Complex cases. The first eross generation. In crossing Japanese “whites” with Siamese *yellows” or Japanese “whites” with European “yellows”, the first generation gives always yellow offsprings as usual. The second eross generation. When these yellow forms are paired inter se, there are produced four kinds of cocoons, 1. pure yellow, 2. pale-pinkish-yellow or flesh-eoloured, 3. greenish white and 4. pure white, the proportion in each mating being yellow 70: flesh 21: greenish white 24: pure white 12: which coineide fairly well with what we expect accor- ding to Mendel’'s law, i. e., yellow 72: flesh 24: greenish white 24: pure white 8. The third generation. Of these four forms mated like with like, we have observed very interesting phenomena of the segregation of the colours, which will be deseribed as follows: 1. The pure white form. This is constant from its very first appearance. As far as our experiments go, we have never observed even a single case of coloured ones among its offspring. 2. The yellow form. This form displays phenomena of segre- gation and combination of various forms which are far more com- plex and interesting. Of 10 parents mated with similars, (A) one parent produced the uniform yellow offspring, (B) four parents mixed offspring of white (23,35°/,) and yellow (76,64°/,), (C) two parents mixed offspring of yellow (74,24°/,) and flesh coloured (25,75°/,) and (D) the rest a mixture of four forms, white and greenish white (23,98 °/,), yellow (56,43°/,), and flesh eoloured (19,57°/,). Quite a similar phenomenon has been observed in the next Toyama, Mendel’s laws of heredity as applied to the silk-worm erosses. 325 generation, when the yellow forms derived from Group (D) were bred together. In the third generation we have missed that mixed form con- sisting of four different kinds of worms, which is probably due to the scarcity of worms reared. It will be not uninteresting to mention here that of the mixed offspring consisting of yellow (74,24 °/,) and flesh coloured (25,75 °/,), we learn, after three generations experiments, that the relation between the yellow and the flesh is quite similar to that of yellow and white, the yellow being dominant and the flesh recessive in Mendel’s sense. 3. The flesh-coloured form. When mated together, the segre- gatıion of the parent-characters into white and flesh took place in the proportion of the first 25,2°/, and the second 74,7°/,. Their posterity behaved exactly like the white X yellow ın simpler cases before mentioned. 4. The greenish white form. With this form, we also observed the segregation of white and greenish white forms. We have abstained however, from calculating their numbers, since it is diffieult to separate dirty white cocoons and light greenish white ones. We have good reason to believe, however, that they will display similar phenomena of heredity as those forms above enu- merated. The following table will give a clear conception as regards the mutual relations between these four forms. It will probably suffice to say now that every phenomenon displayed by-these crosses during sıx generations accords very well with Mendel’s law of mono- and Be C. Offspring of eross-breds when erossed.with one of the original forms. When cross-bred yellow forms in the fourth generation of the Siamese “whites” X Siamese “yellows” were crossed with the original white forms or Siamese “whites”, some of them produced uniform yellow offspring while ne both yellow and white in the proportion 821 : 825 or nearly 1 In the second generation a each of the yellow forms we paired inter se it enle up into white (24,52°/,) and yellow (75,47 °/,). On the contrary, when it ıs crossed with original yellows or Siamese “yellows” ıt gave uniform yellow offspring through two generations. The results above quoted may be explained after the Mendel- ıan law. As the cross bred yellow forms ın the fourth generation are D or DR, as already stated, the crossing with “whites” or R will produce: D x R = hybrid yellow or (D-+-R) R= yellow 50°, + white 50°/,. In the second generation, therefore, all the 395 Toyama, Mendel’s laws of heredity as applied to the silk-worm crosses. yellow form mated with similars will produce D+-R)(D-+R) — white 25°/, and yellow 75°/,, with which the actual figures ob- tained agree fairly well. On the contrary, when we cross them with pure yellow form or D, the following combinations may be expected in the first erosses. 1, (D-+R)D; 2, Dx D. Both are dominant forms. In the second generation paired with similars, (D-+R)’, (D-+R)D and DxX D will be produced, in which the latter two (D-+- R)D and D x D will exhibit dominant character. So, ıf we rear only a portion of the oflspring, it might oceur not improbably that only these latter combinations are kept for experiments and in this case the offspring will obviously again display the dominant character in the second generation. Our results are possibly due to such cause. The general conclusion to be drawn from all above given ıs that the colour characters of the ceocoon of the silk-worm strietly follow the Mendel's law. I. 'The various larval markings. Results closely similar to those above stated with the colours of eocoons were obtained with various larval markings of the silk- worms when we crossed different breeds having particular larval markings. The breeds chosen for the experiment are 1. *pale whites” characterized by the absence of markings of any kind except on the dorsal surface of the first and second segments where their faintest trace may be detected, 2. “striped whites” which are cha- racterized by the possession of dark striped markings on each intersegmental region from the third to the last segment. Besides these there are the normal markings on the dorsal part of the first and second segments, while those semilunar markings which are common on the dorsal part of the eighth segment of the normal breed are wanting. The former breed remains constant, while the latter often produces some pale white worms and so is to be eonsidered as a eross-bred form between the “pale white” and the *striped white” breeds. The first generation of the reciprocal crosses between these two breeds gave rise to two kinds of offspring, one consisting simply of striped individuals, another consisting of striped as well as pale white (striped worms 528 and pale white worms 528 that is to say, approximately in the proportion of 1:1). In the subsequent generations, the pale white forms which have appeared in the first cross remain constant, breeding true to Toyama, Mendel’s laws of heredity as applied to the silk-worm erosses. 527 parents while the striped forms, when paired inter se, split up into the pale white and striped forms, as do the yellow X white. Thus, 10 parents 6 produce 4 produce The first cross generation: uniform striped. a mixture of vr striped (50 °/,) + pale-white 50 \o \% ; \e« The second cross i \o% en 2 DE 3 : 9 . 2 sn generation: _ 23 parents 13 parents \o% z Amer sie aD ar Un striped (5113) + pale-white (1617). 4 9 NG BITTEN 92 9R 0] \ m nn —. \8 0% 23,95 0). striped only. striped + pale-white. no Sn (2248). 720 (24,25°],). \ 10 parents The third cross generation: 6 4 ze m nn striped only. striped 4 pale-white. (550) 199 (26,56 °/,)- This is an example of crossing eross-bred dominant forms with the original recessive form. So it was ascertained that the larval markings of the sılk-worm obey the Mendelian laws of heredity, as it is the case with the colours of cocoons. II. Dihybrids. A. Crosses between no-marking yellow breed and striped white breed. In this reeiprocal erosses, both parents possess two antagonistic characters, lJarva without markings and yellow cocoons in one breed, striped larva and white cocoons in the other. The former breed is pure, while the latter sometimes produces no-marking white worms or a cross-bred form between *striped whites” and “no-marking whites”. The first cross generation. In the first reciprocal erosses, the offspring produced by twenty one parents were all striped yellow, while the rest (13 parents) produced a mixed offspring eonsisting of striped yellow (1918) and no-marking yellow worms (1869) and so approximately in the pro- portion of 1:1). 398 Toyama, Mendel's laws of heredity as applied to the silk-worm crosses. I y J The second generation. The second generation mated with similars presented the typical Mendelian phenomenon of the segregation of the parent characters. Each mating of the striped yellow forms produced four diffe- rent kinds of worms, 1. no-marking white or pale white, 2. no- marking yellow, 3. striped white and 4. striped yellow. Thus 35 parents of striped yellow forms gave: 1. no-marking white worms . . . 2691 (6,1°,), 2. no-marking yellow worms . . . . 2099 (18,53 °/,), 3. striped white worms . . . 2... 2147 .(18,96°],), t. striped yellow worms . . . . . . 6385 (56,38° .). Each of the no-marking yellow matings also gave two kinds of worms in the following proportion: l. no-marking white worms . . ... . 2 2. no-marking yellow worms . 7 The third generation. In the third generation derived from the inter se breeding, each of those forms above enumerated exhibited the following segregation and combinations of characters: 1. No-marking white forms produce oflspring sinular to parents, without any exception. Of 15 no-marking yellow parents mated with sımilars, 8 pro- duced uniform no-marking yellow broods, while the rest (7 parents) produced mixed broods consisting of no-marking yellow (1507 — 76,73 °/,) and no-marking white (457 —23,26°|,). 3. Of 16 striped whites, we got the following results: 7 parents produced offspring entirely similar to the parents, 9 parents produced mixed offspring (striped white 1698 — 77,11°/, and no-marking white 504 — 22,88°/,). i 4. Of 21 matings of striped yellow forms, 8 matings produced the striped yellow offspring; 3 matings produced mixed ofispring of striped white (240 — 26,17°/,) and striped yellow (677 — 73,82°/,); 8 produced the mixed offspring of striped yellow (1475 — 74,2°/,) and no-marking yellow (513 —= 25,8°/,); and lastly two matings produced four kinds of worms, the average proportion being: W Striped white. 2 2 0.200 590 15,88 no-marking ‚whiterske a2... 0, Va — an striped yellow. . = 02.2... 0 Bb= 55, 220103 no-marking yellow. . ». 2... ... .126=21,53°. Posterity of these various forms. By removing all other forms during four generations we have succeeded to establish a constant striped yellow form. Hence from “White” X “Yellow”. 3 Y. = yellow, F. = flesı, Gw. = greenish withe, W. — white. The first generation. Uniform yellow. The second generation. BIcHITR + Du F. (16,53 97,) EI : Gw. (18,8977,) Er WA. © x =2 = Ei! 8 Be {= | 10, S38 = Gw. 93.980 91 0 or TEUER VETERE 7 7 7,(25,759 f 2 S .+ Gw. 23,98%,)+ Y. (56,43°/) + F-09,57%,)]. [W. (23,35°%,)+ X- (76,64). N (7624) + F. (25,75°%)]. F.(only). 4 s3= Be h ; ; m > == En 3 = % 3 Ua, 8 Se S = 2% 0, = Fi — ty Fe er E Dur 3 S' ug, & a} CHI 7 7) = BE u : ws 0%, u % 7 8 II I 5 (F. only), +fE. (74,47°%,)+ W. (25,52). SISATTST IF WIR. SIN-Toniyj]. Dani 2-1 N L 2 =: / 5 > Non, TE = a, een) = % od | x] 2BIZE > FE (@) 5 x Er 72 ER S= VE N 5. / d. F 9. 5. uniform Y.] 1Y. (29° ) + W.@I] 2TY. (78,8%) FF.@L1%),)]. uniform y.] YA W+ W. @’h)]. constant, >funiform Y.). IN: (76,57%) + 8. ( 5funiform FR]. AIR (75°) + W.125%0). Kluniform F.]. AR. (24,169,)+ W.( | > a / / , a 4 / 2: 6. 3 2; 1) + W. 25,75°7,) constant, "uniforin yellow. 2[uniform yellow. 4[Y. (70,66°,)-+ F. 23,337). ouly flesh. . [uniform flesh ] [F. (75,34°%,) + W. (24,65 ,)]- ornm Y.]. ı[Y. (74 uniform yellow. Im [20 ; wi # A: r € Toyama, Mendel’s laws of heredity as applied to the silk-worm crosses. 329 the erosses between “striped whites” and “no-marking yellows” we have produced two new breeds quite different from the pa- rents, viz “striped yellow” and “no-marking white”. As we see, the results obtained with these erosses allord an excellent illustration for Mendel’s principle of dihybrids and will serve as a verification of his law. B. Modified cases of dihybrids. This series of experiments gives us very interesting combi- nations and segregations of parent-characters in the offspring. As far as I am aware, such cases seem to have been never observed. Breeds chosen for the erossing are 1. “Japanese normal mar- king whites” and 2. “Siamese striped whites” before mentioned. Both are, however, not pure breeds, sometimes they produce no- marking worms. Thus we must consider them to be cross-bred forms. The first cross generation. The reciprocal erosses gave at first three kinds of offsprings. Of 10 parents A. 4 parents produced uniform ofispring consisting of striped white worms only. B. 3 parents produced mixed offspring, consisting of Kepe lateral) er LPG: Japanese normal markings . . 541 = 52,88°|,, IR e. approximately 1:1. ©. 3 parents produced mixed offspring, consisting of striped whites . ... ..2.2...0., 38822 4821)0, Japanese normal markings . . 196 = 26,84°],, | no marking ons . ... . 12= 24,93%, i. e. approximately 2:1:1. The second generation. In this generation, we kept for experiments only those which produced in the last generation simply striped whites. Each of these parents mated with similars gave three kinds ol worms, striped, normals and no-marking ones in the average proportion of Striped‘ (wihites 5 nal. 2 2366 or 74,75°],, Japanese normal marking ones . . 59702 ,18:508910, nosmarking whites: , =: 5. 0.00. 202.5 6.2820 that is to say, striped whites 12, Japanese normals 3, no-marking whites 1. The third generation. In this generation, we again kept only *striped whites” for experiments. They produced the following four kinds of offsprings: A. Mixed offspring of *striped whites” (102 — 74,9°/,), and Japanese normal marking ones (34 = 25°|,). 330 Toyama, Mendel’s laws of heredity as applied to the silk-worm crosses. B. Mixed offspring of “striped whites” (155 = 73,81 °/,), “Japanese normals” (40—19,04°/,) and no-marking whites (15 —=6,14°[,). C. A mixture of “striped whites” (283 — 62,74°/,), “Japanese normals” (86 — 19,07 °/,)and no-marking whites (82=18,18°/,)- D. A mixture of “striped whites” (103 = 76,86°/,) and no- marking whites (31 = 23,13 ],). The fourth generation. We have reared striped worms and Japanese normal marking ones from B and © in the last generation. Some of the “striped whites” came true to parents, some pro- duced a mixture of striped (73,43°/,) and „Japanese normals“ (26,56°/,), while the rest a mixture of striped (78,23°/,) and no- marking white worms (21,76°,). Similarly, some of the “Japanese normals” produced simply the offspring similar to parents, while the rest produced mixed broods of “normals” and no-marking worms in the proportion of 76,54°/, and 23,45°/,. It is of some interest to note here that as the result of this cross, we have procured in the subsequent generations a con- stant striped breed characterized by possessing those semilunar markings on the dorsal part of the eighth segment, which are en- tirely wanting in the original striped breed, while in the Japanese normal breed they exist as constant and distinet markings. Thus we may say that we have succeeded in combining two parent-characters into one form. It must not also be omitted to mention that in the crosses between Japanese “normals” and European striped breeds we have obtained worms in which the left and right half of the body exhibited the maternal and paternal characters respectively. Now we will examine whether these complicated phenomena of segregation accord with the Mendelian principle or not. Since both breeds!) used for experiments are not pure, the dominant forms selected at random may be either pure dominant (S in the striped breed, © in the Japanese “normals”) or hybrid dominant (SN in the striped breed, ON in the Japanese “normals’”). Hence in the first erosses between striped and Japanese “nor- mals” we may have the following combinations: 1.(G-+-N)S= a mixture of two seemingly striped forms in equal proportion. - 2. (S-+- N)C = a mixture of 50°/, of the seemingly striped forms and 50°/, of seemingly normal forms. 1) S— pure striped; © — Japanese pure normal ones; N = pure no-marking form; CN or SN = hybrid form of these two characters. ‘ Toyama, Mendel’s laws of heredity as applied to the silk-worm crosses. 3531 3.8 x © = seemingly striped forms alone. 4.(S+N)(C+N). In this cross, we take for granted that both characters in parentheses sometimes behave as a whole character, sometimes as separate characters. In the former case, the result would be (C+ N) +(S+N)=(O+-N--5), so that one dominant character or striped character will appear as an active component, which necessarily results in the uniform striped ‘offspring. In the latter case, i. e. (C+N) & + N)=(0S5S+SN +CN--NN, two,striped worms (50°/,), one “normal” (25°/,) and one no-marking one (25°/,) will be the result. Thus, from this crossing we may expect to get the following offspring: 1. uniform striped offspring. 2, mixed offspring consisting of striped and *“normals” in the proportion of 1:1. 3, A mixture consisting of two striped worms (50°/,), one “nor- mal” (25°/,) and one no-marking worms (25°/,). We will see that these figures agree fairly well with those actually obtained. In the second generation, when the striped ofispring (Nr. 1) are mated together, we may develop the following formulae: CHN) HFSHNMXCHNHESEHN= (© +2CN+ 0) (er aan ana) 6827.20 1.057. 20NS 4CN?S 1 2SN? + CN?-+2cCN? + N'= 12 stripes + 2 “normals” +1 no marking from which we estimate that StEIpEdE WOTmER ee A ee 121, or 759], Hormaliwormei a re a 1a RE El naer1870° 0; no-marking worms . . . 2... or 6,25°.- This illustrates elearly the phenomena actually obtained in the second generation. Similar reasoning will serve to illustrate the behavior of the posterity of these crosses. * 2 % The facts and eonsiderations above referred to may furnish a further proof for the verification of the Mendelian principles and lead us to conelude that Mendel’s laws may be applied, with equal exactness, to plants as well as anımals. IV. Forms of cocoons. In the erosses between Siamese (cocoons, spindle in shape, pointed at one or both ends, without constrietion in the middle, with much floss) and Japanese (cocoons, cylindrical or oblong in shape, with rounded ends, and with a constrietion in the middle, 392 Toyama, Mendel's laws of heredity as applied to the silk-worm crosses. floss very small) breeds, the cocoons produced in the first eross are generally spindle shaped except a few which are elongated oval or ellipsoid. The second generation derived by pairing inter se was, however, composed of a diversity of forms, of which spindle-shaped, oval or ellipsoid forms were most abundantly formed. Some of them had a constrietion in the middle and there was no Japanese oblong form. Besides those above enumerated there were many inter- mediate forms which could not be separated from one another. Of these, some such as oval or ellipsoid became nearly con- stant after the selection of several generations. On the contrary, the spindle-shaped form became hardly constant, so it always pro- duced some other forms. The Japanese oblong form appears to behave very rarely as an active character, so it was impossible to me to trace its hereditary behaviour. According to our experiences hitherto obtained through a long series of generations, we may say that of those forms above enumerated, the spindle-shaped or conical form predominates over others. Next ranks the oval or ellipsoid form and lastly comes the oblong or eylindrical form. The brood characters. (such as uni-, di-, tri- or multivoltine etc.) The reciprocal erosses between multivoltine and univoltine breeds or univoltine and divoltine breeds gave, in the first crosses, pure maternal offspring, sometimes pure paternal, rarely a mixture of both parent-characters, as the following tabular statements show: | A. ‚Japanese univoltine & X divoltine 9. Eggs laid all dı- voltine. I. B. Japanese univoltine 9 X divoltine ö6. Eggs laid all uni- | voltine. | A. European univoltine yellow & X Japanese divoltine 9. 1 Eggs laid all divoltine. “j B. European univoltine yellow 0 X Javanese divoltine d. | Eggs laid all univoltine. Ill. A. Japanese univoltine 9 X divoltine 5. Eggs laid all di- voltine, or paternal. | A. ‚Japanese divoltine 9 X Siamese multivoltine d. Eggs laid all multivoltine, or paternal. B. Japanese divoltine & X Siamese multivoltine 9. Eggs | laid all univoltine, or paternal. IY% Both of these cross-bred forms do not breed true to parents but split again into their parent-characters in the subsequent gene- Toyama, Mendel’s laws of heredity as applied to the silk-worm erosses. 339 rations, though bred from similar parents. "The most careful selection pursued through five generations was not sufficient to get rid of the oceurrence of the antagonistic characters. Summary. From the foregoing facts and considerations we come to the following eonclusions: 1. Of various charaeters of silk-worms, some strietly follow Mendel’s laws (colours of cocoons, larval markings etc.), while the others obey certain other laws which are not to be exactly formulated as those of Mendel. (Compare the results of Mendel, De Vries, Correns, Tschermak, Bateson and Saunders etc.). . No single instance has been observed in which irregular cases of Mendelian phenomena take place as Gorrens, Bateson and Saunders, Tscehermak etc. have observed in animals and plants. 3. As the result of crossing the disintegration of parent-cha- racters takes place. Each character thus produced behaves exactly like an independent character, breeding true to parents. 4. Conversely, the combination of two characters takes place and the form produced remains constant, when bred together. 5. Thus we may accept Bateson’s “allelomorphs” with good reason. 6. The behaviour of a character when crossed, however, depends in some degree upon the characters of its ancestors, since in one case (Siamese “whites” X Siamese “yellows”) no disinte- gration of the parent-characters takes place, while in other cases (Japanese “whites” x Siamese „yellows” or Japanese “whites” X European „yellows”) it may often be observed (see Weldon’s opinion). 7. Of characters belonging to Mendelian categories, we may mention the following. — With regards to the colours of cocoons, the yellow character is the most dominant, next comes the flesh coloured one and then the greenish white, and lastly the pure white which ıs therefore to be considered as recessive. Asto the larval markings, the striped one comes first, next ranks the Japanese normal one and lastly the no-marking one. Thus the first.and the last are to be considered as absolutely to be dominant and recessive respectively, those intermediate are relatively so, for they act as recessive towards the first, but as dominant towards the last. | Those characters exhibit every combination of characters according to the Mendelian formulae. I) 334 Simroth, Über den schwarzen Hamster als typische Mutation. 8, Of the non-Mendelian characters the phenomena displayed by the forms of cocoons remind us those of Hieracium-erosses mentioned by Mendel and possibly may be counted as one of these examples. 9. Sometimes it happens that both dominant and recessive cha- racters, even sexual ones, appear as active characters in an individual body. Tokyo, February, 1906. Über den schwarzen Hamster als typische Mutation. Von Dr. Heinrich Simroth (Leipzig-Gautzsch). Als ich im vorigen Jahre an dieser Stelle!) eme Anzahl Tiere zusammenstellte, welehe unter den Einflüssen der letzten warmen Sommer deutliche Abänderung in der Färbung zeigten, hatte ich unter den Säugern den gemeinen Hamster zu nennen, der ım Saal- tale auf einer bestimmten Dorfflur gänzlich schwarz auftrat. Es ist mir inzwischen gelungen, die Angelegenheit etwas weiter zu verfolgen; und das Ergebnis scheint in hohem Maße beachtenswert. Auf die Örtlichkeit komme ich unten zurück und bemerke zu- nächst nur, dass es sich um emen besonders warmen Winkel von Mitteldeutschland handelt. Durch Vermittelung des Herın Dr. Thiem gelang es uns im Frühjahr 1905, drei junge Tiere lebend zu erhalten, von denen ich eins eine Zeitlang besessen habe. Daraus geht schon hervor, dass die Form an Zahl zugenommen hat. Doch will das viel weniger besagen, als der Umstand, dass sich der Jagdpächter jener Flur im vorhergehenden Winter einen Pelz: lediglich mit schwarzen Hamsterfellen hat füttern lassen, gewiss ein sprechender Beweis. Es handelt sich um eine gesetzmäßige Erscheinung. Dazu kommt in erster Linie die absolut übereinstimmende Färbung. Die Tiere sind vom reinsten Schwarz wie der Maulwurf, doch mit charak- teristischen weißen Abzeichen. Die Pfoten bleiben gleichmäßig weiß behaart, ebenso die Lippen, so dass die Schnauze weiße Ränder hat, mit einer medianen Verlängerung des weißen Feldes am Kinn. Es sind das dieselben Abzeichen, die auch der Cricetus nigricans Brandt zeigt, nach dem hübschen Bild von Keule- mans?2). Dazu kommt noch ein feiner weißer Saum am Rande der sonst schwarzen und schwarzbehaarten Ohrmuschel, der ihr einen silberglänzenden Hauch verleiht. 1) Simroth. Über einige Folgen des letzten Sommers für die Färbung von Tieren. Diese Zeitschr. 25, 1905, S. 216—225. 9) Alfred Newton. On Cricetus nigricans as a European Species. Proc. 7ool. Soc. London 1870, S. 331 u. 332, Pl. XXVI. Simroth, Über den schwarzen Hamster als typische Mutation. 335 Wir haben somit etwas anderes vor uns als die gewöhnlichen Varietäten, von denen Brehm (Tierleben, II. Aufl., Bd. Il, S. 369) bemerkt: „manche sind ganz schwarz, andere schwarz mit weißer Kehle, grauem Scheitel, die hellen Spielarten blass graugelb mit dunkelgrauer Unterseite und blassgelbem Schulterfleck, andere oben mattfahl, unten lichtgrau, an den Schultern weißlich; auch voll- ständige Weißlinge werden zuweilen gefunden.“ Freilich lässt sich kaum beurteilen, ob auch bei den mannigfachen Abänderungen eine bestimmte Gesetzmäßigkeit besteht oder nicht. Dazu müsste eın großes Material vorliegen, das kaum irgendwo und irgendwie zu- sammenzubringen wäre. Es scheint fast, als ob die Änderungen typischen Normen folgten, im Eimer-Lama rck’schen Sinne, nach den Gesetzen des organischen Wachsens. Wenigstens wird von Brehm nichts von unregelmäßig gescheckten Stücken gemeldet, wie wir sie doch bei Nagern so häufig auftreten sehen, beim Meer- schweinchen, bei Mäusen u. dgl., oder wie sie unter den Amseln so häufig sind. Aus der Leipziger Gegend zog Herr Dr. Thiem im letzten Sommer einen gewöhnlich gefärbten Hamster auf und zwar von sehr früher Jugend, denn er war noch blind und wurde aus einer Milchflasche mit Gummihütchen ernährt, wie sie für die Puppenstube hergestellt werden. Beiläufig zeigte sich die hohe Selbständigkeit, die gerade für den Hamster bezeichnend ist, schon auf dieser frühen Stufe; das Tierchen saß, noch angelehnt, aufrecht auf den Hinterbeinen und hielt sein Fläschchen ohne fremde Hilfe in den Vorderpfoten. Und dieses Tier zeigte auch eine gewisse Ab- änderung insofern, als es beim Heranwachsen auf dem Rücken immer heller und heller geworden ist, natürlich ohne dabei die Zeichnung, d. h. die symmetrische Farbenverteilung zu ändern. Ich komme darauf zurück. Wie dem auch sei, unsere massenhaften schwarzen Hamster stimmen alle bis aufs kleinste miteinander überein, das Schwarz ist nur die Steigerung des in der Norm schon auf der Bauchseite vorhandenen Schwarz, so gut wie die ganz schwarze Brandmaus von 1904 (l. c.), nur die schon vorhandene Färbung des Rücken- streifens über die ganze Oberfläche ausgedehnt hat. Bei dieser aber ist keine weiße Stelle mehr geblieben, während die Bezeich- nung des Hamsters als schwarz doch nur mit einer gewissen Ein- schränkung zu nehmen ist. ._ Soviel ich sehe, stellt die schwarze Varietät nur das Ende einer gesetzmäßigen Reihe vor. Ich greife von ihr einige heraus, deren genaue Beschreibung mir vorliegt. In Syrien lebt der Goldhamster Oricetus auratus. Kleiner als der gemeine und langschwänziger, glänzt er m einem langen, seiden- weichen, tief goldgelben Pelze, welcher an der Unterseite in Weiß übergeht. 396 Simroth, Über den schwarzen Hamster als typische Mutation. Or. nigricans Brandt ist auf dem Rücken bis zu den Seiten hinunter dunkler, doch wohl bloß so, dass es sich um die Spitzen der Grannenhaare handelt, die z. T. auch beim gemeinen Hamster schwarz sind. Ein Backenstreifen ums Auge hat dieselbe Färbung, die Stirn ist heller grau. Die unteren Seiten des Kopfes sind ebenso wie der Bauch gelb, die Füße bleiben weiß. Schwarz ist ein schwacher Streifen hinter dem Ohr, namentlich aber die Kehle, die einen großen breiten tiefschwarzen Fleck hat. Das Tier geht von Dagestan vereinzelt bis Ostbulgarıien. Hier schließt sich nun der gemeine Hamster, Or. vulgaris an, bei dem die ganze Unterseite schwarz ıst. Und dessen höchste Steigerung stellt unser schwarzer Hamster dar. Der gemeine Hamster hat jetzt seine Westgrenze am Rhein, seine Ostgrenze am Ob. Früher, vor der Eiszeit, reichte er nach Mehring bis Verona, Pisa, Paris, so gut wie sich damals mehrere Hamsterarten ın Deutschland fanden, die wir aber wegen der Unkenntnis ihrer Fär- bung notwendigerweise unberücksichtigt lassen müssen. Jetzt überschreitet der Hamster die Alpen nicht, er fehlt sogar in Nieder- und Oberbayern, in Ost- und Westpreußen gänzlich, hat aber am Harz und in Thüringen seine Hauptdomäne. Östlich und südöstlich geht er durch Polen, Ungarn, das mittlere und südliche Russland. Ehe ich auf die Deutung aller dieser Dinge mich weiter em- lasse, möchte ich noch einmal des Fuchses Erwähnung tun. Ich habe bereits voriges Jahr darauf hingewiesen (l. c.), dass er in den Mittelmeerländern, genau wie bei uns der Hamster, auf der Unter- seite schwarz wird, Canis vulgus melanogaster. Ich hätte damals aber noch präziser sein können. Denn schon im Leunis ist zu lesen, dass nicht die Mittelmeerländer schlechtweg seine Heimat bilden, sondern ganz speziell Italien, Sizilien, Sardinien und Korsika, d. h. ın aller Schärfe das Gebiet unter dem Schwingungskreis, der gerade zwischen Italien und den großen Inseln hindurchgeht. Damit erhalten wir auch für den Hamster einen näheren und ganz bestimmten Anhalt und sind imstande, von der Entstehung und Weiterbildung der Gattung uns ein einigermaßen klares Bild zu machen. Nehring redet von der weiteren westlichen und südlichen Verbreitung in pleistocänen Ablagerungen, also während der Eis- zeit. Damals lagen wir weiter nördlich, die Gegend von Verona dagegen war etwa in unsere Breite gerückt, d. h. der Hamster hat immer, gerade wie jetzt, in der Breite von Mitteldeutschland sein Hauptquartier gehabt. Hier ist er entstanden und immer ge- blieben, gleichgültig, welche Orte bei der Pendulation gerade in diese Lage rückten. Von hier aus hat er sich während der Eiszeit auf denselben Breitegraden nach Osten verschoben. Hier hat er seine Aus- und Umfärbung erreicht. Anfangs hell, hat er allmäh- lich schwarze Elemente in seine Zeiehnung aufgenommen, so dass Simroth, Über den schwarzen Hamster als typische Mutation. 337 etwa aus dem Cr. auratus der Or. nigricans entstand, den wır jetzt im Osten treffen. Diese Umfärbung hat sich bereits ın südlicherer Lage unter dem Schwingungskreise vollzogen. Nachher ist, gerade bei uns, das Schwarz gesteigert und, ebenfalls bereits vor der Eiszeit, der Or. vulgaris gebildet, und jetzt scheint dieser im Begriff — vorausgesetzt, dass die Wärmeperiode anhält —, in den schwarzen Hamster, Or. vulgaris niger!) umzuschlagen. Frei- lich ist es nicht eben wahrscheinlich, dass die Form sich dauernd erhält, eben weil die Klimaänderung nicht gleichmäßig, sondern nur stoßweise erfolgt, etwa im Zusammenhange mit der Sonnen- fleckenperiode. Aber ich möchte betonen, dass wir's ın der Form mit einer typischen Mutation, die vermutlich ın kürzerer oder längerer Zeit zur Artbildung führen wird, zu tun haben. Es ist ein Sprung, wie wir ıhn bisher ın den letzten Jahren von seiten der Botaniker, bezw. durch de Vries, kennen gelernt haben, viel schärfer, als er mir von irgend einem anderen Tier bekannt ist. Und dazu noch ein paar Bemerkungen. Es ist möglich, dass mit dieser Mutation nicht nur äußerliche Veränderungen ın der Färbung gegeben sind, sondern auch innere anatomische. Das Stück, welches ich besaß, hatte viel weiter hervortretende Augen, als einer von gemeiner Färbung. Sie glichen, wie bei der Wald- wühlmaus, großen schwarzen Perlen. Dazu kam eme schlankere Figur. Sie zeigte sich namentlich beim Sitzen auf den Hinterbeinen. Hier erschien das Hinterteil durchaus nicht in der Weise verbreitert, wie beim gemeinen Hamster. Inwieweit sich’s um innere Unter- schiede handelt, namentlich am Skelett, wollen wir später zu ver- folgen suchen. Nebenbei noch eine Bemerkung über das Temperament dieses Hamsters. Er war von so außerordentlicher Zahmheit, wie sonst nur die Waldwühlmaus, hieß sich beliebig mit den Händen bear- beiten, kroch mit Vergnügen durch den Rockärmel, spielte frei auf dem Rasen und ließ sich wieder greifen, kurz er schien keine Ahnung von der Kraft seines Gebisses zum Angriff zu haben. Da mit einem Male, ohne jede äußere Veranlassung, brach die alte Hamsternatur durch. Er setzt sich auf die Hinterbeine, faucht, springt seinen Pfleger -an, versetzt ıhm eimen derben Biss ın die Hand und verschwindet im nächsten, dicht bewachsenen Beet. Da die Dämmerung schon hereingebrochen war,. gelang es nicht, sich seiner wieder zu bemächtigen; er ist wohl nach dem nahen Felde entkommen. Noch ein Wort über die Entstehung der Form. Der Hamster- 1) Schreber, der bereits die Form, ganz in Ubereinstimmung mit meiner Schilderung, doch das Schwarz nicht intensiv genug, abbildet, schreibt: Mus ericetus Linn@ niger (Die Säugetiere in Abbildungen nach der Natur mit Beschreibungen. Bd. IV, Erlangen 1792). XXVI. 9 338 Simroth, Uber den schwarzen Hamster als typische Mutation. gräber behauptet, in einem Bau finde man unter einem Satz Jungen jedesmal nur ein schwarzes Stück, also stets vereinzelt unter den (seschwistern. Wie ist das zu deuten? Ist durch das veränderte Klima der letzten Jahre die Konstitution eben erst so weit alteriert, dass sie an der Grenze nur gelegentlich einmal umschlägt und ein schwarzes Stück liefert? Wahrscheinlich wohl. Selbstverständlich müsste man aber annehmen, dass andauernde Änderung auch hier tiefer eingriffe und mehrere schwarze Geschwister erzeugte, bis endlich alle den Melanısmus zeigten. Oder tritt hier ein anderer Weg ein, der schneller zum Ziele führt? Der nämlich, dass sich die Schwarzen mit Vorliebe untereinander paaren? Wir wissen es nicht, es wird auch bei dem einsiedlerischen Leben der Art schwer im Freien sich feststellen lassen. Nur auf eine Parallele möchte ich noch hinweisen. Auch von der Mönchsgrasmücke haben wir ım Westen, an der Grenze ihres Gebiets, eine dunklere Form, von der nur je ein Stück auf ein Gelege kommt!). „Von besonderem Interesse bleibt der gelegentlich stärkere Melanısmus des Män.- chevs, welcher die Aufstellung der Sylıia Heinekeni Jardine, der Schleiergrasmücke, veranlasst hat, die, nach dem Glauben des ge- meinen Volks, als fünfter ım Nest, nur auf den Azoren und Madeira sich findet.“ Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich die Annahme des gemeinen Volks und des Hamsterfängers bestätigt. Schließlich erfordert noch die Lokalıtät, an der der schwarze Hamster auftauchte, unsere Beachtung. Es ıst die Flur des Dorfes Neuhausen beı Cölleda, bezw. vor Cölleda, wenn man mit der Bahn von Großheringen kommt; das ıst die Gegend zwischen der goldenen Aue und Erfurt. Die Bahn führt ım Volksmunde den Namen der Pfeffermünzbahn, denn seit alter Zeit wird dort die Pflege von Arzneikräutern getrieben, wir befinden uns in einem der wärmsten Teile Mitteldeutschlands. Zur Beurteilung sind wohl historische Daten brauchbarer als rein metereologische. Danach war die Umgebung von Erfurt?) schon weıt bis ıns Mittelalter zu- rück eine Stätte des Gemüsebaus, und ım unserer Gegend gedieh bis zum Erlöschen seiner Kultur infolge der Fortschritte, durch welche die organische Chemie den natürlichen Farbstoff überflüssig machte und verdrängte, der geschätzteste Färberwaid. Wir haben es also zweifellos mit einem der bevorzugtesten Winkel unseres Vaterlandes zu tun. Ob speziell der ın der Neuhauser Flur an- stehende Gips, dessen Brocken den Acker durchsetzen, noch etwas Besonderes zur Erhöhung der Bodenwärme beiträgt, muss ich dahin- gestellt sein lassen. Möglich, dass seine Wärmeabsorption und seine chemische Wirksamkeit, die bekanntlich ın Zersetzung der 1) Simroth. Zur Kenntnis der Azorenfanna. Arch. f. Naturgeschichte 1888, Bd. I. 2) Wimmer. Geschichte des deutschen Bodens. Halle 1905. Simroth, Über den schwarzen Hamster als typische Mutation. 339 Bodenbestandteile sich äußert, geradezu innerhalb der an und für sich warmen Gegend ein Maximum schafft. Dein sei wie ihm wolle, ich halte es nicht für Zufall, dass ge- rade dort die maximale Steigerung der Färbung beim Hamster auf- trat und ihr Zusammentreffen mit der Periode außergewöhnlich heißer Sommer dürfte eins der besten Beispiele von Mutation oder beginnender Artbildung sein, die wir im Tierreich haben und im einzelnen verfolgen können. — Tritt somit beim schwarzen Hamster die gesetzmäßige Weiter- bildung, wie mir scheint, klar hervor, so verlangen auch die übrigen Abweichungen einige Beachtung. Dass sie nicht selten sind, wurde bereits bemerkt; und es ist wohl wiederum kein Zufall, dass sich in der Flur von Neuhausen neben den schwarzen allerlei hellere, geschecekte Formen u. dergl. fanden, doch wohl nicht in gleicher Zahl, und noch weniger in derselben charakteristischen Überein- stimmung. Mir ist es gelungen, auch von diesen Tieren eins zu erwerben. Es zeigt über und über, mit Ausnahme der Unterseite, Flavismus, ein mattes Graugelb, nur der Rücken ist noch etwas tiefer grau angeflogen, indem die längsten Haare schwarze Spitzen be- halten haben. Das Weiß um die Schnauze und an den Füßen ist normal. Der Bauch ist schwarz, doch in verschiedener, charak- teristischer Intensität. Die Vorderhälfte, die Kehle und Brust, sind tiefschwarz, ebenso die Vorderseite der Vorderbeine. Deren Hinter- seite, ebenso wie der eigentliche Bauch, sind bloß mittelgrau. Es zeigt sich also das eigentliche Schwarz ungefähr an derselben Stelle, wo beim Cr. nigricans der schwarze Brustfleck sitzt. In Parallele dazu steht die Verfärbung des schon erwähnten kleinen Hamsters aus der Leipziger Gegend. Während das allgemeine Kleid nicht eben viel vom normalen abweicht, haben wir bei ihm namentlich neben dem Schwarz des Bauches in .der Längsmitte eime weiße Umrandung, und diese nimmt immer mehr zu. Die weißen Flecke dringen von rechts und links nach der Mitte des Bauches vor, so dass die schwarze Unterseite etwa sanduhrförmig eingeschnürt ist. Wieder ist hier die Sache so, dass der schwarze Brustfleck der Verdrängung den stärksten Widerstand leistet. Mit anderen Worten: Diese beiden Formen, so verschieden ihre Umfärbung ist, sind deutliche Rückschläge auf den Cr. nigricans, wenigstens in bezug auf den Brustfleck, der für ihn am meisten bezeichnend ist. Der Or. nigricans darf aber mit einiger Sicherheit für einen der nächsten Vorfahren des Or. vulgaris gelten. So sehen wir denn in dem gemeinen Hamster eine Tierform, die keineswegs allzusehr gefestigt ist, beinahe noch im Fluss. Zeiten abnormer Witterung, zunächst höherer Wärme, erschüttern seine Konstitution, so weit sie sich in der Färbung ausdrückt. Daraus erfolgen entweder Rück- schläge, wobei das Charakteristikum der Vorstufe am zähsten fest- 99% 340 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. gehalten wird, oder — ım den meisten Fällen — die Umbildung zum prospektiven schwarzen Hamster, d. h. zu der Form, die sich vermutlich schließlich herausbilden wird. Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik, ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft. Leipzig Wilhelm Engelmann 1905. XIV + 284 S. gr. 8. 2 Tafeln und 1 Textfigur. Referat von R. F. Fuchs, Erlangen. (Schluss.) Tritt zu den Fähigkeiten des Autokineons die der typischen Selbstteilung durch Halbierung, Vierteilung u. s. w. hinzu, welche wie die übrigen Eigenschaften auf die Teilstücke übertragen, ver- erbt wird, dann haben wir es mit einem Automerizon (Selbst- teiler) zu tun, das Roux als wirkliches Lebewesen niederster Ordnung ansieht und wozu er Haeckel’s Moneren rechnet. Hier- her gehören Wiesner’s Plasomen, Weismann’s Biophoren, de Vries’ Pangene u. s. w. Auch die Selbstteilung kann durch zufällige kleine Variationen erworben und allmählich vervollkommnet worden sein, indem durch ungleiche Oberflächenspannung die erste Selbst- teilung in ungleiche, eventuell sogar gleiche Teilstücke erfolgt, wie beim Gad’schen Versuch der Spontanemulgierung eines Fetttropfens auf einer Sodalösung, die sogar mit der Bildung einer Membran (Seifenmembran) einhergehen kann. Dabei überträgt sich das Teilungsvermögen mit den anderen Eigenschaften auf die Teilstücke, so dass wir, wie ich glaube, sogar von einer Vererbung reden könnten, die nur durch äußere Umstände bewirkt wird. Eine regel- mäßig stattfindende Halbierung ist ein morphologisch'sehr bestimmtes (seschehen, das nach Roux etwas in seiner Eigenart neues, näm- lich typisch gestaltendes physikalisches Geschehen zur Entstehung, Erhaltung und Übertragung auf die Nachkommen voraussetzt. Bei der weiteren Vervollkommnung der Automerizonten kommen besondere vererbbare gestaltliche Leistungen hinzu, wie die Bildung eines Kernes, der Zellmembran, indirekte Kernteilung; dann haben wir Gebilde, die Roux Idio-Autoplassonten (Selbstgestalter) oder kürzer Idıioplassonten (Gestaltungsstoffe) nennt. Sobald eine spezifische physikalische Eigenstruktur auftritt, die immer neu erzeugt und vererbt wird, dann tritt zur chemischen noch die morphologische Assımilation hinzu, welche durch physikalische Faktoren determiniert werden muss. Sıe ist die Grundlage der morphologischen Vererbung, die zur chemischen Verer- bung hinzutritt. Die Entstehung der morphologischen Strukturen, sowie der morphologischen Assımilation stellt eine wesentlich an- Wilhelm Roux, Die Entwiekelungsmechanik. 341 dere Leistung dar, als die Entstehung rein chemischer Strukturen und die allein durch diese determinierte physikalische Gestalt, wie sie z. B. bei den Kristallen vorkommt. Der Organismus erzeugt die seine typische Gestaltung deter- minierenden Bedingungen fast alle in sich selbst, während nur Nebensächliches, nieht zur Entwickelung überhaupt Nötiges von außen determiniert wird. Darin liegt die Hauptschwierigkeit für die mechanistische Erklärung der morphologischen Assimilation. Wegen dieser Schwierigkeiten darf aber nicht eine prinzipielle Unmöglichkeit einer mechanistischen Lösung des Problems an- genommen werden, wie es die Vertreter des Neovitalismus tun, welche glauben, dass zu diesem Geschehen eine zwecktätige In- telligenz notwendig wäre. Der mechanistischen Erklärung der Ver- erbung stehen zur Zeit anscheinend die größten Schwierigkeiten entgegen, da die Vererbungsfähigkeit an eine scheinbar sehr ein- fache Substanz, das Keimplasma, gebunden erscheint. Der Kern ist der Hauptträger der Vererbungsstruktur, die bei der Kernteilung auf die Teilstücke übertragen wird. Von Driesch namentlich ist die Frage aufgeworfen worden, wie ein solches Gebilde von einer bestimmten chemischen und typischen physikalischen Struktur, wie wir sie als implizite Struktur dem Keimplasma zuerkennen müssen, so halbiert werden kann, dass jeder Teil dem Ganzen ähnlich ist. In der Unmöglichkeit einer derartigen Halbierung erblickt Driesch einen Hauptbeweis für die Autonomie des Lebens. Nach Roux kann aber von einer Halbierung der Struktur nicht die Rede sein, denn sie ist vor der Teilung erst verdoppelt worden. Die kleinsten durch typische Anordnung hergestellten sekundären Assimilations- komplexe werden bei der indirekten Kernteilung überhaupt nicht aufgelöst, sie sind so klein, dass jeder Komplex nach seiner Ver- doppelung in den Tochterchromosomen Platz hat. Die „sichtbare“ Kernstruktur und ihre mannigfachen Veränderungen haben keinen wesentlichen „determinierenden“, sondern nur „ausführen- den“ Einfluss auf das Gestaltungsvermögen des Kernes. Die eigent- lich determinierend wirkende Kernstruktur braucht bei der Teilung der Chromosomen gar nicht gestört zu werden, oder eventuelle geringe Alterationen werden durch Selbstordnung wieder ausge- glichen. Demnach stellt auch das Problem der Sonderung einer verdoppelten Struktur nichts Mmechanistisch Unmögliches dar. Nach Erwerbung der qualitativen Halbierung war für die Sonderung der ursächlich impliziten Strukturverhältnisse neuer formaler Cha- raktere nur die Erwerbung der innerhalb der Chromosomen wirken- den Mechanismen nötig, einschließlich der Regulationen für die Sicherung ihrer Entwickelung und die morphologische Assimilation des daraus Hervorgegangenen. Da es auch gelungen ist, vererb- bare Variationen des Keimplasmas künstlich zu erzeugen, so 342 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. scheint auch das harmonische Geschehen bei der Vererbung als mechanistisch erklärbar. Mit der gegebenen „qualitativen Hal- bierung* Roux’s des nach Weismann kontinuierlichen, also nur durch Assimilation vermehrten Keimplasmas ist dann die Ver- erbung der blastogenen Eigenschaften eine mechanische Notwendigkeit. Eine Einschränkung des Vorkommens der morphologischen Assimilation wäre insoweit denkbar, dass die differenzierte Struktur des entwickelten Organısmus nur von keimplasmahaltigen Matrices aus hergestellt würde. In diesem Falle würde es sich um passives Wachstum der vergrößerten entwickelten Teile handeln. Dann gäbe es für jedes Lebewesen nur eine Art morphologischer Assi- milation, nämlich die des Keimplasmas. Eine gestaltliche Assı- milation des Entwickelten (Expliziten), das Wachstum der ent- wickelten Teile wäre dann kein „Selbstwachstum“* dieser Teile, sondern eine fortgesetzte Entwickelung der impliziten Struktur des Keimplasmas. Außer den bisher genannten Leistungen für die Entstehung und Reproduktion der Lebewesen «bleibt noch das schwierige Pro- blem der morphologischen Selbstregulation übrig, auf dem die Konstanz der Arten wesentlich beruht. Die Selbstregulation stellt etwas wesentlich neues Morphologisches dar, das phylo- genetisch mit den nötigen Regulationen allmählich gezüchtet worden sein musste. Die morphologischen Selbstregulationen lassen sich aber von derselben Art Wirkungen ableiten, welche auch die typische Entwiekelung hervorrufen; allerdings ist die Wirkung der verschie- denen einzelnen Faktoren noch sehr zweifelhaft. Wenn wir auch von dem wirklichen Geschehen nichts wissen, so haben wir doch in dem Ausgeführten eine Reihenfolge, die aus lauter kleinen, durch zufällige Variationen möglichen Stufen her- stellbar ist, deren einzelne Stufen selbsterhaltungsfähig sind, und von denen diejenigen späteren, welche dauerfördernde Eigenschaften in höherem Maße besaßen, sich besser erhielten und infolge des Wachstums und der Vermehrung sich weiter ausbreiteten. So mussten sich im Laufe der Zeiten die besseren Qualitäten auf- speichern. Aus der vorhergegangenen Betrachtung geht hervor, dass zum Übergang vom gewöhnlichen anorganischen Geschehen zu den niedersten Formen organischen Lebens bereits die Erwer- bung mehrerer besonderer Leistungen nötig war. Eine plötzliche Überschreitung dieser großen Kluft durch ein einmaliges zufällig sehr günstiges Vorkommen, wie es Haeckel und einige Physio- logen annehmen, erscheint bei genauer Prüfung unmöglich, woraus Roux’s Hypothese von der sukzessiven Züchtung der Grundfunk- tionen des Lebens ihre Berechtigung ableitet. Die Physik und Chemie haben das ganze mannigfaltige anorga- Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 345 nische Geschehen in eine geringe Anzahl beständiger oder homo- gener Wirkungsweisen zerlegt. Diese sind auch zum Teile im organischen Geschehen erkennbar, anderen Teiles treten aber hier wesentlich abweichende Wirkungsweisen auf, die wohl nur in der besonders komplizierten physikalischen und ehemischen Zusammen- setzung der Lebewesen ihren Grund haben. Eine Analyse des Entwickelungsgeschehens muss dieses möglichst weit auf die in der Physik und Chemie erkannten anorganischen Wirkungsweisen zu- rückführen. Soweit das zur Zeit noch nicht möglich ist, muss das Gestaltungsgeschehen wenigstens in eine möglichst kleine Anzahl beständiger Wirkungsweisen aufgelöst werden, die zwar noch immer mit den besonderen Charakteren des organischen Geschehens be- haftet sind und von Roux als komplexe Wirkungsweisen des organischen Geschehens bezeichnet werden; diese müssen endlich wieder in lauter anorganisches Geschehen zerlegt werden. Das ist die Kardinalaufgabe der Entwickelungsmechanik. Außerdem sind die Träger dieser Wirkungen, die Faktoren zu ermitteln. Beim Entwickelungsgeschehen eines Lebewesens sind, sobald die individuelle Entwickelung einmal begonnen hat, Ort und Zeit des Geschehens in gewissem Maße typisch bestimmt, deren Ur- sachen von großer Bedeutung sind. Sie werden als Orts- und Be- ginnsfaktoren bezeichnet und gehören zu den verschiedenen Teil- ursachen des Gestaltungsgeschehens. Da sie den Ort und die Zeit des Geschehens bestimmen, so sind sie Determinationsfaktoren, sie können aber auch etwas von der Ausführung bewirken, wodurch sie Realisationsfaktoren werden. Dazu kommen unter Um- ständen noch besondere Dauer-, Ausdehnungs-, Richtungs- und (ualitätsfaktoren. Alle diese Faktoren bestimmen die typische Art des Entwickelungsgeschehens ım Sinne der Stammes-, Klassen-, Gattungs- und Artmerkmale. Jeder der verschiedenen Faktoren kann aus mehreren gleichartigen Gliedern bestehen, deren Wirkungen sich summieren. Roux nennt, also zum Teil abweichend vom physikalischen Sprachgebrauch, alle Teilursachen, welche nach dem gegenwärtigen Stande der Analyse die Wirkungsweisen, also Qualitatives, bestimmen oder ausführen, Faktoren. Teilursachen, welche nur das Quantitative des Geschehens bestimmen oder aus- führen, sind Komponenten der entsprechenden Faktoren. Wir reden also von Qualitätsfaktoren und von Größenkompo- nenten dieser Faktoren. Ein jeder Faktor kann wieder aus mehreren Unterfaktoren zusammengesetzt sein. Die Aufgabe der Entwicke- lungsmechanik ist es, die organischen Gestaltungsvorgänge auf die wenigsten und einfachsten Wirkungsweisen zurückzuführen und deren Wirkungsgrößen zu ermitteln, somit den an diesen Wir- kungen beteiligten Stoff- und Kraftwechsel zu erforschen. Dabei muss auch das Quantitative der beteiligten Wirkungsweisen erforscht 344 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. werden, damit wir ın der Entwickelungsmechanik gleichfalls zur Ableitung von Gesetzen gelangen, wie in der Physik. Die Entwickelung der Lebewesen ist ein typisches Wieder- holungsgeschehen, welches bei den Nachkommen derselben Lebewesen der Hauptsache nach in der gleichen Weise und Reihen- folge sich wiederholt. Zur Ermittelung des sich Wiederholenden kann von der deskriptiven Morphologie das „deskriptive“, oder ın seinen höchsten Leistungen „formal-analytische* Experiment heran- gezogen werden, welches nur die formalen Veränderungen zur An- schauung bringt, ohne über die Veränderung bewirkenden Fak- toren Aufschluss zu erteilen (z. B. Markierversuche an der Blastula und Gastrula von Roux). Da aber auch das Wiederholungs- geschehen der Entwickelung niemals ganz konstant ist, sondern dabei vorübergehende, bleibende, oder sich steigernde Änderungen auftreten, so müssen auch diese Variationen erforscht und ver- zeichnet werden. Was ın der Mehrzahl der beobachteten Fälle ohne alterierende Einwirkung von unserer Seite vorkommt, wird als Regel oder Norm bezeichnet. Wir haben zunächst die Wir- kungsweisen und -Größen zu erforschen, durch die das Normale hervorgebracht wird und zwar nicht nur die Gesetze für das ein- malige gestaltende Geschehen, sondern auch jene, nach denen das typische Wiederholungsgeschehen stattfindet. Gerade diese Wieder- holung macht die Ontogenese der experimentellen Forschung direkt zugänglich, während die nur einmalige Phylogenese, als eigentlich historische Wissenschaft, durch das Experiment nur indirekt und mit Hilfe von Analogieschlüssen erforscht werden kann, wodurch aber auch manche kausale Erkenntnis vermittelt wird, wie z. B. durch die Variationsversuche von de Vries und G. Klebs. Da- gegen wird die Probiologie, die Lehre von den Vorstufen des Lebens, eine fast rein experimentelle Wissenschaft werden. Die Probiologie hat die Möglichkeit der Entstehung niederster Stufen des Lebens aus anorganischen Geschehen durch sukzessive Bildung der Grundfunktionen experimentell zu prüfen. Die Mög- lichkeit einer synthetischen Biogenesis ist keineswegs absolut aus- geschlossen. Die Versuche müssen aber die chemischen und die morphologischen Elementarfunktionen in gleicher Weise umfassen. Verheißungsvolle Anfänge liegen bereits vor z. B. in den sich be- wegenden Schaumtropfen (Bütschli), den sich kopulierenden Chloro- formtropfen (Roux), Quecksilbertropfen (Bernstein) und den viel- fachen glänzenden zellmechanischen Forschungen Rhumblers. Die Probiologie hat ferner die von selbst vorkommenden Vorstufen des Lebens aufzusuchen, da Isoplassonten, Autokineonten und niederste Automerizonten als gesonderte Lebensstufen bereits aufgefunden wurden. Die Entwickelungsmechanik ist in eine der Ontogenese und is > Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. der Phylogenese zu unterscheiden, wozu noch die Mechanik der Proontogenese hinzukommt. Diese umfasst die Bildung des reifen Ries und Samenkörpers aus dem indifferenteren „Keimplasson*. Zwischen deskriptiver und kausaler Forschung besteht ein tiel- greifender Unterschied. Die erstere liefert Regeln des Vorkommens, _Majoritätsfälle des Vorkommenden, die vielfache Ausnahmen haben. Die kausale Forschung stellt Gesetze des Wirkens auf, die aus- nahmslos gelten; dabei ist aber zu bedenken, dass nicht jedes einem solchen Gesetz folgendes Geschehen stets für sich allein vorkommt. Regel und Gesetz sind zwei prinzipiell verschiedene Begriffe, z. B. das Fallen und Fallgesetz. Die Ergebnisse der deskriptiven und kausalen Forschung können, müssen aber nicht miteinander über- einstimmen, ohne dass deswegen eine der beiden Forschungsmethoden zu falschen Ergebnissen zu gelangen braucht. Eine unbedingte Übereinstimmung beider Forschungsergebnisse fordern, heißt Vor- kommen und Wirken verwechseln. Die Beständigkeit des typischen Vorkommensder Klassen-, Gattungs-, Artmerkmale u.s. w. und der sie produzierenden Entwickelungsvorgänge heißt Regel. Sie beruht auf der Kontinuität des Keimplassons mit seiner unend- lichen phylogenetischen Vorgeschichte und lässt viele Abweichungen zu. Die Beständigkeit des Wirkens ist die elementarste Not- wendigkeit gesetzmäßigen Geschehens, sie wird als Naturgesetz bezeichnet und lässt keine einzige Abweichung zu. Naturgesetze haben keine Ausnahmen und solche scheinbare Gesetze, die Aus- nahmen haben, sind keine Naturgesetze. Die Wissenschaft, welche sich mit der Erforschung der Gesetz- mäßigkeiten des Entwickelungsgeschehens befasst, hat Roux Ent- wickelungsmechanik genannt, wobei der Name Mechanik im allge- meinsten philosophischen Sinne, d.h. der Lehre vom mechanistischen, der Kausalität unterstehenden Geschehen gebraucht wird. Dieser Name bezeichnet das Ziel der Wissenschaft, nämlich die mecha- nistische Erklärung der Entwickelung. Den von einigen Autoren verwendeten Namen Entwickelungsphysiologie, der auch zutreffend ist, verwendet Roux deshalb nicht, weil die Fachphysiologen bis auf wenige Ausnahmen sich nur mit den „Erhaltungsfunktionen“ des bereits gebildeten Organismus beschäftigen, während sie die „Gestaltungsfunktionen“ als etwas Morphologisches den Zoologen und Anatomen zuweisen. Der von anderen Autoren gebrauchte Name Biomechanik ist zu allgemein, denn er umfasst die gesamte Physiologie mit, während die Bezeichnung experimentelle Embryo- logie zwar die Hauptsächlichste Forschungsmethode zum Ausdruck bringt, ohne jedoch das prinzipiell Neue, den kausal-analytischen Versuch, scharf zu betonen. Die Funktionen der Lebewesen teilt Roux ein in Bildungs- oder Entwickelungsfunktionen und in Erhaltungsfunktionen; 46 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. (dt) die letzteren zerfallen in Betriebs- und Reparationsfunktionen. Dazu kommen noch typische Involutionsvorgänge und regelmäßige Altersveränderungen, die den Alterstod bewirken. Letzterer ist nach Roux durch die bestehende Unvollkommenheit der geweb- lichen Assimilation bedingt. Die Bildungs- und Erhaltungsfunktionen unterliegen der Selbstregulation, die keine besondere Funktion, sondern nur ein Modus der Vollziehung der Funktion ist. Bildungs-, Reparations- und Involutionsfunktionen stellen zusammen die Ge- staltungsfunktionen dar. Die allgemeine Entwickelungsmechanik hat die allge- mein gestaltenden Wirkungsweisen zu ermitteln, die zur Entwicke- lung aller, oder großer Gruppen von Lebewesen nötig sind. Eine nur durch die unbedingt nötigen Entwickelungsfaktoren bewirkte, allerdings niemals rein vorkommende Entwickelung, die auf dem nächsten möglichen Wege ohne jede Variation vom Ei zur typischen Endgestaltung führen würde, bezeichnet Roux als ty- pische Entwickelung. Diese ist von der in der Mehrzahl der Fälle vorkommenden normalen Entwickelung streng zu scheiden. Die Abweichungen der normalen und abnormen Entwickelung von der typischen, stellen die atypische Entwickelung dar, die sich, falls sie nicht zu vorzeitigem Absterben führt, unter Regulations- vorgängen vollzieht. Je nachdem die Regulationen bei der nor- malen oder abnormalen Entwickelung vorkommen, sind sie in nor- male und abnormale zu unterscheiden, deren Grenze allerdings oft schwer zu finden ist. Die allgemeine Entwickelungsmechanik ist eine rein analytische Disziplin, reine Gesetzwissenschaft; das von ihr behandelte Geschehen kommt in der Natur vielfach nicht „von selbst“ vor, sondern nur unter den im Laboratorium hergestellten Bedingungen, analog dem freien Fall im luftleeren Raume. Erst nach Erforschung der an der Entwickelung beteiligten allgemeinen Wirkungsweisen können wir untersuchen, inwieweit diese in der Wirklichkeit des Einzelfalles kombiniert vorkommen. Die Ermitte- lung des speziellen Anteiles einer jeder erkannten Wirkungsweise und ihr Zusammenwirken bei der wirklichen Entwickelung eines bestimmten Lebewesens ist die Aufgabe der speziellen oder an- gsewandten Entwickelungsmechanik, die auch die nebensäch- lichen normalerweise mitwirkenden Ursachen erforscht. Sie unter- sucht und beschreibt das in der freien Natur wirklich Vorkom- mende, aber in kausaler Weise, und stellt zugleich die Regeln des Vorkommens fest. Nach dieser allgemeinen Analyse der Aufgaben der Entwicke- lungsmechanik geht Roux zu einem Überblick über die bisherigen Untersuchungen und deren Ergebnisse über. Als einfachste Gruppe von Ursachen des Entwickelungs- geschehens untersuchte Roux zuerst die Ursachen, welche die Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 3#7 Richtung der Gestaltung bestimmen, indem er die Bestimmung der Hauptrichtungen des Tieres im Ei erforschte. Zuerst wurden die Ursachen für die Richtung der Symmetrieebene des künftigen Tieres untersucht. Zur experimentellen Analyse der nächsten Einzelursachen einer Gestaltung muss bekannt sein, in welcher Entwickelungsphase diese Faktoren in Tätigkeit treten, wenn sie aktiviert werden. Da aus dem Ei einer Tierspezies immer auch ein Tier dieser Spezies wird, so muss das Entwickelungsgeschehen schon vorher ganz oder fast ganz vorausbestimmt sein. Das ist die Tatsache der impliziten Determinierung alles Typischen im Keimplasson, der im Laufe der Proontogenese und Ontogenese nach und nach die aktive Determination des Expliziten (Entwickelten), die explizite Determinierung folgen muss. Die Tatsache, dass in dem anscheinend sehr einfachen Keimplasma das Typische des sichtbar hochkomplizierten entwickelten Lebewesens ganz oder teilweise be- stimmt, determiniert ist, hat Roux als Implikation und die Ent- wickelung dementsprechend als Explikation bezeichnet und in diesem Sinne zwischen impliziter und expliziter Mannigfaltigkeit, Differenzierung u. s. w. unterschieden. Driesch gebraucht dagegen die Worte explizite und implizite im Sinne der Psychologie. Zunächst galt es also die Zeit, bezw. die Entwickelungs- phase zu ermitteln, in der die Bestimmung der Symmetrieebene des Tieres explizite getroffen wird. Roux’s Versuche ergaben, dass die erste Teilungsfurche eine bestimmte Beziehung zur Symmetrie- ebene des künftigen Tieres hat, und dass bei Fernhaltung störender Einflüsse die Richtung der Medullarfurche mit der ersten Teilungs- furche übereinstimmt (Roux, Pflüger), ferner konnte Roux zeigen, dass die Kopfseite des Frosches immer an der Seite gebildet wird, wo kurz vor der ersten Furchung die helle Rinde des Eies am höchsten stand; die Schwanzseite liegt auf der Seite der tiefer stehenden dunklen Hemisphäre. Demnach sind schon lange vor der Anlage irgendwelcher Organe, sogar vor der ersten Teilung des Eies die Hauptrichtungen des künftigen Tieres im Ei bestimmt. Diese Bestimmung wird wahrscheinlich erst um die Zeit der Be- fruchtung getroffen. Durch Versuche über willkürlich lokalisierte Befruchtung gelang es es Roux nachzuweisen, dass die erste Furche dem willkürlich gewählten Befruchtungsmeridian folgt, indem sie ganz oder fast ganz mit ihm zusammenfällt, und dass die Befruch- tungsseite zur Schwanzseite des sich entwickelnden Tieres wird. Aus dem Studium der Abweichungen in den Versuchsergebnissen wurde erkannt, dass die Vereinigungsrichtung des männlichen und weiblichen Kernes die Richtung der ersten Teilung des durch die Vereinigung gebildeten Furchungskernes und zumeist auch des Zelleibes bestimmt. Ja es können bei Zwangslage des Eıes von 348 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. dem auf diese Weise Bestimmten Wirkungen ausgehen, die nach- träglich eine symmetrisch dazu angeordnete Umordnung verschie- dener Dotterarten herbeiführen. Zunächst war Roux bemüht, eine Orientierung über die Ört- lichkeit der speziellen Entwickelungsursachen zu gewinnen. Die Entwickelungsursachen haben wır schon im allgemeinen in Be- stimmungs- oder Determinationsfaktoren und in Ausführungs- oder Realisationsfaktoren geschieden. Die ersten bestimmen das Entwichelungsgeschehen nach Art, Größe, Ort und zeitlichem Verlauf, ohne dass sıe das neu Bestimmte für sich allein ausführen können. Dazu bedarf es vielmehr der Hilfe der Realisationsfaktoren, welche zur Ausführung nötig sind, aber nicht die Art des Ge- schehens bestimmen. Da diese meist nicht völlständig ım Ei ent- halten sind, so kann erst bei ihrer ausreichender Zufuhr (z. B. Wärmezufuhr zum Vogelei) die Entwickelung beginnen; dann sind sie zugleich Beginnsfaktoren. Die Determinationsfaktoren zerfallen in primäre oder implizite, meist im Keimplasma enthaltene, und in sekundäre oder explizite, welche erst durch die Tätigkeit der primären Faktoren entwickelt werden. Die primären Faktoren sind die hauptsächlichen, weil sie das Geschehen von vornherein be- stimmen; die sekundären werden im Laufe der Entwickelung immer- während neu erzeugt. Diese Gruppen stellen die zur typischen Entwickelung nötigen Faktoren dar. Es können aber auch andere den typischen Entwickelungsgang alterierende Faktoren einwirken, 7. B. die Schwerkraft bei abnormer Stellung mancher Eier, oder an sich nötige Faktoren können in abnormer Weise (Intensität) wirken, wie zu große Wärme, wodurch Zwergbildung hervorgerufen wird (L. Gerlach). Diese Faktoren sind Alterationsfaktoren, die durch Regulationen kompensiert werden können. Diese sind nicht nötige akzessorische, aber nicht seltene Entwickelungsursachen. Die Lebewesen besitzen für die sie charakterisierenden Hauptgestaltungen alle Determinationsfaktoren in sich. Daher kann man von einer Autonomie ihrer typischen gestaltlichen Leistungen sprechen, aber nur in dem durch die Eigenart ihrer komplexen Zusammensetzung bedingten Sinne, nicht aber im Sinne von in ihnen enthaltenen zwecktätig gestaltenden Potenzen. Die Ausführungsfaktoren, zu denen auch die Baumaterialien zu rechnen sind, können im Form von Dotter oder sonstiger Reservenahrung in größerer Menge im Lebewesen aufgespeichert sein, z. B. im Vogelei, oder sie fehlen und müssen fortwährend van außen auf- genommen werden wie beim Säugetierei. Die Gesamtursache im Sinne aller nötigen Ursachen stellt das Minimum an Entwickelungsursachen dar, welche die einfachste in Wirklichkeit mögliche Entwickelung, d. 1. die typische bewirken. Bei der normalen Entwickelung dagegen sind oft Ursachen ge- Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 349 staltend beteiligt, die zur Entwickelung des betreffenden Eies über- haupt nicht notwendig sind, wie z. B. die Schwerkraft. Bei der abnormen Entwickelung können entweder nötige Faktoren, oder bloß normalerweise beteiligte Alterationsfaktoren abnorm beschaffen sein, oder es können bei der normalen Entwickelung überhaupt nicht beteiligte Faktoren die Abweichung des Entwickelungsge- schehens bedingen. Die atypische Entwiekelung umfaßt alles nicht Typische, also alles nicht bloß durch die nötigen Faktoren bei typischer Beschaffenheit dieser bewirkte Entwickelungsgeschehen. Roux’s Versuche an Froscheiern, die in eine sie engumschlie- ßende Röhre aufgesaugt waren, ergaben, dass die Luftzufuhr keinen Einfluss auf die Lagerung irgendwelcher Organe ausübt. Die Luft ist zwar zur Entwickelung nötig, aber sie ist nur ein Ausführungs- faktor. Ferner zeigten Roux’s Versuche, dass Pflüger’s Annahme über die typische determinierende Wirkung der Schwerkraft nicht zutreffend sind, denn Roux’s Versuche ergaben, dass die ordnende oder riehtende Wirkung der Schwerkraft zur Entwickelung über- haupt, sowie zur Bestimmung der Richtung der Mittelebene und zur Differenzierung der Medularplatte nicht notwendig ist. Auch die Richtung des Lichteinfalles und die Lage des Eies zur Richtung des magnetischen Meridianes scheint ohne determinierende Bedeu- tung für die Gestaltung im Ei. Aus allen angestellten Versuchen dürfen wir folgern, dass alle die typische Art der Gestaltung bestimmenden Faktoren der Entwickelung im befruch- teten Ei selbst enthalten sind. Die Entwickelung des be- fruchteten Eies ist daher in bezug auf das die Gestaltung bestim- mende Geschehen als Selbstdifferenzierung des Eies zu bezeichnen. Infolgedessen sind die sich entwickelnden Lebewesen der Hauptsache nach in sich geschlossene Komplexe von Gestaltung bestimmenden und hervorbringenden Wirkungen, für deren Voll- ziehung von außen her nur die Ausführungsenergien und Baumate- rialien zu liefern sind. Als Selbstdifferenzierung eines ganzen Gebildes, z. B. des Eies, des Embryos, oder eines bestimmt abgegrenzten Teiles, z. B. einer Zelle, bezeichnet Roux jene Veränderungen desselben, deren sämtliche „determinierenden“ Ursachen in diesem Gebilde oder Teil selbst gelegen sind. Sie beruht also stets auf Selbstdetermination. Die Selbstdifferenzierung ist eine vollkommene, wenn das Gebilde außer allen DeterminationsfaktorenauchsämtlicheRealisationsfaktoren bis auf einen, den Auslösungsfaktor, in sich enthält. Um eine un- vollkommene Selbstdifferenzierung handelt es sich, wenn zur Aus- führung des Determinierten außer dem Auslösungsfaktor noch andere äußere Einwirkungen nötig sind, so dass also die Selbstdetermination mit abhängiger Realisation kombiniert ist. Selbstdifferenzierungistkein Wirkungsprinzip, sondern ein kausal-topographisches Prinzip. Liegen 350 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. die Determinationsfaktoren für die Veränderung eines Teiles oder umgrenzten Gebildes teilweise oder ganz außerhalb dieses, dann handelt es sich um abhängige Differenzierung. Liegen alle wesentlichen Determinations- und Realisationsursachen außerhalb des sich verändernden Gebildes, so haben wir es mit passiver Differenzierung zu tun. Wirkt der von außen her veränderte Teil auf den ihn beeinflussenden Teil ändernd zurück, so stellt das Geschehen in seiner Totalität die wechselseitige Differen- zierung dar. Selbstdifferenzierung und abhängige Differenzierung können sich bei der Differenzierung eines Teiles in verschiedener Weise miteinander verbinden und stellen dann eine gemischte Differenzierung dar. Jede Selbstdifferenzierung eines Gebildes erfolgt durch differenzierende Einwirkung seiner Teile aufeinander, weshalb nur ein Komplex von verschiedenen Teilen der Selbstdifferenzierung fähig sein kann. Im Gegensatz zu G. Klebs vertritt Roux die Anschauung, dass trotz der durch äußere Einwirkungen veranlassten regulatorischen Entwickelung (einschließlich der Regeneration und Postgeneration) alle zur Selbsterhaltung nötigen Hauptcharaktere des Lebewesens und größtenteils auch seine Stammescharaktere, sowie die Art und Grenze seiner Variabilität auch bei der Pflanze in ihr selbst determiniert sind, genau so wie es beim Tier der Fall ist. Immer- hin können äußere Umstände alterierend auf das typisch bestimmte Geschehen einwirken und manche dieser Alterationen sind, wie Herbst gezeigt hat, auch selbsterhaltungsfähig. Die dabei sich abspielenden Reaktionen hat Roux elektive Auslösung und das Vermögen dazu mehrfache Reaktionsfähigkeit genannt. Roux’s Untersuchungen über die Bildung der Medullarfurche ergaben, dass diese Bildung nicht durch Stauung der wachsenden Teile an ihrer Umgebung erfolgt, wie His annahm, sondern es handelt sich um eine vollkommene Selbstdifferenzierung der Medullar- platte. Ein Gleiches gilt auch von der Bildung des Darmrohres. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass das His-Pander’- sche Gestaltungsprinzip durch ungleiche Ausdehnung und Stauung falsch ist, sondern es folgt aus Roux’ Versuchen nur, dass zur Formung der Medullarplatte keine außerhalb dieser gelegene be- stimmenden Faktoren nötig sind. Hıs beschränkte sich bei seinen Versuchen darauf, das Wachs- tum einfach als Größenzunahme aufzufassen, ohne es ursächlich zu zerlegen. Roux dagegen unterschied, um zu einer ursächlichen Erkenntnis des Wachstums vorzudringen, das Massenwachstum, oder die Vermehrung der Substanz des Organısmus von dem rein dimensionalen Wachstum, welches ohne Substanzvermehrung nur durch die Umlagerung schon vorhandener Substanz zustande kommt. Dieses muss andere Ursachen haben als das erstere. Bei Wilhelm Roux, Die Entwiekelungsmechanik. 351 dem reinen dimensionalen Wachstum nach den drei Raumdimen- sionen, dem reinen Volumwachstum, muss eine Bildung von Lücken und Hohlräumen in der organischen Substanz auftreten. Sind die Lücken mit Wasser erfüllt, dann tritt eine Gewichtszunahme auf, womit eine Übergangsstufe zum Massen wachstum gegeben ist, bei der eine Vermehrung der lebenstätigen, oder nur niederer organisierten Substanz noch nicht vorhanden ist. Je nach der Art der vermehrten Substanz ist das Massenwachstum in folgende drei Gruppen zu scheiden: 1. Vermehrung der lebenstätigen Substanz mindestens vom Range des Issoplassons oder höherer Stufen bis zum Idioplasson; 2. Vermehrung der von diesen produzierten orga- nischen Substanzen niederen Ranges, die entweder bloß chemische Stoffe darstellen, oder bereits morphologisch organisiert sein können; 3. Produktion oder bloße Aufnahme und Ablagerung von anorganischen Substanzen, z. B. Wasser oder mancher Salze. Diese verschiedenen Arten des Wachstums müssen verschiedene Ursachen haben, die manchmal leicht zu scheiden sind, da sowohl reines dimensionales, als auch reines Massenwachstum allein vorkommt. Es können auch beide Arten gleichzeitig in einem Lebewesen, aber an verschiedenen Orten vollkommen rein vorkommen, oder sie treten in einzelnen Organen kombiniert auf, wobei die eine Art des Wachstums die andere Art aufwiegt. Diese Gruppen kausal und quantitativ zu bestimmen, ist eine der Aufgaben der Entwickelungsmechanik, wo- mit bereits Schaper erfolgreich begonnen hatte. Nach dem Orte der Ursachen des Massenwachstum haben wir zu unterscheiden das Selbstwachstum und das passive Wachstum. Bei dem ersten bringt der vergrößerte Teil den Massenzuwachs selbst hervor, oder . er determiniert ihn wenigstens selbst, während beim passiven Wachs- tum ein anderer Teil dem ersten Gleiches produziert und es diesem nur anfügt. Zwischen beiden Arten kann es viele Übergangsstufen geben, die Roux als abhängiges Wachstum bezeichnet. Zur weiteren Erforschung des allgemeinsten Entwickelungsge- schehens untersuchte Roux, ob die Entwickelung des befruchteten Eies ein formales Gesamtwirken darstellt, indem er prüfte, ob die typische Gestalt des Eies zur Entwickelung notwendig ist, und ob dazu alle Teile des befruchteten Eies erforderlich sind. Die verschieden modifizierten Versuche an künstlich deformierten Eiern haben ergeben, dass zu Entwickelungsvorgängen, welche relativ normal gestaltete Produkte liefern, nicht die ganze typische Lage- rung der Teile des Keimes zueinander nötig ist. Durch Anstich- versuche an Froscheiern, wobei ein Teil des Eiinhaltes nach außen trat und die Anordnung der zurückgebliebenen Substanz gestört wurde, konnte Roux nachweisen, dass trotz des Defektes meist ganz normale Embryonen gebildet wurden. Es ist also weder alle Eisubstanz noch ihre vollkommen normale Anord- 359 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. nung zur Entwickelung an sich und zur Bildung von in der Hauptsache normal gestalteten Embryonen erforder- lich. Ferner deformierte Roux Blastulae, Gastrulae und junge Embryonen durch große Schnitte zum Teil mit Bildung zungen- förmiger Lappen. Trotz dieser hochgradigen Deformationen, sowie der teilweisen Isolation großer Teile von ihrer Umgebung ent- wickelten sich in manehen Fällen die Gebilde bis dicht an den Schnittrand in normaler Weise weiter. Diese Versuche stellen einen Beweis für die Selbstdifferenzierung ganz atypisch abgegrenzter Teile dar. Bei einigen Fällen der bestimmt lokalisierten Anstichversuche starb die eine Eihälfte vollkommen ab, während die andere am Leben blieb. Es musste daher zunächst erforscht werden, ob jede dieser Eihälften außer dem Material zur Bildung der betreffenden Körperhälften auch die Faktoren in sich enthält, welche die Art der Gestaltung dieses Materiales im Laufe der Entwickelung be- stimmen, oder ob beide Hälften nur unter gleichzeitigem Zusammen- wirken sich zu entwickeln vermögen. Durch schwierige Experi- mente gelang es, eine der beiden Eihälften ganz oder wenigstens für längere Zeit von der Entwickelung auszuschalten. Trotzdem entwickelte sich die überlebende andere Eihälfte weiter und lieferte deutliche rechte und linke halbe Embryonen. Durch entsprechend modifizierte Versuche konnten auch vordere Halbembryonen, sowie Dreiviertelembryonen erzeugt werden. Aus diesen Versuchen geht zweifellos hervor, dass jede der ersten beiden Furchungs- zellen nicht nur das Baumaterial zur Bildung der ent- sprechenden Körperhälfte repräsentiert, sondern dass jede dieser Zellen auch das Vermögen (die Potenz) zu dieser Bildung besitzt. Sie enthält demnach in sich selbst alle zu ihrer Entwickelung nötigen, die besondere Gestaltung be- stimmenden Energien (Determinationsenergien), seien diese wie zumeist Energien der Lage (potentielle), oder kinetische. Das entwickelungsmechanische Vermögen (Potenz) ist zu unterscheiden in das dem Teile selbst eigene aktive Gestaltungs- vermögen und in das Vermögen von außenher gestaltend beeinflusst zu werden, passives Gestaltungsvermögen. Das erstere zerfällt wieder in das Vermögen zur Selbstdifferenzierung und in das Ver- mögen zur differenzierenden Einwirkung (Induktion) auf andere Teile. Dazu kommt dann das Vermögen durch andere Teile diffe- renzierend beeinflußt zu werden, das Vermögen zur passiven oder abhängigen Differenzierung. Alle diese Fähigkeiten sind wieder- um zu gliedern in bezug auf die Determination und Realisation des Differenzierten, also in die Vermögen der Selbstdetermination und der abhängigen Determination, sowie der Selbstrealisation und abhängigen Realisation. Die Selbstdifferenzierung und die differen- Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 353 zierende Einwirkung (Induktion) sind eigene Leistungen der Zelle. Die voranstehenden Versuche haben gezeigt, daß die differen- zierende Mitwirkung der zweiten Eihälfte zur Entwickelung einer durch Selbstteilung des Froscheies gebildeten und abgegrenzten Ei- hälfte eine große Entwickelungsstrecke weit nicht erforderlich ist. Ferner zeigen die Versuche, dass eine solche differenzierende Wir- kung der einen Hälfte des Froscheies auf die andere auch bei der typischen Entwickelung nicht vorkommt. Roux schließt vielmehr aus seinen Versuchen, dass die typische Entwickelung des Frosch- embryos eine große Strecke weit durch Selbstdifferenzierung der ersten Furchungszellen, bezw. des Komplexes ihrer Teilzellen er- folgt. Sie stellt daher eine Art Mosaikarbeit, also Bildung der einzelnen Embryonenhälften für sich dar. Ähnliches scheint nach Roux’s Erfahrungen an einem Halbembryo des Kalbes auch für die Säugetiere zu gelten. Auch die Defektmissbildungen am Menschen deuten auf hochgradige Selbstdifferenzierung hin. Durch diese Untersuchungen erhält His’ Prinzip der organbildenden Keim- bezirke sowohl für die ersten Furchungszellen, sowie für alle an- deren der Selbstdifferenzierung unterliegende Bezirke des Eies oder des älteren Keimes außer seiner ursprünglichen rein materiell-topo- graphischen auch noch eine kausal-topographische Bedeutung, welche His allerdings bei der Aufstellung seines Prinzipes gänzlich ferne lag. Die kausale Ortsforschung ist für die Entwickelungsmechanik von großem Vorteil, weil durch die Erkenntnis der räumlichen Ver- hältnisse eines Wirkens die möglichen Wirkungsarten schon wesent- lich eingeschränkt werden, obgleich wir damit die Wirkungsweisen selbst noch nicht erkennen können. Die Notwendigkeit einer all- mählichen immer genaueren Ermittelung des Ortes der typischen Faktoren und Komponenten eines Gestaltungsgeschehens vor der Ermittelung der Wirkungsweisen der betreffenden Teilursachen, sowie die Ermittelung der Zeit der expliziten Determination vor der Erforschung des Ortes der Determinationsfaktoren und der Art des dabei stattfindenden Geschehens ist geradeso wie die Be- deutung und der analytische Wert der auf die Ortsforschung sich gründenden Unterscheidung von Selbstdifferenzierung und abhängiger Differenzierung ete. noch nicht genügend erkannt und gewürdigt worden. Da es sich bei der Entwickelung nicht nur um ein typisches Einzelgeschehen, sondern auch um eine typische Wieder- holung einer Reihe von Vorgängen, also um eine typische Folge handelt, so muss bei ihrer kausalen Untersuchung zur Ortsforschung auch noch die Ermittelung der zeitlichen Verhältnisse der Einzel- ursachen hinzutreten. Bevor wir an die Erforschung der Qualität der einzelnen Gestaltungsursachen und deren Wirkungsweisen heran- XXVl. 23 354 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. treten können, muss erst die Zeit ıhres typischen Wirkens, die Zeit ihrer Aktivierung, die Zeit der expliziten Determination, sowie der Ausführung des Determinierten festgestellt werden. Wenn wir in der Betrachtung der Ergebnisse der Entwicke- lungsmechanik fortfahren, so seien im Anschluss an das Voran- &chende die Versuche von Driesch, Endres, Barfurth, Morgan, Crampton, Fischel und anderer Forscher genannt, die bei ver- schiedenen Tierarten Teilbildungen künstlich erzeugen konnten. Aus diesen Versuchen ergibt sich, dass das befruchtete Ei bei manchen Tieren zum Teil noch mehr als beim Frosch einen diffe- renzierten Bau besitzt, welcher die Entwickelung der isolierten ersten Furchungszellen zu Teilen von Embryonen ermöglicht. Diese Embryoteile entsprechen der Lage der beteiligten Furchungszelle in deren Orientierung zu den Hauptrichtungen, sowie deren Größe im Verhältnis zum ganzen Ei. Das gilt bei einigen Eiern auch für künstlich durch Schnitte abgegrenzten, den Kern enthaltende Stücke des Eies. (Fischel, Driesch.) Um zu einer genaueren Analyse des Entwickelungsgeschehen zu gelangen, muss die Determination, welche in implizite und explizite unterschieden worden ist, noch weiter gegliedert werden, Nach der Örtlichkeit der determinierenden Ursachen und ihrer Wirkungen kann man folgende Arten der expliziten Determination unterscheiden: 1. die subjektive Determination, welche entweder vom Ganzen ausgeübt (Totaldetermination), oder nur von Teilen ausgeübt (Partialdetermination) wird; 2. die objektive Determination, die sich entweder auf das Ganze (Generaldeter- mination), oder nur auf Teile (Spezialdetermination) erstreckt. His erblickt in dem früheren Zustand des sich entwickelnden Eies die Ursache für den folgenden. Dies trifft nur soweit zu, als die Entwickelung auf Selbstdetermination des Eies bezw. des Em- bryos beruht, nicht aber soweit äußere Ursachen determinierend oder ausführend wirken, also nur für solche Teile, welche der Selbstdifferenzierung unterliegen. Dabei stößt die Frage auf, ob der entwickelte Zustand des Eies als solcher schon die alleinige zureichende determinierende Ursache des folgenden Geschehens ist, so dass die explizite Determination nach der ersten Aktivierung des Keimes kein besonderes Geschehen wäre, sondern die Deter- mination nur durch das jeweilig Entwickelte dargestellt würde. Teilweise wird diese Anschauung wohl zutreffen, aber sie stellt keineswegs die einzige Möglichkeit dar. Es können vielmehr in dem bereits mehr oder weniger entwickelten Keim noch implizite latente Potenzen vorhanden sein, die erst später aktiviert werden. Diese Aktivierung stellt dann einen besonderen Akt expliziter Determina- tion dar. Es kann also auf verschiedenen Entwickelungsstufen, nach verschieden langen Zwischenzeiten eine neue Aktivierung noch Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 355 impliziter, oder auch bereits expliziter Potenzen stattfinden. Bei der atypischen Entwiekelung kommt die explizite Determination als besonderer Akt vor, denn sie muss beim Ausgleich der irgendwie bewirkten Entwickelungsstörung Neues, dem Besonderen der Störung angepasstes Geschehen determinieren und ausführen, was als regulatorische Determination zu bezeichnen wäre. Sie ist im Typischen noch nicht vollständig enthalten, sondern erst durch die hinzugekommene Alterationsursache bewirkt, oder mindestens ausgelöst. Da bei Amphibien, einigen Seeigeln, Quallen und Schnecken die typische Entwickelung durch Selbstdetermination der ersten Furchungszellen erfolgt, und die gesonderten Zellen unabhängig vom Ganzen sich eine Strecke weit in einer zum späteren Ganzen passenden Weise entwickeln, so muss die explizite Determinierung wenigstens jener Struktur, welche den Teil in seiner typischen Be- ziehung zum Ganzen charakterisiert, bereits vor der Sonderung dieser Furchungszellen stattgefunden haben. Die ersten Furch- ungszellen müssen demnach schon explizite als bestimmte Teile des Ganzen, als rechte oder linke Hälften mit zueinander passenden Hauptrichtungen charakterisiert sein. Aus dem Selbstdifferenzierungsvermögen der Furchungszellen leiten wir als allgemeines Gesetz ab, dass von Anfang an wenigstens die allge- meinste Gestaltung des Ganzen vom Ganzen aus explizite determiniert wird, dass es sich also von allem Anfang an um eine Kombination von Generaldetermination und Totaldetermination handelt. Aus der Selbstdifferenzierung vieler kleiner Teile der späteren Entwickelungsstufen erschließen wir das Prinzip der Bildung allmählich kleinerer expliziter Determinationsbezirke durch die Kombination von Partialdetermination und Spezialdetermination innerhalb immer kleinerer Teile. Ferner stoßen wir auf die noch der Lösung harrende Frage, wie weit bei der typischen vollkommenen ungestörten Entwickelung die anfängliche Determination aus- reicht, ob sie für die ganze Periode der direkten (d.h. ohne funk- tionelle Reize arbeitenden) Gestaltung genügt, oder ob eine ein- oder mehrmalige Nachbestimmung, Postdetermination, vom Ganzen auf die Teile notwendig ist. Eine sehr weitgehende Selbstdifferenzierung beliebig abge- grenzter Stücke zeigen die Versuche von Born und anderen Autoren, in denen eine Zusammenpassung und Verwachsung von großen Stücken sehr wenig differenzierter Froschembryonen gelang. Eın Gleiches zeigen auch Braus’ Transplantationsversuche mit Extre- mitätenknospen, sowie die Transplantationsversuche vieler anderer Forscher. Ferner konnten Schaper, Harrison, Braus die Un- abhängigkeit der Entwickelung des Froschembryos vom Nerven- system nach dessen Entfernung, bezw. die Unabhängigkeit der JO [#79] 356 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. Differenzierung der Muskulatur vom Nervensystem experimentell beweisen. Durch diese und viele andere Versuche verschiedener Forscher sind unsere Kenntnisse über die Selbstdifferenzierung be- liebig von uns oder der Natur zufällig abgegrenzter Teile von Keimen und Embryonen wesentlich erweitert worden, obgleich die Ermitte- lung der kleinsten der Selbstdifferenzierung fähigen Bezirke noch nicht erfolgt ist. Die Selbstdifferenzierung isolierter und transplantierter Keime zeigt, dass das Vermögen zu ihrer typischen Gestaltung bereits vor dem Eingriff in ıhnen selber liegen muss, dass also schon vorher eine entsprechende Spezifikation stattgefunden hat. Unter Spezi- fikation verstehen wir zum Unterschied von der Differenzierung, oder der strukturellen und sonstigen formalen Veränderung, das Verändertsein oder die Besonderheit des gestaltenden Ver- mögens der Teile. Die Ursachen der vorhandenen Besonderheit, der Spezietät (Barfurth) des aktıven Gestaltungsvermögens ver- schiedener Teile des Keimes, Embryos, oder einzelner Organe liegen vor allem ım Verschiedensein der Struktur und Gestalt des betreffenden (sebildes, also ın seiner Differenzierung, außerdem aber auch in dem verschiedenen Gehalte des Gebildes an Keimplasma, an Reserve- plasma. Zu den Ursachen für die Spezietät des abhängigen (estaltungsvermögens kommt zu den schon vorher genannten noch hinzu die Lage der betreffenden Teile zu anderen, eine differen- zierende Wirkung auf sie ausübenden Teilen; bei der passiven Potenz ıst diese die Hauptsache, das Keimplasma bleibt unbeteiligt. Die Spezifikation ist zu scheiden in Selbstspezifikation und abhängige Spezifikation, ferner in typische und atypische. Die Untersuchungen von Herbst (Bildung von Armen der Pluteus-Larven), Spemann, Herbst, Fischel, Barfurth u. a. (Bildung der Augenlinse) haben manche abhängige Differen- zierung klargestellt. Ferner hat E. Neumann aus seinen Unter- suchungen die Abhängigkeit der weiteren Entwickelung und Erhal- tung der bereits angelegten Muskeln vom Nervensystem gefolgert, wie sie für die viel spätern Stadien schon bekannt war. Überhaupt gehören hierher die von den Pathologen ermittelten sekundären Degenerationen, welche nach Zerstörung oder Abtrennung eines Teiles in anderen Teilen auftreten. Ferner gehört hierher die durch Roerig genauer festgestellte Abhängigkeit der Geweihbildung bei den ÜGerviden von abnormen Zuständen der Geschlechtsdrüsen und der übrigen Teile des Körpers. In den erwähnten Versuchen haben wir es zumeist mit von uns bestimmt lokalisierten mechanischen Eingriffen und bestimmt begrenzten Reaktionen zu tun. Bei’ der diffusen Einwirkung chemischer Agentien auf das Eı oder den ganzen Embryo traten meist keine diffusen Wirkungen auf, sondern sie führten gleichfalls Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 397 zu bestimmt umgrenzten gestaltenden Reaktionen, wobei aber ihre Örtlichkeit nich von uns, sondern von der besonderen Be- schaffenheit der Teile des Eies bezw. des Keimes abhängt. Herbst’s Versuche über die zur Entwickelung des Seeigeleies nötigen chemi- schen Stoffe führten ihn zu einer umfassenden Bearbeitung der formbildenden (formativen) Reize'), die der Ausgangspunkt zu vielen Untersuchungen anderer Forscher wurden. Namentlich wurde die Wirkung äußerer Faktoren, z. B. Wärme, Licht, Elektrizität, Luft, He Medium, osmotischer Druck, Alkalien, Schwerkraft, Tenihusaleratt, Luftdruck u. 5. w. auf die Gestaltungsvorgänge untersucht. Dabei sind wie auch bei vielen vorher erwähnten Ver- suchen verschieden gestaltende Gesamtwirkungen, die Gesamtergeb- nisse der Tätigkeit vieler Zellen nach einem Eingriffe ermittelt worden. Wenn auch die die typischen ale explizite be- stimmenden Wirkungen noch am unbekanntesten sind, so haben uns diese Versuche doch Faktoren kennen gelehrt, welche die Realisation des Bestimmten quantitativ zu ändern vermögen. Die nächsten hier zu lösenden Aufgaben beziehen sich auf die Beem- flussung der Richtung des Realisationsgeschehens. Auch die ver- eu Arten des Wachstums sind durch die Arbeiten von Roux, Davenport, Sehaper u. a. analysiert worden; aber der randvorsans derselben, die morphologische Assimilation- welehe die Bildung neuer typisch strukturierter, der bestehenden gleicher nz bewirkt, ist noch nicht erforscht worden. Sie stellt gewiss eines der schwierigsten Probleme dar. Da eine auf das Ei oder eine einzelne Furchungszelle ausge- übte Wirkung wegen der wiederholten Teilung dieses Gebildes sich auf einen ‚ganzen Zellkomplex zu übertragen vermag, so entstehen aus ah auf einzelne Zellen oder Zellteile Ansgeabten Wır- kungen Gesamtwirkungen auf größere Zellmassen. Zu solchen ana- Iytischen Ausgangswirkung mit nachfolgender gestaltender Gesamt- wirkung men auch die Versuche über künstliche Partheno- genesis De Einwirkung physikalischer und chemischer Agentien, Fe zuerst von den Gebrüdern Hertwig angebahnt kai dann von J. Loeb und vielen anderen Autoren weiter ausgebildet wurden. Die Wirkungen können durch sehr verschiedene chemische Substanzen veranlasst werden, woraus hervorgeht, dass es sich hier nicht um spezifisch chemische, sondern allgemeinere physika- lische Wirkungen der geprüften Agentien handelt. So sind durch die ungen von Loeb, Bataillon, Delage bereits die osmotischen Wirkungen als bedeutungsvolle Mech für das Zu- standekommen der künstlichen Parthenogenese erkannt worden. Die ‚ Herbst „formativer Reiz“ ist gleichbedeutend mit Ro u x’s differenzierendem Faktor. 358 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. Versuche über künstliche Parthenogenese lehren, dass die beiden mit der Befruchtung ausgeübten Wirkungen, nämlich die Anregung des Eies zur Entwickelung und die Vererbung, die Übertragung der väterlichen Eigenschaften auf das Ei vollkommen unabhängig von einander sein können und in ihrem Wesen gar nichts mit- einander zu tun haben. Die Anregung des Eies zur Entwickelung kann für eine weite Entwickelungsstrecke hin anstatt durch den Samen auch durch verschiedene chemisch-physikalische Reize er- folgen. Daran reihen sich Versuche von Boveri, H. E. Ziegler, Delage u.a. über Befruchtung von kleinen kernlosen Dotterstücken (Cytoplasmastücken) des Seeigeleies durch Samen, männliche Par- thenogenese oder Marogonie genannt, welche als Entwickelung eines Samenkörpers gedeutet wird. Das Eiplasma stellt dann nur die anregende und nährende, nicht aber die Gestaltung gebende, determinierende Substanz dar. Von einer großen Reihe von Autoren (Hofer, A. Gruber, Balbianı, Nussbaum, Ziegler, Boveri, R. Hertwig, zur Strassen, Gerassimow u. a.) wurden ana- lytische Versuche über den besonderen Anteil des Zelleibes, Zell- kernes und des Zentralkörperchens an der Gestaltungstätigkeit der tierischen Zelle angestellt, bei denen es sich um die genauere Er- mittelung des Ortes der determinierenden und ausführenden Potenzen innerhalb der Zelle handelt. Auch die Frage der Vererbung vom Individuum (Soma) neuerworbener Eigenschaften auf die Nachkommen ist ex- perimentell vielfach studiert worden und hat in einigen Fällen diffuser Einwirkung (Temperaturversuche an Schmetterlingspuppen von Weismann, Standfuß, E. Fischer) die Vererbung schein- bar beweisende Resultate ergeben. Roux, ebenso auch Rabl hält aber die Ergebnisse dieser Versuche einer wesentlich anderen Deutung zugänglich. Versuche über künstliche Bestimmung des Geschlechtes der Nachkommen durch die Nahrung haben nur bei niederen wirbellosen Tieren ein zuverlässiges Resultat er- geben (M. Nussbaum, Maupas, Emery); auch Bastardierungs- versuche sind wenigstens vom formal-analytischen Standpunkt aus erfolgreich angestellt worden. Durch die Untersuchungen von H. E. Ziegler, Rhumbler, M. Heidenhain, Reinke u. a. ist auch die experimentelle Erforschung des Zell- und Kernteilungs- mechanismus mit Erfolg begonnen worden. Endlich ist noch eine große Reihe von Versuchen über die allgemeinste Struktur des Zellbildes und einige seiner gestaltlichen und funktionellen Leistungen angestellt worden, durch welche manche komplex er- scheinenden Vorgänge als Wirkungen der rein physikalischen OÖberflächenspannung erkannt worden sind, wie z. B. die Bildung der wabenförmigen Struktur des Protoplasmas, die Nahrungsauf- Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 359 nahme und Ausscheidung des Unverdauten, ferner die Bildung und Kontraktion von Vakuolen, Aussendung und Einziehung von Fort- sätzen, sowie die Wanderung gegen einen Punkt, endlich die Ge- häusebildung von Protisten aus fremden Stoffen. Bei diesen Forschungen auf dem Gebiete der Zellmechanik wurde mit großem Erfolge der anorganische Versuch zur Aufklärung des organischen Geschehens herangezogen. Dabei wurde erkannt, dass durch ein- fache physikalische Wirkungsweisen typisch organische Gestaltungen realisiert, bezw. sogar determiniert werden, wenngleich im einzelnen der gestaltende Anteil der verschiedenen Oberflächenkräfte noch strittig ist. Jedoch das Meiste der typisch wiederkehrenden organischen Gestaltung muss wohl noch auf lange Zeit hinaus von komplexen Faktoren abgeleitet werden, welche diese vererbte Wiederholung determinieren. Äuch das von Roux entdeckte An- ziehungsvermögen (Cytotropismus), welches viele Zellen aufeinander ausüben, sowie das Vermögen der Selbstordnung sich berührender Furchungszellen lässt sich in seinem Ausführungsgeschehen von der Wirkung der Oberflächenspannung ableiten (Roux, Rhumbler, zur Strassen, Heidenhain). Ferner wurde von Barfurth, Eugen Schultz, R. Hertwig der Einfluss der Fütterung und des Hungers auf die Zellstrukturen untersucht, ja Tangl versuchte sogar den Energieverbrauch bei der tierischen Entwickelung zu be- stimmen, was Pfeffer für Pflanzen bereits unternommen hatte. Alle bisher genannten Versuche beziehen sich auf ursächliche Wirkungen derjenigen Periode, die als die Periode der direkten Gestaltung, Periode der Organanlage bezeichnet wurde. Viel weniger hat sich die experimentelle Forschung mit der zweiten Gestaltungsperiode, der Periode der feineren funktionellen Aus- gestaltung des Angelegten durch die Funktion selbst beschäftigt. Das Meiste was wir darüber und die. qualitativ hierher gehörige funktionelle Anpassung wissen, verdanken wir den Arbeiten der Kliniker und Pathologen. Wenn wir die bisher genannten Ergebnisse der kausalen Er- forschung des Typischen im Allgemeinsten überblieken, so fällt zunächst auf, dass die zunächst von His begonnene Ableitung der Form von den Wachstumsgrößen fast gar nicht experimentell behandelt worden ist, die meisten analytisch arbeitenden Forscher haben sich viel- mehr den von Roux aufgestellten neuen Fragen zugewandt. Am weitesten ist dabei die Ortsforschung fortgeschritten; auch die Unter- suchungen über die Zeit der expliziten Determmation einiger Gestal- tungen haben bereits begonnen. Aber auch die Qualitätenforschung wurde bereits mit Erfolg gefördert, welche die Ermittelung der gestal- tenden Wirkungsweisen der durch die Ortsforschung erkannten Fak- toren und Komponenten erstrebt. Freilich muss gegenwärtig fast alles in typischer Weise determinierend Wirkende auf komplexe 360 Wilhelm Roux, Die Entwiekelungsmechanik. Wirkungsweisen bezogen werden, während fast nur die Aus- führung des Deter minterten und seine Alteration auf anorganische Wirkungen zurückgeführt werden konnte. Es ist aber zu hoffen, dass später, bei weiterem Ausbau der Qualitätenforschung an Steile der Selbstdifferenzierung und abhängigen Differenzierung die im Einzelnen erkannten Wirkungsweisen und deren Wirkungsgrößen treten werden. Als allgemeinstes Ergebnis aller bisherigen kausalen Forschung über die mdrwsduelle Eintwiekelung wurde de Erkenntnis errungen, dass die Grundlage der individgellen Entwicke- lung ein typisch sich wiederholendes Geschehen ist, welches sich gesetzmäßig vollzieht. Ein derartiges Geschehen ist aber auf Grund rein mechanistischer, nheskalaeh, chemischer Theorien (Maschinentheorien) prinzipiell erklärbar. Einer mechanistischen Erklärung scheinen aber die Tatsachen der Selbstregulation wenig susaudkeh zu sein. Die Erscheinungen der Regeneration, der hnktonslh Anpassung, sowie der Anpassung an Ben Wechsel der äußeren Bedingungen veranlassten Roux seinerzeit das Vermögen der Seren in allen Funktionen der Lebewesen, inehesondere in m Gestaltungsfunktionen, den allgemeinen IE ‚mentarenEigenschaften (michtaber als eine be- Sahldere Funktion, wie irrtümlich interpretiert wurde) der Organismen zuzuzählen. Die Selbstr egulation der Gestaltungsfu a bewirkt die mehr a weniger vollkommene Wiede herstellung des typischen Baues nach seiner Stör ine Solche Störungen können bewirkt werden durch innere Vorgänge im Keimpladına, die aber in letzter Linie durch äußere Einflüsse, wie besondere Beschaffenheit der Nahrung, der Temperatur u. s. w. bedingt sind, oder durch direkte äußere Finwirkungen auf das be- fruchtende Ei, den Embryo oder spätere Fi (Schädigung, Defekt, Deförmation). Ferner kann die Selbstregulation das Aul- treten von Störungen vollkommen verhindern, wenn die stattgehabte Einwirkung nur eine geringe Veränderung herbeizuführen vermölliie, Durch die leeslion wird die Selbsterhaltung des Lebens und seines Typus bezw. der Norm trotz des Wechsels der Verhält- nisse innerhalb gewisser Grenzen gewährleistet. Durch die Selbst- regulation wird auch die Selbsterhaltung des Lebens im weiteren Sinne kt infolge zweckmäßer, die Dauerlähigkeit erhöhender Ände- rungen des Individuums oder der Spezies in neuen die Organisation nieht direkt störenden Verhältnissen, welche Änderungen in der „direkten“ Anpassung an diese Verhältnisse bestehen “a haupt- sächlich, aber nicht a durch „funktionelle“ Anpassung bewirkt werden. Nach aller unserer Erfahrung stellen die Organismen in hohem Maße in sich geschlossene Determinations- komplexe dar; dadurch werden sie zu Selbstbildungs- und Selbst- erhaltungsmaschinen. Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik 361 Auch die Halbembryonen des Frosches zeigen morphologische Selbstregulation, indem sie die fehlende Hälfte später unter von der typischen Entwickelung wesentlich abweichenden formalen Vor- gängen nachbilden. (Postgeneration) Als Postgeneration hat Roux die zuerst von ihm beobachtete verspätete, nachträgliche Entwickelung eines Teiles des Keimes oder Embryos bezeichnet, während ‚der übrige Teil des entsprechend entwickelten Lebewesens bereits explizite gebildet worden war. Es kommen alle denkbaren zeitlichen Zwischenstufen des Auftretens der Postgeneration vor. Die Postgeneration kann mit und ohne Verwendung der operierten Blastomere sich vollziehen. Die sichtbaren Vorgänge der vielen speziellen Arten von Postgeneration sind sehr verschieden und hängen von dem Grade der Veränderung der operierten Zelle ab, welcher durch den Zeitpunkt der Operation innerhalb der Laich- periode mitbedingt ist; denn am Anfang einer rechtzeitigen Laich- periode sind die regulatorischen Fähigkeiten viel stärker und werden rascher aktiviert als am Ende. Von der Postgeneration ist die Regeneration scharf zu trennen, denn bei der letzteren handelt es sich um die Wiederbildung, den Ersatz von schon vorhanden gewesenem explizite Gebildetem, welches später verloren gegangen ist. Wenn man sich auch die sehr frühzeitige Postgeneration als nur zeitlich verschieden von der typischen Entwickelung vor- stellen könnte, so weicht doch die sehr verspätete Postgeneration der Hemiembryonen wesentlich vom typischen Gestaltungsverlaufe ab, wie es namentlich bei der von Roux bis jetzt allein beobach- teten Postgeneration der Semigastrula und Hemiembryonen ohne Verwendung von Material der operierten Eihälfte der Fall ist. Der wesentlichste Punkt der Roux’schen Auffassung, dass die Postgeneration der späteren Stadien, am sichersten die der Froschembryonen, keine Selbstdifferenzierung wie die typische Entwickelung darstellt, sondern durch determinierende Wirkungen bedingt ist, welche von der primär entwickelten Keimhälfte aus- gehen, ist auch durch Morgan’s Versuche nicht widerlegt worden. Viel neue Erkenntnise brachten die Regenerationsversuche, sowohl über die Arten als auch über die inneren und äußeren Be- dingungen der Regeneration. Von diesen Versuchen seien nur einige wenige genannt, so die Versuche von Barfurth-Rubin, Loeb, G. Wolff, Goldstein, Monti welche lehrten, daß die Determination der Regenerationsgestaltung unabhängig vom Zentral- nervensystem ist, während die Ausführung des Determinierten von ihm abhängig erscheint. Ferner seien genannt die experimentelle Regeneration der Linse von der Iris anstatt von Epidermis aus (G. Wolff, Colucei, Fischel, Barfurth, Dragendorff, Fr. Reinke u. a.), dann das Ausbleiben der Regeneration nach Auslösung des Knochens in den Gelenken also ohne Verletzung 362 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. der Skeletteile (Fraisse, Wendelstadt, Morgan), sowie die Regeneration des Wadenbeines vom Schienbein aus (Marg. Reed). Einen weiteren Schritt stellen die Versuche Forstmann’s über die Beeinflussung der Sprossungsrichtung sich regenerierender Nerven durch neurotropisch wirkende Substanz (Gehirnsubstanz) dar. Die an Eiern und wenig entwickelten Embryonen angestellten Versuche führten zur Erkenntnis von Regulationen, die sich dem bei der typischen Entwickelung derselben Phasen bisher erkannten Entwickelungsgeschehen eng anschließen und es wesentlich zu modi- fizieren scheinen. Diese Forschungen gingen von Driesch aus, der eine große Reihe von Versuchen anstellte und bei der theo- retischen Durcharbeitung dieses schwierigen Gebietes zu einer, fast möchte man sagen „leider“, teleologisch-vitalischen Auffassung der Lebensvorgänge gelangt ist. Bei der Wiederholung der Versuche über die Leistungen isolierter Furchungszellen an anderem Material als am Frosch erhielten die Untersucher anstatt der Halbembryonen wie beim Frosch, sogleich, oder wenigstens sehr bald ganze Em- bryonen. (Driesch, Zoja u. Maas, Morgan u. a.) Aus allen hierher gehörigen Untersuchungen muss geschlossen werden, dass je nach der verschiedenen Differenzierung des Dötters die gestalt- lichen Leistungen des Eies bestimmt sind. Nach den hierher ge- hörigen Versuchen haben wir drei Arten von Eiern zu unterscheiden. Eine Gruppe von reifen Eiern (Amphibien, Seeigel, Quallen, Schnecken, Würmer) besitzt nach der Befruchtung bereits einen derartig differenzierten Dotter, dass die durch Selbstteilung ent- standenen Furchungszellen, oder kurz vorher mechanisch hergestellten größeren Teilstücke sich zu Embryoteilen entwickeln, welche der Lage und Größe des verwendeten Teilstückes zum ganzen Ei der Hauptsache nach entsprechen. Bei diesen Tieren sind bereits die ersten Furchungszellen in ihrem typischen Entwickelungsver- mögen ungleichwertig, also spezifiziert. Die zweite Gruppe reifer Eier (Medusen, Amphioxus, Fundulus, Leueiscus) besitzt einen derartig indifferenten Dotter, dass jede ein halbes, viertel oder achtel Ei darstellende isolierte Furchungszelle sogleich einen ganzen nur entsprechend kleineren Embryo bildet. Hier scheinen die ersten Furchungszellen in ihrem typischen (?) Entwickelungsvermögen gleichwertig totipotent zu sein. Bei der dritten Gruppe von Eiern (Amphibien) kann jede der ersten Furchungszellen je nach ihrer Dotteranordnung entweder einen Halbembryo, oder auch mehr bis zu einem Ganzembryo hervorbringen. Ja es ist sogar experi- mentell gelungen, willkürlich Halb- oder Ganzembryonen zu er- zeugen, je nachdem durch den experimentellen Eingriff die Dotter- anordnung der eines halben oder ganzen Eies ähnlich gemacht wurde. (Roux, Endres, Spemann, Schultze, Morgan, Wetzel, Heider, R. Hertwig u. a.) Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 563 Wenn durch die Isolation oder andere Ursachen die innere Dotteranordnung der Furchungszellen geändert worden ist, dann stellen diese wesentlich neue Gebilde mit neuen vorher nichtin ihnen gelegenen Gestaltungsvermögen dar. Infolge dieser Änderungen und der vielleicht durch den Defekt ausgelösten früh- zeitigen Postgeneration können die gestaltenden Leistungen dieser isolierten Zellen uns keine Kenntnis über das ihnen typischer Weise eigene Gestaltungsvermögen vermitteln, weil dieses typische Selbstdifferenzierungsvermögen nur dann allein wirksam wäre, wenn bei der Isolation jede Unordnung der Dotterstruktur mit darauf- folgender Postgeneration unterblieben wäre. Es wäre daher denk- bar, dass bei der zweiten Gruppe von Eiern die zur Bildung von Teilembryonen ausreichende spezifische Dotteranordnung der ersten Furchungszellen so gering ist, dass die bei ihrer Isolation zustande- gekommene, für uns allerdings nicht wahrnehmbare Umänderung der Dotteranordnung dennoch eine hinreichende Alterationsursache zur Bildung von Ganzembryonen darstellt. Nach Driesch dagegen wäre die Struktur der ersten Furchungszellen dieser Eier zwar nicht vollkommen gleich, aber doch nur unwesentlich verschieden, sodass die Furchungszellen aequipotent wären. Dann würde die Isolation ohne Weiteres, also ohne Änderung der Dotterstruktur, die Ganzbildung bewirken. Es wäre aber auch möglich, dass eine andere, vielleicht bei Medusen und Amphioxus vorkommende typische Art der Entwickelung existiert, bei der entweder keine, oder nur eine geringe, oder erst spät eintretende Selbst- differenzierung von Teilen stattfindet, während durch lange Zeit eine hochgradig vom Ganzen abhängige Differenzierung der Teile besteht. In diesem Falle wären die ersten Furchungszellen anfangs wenig verschieden von einander und könnten sich nach der Isolation leichter und rascher zu Ganzembryonen entwickeln. Die Möglichkeit verschiedener Arten der typischen Ent- wiekelung bei verschiedenen Tierabteilungen ist keineswegs von der Hand zu weisen, deren Verschiedenheit sich nur auf die Art der Herstellung des Ganzen bezieht. Eine Art der typischen Entwickelung ist die Selbstdetermination der einzelnen Furchungszellen und vieler späterer Zellen, wobei die voraus- gegangene Determinierung für die ganze erste Entwickelungsperiode ausreicht, oder typischerweise. noch Nachdetermination vom Ganzen auf die Teile bezw. von größeren auf kleinere Teile notwendig ist. Eine andere Art typischer Entwickelung wäre die, bei welcher die Gestaltung aller Teile fortwährend vom Granzen aus bestimmt wird; ihr Vorkommen ist allerdings noch nicht erwiesen. Den ersten Entwickelungstypus bezeichnet Roux als Entwickelung unter Selbstdifferenzierung von Teilen, den zweiten als Entwiekelung durch totale Wechselwirkung, zwischen 364 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. beiden sind alle Zwischenstufen als typische Modi möglich. Ja eine genetische Betrachtung über die natürliche Entstehung der Ontogenesis lässt das Vorkommen des zweiten Entwickelungstypus und seiner Übergänge zum ersten wahrscheinlich erscheinen. Nach Roux’s Ausführungen ist die Entwickelung durch totale Wechsel- wirkung vermutlich die primär entstandene Art; die Entwickelung unter Selbstdifferenzierung von Teilen wäre dagegen erst nach Er- werbung sehr erheblichen, ausreichenden Schutzes von Störungen als eine Vereinfachung gezüchtet worden. Besondere Beachtung verdienen Spemann’s Versuche der ex- perimentellen Erzeugung von Doppelbildungen durch tiefe Ein- schnürung der Blastula und Gastrula in ihrer Mitte, also durch annähernde Isolation der Keimhälften auf relativ späten Entwicke- lungsstufen. Andererseits gelang auch die experimentelle Ver- schmelzung von Eiern zu einem Ei mit nachfolgender Bildung eines Riesenembryos (Metschnikoff, Sala, zur Strassen), ja sogar die Verschmelzung bis zur Blastula entwickelter Seeigel (Driesch, Morgan). Diese Versuche lehren im Gegensatz zu denen über die Selbstdetermination vieler Zellen unter typischen Verhältnissen, dass unter atypischen Verhältnissen die Gesamt- [ormatıon über den Teilen steht und die Entwickelung dieser bestimmt und beherrscht, wenn die Abweichung vom Typischen genügend groß und entsprechend geartet ist. Die gesamten Erfahrungen über die typische und atypische Entwickelung führen zu folgender allgemeiner Erkenntnis: Unter typischen Verhältnissen entwickeln sich bei vielen Tieren die ersten Furchungszellen sowie die Komplexe ihrer Nachkommen in hohem Grade selbständig; auch viele späteren Zellen haben ein wenn auch nur geringes Selbstdifferenzierungsvermögen. Treten dagegen erhebliche Störungen der typischen Verhältnisse, besonders durch hochgradig teilende Deformationen, oder durch Defekte ein, dann wird die Selbständigkeit der Entwickelung dieser Zellen vermindert, ja sogar aufgehoben. Dann treten differenzierende Wirkungen vieler oder aller Zellen in gesetzmäßiger Weise auf, indem die Teileunter die determinierende Wirkunggroßer Teile bezw. des Ganzen kommen, die nun eine regulie- rende ist. Diese Aufhebung der Selbständigkeit des formalen Lebens der Teile bei tiefgreifenden Störungen, welche den Eintritt eines formalen Gesamtlebens bewirken, lässt ein früher von Roux beobachtetes elektrisches Verhalten der Morula und Blastula des Frosches be- deutsam und verständlich erscheinen. Bei elektrischer Durchströmung einer leitenden Flüssigkeit, in der sich die Morula oder Gastrula eines Frosches befindet, zeigen frische, lebenskräftige Keime an jeder einzelnen oberflächlich liegenden Zelle, je nach ihrer Lage Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 369 ein oder zwei sichtbar veränderte Polfelder und zwischen ihnen ein unveränderter Teil, den Äquator. Stark geschwächte, oder nahe dem Absterben befindliche Keime reagieren nur noch als Ganzes, wie ein ungeteiltes Ei, indem der ganze Keim nur zwei große Polfelder aufweist, von denen jedes aus vielen in toto veränderten Zellen besteht. Zwischen diesen Polfeldern liegt der gleichfalls aus vielen aber gleichmäßig unveränderten Zellen zusammengesetzte Äquator. Roux deutet diese Erscheinung dahin, dass die Zellen der lebenskräftigen Keime durch eine wie ein Elek- trolyt sich verhaltende Substanz getrennt sind; bei Störungen wird aber diese Trennung teilweise oder ganz aufgehoben. Diese Ver- suche stellen vielleicht einen ersten Schritt dar zur Erkenntnis der Vermittelung regulatorischer Wirkungen unter den Zellen junger Keime, welcher noch weiter ausgebaut werden muß. Die Determination der Gestaltung bei den atypischen Vor- kommnissen, wie Verschmelzung von Eiern, Entwickelung von Teil- stücken der Eier zu Ganzbildungen, Entstehung von Doppelbildungen beruht nach allen bisherigen Erfahrungen in erster Linie auf der _ Beeinflussung und Wirkung des Eiplasmas nicht des Zellkernes (Driesch, Roux, Boveri, Fischel, Wilson u. a.). Diese Wiır- kungen sind vielleicht nur so lange möglich, als das Plasma der späteren Zellen wenigstens noch teilweise die anfänglich deter- minierende Eigenschaften hat. Das Plasma besorgt demnach besonders die Determination der allgemeinsten Gestal- tungen, während an der speziellen Art der „Ausführung des Determinierten“ wohl auch der Zellkern wesent- lichen Anteil hat, was aus manigfachen Gründen angenommen werden muß. Die Wirkungsweisen der Regulationsgestaltungen sind natürlich viel komplizierter und daher auch schwerer zu er- mitteln als die typischen Vorgänge, . weshalb eine erfolgreiche Untersuchung der ersteren erst nach annähernder Ermittelung des typischen Geschehens erfolgen kann; trotzdem dürfen wir aber an der mechanistischen Erklärbarkeit der gestaltenden Regulätionsvor- gänge festhalten. Die experimentelle Forschung hat uns zwei wesentlich ver- schiedene Entwickelungsmöglichkeiten kennen gelehrt, die typische und die regulatorische. Die erstgenannte tritt bei typischer Beschaffenheit des Keimplasmas und beim Fehlen aller störenden Einwirkungen auf und führt auf einem für jede Spezies feststehendem Wege zur Bildung typischer Zwischen- und Endprodukte. Sie verläuft bei vielen Tieren mit Selbstdifferenzierung großer und kleiner Teile, während vielleicht bei manchen Tieren die Teile in ihrer Gestaltung länger und in höherem Grade vom Ganzen ab- hängig sein können. Die regulatorische Entwickelung ist dagegen dadurch charakterisiert, dass sie bei Abweichung vom typischen 366 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. Entwickelungsverlauf, die entweder durch atypische Beschaffenheit des Keimplasmas oder durch störende äußere Einflüsse herbeige- führt werden kann, dennoch die Gestaltung früher oder später, ganz oder teilweise zum Typischen zurückführt und dem bereits mehr oder weniger Entwickelten zugefügten Defekte ersetzt. Manche Biologen, besonders Driesch, sehen in den vielfachen neuermittelten Regulationsvorgängen ein teleologisches, von einem zweckmäßig tätigen Agens ausgehendes Gestaltungsgeschehen, ja einzelne gehen sogar soweit alles Gestaltungsgeschehen des Keimes und Embryos auf Wechselwirkung aller Teile zu beziehen und auch das typische Geschehen als regulatorisch verlaufend zu be- trachten. Daraus folgern sie dann, dass die organischen Gestaltungen nur durch die Annahme zwecktätig gestaltender Potenzen voll zu erkennen und zu würdigen seien. Da Roux in den organischen Gestaltungen und ihren Regulationen keine wirklichen Zweck- mäßigkeiten zu erblicken vermag, so suchte er zu einer objektiven Auffassung der zweckmäßigen Eigenschaften zu gelangen, indem er die teleologische Bezeichnung Zweckmäßigkeit durch den objek- tiveren Terminus Dauer fähigkeit, bezw. Erhöhung der Dauer- fähigkeit, oder Dauerförderung ersetzte. Übrigens ist die ge- staltliche Selbstregulation durchaus nichts den Organismen alleın eigentümliches (Regeneration der Kristalle Rauber, Przibram) und außerdem sind alle organischen Regulationen ihrer Art und Leistungsgröße nach in ganz bestimmte Grenzen gebannt und liefern keineswegs immer Zweckmäßiges, Dauerförderndes, wie die Super- regeneration (Barfurth u. a.) beweist. Da diese Leistungen sogar sehr unzweckmäßige sind, so weisen sie anstatt auf ein zweckmäßiges Geschehen nur zu deutlich auf mechanistische Einschränkungen und Ursachen hin. Auch die funktionelle Anpassung sollte nach früheren Auf- fassungen nur einer teleologischen Erklärung zugänglich sein, während gegenwärtig die meisten Forscher, ja sogar Driesch, in Übereinstimmung mit Roux die funktionelle Anpassung als ein Reizgeschehen betrachten, womit sie mechanistisch erklärbar ist. Trotzdem das gestaltliche Geschehen der funktionellen Anpassung sich tausenden von Einzelnfällen anpasst, so kann es doch auf zwei während der zweiten Hauptperiode der individuellen Entwickelung vorhandene Reaktionsweisen zurückgeführt werden. Entweder bildet jedes tätige Gewebe durch die Wirkung der Funktion sich selbst neu, bezw. es wird aus bestimmten Matrices neu gebildet (Aktivi- tätshypertrophie), oder jedes dauernd untätige Gewebe assimiliert in einer zum Ersatz des Verbrauchten unzureichenden Weise, wodurch es schwindet, oder seine Widerstandsfähigkeit ver- liert und dann von bestimmten Zellen zerstört wird (Inaktivitäts- atrophie). Der funktionelle Reiz kann die Neubildung eines jeden Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 36% Gewebes in größerem als dem zur Funktion nötigem Maße, also bis zur Überkompensation anregen und steigert dadurch die Selbst- erhaltungsfähigkeit des Gewebes, dessen Turgor gegen den Druck der Nachbarteile. (Prinzip der trophischen Wirkung der funktionellen Reize), während andererseits beim Fehlen der funktionellen Reize die Selbsterhaltungsfähigkeit vermindert wird. Das wesentliche Geschehen ist einmal die der verstärkten Funktion entsprechende Vermehrung der fungierenden Substanz und zweitens ihre der Lokalisation des funktionellen Reizes ent- sprechende Lokalisation. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob der funktionelle Reiz die die verstärkte Funktion vollziehende Substanz (kontraktile Muskelsubstanz, sezernierende Drüsensubstanz, Interzellularsubstanz des Knochens, oder die Bindegewebefibrillen), oder ihre in den Zellen befindliche und entsprechend verteilte Matrix zur Vermehrung anregt. Dass die Aktivitätshypertrophie und Inaktivitätsatrophie zur Erklärung aller funktionellen Strukturen ausreichen, beruht darauf, dass bei jeder neuen Gebrauchsweise eines Organes die an Ort und Stelle vorhandenen mechanischen Bedingungen infolge der angenommenen Reaktionseigenschaft der Gewebe derartig wirken, dass bei gleichzeitigem Fehlen anderer Bildungs- und Erhaltungsreize) in ausreichender Zeit eine der Funktionsweise angepasste Struktur bezw. Gestalt des Organes ent- stehen muss. (Prinzip der direkten Selbstgestaltung des Zweckmäßigen). Wir wollen uns nun einer kurzen Analyse der Regeneration zuwenden. Bei der Regeneration von Defekten bildet jedes Lebe- wesen nur das seiner Art Entsprechende, soweit es dem entwickelten defekten Gebilde zum ideelen Ganzen fehlt. Da man annehmen muss, dass in vielen, besonders aber in den an der Regeneration beteiligten Zellen noch indifferentes Keimplasma vorhanden ist, welches das ganze Lebewesen im unentwickelten Zustande, also Wn- plizite repräsentiert (©. Weigert, Weismann, Roux), so ergibt sich als allgemeines Problem die Frage, wie unter Mitwirkung des unentwickelten Ganzen ein Stück des entwickelten Ganzen wieder zum entwickelten Ganzen ergänzt werden kann. Dabei bestimmt jedenfalls das vorhandene Entwickelte, was aus dem noch unentwickelten Ganzen explizite hergestellt werden soll. Diese Ableitung der Regeneration stellt ein rein mechanistisches Problem dar. Sie zwingt uns zu der Annahme, dass bei den regenerations- fähigen Lebewesen durch eine Störung des entwickelten Individuums gestaltende Wirkungen in dem Reserve-Keimplasma der ent- wickelten oder auch der noch nicht differenzierten Zellen wachge- rufen werden, welche zur Wiederherstellung des entwickelten Ganzen führen. Nach den bisherigen deskriptiven Beobachtungen kann diese Wiederherstellung durch folgende drei durch Übergänge 365 Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. verbundene Weisen geschehen: 1. Regeneration durch Spros- sung unter einfachem Anschluss des neu zu Bildenden an das vor- handene, nur am Defektrande sichtbar veränderte entwickelte Stück. 2. Regeneration durch Umordnung und Umdifferenzierung von Zellen (Roux, Morphalaxis Morgan); Regeneration unter Umgestaltung des ganzen noch vorhandenen Stückes (Nussbaum u. a.) 3. Regeneration nach Einschmelzung und anscheinend vollständiger Rückbildung, Entdifferenzierung der expliziten Gestaltung unter vollkommener Neubildung des Ganzen (Driesch). Die Regeneration durch Umordnung und Umdifferenzierung findet also unter Beteiligung des ganzen im entwickelten Zustand vor- handenen Stückes, oder eines großen Teiles desselben statt und ist darin der typischen Entwickelung durch totale Wechselwirkung ähnlich. Die Regeneration durch Sprossung dagegen geschieht bloß unter gestaltlicher Umänderung der in der Nähe des Defektes liegenden Teile und wird nach Barfurth’s Untersuchungen nur durch die determinierende Wirkung der dem Defekt benachbarten entwickelten Teile hervorgebracht, wobei sich die Regeneration der Hauptsache nach unter Selbstdifferenzierung des dem Defekt be- nachbarten Stückes vollzieht; sie ist also ähnlich der typischen Ent- wickelung unter Selbstdifferenzierung von Teilen. Die Regeneration durch Sprossung ist vielleicht phylogenetisch erst nach der Regene- ration durch Umordnung und Umdifferenzierung erworben worden, während als ältester Modus die mit Entdifferenzierung (Ribbert) einhergehende Regeneration anzusehen sein dürfte. Wir können uns vorstellen, dass die drei untereinander durch Übergänge ver- bundenen Regenerationsweisen allmählich während der Phylogenese auseinander hervorgegangen sind. Der Ausgleich der experimentellen Störungen der Anordnung der Zellen stellt uns vor die Frage, auf welche Weise das atypisch gemachte Entwickelte durch die Mitwirkung des noch ım unent- wickelten Zustande befindlichen, vorhandenen Typischen wieder zum Typischen umgestaltet, oder bei der weiteren Entwickelung typisch ausgestaltet werden kann. Hier liegt ein rein mechanistisches, prinzipiell erklärbares Phänomen vor. Denn unter allen diesen abnormen Verhältnissen, welche die Regulationen wecken, ist die Art der abnormen Veränderung selbst die zureichende deter- minierende Ursache der zu ihrem Ausgleich nötigen regulatorischen Leistung. Hier ist die Regulation in derselben Weise wie die funk- tionelle Anpassung bedingt. In ganz analoger Weise ist auch die chemische Selbstregulation (Antitoxinbildung) auf dem Boden der Ehrlich’schen Seitenkettentheorie einer mechanistischen Er- klärung zugänglich, indem die Immunität durch eine Überkompen- sation im Ersatze des Verbrauchten (Antitoxine) zustande käme. Die Überkompensation im Ersatz des Verbrauchten ist wenigstens für Wilhelm Roux, Die Entwickelungsmechanik. 369 bestimmte relative Größen des funktionell bedingten Verbrauches als eine allgemeine Leistung der Gewebe erkannt und zur Er- klärung der funktionellen Anpassung verwendet worden. Auf eine mechanistisch bedingte Einschränkung der chemischen Selbstregu- lation deutet die Erfahrung, dass nicht gegen alle Gifte, deren Ein- wirkung der Organismus übersteht, einelmmunität erworben wird, und dass, durch gewisse Erkrankungen, z. B. Diabetes das Regulations- vermögen des Körpers herabgesetzt wird. Auch die dauernde Immunität kann nach Roux auf mechanistischer Basis erklärt werden, wenn wir annehmen, dass bei der Gifteinwirkung infolge einer inneren Umzüchtung der Zellen und Isoplassonten sich die widerstandsfähigen Zellen vermehren und so die zerstörten Zellen ersetzen, sodass der Körper endlich aus lauter widerstandsfähigen Teilen besteht. Es wäre das ein Spezialfall einer Teilauslese durch Intralselektion. Auch die als allgemeine Gewebsqualität angenommene Leistung der Überkompentation ist durch die erhaltene Auslese während früher Stufen der Phylogenese, sowie durch die züchtende Wirkung des Kampfes der Teile mechanistisch erklärbar. Da ferner auch bei der Regeneration und Postgeneration die besondere Art der Störung zugleich auch die Bedingungen der zu ihrem Ausgleich nötigen Regulationen schafft, sofern bestimmte allgemeine Korre- lationen zwischen Impliziten und Expliziten vorhanden sind, so haben wir schon die allgemeinsten Bedingungen der orga- nischen Regulationen als mechanistische erkannt, trotzdem das Spezielle zum größten Teile noch vollständig unbekannt ist. Es wäre aber unrichtig, aus dem Unbekanntsein des Speziellen auf die prinzipielle Unmöglichkeit einer mechanistischen Erklärung des organischen Gestaltungsgeschehens zu schließen. Die-direkt gestaltende Seele des Aristoteles, welche in den Anschauungen der modernen Teleologen allerdings in verbesserter Form und moderner Kleidung wiedererscheint, ist zur Ableitung der onto- genetischen Gestaltungsprozesse prinzipiell nieht nötig, weil die bestimmenden materiellen Bedingungen stets in prinzipiell zu- reichender Weise vorhanden sind und aufgedeckt werden können, Diese ausführliche Darstellung der Erfolge und Ziele der Ent- wickelungsmechanik zeigt wohl hinreichend, dass wir hier einem der interessantesten und aussichtsreichsten Forschungsgebiete gegen- überstehen, welches die Mitarbeit aller Biologen, auch der Physi- -ologen dringend erheischt und allen beteiligten Forschern reichen Lohn der Erkenntnis zu bieten vermag. Wenn meine Darstellung imstande wäre, die Physiologen für die Entwickelungsmechanik zu interessieren, dann hat sie ihren Zweck erreicht. DERTVIE 24 370 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweifschemie und ihre Bedeutung für die Physiologie. Von Dr. Franz Samuely, Assistent an der med. Klinik Göttingen. Nichts mag auf dem großen Gebiet der Biologie und Physio- logie verlockender sein, als die Forschung über die Natur, das Wesen und das Schicksal der Eiweißkörper. Denn diese sind die Träger des Lebens. Zahlreich sind die Forschungen und zahlreich die Fragestellungen, die jeder Fortschritt in der Erkenntnis dieses Gebietes gezeitigt hat. Und dennoch steht der Erfolg ın keinem Verhältnis zu der unendlichen Mühe der angewandten Arbeit. Dies hat seinen fass- lichen Grund. Bei jenen Untersuchungen, die sich mit dem Ablauf, dem Wechsel und den Bedingungen der Lebensprozesse befassen, arbeiten wir mit einer Unbekannten, eben dem Eiweiß selbst. Denn die Proteine sind physikalisch einigermaßen, chemisch aber kaum definierte Begriffe. Sind so alle Schlüsse durch die qualitativen Schwierigkeiten beeinträchtigt, so kommen noch Bedingungen hinzu, die eine quantitative Erforschung nahezu unmöglich macht. Denn alle jene Orte, an denen wir das Schicksal und die Transformation von zugeführtem Eiweiß verfolgen, d. h. die Träger aller Stoff- wechselprozesse sind selbst so reich an Eiweiß, dass sich die Ver- suchsergebnisse kaum zu mehr als einer Hypothese verdichten lassen. So ist und bleibt es für die Biologie das erste Postulat, die Eiweißkörper in ihrer Zusammensetzung zu kennen. Durch Kühne und seine Schüler haben wir gelernt, dass die Proteine durch Säuren oder verdauende Fermente über den Weg der Albumosen und Peptone in Aminosäuren zerfallen. Hofmeister und seinen Schülern verdanken wir insbesondere die zahlreichen wertvollen Arbeiten über die Natur der Albumosen!). Es gelang, diese an- scheinend einfacher zusammengesetzten Eiweißkörper ihren physi- kalischen Eigenschaften nach (Aussalzung) und einigen chemischen Erscheinungen (Schwefelgehalt, Zuckerreaktion u. s. w.) in verschie- dene Gruppen zu trennen. In neuester Zeit sind auch für die noch tieferstehenden Peptone durch Ausfällung und Bildung von Benzoylkörpern ?) Trennungen erfolgt. Alle diese *) Substanzen blieben aber trotz ihrer unter Umständen konstanten Elementarzusammen- 1) Vgl. die Arbeit: E. P. Pick. Zeitschr. f. physiol. Chem. 24, 246. Bei- träge z. chem. Physiol. u. Pathol. 2, 481. 2) Vgl. die Arbeit: M. Siegfried. Zeitschr. f. physiol. Chemie 27, 335. 35, 164. 3) Vgl. die Arbeiten: L. B. Stookey. Beitr. z. chem. Physiol. u. Pathol. 7, 590. 1906. Vel. auch F. Hofmeister. Vortrag auf der Naturforscher-Ver- sammlung in Karlsbad 1902. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 371 setzung physiologische Begriffe oder Körper von fraglicher Reinheit und Einheit. Erfolgreicher war dıe Forschung mit den letzten und tiefsten Spaltungsprodukten der Eiweißkörper, den Aminosäuren, deren eine Abart, die basisch reagierenden Diaminosäuren besonders. durch Drechsel und Kossel, Schulze, Hedin u.a. eingehend studiert worden sind. Für die biologische Forschung aber schienen neue Wege erschlossen, seitdem die exakte Ohemie — und ıhr glänzendster Vertreter Emil Fischer —, das Kapitel der Proteine systematisch in Angriff genommen hat. Fischer hat in einem Vortrag!) und ausführlichen Bericht desselben?) einen zusammenfassenden Überblick seiner Arbeiten der letzten 6 Jahre gegeben, der außer den chemischen Fachmann auch den Biologen und jeden hinreichend vorgebildeten Mediziner interessieren muss. Dem Leser dieser Zeitschrift sollen im folgen- den die Grundzüge dieser umfassenden Arbeiten mitgeteilt werden, soweit sie für spätere biologische Fragen in Betracht kommen. Zerkocht man Eiweißkörper mit konzentrierten Mineralsäuren oder lässt man ein proteolytisches Ferment (Trypsin) hinreichend lange Zeit auf Proteine einwirken, so spaltet sich das Molekül über die Zwischenstufen der Albumosen und Peptone in eine große An- zahl einfacher zusammengesetzter Körper, die Aminosäuren, und zwar entstehen Mono-, Dianmino- und Oxyaminosäuren. Dies sind Körper, die, wie ihr einfachster Vertreter, das Glykokoll (Monochlor- essigsäure OH,NH,COOH) zeigt, neben einer endständigen Karboxyl- gruppe eine NH,-Gruppe enthalten. Diese NH,-Gruppe steht in allen Monoaminosäuren in a-Stellung, wie das nächste homologe Glied dieser Klasse zeigt: Alanın (Monaminopropionsäurg) CH,ÖHNH2COOH. In der Struktur kann die Kette, wie in den genannten Beispielen, gerade, oder wie ım Leuzin verzweigt sein. Leuzin (Isobutylamino- CH, : essigsäure). CHCH,NH,COOH. Bei den Diaminosäuren stehen CH, die 2NH,-Gruppen in a und e-, aö- oder ay-Stellung. Die Oxamino- säuren tragen eine OH-Gruppe in f-Stellung. In anderen Fällen kann die aliphatische NH,-haltige Kette die Seitenkette eines aromatischen oder heterozyklischen Ringes sein (Tyrosin, Phenyl- alanın, Trytophan etec.). Was Fischer vorfand, war die Kenntnis einer beträchtlichen Zahl von solchen Aminosäuren. Während aber ihre Darstellung aus Eiweiß große Schwierigkeiten hatte, während einzelne von 1) Emil Fischer. Vortrag gehalten vor der deutschen chem. Gesellschaft am 6. Januar 1906. 2) Emil Fischer. Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 39, Nr. 3, 1906, 8.530. D4* 372 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. ihnen nur als seltene Abbauprodukte galten, und ihre Trennung ın reinem Zustand nahezu unmöglich war, hat Fischer durch neue Spaltungs- und Synthesenmethoden sowohl die Zahl dieser Amino- säuren vermehrt, wie eine exakte Trennung aus ihren Gemischen ermöglicht. Zunächst galt es, die bekannten Aminosäuren in ihrer Kon- stitution sicher zu stellen und zu identifizieren. Dies geschah durch die synthetische Darstellung (vgl. 1). Die bei der Spaltung von Eiweiß gewonnenen natürlichen Aminosäuren sind mit Ausnahme von zwei, dem Glykokoll und dem Serin, optisch aktiv und zwar links drehend. Die synthetischen Säuren sind Racemkörper. Fischer hat nun diese inaktiven Säuren in die optischen Komponenten getrennt!): die Aminosäuren wurden benzoyliert, die stark sauren Benzoylkörper an die optisch aktiven Basen Brucin oder Strychnin gekuppelt, und durch fraktionierte Kristallisation oder verschiedene Lösungsmittel ließen sich die Salze der d- und l-Form trennen. Die nachherige Abspaltung der Base ergab die natürliche l-Aminosäure. Neuerdings ist von Fischer?) ein zweites Verfahren angegeben, bei dem die Trennung über die Alkaloidverbindung der Formylaminosäuren geht, und die wegen der leichten Reaktionsfähigkeit zwischen Ameisensäure und Amino- säure sehr glatt verläuft. Auf diese Weise ist das natürliche Leuzin und Phenylalanın bereits dargestellt. Die eingehende Kenntnis der Aminosäuren ermöglichte es, ein Verfahren ihrer Trennung aus ihren Gemengen auszuarbeiten. Die Aminosäuren bilden vermöge ihrer Karboxylgruppe mit Äthyl- oder Methylalkohol Ester, die zuerst von Curtius®) eingehender stu- diert wurden. Diese Körper sind vermöge ihrer Flüchtigkeit destillierbar, und auf dieser Fähigkeit basiert die Methode ihrer Trennung, die sogen. „Estermethode“ Fischer’s®). Sie sei im Prinzip kurz angedeutet. Der Eiweißkörper wird 6 Stunden lang mit konzentrierten Mineralsäuren gekocht. Dabei wird das Molekül hydrolytisch in die Aminosäuren gespalten. Die Aminosäurelösung wird im Vakuum von Säure und Wasser befreit, der eingeengte Rückstand wiederholt mit gasförmiger Salzsäure und Alkohol ver- estert, und abermals durch Einengen konzentriert. Die zurück- bleibenden Ester, die bei sehr niederer Temperatur relativ alkalı- beständig sind, werden unter Kühlung mit NaOH in Freiheit gesetzt 1) Emil Fischer. Ibidem. 32, 2454. 33, 2390. 33, 2370 etc. 2) E. Fischer u. O. Warburg. Ber. d. d. chem. Gesellsch. 38, 3997. 1905. 3) Th. Curtius. Ber. d. d. chem. Gesellsch. 16, 753. 17, 953. !) E. Fischer. Uber Hydrolyse des Kaseins durch Salzsäure. Zeitschr. f. physiol. Chemie 33, 151. 1901. — E. Fischer u. E. Abderhalden. Notizen: über Hydrolyse von Proteinstoffen. Ibidem. 35, 227. 39, 155. 42, 540. 1904. — Vgl. auch E.Abderhalden. Die Hydrolyse des Oxyhämoglobins. Ibidem. 36, 268. 37, 484. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 373 und in Äther aufgenommen. Der getrocknete Ätherrückstand stellt alsdann das Gemisch der Aminosäureester dar, eine alkalısch reagierende Flüssigkeit. Durch Destillation bei verschiedenen Tem- peraturen im Vakuum lassen sich Fraktionen gewinnen, diese lassen sich abermals fraktionieren. Sie werden alsdann mit H,O oder Baryt verseift, und durch Eindampfen und fraktionierte Kristalli- sation werden die reinen kristallisierten Aminosäuren isoliert. Be- stimmbar nach dieser Methode sind nur die Monoaminosäuren, mit Ausnahme des Zystins und Tyrosins. Die Diaminosäuren werden am besten mit großer Genauigkeit nach den Methoden von Kossel!) isoliert. Das Tyrosin, dessen Ester vermöge seiner Phenolgruppe mit dem Alkalı undestillierbare Salze bildet, wird am besten durch direktes Einengen des Säurehydrolysengemisches abgetrennt, nach- dem die Säure (Schwefelsäure) durch Neutralisation (Baryt) quan- tıtatıv entfernt ist. Wie diese Methode die Schwerlöslichkeit der Aminosäure in H,O sich zunutze macht, so beruht die Gewinnung des Zystins auf seiner Unlöslichkeit ın Essigsäure. Das Zystin fällt schon in großer Verdünnung aus der mit NaOH neutralisierten Salzsäure-Hydrolengemisch, noch besser nach Zusatz von Essig- 'säure?). Die Zahl der bekannten Aminosäuren im Protein wurde durch Emil Fischer um zwei wohl charakterisierte Glieder dieser Körperklasse vermehrt, so dass die jetzt bekannten Säuren fol- gende sind: Glykokoll, Aminoessigsäure, . Alanin, «-Aminopropionsäure, 5 Aminovaleriansäure, Leuzin, a-Isobutyl-Aminoessigsäure, Asparaginsäure, Aminobernsteinsäure, Glutaminsäure, Aminoglutarsäure, Phenylalanin, Phenylaminopropionsäure, Tyrosin, p-Oxyphenyl-«-Aminopropionsäure, Tryptophan, Skatolanıinoessigsäure, Arginin, Guanidinaminovoleriansäure, Lysin, Diaminokapronsäure, Histidin, Serin, a-Amino-P-Oxypropionsäure, Zystein, a-Amino-?-Thiomilchsäure, a-Pyrrolidinkarbonsäure — Prolin (abgekürzte Nomen- klatur nach Fischer). Oxy, a-Pyrrolidinkarbonsäure — Oxyprolin °). Die beiden letztgenannten Säuren sind von E. Fischer zuerst ım Kasein, später ın allen Proteinen entdeckt und sind deshalb von 1) Vgl. Kossel-Kutscher. Beiträge zur Kenntnis der Eiweißkörper. Ibidem. 31,165. 1900: 2) K. A. Mörner. Zeitschr. f. physiol. Chemie. 28, 595. 1899. 34, 207. 1901. Ebenda. 42, 349. 1904. 3) E. Fischer. Über eine neue Anıinosäure aus Leim. Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 35, 2660. 1902. 374 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. Bedeutung, weil in ihnen auch der heterozyklische Kern im Protein vertreten ist. Für das Histidin steht zurzeit noch ein Kon- stitutionsbild zur Diskussion, das Pauly!) wahrscheinlich gemacht und das von Knoop und Windaus?) durch Synthese bekräftigt ist. Danach handelt es sich um eine a-Amino-P-Imidazolpropionsäure. Das im Protein vorkommende Zystin ıst das Disulfid des Zysteins; die oben angeführte richtige Formel stammt von Fried- mann®). Neuberg und Mayer*) haben nun zweierlei Zystine unterschieden, ein Proteinzystin und ein Steinzystin, wie es in Blasenzystinsteinen vorkommen soll. Bei letzterem soll die Thio- gruppe in a, die Aminogruppe in ?-Stellung stehen. Nach Unter- suchungen von Fischer und Suzuki’) liefern diese angeblich ver- schiedenen Zystine identische Ester und Chloririerungsderivate, so dass eine Unterscheidung nicht aufrecht erhalten werden kann. Das Tryptophan ist durch eine Darstellungsmethode nach Hopkins und Cole®) in kristallisiertem Zustand zugänglich geworden und in seiner Zusammensetzung erkannt. Das Leuzin kommt im Protein in zwei Formen vor. F. Ehr- lich”) konnte das vermeintlich einheitliche Proteinleuzin und die Säure der oben mitgeteilten Struktur und ein Isoleuzin trennen. Für dieses ist die Formel, einer a-Aminoäthylmethylpropionsäure wahrscheinlich. Es ist nun die Frage aufgeworfen, ob die bei der Hydrolyse entstehenden Aminosäuren primär im Eiweißmolekül vertreten oder etwa sekundär durch Säurewirkung entstanden sind. Diese Frage ist nicht für alle Substanzen einheitlich zu beantworten. Es lässt sich vorstellen, dass einzelne aus gemeinsamen Grund- komplexen und Atomgruppierungen hervorgehen®). Da aber unter verschiedenartiger Methodik der Aufspaltung dieselben Produkte kon- stant entstehen, dürfte die Mehrzahl dieser Säuren als präformierte Substanzen gelten. Aus ihrer Gegenwart erklären sich manche Re- aktionen des origmären Eiweißmoleküls. Die Zystinanwesenheit 1) Pauly, Zeitschr. f. physiol. Chemie. 42, 508. 1904. 2) F. Knoop und A. Windaus. Die Konstitution des Histidins. Beitr. z chem. Phys. und Path. 7, 144. 1905. 3) E. Friedmann. Über Konstitution des Zystins. Beitr. z. chem. Phys: und Path. III, 1. 1902. 4) ©. Neuberg und P. Mayer. Über Zystein. Zeitschr. f. phys. Chemie. Aaml6l O0: 5) E. Fischer und U. Suzuki. Zur Kenntnis des Zystins. Ibidem. rad. 21905: 6) G. Ho Pan u. S- W. Cole. The constitution of tryptophane ete. Journal of en Vol. 27,8. 418 19022 Vol. 29, 845151903 7-8 . Ehrlich. Up das natürliche Isomere des Leuzins. Chem. Ber. 37, 1809. 1904. 8) Löw. Einige Bemerkungen über die Zuckerbildung aus Proteinen. Beitr. z. chem. Phys. und Path. 1, 567. 1900. mr Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 5375 bedingt die Reaktion auf abspaltbaren Schwefel, das Tyrosin die Millon’sche Reaktion. Das Tryptophan ist der Träger der Farben- reaktion mit p-Dimethylaminobenzaldehyd, wie durch F. Rohde!) erwiesen ist. Auch das Isoleuzin und Leuzin, die nach Ehrlich? die Bedingung von Fuselölbildung bei Hefegärung sind (in Gegenwart von Rohrzucker wird durch Hefegärung aus Isoleukin —= «a-Amyl- alkohol aus Leuzin — Isoamylalkohol), sind vorgebildete Radikale. Das gleiche gilt für die Hexonbasen, deren quantitative Bestimmung bei Anwendung verschiedener Methoden zu gleichen Resultaten führte. Für das Prolin und Oxyprolin hat Fischer die Möglichkeit ihres sekundären Entstehens aus Diaminosäuren in Betracht gezogen. Durch Sörensen’), der Prolin aus a-Amino-d-Oxyvaleriansäure durch HCl entstehen sah, ist dieser Zweifel noch genährt. Da aber diese Oxysäure im Protein selbst noch nicht gefunden ist, außerdem das Prolin auch bei Pepsinsalzsäure und Pankreasverdauung entsteht (Fischer und Abderhalden)®), so bleibt diese Frage noch un- entschieden. Ist mit den aufgezählten Aminosäuren die Zahl der Bausteine am Eiweißmolekül erschöpft? Sicherlich nicht. Zunächst gelang es, durch mühevolle Untersuchung aus Kasein eine hochmolekulare Säure, die dem Tyrosin beigemischt ist, und die bei der Fällung der Diaminosäuren mit Phosphorwolframsäure mit niedergerissen wird, zu isolieren. Ihre Entdecker, E. Fischer und Abderhalden?), nannten sie ohne Erkenntnis ihrer Struktur, dem Kohlenstoffgehalt und den Gruppenreaktionen nach Diaminotrioxydodecansäure. Ferner hat Skraup‘) bei der Hydrolyse des Kaseins und des Leims die Gegenwart einer Reihe kohlenstoffreicher Säuren wahrscheinlich gemacht: Kasemsäure, Kaseansäure, Diaminoglutarsäure, Diamino- anne Oxyaminobernsteinsäure, Dioxy mn le en li gemuth)?). Bei der Schwierigkeit der technischen Darstellung und Reinigung ist die Identität Be Säuren noch nicht Sehens elil, Doch ist ein so kritischer Forscher wie Fischer der Überzeugung, dass man im Eiweißmolekül besonders noch Vertreter der Klasse der Oxyaminosäuren finden wird. 1) E. Rohde. Die Farbenreaktionen der Eiweißkörper mit p-Dimethylamino- benzaldehyd ete. Zeitschr. f. phys. Chemie. 44, 161. 1905. 2) F. Ehrlich. Über die Entstehung des Fuselöls. Zeitschr. d. Vereins Deutscher Zuckerindustrie. 55. 539. 1905. 3) Sörensen. Trav. du laboratoire Carlsberg. 6, 137. 1905. 4) E. Fischer und E. Abderhalden. 5) E. Fischer und E. Abderhalden. Notizen über Hydrolyse von Protein- stoffen. Zeitschr. f. phys. Chemie. 41, 540. .1904. 6) Kd. St. Skraup. Über die Hydrolyse des Kaseins. Ebenda. 42, 292. 1904. Chem. Berichte. 37, 1596. 1904. 7) J. Wolgemuth. Chem. Berichte. 37, 4362. 1904 376 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. Die Estermethode hatte für die Trennung und Abscheidung der Aminosäuren die größten Erfolge, und Fischer hebt dabei hervor, dass man mit ıhr „imstande ist, mit hohem Grad von Sicherheit alle Monoaminosäuren aufzufinden“. Qualitativ ist jetzt der Nachweis des Alanins, Phenylalanins und Serins in allen unter- suchten Proteinen gelungen, während diese Säuren früher nur in je einem einzigen Falle aufgefunden worden waren (Alanın im Seiden- fibroin t), Serin im Seidenleim?). Einen ganz wesentlichen Fortschritt für die Biologie aber brachte die Estermethode dadurch, dass sie eine einigermaßen quantitative Aufspaltung der Proteine möglich macht. Der Begriff quantitativ ist cum grano saliıs zu nehmen. Eine absolut quantitative Isolation der Aminosäuren kennen wir noch nicht. Diesen Wunsch erfüllt weder die Säure-, noch die Alkali-, noch die Fermenthydro- lyse, und ohne erhebliche Verluste ist auch die Estermethode nicht durchführbar. Einigermaßen befriedigend ist die quantitative Be- stimmung nur für das Glykokoll und die Glutaminsäure. Bleiben also dıe Ausbeuten an Abbaukörpern hinter der Wirklichkeit zurück, sind sie auch Minimalzahlen, so stellen sie bei den mit konstanter Methodik an einheitlichem Ort und unter einheitlicher Leitung durchgeführten Eiweißhydrolysen, ein Material von Vergleichs- werten dar, das für die Physiologie im speziellen wertvoll wurde. Im späteren physiologischen Teil dieser Besprechung werden wir darauf zurückkommen. Noch einige chemische Daten zur Natur der Aminosäuren. Dieselben bilden Metallsalze, von denen besonders die Kupfersalze und deren Kupfergehalt oder deren Löslichkeit ın Alkohol zur Identifikation oder Isolation dienten. Die Karboxylgruppe befähigt die Aminosäuren, auch Ester- und Säurechloride zu bilden (mit PCI, in Azetylchloridlösung). Die Aminosäuren bilden vermöge ihres Charakters als primäre Base — NH,-Gruppe — Azylverbindungen. Mit derselben NH,- Gruppe reagieren sie mit Säurechloriden, z. B. Benzolsulfochlorid oder Naphthalinsulfochlorid (Fischer und Bergell)?) ®). Auch verbinden sie sich mit Phenylisozyanat zu Phenylureido- säuren, die beim Eindampfen mit HC] in Hydantoinderivate über- gehen. Dieselbe Reaktion vollzieht sich mit Naphthylisozyanat (Neubersg)?). 1) Th. Weyl. Chem. Berichte, 21, 1407. 1529. 1888. 2) E. Cramer. Journal f. prakt. Chemie. 96, 76. 1865. 3) E. Fischer und P. Bergell. Ber. d. deutsch. chem. Gesellschaft. 35, 3119. 1902. 4) Für die Reaktionen und chem. Verhalten der Aminosäuren vgl. die Literaturangabe von E. Fischer. Chem. Berichte. 39, 545-531. 5) ©. Neuberg und Manasse. Ber. d. deutsch. chem. Gesellschaft. 38, 2359. 1905. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 577 Eine neue Reaktion der Aminosäuren beschrieb vor kurzem Siegfried'). Die Aminosäuren bilden bei Gegenwart von Alkalıen oder Erdalkalien mit Kohlensäure Salze von Karbaminosäuren, die in Wasser und Alkohol löslich sind. Diese Derivate lassen sich wieder in die freien Säuren verwandeln, so dass diese Methode die Möglichkeit einer Trennung und Abscheidung in aschefreier Form bietet. Ob diese Verbindungen auch im Organısmus inter- mediär entstehen, und etwa bei der Bildung von Harnstoff aus Aminosäuren eine Rolle spielen, ist fraglich, jedenfalls sind sie deshalb von theoretischem Interesse, weil in ihnen die Aminosäure die Rolle einer Base spielt. Auch für die Peptidisolierung (Glyzyl- glyzin) ist die Methode nach Siegfried verwertbar. Diese verschiedenartige große Reaktionsfähigkeit — ihr Mecha- nismus wird von Fall zu Fall besprochen werden —, deren Kenntnis wir wiederum Fischer zumeist verdanken, ermöglichten Fischer, auch der Frage des synthetischen Eiweißaufbaues näher zu treten. Die Aminosäuren bilden in gegenseitiger Verkettung, die beim Zerkochen des Proteins mit Säuren gelöst wird, den großen Kom- plex des Eiweiß. Aufgabe der Synthese ist es daher, die einzelnen Aminosäuren in geeigneter Weise zunächst zu den einfacher zu- sammengesetzten Peptonen zu verkuppeln. Da der Abbau ein hydrolytischer Prozess ist, so schien für die Verknüpfung der Aminosäuren die Kondensation unter Wasserverlust der aussichts- reichste Weg. Das nächste Ziel war das Studium der Auhydride. Nun können sich 2 Moleküle Aminosäuren nach 2 Mechanismen anhydridartig vereinigen. Um das einfachste Beispiel zu wählen, treten 2 Moleküle Glykokoll zu einem inneren Anhydrid zusammen, und es entstehen die Körper der sogen. 2,5 Diketopiperazine, d.h. ringförmig gebaute Substanzen | CH,-NH,-COOH -+ CH,- NH,COOH 00 NH NH--.H,O. NOCH 004 Zu dieser Reaktion sind besonders die Ester der Aminosäuren befähigt?), die sich beim Stehen (Curtius)°), noch leichter beim Er- hitzen über ihren Schmelzpunkt (Fischer)®) in ihre Anhydride 4 1) M. Siegfried. Zeitschr. f. phys. Chemie. 44, 85. 46, 401. 1905. Chem. Berichte. 39, 397. 2) Ob dieses Konstitutionsbild das einzig vorkommende ist, lässt Fischer noch unentschieden, da noch 2 andere Isomerien möglich sind, z. B. UOH)-CH,\ N CH,—(OH)C= 3) Th. Curtius und F. Goebel. Journ. f. prakt. Chemie. 37, 150. 1888. 4) E. Fischer. Chem. Berichte. 34, 442ff. 1901. 39, 455. 19006. 378 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. verwandeln. Zu dieser Reaktion neigen dabei die Methylester mehr als die Äthylester. Ob Glieder dieser Körperklasse mit gleichen oder ungleichen, mit zwei oder mehreren Gliedern primär im Proteinmolekül vor- kommen, ist bis heute nicht erwiesen. Ein solches inneres An- hydrid des Leuzins, das sogen. Leuzinimid (3,6 Dusobutyl, — 2,5 Di- ketopiperazin), das man bei der Säurehydrolyse (Ritthausen!), Cohn?), Abderhalden?), Valaskın)*) und Pepsinverdauung des Eiweiß gefunden hatte, galt lange als primäres Spaltungsprodukt. Man wird heute diese Anschauung aufgeben müssen und diesen Körper als ein durch die Darstellung bedingtes Kondensations- produkt ansehen. Es mag sein, dass solche Anhydride in dem vielgestaltigen Eiweißmolekül vertreten sind. Eine solche Art der Bindung ohne freie Valenzen bietet aber für den Zusammentritt so zahlreicher Aminosäuren keine große Möglichkeit und Wahrschemlichkeit. Die zweite Form der Aminosäurenanhydride ist eine säure- amıdartige Verkettung, bei der unter Austritt von Wasser sich die NH,-Gruppe des einen Moleküls mit der OOOH-Gruppe des zweiten vereinigt. CH,CNH,COOH — CH,NH,COOH -- NH,CH,CONHCH,COOH + H,0. Dieser Körper ıst das Prototyp jener großen Klasse von Kör- pern, die Fischer als Peptide oder Polypeptide bezeichnet hat. Das hier gewählte Beispiel ist das Dipeptid Glyzyl-Glyzin, da es aus 2 Moleküle Glykokoll entsteht. Dementsprechend sind Tri- peptideketten solche von 3 Aminosäuren, Tetrapeptide von 4 u. s. f. Dabei können die Glieder unter sich gleichartige oder verschieden- artige Aminosäuren sein. Wie Fischer gezeigt hat, sind diese Polypeptide durch die in ihnen erhaltenen reaktionsfähigen NH, und COOH-Gruppen dem synthetischen Ausbau außerordentlich zugängig, und bei der Viel- artigkeit der Kombinationen verschiedener Aminosäuren schien ihre Erforschung für die Peptonsynthese aussichtsreich. Die älteste Methode ihrer Darstellung ist die Aufspaltung der schon beschriebenen Diketopiperazine, die durch geeignete Methoden in das Dipeptid übergehen’). Beim obigen Beispiel zu bleiben: PERZEON \ | HN NH + H,0 = NH, : CH,—CONHCH, - COOH. = 00 CR 1) H. Ritthausen. Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 29, 2109. 1896. 2) R. Cohn. Zeitschr. f. phys. Chem. 29, 283. E. Abderhalden. Ibidem. 37, 484. 4) S. Salaskın. Ibidem. 32, 592. 1901. 5) E. Fischer und F. Fourneau. Chem. Berichte. 34, 2868. 1901. 35, 1095. 1902. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 379 Bestehen die inneren Anhydride aus 2 verschiedenartigen Aminosäuren, z. B. Leuzin und Glykokoll, so entstehen beim Aul- spalten daraus 2 verschiedene, aber isomere Peptide. Das Leuzyl- Glyzin, und das Glyzyl-Leuzin. Diese Methode ist für die Bildung von Komplexen mit mehr als 2 Gliedern wenig geeignet. Die folgenden Methoden aber ge- statten eine beliebige Verlängerung der Aminosäurenkette. Nach dem Prinzip der Schotten-Baumann’schen Reaktion wird in die Aminosäure ein halogenhaltiges Azyl eingeführt'), z. B. Chlorazetylchlorid: CH,C1 - COC1-+ NH,CH,CO0OH = CH,C1 - CO - NHCH,COOH - HCl. Durch Einwirkung von NH, wird das Halogen gegen NH, ausgetauscht und es entsteht das Dipeptid Glyzyl-Glyzin CH,NH, .CO-NH-CH,COOH. Vermöge seiner freien NH,-Gruppe ist dieser Körper derselben Reaktion mit dem gleichen oder einem anderen Azyl theoretisch unbegrenzt zugänglich. Praktisch wurde die Syn- these bis zum Heptapeptid bereits durchgeführt. Je nach der Natur des Azyls lassen sich die Radikale der verschiedensten Aminosäuren angliedern. Chlorazetylchlorid = Glyzyl, a-Brompropionylchlorid — Alanyl, a-Bromisokapronylchlorid — Leuzyl, a-Bromhydrozimmtsäure — Phenylalanyl u. s. 1. Die Einzelheiten der Methode liegen außerhalb des Rahmens dieses Referates. Die dritte und fruchtbarste Peptidsynthese nützt die reaktionsfähige COOH-Gruppe der Aminosäuren und Peptide aus. Es ist Fischer?) gelungen, durch sehr sinnreiche Methodik (Lösung in Azetylchlorid und Einwirkung von PCI,) die Amino- säuren zu chlorieren, und diese Säurechloride, ganz wie die Azyl- chloride, an Aminosäuren, deren Ester und Polypeptide zu kuppeln. Der Prozess vollzieht sich ganz allgemein nach dem Typus: R - CHCOCI + RCHNH, - COOH —= RCH - CO - NHCHCOOHC!I | | NH,HCI NH, Diese Synthese kombiniert mit der vorhergehenden gestattet nun, die Kette nach beiden Enden beliebig zu verlängern, und Fischer hat dargetan, dass irgend einer dieser Methoden wohl kaum eine Aminosäure Widerstand leistet. Auf diesem Weg hat Fischer an 70 Polypeptide verschiedenster Gliederzahl und Aminosäuren- komponenten dargestellt). 1) E. Fischer und Otto. Ber. d. deutsch. chem. Ges. 36, 2106. 1903. 38, 605. 1905. 2) E. Fischer. Synthesen von Polypeptinen. Ibidem. 37, 3070. 1904. 39,453« 1906. 3) Übersichtliche Zusammenstellung mit Literatur E. Fischer. Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 39, 566ff. 380 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. Die Mehrzahl der Synthesen wurden an den synthetischen Aminosäuren ausgeführt. Entsprechend ihrer Racemnatur ist auch das entstehende Peptid ein Gemisch optischer Antipoden. Von Wichtigkeit ist natürlich die Gewinnung optisch aktiver Polypeptide; vereinzelte sind bereits aufgebaut. Auch diesem Ziel nähert sich Fischer. Seitdem die Methodik der Darstellung aktiver Aminosäuren ausgearbeitet ist, ‘ist die Kuppelung derselben über den Weg der Aminosäurechloride, nur eine Frage der Zeit und Arbeit. Gerade diesen optisch aktiven Polypeptiden gebührt nun das Interesse, da diese ganzen Synthesen auf die Synthese natürlicher, d.h. optisch aktiver Proteine gerichtet ist, und diese Polypeptide, in gewissem Sinn schon das Dipeptid, den einfachsten Eiweißkörper im Sinne Fischer’s, darstellen. Erfüllen nun diese Körper die Bedingungen, die wir von eiweißähnlichen Substanzen verlangen dürfen, wenn wir von der optischen Inaktivität absehen? Die Biuretprobe, die den Proteinen bis herab zu den Pep- tonen zukommt, fällt für eine große Anzahl Polypeptide positiv aus. Die Intensität der Farbenreaktion mit CuSO, in alkalischer Lösung wächst mit der Länge der Kette. Bei Glyzinketten tritt sie erst beim Tetraglyzinpeptid auf. Auch die Peptidester geben die Reaktion. Die Bedingungen für das Entstehen dieser Reaktion sind nicht klar. Die Biuretreaktion teilt also diesen Polypeptiden wenigstens den Rang peptonähnlicher Körper zu. Mit zunehmender Gliederzahl zeigen die Peptide mehr und mehr die Eigenschaften kolloidaler Körper; sie verlieren ihre Nei- gung zu kristallisieren, ihre Lösungen lassen sich zu Schaum schlagen. Entsprechend der hydrolytischen Proteinspaltung zerfallen die Polypeptide beim Kochen mit Säuren in ihre Komponenten. Fünf- stündiges Kochen genügt zu ihrer Aufspaltung, die Alkalihydrolyse verläuft langsamer. Auch die Fällbarkeit mit Phosphorwolfram- säure teilen verschiedene Peptide mit den Peptonen. Entscheidend für unsere Frage aber ist ihr Verhalten zu den proteolytischen Verdauungsfermenten. Bisher war die Angreifbar- keit einer Substanz durch Verdauungsfermente das Privileg der Proteinsubstanzen. Nur die sogen. Curtius’sche Biuretbase, die jetzt durch Curtius!) als der Ester des Triglyzylglyzins erkannt wurde, war nach Versuchen von Schwarzschild?) durch Trypsin ge- spalten. Fischer und Bergell?), vor allem Fischer und Abder- 1) Th. Curtius. Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 37, 1284. 1904. 2) Schwarzschild. Beitr. z. chem. Physiol. u. Pathol. 4, 155. . 1903. 3) E. Fischer und P. Bergell. Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 36, 2592. 1903. 37, 3103. 1904. Samuely. Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 581 halden!) haben nun nachgewiesen, dass schon relativ einfach zusammengesetzte Peptide durch Trypsinwirkung in die freien Amino- säuren zerfallen. Ohne auf die Details dieser Feststellung hier einzugehen, ist damit die Zugehörigkeit der Peptide zu den Pro- teinen erwiesen. Und für E. Fischer besteht kein Zweifel, dass mit der Erkenntnis der amidartigen Bindung der Peptide die Frage nach der Struktur der einfachen Eiweißkörper im Prinzip gelöst ist. In den hochmolekularen Polypeptiden sieht er nicht nur die Vorstufen zu den Peptonen, sondern vielmehr Peptone selbst, die sich von den durch Proteinverdauung oder Hydrolyse dargestellten und gereinigten Peptonen, nur durch ihre Reinheit und Einheit- lichkeit unterscheiden. Sie sind chemisch wohl charakterisierte Individuen, indes jene physiologische Begriffe sind, d. h. physi- kalische Gemische zahlreicher solcher Polypeptide. Eine Form der Verkettung der Aminosäuren nach dem Typus der Polypeptide ist im Protein somit sichergestellt. Dass sie nicht die einzige Bindungsform ist, steht außer Zweifel. Eine schon be- kannte andere Bindung liegt dem weit verbreiteten Arginin zu- grunde: Imidbindung des Guanidin an Aminovaleriansäure. In seinem Vortrag nun hat Fischer erklärt, dass alle Analogien der Peptide mit Proteinen an sich keine Basıs liefern, um nicht ihre Präformation ım Eiweißmolekül als Glaubenssache hinzunehmen. Fischer hat sich daher schon lange bemüht, seine Anschauung durch das Experiment zu bekräftigen und aus genuinem. Protein ein solches Polypeptid direkt zu isolieren. Dieses Schlussglied seiner Beweiskette hat Fischer nun auch gebracht. Man hat sich schon lange Mühe gegeben, durch partiellen Ab- bau des Eiweiß, d.h. durch weniger eingreifende Mittel als heiße Mineralsäuren, einfacher zusammengesetzte Zwischenprodukte und Vorstufen der Aminosäuren zu isolieren. Dies Bestreben machte uns mit den Albumosen und Peptonen bekannt, und lehrte uns die biuretfreien Abbauprodukte kennen, die Hofmeister?) „Pep- toide“ nannte, und von Zunz?), Pick*, Pfaundler°) und Reach®) bei der Pepsinverdauung gefunden wurden. Durch Einwirkung von verdünnter Salzsäure (12,5°/,) gewann Sıegfried’) ein kristalli- sierendes Pepton, das Glutokyrin und Kaseinokyrin, das durch 1) E. Fischer und ‘E. Abderhalden. Über das Verhalten verschiedener Polypeptide gegen Pankreassaft. Zeitschr. f. physiol. Chem. 46, 52. 1905. 2) F. Hofmeister. Ergebnisse der Physiologie. I, 1, 759. 3) E. Zunz. Zeitschr. f. phys. Chem. 28, 132. 1899, 4) F. Pick. Ibidem. 28, 219. 1899. 5) M. Pfaundler. Zeitschr. f. phys. Chem. 30, 90. 1900. 6) P. Reach. Beitr. z. chem. Phys: u. Pathol. 4, 139. 7) Vgl. Siegfried. Ber. d. math. phys. Klasse der kgl. sächs. Gesellsch. der Wissenschaften zu Leipzig. 2. Nov. 1903. 55, 63. 1903. Zeitschr, f. phys. Chem. 38, 259. 1903. Ibidem. 43, 44, 46. 1905. 389 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. Säuren in Glykokoll, Glutamimosäure, Lysin und Arginin weiter gespalten werden konnte. Eine Identifikation dieser Substanzen bezüglich ihrer Struktur ist aber bislang noch nicht gelungen. Auch gelten für sie — die Siegfried’sche Kyrine vielleicht ausgenommen — die Zweifel ihrer Reinheit und Einheitlichkeit. Fischer hat nun ebenfalls durch partielle Hydrolyse und zwar durch kombmierte aufeinanderfolgende Einwirkung von Säuren, Pan- kreasferment und Alkali (Barythydrat) das Protein abgebaut. Als Ausgangsmaterial wählte er das relativ einfach zusammengesetzte Seidenfibroin. In Gemeinschaft mit Bergell!) hatte er durch starke kalte HC], Trypsin und warmes Barytwasser einen Körper isoliert, den er seinem Reaktionsprodukt mit Naphthalinsulfochlorid nach für Glyzylalanin hielt. Dieser Körper hatte ferner eine tyrosin- haltige Vorstufe, die ihren Tyrosinanteil erst bei der Ferment- hydrolyse abgab. Jetzt ist es Fischer mit Abderhalden?) gelungen, diesen Körper als das Anhydrid des aktiven Dipeptids: Glyzyl-d-Alanın zu identifizieren und vor allem seine sekundäre Bildung durch die Ar- beitsmethode aus primärem, freiem Glykokoll und Alanın auszu- schließen. Neben diesem Körper wurde auch das Diketopiperazin des Glyzyl-Tyrosins isoliert. Abgesehen davon, dass die Autoren eine Methode ausgearbeitet haben, die es gestattet, einfachere Peptide von höher molekularen Peptiden zu trennen, d. h. das Gemenge dieser „peptoiden* Vor- stufen der freien Aminosäuren zu entwirren, liegt in diesem experimentellen Nachweis eines natürlichen Peptids im Protem- molekül der bindende Beweis, dass Fischer in der Synthese den richtigen Weg eingeschlagen hatte. „Es ist kein Zweifel, dass sich die Beobachtung und die Zahl primärer Peptide mehren wird.“ Mit ihrer Kenntnis aber gewinnen wir neue Anhaltspunkte für die Synthese, denn sie ermöglicht eine Entscheidung über die Reihenfolge, in der die Aminosäuren miteinander verknüpft werden müssen. Gemäß der großen Zahl der im Proteinmolekül vertretenen Aminosäuren ist auch für die Synthese die Zahl der gegenseitigen Kombinationen mit Wiederholungen Legion. Aber schon jetzt be- sitzen wir einige chemische und biologische Kriterien, die es ge- statten, unter all diesen Möglichkeiten diejenigen auszuwählen, die den natürlichen Verhältnissen am nächsten stehen. Dahin gehört die von Fischer und Bergell, danach von Abderhalden und 1) E. Fischer und P. Bergell. Vortrag auf der Naturforscherversammlung Karlsbad 1902. Chemikerzeitung. Jahrg. 26, Nr. 80. 1902. 2) F. Fischer und E. Abderhalden. Bildung eines Dipeptids bei der Hydrolyse des Seidenfibroins. Berichte d. deutschen chemischen Gesellschaft. 39, 752. 1906. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 383 Fischer!) festgestellte Angreifbarkeit der Peptide durch Fermente. Die hier zu behandelnden Erscheinungen sind von allergrößtem biologischen Interesse, da sie uns nicht nur in der Peptidforschung, sondern auch in der Erkenntnis des Fermentchemismus Perspektiven eröffnen. Dies rechtfertigt ein eingehenderes Referat, das im wesent- lichen wörtlich nach Abderhalden zitiert ist'). Die folgende Tabelle zeigt das Verhalten der bis jetzt unter- suchten Peptide gegen Pankreasferment. Hydrolysierbar. Nicht hydrolisierbar. Alanyl-Glyzin. Glyzyl-Alanin. Alanyl-Alanin. Glyzyl-Glyzin. Alanyl-Leuzin A. Alanyl-Leuzin B. Leuzyl-Isoserin. Leuzyl-Alanin. Glyzyl Tyrosin. Leuzyl-Glyzin. Alanyl-Glyzyl-Glyzin. Leuzyl-Leuzin. Leuzyl-Glyzyl-Glyzin. Glyzyl-Phenylalanin. Glyzyl-Leuzyl-Alanin. Leuzyl-Prolin. Alanyl-Leuzyl-Glyzin. Aminobutyryl-Glyzin. Dialanylzystin. Aminobutyryl-Buttersäure A. Dileuzyl-Cystin. » » B. Tetraglyzyl-Glyzin. Diglyzyl-Glyzin. Triglyzin-Glyzinester. Triglyzyl-Glyzin. Dileuzyl-Glyzyl-Glyzin. Aus einem Vergleich der Tabelle folgt, dass nicht alle Poly- peptide durch Ferment angreifbar sind. Die Einflüsse für den Widerstand oder das Weichen gegen die Fermentkraft sind nicht eindeutig; scheinbar geringe Bedingungen wirken hier entscheidend mit und bestätigen wiederum, wie fein die Fermente in ihrem Chemismus auf ganz bestimmte Bindungs- und Strukturformen ein- gestellt sind. Abderhalden unterscheidet schon jetzt 4 Punkte: 1. Einfluss der Struktur: als Beispiel führt er das verschiedene Verhalten der isomeren Glyzyl-Alanın und Alanyl-Glyzin an. 2. Einflüsse der einzelnen Aminosäuren: Die Hydrolyse wird befördert, wenn das Alanin als Azyl voransteht (Alanyl-Glyzin, Alanyl-Alanin, Alanyl-Leuzin). Ebenso wirken die ÖOxysäuren, Tyrosin und Isoserin, wenn sie endständig sind. Die Dipeptide, in denen das Leuzyl als Azyl fungiert, sind fermentfest. Abder- halden vermutet, dass das elektronegative oder positive Verhalten der jeweiligen Säuren hier mit entscheidet. 3. Einfluss der Zahl der Aminosäuren: Mit Zunahme der Länge der Kette tritt die Fermentempfindlichkeit auf. Dies lehrt das Bei- 1) E. Fischer u. Abderhalden. l.c. Zeitschr. f. phys. Chem. 46, 52. 1905. Vgl. auch E. Abderhalden. Neuere Forschungen aus dem Gebiet der Eiweiß- chemie III in Medizinische Klinik 1905. 1, 13. 2, 38. Ferner: Neuere Ergebnisse auf dem Gebiet der Eiweißchemie und Physiologie. Ibidem 1905. 46, 47. 384 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. spiel der gleichnamigen Glyzylketten, die erst vom Tetraglyzyl spaltbar werden. Das gleiche gilt vom Leuzyl-Glyzyl-Glyzin, das im Gegensatz zum Leuzyl-Glyzin spaltbar ist. Auch die Verände- rungen, die am Karboxyl vor sich gehen, entscheiden die Spaltbar- Be denn die Ester des Triglvzylglyzins ist spaltbar, das freie Peptid aber nicht. 4. Einfluss der Konfiguration: Es hat sich gezeigt, dass bei den Versuchen mit racemischen Peptiden die Spaltung asymetrisch verläuft, d.h. es wird nur die eine optische Komponente vom Fer- ment gespalten. „Als Produkte resultieren nur diejenigen aktıven Aminosäuren, die auch in gleicher optischer Eigenschaft in der Natur vorkommen.“ Aus diesen Beobachtungen aber folgt, dass einerseits das Ferment geeignet ıst, Konstitutionsaufschlüsse zu geben, dass andererseits die natürliche Fermentkraft nur darauf eingerichtet ist, die bei der Verdauung entstehenden natürlichen Peptide zum Wiederaufbau von natürlichem Körpereiweiß aus- wählend vorzubereiten. Wir werden später sehen, dass ähnliche selektive Prozesse sich ım intermediären Gewebsstoffwechsel ab- spielen, für die wir bekanntlich die intrazellulären Fermente in Anspruch nehmen. Einfluss der Fermentnatur: Abderhalden und Fischer machten die Beobachtungen, dass die synthetischen Polypeptide ohne Ausnahme durch käufliches Trypsin oder Pankreatin ge- spalten werden, dass die obigen Befunde der Spaltung sich nur bei Anwendung von reinem aktivierten Pankreassaft, nach Pawlow aus einer Fistel gewonnen, erzielen lassen. Daraus aber ergibt sich die für die Biologie bedeutungsvolle Aussicht, mit Hilfe dieser Polypeptide auch die Zusammensetzung und Einheitlichkeit von Fermenten zu prüfen, denn die generelle Wirksamkeit von käuf- lichen proteolytischen Präparaten kann nur darauf zurückgeführt werden, dass es sich bei ihnen um ein Gemenge mehrerer Fer- mente handelt. Fischer und Abderhalden heben hervor, dass der große Erfolg der Fermentversuche sich besonders bei Prüfung der optisch aktiven Peptide, deren Untersuchung zurzeit im Gang ist, kund- geben werden und dass es so gelingen mag, die Peptide in Gruppen einzuteilen, die den natürlichen Bindungsformen im Protein mehr oder weniger nahe stehen. (Schluss folgt.) = —————— - a Bene von Georg et in Tea Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. q Biologisches Gentralblatt. . Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und intwiekelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. ZXVL.Bd, 1Juli1006. 18,14 u. 15. er nentenentsssnnumeustenenu] Inhalt: De Vries, Ältere und neuere Selektionsmethoden. — GrofS, Über die Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. — Marcus, Über die Beweglichkeit der Ascaris-Spermien. — Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Fiweilsehemie und ihre Bedeutung für die Physiologie (Schluss). — Fischer, Uber die Ursache der Disposition und über Frühsymptome der Raupenkrankheiten? — Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-O.). Ältere und neuere Selektionsmethode. Von Hugo de Vries. Die Ansicht, dass in der Natur die Arten durch äußerst lang- same, nahezu unsichtbare Umwandlungen auseinander hervorgehen, wurde bisher im wesentlichen durch zwei Gruppen von Beobach- tungen gestützt. Erstens fehlte es an direkten Nachweisen für ein plötzliches oder doch rasches Entstehen neuer Formen, und zweitens beruhte das landwirtschaftliche Selektionsverfahren auf dem Primzipe der allmählichen Verbesserung. In bezug auf den ersten Punkt hat sich die Sachlage in den letzten Jahren verändert. Die Arbeiten von Korshinsky haben gezeigt, dass wenigstens im Gartenbau das plötzliche Auitreten von Neuheiten die Regel ist, sowohl in der Kultur als im Freien. Die Gattung Oenothera hat sich ferner als mutabel ergeben und liefert ein Material, an dem jeder sich durch Aussaaten von der sprungweisen Abänderung der Arten überzeugen kann. Zahlreiche andere Beobachtungen haben sich daran angeschlossen. Das Stu- dium der elementaren, konstanten und scharf voneinander getrennten Arten ist wiederum in den Vordergrund getreten und hat die An- sichten über den systematischen Wert der Formen, welche bei stoßweisen Veränderungen auftreten können, durchaus geklärt. xXXVl. 25 4 2% P . E77 au x 386 De Vries, Ältere und neuere Selektionsmethoden. Die Selektion landwirtschaftlicher Gewächse ist gleichfalls in eine neue Periode eingetreten. An der landwirtschaftlichen Ver- suchsstation Svalöf in Schweden ist ein auf neuen Prinzipien ge- gründetes Verfahren entdeckt und eingeführt worden. Eine ansehn- liche Reihe von neuen Getreidesorten ist dem Handel übergeben worden, und obgleich der Zweck der Anstalt wesentlich die Hebung des Landbaues in Schweden selbst ist, so finden die neuen Rassen doch auch im Auslande Anerkennung. In Deutschland sind sie namentlich durch die Reiseerinnerungen von Dr. A. Stutzer und Dr. P.Gisenius: „Der Wettbewerb der dänischen und schwedischen Landwirte mit Deutschland“ (Stuttgart 1904) bekannt gemacht, und durch die Deutsch-Schwedische Saatzuchtanstalt und Graf die Arnim- Schlagenthin’sche Kartoffelzuchtstation zu Nasserheide bei Stettin eingeführt worden. Das ältere, deutsche Selektionsprinzip nahm an, das man jeder beliebigen Kulturpflanze bestimmte Eigenschaften aufzwingen könne, wenn man nur, nach einem im voraus festgestellten Ideale ar- beitend, immer diejenigen Individuen zur Weiterzucht auswähle, welche sich diesem Ideale am meisten näherten. Das Ideal hatte auf möglichst zahlreiche Eigenschaften Rücksicht zu nehmen, konnte aber selbstverständlich nieht alle umfassen. Um nun nicht bei der Auswahl in bezug auf diese unberücksichtigten Punkte vielleicht mehr zu verlieren als man durch die Verbesserung der übrigen gewann, war es die Regel, mit gemischten Saaten zu arbeiten. Der Versuch fing mit einer Gruppe von Ähren, Rispen oder Pflanzen an, und jedes Jahr wurde wieder eine gewisse Anzahl ausgewählt. Man nahm an, dass die sich dem Auge entziehenden Eigenschaften dadurch, trotz der Selektion, im Mittelmaß verharren würden. Zahlreiche hervorragende Getreidesorten sind nach diesen Prinzipien gezüchtet worden, und über seine hohe Bedeutung für die Praxis kann kein Zweifel obwalten. Andererseits ist es den Landwirten wohl bekannt, dass das Prinzip gar häufig im Stiche lässt. Man hat viele Selektionsversuche anzufangen, um die Aussicht zu haben, einen bis nahe ans Ideale durchzuführen. In den meisten Fällen erreicht man nach dieser Methode gar keine Verbesserung des Vorhandenen. Sehr wichtig ist die Frage, ob die so erhaltenen Rassen am Schlusse von der weiteren Selektion unabhängig werden oder nicht. In Deutschland herrscht die Ansicht, dass solches nicht der Fall sei. Sobald die Selektion aufhört, trete Rückschritt ein. Ein oder zwei Jahre könne man eine Rasse von eigenem Samen fort- bauen, dann aber müsse man stets wieder auf Originalsaat zurück- . greifen. Es leuchtet ein, dass diese Ansicht die Produktion des Saatgutes in den Händen der Züchter verbleiben lässt, und dass diesen ein ganz bedeutender Teil ihres Gewinnes abgehen würde, De Vries, Ältere und neuere Selektionsmethoden. 387 wenn jeder Landwirt nach einmaligem Ankauf selbst seme Samen für die weiteren Generationen ernten könnte. Diese Sachlage ist bekanntlich im Gartenbau die normale, beschränkt aber den Gewinn einer Neuheit nahezu völlig auf das erste Jahr der Einfuhr. In meinem Werke über „Die Mutationstheorie* habe ich mich an die herrschende Ansicht angeschlossen. Es lag für mich kein Grund vor, sie zu bezweifeln, namentlich da mein verstorbener Freund Wilhelm Rimpau einer ihrer überzeugten und her- vorragender Vorfechter war. Und noch im Frühjahr dieses Jahres (1906) wurde sie in der Preisliste der zitierten Deutsch- Schwedischen Saatzuchtanstalt von Grafen Arnım aufs wärmste verteidigt. Dennoch fehlte es nicht an Bedenken. Erstens war die Selektion der Getreidearten doch offenbar ein anderes Verfahren als diejenige der Zuckerrüben, und zweitens tauchten von verschiedenen Seiten Angaben auf, dass der angebliche Rückschlag der neuen Sorten nur auf Verunreinigungen und nicht auf wirklichen Atavismus zurückzuführen sei. Der Landwirt könne ganz gut selbst sein Saat- gut ernten, wenn er nur seine Felder rein halte, sowohl von der zufälligen Beimischung von Samen verwandter Sorten als auch von der Kreuzung mit anderen minderwertigen Varietäten. Bei Zucker- rüben aber nimmt der Zuckergehalt nach zwei oder drei Gene- rationen sehr merkbar ab, sobald man nicht jedesmal aufs neue von polarisierten und ausgewählten Rüben ausgeht. Die in Svalöf angestellten Versuche haben nun in dieser Be- ziehung eine ganz unerwartete Aufklärung gebracht. Sie haben nicht nur für die Praxis, sondern auch für die Deszendenzlehre eine überaus hohe Bedeutung. Sie zeigen klar, weshalb ın einigen Fällen das gewünschte Ziel erreicht wurde und in anderen nicht. Damit fällt aber die Anwendbarkeit der üblichen Selektions- methode auf die Frage nach der Entstehungsweise der Arten der Natur völlig hinweg, und was davon vielleicht noch übrig bleibt, schließt sich durchaus den im Gartenbau beobachteten Vor- gängen an. Für die Wissenschaft bedeuten diese Entdeckungen die volle Anerkennung der elementaren Arten als das nahezu ausschließliche Zuchtmaterial, sowohl in der Praxis als auch in der Natur. Aus diesem Grunde lohnt es sich, die ältere und die neuere Selektionsmethode hier miteinander zu vergleichen. Selbstverständ- lich nicht in bezug auf ihre Leistungsfähigkeit für die Praxis, sondern nur als Grundlage für die Lehre von der Umwandlung der Arten. Es scheint mir eine solche Ausemandersetzung um so mehr erwünscht, als die Ergebnisse der Svalöfer Versuchsstation in einer eigenen, schwer zugänglichen und in schwedischer Sprache verfassten Zeitschrift, der „Sveriges Utsädes förenings Tidskrift“ 25* 208 De Vries, Ältere und neuere Selektionsmethoden. veröffentlicht worden sind. Soviel mir bekannt, liegt noch kein übersichtlicher Bericht in deutscher Sprache vor'). Die Versuchsanstalt zu Svalöf (spr. Swalöw) in der süd- schwedischen Provinz Schonen wurde im Jahre 1886 gegründet. Sie hat in ihrem Programm weder Lehrtätigkeit noch rein wissen- schaftliche Untersuchungen. Sie arbeitet nur im Dienste der Praxis, aber ihre Methoden sind durchaus wissenschaftliche. Diesen Um- ständen verdankt sie zu einem wesentlichen Teil ihre hervorragenden Errungenschaften. Anfangs arbeitete man nach den auch jetzt noch in Deutschland geltenden Prinzipien der Auswahl nach einem vor- gesetzten Ideal und der allmählichen Verbesserung der landes- üblichen oder der eingeführten Sorten. Der Erfolg war der näm- liche wie überall: einige gute neue Rassen wurden erhalten, aber die Mehrzahl zeigte sich widerspenstig. Namentlich gelang es nicht, den wichtigsten Bedürfnissen der schwedischen Landwirtschaft ent- sprechende Rassen zu erzeugen und dadurch wurde der Glaube an der Leistungsfähigkeit des Prinzipes selbstverständlich erschüttert. In dieser Sachlage fand der jetzige Direktor der Versuchsanstalt, Dr. N. Hjalmar Nilsson, die Kulturen, als er im Jahre 1590 ernannt wurde. Er entschloss sich sofort, die laufenden Untersuchungen allmählich abzuschließen und neue anzufangen, um zunächst zu einer Kritik der damaligen Methode zu gelangen. Er isolierte dazu etwa tausend neue Typen, welche er unter den damals auf den Äckern der Anstalt kultivierten Sorten aussuchte. Er säte die Samen auf isolierten Parzellen und prüfte die Nachkommenschaft auf Gleichförmigkeit und Leistungsfähigkeit. Er hatte aber selbst- verständlich nach der üblichen Methode ausgewählt und für jede Kultur eine Gruppe von Ähren bezw. Rispen vom gleichen Aussehen zusammengesucht. Im nächsten Jahre fand er, dass fast auf jedem Feldchen der Bestand ein ungleichförmiger war, und somit ein reichliches Material für eine erneute Wahl lieferte. Ganz vereinzelte Feldchen bildeten aber Ausnahmen von dieser Regel. Sie trugen jedes nur einen einzigen Typus. Die genaueste Vergleichung war nicht imstande, Unterschiede zu entdecken, wenigstens keine von jener Größe, wie sie gewöhnlich zu Selektions- zwecken benutzt wurden. Hier war keine weitere Wahl möglich, sondern es waren einförmige — und wie sich später ergab — konstante Rassen erhalten worden. Glücklicherweise war über die Kulturen in so ausführlicher Weise Buch geführt worden, dass es möglich war, der Ursache dieser auffallenden Erscheinung nach- zuforschen. Und da ergab sich, dass die betreffenden Parzellen diejenigen waren, für welehe nur die Körner aus je einer einzigen 1) Vel. meinen Aufsatz im Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, „Die Svalöfer Methode zur Veredelung landwirtschaftlicher Kulturpflanzen.“ De Vries, Ältere und neuere Selektionsmethoden. 389 Ähre benutzt worden waren. Es war eben keine zweite Pflanze desselben Typus aufgefunden worden. Auf allen übrigen Feldehen war eine gemischte Saat, von zwei oder drei oder meist von mehreren Individuen, ausgesät worden. Hieraus ergab sich die Folgerung, dass die Nachkommenschaft einer einzigen Getreidepflanze rein und in sich gleichförmig ist, während gemischte Saaten gemischte Bestände geben. Dieser Schluss wurde dann sofort einer Prüfung im größtmöglichen Maß- stabe unterworfen. In demselben Jahre, 1892, wurden die Äcker wiederum durehmustert und alle abweichenden Ähren und Rispen eingesammelt. Jetzt wurde aber alles getrennt ausgesät und jede Parzelle des nächsten Sommers stammte also von einer einzigen Mutterpflanze ab. Die Erwartung war aufs höchste gespannt, wurde aber von dem Ergebnis noch weit übertroffen. Es waren etwa 2000, Einzel- kulturen vorhanden. Fast alle waren sie durchaus einförmig, die vorhandenen Unterschiede innerhalb der einzelnen Feldchen waren teilweise durch geringfügige Abwechslungen im Boden oder in der gegenseitigen Entfernung der Halme bedingt, teilweise waren sie so unbedeutend, dass darauf keine Selektion gegründet werden konnte. Eine Wiederholung der Auswahl war einfach unmöglich. Damit war das Prinzip der einmaligen Wahl entdeckt worden, es hat zur Bedingung, dass jedesmal nur eine einzige Mutterpflanze als Ausgangspunkt genommen werden darf. Tut man dieses, so ıst die Nachkommenschaft sofort einförmig und konstant und für weitere Selektion ungeeignet. Allerdings gab es Ausnahmen. Einzelne Parzellen zeigten ge- mischten Bestand. So waren z. B. unter 422 Haferstämmen 397 einförmige und 25 variabel. Spätere Untersuchungen haben ergeben, dass es sich hier stet$s um Bastarde handelt. Entweder waren die eingesammelten Mutterähren selbst von Bastardpflanzen erzeugt, oder sie waren selbst teilweise mit fremden Blütenstaub befruchtet worden. Bekanntlich erhält man aus Bastardähren unter den Ge- treidesorten ganz gewöhnlich Spaltungen in der Nachkommenschaft. Solche Bastardierungen sind aber nach den Beobachtungen N ilsson’s auf den Getreidefeldern, auch wo Selbstbefruchtung die Regel ist, weit weniger selten als man bis dahin anzunehmen geneigt war. Für die Praxis bieten solche bunte Kulturen ein Material für neue Selektionen, aus denen, wie leicht ersichtlich, teils reine und kon- stante Stämme, teils wiederum gemischte Bastardkulturen hervor- gehen werden. Das Prinzip der Gewinnung reiner und konstanter Rassen durch einmalige Auswahl ist seitdem in Svalöf das alleinherrschende geworden. Mit der erwähnten Ausnahme wird niemals anders ge- arbeitet. Das Ergebnis ist stets das nämliche, und viele Tausende 390 De. Vries, Ältere und neuere Selektionsmethoden. von solchen Rassen sind im Laufe der Jahre aus den landesüblichen Sorten isoliert worden. Sie lassen sich sehr rasch vermehren und werden dann im Laufe der Jahre vergleichenden Prüfungen unter- worfen. Dabei nehmen die günstig beurteilten an Umfang zu, während die untauglichen und mittelmäßigen aufgegeben werden und so den anderen ihren Platz auf dem Acker einräumen. Nach 4—5 Jahren hat sich die mit mehreren Hunderten angefangene Serie auf eine einzelne oder einige wenige Neuheiten eingeengt, und nur diese werden schließlich in die Großkultur eingeführt. Für die Theorie ist es nun von höchster Wichtigkeit, dass die gewöhnlichen Getreidesorten nicht nur Gemische von unter sich verschiedenen elementaren Arten sind, wie ja seit Le Conteur und Sherriff bekannt war, sondern dass sie jede aus mehreren Hun- derten von Einzeltypen bestehen. Der Reichtum an Formen ist ein erstaunlicher. - Wohl für jedes Bedürfnis der Praxis ist die entsprechende Varietät tatsächlich vorhanden, man braucht sie nur aufzusuchen und zu isolieren. So vollständig ist die Reihe der nach diesem Prinzipe möglichen Verbesserungen, dass gar kein Grund vorliegt, sich noch um andere Arbeitsmethoden zu kümmern. Durch Bastardierung mögen gelegentlich gute Neuheiten erzielt, und durch ıintraspezifische Selektion mögen lokale Rassen erzeugt worden sein, aber die Aussichten fällen gegenüber der Leistungs- fähigkeit des neuen Nilsson’schen Prinzipes vollständig weg. Selbstverständlich sind die üblichen Varietäten keine gleich- mäßigen Gemische. Je nach den Sorgen, welche ihrer Reinerhaltung ge- widmet werden, bestehen sie in der Hauptsache aus einem oder einigen wenigen Typen. Die zahlreichen Nebenformen sind nur in wenigen Exemplaren vertreten, oft ein oder einige Prozente, oft viel weniger erreichend. Die Mutterpflanze der jetzt in Mittelschweden vorherr- schend kultivierten Primusgerste ist in dieser Weise aus Hundert- tausenden von untersuchten Pflanzen ausgewählt worden. Es würde mich zu weit führen, hier die Methode in ihren Einzelheiten auszumalen. Das Prinzip scheint mir durchaus klar zu sein, und die praktische Leistungsfähigkeit wird von den Fach- männern überall anerkannt. Wir können uns somit jetzt zu der Betrachtung der älteren Selektionsmethode wenden. Dass ich solches erst in zweiter Linie tue, hat nur den Zweck, sie sogleich einer eingehenden Kritik auf Grund des Svalöfer Prinzipes unterwerfen zu können. Ich wähle als Beispiel die Entstehung des Schlanstedter Roggens. Die Geschichte dieser, von Dr. Wilhelm Rimpau in Schlanstedt gezüchteten, und jetzt in Nord-Deutschland sowie in den nördlichen Teilen Frankreichs allgemein verbreiteten Rasse ist unter allen neueren Getreidezüchtungen wohl die am gründlichsten bekannte. Sie eignet sich deshalb sehr zu einer eingehenden Kritik. Persön- De Vries, Ältere und neuere Selektionsmethoden. 39 ’ )e lich habe ich die Gelegenheit gehabt, in den Jahren 1576 und 1877 den Versuch auf der Domäne meines Freundes Rimpa u zu stu- dieren, und auch später habe ich seinem Fortschritt im brieflichen Verkähr folgen können. Die ausführlichste Darstellung hat be- kanntlich Dr. Kurt von Rümker in seiner eine zur Ge- treidezüchtung“ gegeben. Bevor ich zu einer eingehenden Besprechung schreite, muss hervorgehoben werden, dass meine Kritik nur der Anwendung dieses an ähnlicher Versuche auf die Theorie von der Entstehung der Arten in der Natur durch allmähliche Selektion gilt. Die an wirtschaftliche Bedeutung des Rimpau’schen Verfahrens geht ohne weiteres aus der allgemeinen Anerkennung und dem Anbau seiner Rasse im großen hervor. Die Svalöfer Methode halte ich allerdings für bei weitem besser, doch ist sie um 20 Jahre Jünger, und die Beurteilung hat damit selbstv erständlich Rechnung zu halten. Auf der tn len Seite darf Rimpau’s Züchtung als ein Muster des in Deutschland allgemein befolgten Verfahrens betrachtet werden, und wenn es mir somit gelingt zu zeigen, dass sie die Theorie der allmählichen Artumwandlung keineswegs stützt, so folgt daraus, dass auch den übrigen Zuchtversuchen mit landwirt- en Pflanzen eine solche erehe Bedeutung nicht zu- kommt. Damit würde eine der wesentlichsten Stützen, und wohl die letzte angeblich experimentelle, für diese Ansicht wegfallen. Damit würde zu gleicher Zeit von neuem ein Beweis hen sein, wie vorsichtig man mit der Anwendung der li en der Pı a tiker in wissenschaftlichen Fragen zu sein hat. Als ich im Jahre 1876 Rimpau besuchte, wuchs die Elite seiner Rasse auf einem kleinen Feldehen, das ringsherum von anderen Kulturen mit Ausnahme aller Getreidearten umgeben war, übrigens sich aber inmitten seiner Äcker, auf demselben Boden und in gleicher Lage befand. Das große Hioreckipe Feld, dessen Mitte die Elite on, war auf len Seiten von einem hohen und dichten Haine von Gebüsch umringt. Sowohl dieser Zaun wie jene Entfernung hatten den Zweck, sh zufälligen Übertragung fremden Bintenstaubes vorzubeugen. Die Düngung des Feldchens und die Behandlung seines Be- standes waren dieselben wie bei der Großkultur. Es gehörte das zum Prinzip, da die Selektion unter genau denselben äußeren Be- dingungen stattfinden sollte, denen die Rasse späterhin ausgesetzt sein würde. Rimpau hatte seinen Versuch im Jahre 1867 angefangen. Im Sommer dieses Jahres hatte er auf allen seinen Roggenfeldern, zur Zeit der Reife, sich nach den besten Ähren umgesehen. Er brachte davon eine kleine Sammlung nach Hause, prüfte und sortierte die einzelnen Ähren abermals, und als er sich von der Vorzüglichkeit 399 De Vries, Ältere und neuere Selektionsmethoden. seines Materiales überzeugt hatte, machte er es zum Ausgangspunkt seiner ganzen späteren Rasse. Er mischte dazu die Körner der einzelnen Ähren und säte sie auf dem beschriebenen Feldchen aus. Dieser Anfang aus einer bedeutenden Menge einzelner ausge- wählter Ähren halte ich für einen ganz bestimmten Zweck. Jede Ähre entstammt einer anderen Pflanze, die meisten unter ihnen verschiedenen Feldern und Teilen seiner Domäne, alle gehörten sie aber derselben, damals von ihm kultivierten Sorte an. Sie waren in einer bestimmten Richtung die vorzüglichsten Repräsen- tanten dieser Varietät. Sie waren besonders nach Länge und Stärke der Ähren, sowje nach Zahl und Größe der Körner ausgewählt, und diese Merkmale gehören noch jetzt zu den auffallendsten der Rasse. Rimpau war sich aber darüber klar, dass er bei seiner Selektion einerseits auf möglichst zahlreiche Eigenschaften zu achten hatte, andererseits aber doch bei weitem nicht alle wahrnehmen und berücksichtigen konnte. Um nun nicht durch eine zufällige falsche Auswahl dieser unbeachteten Eigenschaften vielleicht mehr zu verlieren als er durch die Selektion der übrigen gewinnen würde, folgte er der bereits erwähnten Vorschrift, jene durch Mischung zahlreicher Individuen im mittleren Zustande zu erhalten, sie also so bleiben zu lassen, wie sie in der gewöhnlichen Sorte vorhanden waren. Aus diesem Grunde hat er nicht nur im ersten Jahre, sondern auch in allen folgenden Generationen eine gewisse Anzahl von Ähren ‘von verschiedenen Individuen seiner Elite ausgewählt, und ihre Körner für das nächste Jahr gemischt ausgesät. Eine besondere Sorge hat Rimpau dem Ausschlusse aller solcher Exemplare gewidmet, welche durch spezielle und deutlich erkenntliche äußere Bedingungen bevorzugt waren. Denn sie konnten dadurch reichere Ähren erhalten haben, ohne dass diese eine Anweisung entsprechender innerlicher Anlagen wären. Die Ähren des Randes wurden somit vernachlässigt, ebenso die Pflanzen, welche durch Ausfall eines Nachbars einen verhältnismäßig zu weiten Stand gehabt hatten. Jedes Jahr wurde genau nach denselben Prinzipien gehandelt und dasselbe ideale Vorbild bei der Selektion als Richtschnur fest- sehalten. Rimpau meinte, dass diese Konstanz in der Züchtung eine der wesentlichsten Bedingungen des Erfolges war. Nach einigen Jahren war ein Fortschritt deutlich bemerklich, und die Ernte des Elitefeldehens wurde dementsprechend in drei Teile geteilt. Einerseits wurden die ersten Ähren im genügender Menge zur Fortsetzung der Stammkultur ausgewählt. Andererseits wurde alles Untaugliche weggeworfen. Der Rest aber wurde auf einem benachbarten Acker zur Vermehrung ausgesät, um das Saat- gut zuerst für einen Teil, bald aber für sämtliche Roggenfelder der Domäne zu liefern. In dieser Weise konnte Rimpau seine De Vries, Ältere und neuere Selektionsmethoden. 393 ganze Ernte auf Grund seines Selektionsversuches allmählich be- deutend steigern. Er brauchte jedesmal 5—4 Jahre, um die Ernte der Elite soweit zu vermehren, dass sie alles erforderliche Saatgut liefern konnte. Inzwischen wurde die Selektion alljährlich in derselben Rich- tung fortgesetzt, und der Fortschritt der Rasse wurde immer be- deutender. Nach 20 Jahren war der Ruf seines Roggens soweit gestiegen, dass er allmählich die ganze Ernte seiner Domäne als Saatgut verkaufen konnte, wodurch sein Gewinn ein ganz erheb- licher wurde. Wie bereits bemerkt, fand der Schlanstedter Roggen im Norden Frankreichs und Deutschlands immer zunehmenden Absatz, für die südlicheren Klimate stellte er sich aber nicht als empfehlenswert heraus. Soviel mir bekannt, hat Rimpau die Selektion bis zu seinem Tode in dem gleichen Sinne fortgesetzt. Der Versuch umfasst also im ganzen etwa 35 Jahre. Wir gelangen jetzt zu der Besprechung einer anderen Frage, welche gleichfalls für die Anwendbarkeit solcher Züchtungen auf theoretische Probleme von größter Bedeutung ist. Ist die Rasse, nach so langer Selektion, am Ende eine konstante, von der weiteren Auswahl unabhängig geworden, oder schlägt sie allmählich im die landesübliche Form zurück, sobald die Selektion aufhört. Rimpau war bekanntlich der letzteren Meinung und an seine Ansicht habe ich mich bei der Darstellung dieser Methode in meinem Werke über die Mutationstheorıe angeschlossen. Hier stoßen wir aber auf eine Schwierigkeit. Das Interesse des Landwirtes an dieser Ansicht ist ein ganz erhebliches. Denn ist eine selektierte Rasse konstant und von der Elite unabhängig, so kann ein jeder sie mit Vorteil vermehren, schlägt sie aber in eine minderwertige Form zurück, so bleibt der Verkauf des Saat- gutes ganz oder doch nahezu ganz in den Händen des Urhebers. Folgen die Landwirte der ersteren Ansicht, so produzieren sie ihr Saatgut selbst, folgen sie der letzteren, so müssen sie es teuer be- zahlen. Über dieses Interesse orientiert man sich am leichtesten durch die Lektüre der 'oben zitierten Graf-Arnim’schen Preisliste. Es ist klar, dass die wissenschaftliche Diskussion auf diese Punkte keine Rücksicht zu nehmen hat. Tatsache ist es, dass die selektierten Getreidesorten bei der Kultur im großen allmählich an Güte verlieren und dass somit der Ankauf von Originalsaatgut immer empfohlen werden muss. Auf der anderen Seite aber sind mannigfache Bedenken gegen die ge- wöhnliche Erklärung dieses Rückschrittes erhoben worden. Man behauptet, dass die Rassen an sich konstant seien, aber durch Ver- mischung zurückgehen. Unter den Ursachen dieses Prozesses seien Beimischung fremder Saatkörner und Kreuzang mit den benach- barten landesüblichen Sorten die bedeutendsten. Rimpau selbst 394 De Vries, Ältere und neuere Selektionsmethoden. hat durch Versuche gezeigt, dass geringfügige Verunreinigungen dieser Art sich so stark vermehren können, dass sie in wenigen Jahren nahezu die ganze verbesserte Rasse ersetzen können. Sie werden dazu durch ihre geringeren Ansprüche und ihre größere Widerstandsfähigkeit in den Stand gesetzt. Schribaux behauptet speziell vom Schlanstedter Roggen, dass er ın Frankreich genau ebensogut vermehrt werden kann wie zu Schlanstedt, wenn man nur diese Ursachen der Verunreinigung ausschließt. Die Anhänger der Theorie der allmählichen Umwandlung der Arten berufen sich auf diesen Erfolg der landwirtschaftlichen Selektion. Genau so wie diese am Ende konstante Rassen liefert, welche später von der Auswahl unabhängig sind und nicht mehr zurückschlagen, sollen auch ın der Natur die konstanten und scharf getrennten Arten anfangs durch allmähliche natürliche Auslese entstanden sein. Dieser Ansicht entreißen nun die oben skizzierten Nilsson’- schen Versuche den Boden gänzlich. Wir wollen deshalb die Rimpau’sche Kultur von diesem Gesichtspunkte aus einer Kritik unterwerfen. Nilsson fand, wie wir gesehen haben, dass die üblichen Varietäten von Getreide, mit Einschluss des Roggens, keineswegs einförmig sind, wie man damals allgemein glaubte, sondern aus Hunderten von Einzeltypen zusammengesetzt sind. Er entdeckte die Methode, diese zu isolieren und auf ihren landwirtschaftlichen Wert zu prüfen. Er fand, dass die abwechselnden Ähren, welche man auf den Äckern auslesen kann, bei Einzelaussaat konstante und wohl unterschiedene Rassen geben. Er beobachtete ferner, dass der anfänglichen Wahl stets Unsicherheiten ankleben, denen zufolge anscheinend gleiche Ähren, wenn von verschiedenen Indi- viduen gepflückt, oft sehr verschiedene Rassen erzeugen. Wenden wir diese Erfahrungen auf Rimpau’s anfängliche Wahl an. Er suchte die abweichenden Ähren seiner Felder zu- sammen. Allerdings wählte er sie nach einem und demselben idealen Vorbilde, aber er kannte die erst viel später von Nilsson entdeckten Unterschiedsmerkmale noch nicht. Seine Auslese muss also, trotzdem sie anscheinend ein gleichmäßiges Material lieferte, doch tatsächlich ein buntes Gemisch gewesen sein. Aus diesem Gemische wählte er jährlich nach demselben Ideale aus, mit dem Erfolge, dass er sich seinem Vorbilde allmählich mehr näherte. Gibt man diese Auffassung seiner anfänglichen Auswahl zu, so folgt alles übrige von selbst. Seine jährliche Selektion musste langsam aber sicher aus dem Gemisch alles entfernen, was seinem Ideale weniger genau entsprach, bis er schließlich nur eine einzelne elementare Art übrig behielt. Sobald das erreicht wurde, war aber seine Rasse konstant geworden, sie konnte durch weitere Selektion Groß, Uber einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 395 nicht in nennenswerter Weise verbessert werden und war auch, beim Verkauf im großen, frei von jeder inneren Ursache des Rückschrittes. Denn diese Ursachen lagen bis dahin nur in ihrer gemischten Natur, welche bei veränderten Bedingungen selbst- verständlich sofort die gegenseitige Menge der Bestandteile ändern würde. Wir dürfen ferner hieraus das Folgende ableiten. Hätte Rimpau im Jahre 1867 unsere jetzigen Kenntnisse der Variabilität der Getreidearten zu seiner Verfügung gehabt, so hätte er wahr- scheinlich seine Anfangsähren genau so ausgewählt, wie er es getan hat, er hätte aber ihre Körner für jede einzelne Ähre getrennt ausgesät. Er hätte dann im nächsten Jahre die so erhaltenen Eliten miteinander und mit seinem idealen Vorbilde verglichen und sofort gefunden, dass eine dem letzteren besser entsprach als alle übrigen. Diese letzteren würde er dann ohne weiteres ausgemerzt und nur von der einen besten seine Kultur fortgesetzt haben; er würde dann auch die Rasse sofort konstant gefunden haben. Oder mit anderen Worten, er hätte genau dieselbe Rasse, welche jetzt den Namen. seiner Domäne berühmt macht, mittelst einer einzigen Wahl isoliert und sie in wenigen Jahren ohne weitere Selektion derart vermehrt, dass er sie in den Handel bringen könnte. Er hätte nicht 20-25, sondern nur vier oder fünf Jahre gebraucht, um genau dasselbe Ziel zu erreichen. Es bedarf wohl keiner weiteren Ausführung, dass diese, auf Grund der Nilsson’schen Erfahrungen gegebene Kritik der Methode der langsamen Verbesserung der Kulturpflanzen, der Ansicht von der entsprechenden langsamen Umbildung der Arten ihre wichtigste Stütze entreisst. Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Von Dr. J. Grofs. (Aus dem zoologischen Institut zu Gießen.) Wenig Arbeiten haben ein so eigentümliches und für die Ge- schichte der Wissenschaften so lehrreiches Schicksal gehabt, wie Gregor Mendel’s Versuche über Pflanzenhybriden (1865 u. 1869). Bei ihrem Erscheinen nur wenig beachtet, gerieten sie bald in Vergessenheit, und jahrzehntelang kümmerte sich kem Forscher um die wichtigen Vererbungsexperimente und die scharfsinnigen Schlussfolgerungen, die in Mendel’s Schriften niedergelegt waren. Als sie dann aber, lange nach dem Tode des Verfassers, wieder aufgefunden wurden, gelangten sie in wenig Jahren zu hoher Be- rühmtheit und wurden die Grundlage für zahlreiche neue For- schungen, die schon jetzt eine ansehnliche Literatur hervorgerufen 396 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Varıation. ? = [e) [o} haben, sowohl in der Botanik, als in der Zoologie. Der Zeitpunkt, da Mendel’s Arbeiten durch Correns, Tschermak und de Vries für die Wissenschaft neu entdeckt wurden, konnte aber ın der Tat auch nicht besser gewählt werden, um ihren Wert mit einem Schlage in das hellste Licht zu rücken. Denn mittlerweile hatte sich die Forschung auf einem ganz anderen Wege der Lösung der schwierigsten Vererbungsfragen so weit genähert, dass endlich wirk- liches Verständnis für die große Bedeutung der Mendel’schen Ex- perimente möglich wurde. Lange Zeit kam die mikroskopische Erforschung des Reduktionsproblems, das ja den Kernpunkt aller zytologischen Vererbungstheorien bildet, nicht recht vom Fleck, trotz zahlloser mühsamer Untersuchungen von namhaften Zoologen und Botanikern. Ja es schien fast, dass durch jede neue Arbeit die Verwirrung noch größer, die Lösung des Rätsels ın noch weitere Ferne gerückt würde. Erst in den allerletzten Jahren hat sich auf diesem Gebiete ein Umschwung vollzogen; und heute herrscht, wenigstens über die wichtigsten einschlägigen Fragen, erfreuliche Übereinstimmung bei der Mehrzahl der beteiligten Forscher. Ganz allmählich, Schritt für Schritt, und unter all- seitiger eifriger Mitarbeit hat sich dieser Fortschritt vollzogen; es dürfte deshalb für eine geschichtliche Darstellung schon heute schwer sein, die Verdienste der einzelnen Forscher klar heraus- zustellen und gegeneinander abzuwägen. Als die wichtigsten Er- gebnisse aus der zytologischen Erforschung des Reduktionsproblems in den letzten Jahren betrachte ich zweierlei: den Nachweis des wirklichen Vorkommens von echter, qualitativer Reduktion und die Entdeckung, dass den Reifungsteilungen eine Konjugation väter- licher und mütterlicher Chromosomen vorherzugehen pflegt. Der langwierige Streit um den einen Hauptpunkt der ganzen Frage ist also endlich geschlichtet. Zoologen und Botaniker sind jetzt in ihrer überwiegenden Mehrzahl darin einig, dass durch die Reifungs- erscheinungen nicht nur eine numerische, sondern auch eine qualitative Ohromatinreduktion bewirkt wird. Was Weismann vor Jahren aus rein theoretischen Gründen gefordert, und woran er trotz allen Widerspruchs konsequent festgehalten hat, das wird jetzt fast all- gemein anerkannt und beginnt zum gesicherten Besitz der Wissen- schaft zu werden. Neu hinzugekommen ist dann durch die Forschung der letzten Jahre die Erkenntnis, dass in jeder Urkeimzelle zweierlei Chromosomen angenommen werden müssen, väterliche und mütter- liche. Diese konjugieren in den meisten Fällen in den Vorstadien der Reifungserscheinungen und werden durch eine der beiden Tei- lungen wieder voneinander geschieden, während die andere Reifungs- mitose jedes von ihnen halbiert. Von je zwei Chromosomen erhält so nach der heutigen Auffassung jede reife, reduzierte Keimzelle nur eines, ein väterliches oder ein mütterliches. Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 397 In diesen beiden Punkten liegt der wesentliche Fortschritt, den die neuesten Untersuchungen herbeigeführt haben. Neben ihnen kommt anderen Fragen, die noch heute lebhaft diskutiert werden, geringere Bedeutung zu. Ob die Chromosomen sich zur Konjugation der Länge nach oder mit den Enden aneinander legen, welehe von beiden Mitosen die eigentliche Reduktionsteilung ist, alles das ist für die Hauptfrage irrelevant. Ich halte es sogar für das Wahrscheinlichste, dass in bezug auf diese Dinge tatsäch- lich große Mannigfaltigkeit in den verschiedenen Gruppen von Organismen herrscht. Wenn einige Forscher versuchen, einen ein- zigen Reduktionsmodus aufzustellen, nach dem sich die Reifung der Keimzellen bei allen Tieren und Pflanzen vollziehen soll, so erscheint mir ein solches Beginnen als sehr bedenklich und dem Fortschritt der Wissenschaft nicht förderlich. Noch neuerdings haben uns kurz nacheinander Goldsehmidt (1905) an emem Trema- toden Zoogonus und Prandtl (1905) an einem Infusor Didimium gezeigt, dass in gewissen Fällen sogar die Konjugation der Chromo- somen unterbleiben kann. Ferner haben Häcker (1903) bei Cope- poden und ich bei Syromastes (1904) und, in einer im Druck be- findliehen Arbeit, auch bei Pyrrhocoris, also bei zwei Hemipteren, einen ebenfalls etwas abweichenden Reifungstypus beschrieben. Bei den genannten Tieren tritt, im einzelnen in verschiedener Weise, ein eigentümlicher Vorgang auf, den Häcker!) Symmixis eenannt hat. Hierbei werden während der Reifungserscheinungen Chromosomen oder Chromosomenhälften gegeneinander ausgetauscht, so dass schließlich jedes Chromatinelement in der reifen Keimzelle sich aus einem „großväterlichen* und einem „großmütterlichen‘“ Bestandteil zusammensetzt. Ich glaube, es geht nicht an, einem allgemeinen Schema zuliebe, die Beobachtungen der genannten Forscher einfach für irrig zu erklären. Die oben skizzierten Fortschritte in der Zytologie fielen nun fast genau zusammen mit der Entdeckung von Mendel’s Arbeiten. Diese mussten jetzt natürlich ganz anderes Verständnis finden und in viel höherem Grade das Interesse der wissenschaftlichen Welt erregen, als einst bei ihrem ersten Erscheinen. Was Mendel mit bewundernswertem Scharfblick aus seinen Versuchen gefolgert hatte, die anscheinend paradoxe Möglichkeit reiner Gameten in den Sexual- organen von Bastarden, das wurde jetzt durch die Zellforschung gewährleistet. Zuchtexperiment und mikroskopische Untersuchung der reifenden Keimzellen stimmten aufs schönste zusammen. Eın solches Begegnen von zwei ganz verschiedenen Forschungsmethoden 1) Häcker’s Befunde sind von L&rat (1905) angefochten, aber, wie mir scheint, noch nicht widerlegt worden. Um allen Eventualitäten gerecht zu werden, habe ich den von Häcker angenommenen Reduktionsmodus deshalb in den Kreis meiner Betrachtungen gezogen. 395 Groß, Uber einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. in ihren Resultaten gehört immer zu den glücklichsten Ereignissen in der Geschichte der Wissenschaften, und beide beteiligten Rich- tungen pflegen daraus reichen Nutzen zu ziehen. So auch in unserem Falle. Der Zytologie war ein höchst schätzenswerter Beweis ge- liefert, dass sie sich in einem ihrer schwierigsten Gebiete auf dem rechten Wege befindet. Ihr ganzes Hypothesengebäude hat durch das Experiment ein sicheres Fundament erhalten. Und der experi- mentellen Forschung erwachsen jetzt aus der Bundesgenossenschaft mit der Mikroskopie ganz neue, prägnante Ziele und die vielseitigste Anregung. So ıst es denn kein Wunder, dass bei allen beteiligten Forschern die Freude groß war über die Auffindung der Mendel’schen Ar- beiten durch die drei eingangs genannten Botaniker, und dass die ganze Vererbungsforschung einen mächtigen Aufschwung nahm. In schneller Folge erschien eine große Zahl von Arbeiten, die es versuchten, die neu erbohrte Wahrheitsquelle nach allen Rich- tungen auszuschöpfen. Eine ganze Reihe von Erklärungsversuchen der merkwürdigen Vererbungserscheinungen, mit denen Mendel uns bekannt gemacht hat, sind veröffentlicht und wichtige Kon- sequenzen aus ıhnen gezogen worden. Wir dürfen uns aber nicht verhehlen, dass noch vieles dunkel ıst und der befriedigenden Deutung noch harrt. Ich möchte es ın dem vorliegenden Aufsatz versuchen, den Tatsachen eine bessere Begründung zu geben, als es bisher, wie mir wenigstens scheint, geschehen ist, und dann vom Standpunkt der Entdeckungen Mendel’s aus einige verwandte Erscheinungen beleuchten. Mendel’s') Vererbungsregel zerfällt bekanntlich in zweı Teile. Den ersten will ich mit Correns die Prävalenz-, den zweiten die Spaltungsregel nennen. Eine Erklärung ıst bis jetzt hauptsächlich für dıe ın der zweiten Regel zusammengefassten Gruppen von Tat- sachen versucht worden. Schon Mendel selbst zog bekanntlich aus seinen Experimenten den Schluss, dass die Bastarde reine Ga- meten bilden, in denen nur je dıe Anlagen für die Merkmale der einen Stammform enthalten sind. Und diese Theorie ist unter- dessen durch die mikroskopische Forschung in wünschenswerter Weise bestätigt worden. Bei den allermeisten beschriebenen Re- duktionstypen ist nach dem heutigen Stande der Wissenschaft die Bildung reiner Gameten allerdings möglich. Eine Ausnahme bilden nur die von Häcker und mir mitgeteilten Fälle, bei denen es zu einem Austausch väterlicher und mütterlicher Chromosomen kommt. 1) Ich sage mit Absicht Regel und nicht Gesetz, wie es bei den deutschen Zoologen fast allgemein üblich ist. Denn es handelt sich hier gewiss nicht um Naturgesetze im eigentlichen Sinne, sondern um die Zusammenfassung von Er- scheinungen, die unter ganz bestimmten, noch nicht genau bekannten Bedingungen einzutreten pflegen. Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 399 Denn auf diesem Wege können natürlich keine reinen Gameten gebildet werden — wenigstens nicht von den Hybriden erster Generation. Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, hat Häcker (1904) die Annahme gemacht, dass in den Mendel’schen Fällen die Symmixis unterbleibt. Etwas Gezwungenes hat aber auch dieser Ausweg. Ich glaube, mam wird sich nicht leicht zu der Annahme entschließen, se bei ein und derselben Spezies die Reifungsteilungen in verschiedener Weise ablaufen und doch funktionsfähige Keim- zellen ergeben können. Es liegt aber auch noch gar kein zwingender Grund zu dem von Häcker angestellten Erklärungsversuch vor. So lange die Geltung der Mendel’schen Regeln für die in Frage kommenden Formen — Copepoden und zwei Hemipterenspezies — noch nicht experimentell nachgewiesen ist, dürfte es sich vielmehr empfehlen, auch mit Erklärungen noch zurückzuhalten. Es ist sehr wohl möglich, dass bei diesen Formen das Verhalten der einzelnen Bastardgenerationen ein anderes ist, als bei anderen Tieren und Pflanzen, entsprechend dem abweichenden Reduktionsmodus, dass also für sie die Mendel’schen Regeln gar nicht in Betracht kommen. Viel ernster und schon jetzt aktuell ist ein anderes Bedenken, dass die ganze Auffassung von der Reinheit der Gameten betrifft. Bekanntlich sind die Mendel’schen Fälle ganz im allgemeinen verhältnismäßig recht selten. Nur ganz bestimmte Bastarde richten sich nach der Regel und zeigen die Erscheinungen des Dominierens und der gesetzmäßigen Spaltung im Verhältnis von 3:1. Bei weitem größer ist die Zahl der intermediären Bastarde, die bei Inzucht wohl stark variieren können, aber niemals rein in die Stammformen zurückschlagen. ‚Und zwar finden sich intermediäre und Mendel’sche Bastarde innerhalb derselben Spezies, also wahr- scheinlich auch bei dem gleichen Verlauf der Reifungsteilungen. Wenn also, wie die zytologischen Forschungen der letzten Jahre gezeigt haben, die Chromatinreduktion imstande ist, Reinheit der Gameten zu bewirken, wenn aber trotzdem die Kreuzung ver- schiedener Formen in der Mehrzahl der Fälle intermediäre Hybride zur Folge hat, so müssen Einrichtungen vorhanden sein, die die Bildung von reinen Gameten verhindern. Das ist ja auch schon lange erkannt worden. Und es sind bereits mehrere Versuche ge- macht worden, die hierin liegende Schwierigkeit zu beseitigen. Ich habe soeben schon erwähnt, dass Häcker (1904) die reinliche Scheidung zwischen -väterlichen und mütterlichen Merk- malen, wie sie in den Mendel’schen Fällen zutage tritt, durch das Unterbleiben der Symmixis, also durch einen nicht ganz regulären Verlauf der Reifungsteilungen erklären will. Aber diese Argu- mentation könnte doch besten Falles nur für solche Organismen gelten, bei denen derselbe oder ein ähnlicher Reduktionsmodus herrscht, wie bei Häcker’s Objekten. 400 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Allgemeinere Geltung könnte Sutton’s (1903) Hypothese be- anspruchen, der sich auch Boveri (1904) angeschlossen hat. Sutton sucht die Möglichkeit intermediärer Bastarde neben Mendel’schen durch die Annahme zu erklären, dass die Verbindung der kon- jugierenden Chromosomen von sehr verschiedener Innigkeit sein könne, Während es sich in den typischen Mendel’schen Fällen nur um eine lockere, vorübergehende Verkuppelung handelt, sollen die Chromosomen sonst dauernd und so völlig verschmelzen, dass sie geradezu ein neues Chromosom bilden, das dann nur einer Äquationsteilung unterliegen kann. Auf diese Weise müssen natür- lich alle entstehenden Keimzellen von gleicher Beschaffenheit werden. Sutton findet das Unterscheidende der beiden verschiedenen Kreuzungsphänomene in einer größeren oder geringeren „Affinität“ des väterlichen und mütterlichen Chromatins, wie das ja auch Häcker tut. Nur verlegt Sutton den entscheidenden Moment etwas weiter zurück, nämlich in das Synapsisstadium. “ Wie das Verschmelzen der konjugierenden Chromosomen vor sich gehen soll, hat Sutton noch nicht näher erörtert. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass die Konjugation der Chromosomen gar nicht immer in der Synapsis geschieht, während welchen Stadiums man sich noch am ehesten die von Sutton angenommene völlige Ver- schmelzung vorstellen könnte. Oft genug vollzieht sie sich offenbar erst später, während der Wachstumsperiode. Am weitesten ins spezielle durchgebildet ist endlich der Erklä- rungsversuch von de Vries(1903b). Er geht von pflanzlichen Verhält- nissen aus, wo die Konjugation der Chromosomen, wie es scheint, immer in der Längsrichtung vor sich geht. In jedem Kernfaden sollen die entsprechenden Mikrosomen, Chromiolen oder Chromomeren, und ın ihnen die Anlagen für bestimmte Merkmale in genau derselben Reihen- folge liegen. „Schmiegen sich dann die Fäden der Länge nach paarweise aneinander, so können wir uns vorstellen, dass jedesmal die gleich- namigen Anlagen der beiden Vorkerne einander gegenüberliegen werden.“ '„Bildet jede Anlage, d. h. also jede innere Eigenschaft oder jeder stoffliche Träger einer äußeren Eigentümlichkeit, in jedem Vorkern!) eine Einheit, und Jiegen die beiden gleichnamigen Anlagen in irgend einem Moment einander gegenüber, so kann man annehmen, dass sie einfach gegeneinander ausgetauscht werden. Nicht alle, denn das würde nur den väterlichen Vorkern zum mütter- lichen machen, sondern ein größerer oder auch nur ein kleinerer Teil. Wie viele und welche kann dann einfach dem Zufall über- lassen bleiben. Es werden dadurch alle möglichen neuen Kombi- 1) Unter „Vorkern“ versteht de Vries hier nicht, wie es in der Zoologie üblich ist, männlichen und weiblichen Pronukleus, sondern die väterlichen und mütterlichen Gonomeren in den Keimzellen. Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 401 nationen von väterlichen und mütterlichen Anlagen in den beiden Vorkernen auftreten, und wenn diese dann bei der Bildung der Sexualzellen sich voneinander scheiden, so wird jede zum Teil väterliche, zum Teil mütterliche Anlagen in sich beherbergen.“ Durch diesen Austausch von Anlagen muss es dann bewirkt erden dass an den Nachkommen eines "Elternpaares die väterlichen und mütterlichen Charaktere in allen denkbaren Mischungsverhältnissen sichtbar werden, wie es uns die intermediären Belärde in. der Tat zeigen. Die Abweichimg von dieser Regel in den Mendel’schen Fällen glaubt de Vries ebenfalls ın Fi einfacher Weise erklären zu können. Er meint, diejenigen Varietäten, deren Merkmale sich ‚nieht dureh Kreuzung mit den stammelterlichen mischen lassen, sondern ın zmaßeen Folge immer wieder rein auftreten, tersüeden: sich von der Art in der Regel durch das Fehlen einer bestimmten Eigenschaft, z. B. eines Farbstoffes ın den Blüten, der Behaarung, des Bee von Dornen ete. Die Anlage im Keimplasma für diese fehlende Eigenschaft denkt sich de Vries in den Mendel’schen Fällen nun ah etwa zugrunde gegangen, sondern, wie er das schon in seiner Mutationstheorie (1903 a) Su en hatte, nur latent geworden. Dass die betreffenden An- BD noch enden sind, hew eisen die Rückschläge in die Stamm- En die bei allen haar Varietäten nicht ganz a auftreten, und bei denen nach de Vries die latente Anlage wieder aktiv geworden ist. Unter Zugrundelegung dieser V orstellung lassen Sich in der Tat alle We elechen Biechemiunzen ungezwungen erklären. In den somatischen Zellen der Hybride erster Generation liegen aktive und latente Anlagen nebeneinander. Wirksam können nur die aktiven sein, der Destard muss daher dem der Stammform angehörigen Elter chechlsn: Durch den Austausch der Anlagen ae die Sexualzellen diese dann in verschiedenartigster Mischung. Jedoch erhält jeder Ei- oder Spermakern immer nur eine aktive oder eine latente Anlage. Es werden also im bezug auf ein Merk- mai reine Gameten gebildet. Werden die Hybride unter sich ge- kreuzt, so wird es in der Hälfte der Zygoten zur Vereinigung von aktiven und latenten Anlagen kommen, ein Viertel wird nur aktıve, und eines nur latente Anlagen enthalten. Da ferner die letzteren bei gleichzeitiger Anw erhält der aktiven nicht zur Geltungkommen, müssen von Alan Hybriden zweiter Generation drei Viertel das Merkmal der Stammform tragen, und nur ein Viertel der Varietät angehören. Die Hybride zerfallen also in zwei scharf gesonderte Gruppen und zwar genau in den von Mendel beobachteten Zahlen- verhältnissen. De Vries’ Überlegungen erklären mithin sowohl Prävalenz- als Spaltungsregel zufriedenstellend. Dabei haben sie noch den großen Vorzug, dass sie alle anderen Eigenschaften der in Betracht XXVI. 26 402 Groß, Uber einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. kommenden Pflanzen von den Mendel’schen Merkmalspaaren un- abhängig machen. Alle anderen Charaktere können selbständig varıieren und sich in beliebiger Weise mischen. Nur das eine Merkmalspaar richtet sich nach der Regel. Auch das ist mit den Beobachtungen ım besten Einklang. Und doch stehen auch diesem Erklärungsversuch gewichtige Bedenken entgegen. Von vornherein kann er nur zutreffen für Pflanzen und für solche Tiere, bei denen sich die Chromosomen zur Konjugation der Länge nach aneinander legen. Bei allen anderen aber ist ein Austausch von Anlagen, wie ihn de Vries sich denkt, nicht möglich. Auch dürfte es nicht angehen, in allen Mendel’schen Fällen den Unterschied der beiden Formen auf das Fehlen einer Eigenschaft bei der einen zurück- zuführen. Für den Albinismus, für Unterschiede in der Ausstattung mit Haaren und Dornen und einige andere könnte man die Voraus- setzung zugeben. Aber z. B. die „Angorahaarigkeit“, oder Über- zahl von Zehen sind doch Merkmale, die sich kaum durch Fehlen einer Eigenschaft erklären lassen, und trotzdem richten sie sich nach den Mendel’schen Regeln. Mithin erweist sich auch die Er- klärung durch Annahme latent gewordener Anlagen als zu eng und kann nicht allen Tatsachen gerecht: werden. Den neuesten, von seinen Vorgängern wieder erheblich ab- weichenden Versuch, die Mendel’schen Regeln zu deuten, hat schließlich Ziegler (1905) gemacht. Er lehnt ein Eingehen auf kleinere Vererbungsemheiten als die Chromosomen grundsätzlich ab, weil ihre Existenz noch zu hypothetisch sei, um mit ihnen schon bei der Erklärung von Tatsachen zu rechnen. In jedem Chromosom lässt er das ganze Keimplasma enthalten sein, und zwar nur einmal. Die Chromosomen sind also untereinander wohl qualitativ ver- schieden, potentiell aber gleichwertig. Die Anlagen für jedes selb- ständig variierende Merkmal sind mithin im Kern sovielmal ent- halten, als die Normalzahl seiner Chromosomen beträgt. UÜberträgt man diese Vorstellungen auf die Mendel’schen Fälle, so ergibt sich folgendes. „Es werden zwei verschiedene Sorten gekreuzt, welche in einem Merkmal differieren, und in der kommenden Gene- ration finden wir keine Mischung in bezug auf dieses Merkmal. Diese Generation enthält gleich viele Chromosomen vom Vater und von der Mutter. Man kann also sagen: dominierende Merk- male sind solche, welche bei gleicher Chromosomenzahl vorherrschend werden. In der folgenden Generation zeigt ein Viertel der Exem- plare das rezessive, die übrigen das domiierende Merkmal. Es entstehen dreierlei Individuen, erstens solche, welche das rezessive Merkmal zeigen und dieses konstant auf ihre Nachkommen ver- erben, zweitens solche, welche das dominierende Merkmal zeigen und dieses konstant auf ihre Nachkommen vererben, drittens solche, welche das dominierende Merkmal zeigen und dieses nicht konstant, Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 40 sondern wieder unter ähnlicher Spaltung vererben. Die Zahlen dieser drei Sorten von Individuen verhalten sich zuemander wie 25:25 :50.* „Die obengenannten drei Sorten ergeben sich daraus, da in Me der ersten Abteilung die Uhromosomen_ des- jenigen Individuums prävalieren (d.h. die Überzahl haben), welches das rezessive Merkmal hatte, in der zweiten Abteilung die Chromo- somen desjenigen Individuums, welches das dominierende Merkmal hatte, während in der dritten Abteilung beiderlei Chromosomen in annähernd gleicher Zahl vorhanden sind und folglich das dominierende Merkmal zutage tritt.“ Wie Ziegler selbst zugibt, genügt seine Erklärung nur unter der Bedingung, dass alle Chromosomen eines Kernes potentiell gleichwertig sind. Dieses ist nun aber für keinen einzigen Organismus bewiesen. Und einfach a priori braucht die Annahme nicht richtig zu sein. Das haben uns Boveri’s (1902) berühmte Experimente gezeigt. Im Seeigelkeim sind die Chromo- somen sicher nicht alle die Träger der gleichen Vererbungsanlagen. Und die verschiedene Größe der Chromosomen ın den Kernen von Insekten und anderen Tieren lässt es auch für diese wahrschemlicher erscheinen, dass jedes Chromosom von seinen Geschwistern ver- schieden ist und nur einen Teil des ganzen Keimplasmas enthält. Für die überwiegende Mehrzahl der Organismen werden wir viel- leicht die Frage nie entscheiden können. Aber um so mehr muss es von einer Vererbungshypothese, die auf der Höhe der Zeit stehen will, verlangt werden, dass sie beiden Möglichkeiten gerecht wird. Doch selbst unter der Voraussetzung, dass alle Chromosomen eines Kernes potentiell gleichwertig sind, reicht Ziegler's Erklärungs- versuch nicht aus. Denn die Keimzellen seiner ersten und zweiten Abteilung enthalten neben den prävalierenden Chromosomen noch die anderen, wenn auch in geringerer Zahl, sind also keineswegs reine Gameten. Züchtet man die aus ihrer Vereinigung hervor- gegangenen Organismen in Inzucht weiter, so müssen in den Zellen ihrer Nachkommen wieder alle möglichen Kombinationen der zwei Sorten von Chromosomen auftreten. Genügend große Zahlen von Individuen vorausgesetzt, müssen demnach auch in jeder Brut Fälle vorkommen, bei denen sch die ursprünglich in der Minderzahl vor- handenen Chromosomen so sehr anhäufen, dass sie das Übergewicht erlangen. Es können also auch diese beiden Abteilungen von Hybriden nicht rein weiterzüchten, wie es die Regel verlangt, sie müssen vielmehr ebenfalls spalten, wenn auch nach anderen Zahlen- gesetzen, als die Bastarde erster Generation. Die Mendel’schen Regeln könnten also nie vollkommen zur Geltung kommen. Sie verlangen eben unbedingt die Bildung von reinen Gameten. So genügt also keiner der bisherigen Erklärungsversuche allen Tatsachen. Aber ein jeder von ıhnen enthält wertvolle Ansätze zu einer vollkommen befriedigenden Deutung. Und jedem von 26* 04 Groß, Uber einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Er © oO ihnen werde ich wichtige Gedanken zu entnehmen haben, wenn ich es jetzt versuche, durch eine neue vorläufige Hypothese wenigstens den bis jetzt bereits erkannten Schwierigkeiten zu be- gegnen. Mein Ausgangspunkt wird dabei Weismann’s Keim- plasmatheorie sein, und im ganzen Verlauf meiner Auseinander- setzung wird der Kenner der Weismann’schen Werke den Einfluss seiner Gedanken merken, auch wo ich seinen Namen nicht aus- drücklich nenne. Je tiefer man sich in den Ideenkreis eines Forschers hineingelebt hat, um so leichter vergisst man es ja, sich immer Rechenschaft davon zu geben, dass man mit seinen Gedanken operiert. Mit Weismann betrachte ich das Chromosom als einen Idanten, der sich zusammensetzt aus Iden, welche unter sich po- tentiell gleichwertig sind. Setzt man, wie das z. B. Ziegler tut, Gleichwertigkeit der Chromosomen voraus, so sind natürlich alle Ide des Kernes ebenfalls gleichwertig. Dann enthält eben jedes bereits das gesamte Keimplasma in sich. Wahrscheinlicher erscheint es mir aber nach den Arbeiten von Boveri (1902) und Sutton (1902), dass die Chromosomen ungleichwertig sind, und jedes nur einen bestimmten Teil der gesamten Vererbungssubstanz in sich birgt. Dann enthält jedes Id ebenfalls nur einen Teil des Keimplasmas, aber alle Ide eines Idanten denselben. Es sind demgemäß_ die Determinanten oder Anlagen für jedes selbständig variierende Merk- mal so oft vorhanden, als gleichwertige Ide im Kern existieren, d. h.: entweder soviel ein Chromosom, oder aber (nach Ziegler’s Auffassung) soviel der ganze Ohromosomenkomplex Ide enthält. Die ganze Frage nach der Gleich- oder Verschiedenwertigkeit der Chromosomen kommt für uns weiter nicht in Betracht. Meine Hypothese genügt, wie sich zeigen wird, beiden Eventualitäten. Die Ide sehe ich mit Weismann in den Mikrosomen verkörpert. Sollten andere Forscher in diesen lieber bereits Komplexe von Iden erblicken wollen, so habe ich nichts dagegen. Auch dieses Dilemma ist für mich irrelevant. Überhaupt bin ich in allem, was im Bau des Keimplasmas noch hypothetisch ist, bereit, den weitesten Spielraum einzuräumen. Meinen Erklärungsversuch beginne ich mit dem zweiten Teil der Mendel’schen Regel, weil dieser der Deutung zugänglicher ist. Die Spaltungsregel ist ja sogar scheinbar schon genügend er- klärt durch die neueren Forschungen über das Wesen der Re- duktionsteilungen. Die Hauptbedingung für die Mendel’schen Spaltungen, Reinheit der Gameten, wird durch die Reifungserschei- nungen, nach der heute fast allgemein geltenden Auffassung, tat- sächlich gewährleistet. Zu erklären bleibt nur, warum die Spaltungs- regel nicht in allen Fällen gilt, warum wir trotz reiner Gameten aus den meisten Kreuzungen intermediäre Bastarde hervorgehen sehen. Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 405 Der Grund hierfür lässt sich, wie mir scheint, durch eine sehr einfache Überlegung finden, die allen bekannten Beobachtungen gerecht wird. Wir dürfen annehmen, dass in den Urkeimzellen eines bisexuell erzeugten Organismus eine doppelte Erbmasse vor- handen ist, von zur Hälfte väterlicher, zur Hälfte mütterlicher Provenienz. Im sogen. „Ruhestadium“ der Kerne befindet sich nun das gesamte Chromatin in „staubförmiger Verteilung*. Die Chromosomen sind scheinbar aufgelöst, die Ide durch den ganzen Kern zerstreut. - Aus diesem „Magmastadium® gehen dann wieder individualisierte Chromosomen hervor, indem das CUhromatın sich sammelt und in gesetzmäßiger Weise anordnet. Schließlich ent- steht wieder eine bestimmte Zahl von Chromosomen, von denen wir annehmen dürfen, dass sie in zwei Gruppen von verschiedener Herkunft zerfallen. Es sammeln sich also die Ide wieder zu Idanten. Nimmt man, wie ich das tue, an, dass die Chromosomen unter sich potentiell verschiedenwertig sind, so folgt daraus, dass immer lauter gleichwertige Ide sich zu einem Idanten gruppieren. Jede Uhromo- somenart ist aber in einem Paar vorhanden. Es fragt sich nun, ob sich bei der Rekonstitution der Chromosomen auch immer die Ide gleicher Provenienz zu einem Idanten vereinigen. Ich mache die Annahme, dass dieses nicht der Fall ıst. Vielmehr scheint mir folgende Auffassung den Tatsachen zu entsprechen. In den Zellen von Organismen, deren Eltern sich in allen wesentlichen Stücken gleichen, oder doch nur wenig voneinander ab- wichen, sind auch die Ide einander noch sehr ähnlich. Bei der Chromosomenbildung werden in jeden ldanten sowohl väterliche als mütterliche Ide vereinigt werden können. In welchen Zahlenverhältnissen das geschieht, wird einfach von der gegenseitigen Lage und anderen Zufälligkeiten abhängen. Werden dann durch die Reifungs- teilungen väterliche und mütterliche Chromosomen wie- der reinlich geschieden, so setzt sich jedes von ihnen noch aus zweierlei Iden in wechselnder Anzahl zusammen. Und ebenso erhalten die Zygoten in jedem Falle beiderlei Anlagen gemischt. Die Nachkommen müssen daher eben- falls Charaktere beider Eltern aufweisen, und zwar ın recht verschiedenen Verhältnissen. Bei einem verhältnis- mäßig großen Teil werden väterliche und mütterliche Ide sich un- gefähr die Wage halten. Die’Jungen werden sich also als mehr oder weniger genaue Mittelformen zwischen beiden Eltern’ aus- weisen. In ebenfalls zahlreichen Fällen wird eine Sorte von Iden an Zahl überwiegen, und dementsprechend der Einfluss des Vaters oder der Mutter stärker erscheinen. Bei einigen wenigen Exem- plaren endlich werden die Ide des einen Elters so vorherrschen, dass die Charaktere des anderen kaum mehr zur Geltung kommen. 406 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Da außerdem die Idkombinationen auch in den einzelnen Chromo- somen einer und derselben Keimzelle verschieden sein können, so können die Nachkommen natürlich auch in einigen Merkmalen dem einen, in anderen dem anderen Elter ähnlich werden. Es sind also alle Erscheinungen möglich, die bei der Vererbung innerhalb eines engeren Formenkreises tatsächlich beobachtet werden. Anders liegen die Verhältnisse in den Mendel’schen Fällen. Hier sind, wie ich annehme, die Ide, welche die Deter- minanten des spaltenden Merkmalspaares enthalten, bei beiden Eltern so verschieden geworden, dass sie sich nicht mehr in einem Idanten vereinigen lassen. Bei der Rekonstitution der Chromosomen werden die abgeän- derten Ide wieder sämtlich zur Bildung des einen Idanten zusammentreten, von dem sie stammen. In bezug auf die eine Gruppe von Iden werden so reine Gameten gebildet, wie die Spaltungsregel es verlangt. Alle anderen Gruppen von Iden, die noch nicht denselben Grad von Verschieden- heit erreicht haben, bleiben hiervon ganz unabhängig. Die Reinheit der Gameten und damit die Spaltungserscheinungen können auf ein Chromosomenpaar beschränkt bleiben. An allen übrigen kann sich die Durcheinandermischung der Ide ebenso voll- ziehen wie in den nicht Mendel’schen Fällen. So können die Hybride trotz der Spaltung des einen Merkmalspaares eine ganze teihe intermediärer Charaktere aufweisen. Formal genügt meine Hypothese also zur Erklärung der Er- scheinungen. Es fragt sich nur, wie weit sie sich schon heute empirisch stützen lässt. Das wesentliche an meiner Auffassungs- weise ist die Annahme eines Austausches von väterlichen und mütterlichen Iden in den Keimbahnzellen. Dass ein solcher postu- liert werden muss, hat bereits de Vries (1903b) nachgewiesen, wie ich schon oben erwähnte. Mit diesem Forscher stimme ich also in dem hauptsächlichsten Punkte überein. Ich unterscheide mich dagegen von ihm durch die Vorstellung, die ich mir darüber gebildet habe, wie sich der angenommene Austausch der Ide voll- zieht. Ich habe schon oben dargetan, dass ein Vorgang, wie ıhn de Vries sich denkt, nur bei solchen Formen möglich ist, wo die Chromosomen sich zur Konjugation der Länge nach aneinander legen, also höchstens bei Pflanzen und einem Teil der Tiere. Meine Auffassung passt dagegen für alle denkbaren Reduktions- typen, da ich den Austausch der Ide bereits in die früheren Stadien verlege, die in allen Fällen im wesentlichen dieselben sein dürften. Auch beansprucht mein Erklärungsversuch nicht so subtile, und mit dem Mikroskop nicht nachweisbare Vorgänge, wie das direkte Hinüberwandern der Anlagen von einem fertig gebildeten Kern- faden zum anderen. Ich lehne mich enger an direkt Beobachtetes Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 40% an, als de Vries. In fast allen Stücken stimmen zu meinen hypo- thetischen Erörterungen z. B. die Resultate über die Rekonstitution der Chromosomen, die Strasburger (1904 u. 1905) in zwei neueren Arbeiten nach eignen und seiner Schüler Untersuchungen mitgeteilt hat. Strasburger beschreibt, wie in den „Gonotokonten“ ver- schiedener Pflanzen das Uhromatin in Brocken von verschiedener Gestalt und Größe auf dem Wabenwerk des Kerngerüstes verteilt ist. Wenn der Kern sich zur Teilung anschickt, wandern die Chromatinkörnchen auf eine Anzahl von Zentren zu. Und zwar finden sich solcher Attraktionspunkte ebensoviele, als die halbe Normalzahl der Chromosomen beträgt. An jedem Zentrum liegt also der Bildungsherd eines Paares von Chromosomen. Bei Pflanzen mit Chromosomen von verschiedener Größe, wie Galtonia und Funkia, ließ sich außerdem feststellen, dass die an einer Stelle des Kermger üstes entstehenden beiden Chr omatinfäden gleich groß sind. Man a Strasburger wohl Recht geben en, wenn er an- nimmt, dass ein jedes solches Paar immer aus je einem väterlichen und einem mütterlichen Chromosom besteht. Diese verschmelzen vorübergehend, indem sie sich der Länge nach aneinander legen, zu je einem „Zygomiten“. Später sondern sich die verschmolzenen Chromosomen wieder voneinander, welcher Vorgang früher fälsch- lich als erste Längsspaltung aufgefasst worden ist. Während der engen Vereinigung der a soll sich nun auch nach Stras- en der Rausch der Anlagen, wie de Vries ıhn annımmt, vollaachen. und ebenso die Te „wie sie eine Spaltung der Merkmale bei den Monohybriden verlangt“. Strasburger hat hier, ebenso wie de Vries, in erster Linie pflanzliche Organismen im Auge. Für diese würde seine Erklärung ja auch vollkommen aus- reichen. Da wir aber in der Chromatinreduktion bei tierischen Objekten eime Konjugation der Chromosomen in der Längsrichtung keineswegs immer voraussetzen dürfen, da ferner ein so fundamen- taler Braıe wie der Austausch der Vererbungsanlagen wohl ım ganzen organischen Reich derselbe sein dürfte, scheint mir mein oben ee Erklärungsversuch besser ar Anforderungen zu genügen. Zu den Beobachtungen stimmt er ebensogut wie die Deutungen von Strasburger und de Vries. Ja, er hat sogar den Vorzug, einen bedeutend einfacheren ee seen zu erfordern. Denn ich brauche für meine Hypothese gar keine besondere Aus- tauschsbewegung, kein Hinüberwandern der Ide auf das benachbarte Chromosom. Nach meiner Auffassung spielt sich alles wesentlich einfacher, bereits während der Rekonstitution der Chromosomen ab. Aus den Beobachtungen von Strasburger und seinen Schülern entnahmen wir, dass das Chromatin auf bestimmte Zentren zuströmt, deren jedes den Bildungsherd eines Paares von Chromosomen darstellt. Es müssen hier also richtende Kräfte walten, die es be- 408 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. wirken, dass die Chromosomen wieder in derselben, oder wenigstens ähnlicher Zusammensetzung gebildet werden, die sie vor ihrer scheinbaren oder wirklichen Auflösung besaßen. Dabei ist es gleichgültig, ob man den Chromatinpartikeln oder Iden selbst etwa chemotaktische Eigenschaften zuschreibt, oder ob man die Anziehung von den Bestandteilen des Kerngerüstes ausgehen lässt. Jeden- falls ist die Annahme nicht zu gewagt, dass sich in jedem rekon- stituierten Idanten nur solche Ide sammeln, die von ihm selbst herstammen, oder sich von seinen Iden nicht wesentlich unter- scheiden. Sind also die väterlichen und mütterlichen Chromosomen eines Organismus einander sehr ähnlich, so kann bei der Bildung der Sexualzellen eine ausgiebige Mischung der beiderseitigen Keimplasmen vor sich gehen; die Nachkommen werden demgemäß intermediäre Mischlinge sein und zwar in recht verschiedenen Formen. Anders aber dürften die Verhältnisse liegen, wenn die Ide in den Idanten eines Paares stark voneinander verschieden sind, wie das in den Mendel’schen Fällen vorauszusetzen ist. Wir dürfen dann an- nehmen, dass jedes der abgeänderten Ide nur dem Bildungsherd des Chromosoms zuwandern kann, von welchem es stammt, also entweder dem väterlichen oder dem mütterlichen. Der Austausch der Ide unterbleibt an dieser einen Stelle des Kernterritoriums, und es werden in bezug auf einen bestimmten Idkomplex reine Gameten gebildet, wie die Regel es verlangt. Bei der Kreuzung muss «dann das eine Merkmalspaar aufspalten. Man könnte sich den Vorgang vielleicht auch so denken, dass stark abgeänderte Ide sich überhaupt nicht im Kern zerstreuen, sondern auch während des Ruhestadiums vereint bleiben, und deshalb nicht mit den anderen durchmischt werden können. Fine solche Auffassung hat etwas besonders Bestechendes, wenn man mit de Vries in den Mendel’schen Fällen das rezessive Merkmal immer auf das Latent- werden einer Anlage zurückführt. Denn dazu würde es stimmen, dass die betreffenden Ide schon während der Anfangsstadien der Gametenbildung sich inaktiv verhalten. Ich will übrigens gern zugeben, dass ich bei memem Erklärungs- versuch mit etwas vagen Begriffen operiere, wie Affinität zwischen Mikrosomen und Liningerüst. Als vorläufige Arbeitshypothese und nur als solche will er gelten — dürfte er aber immerhin brauchbar sein. Denn er steht mit keiner Beobachtung im Wider- spruch und reicht zur Erklärung der fraglichen Erscheinungen aus. Und es lässt sich zeigen, dass wir von dem so gewonnenen Stand- punkt aus, auch die Prävalenzregel erklären können. Eine fundamen- tale Tatsache müssen wir allerdings noch ohne tieferes Verständnis, quasi als Axiom, hinnehmen. Bei intermediären Bastarden sehen wir die väterlichen und mütterlichen Determinanten eines Merk- malspaares gemeinschaftlich wirken, so dass der kindliche Charakter Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 400 eine mittlere Stellung zwischen den Extremen der beiden elter- lichen einnimmt, also gleichsam als Resultante zweier Kräfte er- scheint. Bei Mendel’schen Hybriden verschwindet dagegen das eine Merkmal scheinbar ganz. Hier sind demgemäß zurzeit immer nur die Determinanten des einen Elters wirksam. Für diese wich- tige und auffallende Erscheinung scheint mir eine befriedigende Erklärung noch auszustehen. De Vries hilft sich mit der ee ne, lass das rezessive Merkmal sieh in latentem Zustande befindet. Ich wies schon oben darauf hin, dass diese Deutung für manche Fälle, z. B. den Albinismus, recht gut zutrifft. Für andere, wie den ebenfalls rezessiven Angoracharakter, versagt sie aber. Denn will man die abnorme Haarlänge durch Latentwerden von Anlagen erklären, so muss man der Aktivität der entsprechenden Deter- minanten geradezu eine hemmende Wirkung auf das Wachstum der Haare zuschreiben. Man könnte die gegenseitige „Exklusivität“ der Merkmale eines Mendel’schen Paares vulalllan m. einfach auf ihre starke Divergenz zurückführen, die ein Zusammenwirken un- möglich macht. Aber auch das ist mehr eine Umschreibung als eine wirkliche Erklärung. Auf eine solche muss ich also noch verzichten. Dagegen el ich schon jetzt durch meine Hypothese erklären zu Knnen! warum in einem bestimmten Falle fast immer dasselbe Merkmal dominiert und hierin kein Wechsel eintritt. Ich habe bis jetzt der Einfachheit wegen angenommen, dass die Idanten, welche das spaltende Merkmalspaar repräsentieren, wirklich ganz aus Iden der einen Seite, also nur als väterlichen oder mütterlichen, zusammengesetzt sind. Das ist aber, wie sich leicht zeigen lässt, keineswegs der Fall. Werden zwei Varietäten einer Art, die bei Paarung mit der Stammform Mendel’sche Bastarde geben, untereinander gekreuzt, so schlagen die. Nach- kommen rein in die gemeinsame Stammform zurück. Schwarze und weiße Mäuse z. B. bringen miteinander rein graue Junge her- vor, die sich in nichts von wilden Mäusen Mater cheiden? Und dieselbe Erfahrung hat man in zahlreichen ähnlichen Fällen ge- macht. Die Genaeten der spaltenden Rassen sind also nur scheinbdt ganz rein. Sie enthalten de facto, wie aus diesen Zuchtresultaten mit zwingender Notwendigkeit chi, neben den abgeänderten Iden immer auch noch solche der Stammrasse, aber ofen in so geringer Zahl, dass sie nicht zur Geltung kommen. Kreuzt man ne beiden abgeänderten Rassen, so werden dreierlei Ide zusammen- gebracht: in jedem der kopulierenden Gameten solche je einer Varietät, in beiden außerdem solche der Stammform. Letztere müssen sich also summieren; und während sie in jedem Gameten in der Minorität waren, werden sie in der Zygote das Übergewicht erlangen und so den Rückschlag in die Stammrasse Ben Be man diese, der ursprünglichen Stammform völlig gleichenden 410 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Tiere untereinander, so müssen sie natürlich wieder aufspalten in die beiden abgeänderten und den Stammtypus. Und auch das ist in der Tat der Fall, wie besonders exakt Guenot (1903) nach- gewiesen hat. Da es demnach als erwiesen gelten kann, dass die scheinbar reinen Gameten, oder genauer gesagt, Idanten, einige lde der antagonistischen Form enthalten, so erklärt sich auch das Dominieren des einen Merkmals bei den Mendel’schen Hybriden erster Generation in sehr einfacher Weise. Nehmen wir wieder das Beispiel grauer und weißer Mäuse, so sind bei den Albinos noch nicht alle Ide abgeändert, sondern einige enthalten noch „graue Determinanten“, um mich kurz auszudrücken. Bei der Kreuzung der weißen Maus mit einer gewöhnlichen wilden kommen in eine Zygote immer zu den Iden des grauen Elters einige gleiche, die aus der albinotischen Gamete stammen. Es müssen also die „grauen Ide* überwiegen, und da von beiderlei Determinanten, wie wir wissen, nur eine Art wirksam sein kann, muss die ganze Brut einförmig grau ausfallen. So erweist sich in unserem Fall das Dominieren des einen Merkmals einfach als eine Art von Atavisımus, dadurch hervorgerufen, dass im Keimplasma der Varietät immer noch eine Anzahl nicht abgeänderter Ide mitgeführt werden. Und ebenso verhält es sich in zahlreichen anderen Beispielen. Es gilt ja überhaupt als Regel in den Mendel’schen Fällen, dass sich die Stammform der Varietät überlegen erweist, dass also das „phylo- genetisch ältere“ Merkmal gegenüber dem jüngeren dominiert. Ich möchte an dieser Stelle nicht unterlassen, an die Ähnlichkeit meiner Gedankengänge mit Tschermak’s (1903) Theorie der „Krypto- merie“ zu erinnern. Kryptomer nennt Tschermak Formen, die „latente“ Eigenschaften enthalten, welche nur an ihren „Vorfahren oder Nachkommen zutage treten“. Das Hervortreten der latenten Merkmale wird namentlich durch Kreuzung mit anderen Formen hervorgerufen. So ergaben ihm z. B. Kreuzungen zwischen rosa- blühenden Exemplaren von Pisum arvense mit weißblühenden von Pisum sativum durchweg rotblühende Hybride erster Generation. In der zweiten Generation trat dann Spaltung ein in rot, rosa und weißblühende Individuen. Tschermak schließt hieraus und aus den weiteren Zuchtresultaten, dass seine beiden Ausgangsformen kryptomere Rassen waren und dass die gemeinsame Stammform beider eine rotblühende Erbse gewesen sein müsse. Die scheinbar als Novum auftretende rote Blütenfarbe wird also als Atavismus gedöutet. Tschermak’s Auffassung zeigt weitgehende Überein- stimmung mit der meinigen. Nur lässt er die Tatsache der Krypto- merie selbst unerklärt, die ich einfach auf die Zahlenverhältnisse der Ide zurückzuführen versuche. Auch wendet er seine Lehre noch nicht allgemein auf das dominierende Merkmal bei Mendel'- schen Hybriden erster Generation an. Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 411 Meine Erklärung der Prävalenzregel durch Atavismus erleidet aber eine wichtige Einschränkung. Es ist keineswegs in allen Fällen en dass das dorererende Merkmal eh wirklich das phylogenetisch ältere ist. Im Gegenteil erweist sich gar nicht selten auch ein sicher älterer Charakter als rezessiv. So fand z. B. Bateson (1902) bei der Kreuzung verschiedener Hühnerrassen, dass dreireihige, viellappige und Andere komplizierte Formen des Kammes über die einfache Form dominiert, wie wir sie bei den primi- tiven Rassen finden, und wie auch Gallus bankiva sie aufweist, die gemeinsame nord sämtlicher Rassen von Haushühnern. Br) Ge Kreuzungen von fünfbändrigen und bänderlosen Exem- plaren von Helix nemoralis nach Hartwig (1889) und ebenso von Helix hortensis nach Lang (1904), dass die Bänderlosigkeit über die Bänderung dominierte. Und doch müssen wir die fünfbändrigen Formen für die ursprünglichen halten. Nicht nur sind sie die ein- zigen, die an keinem Standort zu fehlen scheinen, sondern die Fünfbändrigkeit tritt bei Helix nemoralis nach Arndt (1877) auch unter der Nahkontmen schaft anderer Varietäten „besonders. häufig“ auf, so z.B. bei Kreuzung von einbändrigen al bänderlosen Indi- viduen. Sie verhält sieh also ähnlich wie bei Mäusen die graue Farbe gegenüber den weißen, schwarzen und anderen Varetaich Auch sonst sind einige Fälle, sowohl bei Tieren als bei Pflanzen, beschrieben worden, in denen das zweifellos Jüngere Merkmal dominierte. Ja es ist sogar beobachtet worden, dass ein und die- selbe Eigenschaft in einigen Fällen Dominanz, in anderen Rezessi- vität zeigen kann. So konnte Bateson (1904) das von einer über- zähligen en Zehe bei einer Rasse Dorkinghühner konstatieren. A auch diese auf den ersten Blick die Thedeie widerlegenden Anomalien lassen sich mit meiner Hypothese in Einklang bringen. Ist eine Art oder Rasse durch Abänderung der Ide ee Kerne plasmas überhaupt variabel geworden, so können derartig abge- änderte Ide natürlich in sehr verschiedener Häufigkeit en Sie können vor allen Dingen in geringer Zahl auch in den Zellen solcher Individuen vorhanden sein, die die Charaktere der Stamm- form scheinbar rein an sich tragen. Werden nun solche mit Indi- viduen der entsprechenden Varielät gekreuzt, so können sich in den Zyg »oten die Ide des jüngeren Merkmals so stark summieren, dass sie zur Dominanz gelangen. Die Zahl der abgeänderten Ide in den verschiedenen Exemplaren der Stammrasse Ed wohl auch der Varietät kann aber eine verschiedene sem. Denn ıhr erstes Auftreten müssen wir auf Keimesvariation zurückführen ; und diese kann Ja von Generation zu Generation immer wieder von neuem in einigen Individuen einsetzen. Es müssen daher auch bei Kreu- zungen der Stammform mit der Varietät recht verschiedene Kom- Be von Iden möglich sein, und daher in gewissen Fällen 412 Groß, Uber einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. jedes von beiden Merkmalen die Dominanz über das andere er- langen können, sobald Kreuzungsresultate aus verschiedenen Zucht- stämmen verglichen werden. Häufig werden solche Fälle aber nicht sein. Denn in der Regel überwiegt doch die Stammform die Varietät an Zahl der Individuen so beträchtlich, dass wır daraus den Schluss ziehen dürfen, auch die abgeänderten Ide seien die beträchtlich selteneren. Daher muss das Dominieren des phylo- genetisch älteren Merkmales die Regel bleiben. Einem Einwurf, der gegen meine Erklärung der Prävalenzregel gemacht werden könnte, muss ich noch begegnen. Ich habe oben zu zeigen versucht, dass Ziegler’s „Chromosomentheorie* den Tat- sachen nicht entspricht. Denn bei der von ihm angenommenen beständig neuen Durchmischung der Anlagen müssen auch bei den Nachkommen der rezessivmerkmaligen Tiere immer neue Kom- binationen von Chromosomen auftreten. Und durch Summierung der Anlagen muss auch von ihnen immer ein gewisser Prozentsatz bei fortgesetzter Inzucht aufspalten. Man könnte mir nun entgegen- halten, .dass auch nach meiner Hypothese die Repräsentanten des rezessiven Merkmals keine reinen Gameten enthalten. Der Unter- schied der beiden Auffassungen beruht aber darın, dass ıch für die Chromosomen jeder Varietät eine feste Zahl von abgeänderten Iden annehme, die wohl durch Keimesvariation, aber nie durch Kreuzung geändert werden kann, da nur gleichartige Ide gegen- einander ausgetauscht werden. So sind die Gameten zwar nicht wirklich rein, aber sie enthalten die Anlagen des einen Merkmals in so überwiegender Menge, dass die entgegengesetzten bei Inzucht nicht zur Geltung kommen. Die rezessivmerkmaligen und ein Teil der dominantmerkmaligen Tiere müssen daher bei Inzucht konstant bleiben. Ein Umschlag in die andere Form bei einigen Individuen, und damit ein scheinbares Spalten kann nur eintreten, wenn durch Keimesvariation die Ide des einen Merkmals stark zunehmen, also nur in seltenen Fällen. Und solche Ausnahmen sind auch de facto beobachtet worden, wenn man sie im ersten Enthusiasmus über die Mendel’sche Regel auch übersehen hat. Tschermak (1901) macht schon in seiner Neuausgabe der Mendel’schen Arbeiten auf solche der Regel widersprechende Rückschläge aufmerksam. Meine Hypothese vermag demnach alle Tatsachen, die ın den Geltungsbereich der Mendel’schen Regeln fallen, in einfacher Weise zu erklären. Sıe gründet sich auf Vorstellungen von ver- schiedenen Graden der Affinität zwischen den Iden verschiedener Provenienz, wie sie ja auch andere Forscher, z. B. de Vries (1903 b) und Häcker (1904), ja sogar schon Darwin (1568) aus ihren Unter- suchungen gewonnen haben. In scheinbarem Widerspruch steht meine Hypothese zu der von Rabl und Boveri begründeten Theorie von der Individualität der Chromosomen. Da diese immer wieder, Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 41; so noch neuerdings besonders von Fick (1905), heftig angegriffen wird, liegt mir daran, hier zu zeigen, dass sie trotz alledem nicht so unhaltbar ist, wie oft behauptet wird. Da ich einen Austausch von Iden annehme, so halte ich an der Theorie in ihrer strengsten Form allerdings nicht fest, beanspruche vollkommene Individualität und Konstanz also höchstens für die Mikrosomen. Aber in höherem Sinne bleiben auch bei meiner Auffassung die Chromosomen immer noch individualisierte Gebilde. Als distinkte Chromatinschleifen von genau derselben Zusammensetzung bleiben sie allerdings nicht erhalten, sondern ändern diese von Generation zu Generation. Aber jeder Organismus ändert seinen Bestand an Substanzteilen ebenfalls beständig während seiner ganzen Existenz und bleibt doch bis ans Ende seines Lebens ein Individuum. Ebenso büßt aueh ein Infusor doch seine Individualität nicht ein, wenn es bei der Konjugation einen Mikronukleus gegen einen fremden austauscht. Erhalten bleiben die Chromosomen jedenfalls als Systeme von Kräften, die es bewirken, dass vor jeder Mitose das Ohromatin immer wieder in bestimmter gesetzmäßiger Weise angeordnet wird. Will Fick auf Grund seiner „Manövrierhypothese* in den Chromo- somen „lediglich taktische Formationen“ sehen, so habe ich nichts dagegen, bitte ihn nur zu bedenken, dass eine solche ebenfalls eine Einheit ist und Individualität besitzt. Überhaupt kann ich mich seiner Auffassung fast ganz anschließen, sehe in ihr eben nur keine Widerlegung von Boveri’s Theorie. Mir scheint, der ganze Streit fängt an in Wortklauberei auszuarten. Sollte aber wirklich die Majorität der Forscher geneigt sein, der Individualitätstheorie den Abschied zu geben, so wird man wohl immer sagen dürfen, sie hat für die Wissenschaft genug geleistet, um mit Ehren abtreten zu können. Für gänzlich verfehlt muss ich aber Fick’s Versuch erklären, auch die gangbare Ansicht von der Längsspaltung der Chromosomen ad absurdum zu führen. Fick meint, wenn die Chromosomen- schwesterhälften wirklich identische Eigenschaften besäßen und die materiellen Substrate für diese Eigenschaften in der Längsrichtung hintereinander aufgereiht wären, dann würden wir zu dem Schlusse gedrängt, dass diese Substrate, also auch die isolierten V-ererbungs- einheiten, offenbar so breit sein müssten, wie das ganze Chromosom. Da aber unendlich, viele solche Einheiten anzunehmen seien, so müssten die Erbeinheiten ganz unendlich dünne Scheibehen sein und dabei relativ riesig breit. In der Längsrichtung hinteremander aufgereiht sind aber höchstens die Mikrosomen. Und in diesen hat vor Fick wohl noch niemand die letzten Vererbungsemheiten vermutet. Vielmehr sind sie selbst wieder in komplizierter Weise aus Untereinheiten aufgebaut. Diese sind ihrerseits aber wieder lebendige, organisierte Gebilde. Sie können wachsen, sich teilen, AlA Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. auseinanderwandern und so eine erbgleiche Teilung des ganzen Mikrosoms bewirken. Fick’s Schluss ist nur dann zwingend, wenn man sich die Vererbungseinheiten als tote Massen vorstellt. Dann würden wir allerdings zu dem Bilde etwa eines in lauter feine Scheiben zerlegten und wieder zusammengesetzten Brotlaibes kommen, der dann behufs Teilung mit einem Messer der Länge nach mitten durchgeschnitten wird. Nachdem wir gesehen haben, dass die Mendel’schen Regeln sich sehr wohl in Einklang bringen lassen mit den Resultaten der zytologischen Vererbungsforschung, dass sie aber nur in speziellen Fällen Geltung haben, müssen wir uns die Frage vorlegen, welcher Art denn diese Fälle sind, um so tiefer einzudringen in die Ur- sachen der auffallenden Erscheinung. Ganz im allgemeinen kann man sagen, dass bei der Kreuzung von Arten typisch Mendel’sche Fälle nieht vorkommen. In der Botanik gilt dieser Satz schon lange als erwiesen, und auch für die Tierwelt scheint er zuzutreffen. Das Experiment ist ja für den Zoologen. viel schwieriger. Aber schon die bisherige Beobachtung lehrt zur Genüge, dass Artkreuzung auch bei Tieren fast stets intermediäre Hybride liefert. Das gilt für alle die massenhaft beobachteten Bastardierungen von Säuge- tieren und Vögeln. Von Amphibien ist noch neuerdings Triton blasii, den man lange für eine reine Art hielt, durch Wolterstorff (1904a) als intermediärer Bastard von 7. marmoratus X eristatus aufgedeckt worden'). Unter Süßwasserfischen sind ebenfalls sehr zahlreiche, aus Artkreuzung hervorgegangene Mischformen bekannt geworden. Und die massenhaft angestellten Vererbungsexperimente mit Sehmetterlingen lehren dasselbe. Trotz eifrigen Suchens im der Literatur habe ich nur einen einzigen Fall ausfindig machen können, der den übrigen Erfahrungen wirklich zu widersprechen scheint. Blaauw (1899) kreuzte in seinem Tierpark zu Hilversum 1) Wenn Wolterstorff (1904 b), im Gegensatz zu meinen Ausführungen im Text, den Triton blasii unter die Mendel’schen Fälle einreihen will und wenigstens die Geltung der Prävalenzregel für bereits erwiesen hält, so beruht das auf einer voll- kommenen Verkennung der Tatsachen. Denn Wolterstorff gibt selbst an, dass der „vorherrschende dominierende Einfluss“ des Triton marmoratus nur an einem Teil der Bastarde zu beobachten ist, bei vielen anderen weist dagegen „die Dämpfung des hellen Grün“ auf den abschwächenden Einfluss des Triton eristatus. Es kommen also in einer Brut Bastarde vor, die die elterlichen Charaktere in sehr ver- schieden hohem Grade zur Schau tragen, was der Regel widerspricht. Vollkommen scheint außerdem die Prävalenz der einen Stammform in keinem der beobachteten Fälle gewesen zu sein. Denn wenn Wolterstorff angibt, die grüne Rückenmitte und die dunklen Seitenbinden des Triton marmoratus seien auf der Oberseite „deutlich kenntlich“, so spricht das wohl nicht dafür, dass sie vollkommen rein auftreten, wie die Prävalenzregel es verlangt. Vielmehr dürfen wir mit Sicherheit annehmen, dass Triton blasii ein typischer intermediärer Bastard ist, bei dem sich nur in vielen Fällen der Einfluss des einen Elters stärker zeigt, als der des anderen, wie das bei anderen Artbastarden ebenso beobachtet wird. Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 415 ein 9 der weißen Schneegans (Ühen hyperboreus) mit einem & der blauen (Chen coerulescens). Die drei erzielten Jungen zeigten, nach- dem sie herangewachsen waren, genau die Färbung des Vaters. Es hatte also, wenn wir aus den wenigen Exemplaren einen Schluss ziehen dürfen, die blaue Farbe sich als dominierend, die weiße als rezessiv erwiesen. Wir könnten es in der Tat mit einem typischen Mendel’schen Fall zu tun haben, wenn auch die Geltung der zweiten Regel noch nicht geprüft ist. Blaauw selbst schließt aber, interessanterweise, aus seinem Zuchtresultat sofort, dass die beiden Formen gar nicht gute Spezies, sondern lediglich Färbungsvarietäten sind. Mir fehlen die spezielleren ornithologischen Kenntnisse, um dieser Frage näher treten zu können. Leichter analysierbar ist ein anderer Fall, der auf den ersten Blick ebenfalls für die Geltung der Mendel’schen Regeln auch bei Artkreuzungen zu sprechen scheint. Lang (1904) kreuzte ein bänderloses Exemplar von Helix hortensis mit einem fünfbänderigen von Helix nemoralis und erhielt lauter einfarbige Nachkommen, fand also die Prävalenzregel bestätigt. Hierbei muss aber eines in Betracht gezogen werden. Wir haben oben gesehen, dass Bänder- losigkeit bei beiden verwendeten Schneckenarten vorkommt, und dass sie sich nach den Untersuchungsergebnissen von Hartwig(1889) und Lang (1904) bei Kreuzungen innerhalb der Art der Fünf- bänderigkeit gegenüber als dominierendes Merkmal erweist. Wir haben es also mit einem Mendel’schen Merkmalspaar zu tun, dass bei zwei nahverwandten Arten in ganz paralleler Weise vorkommt, und nieht mit den eigentlichen unterscheidenden Merkmalen der Arten. Diese wurden vielmehr an den Nachkommen in verschiedener Weise gemischt. In der Form der Schale und des Mundsaums ähnelten die Jungen mehr Helix hortensis, in der Färbung des Peristoms dagegen Helix nemoralis. Es muss in solchen Fällen immer das Verhalten von Art- und Varietätmerkmalen streng aus- einander gehalten werden, was in der Botanik ja schon länger be- kannt ist. Aber auch bei der Kreuzung von Rassen und Varietäten einer Art haben die Mendel’schen Regeln durchaus nicht allgemeine Geltung. Vielmehr ergeben auch solche in sehr vielen Fällen inter- mediäre Bastarde. Bei den zahlreichen Zuchtrassen unserer Haus- tiere ist das ja unbedingt die Regel. Sonst wäre ein Veredeln minderwertiger oder primitiver Rassen durch Kreuzung mit hoch- gezüchteten gar nicht möglich; und darin beruht doch eine Haupt- tätigkeit des Tierzüchters. Und auch die Varietäten und Lokal- rassen wilder Tiere ergeben bei Kreuzung gewöhnlich Mischtypen. Nur ist hier die Zahl der Beobachtungen naturgemäß viel geringer. In der freien Natur lässt sich gewöhnlich nicht sicher unterscheiden, ob man es mit einem Bastard zwischen zwei Varietäten zu tun 416 Groß, Uber einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. hat, oder nur mit einem weniger typischen Exemplar der einen Form. Und in zoologischen Gärten wird viel mehr mit Art- als mit Varietätenkreuzungen gearbeitet. Einige gut untersuchte Beispiele möchte ich immerhin hier anführen. So kreuzte Standfuß (1896) Callimorpha dominula mit der Varietät persona, die sich namentlich durch die Färbung der Hinterflügel unterscheiden. Bei der typischen C. dominula sind sie rot mit schwarzen Flecken, bei der Varietät dagegen vorherrschend schwarz mit gelben Zeichnungen. Die Bastarde hatten durchweg rot und schwarz gezeichnete Hinterflügel, „nur unterseits öfter mit gelber Beimischung“. Die Ausdehnung des Schwarz war eine sehr wechselnde, bei einigen Stücken muss es nach Standfuß’ Abbildungen fast so reichlich gewesen sein, wie bei der Varietät persona. Ähnliche variable intermediäre Bastarde erhielt derselbe Lepidopterologe bei der Kreuzung von Spelosoma mendica mit Sp. mendica var. rustica, einer aus wenigen Gegenden (Graubünden, Rumänien, Kaukasus) bekannten Lokalform, die sich namentlich durch die sehr helle Färbung des Männchens auszeichnet. Die männlichen Bastarde bildeten eine ganze Skala von Zwischen- formen der beiden elterlichen Extreme. Ähnliche Resultate führt Standfuß (1896) noch einige nach eigenen und anderen Unter- suchungen an, die aber weniger genau kontrolliert sind. Alle zeigen das völlige Versagen der Mendel’schen Regel für die beobachteten Varietäten von Schmetterlingen. Von Säugetieren möchte ich nur einen sehr sorgfältig be- schriebenen Fall von der Kreuzung zweier Lokalvarietäten mit- teilen. Der gewöhnliche Fuchs (Canis vulpes) kommt bekanntlich in mehreren Varietäten vor, die zum Teil nur in bestimmten Gegenden auftreten. Zu den schönsten gehören die sibirischen „Silber- füchse“, Tiere mit durchaus glänzend schwarzem, silbrig schimmern- dem Pelze. Ein solcher wurde einmal lebend nach Livland gebracht und hier mit einer gewöhnlichen Rotfüchsin gepaart. O. v. Löwis (zitiert nach Brehm [1891]) beschreibt die Bastarde folgender- maßen: Der Rücken war „rauchig graubraun“, die Seiten rauch- braun mit rein schwarzen, rötlichen aber auch einzelnen Silber- haaren untermischt. Die Unterseite war von der Kehle bis zum After mehr oder weniger schwarz. Auf der Schulter trugen die Tiere ein helleres rötliches „Farbenkreuz“. Schwanz und Beine waren tiefschwarz. Die Jungen entkamen samt der Mutter in die Freiheit und einige Jahre später bekam v. Löwis bei einem Pelz- händler in Dorpat eine Anzahl sehr merkwürdiger Fuchsbälge zu Gesicht, die alle aus der Gegend des eben besprochenen Zucht- versuchs stammten und alle noch deutlich in verschiedenem Grade die Einwirkung des Silberfuchsblutes erkennen ließen. Dieser Fall ist noch deshalb besonders interessant, weil, wie wir noch sehen werden, in zahlreichen anderen Fällen gerade schwarze Varietäten Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 417 sich durchaus anders verhalten. Auch in Mitteleuropa kommen dunkle, schwärzliche Varietäten des Fuchses vor, und auch diese ergeben nach Brehm (1891) bei Kreuzung mit der roten Stamm- rasse intermediäre Bastarde, die sogen. Kreuzfüchse mit schwarzem Bauch, schwarzer Kehle und einem dunkeln „Kreuz“ auf den Schultern, welehe Färbung allerdings mannigfach abändert. Auch die verschiedenen Menschenrassen, die wir ebenfalls als ursprünglich geographische Varietäten betrachten dürfen, bringen, miteinander gekreuzt, bekanntlich immer Mischrassen hervor. Und dasselbe Resultat erhält man in den allermeisten Fällen auch bei der Paarung domestizierter Tiere mit ihren Stammformen. Hausschweine, Hauskatzen, die verschiedenen Taubenrassen, zahme, gelbe Kanarienvögel u. s. w. sind ja oft genug mit ihren wilden Artgenossen gekreuzt worden, ohne dass dabei die Prävalenz- oder die Spaltungsregel hätte konstatiert werden können. , Auch ım Pflanzenreich treffen die Mendel’schen Regeln durchaus nicht bei allen Rassenkreuzungen zu, wie Öorrens (1903) z. B. für ver- schiedene Maisrassen gezeigt hat. Überhaupt sind die Mendel’schen Fälle — das muss einer weit verbreiteten Ansicht gegenüber ausdrücklich betont werden — zwar gesetzmäßige, aber verhältnismäßig seltene Erscheinungen, die scharf mit den allgemeinen Erfahrungen aus der Tier- und Pflanzenzüchtung Kontrastieren. Es lohnt daher wohl, zu unter- suchen, welehe Merkmale es denn sind, die ın den Geltungsbereich der merkwürdigen Regeln fallen, und ob sie nicht alle etwas Ge- meinsames haben, das sie von anderen erblichen Eigenschaften unterscheidet. Ich will diese Untersuchung hier in erster Linie für das mir näher liegende und zugänglichere zoologische Gebiet versuchen; für die Fälle aus dem Pflanzenreich mich dagegen mehr auf die Angaben anderer Forscher stützen. In der Tierwelt ist es namentlich der Albinismus, der uns die meisten und am genauesten bekannten Beispiele für die Mendel’schen Regeln geliefert hat. Allerdings ist auch hier die Zahl der Beobachtungen relativ gering. Das Züchtungsexperiment an Tieren hat ja immer mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Nur wenige Arten pflanzen sich in der Gefangenschaft ebenso reichlich fort, wie im freien Zustande, und die Vermehrungsziffer ist bei höheren Tieren meist überhaupt zu gering, um genügend große Zahlen zu erhalten. Immerhin ist durch zahl- reiche Versuche mit Mäusen, Ratten, Meerschweinchen, Kaninchen festgestellt, dass der Albinismus bei Kreuzung mit normal gefärbten Formen in der ersten Generation verschwindet, also ein rezessives Merkmal darstellt, und ebenso dass er bei Inzucht der Bastarde wieder erscheint, und zwar in den von der Spaltungsregel ver- langten Zahlenverhältnissen. Die einzelnen Fälle sind ja in den letzten Jahren so oft besprochen worden, dass ich mir eine Auf- XXVI. 27 418 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. zählung hier wohl schenken kann. Auf einige Ausnahmen, die es immerhin auch gibt, komme ich später noch zu sprechen. Bei wilden Tieren ist es natürlich viel schwieriger, die Geltung der Mendel’schen Regeln in ihrem ganzen Umfang festzustellen. Es sind allerdings eine ziemliche Menge von Beobachtungen in der Literatur mitgeteilt, dass in einer Brut oder einem Wurf die zwei Varietäten rein und ohne Übergänge. vertreten waren. Diese Fälle können aber sehr wohl einer anderen Gruppe von Vererbungs- erscheinungen angehören, auf die ich später zu sprechen komme. Von wirklich Mendel’schen Fällen dürfen wir erst reden, wenn beide Forderungen der Regel, sowohl die Dominanz in erster, als die Spaltung in zweiter Generation, erfüllt sind. Am ehesten können wir bei ungenügend bekannten Fällen noch dann die Her- gehörigkeit vermuten, wenn das Dominieren des einen Merkmals nachgewiesen ist. Denn dieses scheint bei anderen auffallenden Vererbungserscheinungen allerdings nicht vorzukommen. Aber ge- rade hierfür fehlen an wilden Tieren noch fast alle Beobachtungen. Ich habe in der Literatur überhaupt nur zwei Fälle ausfindig mathen können, die allenfalls hierher gehören dürften. Im Jahre 1866 brachte im zoologischen Garten zu Köln nach einer Mitteilung von Willemoes-Suhm (1867) eine weiße Elster, mit einem normal gefärbten Männchen gepaart, lauter normale Junge. Ferner wurde im Frankfurter zoologischen Garten ein weißer Rehbock mit roten Augen, also ein echter Albino, mit einer normalen Ricke gekreuzt. Die zwei erzielten Bastarde glichen nach Rörig (1897) in allen Stücken der Mutter. Das Dominieren der normalen Färbung scheint also auch beim Rehwild die Regel zu sein, wenn auch die geringe Zahl der Nachkommen noch keinen ganz sicheren Schluss zulässt. Des allgemeinen Interesses halber will ich noch die paar Beobach- tungen über rezessiven Albinismus beim Menschen anführen. Der eine, neuerdings öfter besprochene Fall, den Farabee (1903) mit- geteilt hat, betrifft einen Albinoneger, der mit einer normalen Negerin verheiratet war. Die Kinder waren ausnahmslos schwarz, der Albinismus in der ersten Generation also verschwunden. Eine ähnliche Beobachtung berichtet v. Fischer (1873) auch von Euro- päern. Der Besitzer einer Schaubude hatte, vielleicht um wert- volle Schauobjekte zu gewinnen, ein typisch albinotisches Mädchen geehelicht. Die zwei Knaben, die aus dieser Ehe entsprossen, ließen keine Spur von Albinismus erkennen. Eine Fortsetzung des Experiments bis in die nächste Generation ist bei Menschen aus naheliegenden Gründen ja nieht ausführbar. Wir müssen uns daher einstweilen mit diesen spärlichen Tatsachen begnügen. Einige Fälle von Wiedererscheinen des Albinismus beim Menschen in mehreren Generationen habe ich noch in anderen Zusammenhang zu er- wähnen. Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 419 Im allgemeinen können wir sagen, dass der Albinismus die- jenige Varietät ist, für die die Geltung der Mendel’schen Regeln in der Zoologie am häufigsten und besten erprobt ist, und man legt sich die Frage vor, worin dieses Verhalten albinotischer Formen begründet ist. Die weiße Farbe, der Mangel an Pigment, kann es nicht sein. Das beweisen uns die weißgefärbten, also ebenfalls pigmentfreien Tierarten, die mit nahverwandten farbigen immer Zwischenformen hervorbringen. Mehrfach ist in der Diskussion von Vererbungsfragen in den letzten Jahren die Kreuzung von Ursus aretos und maritimus aus dem ,Nill’schen Tiergarten in Stuttgart erwähnt worden. Die Jungen, vier an der Zahl, aus zwei Würfen, erwiesen sich nach Rörig (1905) sämtlich als intermediäre Bastarde, die aber die Charaktere der Eltern in sehr verschieden hohem Grade an sich trugen. Auch nach Paarung der Hybriden mit dem eigenen Vater, also dem Eisbären, ließen die nur zum geringen Teil lebensfähigen Jungen noch deutlich das »Blut der braunen Stammutter erkennen, wenn auch nur noch in schwachen Spuren. Auch beim Fuchs ist eine Kreuzung mit seinem weißen, arktischen Vetter, Oanis lagopus beobachtet worden, und zwar in der freien Natur, was bei Säugetieren bekanntlich nur sehr selten vorkommt. Der Eisfuchs war ein weibliches Tier, das als Irrgast weit nach Süden in Schweden vorgedrungen war, und sich deshalb mit keinem Männchen der eigenen Art vereinigen konnte. Von den vier be- obachteten Jungen haben zwei Lönnberg zur Untersuchung vorgelegen. Die mit einer farbigen Abbildung versehene Arbeit Lönnberg’s, die in einer schwedischen Jagdzeitung publiziert ıst, stand mir leider nicht zu Gebote. Böttger (1896), dem die Tafel vorgelegen hat, gibt an, das abgebildete, fast ausgewachsene Tier, habe in Körperform und Pelzfarbe genau die Mitte zwischen Canis vulpes und Canis lagopus gehalten. Also auch hier haben wir als Produkt der Kreuzung zwischen einer farbigen und einer weißen Art echte intermediäre Bastarde. Interessant ist auch das Winterkleid von Hybriden zwischen Lepus europaeus X timidus, welches Brehm (1891) nach Tschudi beschreibt. Diese verfärbten sich nicht am ganzen Körper, sondern entweder wurde nur der Vorderteil weiß, während die Hinterpartien grau blieben, oder es trat das umgekehrte Verhältnis ein. Hier haben wir also ebenfalls intermediäre, aber sogen. „Mosaikbastarde“. Auch zwischen dem schwarzen (Oygnus atratus) und Höckerschwan (Cygnas olor) sind nach Noll (1865) mehrfach Hybride erzielt worden. Sie wiesen insgemein ein geflecktes Gefieder auf, an dessen Muster sich die beiden Farben in sehr verschiedenem Maße beteiligen können. Endlich muss ich noch eines besonders interessanten Falles gedenken. Das Frettchen wird bekanntlich von den meisten For- 27° 420 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. schern als Albino des gemeinen Iltıs (Putorius putorius) aufgefasst, während andere daran festhalten, ın ıhm eine besondere Art Pu- lorius furo zu sehen. Hier ıst natürlich das Verhalten der Bastarde von besonderer Wichtigkeit. Brehm (1891) beschreibt diese als mehr dem Iltıs, denn dem Frettchen ähnlich. Von ersterem sollen sie sich bloß durch „lichtere Färbung ım Gesicht und an der Kehle“ unterscheiden. Genauere Angaben macht v. Fischer (1873) nach mehreren, zum Teil selbst gezogenen Exemplaren. Ich gebe die wichtigsten Stellen seiner Arbeit wörtlich wieder. „Produkt von Frettweibchen und Iltismännchen: Kopf, Gesicht, Pfoten und Schwanz mehr dem Iltis ähnlich. Die vier Extremitäten bis an die Schultern sowie Hüften und der Schwanz tief braunschwarz. Der übrige Leib oben: Unterhaar bräunlich-weiß-gelb (nicht gelblichweiß), Ober- haar mit langen braunschwarzen Spitzen. Unterseite des Leibes heller, matter und weniger mit schwarzen Haaren untermischt. Der Gesamthabitus mehr der eines Iltisses als eines Frettchens. Produkte umgekehrter Richtung sind mir aus eigener Erfahrung unbekannt, da bei meinen Kreuzungsversuchen dieser Art sich sämt- liche Paarungen als unfruchtbar erwiesen haben. Dagegen befindet sich ein ausgestopftes Exemplar eines solchen Blendlings im Mu- seum zu Gotha, nach Angabe des Ausstopfers Ritter daselbst, ein Produkt von Iltisweibechen und Frettmännchen. Die Gestalt ist plumper, größer, die Färbung fast ganz die eines Iltisses mit Aus- nahme des etwas helleren Kolorits an den Flanken. Besagte Junge waren die ganze Zeit ihres Lebens sehr kränklich und keine erlebte das Alter von sechs Monaten.“ „Die Augen bei Bastarden beider Richtungen sind nie rot, sondern besitzen eine dunkle Iris und schwarze Pupille. Jedoch bei einfallendem Licht schimmert die Pupille rötlich, selbst bei Tage, welcher Umstand wohl davon ab- hängt, dass die innere Auskleidung des Auges (Chorioidea) pig- mentlos ist. Außerdem: Gewöhnlich ist eine Paarung unter diesen Blendlingen, selbst bei Vermeidung der Inzucht, schwer zu bewerk- stelligen, erweist sich aber sogar nach glücklicher Vollendung meiner Erfahrung nach stets (nach Angabe anderer, für deren Richtigkeit ich nicht aufkomme, mit eimigen Ausnahmen und zwar unter Fort- erbung der intermediären Form und Färbung, also auch für meine Ansicht) als vollkommen steril. Führt man dagegen den auf diese Weise entstandenen Bastarden Frettchenblut zu, indem man den Männchen normale Frettehenweibchen zugibt (umgekehrte Versuche sind bei mir nicht gelungen), so entstehen silbergraue bis braun- graue Exemplare, also wieder eine intermediäre (sekundäre) Färbung.“ v. Fischer zieht aus den Zuchtexperimenten den Schluss, dass INtıs und Frettchen verschiedene, wenn auch nahverwandte Arten sind. Er hält das Frettchen für eine durch künstliche Zuchtwahl fixierte Form, deren brauner Vorfahr ausgestorben ist. Und ich Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 421 glaube, man wird v. Fischer zustimmen dürfen, obgleich greifbare anatomische Unterschiede zwischen lltis und Frettchen nicht fest- gestellt sind. Sollte man selbst geneigt sein, auf die Färbung keinerlei Wert zu legen, so dürfte doch die Verminderung der Fruchtbarkeit bei den Bastarden unbedingt dafür sprechen, dass wir es hier mit zwei guten Arten zu tun haben. Neben dem vollkommenen Albinismus, der sich auf das ge- samte Fell und das Augenpigment erstreckt, ist hier noch der nur teilweise ausgebildete zu erwähnen. Wie zahlreiche hinlänglich bekannte Beobachtungen gezeigt haben, verhalten sich weißgescheckte Exemplare von Mäusen, Ratten, Meerschweinchen, Kaninchen ete. bei Kreuzung mit normal gefärbten Tieren in der Regel ganz so wie rein weiße; auch sie folgen meist streng den Mendel’schen Regeln. Dasselbe gilt aber auch von einigen anderen Farben- varietäten derselben Arten, so namentlich von rein schwarzgefärbten, also melanistischen Rassen, aber auch von gelben und braunen. Auch diese ließen sich übrigens vielleicht als unvollkommene Albi- nismen deuten, selbst die schwarzen, so widersinnig das auf den ersten Blick scheinen mag. Bateson (1905) hat die Haare der Hausmaus mikroskopisch untersucht und festgestellt, dass ın jedem Haar eines normal grau gefärbten Tieres drei verschieden gefärbte Pigmente enthalten sind, die sich auch chemisch verschieden ver- halten: ein ganz undurchsichtiges schwarzes, ein weniger opakes braunes und ein durehsichtiges gelbes. Ihr Zusammenwirken gibt erst den „mausgrauen“ Farbenton. Die verschiedenen Färbungs- varietäten kommen nach Bateson’s Untersuchungen hauptsächlich durch das Fehlen eines oder mehrerer Pigmente zustande. Fehlt z. B. nur das schwarze, so erscheinen die Tiere goldgelb. Fehlt gleichzeitig auch das gelbe, so nimmt das Fell einen dunkleren schokoladenbraunen Ton an, der der Färbung des allein vertretenen braunen Pigments entspricht. Findet sich in den Haaren weder das braune noch das gelbe Pigment, so erscheinen die Tiere natür- lich einfach schwarz. Da außerdem jedes der drei Pigmente ın zwei Modifikationen auftreten kann, einer dichten und einer weniger dichten, so wird die Möglichkeit verschiedener Farbennuancen noch erhöht. Außerdem können die Pigmente an verschiedenen Körper- stellen in verschiedener Weise ausgebildet sein oder fehlen. So kommt eine große Anzahl von möglichen Kombinationen zustande, deren eine ganze Reihe auch schon tatsächlich beobachtet ist. Bateson zählt, vollkommene Albinos einbegriffen, 13 verschieden gefärbte Rassen auf. Etwas abweichende Resultate hat Guenot (1903) an seinen Untersuchungen über die Haarfarbe der wilden Mäuse gewonnen. Er konnte nur zwei Pigmente konstatieren, ein schwärzlichbraunes und ein gelbes. Ich vermute, dass es ihm nicht gelungen ist, das braune und schwarze zu isolieren. Das Vorkommen 439 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. rein brauner Mäuse spricht für die Richtigkeit von Bateson’s Be- funden. Jedenfalls erweisen sich alle die verschiedenen von dem normalen Grau abweichenden Nuancen als Defekte in der Pıgmen- tierung, als deren höchster Grad der echte, vollkommene Albinismus erscheint. Insofern könnte man mit gutem Recht melanistische Exemplare als unvollkommen albinotische bezeichnen. Als ähnliche Defektrassen sind wohl auch die bänderlosen Varietäten von Helix-Arten aufzufassen, die ebenfalls bei Kreuzungen den Mendel’schen Regeln zu folgen scheinen. Jedenfalls ist die Dominanz der Bänderlosigkeit erwiesen. Den einen von Lang (1904) beobachteten Fall von Helix nemoralis X hortensis habe ich schon oben bei Gelegenheit der Artkreuzungen erwähnt. Aber auch bei Experimenten innerhalb der Art bewährt sich die Prävalenzregel. So erhielt Lang bei Paarung von bänderlosen und fünfbänderigen IH. hortensis ausschließlich einfarbige Junge. Ein ganz ähnliches Resultat erzielte Hartwig (1885 und 1889) in zwei Fällen durch Kreuzung von einbänderigen gelben H. nemoralis mit einfarbig rot- braun gefärbten Stücken. Auch hier dominierte die Bänderlosig- keit. Interessant sind diese Versuche noch deswegen, weil in dem einen Fall die Jungen gelb, im anderen rotbraun ausfielen. Auch jede von den Grundfarben scheint sich als dominierend, respektive rezessiv verhalten zu können. Wir haben es hier also vielleicht mit zwei Mendel’schen Merkmalspaaren zu tun. Über das Auf- fallende, das hier die Bänderlosigkeit, also sicher das phylogenetisch jüngere Merkmal dominiert, habe ich oben schon gesprochen. Von Mendel’schen Färbungsvarietäten sind namentlich noch die von Bateson (1902) mitgeteilten Hühnerrassen zu erwähnen, obwohl manche von ihnen sich nicht streng nach der Regel richten. Neben der Färbung hat noch eine andere eigentümliche Modi- fikation des Pelzes von Säugetieren Material für zahlreiche, die Mendel’schen Regeln betätigende, Experimente geliefert — der bereits mehrfach genannte Angoracharakter. Er besteht in be- sonderer Länge, Feinheit und seidigem Glanz der Haare. Zuerst bei Katzen und Ziegen aus Angora beobachtet, galt er lange als geographische Varietät, die durch klimatische Einflüsse — Zusammen- wirken von. strengen Wintern und heißen Sommern —- hervor- gerufen sein sollte. Später lernte man ähnliche Rassen auch von anderen Säugetieren in verschiedenen Ländern kennen. Schon Darwin (1868) waren typische Angorakaninchen aus Moskau be- kannt. Seitdem ist dieselbe eigentümliche Modifikation des Haar- kleides außer bei den genannten Arten noch bei Ratten und Meerschweinchen bekannt geworden. Gewöhnlich tritt sie mit vollständigem oder teilweisem Albinismus vergesellschaftet auf. Und gleich diesem fällt sie auch in den Bereich der Mendel’schen Regel, wie eine ganze Reihe oft erwähnter Versuche an hatten, Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 49.) Meerschweinchen und Kaninchen bewiesen haben. Gleich dem Albinismus bildet also der „Angorismus“ eine scharf charakterisierte, in verschiedenen Tierarten vorkommende Erscheinung. Von sonstigen, die Form oder Zahl von Organen und Organteilen betreffenden Abänderungen, die sich bei Kreuzung mit der typischen Rasse nach den Mendel’schen Regeln richten, ist aus dem Bereich der Zoologie noch nicht viel bekannt geworden. Hauptsächlich sind hier als die einzig sicher verbürgten Fälle wieder Bateson’s (1902) Experı- mente mit Hühnerrassen zu nennen. So dominiert, wie ich schon früher erwähnte, z. B. ein drei- oder vierlappiger Kamm über den einfach gezackten der gewöhnlichen Landrassen. Auch über Bate- son’s Experimente mit fünfzehigen Dorkinghühnern, deren abnorme Zehenzahl sich bald als dominierendes, bald als rezessives Merkmal gegenüber der normalen Vierzehigkeit erwies, habe ich schon be- richtet. Zu den auffallendsten und am längsten bekannten Mendel'- schen Fällen aus der Säugetierwelt gehören endlich noch die japanischen gefleckten Tanzmäuse, die zuerst von Haacke (1895) und später von mehreren Autoren untersucht wurden. Ihre ab- normen Eigenschaften zeigen sich bei Kreuzung mit gewöhnlichen grauen Mäusen als rezessiv und treten in den späteren Generationen getreu der Regel wieder auf. Auch die Tanzmäuse wird man wohl als Defektvarıetäten auffassen dürfen. Alle Autoren, Rawıtz (1902au.b), Alexander und Kreidl (1902a, b u. c), Cyon (1902) und Kıshi (1902) stimmen darin überein, dass bei den eigentüm- lichen Tieren Abnormitäten und Defekte im Gehörorgan und auch im nervösen Apparat zu konstatieren sind, wenn auch ihre An- sichten über Einzelheiten auseinandergehen. Damit ist das zoologische Material, soweit es mir zugänglich war und ausreichend sicher be- gründet erschien, erschöpft. Nur von Homo sapiens wäre hier noch ein Fall zu registrieren, der durch Darwın (1868) berühmt gewordene „Stachelschweinmensch* Lambert. Seine merkwürdige Anomalie bestand darın, dass seine Haut „dick mit schwieligen Vorsprüngen, die periodisch erneuert wurden“, bedeckt war. Hierin glichen ihm seine sämtlichen sechs, mit einer normalen Frau er- zeugten Kinder. Von seinen Enkeln zeigte dagegen nur ein Teil den großväterlichen Charakter; und ebenso war es in der dritten und vierten Generation. Hier haben wir also wahrscheinlich einen ganz typischen Mendel’schen Fall, bei dem sowohl Dominanz als Spaltung nachgewiesen ist. Nur waren natürlich die Geburtsziffern lange nicht hoch genug, um die Übereinstimmung der numerischen Verhältnisse mit der Spaltungsregel ebenfalls nachzuweisen. In der Botanık ist die Zahl der für die Gültigkeit der Regel sprechenden Experimenten aus naheliegenden Gründen viel größer als in der Zoologie. Sie sind m den letzten Jahren so oft ım Zu- sammenhang referiert worden und haben so im Vordergrunde des 94 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Interesses gestanden, dass ich auf die Herzählung der einzelnen Fälle verzichten kann. Die beliebtesten, schon von Mendel selbst namhaft gemachten Beispiele sind wieder Abänderungen in der Färbüng. Und zwar sind es auch von Pflanzen gerade die weibß- blühenden Spielarten, also Albinismen, die am häufigsten als Para- digmata der Regeln aufgeführt werden. Wie in der Tierwelt scheint sich auch an Pflanzen der Albinismus und überhaupt die geringere Pigmentierung durchgängig als rezessiv zu erweisen. Und dasselbe gilt von anderen Merkmalen, die wir ebenfalls un- bedingt als defektive Abänderungen auffassen dürfen. Ich erwähne z. B. das Abortieren von Antheren, den Mangel von Behaarung und Bedornung. In anderen Fällen ließ sich das Domimieren des phylogenetisch älteren Merkmals über das jüngere konstatieren, B. der geschlitzten Blätter von Brennesseln über ganzrandige. Auch andere Besonderheiten in der Form, selbst in der Blütezeit und Lebensdauer, ferner pathologische Eigenschaften, wie Blüten- missbildungen und bunte Blätter haben a als echte Mendel’sche Merkmale erwiesen. Nach dieser eursorischen Übersicht über die typischen Mendel’schen Fälle will es fast scheinen, dass es kaum gelingen könnte, sie unter irgendeinen gemeinsamen Gesichtspunkt zu bringen. Und diesen Eindruck haben bis jetzt, wie es scheint, auch die meisten, und gerade die kompetentesten Forscher em- pfangen. So konstatiert z. B. de Vries im zweiten Bande seiner Mutationstheorie (1903 a) allerdings, dass es ım allgemeinen nur Rassenmerkmale sind, die den Mendel’schen Regeln folgen, dass dieses aber lange nicht alle tun, sondern nur ein Teil. „Welcher Teil weiß man aber auch jetzt noch nicht; jede bis dahin auf- gestellte Regel erleidet so wichtige Ausnahmen, dass es einleuchtend ist, dass der wirkliche Grund des Unterschiedes noch nieht auf- gedec kt wurde.“ An einer späteren Stelle sucht er dann das Wesen fer Mendel’schen Fälle mit Hilfe seiner Auffassung von aktiven und latenten Anlagen, von retrogressiven und degressiven Eigen- schaften aufzuklären, ohne jedoch alle Schwierigkeiten überwinden zu können. Correns (1905) hat sich noch im vorigen Jahre dahin ausgesprochen, dass wohl sicher alle Eigenschaften den Regeln folgen können, und dass man nach der sonstigen Natur eines Merk- mals nie voraussagen könne, wie es sich einem anderen gegenüber verhalte. Und doch schemt mir die Lösung des Rätsels so nahe zu liegen, dass es schwer zu fassen ist, wie alle Forscher an ıhr vorübergehen konnten. Etwas Gemeinsames haben höchstwahr- scheinlich, ja fast sicher, sämtliche Mendel’sche Fälle. Der Albi- nismus und die anderen hierher gehörigen Abänderungen in der Farbe, die Angorahaarigkeit, die abweichenden Formen der Kämme bei verschiedenen Hühnerrassen, die überzähligen Zehen etec.: alles Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 425 dieses sind Formen, die durch keinerlei Übergänge mit den Stamm- formen verbunden sind. Und sie sind auch nicht durch all- mähliche Umbildung entstanden, sondern — in den meisten Fällen nachgewiesenermaßen — durch plötzliche sprung- weise Variation. Und dasselbe dürfte von den Beispielen aus‘ dem Pflanzenreich gelten. Hier sind meine Kenntnisse dieser Dinge allerdings nicht ausreichend, um das für all die zahlreichen Fälle im einzelnen nachzuweisen. Wo ich aber nachschlug, überall fand ich, dass die Mendel’sche Rasse plötzlich auf einem Beet oder einem Felde der Stammform in einem oder wenigen Exemplaren gefunden wurde, ohne dass daneben Übergänge zwischen beiden Typen vorhanden gewesen wären. Ja, es gilt ja sogar als Regel für Experimente über Dominanz und Spaltung, dass man zwei Formen auswählen müsse, die erstens für sich rein züchten und zweitens scharf und ohne existierende Übergänge miteinander kon- trastieren. Da es aber gute, alte Arten auch nicht sein dürfen, bleiben schon aus diesem Grunde nur plötzlich entstandene Varie- täten übrig. Denn die allmählich entstandenen sind natürlich durch Übergänge mit der Stammform verknüpft, sonst würden sie ja als Arten angesprochen werden. Dieses empirisch aus den Tatsachen abgeleitete Ergebnis ließe sich übrigens auch rein per deduetionem Eolsesn. Denn allmählich ae noch durch Übergänge mit dem Typus der Art verknüpfte Varietäten müssen bei Kreuzung mit der Stammart ja unbedingt intermediäre Bastarde ergeben, ganz einfach vermöge ihrer eigenen Variabilität und des Hinneigens zum Typus. Also können nur plötzlich entstandene Formen die Erscheinungen der Mendel’schen Regeln zeigen. Das ist aber eine Tatsache von der allergrößten Bedeutung, weil so die scheinbar so merkwürdigen Mendel’schen Fälle aus ihrer Isolierung heraustreten und sich einem großen Komplex von Er- scheinungen einordnen lassen, der schon lange bekannt war. Bevor ich aber dazu übergehe, dieses zu tun, wıll ich noch einmal auf die einzelnen, bei sonst typischen Mendel’schen Kreuzungen be- obachteten Ausnahmen zurückkommen. Auch diese hoffe ich jetzt dem Verständnis näher ee zu können, als es mir bei ihrer ersten Erwähnung möglich war, bevor ich den Zusammenhang der Mendel’schen Ben it dem plötzlichen Entstäken von Varietäten nachgewiesen hatte. Ausnahmen hat es nämlich auch bei Experimenten mit echt Mendel’schen Merkmalspaaren oft genug gegeben, sie sind nur, um die Freude über das schöne Gesetz nicht zu stören, nicht so beachtet worden, wie sie es verdienen. Sowohl die „Prävalenz-, als die Spaltungsregel gilt nicht immer absolut. Unter den Hybriden erster Generation finden sich der Regel zuwider oft einige Indi- viduen mit dem rezessiven Merkmal, wie Bateson (1902) sowohl 426 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. an Pflanzen als an Hühnerrassen konstatieren konnte. Ja Ewart (1902) hat bei Kreuzung von einem grauen Kaninchen mit einem weißen Angoramännchen gleich in der ersten Generation weiße und graue Junge in annähernd gleicher Menge erhalten; und Lang (1904) führt ein ähnliches Resultat von seinen Schneckenzuchten an. Ebenso hat die zweite Hybridgeneration trotz genügend großen Versuchs- materiales den Experimentatoren zuweilen nicht die typischen Zahlenverhältnisse von 3:1 ergeben, sondern eine Überzahl dominant- merkmaliger oder rezessivmerkmaliger Bastarde !). Da wir es in allen Mendel’schen Fällen höchstwahrscheinlich mit plötzlich entstandenen Varietäten zu tun haben, darf es uns ja nıcht wundern, wenn die plötz- liche Umänderung sich ım Verlauf der Experimente gelegentlich wiederholt, wenn also z. B. unter den Nachkommen eines normalen Tieres und eines Albinos der Albinismus an einigen Exemplaren von neuem auftritt an Stücken, die nach der Regel das dominierende Merk- mal tragen sollten. Oder mit anderen Worten, die albinotischen Iden können in den Keimzellen von Tieren aus Stämmen, die überhaupt zur Hervorbringung von Albinismus neigen, auch spontan so zu- nehmen, dass sie die nicht abgeänderten überwiegen, und so die unbedingte Geltung der Regel stören. Die Fälle, in denen bereits unter den Hybriden erster Gene- ration gelegentlich rezessivmerkmalige Stücke auftreten, leiten uns hinüber zu solchen, wo regelmäßig die Bastarde in beide elterliche Formen zurückschlagen, und zwar in sehr wechselnden Zahlen- verhältnissen. Auch solche sind seit langer Zeit oft genug be- schrieben worden. Da speziell die zoologischen Beispiele hierfür nicht so bekannt sind wie die typischen Mendel'schen, so will ich hier die wichtigsten etwas ausführlicher besprechen. Ich beginne mit einigen lepidopterologischen Fällen, die so sorgfältig untersucht sind, dass man sie wohl als klassisch bezeichnen kann, und die in mehr als einer Richtung hochinteressant sind. (Fortsetzung folgt.) 1) Ergebnisse, die von denen aller anderen Forscher abweichen, hat v. Fischer (1573, 1874) mitgeteilt. Bei überaus zahlreichen Kreuzungen von grauen und weißen Ratten, ferner bei solchen von normal gefärbten Mäusen, Hamstern, Wasserratten und anderen Tieren mit Albinos derselben Art will er ausnahmslos beobachtet haben, dass die Jungen sämtlich dem Vater nachschlugen, ganz einerlei, ob dieser das normal gefärbte Tier war oder der Albino. Dieses Resultat widerspricht so sehr den Erfahrungen aller anderen Forscher, dass wir es wohl auf unkontrolliertes Zuchtmaterial und andere Fehlerquellen werden zurückführen müssen, zumal v. Fischer selbst solche für einige Fälle zugegeben hat. Mareus, Über die Beweglichkeit der Ascaris-Spermien. 437 Über die Beweglichkeit der Ascaris-Spermien. Von Dr. H. Marcus. "Die Spermatozoen haben ganz allgemein die Aufgabe, die väterliche Erbmasse bei der Befruchtung zu liefern, die Entwicke- lung des Eies auszulösen und endlich die Vereinigung der Gameten zu bewerkstelligen. Die Teile des Spermatozoons, welche diese letzte Funktion übernehmen, also das Spermium ermöglichen, an und in das Ei zu gelangen, nennt man nach dem Vorgang von Brandes, Waldeyer die „mechanischen“. Im Gegensatz zu diesen bezeichnen diese Autoren die Teile, die bei der Befruchtung wesent- lich sınd, als „genetisch“, während ich den Ausdruck „essentiell“ vorschlagen möchte, da „genetisch“ nicht die Bedeutung hat „für die Genese wichtig“, sondern „durch die Genese“. — Wenn wir nun bei grundverschiedenen Spermiengruppen die mechanischen gewissermaßen akzessorischen Teile abstrahieren, könnten wir hoffen, die essentiellen Bestandteile als Rest zu erhalten. Es wäre daher von besonderer Wichtigkeit, eine Homologi- sierung durchzuführen der gewöhnlichen mittels Geißeln sich be- wegenden „Fadenspermien“ mit den „Kugelspermien“, wie Waldeyer die ohne Geißel benennt. Zu dem letzteren Typus gehört das Ascaris-Spermium. Trotz der zahlreichen Arbeiten über die Geschlechtsprodukte von Ascaris ist die Frage, wie die Kopulation der Ei- und Samenzelle erfolgt, noch nicht völlig geklärt. Die Auffassung, dass die Eier bei der Passage durch die mit Spermien erfüllte Samenblase, wie der enge Abschnitt der Eiröhre vor dem Uterus genannt wurde, die an- scheinend bewegungslosen Samenzellen in sich aufnehmen, oder dass die Wandzellen sıe in die Eier pressen, kann nicht mehr auf- recht erhalten werden. Schon Ant. Schneider beobachtete bei freilebenden Nematoden amöboide Bewegung an den Spermien. Van Beneden war denn auch überzeugt, dass die Bewegungs- fähigkeit den Spermien der parasitären Formen zukäme, wenn er sie auch nicht beobachten konnte, was, wie er mit Recht bemerkt, seinen Grund darın hat, dass Ascaris megalocephala einen Warm- blüter bewohnt. Bestärkt wurde er in dieser Auffassung durch die wechselreiche Form der abgetöteten Spermien. Freilich war van Beneden im Zweifel, ob das Ei dem Spermium nicht ent- gegenkomme, indem es aus einer Mikropyle einen Protoplasmapfropf entgegensende. Die Mikropyle sollte eine Unterbrechung der Ei- membran sein, also durchaus verschieden von der von Meissner beschriebenen, die von der Ansatzstelle an der Rhachis stammen sollte. Es stellte sich aber heraus, dass eime Mikropyle nicht existiert (Boveri) und der bouchon d’impregnation van Beneden’s nur ein Kunstprodukt ist. 428 Marcus, Über die Beweglichkeit der Ascaris-Spermien. Es kommt also als aktiver Teil bei der Kopulation nur das Spermium in Betracht. Die Mehrzahl der Forscher nımmt daher nun eine amöboide Beweglichkeit desselben an und zwar in Über- einstimmung mit van Beneden mit Rücksicht auf die wechselnde oft langgestreckte Form ın den Präparaten. Es gelang mir, diese Vermutung direkt zu beweisen. Ich beobachtete nämlich den lebenden Inhalt der Samenblase warm gehaltener Ascaris lumbricoides ‚auf dem heizbaren Objekttisch teils ın physiologischer Kochsalz- lösung, teils im eigenen Tiersaft. Das sich darbietende Bild über- traf meine Erwartungen. Denn ein sehr großer Teil der Spermien zeigte zahlreiche Pseudopodien. Diese waren feine, lange, manchmal verästelte Fäden. Eine Körnchenströmung glaube ich bemerkt zu haben, doch bin ich dieses Befundes nicht ganz sicher. Die Pseudopodien gingen naturgemäß in der Hauptsache von der protoplasmatischen Breit- oder „Kopf*seite aus, doch habe ıch Fort- sätze auch von dem Saum ausgehen sehen, der den Glanzkörper ar . I Y | % 2) 3 — 5 Sal 2: A e < FR umgibt, so dass das Spermium einem Heliozoon ähnelte. Beim Ab- kühlen des Objekttisches zogen die Spermien die Pseudopodien allmählich wieder ein. Diesen Vorgang erläutert die Figur, die ein und dasselbe Spermium bei der Abkühlung von 35° auf 22° darstellt. Bei erneuter Erwärmung nahm die Pseudopodienbildung wieder zu. | Es scheint mir somit über jeden Zweifel erhaben zu sein, dass die Spermien mittels amöboider Bewegung an die Eier gelangen. Es frägt sıch nun, wie sie ın dasselbe eindringen. Ich kann diese Frage nicht beantworten, obgleich ich das allmähliche Eindringen des Spermiums beobachten konnte. Die Eier besaßen eine Membran, die wohl durch fermentative Wirkung des Spermiums gelöst wurde, eine Ansicht, die schon Zacharias ausgesprochen hat. Wie die Polyspermie vermieden wird, konnte ich nicht ent- scheiden. Wir sehen also, dass beim Ascaris-Spermium das amöboide Protoplasma die Funktion übernimmt, die sonst der Schwanzfaden Mareus, Über die Beweglichkeit der Ascaris-Spermien. 429 und das Akrosom erfüllen. (Das Spitzenstück Scheben’s kann als Perforatorium nicht in Betracht kommen, da das Spermium mit der Breitseite eindringt, während dies Gebilde sich an der ent- gegengesetzten finden soll.) Wir können sie als analoge mecha- ee (Gebilde anspr echen, besonders da sowohl Schwanz fade n und Perforatorıium sowie das Protoplasma des Ascaris-Spermiums, soweit wir wissen, am Befruchtungsvorgang nicht beteiligt sind und im Ei assimiliert werden, wenn sie, wie meist der Schwanzfaden, über- haupt nicht ins Ei dringen. Dazu stimmt auch, dass bei Ascaris kein Idiozom nachweisbar ist, aus dem das Akrosom sich bildet. Für das Ascaris-Spermium charakteristisch ist der Glanzkörper. Er entsteht aus Dotterkugeln, wie ich nachgewiesen zu haben glaube, und wird später im Ei allmählich immer kleiner, bis er völlig verschwindet 1). Bei der Bildung des Hurchungskerns ist er nicht beteiligt (van Beneden, Boveri), wie Scheben angibt. Etwas Analoges zeigen die Mikrogameten der Gregarinen Stylo- rhynchus Mes er), die ebenfalls Dottermaterial dem Ei zuführen. Der Glanzkörper ist somit nach dieser Auffassung ebenfalls von sekundärer Bedeutung. Die Chromosomen der Spermatide, die sich im Kopf des ge- wöhnlichen Fadenspermatozoons oder im Kern des Ascaris-Spermiums zusammenballen, sind natürlich essentielle Bestandteile. Ob das Centrosom es ebenfalls ist, kann ich micht mit Bestimmtheit ent- scheiden, doch glaube ich wahrscheinlich gemacht zu haben, dass das Centrosom der Spermatide innerhalb des Chromatinkerns ent- halten ist. Jedenfalls, wenn auch das Centrosom ein konstantes Zellgebilde und ein essentieller Faktor des Spermatozoons ist, so wirkt es doch mehr mechanisch als Auslösung der Entwiekelung und ist nach der Ansicht der meisten War von keiner Be- deutung für die Vererbung. Als letzten Bestandie des Ascaris-Spermiums müssen wir noch die chromatoiden Körner um den Kern erwähnen. Sie entstehen im Protoplasma der Spermatide oder werden dort wenigstens zuerst nachweisbar. Im Ei strahlen sie radıär aus dem Spermatozoon aus und sind lange deutlich sichtbar, bis sie schließlich im Eiplasma nicht mehr erkennbar sind, so dass ich über ihr weiteres Schicksal nichts mehr aussagen kann. Eine Homologisierung dieser Körner mit den Mitochondrien des Fadenspermatozoon hat wenig Wert, da wir über die Bedeutung dieser Gebilde auch nichts wissen. Wenn es also möglich sein dürfte, wie bei Crustaceen und bei Ascaris, die Homologisierung der atypischen Spermien mit den Fadenspermien durchzuführen, so kann man doch, glaube ich, diese Kugelspermien nicht von den Fadenspermien ableiten, sondern 1) Arch. f. mikrosk. Anat. Bd. 68, Heft 3 430 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. muss sie als gleichwertige Gruppen auffassen, von denen die Faden- spermien nur die größte Verbreitung besitzen. Ich halte es daher für verfehlt, um auf unseren praktischen Fall zurückzukommen, im Ascaris-Spermium nach einem Rudiment eines Schwanzfadens zu suchen. Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweifschemie und ihre Bedeutung für die Physiologie. Von Dr. Franz Samuely, Assistent an der med. Klinik Göttingen. (Schluss. ) Das ideale Ziel der Synthese nnd Verkettung ist natürlich die Darstellung eines Polypeptids, das auch durch Pepsinsalzsäure in einfachere Gliederreihen gespalten wird; dies Ziel, einmal erreicht, bedeutet die Proteinsynthese eines über den Albumosen stehenden Körpers. Die einfachen bis jetzt untersuchten Dipeptide erhielten sich gegen Pepsinwirkung refraktär. Die Versuche werden jetzt auf kompliziertere, mehrgliederige Peptide ausgedehnt. Auch von diesen Unterscheidungen wird die Biologie den Nutzen ziehen, dass es gelingt, „eine schärfere Grenze zwischen Magen und Pankreas- verdauung aufzufinden.“ Abderhalden hat nun zur weiteren Klassifikation der Poly- peptide nach biologischer Wertigkeit und in Ergänzung der Syn- thesenstudien einen zweiten Weg eingeschlagen: nämlich die Ein- verleibung solcher Polypeptide in den Tierkörper und das Studium ihres Verhaltens. Diese Versuche sind in den ersten Anfängen, ihre Deutung daher noch nicht endgültig. Es ergab sich dabei, dass Polypeptide, auch solche, die in vitro durch Pankreas nicht gespalten werden, in vivo-per 08 oder subeutan gegeben, einer Spal- tung unterliegen. Das Kriterium dieses Vorganges liegt ın der Fähigkeit der Peptide, wie die freien Aminosäuren in Harnstoff überzugehen. Abderhalden hat mit Bergell!) gezeigt, dass Glyzyl- Glyzin über das Glykokoll abgebaut wird (Kaninchenversuch), dass sich Dialanylzystin und Dileuzylzystin im Organısmus nicht anders verhalten, als freies Zystin [E. Abderhalden und F. Samuely])?). Auch das von Pankreas nicht angreifbare Leuzyl-Leuzin (Abder- halden und F. Samuely)?) und Glyzyl-l-Tyrosin (E. Abder- I) E. Abderhalden und P. Bergell. Der Abbau der Peptide im Orga- nismus. Zeitschr. f. phys. Chem. 39, 9. 1903. 2) E. Abderhalden und F. Samuely. Das Verhalten von Zystin, Di- alanylzystin und Dilenzylzystin im Organismus des Hundes. Zeitschr. f. phys. Chem. 46, 187. 3) E. Abderhalden und F. Samuely. Erscheint demnächst. Ibidem. 47. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißehemie. 4:1 halden und P. Rona)!) wurden total oxydiert, der Stickstoff bei subkutaner Einverleibung zum Teil retiniert. Glyzyl-Glyzin, Alanyl- Alanin, Diglyzyl-Glyzin, Alaninanhydrid und Glyzinanhydrid (E. Abderhalden und J. Ternuchi)?) riefen alle eine Steigerung des Harnstoffs hervor, dürften also über die freien Aminosäuren oxydiert worden sein. Da einzelne dieser Peptide trypsinresistent sind, sich aber per os oder subkutan nicht verschieden verhielten, so muss die Spaltung des Peptids entweder durch andere Darm- fermente (Erepsin nach Cohnheim!) oder durch Zellfermente jen- seits des Darmes in den Geweben vollzogen sein. Es ist nicht unmöglich, dass bei weiterer Prüfung auch Peptide gefunden werden, die auch gegen diese Fermenthydrolysen resistent sind und unver- ändert im Harn wieder erscheinen Solche Versuche wären dann ebenso für die Erklärung noch unbekannter intermediärer Stofl- wechselprozesse wie für den Gang der folgerichtigen synthetischen Verknüpfung der Aminosäuren gleich wichtig. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Peptidbindungsform, d. h. die Säureamidbindung im Eiweiß primär vertreten ist. Bei der unendlich großen Anzahl der Bausteine aber ist die Vorstellung des Proteinmoleküls als eine einzig große Kette nicht erschöpfend. Andere Bindungsformen sind schon früher direkt oder indirekt nachgewiesen. Fischer hält es für sehr wahrscheinlich, dass auch die Form der beschriebenen Ringkomplexe, der Diketopiperazine primär vertreten ist und die zahlreichen Hydroxyle der wichtigen ÖOxyaminosäuren und die Aminodikarbonsäuren die Möglichkeit für zahllose Verkettungen durch Anhydrid, Ester und Äther- bindung bieten. Dass durch diese synthetischen Arbeiten der Biologie eine ganze Zahl neuer Methoden, neuer Fragestellungen und neuer Tat- sachen erschlossen ist, ist bereits mehrfach gesagt. Es ist ın erster Linie das Verdienst von Abderhalden, durch systematische Stu- dien neue Impulse gegeben zu haben. Zuerst mit Fischer, danach mit einer großen Zahl von Schülern hat Abderhalden nach der Estermethode eine Übersicht über die Zusammensetzung der meisten bekannten Eiweißkörper gegeben, in der Erkenntnis, dass bei der Vielgestaltigkeit der Fiweißarten nicht ihre physikalischen Eigenarten, sondern die Zahl und Menge ihrer letzten Bausteine nach totaler Aufspaltung, eine physiologische Klassifikation er- möglicht. > Das Resultat dieser systematischen Arbeit ist ein Zahlenmaterial von Ausbeuten an Monoaminosäuren aus den verschiedensten Pro- 1) E Abderhalden und P. Rona. Das Verhalten des Glyzyl-l-Tyrosins im Organismus des Hundes bei subkutaner Einführung. Ibidem. 46, 176. 1909. 2) E. Abderhalden und J. Ternuchi. Über den Abbau einiger Peptide und Aminosäuren im Organismus des Hundes. Ibidem: 47, 159. 1906. A392 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. teinen. Für den Biologen aber ist die Kenntnis einer auch nur annähernd quantitativen Zusammensetzung deshalb von Wert, weil sie indirekte Schlüsse gestattet über Prozesse, die sich der direkten experimentellen Beobachtung entziehen. Denn erst wenn man Ver- gleichswerte für die Zusammensetzung der lebenerhaltenden und der lebenführenden (Nahrungseiweiß — Körpereiweiß) Substanzen kennt, sind Schlüsse möglich, über die notwendigen Umwand- lungen, die der Organismus vollzieht, um fortzuleben. Die bis jetzt von der Fischer’schen Schule hydrolisierten Ei- weiße sind: das Kasein, Seidenfibroin, Seidenleim, Eieralbumin, Gela- tine, Horn, Oxyhämoglobin, Edestin, Serumalbumin, Zein, Salmın, Thymushiston, Elastin, Gliadin, Serumglobulin, Ovomueoid, Eiweiß aus Kiefersamen, Konglutin, Keratin aus-Pferdehaaren, aus Gänse- federn, Bence Jones’sches Eiweiß. Von anderen Autoren stammen die Analysen der Eiweißkörper im Kolostrum, der Monoamino- säuren in Keimpflanzen, Eiweiß der Lupinensamen, Nukleoproteid der Leber. An der Mehrzahl war bereits eine Bestimmung der Diamino- säuren durchgeführt (Kossel und seine Schüler). Die Diaminosäuren sind quantitativ bei einer großen Anzahl anderer Proteine, speziell den Protaminen aus den Testikeln ver- schiedener Fische bestimmt, in denen sie entweder die einzigen oder doch die überwiegenden Glieder sind. Es ist hier nicht der Ort, eine Übersicht in Zahlen zu geben. Vergleiche hierzu die übersichtliche Tabelle in Cohnheim, Chemie der Eiweißkörper, 1904, II. Auflage, S. 42ff. Über die Einschränkung, die dem Begriff „quantitativ“ bei den dort angeführten Zahlen zu erteilen ist, ist bereits gesprochen worden. Quantitativ ist bis heute noch kein Protein aufgespalten. Der Theorie am nächsten stehen die Ausbeuten des Globin mit 72°/,,. Fibroin mit 73°/, und 2 Protaminen mit 84°/,. Auch die Schwierigkeit, ein reines Ausgangsmaterial zu erhalten, schmälert den Wert der Ausbeutezahlen. Selbst die Kristallisationsfähigkeit des Proteins ist kein Bürge für absolute Einheitlichkeit. So fand Abderhalden nach einmaligem Umkristallisieren im Globin 0,62%, Glykokoll, während es nach zweimaligem Kristallisieren Glykokoll- frei war. Bedeutungsvoll aber bleiben die Zahlen als Vergleichs- werte. - Das wesentliche Resultat dieser Untersuchungen ist das, dass alle untersuchten Proteine, ob animalischer oder pflanzlicher Her- kunft, qualitativ mit geringen Ausnahmen gleich zusammengesetzt sind. Mit Ausnahme des Glykokoll in 3 Fällen, finden wir sämtliche früher angeführten Aminosäuren im Eiweißmolekül vertreten. In der quantitativen Verteilung dieser Säuren aber begegnen wir den erheblichsten Differenzen. Abderhalden macht nun mit Recht Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 4535 darauf aufmerksam, dass die qualitative Konstanz nach unseren bis- herigen Kenntnissen nicht ausschließt, „dass nicht doch für ein be- stimmtes Protein auch ein bestimmtes, bis jetzt unbekanntes Spaltungsprodukt existiert“, da ja alle Bausteme noch nicht auf- gefunden sind. Die quantitative Zusammensetzung aber darf sicher als eine Funktion der Artgeschlossenheit des Proteins angesehen werden. Wesentlich ist, dass wir das Glykokoll in einzelnen Proteinen, z. B. dem Kasein, dem Serumalbumin und dem Globin vermissen. Als Illustration der quantitativ verschiedenen Zusammensetzung seien hier Beispiele angeführt. Kasein Leim Horn Serum- | Gliadin (Kuh) albumin | (Pfera) | | Glykekalle. 130 | 0.— 16.5 0.34 d% 0.68 IN anna ee ze 0.9 0.8 1.20 2.68 2.66 Leuzin . . e 10.5 2.1 18.30 20.48 6.0 a- -Pyrrolidinkarbonsäure 3a 5.2 3.6 3.04 2.4 Phenylalanın * .....,*... ., 3.2 0.4 3.0 3.08 2.6 Glutaminsäure IR KURT, 0.88 BO 7 02 27.6 Asparagnisäure 1.2 0.56 250; | 3.12 —— Zystin 0.06 — 2.53 _— Aminovaleriansäure . 1.0 — | _ _ Serin . 0.23 nl 5.70 0.6 = Tyrosin 4.5 — 0.68 Dal — Oxy-Pyrrolidinkarbonsäure 124:0.25 3.0 — E= Aa Be 5.8 209: — — Arginin . ö | 4.84 7.62 2.25° — — Eefidiniuneit 0.20.02 002,59 0.40 — _ l Die Tabelle ist zum Teil der Arbeit von E. Abderhalden entnommen (Abbau und Aufbau der Eiweißkörper im tierischen Organismus. Zeitschr. f. phys. Chem. 44, 17. 1905), die dem Referat über diese Fragen wesentlich zugrunde liegt. Man sieht aus der Tabelle die ganz erheblichen quantitativen Unterschiede, die besonders für das Glykokoll, das Leuzin und die Glutaminsäure eklatant sind. Im Globin fand Abderhalden sogar 30°, im Serumalbumin, 20°, Leuzin. Was die Zusammen- setzung speziell der Körpereiweiße betrifft, so hat zuerst Kraus!) auf Basis von Hydrolysen von normalen und phloridzinvergifteten, d.h. diabetischen Tieren die Ansicht ausgesprochen, dass die Körper- Proteine sich in ihrer Zusammensetzung mit dem physiologischen oder pathologischen Bedingungen verändern sollten. Auch Umber?) will gezeigt haben, dass man das Körpereiweiß durch Fütterung 1) F. Kraus. Phlorhidzindiabetes und chemische Eigenart. Deutsche Med. Wochenschrift. 1903, Nr. 14 2) F. Umber. Über Abänderung chemischer Eigenart durch partiellen Ei- weißabbau im Körper. Berl. Klin. Wochenschrift. Nr. 39, 1903. XXVI. 98 434 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. von Benzoesäure, die vom Organismus als Hippursäure (Benzoyl- Glykokoll) ausgeschieden wird, glykokollärmer machen könne. Demgegenüber hat Abderhalden dargetan, dass z. B. die quantitative Zusammensetzung des Gesamttiereiweißbestandes und speziell das Serumeiweiß im Hunger sieh nicht gegen die Norm verändert‘). Es scheint also, dass der Organismus mit außerordent- licher Zähigkeit an der konstanten Zusammensetzung seines Eiweiß festhält, das gleiche haben Versuche von Abderhalden und Sa- muely?) dargetan, die darauf gerichtet waren, den Organismus zu zwingen, eine Aminosäure in besonders reichlichem Maße anzu- setzen. Einem durch Hunger und Aderlässen in großen Eiweißhunger versetzten Pferd, wurde in profuser Weise Gliadin verfüttert, das zu !/, aus Glutaminsäure besteht. In dem Serumeiweiß des Tieres konnte nach der Fütterung und in den Höhepunkten der Resorption keine Vermehrung der Glutaminsäure gegen die Norm festgestellt werden. Bei den Hydrolysen der Körpereiweiße handelt es sich um die Proteine der Stützsubstanzen und die des sogen. „zirkulierenden Eiweiß“. Wir besitzen noch keine Methode, die uns die Dar- stellung eines Organeiweiß, z. B. Lebereiweiß?), Lungeneiweiß etc. sicher gestattet: Es wäre sehr wohl möglich, dass die Organeiweiße in sich konstante, untereinander verschieden zusammengesetzte Körper sind. Die biologische Reaktion aber oder das Verhalten bei der Autolyse (Spezifizität des autolytischen Organfermentes für sein bestimmtes Organ. M. Jacoby) genügen nicht zur Entschei- dung. Auch die vergleichende Erforschung des Aminosäurengehaltes in Tumor und Krebseiweiß einerseits, Organsubstanz andererseits gestattet nur die Vermutung, dass mit einer veränderten anato- mischen Beschaffenheit auch eine chemische Änderung der Zu- sammensetzung Platz greift. Aus diesem Grund warnt Abder- halden vor einem verfrühten Urteil, einer „Chemie der Organe“. Hand in Hand mit der Säurehydrolyse der Proteine gingen die Untersuchung des fermentativen Abbaus. Diesem gebührt na- türlich doppeltes Interesse, denn er entspricht dem physiologischen Vorgang der Verdauung und stellt einen milderen Eingriff dar als die totale Aufsprengung der gewaltsamen Säurehydrolyse. Bei einem Verdauungsversuch des Kasein mit Trypsin bis zum Verschwinden der Biuretreaktion fanden sich die Mehrzahl der 1) E. Abderhalden, P. Bergell und Th. Dorpinghaus. Zeitschr. f. phys. Chem. 41, 153. 1904. 2) E. Abderhalden und F. Samuely. Beitrag zur Frage nach der Assi- milation des Nahrungseiweiß im tierischen Organismus. Zeitschr. f. phys. Chem. 46, 193. 3) J. Wohlgemuth. Über das Nukleoproteid der Leber. Ibidem. 42, 519. 19047 37, 475...1905. 445530. 1902: Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 455 bekannten Aminosäuren, nach der Estermethode ım Verdauungs- gemisch isolierbar. Vermisst wurde dagegen das Phenylalanın und o-Prolin. Fischer und Kuderklası)) konnten nun aus dem Verdauungsgemisch einen Körper isolieren, der keine Biuretreaktion mehr gab, also nicht im landläufigen Sinne ein „Pepton“ war. Dieser Körper, in annähernder Ausbeute von 15°/,, erwies sich gegen die weitere Verdauung mit Trypsin durchaus resistent. Dagegen Eee es, ihn durch ee mit Säuren weiter abzubauen. Dabei zerfiel derselbe in sämtliche bekannten Monoamimmosäuren. Speziell ist es auffallend, dass er das Phenylalanin und das a-Prolin in dem- selben Mengenverhältnis enthielt, wie das ursprünglich zur Ver- dauung angesetzte Protein. War das Protein glykokollhaltig, wie das Edestin, Hämoglobin, Serumglobulin, Fibrin, so enthielt der fermentresistente Körper auch das gesamte Glykokoll. So erklärt sich, dass diese 3 Säuren nie frei im Verdauungsgemisch nach- weisbar waren. Dieses abiurete Produkt wurde gewonnen bei Pankreasverdauung. ‘Ging aber der Trypsinwirkung eine Pepsin- verdauung voran, dann waren direkt auch freies Prolin und Phenyl- alanın ar während die Menge des fermentfesten Körpers abgenommen hatte. Nach dem Verhalten und den Analogien der synthetischen Polypeptide nehmen Fischer und Abderhalden an, dass in diesem Produkt ein Gemisch von verschiedenen natür- lichen Polypeptiden vorliegt, deren Trennung und Identifikation noch aussteht. Einen fermentresistenten Anteil im Proteinmolekül hatte schon Kühne bei seinen Verdauungsversuchen mit Trypsin beobachtet, und darauf seine Einteilung der Anti- und Hemigruppe getroffen. Auch Siegfried?) isolierte solche fermentfeste, kristallinische Pep- tone, das Gluto- und Kaseinokyrin, die bei weiterer Säurespaltung in Lysin, Arginin, Glutaminsäure und Glykokoll zerfielen. Es bleibt abzuwarten, ob das Fischer’'sche Polypeptid mit diesem Kyrın identisch ist, oder ob in dem Gemisch das Kyrin als Anteil ent- halten ist. Das Polypeptid Fischer’s ist auf Diaminosäuren nicht untersucht. Die alte Anschauung einer sogen. Antigruppe aber be- steht zu Recht. Aus diesen Tatsachen aber folgt, dass die Fermentverdauung nicht zu einer totalen Aufsprengung des Eiweißmoleküls führt. Durch Versuche von Abderhalden ist nun weiter dargetan, dass dieses Verdauungspolypeptid kein Laboratoriumsprodukt in vitro 1) E. Fischer und E. Abderhalden. Über die Verdauung einiger Eiweiß- körper durch Pankreasfermente. Über die Verdauung des Kaseins durch Pepsin- salzsäure und Pankreasfermente Zeitschr. f. phys. Chem. 39, Sl. 40, 215. 1903. 2) M. Siegfried. Zur Kenntnis des Glutokyrnis. Zeitschr. f. phys. Chem. 43, 41, 19. 1904/1905. Über Kaseinskyrin. Ibidem. 43, 44. 28* 436 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. ist, sondern dass es in dieser Form und mit gleichen Eigenschaften auch im lebenden Organismus gebildet wird!). Bei allen Ver- dauungsversuchen in vitro ist die Reaktionsdauer eine außerordent- lich lange, oft monatelange. Im Organismus aber vollzieht sie sich in wenigen Stunden. Die Kürze der Frist ist durch mancherlei physikalische Be- dingungen erklärlich. Einmal steht der fortschreitenden Aufspal- tung eine fortschreitende Resorption gegenüber. Es vollzieht sich also dauernd ein Konzentrationswechsel zugunsten des Reaktions- verlaufs nach der gewünschten Richtung. Gerade die physikalische Chemie hat uns gelehrt, wie sehr die Konzentration, d.h. die Ab- nahme der Konzentration der entstandenen Reaktionsprodukte bei einer Reaktion — hier Fermentreaktion — die Richtung und die Reaktionsgeschwindigkeit beeinflusst. Die kurze Zeit ist also an und für sich kein Widerspruch gegen die Übertragung der experi- mentellen Tatsachen auf den Mechanismus im Lebenden. In der Tat hat nın Abderhalden nachgewiesen, dass es auch im Darmkanal nicht zu einer totalen Aufsprengung des Proteins kommt, sondern auch abiurete, fermentfeste Produkte entstehen. Abderhalden hat sie aus dem Darminhalt von S—11 Stunden zuvor gefütterten Tiere isoliert und ihre nahe Verwandtschaft mit dem Fischer’schen Polypeptid dargetan. Somit kommt es auch intra vitam nicht zu einer totalen Auf- sprengung des Eiweiß, und das Auftreten freier Aminosäuren im Darminhalt, kann nicht mehr im Sinne des totalen Abbaus nach Kutscher-Seemann?) gedeutet werden. Auch dies wurde durch Abderhalden und Reimbold®) erwiesen. Diese Autoren haben die vitalen Verhältnisse derart imitiert, dass sie die Trypsinverdauung im Dialysenschlauch vor sich gehen ließen, und das Dialysat in regelmäßigen Zeitabständen auf kristallmische Produkte untersuchten. Dabei ergab sich, dass schon nach 1—2 Tagen das gesamte Tyrosin, Tryptophan und anscheinend auch Zystin aus dem Eiweißmolekül abgespalten wird, zu einer Zeit, da noch reichlich Albumosen und Peptone im alten Sinn (Biuretreaktion!) vorhanden sind. Für das Tyrosin war eine ähnliche leichte Abspaltbarkeit durch Trypsin be- reits bei der Darstellung des beschriebenen natürlichen Polypeptids aus Seidenfibrin, Glyzyl-a-Alanin von Fischer und Bergell be- obachtet. Erst später gelangen dann die anderen Aminosäuren zur Ab- 1) E. Abderhalden. Aufbau und Abbau des Eiweißkörpers. Zeitschr. f. phys. Chem. 44, 29. 2) Kutscher-Seemann. Zeitschr. f. phys. Chem. 34, 528. 1901. Vgl. 9 99 oND Or), 432. 1902. 3) E. Abderhalden und Bela Reimbold Der Abban des Edestins aus Baumwollsamen durch Pankreassaft. Zeitschrift f. phys. Chem, 46, 159. 1905. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 431 trennung, wie Leuzin, Alanin, Glutaminsäuren ete. Entsprechend dem Bestehen des Verdauungspolypeptids und seiner bekannten Zusammensetzung, wurde auch hier Prolin, Phenylalanın und Glyko- koll vermisst. Abderhalden will diese Versuche nicht ganz auf den Lebenden übertragen. Dennoch darf er soviel folgern, dass der Verdauungsprozess in seinem Chemismus nicht wahllos, sondern schrittweise, partiell und selektiv erfolgt, und dass dies Verhalten eben bedingt ist dureh die Art, Natur und Reihenfolge der gegen- seitigen Aminosäure- und Peptidverknüpfung. Diese zahlreichen Daten haben nun unserer Anschauung über die Physiologie der Verdauung eine neue Richtung gegeben, die im wesentlichen Abderhalden wiederholt zum Ausdruck gebracht hat!). Die großen Unterschiede der quantitativen Zusammensetzung der Nahrungsproteine und Körperproteine erfordern eine weitgehende Transformation im Organismus, damit die ersteren in die letzteren übergehen können. Am illustrativsten führt in dieser Beziehung Abderhalden das Kasein an, aus dem eimzig und allein der wachsende Organismus seine so verschieden zusammengesetzten Körpereiweiße aufbaut. Die Vorbereitung zu dieser postulierten Transformation, oder sie selbst, geschieht durch die Verdauung. Diese ist eine conditio sine qua non, damit Nahrungseiweiß zu Körpereiweiß wird. Nahrungseiweiß zirkuliert nie im Blut des Organismus, ebensowenig kann es zu Körpereiweiß wer- den, wenn es parenteral oder subkutan einverleibt wird. Der Organismus verhält sich einem solchen Protein gegenüber wie einem Gift; zahlreiche Tatsachen der biologischen Methoden be- weisen dies (Präzipitine). Ein körperfremdes Protein kann also nur körpereigen, d. h. assimiliert werden, wenn es durch weit- gehenden Abbau vorbereitet ist. Es ist keineswegs nur. die Auf- gabe der Verdauung, kristallinische, diffusible Substanzen aus kolloidalen Körpern zu bilden, sondern die Verdauung ist ein Akt von viel weitgehenderer biologischer Dignität, die ebenso die Er- haltung des Individuums wie die Erhaltung der Art bestimmt?). Abderhalden fasst daher diesen Gedankengang mit Recht dahin zusammen, dass er sagt: „Die Assimilation beginnt bereits im Darmkanal.“ Abderhalden geht in der Deutung der einzelnen bisher festgestellten Prozesse der Verdauung weiter: Nicht nur die der Resorption vorangehende Aufspaltung, sondern auch der Mecha- nismus dieser Reaktion, der schrittweise Abbau, die Resistenz eines 1) Vel. E. Abderhalden. Aufbau und Abbau der Eiweißkörper im tierischen Organismus. Ibidem. 44, 17. 1905. 2) E. Abderhalden. Der Artenbegriff und die Artenkonstanz auf biologisch- chemischer Grundlage. Naturwissenschaftl. Rundschau. 19, 44. 1904. — Ders. Die Bedeutung der Verdauung der Eiweißkörper für ihre Assimilation. Oentralbl. für Stoffwechsel und Verdauungskrankheiten. 5, 24. 1904. 438 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. fermentfesten Polypeptidkerns, die Entstehung anderer Polypeptide, können wichtige Bedingungen für den Haushalt der Zellen und ihre späteren Synthesen sein. Durch den von ıım und Reimbold [estgestellten partiellen auswählenden Abbau kann sich die Um- wandlung des Proteins zu körpereigenem Eiweiß „in geeigneter Reihenfolge“ vollziehen. Auch das resistente Polypeptid, d. h. die Antigruppe kann gewissermaßen der reaktionsfähige Kern sein, an dem sich bei der nachfolgenden Synthese die vorher abgespaltenen freien Aminosäuren ın wechselnden Mengen und wechselnder Reihenfolge anlagern. So ließe sich die Konstanz der qualitativen und die Inkonstanz der quantitativen Zusammensetzung verschie- dener Proteine erklären. Für die Bedeutung dieser, „Polypeptide* hat Abderhalden mit Rona!) einen experimentellen Beweis gegeben. Zunächst hatten die Autoren festgestellt, dass es gelingt, Tiere (Mäuse) mit einem Futter am Leben zu erhalten, das im wesentlichen aus Aminosäuren und Spuren biuretgebender Substanzen besteht (4). Bei einer Prüfung der quantitativen Ausnutzung solcher Nahrungsgemische?) zeigte sich nun folgendes: Wird das Tier mit den getrockneten Rückständen emes durch Fermente abgebauten Proteins (Trypsin) gefüttert, so gelingt es, nicht nur das Tier im Stickstoffgleich- gewicht zu halten, sondern sogar zu N-Ansatz zu bringen. Wird das Tier unter Zufuhr gleicher Kalorıenzahl mit einem durch Säure total hydrolisierten Protein ernährt, so gelingt es nicht ein- mal, das Stickstoffgleichgewicht zu erzielen. Beide Nahrungsmittel unterscheiden sich nur dadurch, dass ım zweiten Fall durch die eingreifende Säurewirkung gewisse Aminosäuren aus peptidartigen Bedingungen gelöst sind, die ın dem Verdauungsgemisch (Poly- peptid) noch in unbekannter Menge erhalten sind. Mit allergrößter Wahrschemlichkeit darf daher ım Sinne Abder- halden’s den Polypeptiden und den abiureten Substanzen, die bei (ler Verdauung entstehen, eine funktionelle Bedeutung für die Ei- weißsynthese zugeschrieben werden. In höchst geistreicher Weise hat Abderhalden den Gedanken ausgesponnen, dass diese Peptide auch die Unverdaulichkeit der Gewebe durch ihre Fermente erklären können, indem auch hier, z. B. in den Epithelien des Verdauungstraktus u. s. f., Struktur und 1) E. Abderhalden und P. Rona. Fütterungsversuche mit durch Pan- kreasin, durch Pepsinsalzsäure und Pankreatin, wie durch säurehydrolisiertem Kasein. Zeitschr. f. phys. Chem. 42, 528. 1904. — Dieselben. Über die Verwertung der Abbauprodukte im tierischen Organismus. Ibidem. 44, 198. 1905. 2) Ähnliche Versuche mit positivem Erfolg waren ausgeführt von O. Löwi. Archiv für experimentelle Pathol. u. Pharmakol. 48,303. 1902. — J. Henderson und A. L. Dean. Americ. Journal of Physiology. 9, 386. 1903. — Ferner später V. Henriques und ©. Hausen. Zeitschr. f. physiol. Chem. 44, 417. 1905. — Mit negativem Erfolg Lesser. Zeitschr. f. Biologie. 45. NF. 27, 497. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 459 Konfigurationsbedingungen vorliegen, die wie bei den synthetischen Polypeptiden eine Einwirkung der Fermente ausschließen. Dass in der Tat in den Organgeweben solche fermentresistente Gruppen vorliegen, konnte er bei Autolyseversuchen zeigen, bei welchen er, wie bei der Verdauung, eine fermentfeste Substanz isolierte. Die Konfiguration dieser Polypeptidgemische (?) bleibt noch abzuwarten. Zur Konstitutionserklärung der Proteine ıst auch der Weg des oxydativen Abbaus eingeschlagen worden, im der Erwartung, durch mehr oder weniger energische Oxydation (Kaliumpermanganat, Bariumsuperoxyd, Wasserstoffsuperoxyd, Kalziumpermanganat) zu einfacheren biuretfreien Produkten zu gelangen, ohne die N-Bindung im Zusammenhang der Elementarkomplexe zu lösen. Man ist dabei (vgl. besonders v. Fürth)!) zu jenen noch unaufgeklärten Säuren- körpern gelangt, die den Sammelnamen der Oxyprotsulfosäuren und Peroxyprotsäure tragen, und die bei der hydrolytischen Spal- tung noch Aminosäuren und Basen liefern, speziell beim Kochen mit Baryt Oxalsäuregruppen abspalten. Die letzten Endprodukte, und auch diese Vorstufen sind physiologisch von untergeordnetem Interesse, da einer Oxydatıon ım Organismus eine Spaltung voran- gehen muss. Wertvoller sind die Oxydationsversuche von Peptiden. Pollak?) oxydierte das fermentfeste Glyzyl-Glyzin und erhielt Oxalylaminoessigsäure, d.h. ein sauerstoffreicheres Peptid, das seine NH,-Gruppe nicht verloren hat. Dieser Körper seinerseits kann leicht über die Oxaminosäure Oxalsäure abspalten. Wenn nun auch ein solcher Oxydationsmodus intra vitam für die Norm nicht angenommen werden kann, so ist er unter pathologischen Bedingungen immerhin möglich. So ließe sich die Ausscheidung der gesteigerten Oxalsäuremenge bei Oxalurie erklären?). Bekamntlich hat Kossel!) auf Grund seiner eingehenden Stu- dien jener Eiweißkörper, die in Sperma und Eiern der Fische ge- funden werden, eine Klassıfikation der Eiweißkörper getroffen. Jene relativ einfach zusammengesetzten Körper, die im wesent- lichen oder ausschließlich nur die basischen Diaminosäuren enthalten neben vereinzelten und spärlichen Monoaminosäuren, sind die ein- 1) Vgl. hierzu OÖ. v. Fürth. Beiträge zur Kenntnis des oxydativen Abbaus der Eiweißkörper. Beiträge z. chem. Phys. u. Path. VI, 296. — Bondzynski und Zoja. Uber Oxydation der Eiweißkörper mit Kaliumpermanganat. Zeitschr. f. phys. Chem. 19, 225. 1894. — Daselbst die ges. Literatur zu dieser Frage. 2) L. Pollak. Über die Oxydationsprodukte des Glyzyl-Glyzin. Beitr. z. chem. Phys. u. Path. VII, 17. 1905. 3) Vgl. hierzu Fr. Kutscher und Schenk. Zeitschr. f. phys. Chem. 43, 337. — S. Seemann. Zeitschr. f. phys. Chem. 44, 229. 4) A. Kossel und H. D. Dakin. Beiträge zum System der einfachsten Ei- weißkörper. Zeitschr. f. phys. Chem. 40, 565. 1904. — Ibidem. 41, 407. 1904. 41, 307. — Vgl. auch A. Kossel. Über den gegenwärtigen Stand der Eiweiß- chemie. Ber. der chem. Gesellsch. 34, 3214. 1901. 440 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem (Gebiet der Eiweißchemie. fachsten Proteine. Demgemäß und ım Einklang mit den Orten ihres physiologischen Vorkommens nennt sie Kossel: Protamine. Aus ihnen entstehen durch Anlagerung von Monoaminosäuren die höheren Proteine. Die Diaminosäuren, die wegen ıhrer 6 Kohlen- stoffatome Hexonbasen heißen, setzt Kossel ın physiologische und chemische Beziehung zu den Kohlehydraten, speziell den Hexosen. Es steht zu erwarten, dass diese bedeutungsvollen Arbeiten aus der Schule Kossel’s mit denen E. Fischer’s sich auf einem ge- meinsamen Punkt treffen werden. Vielleicht ıst dieser in den Polypeptiden der Diaminosäuren zu suchen, deren Untersuchung erst begonnen ıst. Ein prinzipieller Gegensatz in der Anschauung von einem vorgebildeten Proteinkern, zu den Studien Fischer’s existiert nicht. | Was die Beziehung des Eiweiß zu den Kohlehydraten angeht, so sind von mancherlei Seite Kohlehydrate (Hexosen) und Zucker- säuren aus den Eiweißkörpern isoliert worden. Untersucht wurden Serumproteine und Eieralbumin (vgl. hierzu Langstein)!). Sicher gestellt ist die Gegenwart dieser Substanzen keineswegs. Abder- halden?) konnte solche Substanzen nicht isolieren, und vermutet, dass diese reduzierenden Körper den untersuchten Proteinen nur beigemengt sind: sicher aber ist die Existenz des Glukosamins in den Muzinproteiden bewiesen (Fr. Müller und seine Schule ®), jener merkwürdigen Säure, die chemisch den Übergang der Amino- säuren zu den Kohlehydraten bildet*). Selbst wenn aber solche Kohlehydrate dem Molekül des Proteins angehörten, so genügt ihre Menge keineswegs, um den bekannten Einfluss von Eiweißernährung auf die diabetische Zuckerausscheidung quantitativ zu decken. Auch hierzu müssen die Aminosäuren herangezogen werden (Fr. Müller°), Krauß, Löw)®). Chemische Überlegungen (E. Fischer und Abder- halden)’) stehen dieser Anschauung nicht im Wege. Das Leuzin enthält wie die Glukose 6 Kohlenstoffatome, das Alanın und Serin die Hälfte davon. Die Aminovaleriansäure steht zu den Pentosen, wie das Leuzin zur Hexose. Eine ganz „natürliche Brücke“ zwischen |) L. Langstein. Die Bildung von Kohlehydraten aus Eiweiß. Ergebnisse der Physiologie. 1, 63. 3, 453. — Derselbe. Zeitschr. f. phys. Chem. 42, 171. 2) E. Abderhalden, P. Bergell und Th. Dorpinghaus. Die Kohle- hydratgruppe des Serumglobulins, Serumalbumins und des Eieralbumins. Zeitschr. f. phys. Chem. 41, 530. 1906. N 3) F. Müller. Zeitschr. f. Biologie. 42, 468. 1901. Zusammengefasste Literatur. 4) Synthese von E. Fischer und H. Leuchs. Ber. d. deutsch. chem. Ge- sellsch. 36, 24. 1903. 5) Fr. Müller. I. c. Langstein. |. c. 6) ©. Löw. Einige Bemerkungen über die Zuckerbildung aus Proteinen. 3eitr. z. chem. Phys. u. Path. 1, 567. 1900. 7) E. Fischer und E. Abderhalden. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 441 Aminosäuren und Kohlehydraten bildet das sehr verbreitete Serin. Die experimentellen physiologischen Daten zu dieser Frage mehren sich. So sah Embden!) beı Darreichung von Alanın an diabe- tische, pankreaslose Hunde, eine Steigerung des Zuckergehaltes. Vgl. auch Mohr?), der durch Glykokoll ähnliches erreichte, bei gleichzeitiger Zufuhr von Benzoesäure den Einfluss des Glykokolls aber paralysierte. Referent ıst ın der Besprechung dieser Tatsachen ausführlicher geworden, weil er der Ansicht ıst, dass manche dieser Frage- stellungen sich speziell für die Zoologie und die Biologie der nie- deren Tiere fruchtbar erweisen können. Gerade von Peptidversuchen bei diesen einfacher zusammengesetzten Organısmen dürfte die Wissenschaft viel erwarten. Das gleiche gilt für die Kenntnisse der Eiweißsynthese und des indermediären Stoffwechsels; die außer- ordentlich komplizierten Verhältnisse und methodischen Schwierig- keiten ın der Erforschung dieser Prozesse bedingen das Dunkel in dem die Wissenschaft noch hier steht. Auch hier vermöchte die Biologie der einfacher zusammengesetzten Lebewesen, speziell der Wirbellosen, unter Nutzanwendung der Peptidforschungen, wirksam die Lücken unseres Wissens auszufüllen. Es ıst eine unbeantwortete Frage: was wird aus den resor- bierten Aminosäuren. Nach der alten Anschauung (Neumeister)?) sollte der synthetische Prozess des Eiweiß sofort wieder ın der Darmwand erfolgen, über den Weg der Peptone und Albumosen. Im Blut des gesunden Organısmus sind mit bindender Sicherheit Albumosen nie gefunden worden. Embden und Knoop®), Lang- stein°), zuletzt v. Bergmann®) wollen solche gefunden haben. Abderhalden mit Oppenheimer’”), ebenso mit Samuely°) konnten sie unter Bedingungen, die für ihre hypothetische Gegenwart sehr günstig gewesen waren (vgl. den Fütterungsversuch am Pferd), ım Serum nicht finden. Entschieden ist die Frage nicht, so lange die Bestimmungen und Fahndung nur mit Blut gemacht sind, das aus den peripheren Venen stammt. Es ist zu bedenken, dass dieses Blut auf seinem Weg vom Darm bereits das Filter der Leber 1) G. Embden und H. Salomon. Beitr. z. chem. Phys. u. Path. VI. 63. 1909. 2) L. Mohr. Zeitschr. f. klin. Med. 1904. Zeitschr. f. experimentelle Path. u. Therapie. II. 1906. 463 ff. 3 3) R. Neumeister. Zeitschr. f. Biologie. 26, 57. 1890. Ibidem. 24, 272. 1888. 4) @. Embden und F. Knoop. Beitr. z. chem. Phys. u. Path. III. 120. 1902. 5) L. Langstein. Ibidem. III. 373. 1902. 6) G. v. Bergmann und L. Langstein. Über die Bedeutung des Reststick- stoffes des Blutes u. s. w. Ibidem. VI. 27. 1905. 7) E. Abderhalden und Oppenheimer. Zeitschr. f. phys. Chem. 42, 155. 1904. 8) E. Abderhalden und F. Samuely. 1. c. 42 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. - Hin passiert hat und dass dort eine Umwandlung mit den Albumosen vor sich gegangen sein kann. Das gleiche gilt für die Frage: zırku- lieren freie Aminosäuren ım Blut?!). Auch hier kann nur die Unter- suchung des Protalvenenblutes oder die langersehnte gute Durch- blutungsmethodik des ısolerten Darmes berechtigte Einwände be- seitigen. Daneben stehen aber andere Schwierigkeiten: Bei den freien Aminosäuren handelt es sich um so große Verdünnungen, die mit jedem Pulsvolum vergrößert werden, dass der negative Ausfall der Prüfung nicht entscheidend ist. Umgekehrt können durch methodische Eingriffe aus den Bluterweißen Aminosäuren abgespalten werden und zu Täuschungen Anlass geben. Wenn in der Tat im Darm eine Synthese und Regeneration zu Eiweiß (Löwı?), Kutscher und Seemann)°’) vor sich geht, so ließe sich erwarten, dass eine bestimmte Aminosäure, in besonders reichlicher Menge verfüttert, ım Bluteiweiß etwa wiederzufinden sei. Der auf dieses Ziel gerichtete Versuch, durch Fütterung von Gliadin (enthält 33°/, Glutaminsäure), an ein durch Hunger und Aderlässen an Eiweiß verarmtes Pferd blieb erfolglos. Die Serum- proteine blieben in ihrem Gehalt an 2,34°/, Glutaminsäure konstant (Abderhalden und Samuely). Über die Umwandlungen können wir daher nur das aussagen, dass die Aminosäuren imstande sınd, eine gewisse Zeitlang den N-Bedarf des Organismus zu decken, eventuell Eiweiß zu sparen und dass sie in Harnstoff dabei übergehen). Für die Prozesse der Assimilation lassen sich über das Wie nur Vermutungen anstellen. Chemisch betrachtet kann die Verwertung der Aminosäuren in 2 Richtungen erfolgen, wenn wir von einer unmittelbaren Synthese zu Eiweiß absehen. Einmal kann durch desamidierende Fermente die NH,-Gruppe abgespalten werden?) — Analogien solcher Gewebsprozesse sind für die Überführung von Aminopurinen in Oxypurine durch Schitten- helm festgestellt — der N-freie kohlenstoffreiche Teil verfällt der Oxydation zu CO, und H,O. Quantitativ kann dieser Prozess nicht statthaben, da er kaum die Erklärung zum Ansatz von Eiweiß gibt. Der andere Spaltungsmodus erfolgt derart, dass die Säure ın einen N-haltigen Kohlenstoffkomplex und einen N-freien zerfällt. Aus den Versuchen für den Übergang von Aminosäuren in Kohlehydrate liegen hierfür experimentelle Daten vor. Almagıa und Embden®) 1) G. v. Bergmann. Beitr. z. chem. Phys. u. Path. VI. 40. 1905. 2) O. Löwi. Archiv f. experim. Path. u. Pharm. 48, 304. 3) Kutscher und Seemann. Zeitschr. f. phys. Chem. 35, 432. 4) Vel. Abderhalden und Rona. l.c. — S.Salaskin und Kath. Kowa- lewsky. Ibidem. 42, 410. 1904. — Schulzen und Nencki. Zeitschr. f. Bio- logie VIII. 124. 1874. — F. Salkowski. Zeitschr. f. phys. Chem. 4, 54 und 100. Ibidem. 42, 207. 1904. — K. Stolte. Beitr. z. chem. Phys. u. Path. V. 1,2. 5) Lang. Über Desamidierung im Tierkörper. Ibidem. V. 321. 6) Almagia und Embden. Ibidem. VI. 59. 1905. — Vgl. hierzu C. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 44 sahen bei der Durchblutung der Leber mit Leuzin eine Jodoform- gebende Substanz, deren Entstehen nur nach dem Schema zu er- klären ist: CH CH CH,CHNH,COOH + CH,\ CH, „® u | ” . ” a . CH, . zugleich ein interessanter Beitrag zur Frage der Azetonbildung. Aber auch = a Möglichkeit muss herangezogen werden. N CH, CHNH,COOH. CH,T i So ließe sich die Entstehung von Glykokoll aus glykokoll- freiem Nahrungseiweiß erklären, lt die von Wıechow sky ‚t) ın- direkt festgestellte Erscheinung, dass fast der größte Teil E Harn- oO eksiolte die Glykokollvorstufe durchlaufen haben muss. Auch der Begriff des Stickstoffgleichgewichts, das einzig und allein eine Funktion der Menge zugeführten Eiweißstickstoffes ist, gewinnt so an Verständnis, wenn man sich vorstellt, dass ein konstanter Bruchteil aller Aminosäuren zu Glykokoll wird. Für die übrig bleibenden N-haltigen Anteile aber ist die Möglichkeit neuer Syn- thesen zu anderen Aminosäuren und Proteinen gegeben. Der Orga- nismus vermöchte so einen Umbau von Aminosäuren vollziehen zum Zweck des spezifischen Eiweißaufbaus. Die Fütterungsversuche mit Aminosäuren haben auf eine weitere interessante Tatsache aufmerksam gemacht. Verfüttert man z. B. einem Kaninchen (Wohlgemuth) synthetische, d. h. razemische Aminosäuren, so scheidet der Organismus einen Teil der Säure wieder im Harn aus. Dieser Anteil ist die eine optische Komponente der Razem- körper, die d-Form, indes die natürliche 1-Form oxydiert wird. D. h. die Gewebszellen spalten oder oxydieren auch hier assymetrisch, wie es für proteolytische Fermente bereits bei razemischen Peptiden beschrieben ist. Nur der im natürlichen Protein vertretene Anteil ist auch zur Synthese oder Oxydation geeignet. Allgemein ıst dieser Satz nicht eültie. hend die Selektion beim nal nahezu quantitatıv een (Wohlgemuth)?), finden sich beim Hunde und Menschen nach Fütterung von Razem- v. Noorden und G. Embden. Centralblatt für die ges. Phys. u. Path. des Stoff- wechsels. 1, 2. 1906. 1) W. Wiechowsky. Gesetze der Hippursäuresynthese. Zugleich ein Bei- trag zur Frage oder Stellung des Glykokolls im Stoffwechsel. Beitrag. z. chem. Phys. u. Path. VII. 204. 1905. 2) J. Wohlgemuth. Über das Verhalten stereoisomerer Substanzen im tierischen Organismus. II. Inaktive Aminosäuren. Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 38, 2064. 1905. 444 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. körpern gar keine oder nur geringe Mengen unveränderter l-Aminosäure ım Harn'). Dieser Widerspruch harrt der Aufklärung. Beim Men- schen ıst es sogar möglich, dass es sich bei der ganzen Erscheinung um einen alımentären Prozess handelt, um eine Überschwemmung mit Aminosäuren. Denn es bedarf zur Fütterung einer beträcht- lichen Menge Razemkörpers (Alanın u. a.) um dann nur kleine Anteile unverändert ım Harn wiederzufinden. Auch ıst es möglich, dass individuelle Faktoren und solche des jeweiligen Ernährungs- zustandes mitspielen (R. Hırsch?), widersprochen von Plaut-Reese). Diese Befunde und das Bestreben, den intermediären Stoff- wechsel aus semen Endprodukten indirekt zu ergründen, hat die Aufmerksamkeit wieder auf die N-haltıgen Substanzen ım Harn gelenkt. Bei einer Bestimmung des Faktors: ©: N ım normalen Harn zeigte sich ein Defizit von N, verglichen mit dem Faktor C:N, der sich aus der Gesamtheit aller aus dem Harn isolierten N-haltigen bekannten Substanzen berechnen lässt (Pregl)?). Es müssen also im Harn kohlenstoffreiche und N-haltige Sub- stanzen unbekannter Art vorhanden sein. Die Zahl dieser Körper wächst mit der Zahl exakter Beobachtungen. Es können dazu alle jene Körper herangezogen werden, deren Konstitution noch durch- aus unklar ist (Oxyproteinsäure®), Uroproteinsäure*), Uroferrin- säure?*) etc. Salkowsky°) wies auf indirektem Weg die Existenz eines N-haltigen Kohlehydrats nach. Wesentlich und von allergrößtem Interesse aber ist jener kolloidale, nicht diffundierende Körper, der von Abderhalden und Pregl®) auf seine Zusammensetzung studiert wurde — derselbe ergab bei salzsaurer Hydrolyse nicht 1) E. Abderhalden und J. Ternuchi. l.c. — E. Abderhalden und F. Samuely. l.c. — M. Plaut und H. Reese. Über das Verhalten im Tier- körper eingeführter Aminosäuren. Beitr. z. chem. Phys. u. Path. VII. 424. 1906. — A. Schittenhelm und A. Katzenstein. Verfütterung von i-Alanin am normalen Hund. Zeitschr. f. experim. Path. u. Therapie. 2, 1. 1905. 2) R. Hirsch. Zum Verhalten der Monoaminosäuren im hungernden Orga- nismus. Ibidem. 1, 141. 1906. — G. Embden. Verhandl. d. 22. Kongresses f. inn. Med. 1905. 304. 3) F. Pregl. Über die Ursachen der hohen Werte des C : N-Quotienten im normalen Harn. Pflüger’s Archiv. LXXV. 87. 189. “ 4) St. Bondzynsky, St. Dombrowowsky, K. Paneck. Uber die Gruppe von Stickstoff und schwefelhaltigen organischen Säuren, welche im nor- malen Harn enthalten sind. Zeitschr. f. phys. Chemie. 46, S3. 1905. — P. Hari. Über einen neuen stickstoffhaltigen Bestandteil des normalen Harns. Zeitschr. f. phys. Chem. 46, 1. 1905. — Cloetta. Arch. f. experim. Path. u. Pharm. 40, 27. 1897. Thiele. Zeitschr. f. phys. Chem. 37, 251. 1903. 5) Salkowski. Berl. Klin. Wochenschr. 51, 1581. 1618. 1905. 6) E. Abderhalden und F. Pregl. Über einen im normalen menschlichen Harn vorkommenden, schwer dialysierbaren Eiweißabkömmling. Zeitschr. f. phys. Chem. 46, 19. 1905. - Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 445 unbeträchtliche Mengen Glykokoll, Alanın, Leuzin, Glutamin- säure Phenylalanin, und wohl auch Asparaginsäure. Es handelt sich danach um einen hochmolekulären Körper, dem die Autoren mit Recht eine polypeptide Struktur zusprechen und der im Stofl- wechsel der Oxydation entgeht. Ober ein regelmäßiges Stoffwechsel- produkt ist, ob seine Zusammensetzung und Menge von Nahrung, Hunger, Verdauungsbeeinträchtigung, Kachexie u. s. w. beeinflusst ist, bleibt weiteren Studien vorbehalten. Der Kernpunkt aller Fragen über imdermediären Stoffwechsel ist der: Vollzieht sich der Abbau beim Verbrauch von Eiweiß ın derselben Weise, wie es durch die proteolytischen Fermente bei der Verdauung oder die intrazellulären Fermente bei der post- mortalen Gewebsautolyse geschieht. Die Pathologie kommt uns bei der Beantwortung dieser Frage zu Hilfe. Bekanntlich finden sich bei Phosphorvergiftung Aminosäuren im Harn, desgleichen bei sogen. akuter gelber Leberatrophie. Zu den bekannten Säuren Tyrosin und Leuzin fügten Abderhalden mit Bergell!) das Glykokoll und mit L. F. Barker?) das Phenyl- alanın, Wohlgemuth?) das Alanin hinzu. Auch im Blut waren Aminosäuren gefunden). Es ist nun nicht erwiesen, ob die Ausscheidung der Aminosäuren darauf beruht, dass durch die Vergiftung das Oxydationsvermögen für Eiweißabbauprodukte herabgesetzt ist, oder ob die Oxydation dem Übermaß der entstehenden Aminosäuren nicht gewachsen ist. Wahrscheinlich ist, dass es sich bei der Lebereinschmelzung um eine im sterilen Gehäuse des Lebenden verlaufende akute Autolyse des vergifteten Lebergewebes handelt, und dass die Aminosäuren deshalb im Harn erscheinen, weil sie, im Blut fortgeführt, gerade der Organeinwirkung entzogen sind, die unter gesunden Verhält- nissen für die Oxydation und Umwandlung der vom Darm resor- bierten Aminosäuren die größte Rolle spielt. Wesentlich anders liegen die Verhältnisse bei jenen „Stoff- wechsel“störungen, bei denen zugeführte Substanzen ganz oder ir Bruchstücken (Kohlehydrate, Aminosäuren und deren Oxydations- produkte) als pathologische Abnormität des intermediären Stofl- wechsels ohne zeitliche Unterbrechung zur Ausscheidung gelangen. Dahin gehört, der Diabetes, die Zystinurie, die Alkaptonurie und die Gicht. Wenn bei diesen Krankheiten Aminosäuren im = 1) E. Abdderhalden und P. Bergell. Über das Auftreten von Mono- aminosäuren im Harn von Kaninchen nach Phosphorvergiftung. Zeitschr. f. phys. Chem. 39, 464. 1903 2) E. Abderhalden und L. F. Barker. Nachweis von Aminosäuren im Harn. Ibidem. 42, 524. 1904. 3) F. Wohlgemuth. Zur Kenntnis des Phosphorharns. Ibidem. 44, 74. 1905. 4) ©. Neuberg und P. Riehter. Deutsch. med. Wochenschr. 30, 499. 1904. 446 Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. Harn erscheinen, so war zu entscheiden, ob ihre Anwesenheit an sich pathognomonisch ist, oder nur eine Steigerung der in geringer Menge im normalen Zustand vorhandenen Säuren bedeutet. Dass solche Aminosäuren im Harn vorhanden, wurde indirekt aus den Bestimmungen über die Verteilung des Stickstoffes im Harn geschlossen. Nach Pfaundler, Krüger und Schmidt!) wurde die Differenz des Gesamtstickstoffs und Harnstickstoffes im Filtrat des mit Phosphorwolframsäure gefällten Harns, für Aminosäuren in Rechnung gesetzt. Von Embden?) und Neuberg?) ist die Gegenwart von freiem Glykokoll und anderen Aminosäuren im normalen Harn direkt bestimmt. Auch G. Forssner*) hat Glykokoll, aber nicht regelmäßig gefunden. Spätere Untersucher (Abderhalden und ‚Schittenhelm?), Sa- muely)‘) bestätigen die Anwesenheit geringer Glykokollmengen, die durch Naphthalinsulfochlorid isoliert wurden. Über die Be- dingungen ihres Auftretens und ihrer Mengen steht noch nichts fest. Möglich ist, dass sie durch die Methode der Isolierung erst aus peptidartigen Substanzen abgespalten sind. Für die Gicht, bei der Ignatowsky”) Glykokoll gefunden hatte, ist dessen Gegenwart nicht pathognomonisch. Bei Diabetes fand Abder- halden®), danach Mohr’) im Koma größere Mengen Tyrosin im Harn, desgleichen nach lange dauernder Narkose (Abderhalden). Hier dürfte es sich um Tyrosin handeln, das nicht durch den patho- logischen Prozess gebildet ist, sondern infolge der verminderten Oxydationsfähigkeit der erkrankten Gewebe unoxydiert den Körper verlassen konnte. Das gleiche gilt für das Zystin, das ım Harn des Zystinurikers ausgeschieden wird. In einem solchen Harn 1) Pfaundler, Zeitschr. f. phys. Chem. XVII, 15. H. Krüger und J. Schmidt. Ibidem. XXX, 1, 556. 2) G. Embden und H. Reese. Über die Gewinnung von Aminosäuren aus normalem Harn. Beitr. z. chem. Phys. u. Path. VII. 411. 1905. 3) ©. Neuberg und M. Wohlgemuth. Sitzungsber. d. Gesellsch. d. Charite- ärzte vom 1. Febr. 1905. 4) G. Forssner. Über Vorkommen von freien Aminosäuren im Harn und deren Nachweis. Zeitschr. f. phys. Chem. 42, 15. 1905. 5) Abderhalden und Schittenhelm. Ibidem. 47, 4. 6) F. Samuely. Zur Frage der Aminosäuren im normalen u. path. Harn. Ibidem. 47, 376. 7) Ignatowsky. Über das Vorkommen von Aminosäuren im Harn, vor- zugsweise bei Gicht. Ibidem. 42, 388. 1904. — Vgl. auch A. Lipstein. Aus- scheidung von Aminosäuren bei Gicht und Leukämie. Beitr. z. chem. Phys. u. Path. VII, 527. 1905. 8) E. Abderhalden. Abbau und Aufbau der Eiweißkörper. 1. e. Zeitschr. f. phys. Chem. 44, 17. 1905. 9) Mohr. Das zuckerfreie Pankreasdiabetes des Hundes Zeitschr. f. experim. Path. u. Therapie. II. 463, 665. 1906. Samuely, Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Eiweißchemie. 447 y; fe) ‘ wurden von Abderhalden und Schittenhelm!') auch Leuzin und Tyrosin und andere Aminosäuren gefunden. Von Neuberg und Löwy?) ist das Unvermögen des Zystinurikers, auch per os ein- geführte Aminosäuren (Leuzin, Tyrosin) zu verbrennen, behauptet worden. Von anderen (©. Alsberg, O. Folin, Charles E. Simon)?) ist diese Erscheinung nicht bestätigt worden. Dieser Widerspruch mag darauf beruhen, dass verschiedene Grade jener verminderten Oxydationsfähigkeit der Zystinurie existieren. Wenn es sich nicht erweist, dass diese Erkrankung auf eine in falsche Bahnen geleitete Abspaltung von Zystin- und Aminosäuregruppen handelt — durch Fütterungsversuche mit Zystinpeptiden strebt Abderhalden jetzt die Entscheidung hierüber an —, so bleibt nur die Vorstellung, dass die Oxydation normal entstehender Produkte gehemmt ist. Wir können danach sagen, dass unter normalen Verhältnissen freies Zystin intermediär im Körper zirkuliert, oder, da seine Ausschei- dung ım Hunger andauert, von der lebenden Zelle an die Gewebe abgegeben wird. Bei der Alkaptonurie findet sich im Harn die Homogentisin- säure, die als ein Oxydationsprodukt®) der aromatischen Amino- säuren der Proteine, dem Tyrosin und Phenylalaniın aufzufassen ist. Wenn auch hier einmal der Einwand einer am falschen Ort einsetzenden Oxydation entkräftet ist, bleibt nur der Schluss, die Homogentisinsäure als ein normales intermediäres Stoffwechsel- produkt anzusehen, für dessen Überführung in H,O und 00, die spezifische Fähigkeit verloren gegangen ist. Ganz spärlich sind unsere Kenntnisse so zahlreicher im Stoff- wechsel auftretender, biologisch wichtiger Substanzen und ihrer gene- tischen Beziehung zu den Nahrungsstoffen. Auch hier vermöchte die Kenntnis einzelner Eiweißspaltprodukte . Aufklärung liefern. Einige Beispiele hierfür liegen bereits vor. Nur durch die Konstitutions- erklärung des Zystins und seine Überführung in vitro in Taurin (Friedmann) war es möglich, auch die Genese des Taurins aus dem im Protein zugeführten Zystin abzuleiten (V. Bergmann’), Wohlgemuth)®). Das gleiche gilt für die im Hundeharn vor- 1) E. Abderhalden und A. Schittenhelm. Ausscheidung von Tyrosin und Leuzin in einem Fall von Zystinurie. Zeitschrift für physiologische Chemie. 45, 468. 1905. g 2) A. Löwy und C. Neuberg. Über Zystinurie I. 43, 338. 1905. 3) CharlesE. Simon. Über Fütterung von Monoaminosäuren bei Zystinurie. Ibidem. 45, 356. 1905. 4) Vgl. das Sammelreferat F. Samuely über Alkaptonurie. Centralbl f. d. gesamte Phys. u. Path. des Stoffwechsels. 1906. 5) v. Bergmann. Die Überführung von Zystin in Taurin im tierischen Organismus. Beitr. z. chem. Phys. u. Path. 4, 132. 1903. 6) J. Wohlgemuth. Über die Herkunft der schwefelhaltigen Stoffwechsel- produkte im tierischen Organismus, Zeitschr. f. phys. Chem. 40, 81. 1903. 448 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. kommende Kynurensäure, als deren Muttersubstanz von Ellinger?) das Tryptophan festgestellt wurde. Aber gerade an diesem Bei- spiel wird es klar, wie vorsichtig man in der allgemeinen Beur- teilung solcher chemischer Umwandlungen oder Synthesen sein muss, da die Kynurensäure bis jetzt nur im Hundeorganısmus ge- funden wurde. Ganz dunkel aber sind noch die Wege, auf denen der Organismus den größten Teil des Kohlenstoffs, der dem Körper im Eiweiß zugeführt wird, zu Glykogen verwandelt. Auch hier wird die Physiologie und Biologie von den Ergeb- nissen der exakten Chemie Nutzen ziehen, ohne aber auf die mühe- volle Kleinarbeit zu verzichten, mit der sie jahrelang und als erste die Fragen der Eiweißchemie angegriffen und der Schwesterwissen- schaft geklärt. Über die Ursachen der Disposition und über Frühsymptome der Raupenkrankheiten’). Von Dr. med. E. Fischer in Zürich. Die Raupenkrankheiten haben durch zwei für den Menschen sehr wichtige Begebenheiten zuerst die Aufmerksamkeit in nennens- werter Weise auf sich gelenkt: durch die massenhafte, meist durch- weg tödlich verlaufende Erkrankung der nützlichen Seidenraupe auf der einen und der forstschädlichen Nonnenraupe auf der anderen Seite. Im ersteren Falle sah man jeweilen mit Bangen um die köst- liche Seidenernte dem Hereinbrechen der verheerenden Krankheit entgegen, im letzteren begrüßte man sie mit Jubel und erleichtertem Aufatmen als den Erretter ın der Not. Man muss sich etwa die ungeheuren Verluste vor Augen halten, um die entsprechende „Stimmung“ der beteiligten Kreise zu be- greifen. So wurde in den sechziger Jahren die Seidenzucht in Europa durch Raupenkrankheiten um etwa die Hälfte reduziert; Italien ward von 1854 an von der Pebrinekrankheit betroffen, die in kurzer Zeit gewaltigen Schaden brachte, so dass schließlich neues Zuchtmaterial aus Asien beschafft werden musste. Frankreich aber, wo 1845 zuerst die Krankheit der Seidenraupen sich zeigte, war innerhalb 5 Jahren um ?/, seiner Seidenernte gebracht und erlitt bis zum Jahre 1867 den ungeheuren Verlust von nahezu 1'/, Milliarden Franken, so dass Kommissionen zur Ergründung 1) A. Ellinger. Über die Konstitution der Indolgruppe im Eiweiß und die Quelle der Kynurensäure. Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 37, 1801. . 1901. — Die Entstehung der Kynurensäure. Zeitschr. f. phys. Chem. 43, 325. 1904. 2) Eingeliefert Mitte April 1906. Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 449 der Ursachen und der Abwehrmaßregeln ernannt wurden. Be- kanntlich ist es Pasteur auf mikroskopischem Wege gelungen, zu zeigen, dass die sogen. Oornalıia’schen Körperchen, das sind die Karen der De von der Raupe, falls sie nicht vor der Ver- puppung zugrunde geht, auf Puppe, Falter und Eier und von diesen wieder auf us nächste Raupengeneration übergehen, und dass durch Kontrollierung der Eier dieser gefährlichen Krankheit vorgebeugt werden kann. In mehr nördlichen Teilen Europas, besonders ın Deutschland, hatte die Nonnenraupe wiederholt die Kiefern- und Fichtenwaldungen schwer heimgesucht, sie auf weite Gebiete total entlaubt und damit zum Absterben gebracht. Nachweislich trat schon ın den Jahren 1839/40 die Nonnenraupenkalamität in den Staatswaldungen des Reviers Weingarten mit einem Verluste von 500 ha Wald auf und wir besitzen von dem damaligen Forstamte wertvolle Aufzeich- nungen, auf die wır noch zu sprechen kommen werden. Das gleiche (Gebiet nebst Ochsenhausen wurde von derselben Raupe 1856/57 heimgesucht, wobei 1570 ha Fichtenwald gefällt wurden und 1889/92 wiederholte sich ın mehreren Gegenden Deutschlands das gleiche Missgeschick und führte zur Vernichtung großer Waldflächen, auf denen die Bäume infolge Kahlfraßes entweder zum Teil abstarben oder vorher noch geschlagen werden mussten, so dass man das Herbeiwünschen der Raupenkrankheit sehr wohl begreifen kann, denn alle menschlichen Anstrengungen hatten sich von jeher als völlig unzureichend erwiesen. — Auch bei den Raupenzuchten, wie sie von Schmetterlings- sammlern unternommen werden, treten die verschiedenen Krank- heiten oft auf und vernichten sie mitunter in kürzester Zeit gänz- lich, und es dürfte geeignet erscheinen, hier die verschiedenen Formen, von denen die meisten als Infektionskrankheiten sich dartun, in Kürze anzuführen: 1. Der Darmkatarrh. Es besteht entweder ein Durchfall vom leichtesten bis stärksten Grade, angeblich meistens veranlasst durch zu saftiges, zu junges, oder auch durch Regen, Tau oder künstliches Bespritzen benetztes Futter, oder aber er verläuft ohne Durchfall als leichte Absonderung von Schleim, der als halbtrockener Faden zwei oder mehrere Exkremente miteinander verbindet. 2. Die Muscardine oder Kalksucht. Sie tritt merk- würdigerweise weitaus am meisten an solchen Raupen auf, die stark behaart sind. Namentlich Arctia caja L., hebe L., vellica L., aulica L. u.a. fallen ihr im Frühjahre oft sehr leicht und sogar massenhaft zum Opfer, als ob der Winter sie dafür empfänglich gemacht hätte. Die Raupe wird durch das Mycelium von Botr ylis bassiana Bal. durchwuchert, welches das Körperinnere in eine wachsartige Masse verwandelt, die Haut durchbricht, dann frukti- xXXVI. 29 450 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. fiziert und die ganze Raupe unglaublich schnell in eine schimmelige Mumie verwandelt, die sehr steif und brüchig wird. Leider benagen die gesunden Raupen gerne solche abgestorbene, und außerdem verbreiten sich die Sporen leicht in den Räumen, zufolge welch beider Umstände die Seuche oft rapid um sich greift. 3. Die Schwindsucht. Die Raupen bleiben im Wachstum zurück, obgleich sie fressen und in keiner Weise an Darmkatarrh leiden; hellfarbige, z. B. grüne Arten werden durchscheinend und nehmen einen bräunlichen Farbenton an. Später trıtt meistens der Tod ein; einige Individuen erholen sich aber auch und ergeben Falter. Ob es sich um eine Infektionskrankheit handelt, ıst zwar noch unsicher, wahrscheinlich handelt es sich aber um eine chro- nisch und milde verlaufende Form der folgenden Krankheit. 4. Die Gelb- oder Fettsucht (Grasserie), die bei den Seidenraupen schon lange bekannt ist. Die Raupe fällt ihr meistens erst nach der letzten Häutung anheim; sie soll stets aufgetrieben oder gedunsen und daher glänzend werden, während das Fett- gewebe in Wirklichkeit schwindet; daher die unrichtige Bezeich- nung „Fettsucht oder Grasserie“. Hellfarbige Raupen werden gelblich oder bräunlich, daher „Gelbsucht“. Vielfach, bei der Seidenraupe fast regelmäßig, erfolgt der Tod noch vor der Verpuppung. In dem getrübten Blute, sowie im Verdauungskanale (und in den Ex- krementen) sind mikroskopisch kleine glänzende polyedrische Körperchen (als regelmäßige 6-Ecke, seltener als 5- oder 4-Ecke zu sehen) von etwas varıabler Größe nachweisbar. Joh. Bolle entdeckte diese Gebilde zuerst 1873 und erkannte sie im Anschlusse an Untersuchungen der Seidenraupen in Japan (1893) als Sporozoen. Von den Lepidopterologen wurde dieser Mikroorganismus (Mierosporidium polyedricum Bolle), der übrigens auch in dem Werke von F:Doflein „Die Protozoen“ 1901 nicht angeführt ist, so gut wie gar nicht beachtet und die Krankheit offenbar mit einer anderen, wohl zumeist mit der unter 6 genannten Flacherie, aber auch mit der Pebrine verwechselt. — Nach meinen Beobachtungen werden nicht alle Raupen aufgetrieben, obgleich sicher Gelbsucht vorliegt und die polyedrischen Körperchen zahl- reich vorhanden sind. 5. Die Pebrine oder Gattina, auch Körperchen- krankheit genannt, ist die am besten, insbesondere von Pa- steur, Balbiani, Haberlandt, Versonu. a. erforschte Krank- heit, die, wie bereits angeführt, auch unter den Seidenraupen schon kolossale Verheerungen anrichtete. Sie wird erzeugt durch die von E. Cornalia entdeckten und nach ihm benannten Cornalia’- schen Körperchen, einem ovalen Mikroorganismus, der anfänglich (1857) von Nägeli als Nosema bombycis, von Lebert (1858) als Panhistophyton ovale oder ‚Mieroeoceus ovatuıs zu den Spaltpilzen Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 451 gerechnet, ın neuerer Zeit aber als Nosema bombyecis zu den Sporo- zoen gestellt worden ist. Die Symptome sind je nach der Raupenart etwas verschieden und fast stets mit einem Darmkatarrh verbunden; außerdem treten bei hellfarbigen Raupen dunkle Flecken auf. Aus dem Darme werden flüssige und halbflüssige Massen entleert, die Raupe sinkt bald zusammen und hängt oft ganz ausgemergelt und welk nur noch an einigen Füßen oder liegt zusammengeschrumpft am Boden . und stirbt so nach und nach ab. 6. Die Flacherie oder Schlaffsucht (nicht Schlafsucht) nach dem französischen Worte „flache — schlaff“ benannt, weil die tote Raupe nur an einigen Füßen angeklammert schlaff herunter- hängt. Sie gilt allgemein als die ansteckendste und gefährlichste und wohl auch verbreitetste Krankheit. Sie ist diejenige Seuche, welche nicht nur die Seidenraupen oft schwer dezimiert, sondern auch den Verwüstungen der Nonnenraupen jeweilen ein Ziel setzt, wo sie als sogen. „Wipfelkrankheit* bekannt und „geschätzt“ ist, weil die kranken Raupen die Wipfel besteigen, sich dort zu Haufen zusammendrängen, hierauf rasch verenden und als schlaffe Leichen daran hängen bleiben. Mit dieser Infektionskrankheit werde ich mich hier näher zu befassen haben, weil die folgenden Unter- suchungen von ihr ausgingen. i Die Raupen verfallen ihr selten vor der letzten Häutung, meist im ausgewachsenen Zustande, also kurz vor der V erpuppungszeit. Bemerkenswert ist der höchst akute Verlauf derselben. Die kranke Raupe erscheint dem aufmerksamen Züchter auffallend groß, sie frisst nicht mehr, kriecht vielleicht noch einige Stunden unge- duldig umher, klettert gerne in die Höhe, hält dann bft plötzlich an und gibt in vielen Fällen von diesem Augenblicke an selbst auf Reize kein Zeichen mehr von sich. Es scheint somit zu der be. reits bestandenen leichten Lähmung der Hautmuskulatur, derzufolge m. E. die Raupe eben „aufgetrieben“ erschien, eine endgültige, fast blitzschnelle Lähmung des gesamten motorischen Apparates hinzugekommen zu sein und die Raupe vernichtet zu haben. Und nun beginnt sofort eine Auflösung des Körpers in des Wortes vollster Bedeutung; die tote Raupe haftet nur noch mit einigen Fußpaaren oder auch bloß mit einem Fuße, der Vorder- oder Hinterleib hängt schlaff herab und je nachdem tropft aus Mund oder After oder beiden zugleich eine dunkle, übelriechende F lüssıg- keit, die als höchst infektiöse Masse Futter und Zuchtkasten be- schmutzt und die noch gesunden Raupen sehr leicht anzustecken scheint. Die Haut der Raupe ist jetzt unglaublich schwach und reisst bei der leisesten Berührung oder von selbst und der Körper zerfällt in eine dunkelbraune, widerwärtig süßlich riechende Brühe. Ich habe Fälle beobachtet, wo sich dieser ganze jähe Verlauf, von 29% 452 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome der Raupenkrankheiten. der anscheinend noch vollen Gesundheit an gerechnet, inner- halb einer halben Stunde vollzog. Es dürfte sich somit in der Flacherie um eine akute Infektionskrankheit par excellence handeln, und es ist nicht so ganz unpassend, wenn sie auch als Raupen- cholera bezeichnet wurde. Es darf hier nun nicht unerwähnt bleiben, dass die Grasserie bei einigen Raupenarten, wie ich 1894 bei Vanessa io L. feststellen konnte, wo polyedrische Körperchen bestimmt nachgewiesen wurden, sehr ähnliche Symptome zeigt wie die Flacherie, aber auch wie die Pebrine und eben deshalb bisher vielfach für solche angesehen wurde. Auch mikroskopisch dürften Verwechslungen unterlaufen sein, da bei schwacher Vergrößerung die polyedrischen Körperchen als rundliche Cornalia’sche, bei starker dagegen sehr leicht als Kristalle aufgefasst werden können. J. Bolle hat auf mikro- chemischem Wege gezeigt, dass es sich trotz der äußeren Ähnlich- keit nicht um Kristalle handelt. Andererseits darf aber die Flacherie nicht etwa als eine bisher verkannte Form der Gelbsucht angesehen werden, denn sie unter- scheidet sich von dieser durch den rapiden Verlauf, den weit stärkeren und unangenehm süßlichen Geruch, durch das Fehlen der polyedrischen Körperchen und die Möglichkeit, die Erreger (Bakterien) auf Nährböden zu züchten, was bei dem Micro- sporidium polyedrieum nicht gelingt. Außerdem scheinen auch Mischinfektionen vorzukommen, die das Krankheitsbild entsprechend verändern. Nunmehr dürfte sich die Frage aufdrängen, wie diese bösartige Krankheit entsteht und welche Ansichten über ihre Ursachen bisher geäußert worden sind. Nachdem es sich schon bei der Pebrine gezeigt, dass durch Ausschaltung der mit Cornalia’schen Körperchen besetzten Eier die Krankheit vermieden werden kann und nachdem sowohl im Freien wie auch in der künstlichen Zucht die Muscardine und vor allem die Flacherie als höchst kontagiöse Krankheiten sich dar- gestellt hatten, war man immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass gewisse Mikroorganismen es sein müssen, die das Zerstörungs- werk der Flacherie einleiten und vollenden, und dass somit durch Reinlichkeit, Lüftung, sauberes Futter und sorgsame Desinfektion dieser Krankheit vorgebeugt werden könne. Etwas anders schien es sich bei der Nonnenraupe zu verhalten. Man meinte, dass vor allem ein ungenügendes Quantum Futter und dadurch erzeugte Hungersnot oder Degeneration infolge massen- hafter Vermehrung die primäre Ursache sei, d. h. eine Disposition schaffe, denn bei einem Befallenwerden von beispielweise 2000 ha Wald sind pro Nadelbaum 3000—50000 Eier (durchschnittlich aber doch immerhin 13600 Eier) bezw. nahezu soviele Raupen gezählt Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 453 worden und der Flug der ausgeschlüpften, vorwiegend weißfarbig erscheinenden Falter glich einem starken Schneegestöber. Von. gewissenhaften Beobachtern wird aber eine solche De- generation sehr angezweifelt, dem Hunger aber eine bemerkens- werte Beteiligung am Zustandekommen der Krankheit zugeschrieben. Auch ungünstige Witterung, Nässe und Kälte, werden von einigen als disponierende Faktoren genannt, von anderen aber wird darauf hingewiesen, dass besonders die jungen Nonnenraupen, die doch am ehesten im Frühjahre nasskalter Witterung ausgesetzt sind, gegen dergleichen Einflüsse sehr widerstandsfähig sich erwiesen und jedenfalls auch ausgezeichnete Hungerkünstler sind. Des wei- teren wird angeführt, dass die Seuche nicht nur in nassen, sondern auch in trockenen Sommern vorzukommen pflegt. Wären Hunger und nasskalte Witterung die Ursachen, so könnte man nicht wohl verstehen, weshalb die jungen Raupen im Frühjahre, wo sie oft lange hungern müssen und von kalter Witterung getroffen werden, nicht schon längst mit Stumpf und Stiel an Flacherie zugrunde gingen. Maillot, Direktor der Seidenbaustation in Montpellier, führte eine Verunreinigug der Nahrungsblätter mit irgendeiner faulenden Materie als Krankheitserzeuger an und suchte dafür experimentelle Beweise zu erbringen. Aber die Flacherie scheint mir gar nicht auf Fäulnis zu beruhen und auch der widerwärtige Geruch, den die tote Raupe verbreitet, ıst kein Fäulnisgeruch und dürfte darum auch nicht von Fäulnisbakterien erzeugt sein; ob es sich demnach um „putride“ Infektion handelt, ıst noch fraglich. Für die Fälle von massenhaftem Beisammensein, z. B. forstschädlicher Raupen, wird auch die durch den Kahlfraß bedingte Schädigung der nächst- jährigen Blattriebe angeführt, wodurch die Raupen geschwächt und für Infektion empfänglich gemacht werden können. Wenn auch außer diesen angeführten noch andere Momente als prädisponierende bisher namhaft gemacht wurden, so musste man doch die Bakterien als die eigentlichen Erreger und Träger der Flacherie betrachten, und es schien diese Auffassung durch die in neuerer Zeit ausgeführten und positiv ausgefallenen Impf- versuche gesunder Nonnenraupen mit Flacheriebazillen ihre Be- stätigung gefunden zu haben. Gleichwohl ist bis jetzt kein Entscheid möglich geworden, ob die Disposition oder die Infektion oder beide zugleich das Aus- schlaggebende sind und es konnte eben darum bis zur Gegenwart auch nicht gezeigt werden, wie die Flacherie bei der Zucht sicher zu vermeiden, geschweige denn bei einer bereits erkrankten Raupe etwa gar noch rückgängig zu machen sei. Abgesehen von einer sorgsamen und rationellen Pflege der Raupen zog und zieht man denn auch tatsächlich mit der Desinfektion gegen die Seuche zu 454 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. Felde, eben weil sie trotz jener Pflege doch immer wieder vorzu- kommen pflegt. Nach eingehender Prüfung der verschiedenen Desinfektions- methoden, wie sie bei Raupenkrankheiten empfohlen wurden, bin ich indessen selber vor Jahren zu der Überzeugung gelangt, dass sie alle erhebliche Mängel, zum großen Teil eine ganz unzu- reichende Wirkung, dagegen viele widerwärtige Nebenwirkungen besitzen, und empfahl als für alle Verhältnisse sehr zweckmäßig die Desinfektion mit 4- und mehrprozentiger Lösung von Formalın ‘in Wasser und Weingeist, die mittelst eines Sprayapparates direkt auf die zu desinfizierenden Gegenstände verstäubt wird. Dieses Verfahren ist höchst einfach, billig und sehr wirksam, und die Zuchtgeräte können schon nach wenigen Stunden wieder in Ge- brauch genommen werden. Die Flacherie hatte ich in früheren Jahren bei den zu meinen ausgedehnten Temperaturexperimenten erzogenen vielen Raupen, die hauptsächlich aus den Gattungen Vanessa und Pyrameis stammten, einige Male beobachten können und hatte mich schließlich, von 1898 an, durch die soeben erwähnte neue Desinfektionsmethode agegen zu wehren versucht, und dies mit sichtlichem Erfolge, bis ım Herbste 1902 einige ganz verspätete Raupen von Pyrameis car- dar L. (wohl III. Generation) und im Mai 1903 eine kleine Anzahl Raupen von Vanessa polychloros L. wider Erwarten und trotz strenger Desinfektion und anscheinend guter Pflege von der Krankheit er- griffen und dahingerafft wurden. Aber gerade diese polychloros-Raupen, die, nebenbei bemerkt, für Flacherie überhaupt sehr empfänglich zu sein scheinen, hatten mich durch ein ganz besonderes Symptom, nämlich durch den eigentümlichen süßlichen Geruch, den sie sogar schon vor dem Absterben verbreiteten, darauf geführt, diesem Symptome näher nachzugehen, weil ich mich bestimmt erinnerte, diesen selben Geruch schon viele Tage vor der ersten sichtbaren Er- krankung in der Nähe der Raupen bemerkt zu haben, ohne dass ich indessen damals hätte feststellen können, wovon er eigentlich ausgegangen; ich war sogar einige Zeit im Zweifel darüber, ob er nicht von den an warmen Tagen trotz Einfrischen doch leicht welk werdenden Blättern der Nährpflanze (Ulme) ausgegangen sei, denn welk gewordenen Ulmenblättern entströmt tatsächlich ein gar nicht unähnlicher Duft. Ein näherer Vergleich zeigte mir indessen, dass ein entschiedener Unterschied besteht, und dass eine allfällige Täuschung oder Ungewissheit nur daher rührte, dass die welkenden Blätter zu ihrem eigenen spezifischen Geruche noch denjenigen der Raupen, die auf ihnen sich aufhielten, angenommen hatten, und dass somit tatsächlich schon viele Tage vor der sichtbaren Erkrankung die Raupen einen, wenn auch nur sehr schwachen, Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 455 so doch höchst eigenartigen, sonst an ihnen nicht zu bemerkenden Geruch verbreiteten; der von dem an Flacherie zugrunde gegangener Raupen nur durch weit geringere Stärke und durch das Fehlen eines unangenehmen Nebengeruches sich nennenswert unterschied, Etwa zu gleicher Zeit mit jenen kranken polychloros-Raupen erzog ich eine Anzahl der nur selten (aus dem Osten Europas) er- hältlichen Raupen von Vanessa xanthomelas Esp. in großen und äußerst gesunden Exemplaren, die mit Weide (Salix caprea L.) ge- füttert wurden. Eines Morgens bemerkte ich beim Öffnen des ziemlich großen, mit Gatze überspannten Zuchtkastens den mir leider sehr wohl bekannten süßlichen Geruch und glaubte, dass irgendwo eine durch die polychloros-Raupen infizierte verendete Raupe sich vorfinden müsse; es ließ sich indessen zu meiner Ver- wunderung nichts dergleichen, weder eine sichtbar kranke noch eine abgestorbene auffinden. Am nächsten Morgen war der Geruch erheblich stärker und ich wurde beunruhigt, weil nun doch das Schreckgespenst über die kostbaren zanthomelas-Raupen zu kommen schien. Die Raupen wurden jetzt mit höchster Sorgfalt behandelt und am dritten Morgen war der Geruch kaum noch zu bemerken, ohne dass ich sagen konnte, warum, und dieser Vorgang des Auf- tretens und wieder Verschwindens desselben wiederholte sich gleich nachher im Laufe von 4 Tagen nochmals. Es war mir nun schließ- lich aufgefallen, dass der aufgetretene Geruch jedesmal dann wieder verschwunden, d. h. am Morgen nicht oder doch kaum spurweise wahrzunehmen war, wenn ich den Raupen am Abend vorher nochmals ganz frisches Futter gegeben hatte. Ich hatte dies zunächst bloß deshalb getan, weil an den betreffenden Tagen in- folge erheblicher ar das Futter gegen Abend etwas le zu en schien und von den Raupen nicht mehr so gierig genommen wurde, während ich gerade darauf bedacht war, die Raupen mög- lichst zum Fressen anzuregen, um dadurch „kräftige“, d. h. große Exemplare zu erhalten. Es wird sonst empfohlen und ist üblich, das Futter jeden zweiten Tag zu erneuern und ich hatte sogar, wie dies bei den Tag und Nacht unablässig fressenden Vanessen nötig ist, jeden Morgen frische große Zweige, deren reichliche Belaubung für 24 Stun- den vollkommen srdichte, eben vom Freien geholt, eingestellt, musste aber konstatieren, dass bis am Abend eskäiben Tages (also nach 12 Stunden); mehr aber noch am nächsten Morgen eher Blätter ihren Turgor erheblich eingebüßt hatten und von den Raupen nicht mehr gerne verzehrt wurden, und eben dieser Um- stand veranlasste mich, wie schon bemerkt, an einigen wärmeren Tagen das Futter mindestens zweimal innerhalb 24 Stunden (mor- gens und abends) zu erneuern, und da es mir bald aufgefallen war, dass jedesmal der eigenartige, ganz an Flacherie erinnernde Geruch 456 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. verschwand, so besorgte ich die Erneuerung des Futters in der Folgezeit täglich zweimal und erhielt so außerordentlich kräftige Raupen, von denen nur drei an Schmarotzerlarven zugrunde gingen, keine einzige dagegen an Flacherie oder sonstwie erkrankte, oder den genannten Geruch mehr zeigte. In Wirklichkeit lag nun aber in dieser ganzen sonderbaren Wechselbeziehung zwischen dem häufigen Erneuern des Futters und dem Verschwinden des Geruches ein Geheimnis und zugleich seine Aufdeckung versteckt; ich glaubte annehmen zu dürfen, der Ursache der Disposition zur Fla- cherie damit auf die Spur gekommen zu sein und hatte nach kurzer Zeit Gelegenheit, mit einer umfangreichen Gesellschaft von poly- chloros-Raupen (die je nach Witterungsverhältnissen etwa von A —>B EX) X) Ss Rs N ER ER R k N i x \ |; N Ak N 4A Aı B Bı EX) 1X EX) IX } N 4ı Ar EX) (1X) Mitte Mai bis Mitte Juli zu finden sind), weitergehende Unter- suchungen anzustellen. Auch bei diesen, die zunächst einmal täg- lich Futter erhielten, war der ominöse Geruch, auf den ich jetzt speziell achtete, in schwachem Grade. zu bemerken, und ich be- schloss, auf dem gefundenen Wege den krankhaften Geruch bei einer Anzahl künstlich zu steigern und eventuell die Flacherie selbst experimentell hervorzurufen und entsprechende Kontrollexperimente gleichzeitig auszuführen. Ich sonderte von der Gesellschaft die Hälfte ab und hatte so 2 Gruppen, A und B (vgl. Fig.). A er- hielt täglich zweimal, B höchstens einmal (oft noch seltener, aber stets reichlich) frische Ulmenzweige, sonst waren die Behandlung \ Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 457 und alle übrigen Verhältnisse, wie Belichtung, Beschattung etc. für beide gleich. Bei A verschwand nun der Geruch bald, bei 3 nahm er da- gegen rasch zu; ich teilte nun, wie folgendes Schema zeigt, A in 2 Teile A und A, und ebenso B in 2 Teile B und B,, und fütterte B wie A zweimal täglich, und A, wie B; höchstens einmal täglıch. Bei B ging nun der bereits stark ausgesprochene Geruch auf- fallend zurück und verschwand gänzlich, bei A; kam er aber zum Vorscheine und bei B; steigerte er sich immer mehr und nach ca. 7 Tagen bemerkte ich zu meiner, unangenehmen und zugleich angenehmen Überraschung, dass die ee bei der Karen Bi a. und innerhalb 2 Tagen alle Raupen bis auf 5 vernichtete. Die Gruppe A, hatte ich nochmals geteilt in A; und A, und erstere wie A und B (2x tägl.), letztere wie bisher A; (1 x tägl.) mit frischer Nahrung versehen und konnte die auffallende Tatsache konstatieren, dass auch bei A, der Geruch bald fast gänzlich ver- schwand (nur 1 Raupe wurde krank und ging zugrunde), bei As aber ganz dasselbe sich ereignete wie bei D,, es trat, namentlich nachdem ich einmal die Zweige, die übrigens noch nicht welk waren, erst am dritten Tage erneuerte, Flacherie ein, der die meisten Raupen schnell zum Opfer fielen. Ich war geradezu erstaunt, wie sich hier die Krankheit resp. die Disposition ganz willkürlich abschwächen oder aber verstärken, wie sie sich ganz nach Belieben rückgängig machen oder aber her- vorrufen nn sogar exzessiv selbst bis zum Ausbruche der Flacherie mit ihrem koahchen Ausgange steigern ließ, einzig und allein durch häufigere oder seltenere Darreichung frischen Futters. Der Grad der Disposition resp. der Erkrankung war geradezu direkt pro- portional dem Alter des Futters, sein Alter a von ar Zeit . an, wo es im Freien geholt wurde. Es ist mir sehr angel dass in keiner der vielen Schilde- rungen der Flacherie auf diesen Geruch der noch lebenden oder gar der anscheinend noch völlig gesunden Raupe hingewiesen ist. In den wenigen, m denen überhaupt ein Geruch erwähnt wird, ist bloß jener ziemlich unangenehme der bereits abgestorbenen und „verfaulten“ Raupe gemeint. Durch die soeben vorgelegten experimentellen Ergebniss ist nun aber der eigentümliche süßliche Geruch als ein äußerst feines Anzeichen der aufgetretenen Disposition oder doch zum mindesten als ein Frühsymptom der kommenden Flacherie erkannt, und es ıst damit zugleich die Ursache der Disposition aufgedeckt worden. Seither verfolgte ich diese Erscheinung weiter und konnte dabei folgende nicht minder beweisende Tatsachen feststellen: Im Sommer 1904 wurde absichtlich mit 60 Raupen von Va- 458 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten, nessa antiopa L. ein ähnlicher Versuch gemacht, wobei unter der einen, täglich einmal, oft nur alle 2 Tage einmal mit frischen Zweigen versehenen Hälfte sehr bald der mir bekannte Geruch auftrat und schließlich knapp vor der Verpuppung noch 18 Stück an Flacherie fast plötzlich starben, während die andere Hälfte, täglich zweimal gefüttert, ganz gesund blieb und nur an einem einzigen Tage spurweise den Geruch zeigte. — Ohne es gewollt zu haben, ereignete es sich ferner, dass einige Raupen von Aryynnis paphia L., die längere Zeit mit in Wasser gestellten Blättern des Gartenveilchens gefüttert worden waren, z. T. der Flacherie erlagen, und dass eine kleine Individuenzahl derselben Raupenart, die ich mit den besser zusagenden Blättern des Waldveilchens, von denen sie sich in der Natur regulärerweise ernährt, versah, ebenfalls flacheriekrank wurde, nachdem ich die Blattstiele in Wasser eingestellt und nur jeden zweiten Tag er- neuert hatte, während das bloße Hinlegen der abgerissenen Blätter ohne Einfrischung weit weniger nachteilig zu wirken schien, ob- gleich sie natürlich viel eher verwelkten. Ich reichte darum von damals an und seither immer den paphia-Raupen mindestens zwei- mal, öfters sogar drei- bis viermal täglich frische Waldveilchen- blätter, ohne sie einzufrischen und habe seither weder Flacherie noch irgendwie Flacheriegeruch mehr beobachtet, und ebenso ist mir, zufolge entsprechender Durchführung der übrigen meist recht umfangreichen Raupenzuchten, auch keine andere Raupe mehr er- krankt. Ich konnte es sogar einmal wagen, mit einer Sendung von auswärts angelangte, stark flacheriekranke polychloros-Raupen mit gesunden und sehr fleißig ernährten zusammenzubringen, ohne dass eine Ansteckung erfolgte. Wenn es mir auch ebenso wünschenswert wie aussichtsvoll erschien, auf dem aufgefundenen Wege nun einmal möglichste Klarheit über die eines irgendwie festen und zuverlässigen An- haltes entbehrende Flacheriefrage zu gewinnen, so ging ich doch nur mit großem Bedenken an diese Untersuchungen, weil ich be- fürchten musste, dass durch das künstliche Hervorrufen der In- fektionskrankheit auch meine gesamten übrigen, z. T. sehr großen und kostspieligen Raupenzuchten, die zusammen mit den Tem- peratur- und anderen Experimenten alljährlich vom Mai bis Sep- tember eine unglaubliche Mühe erfordern, ebenfalls infiziert und vielleicht noch für die nächsten Jahre gefährdet werden könnten. Nachdem aber schon die ersten Versuche zu der Überzeugung ge- führt hatten, dass hier offenbar nicht die Infektion, sondern die Beschaffenheit der Nahrung das Veranlassende und Wichtigste seı, konnte ich es eben wagen, durch Zusammenbringen von gesunden und flacheriekranken Raupen gewissermaßen die Probe auf die Richtigkeit dieser Auffassung zu machen. Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 459 Eine weitere wertvolle Beobachtung hatte ich im Herbste 1905 an Raupen von Pyrameis cardui L. zu machen die Gelegenheit. Schon vor Jahren hatte ich bemerkt, dass cardwi-Raupen im Sommer sowohl als im Herbste, sofern gut entwickelte, frische Disteln nicht stets zu beschaffen waren, den bereits aufgetretenen Geruch fast verloren, wenn ich sie mit Nesseln, die sie ja auch gerne annehmen, zu füttern begann, und ich bezog diese Erscheinung zuerst darauf, dass die Nesseln wegen ihres Gehaltes an Ameisensäure vielleicht bakterizide Eigenschaften entfalten, zumal ich Flacherie und sonstige Krankheiten bei den regelmäßig und stets haufenweise auf Nesseln lebenden Raupen von Vanessa urticae L. und io L.. nur ganz ausnahms- weise zu sehen bekommen hatte. Ich kam aber nachträglich von dieser Auffassung ab und glaubte, mir diese Erscheinung viel besser dadurch erklären zu müssen, dass die abgeschnittenen und einge- frischten Nesseln weniger leicht abnorme chemische Veränderungen erfahren als die Disteln, eine Annahme, die gewiss nicht aus der Luft gegriffen ist, denn bekannt dürfte es sein und ist leicht fest- zustellen, dass die verschiedenen Pflanzenarten und sogar Spiel- arten derselben Spezies sich hierin durchaus nicht gleich, sondern verschieden verhalten, wie uns ein folgendes Beispiel noch deut- licher zeigen wird. Aber auch das Einfrischen der schönsten und gesundesten Disteln führte doch sehr oft zur Ausbildung der Flacherie bei im Herbst gesammelten cardui-Raupen; der krankhafte Geruch steigerte sich von Tag zu Tag und schließlich nahmen die meist sehr „vollsaftig* erscheinenden, in Wirklichkeit aber schon z. T. zersetzten Raupen ein Ende mit Schrecken; der Körper zerfloss förmlich wenige Stunden, nachdem die Raupe noch herumgelaufen, in einen dunkel- braunen Brei, der die Geruchsnerven arg beleidigte. Gestützt auf die bei polychloros und paphia gemachten Er- fahrungen traf ich nun im Herbste 1905 die Abänderung, dass ich die meist ganz niederen, aber stark beblätterten Disteln nahe am Boden abschnitt, sie alsbald, ohne sie in Wasser einzustellen oder irgendwie zu benetzen, auf eine große Glas- oder Porzellan- platte legte, die Raupen dazu brachte und alles mit einer großen Glasglocke überdeckte, um das Verdunsten des in den Blättern ent- haltenen Saftwassers und damit ein Verwelken zu vermeiden. Es zeigte sich nun die gewiss überraschende Tatsache, dass selbst sichtlich erkrankte Raupen, sofern sie überhaupt noch fraßen, sich innerhalb 2 Tagen erholten, den Geruch so gut wie ganz ver- loren und bis zum Falter sich entwickelten, und dass soeben aus dem Freien eingetragene cardwi-Raupen bei dieser Behandlung überhaupt nicht krank wurden, im Gegenteil vortrefflich gediehen und sehr große lebenskräftige Puppen und Falter ergaben, solange natürlich die im Freien geholten Disteln noch nicht durch Herbst- 460 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. {rost geschädigt und gelähmt worden waren. Stellte ich aber das Futter vorübergehend wieder ins Wasser, bei sonst ebenso oft be- sorgter Erneuerung desselben, so trat in kürzester Zeit der Geruch wieder auf, der ganz sicher ein Zeichen höchster Labilität der Ge- sundheit, weil offenbar der Ausdruck einer Stoffwechselstörung der Raupen ist und bei weiterer Steigerung das kommende Ende er- warten lässt. Wie dieser Geruch zustande kommt, ist noch nicht mit Sicherheit zu sagen, doch scheinen einige Tatsachen dafür zu sprechen, dass er durch im Darme angesiedelte Bakterien erzeugt wird. Bemerkenswert ist ferner, dass es nicht schädlich zu wirken schien, wenn ich die Distelblätter unter der Glasglocke, ohne sie also mit dem Schnittende ins Wasser gestellt zu haben (!), mit Wasser bespritzte, das die Raupen teils direkt aufsogen, teils beim Fressen mit dem Futter zu sich nahmen. Ich schloss hieraus und aus einer analogen, schon bei polychloros gemachten Be- obachtung, dass bei in Wasser eingestelltem Futter nicht das in- folge des Einfrischens in die Blätter aufgesogene Wasser als solches, nicht der vermehrte Wassergehalt der Blätter an sich, die Ursache der Raupenkrankheit sei, sondern dass durch diesen übermäßig starken Wassergehalt das Plasma der Blätter eine abnorme Be- schaffenheit erleide, dass also die Blätter krank werden und erst dann und dadurch die Raupen krank machen. Die abgeschnittenen Pflanzenstengel und Blätter können durch Einstellen derselben ın Wasser wohl den Turgor 1—2 Tage und noch viel länger tadellos beibehalten, aber es ist eine Täuschung, zu glauben, dass das auf solche Weise erzielte gute Aussehen zugleich ein Zeichen von Frische und Gesundheit der Zweige und Blätter sei, denn wenn auch die Wasserzufuhr bei fortwährendem Abdunsten aus den Blättern stets und reichlich unterhalten wird, so fehlt eben doch die Zufuhr der übrigen, weit wichtigeren Nährstoffe von der Wurzel her gänzlich. Das Blattplasma erfährt infolge dieses Mangels bei gleichzeitig hohem Wassergehalte Störungen und Veränderungen, die alsdann auch im Körper der sie verzehrenden Raupen offenbar eine Stoffwechselstörung erzeugen. — Eine letzte hierher gehörende Beobachtung machte ich bei den Raupen von Oharazxes jasius L., einem nordafrikanischen Tag- falter, der wohl zufolge einer Einwanderung auch im europäischen Küstengebiete des Mittelmeeres, soweit dort die Nährpflanze der Raupe, Arbutus unedo L. (Erdbeerbaum) vorkommt, zıemlich häufig zu fliegen scheint. Gerade vor der letzten Häutung stehende Raupen, die ich von der französischen Riviera erhalten hatte, und die durch- aus gesund zu sein schienen, zogen sofort meine Aufmerksamkeit dadurch auf sich, dass 2 Exemplare bei durchfallendem Sonnen- lichte im vorderen Körperteile nicht die sonst tiefgrüne Färbung P} Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 461 zeigten, sondern in einer Ausdehnung von 1—2 Segmenten (meist 4. u. 5. Segm.) ganz auffallend durchsichtig erschienen, als ob die Raupen dort von innen her ausgehöhlt worden wären). Diesen jedenfalls abnormen Zustand, der auf einem lokalen Schwund des sogen. Fettkörpers beruht, ließ sich noch bei einigen anderen Exemplaren, namentlich wenn ich sıe nachts mit einer kleinen elektrischen Taschenlampe durchleuchtete, feststellen und zwar in verschiedenen Abstufungen bis zu kaum wahrnehmbarem Grade. Eine mikroskopische Untersuchung des Blutes und Magen-Darm- Inhaltes, die Herr Prof. Burri dahier in dankenswerter Weise vor- nahm, ergab das Vorhandensein zahlreicher polyedrischer Körperchen, und müsste es sich demgemäß in der genannten Erkrankung um Gelb- oder Fettsucht (Grasserie) gehandelt haben. Allein die übrigen Symptome der Fettsucht waren nicht zu konstatieren, namentlich fehlte das Aufgetriebenwerden; einige Raupen blieben im Gegenteil nach der letzten Häutung fast immer bei der gleichen Körpergröße, sie waren mager, obgleich sie täglıch Futter fraßen, die Durch- sichtigkeit dehnte sich weiter nach hinten aus, der grünliche Schimmer derselben verwandelte sich mehr in einen schmutzig hellbräunlichen und die Raupen gingen schließlich zugrunde. Die schwach erkrankten entwickelten sich ziemlich gut und verloren, nachdem die Ernährung nach Möglichkeit verbessert worden war, allmählich die durchscheinenden Flecken und ergaben noch durch- aus gesund aussehende Falter, die nur durch etwas geringe Größe auffallen dürften. Da in den Exkrementen auch solcher Raupen, die das ange- führte Symptom deutlich zeigten, Bakterien nur spärlich, darunter einige harmlose Milchsäurebakterien gefunden wurden und auch abgestorbene bei näherer Untersuchung. keinen wesentlichen Unter- schied hierin aufwiesen, während polyedrische Körperchen stets in Anzahl vorhanden waren, so möchte ich diese Krankheit trotz dem Fehlen der Auftreibung nicht als Schwindsucht bezeichnen, sondern gestützt auf den mikroskopischen Befund als chronisch verlaufende Gelbsucht erklären. In den erwähnten durchscheinenden Körper- stellen ist auch für diese Krankheit en Frühsymptom gefunden worden, das wie der Flacheriegeruch infolge einer qualitativ unzu- reichenden Ernährung und einer darauffolgenden Infektion mit polyedrischen Körperchen in die Erscheinung tritt. Dass die jasius-Raupen trotz schlechtem Futter nicht auch an Flacherie erkrankten, wie etwa Vanessen-Raupen, ist nicht ver- wunderlich, denn sie scheinen überhaupt nicht dazu zu neigen, er- 1) Der Körper erwies sich an dieser Stelle auf Fingerdruck außerordentlich nachgiebig und nahm nach Aufhebung des Druckes nicht wie bei einer gesunden Raupe sofort die normale Rundung an; offenbar ein, Zeichen des Gewebeschwundes. 462 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. kranken aber fast ebenso leicht wie jene, aber an einer anderen Krankheit; ich beobachtete einmal bei einer großen Anzahl auch die Pebrine. Wir sagten übrigens schon früher, dass z. B. die Muscardine nicht wahllos jede Raupenart, sondern vorherrschend stark behaarte befällt, und es bestehen in der Tat erhebliche Unter- schiede zwischen den verschiedenen Arten. Die Nährpflanze Ar- Dbutus unedo scheint zwar als eine im grünen Zustande überwinternde und an Strapazen angepasste Pflanze von den bisher genannten eine bemerkenswerte Ausnahme zu machen; ihre Zweige und leder- artigen Blätter bleiben, in Wasser eingestellt, sogar viele Wochen lang merkwürdig frisch und halten auch bei einer Temperatur von ca. + 15° ©. 2 Tage lang ohne Wasser aus, bei höherer Temperatur, namentlich in warmer trockener Zimmerluft, verlieren sie aber bald den Glanz, als Zeichen des Welkens. Durch verschiedene Beobach- tungen glaube ich festgestellt zu haben, dass jene Raupen durch ein von Natur aus geringes und zwar wahrscheinlich durch klimatische Einflüsse geschädigtes Futter in Rückstand gebracht und für Gelbsucht empfänglich gemacht wurden. Das Klima der französischen Riviera ist doch mitunter so kühl, dass der Erdbeer- baum und mit ihm die jasius-Raupe, die hier die nördlichste noch zulässige Grenze erreicht haben, darunter leiden, weil sie noch nicht genügend an alle dortigen winterlichen Witterungsextreme ange- passt sind, wenn auch beide eine Kälte von —6° bis — 8°C. an- geblich längere Zeit zu ertragen imstande sein sollen. Es werden denn auch die jasius-Raupen von der Riviera nie so groß wie die von Süddalmatien. — Wenn wir nunmehr von den gewonnenen Gesichtspunkten aus die epidemisch und sporadisch vorkommenden Erkrankungen ver- schiedener Raupenarten an Flacherie betrachten, so werden sie sich in einfacher Weise verstehen lassen. Zunächst ist festgestellt, dass gewisse Arten leicht, andere selten, wieder andere fast gar nicht von Flacherie befallen werden, und es ergibt sich von unserem Standpunkte aus ferner von selbst, dass und warum z. B. bei den Nonnenraupen wohl nie im ersten Fraßjahre, sondern erst im zweiten, häufiger noch später die Flacherie auftritt; die Nahrungs- pflanzen sind eben in den ersten Jahren durch Verlust der Blätter geschädigt worden und produzieren im zweiten resp. dritten Jahre Blätter (Nadeln), deren Beschaffenheit abnorm ist. An den ım Freien stehenden Pflanzen wie an dem eingefrischten Futter spielen sich wohl sehr verwandte, wenn auch wahrscheinlich nicht etwa gleiche Stoffwechselstörungen ab, über die wir erst später einmal genügende Einsicht gewinnen werden. Es muss aber schon hier notwendig auf die chemische Seite dieser Frage hingewiesen werden. Seit 1899 sind über die sogen. Mosaikkrankheit der Tabakblätter “ ehemische Untersuchungen von A. F. Woods, Smith, Löw u.a. Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). 463 vorgenommen worden, wobei eine vermehrte Anwesenheit von Oxydasen erkannt wurde. Für unsere Fälle, in denen es sich um Erkrankung des abgeschnittenen und künstlich eingefrischten Futters sowohl, als der durch Raupenfraß geschädigten Bäume handelt, sind aber noch mehr die von Miyoshi und besonders von Suzuki in Japan an Maulbeerbäumen gemachten Untersuchungen beachtens- wert, da sie ergaben, dass infolge wiederholten Abschneidens der Blätter in der Entwickelungsperiode zunächst eine Wurzelkrankheit als Zeichen einer Ernährungsstörung eintritt und dass als Folge dieser Wurzelerkrankung, die ein Verhungern bedeutet, im en Jahre eine Erkrankung er Blätter (sogen. Schrumpfkrankheit) sich zeigt. Durch eingehende chemische Untersuchungen hat sodann Suzuki den Nachweis erbracht, dass diese erkrankten Blätter meistens sehr reich an Oxydasen und Peroxydasen sind, dass in ihnen eine bedeutende Ansammlung von Stärke (wegen mangel- hafter Verzuckerung), eine verlangsamte Wanderung der Stickstoff- verbindungen und erhöhte Azıdität sich zeigt. (Schluss folgt.) Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). „_— — am süßen Wasser zoologische Stationen zu er- „richten — dann wird es möglich sein, über gar manche „Fragen von allgemeinerer Bedeutung Aufschluss zu er- „halten, deren Lösung am Meere durch die unendlich „viel komplizierteren Wechselbeziehungen der so viel „reicheren Tierwelt erschwert oder unmöglich gemacht „wird.“ August Weismann 1879. (Vorwort zu den Daphnoiden-Abhandlungen,) I. Einleitendes. Charakteristik des Gebiets der Lunzer Seen. II. Vorbericht zur Faunistik und Floristik der Lunzer Seen. III. Die neue Biologische Station. I: Einleitendes. Charakteristik des Gebietes der Lunzer Seen. Im folgenden soll mit einer österreichischen alpinen Seenstation bekannt gemacht werden, welche ihre biologischen und hydro- graphischen Arbeiten im vergangenen Spätsommer begonnen hat und welche nunmehr, nachdem ihre Ausrüstung im wesentlichen vollendet ist, auch fremden Gelehrten ihre Pforten geöffnet hat. Die neue Forschungsstätte verdankt ihre Entstehung und Er- haltung der: Initiative und Opferwilligkeit des Herrn Dr. Karl Kupelwieser sen., des Besitzers der Domäne Seehof-Hirschtal, der durch seinen auch an der Organisation mitbeteiligten Sohn, den Zoologen Dr. H. Kupelwieser (z. Z. Berkeley Cal.), dazu angeregt wurde. Die Organisation des Unternehmens war im die Hände des Unterzeichneten gelegt, der auch die Leitung der Station bis auf weiteres übernommen hat. 464 Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). Zu dem genannten Besitz gehören die drei Lunzer Seen, welche bisher, nebst den zugehörigen Teichen und Wasserläufen, im Dienst der mit dem Gut verbundenen Fischzuchtanstalt Seehof standen. Die Anstalt, die besonders durch ihre Saiblinge, Seeforellen und Loch-Leven-Forellen in Österreich bekannt geworden ist, bleibt, mit der Biologischen Station vereinigt, bestehen. Die Seen liegen im oberen Ybbs-Gebiet (Bezirkshauptmannschaft Scheibbs N.-Ö.), im Bereich des Dürrensteinstocks, der dem nörd- lichen Zuge der Kalkhochalpen angehört. Die Physiognomie der umgebenden großartigen Gebirgslandschaft wird bestimmt durch das Vorherrschen des Dachsteinkalks, dessen bankartige Schichten den Höhen ıhr charakteristisches Gepräge geben. Die Schichtenfolge?) ist von unten nach oben: Werfener Schiefer und -Sandstein, Guten- steiner und Reiflinger Kalk, Lunzer Sandstein und -Mergel, Opponitzer Kalk, Dachstein-Kalk. Dem entsprechen die Landschaftskomponenten: den Sand- steinen die sanften Böschungen der Täler (Wiesenboden), den Kalken die schroffen Felswände und die waldtragenden Schutthalden der Höhen. Die Höhen überschreiten die Baumgrenze und bilden aus- gedehnte, karstartige Almplateaus mit zahlreichen Dolinen. Die vereinzelten kleinen Wasserbecken der Almböden (die ich im September von dichtester „Wasserblüte* erfüllt fand) sind noch nicht biologisch untersucht. Der hochalpine Charakter der Landschaft wird auch durch die Häufigkeit der Gemse — am Scheiblingstein sind Rudel von 30-40 Köpfen nichts Seltenes — durch das Auftreten von Alpen- hasen, -dohlen und -mauerläufern betont. Im übrigen wird das Gebiet von Hochwild, weiter unten von Rehwild bewohnt; dazu kommt Auer- und Birkhuhn sowie die übrige Ornis des Bergwaldes. An den Wasserläufen fehlen trotz aller Nachstellungen weder Eisvogel noch Wasseramsel und Fischotter, an den Seen sınd verschiedene Taucher und Enten, ferner Fulica atra zu Hause oder zur Zugzeit zu Gaste. | Den Seen sieht man an ihrer Umgebung die Entstehung durch glaziale Erosion noch deutlich an. Der Öbersee liegt (in 1177 m Höhe am Fuße des Dürrensteins) in einem Kolk, inmitten eines typischen Zirkustals. Von hier aus fällt das enge und dunkle Hirschtal (Seebachtal) in mehreren Erosionsstufen nach dem Untersee (617 m) ab. Von einer der Stufen stürzt der prächtige, 60 m hohe „Ludwigsfall“ herab, eine zweite enthält den wohl durch Schutt aufgedämmten, kleinen Mittersee. Das ganze Tal verrät noch durch 1) Vgl. besonders Bittner, Aus der Umgeb. v. Wildalpe in Obersteiermark und Lunz in Nieder-Österreich (Verh. d. k. k. Geol. Reichsanst, Wien 1888). — Nach einem freundlichen Hinweis Dr. Götzinger’s (von der Geolog. Reichsanstalt Wien), der auch die übrigen einschlägigen Notizen ergänzte, und revidierte. Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). 465 seinen U-förmigen Querschnitt („Trogform“) den einstigen Eisstrom, der von dem eiszeitlichen Firngebiet des Dürrensteins herunterkam. Am Untersee endlich, der:vom Ausgang jenes Tales sich in das Voraipengebiet hinüberzieht, fallen an der Südseite und unterhalb des Ausflusses gewölbte Kuppen ins Auge, deren Natur (Rundhöcker oder Endmoränenwälle) noch zu untersuchen ist. Diese drei Seen nun, die somit, in einem Talsystem entstanden und von einem „Seebach“ durchströmt, genetisch und topographisch eine Einheit bilden, sind dennoch biologis&h von außer- ordentlich verschiedenem Gepräge. Einerseits enthältz. B. der Obersee Gattungen, welche den anderen Seen ganz fehlen (Beispiel: Polyphemus), und umgekehrt; andererseits treten dieselben Arten in den verschiedenen Seen in morphologisch und biologisch spezi- fischen „Varietäten“ auf (Beispiel: Daphnia, Saibling). Bei einzelnen Gattungen endlich finden wir vikartierende Arten (Beispiel: Diapto- mus gracilis im Untersee vertritt den D. denticornis des Obersees). Solche Verschiedenheiten, die in der Hydrophysik der drei zu- sammengehörigen Becken natürlich ihre Wurzel finden, sind das eine Hauptcharakteristikum der Lunzer Station. Es mag gleich hinzugefügt werden: die andere wertvolle Be- sonderheit, die den bisherigen Stationen fehlt, ist die Möglichkeit, über die Seen, die zahlreichen Teiche und Wasserläufe für bio- logische Versuche in großem Stil weitgehend zu verfügen, oder neue Teiche, Zementbecken, Kanäle etc. für Experimentierzwecke herstellen zu lassen. Diese beiden Gesichtspunkte waren es, welche den Ausbau der Fischzuchtanstalt Seehof zu einer Biologischen Arbeitsstätte besonders wertvoll erscheinen ließen — natürlich unter der Voraus- setzung, dass die Arbeitsrichtung und demzufolge die Organisation des Unternehmens ihnen hinreichend Rechnung tragen durften. Die „Lebensaufgaben“ der Station mussten so gestellt werden, dass selbst der geringe Umfang der Seen, welcher bei herkömmlicher Betrachtung zunächst Bedenken gegen diese Neugründung erwecken musste, als ein Förderndes unseren Bestrebungen zugute kommen konnte. Das konnte geschehen ohne Vernachlässigung der Auf- gaben faunistischer und floristischer Natur, welche für eine Alpen- seestation — und als solche wird die Neugründung a priori will- kommen sein — zunächst in Betracht kommen. Es wurde deshalb Sorge getragen, diese extensiven Arbeiten mit besonderem Nach- druck in Angriff zu nehmen (vgl. unten S. 479), um nach ihrer vorläufigen Erledigung freie Bahn zu bekommen für die aus dem Obengesagten sich ergebenden Aufgaben kausal-intensiver Art. Diese liegen einerseits auf dem weiten Felde der allgemeinen Hydrobiologie (Abhängigkeitsverhältnisse, Stoffkreislauf und Ver- xXVI. | 30 466 Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). wandtes), noch mehr aber auf dem Gebiet der Formbildungs- und Vererbungsphysiologie (Varietäten-, Rassen-, Artbildung; Erblich- keit, Anpassung, Mutation, Bastardierung). 4; Vorbericht zur Faunistik und Floristik der Lunzer Seen, Der Untersee, unweit dessen oberem östlichen Ende die Station gelegen ist, bildet das größte der drei Becken, er ist ca. 1600 m lang und an der breitesten Stelle, 200 m vom Seebacheinfluss, 587 m breit. Sein Boden bildet eine ziemlich gleichmäßige Sohle von durch- schnittlich 30, in maxımo ca. 34 m Tiefe. Die Ufer, teils von Wald, teils von Wiesenboden eingenommen, fallen ziemlich steil in den See ab, jedoch fast überall unter Bildung eines wechselnd mit Seirpus, Phragmites und Potamogeton bewachsenen Schaars. Der See ist im östlichen Teil am breitesten, hier wird sein dunkler Spiegel vom Scheiblingstein und dem Hetzkogel mit den Seemäuern überragt; nach Westen, dem Ausflusse zu, wird die Umgebung flacher und freundlicher, gleichzeitig verliert der See an Breite. Während über die Biologie der beiden anderen Seen überhaupt noch nichts bekannt geworden ist, liegt über den Untersee eine Arbeit von 1900 von K. v. Keissler!) vor, die allerdings wesent- licher Ergänzungen bedarf. Außerdem haben 1905 Brehm und Zederbauer?) ın ihren „Beiträgen zur Planktonforschung alpiner Seen“ einige kurze Notizen gegeben. Ufervegetation. Aus der erstgenannten Arbeit, sowie aus brieflichen Mitteilungen, die ich der Freundlichkeit Dr. Stock- mayer’s (Unterwaltersdorf bei Wien) verdanke, geht hervor, dass bis zum Jahre 1903 der Schaarberg (Abfall) des Untersees überall von üppigen Charawiesen gebildet wurde, die nach dem Ufer zu in der herkömmlichen Reihenfolge von Potamogeton (perfohatus und natans), Seirpus, Phragmites, Carex abgelöst wurden. Die Charen gingen nach v. Keissler’s Angabe sehr weit hinab, so dass sie sogar „den Seegrund dicht — man könnte sagen — wiesenartig“ überzogen. Das ist heute anders geworden. Zwar sind die Phragmites-, Seirpus-, Potamogeton-Gürtel nach wie vor, insbesondere am nordöst- lichen Teil des Sees, deutlich, aber das „Characetum“ ist großenteils verschwunden und hat einem außerordentlich üppigen Polsterwuchs 1) Verhandl.-d. zool. bot. Ges. Wien 1900. Dieser Aufsatz ist, da er die Lunzer Fauna und Flora viel zu dürftig erscheinen lässt, die Ursache des folgenden „Vorberichts“, dessen Listenaber natürlich auch nureinen Bruchteildes vorhandenen lebenden Inventars enthalten; es konnte ja bisher nur vom September bis April gesammelt werden. 2) Verhandl. d. zool. bot. Ges. Wien 1905. Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). 467 von Elodea canadensis!) Platz gemacht, die den inneren Gürtel des Schaars und den Schaarabfall, soweit das Auge reicht, überkleidet. Die Geschichte dieser Veränderung ließ sich mit Hilfe der Angaben Dr. Stoekmayer’s genau feststellen. Nach diesen fehlte Elodea noch im September 1903 gänzlich in der Uferregion. Dagegen trat sie im September 1902 in einem bestimmten Teich (Plan S. 476, Teich Nr. III) zuerst auf, offenbar durch einen Fischtransport ein- geschleppt. Im September 1904 war sie bereits, wie ich mich erinnere, am Ostrande des Sees vorherrschend, und im September 1905 herrschte der jetzige Zustand. Nur noch das nordwestliche und das südöstliche Seeufer, sowie der Ausfluss enthält Chara- Bestände; der Seegrund innerhalb des Schaar-Gürtels ist überall frei von ihnen. Er wird von einem außerordentlich weichen Kalk- schlamm bedeckt, dessen einzige Vegetation von Bakterien (und Diatomeen-Schalen) gebildet wird. Eine sehr charakteristische Vegetationszone — nahe dem Ufer — bilden jetzt diemoosartigen, reich mit Kalk inkrustierten Überzüge aller Steine und Holzstücke, die von Oscillatorien (Inactis; ferner Phor- midium, Rivularia, Lyngbya (?), Nostoc ete.) gebildet werden. Zwischen den Fäden finden sich natürlich zahllose Diatomeen, Desmidiaceen, Protozoen, Rotatorien etc., ebenso wie in den zahlreichen Schwämmen und Fadenalgenwatten der Uferzone. An manchen Stellen, besonders im Südostwinkel des Sees ist an Potamogeton- und Phragmites- stengeln das grüne Infusor Ophrydium in wallnuss- bis apfelgroßen Gallertkolonien häufig, jede Kolonie ein wahrer Mikrokosmus von Rotatorien, Diatomeen, Desmidiaceen etc. Ferner ist an jenen Pflanzen, ae an verfaulenden Blättern, die weanula ea. häufig zu finden. Weitere charakteristische Organismen der Litoralzone sind u. a.: Acroperus harpae Cyelocypris laevis Notholca striata Peratacantha truncata Cypria ophthalmica Monostyla lunaris (häufig) Graptoleberis testudinaria n Ne 2 Chydorus sphaericus Agrion-Larve Distyla spec. ? Lynceus costatus (häufig) Chloeon dipterum-Larve Brachionus spec. R guttatus (häufig) Caenis-Larve Simocephalus vetulus Chironomus-Larve Pleurotaenium Ehrenbersii Cyclops affinis Öeratopogon-Larve (häufig) e serrulatus sandianum » bicolor Anapus testudo Hyalothera dissiliens ki fusca Salpina mucronata Desmidium spec. Canthocamptus staphylinus » brevispina Closterium 2 spec., außerdem zahlreiche Protozoen, verschiedene Schnecken und Tur- bellarien, Nematoden, Oligochäten, Milben. Das Plankton des Untersees wurde durch v. Keissler 1) Die Polster. haben eine Dicke von mehr als Manneshöhe. Besucher der Station seien schon hier darauf aufmerksam gemacht, dass diese bis an den Wasser- spiegel heraufreichenden, festen Boden vortäuschenden Dickichte beim Schwimmen gemieden werden sollten. 30* 468 Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). im September, durch Brehm und Zederbauer ım März und Mai, durch die Station vom September 1905 bis April 1906 untersucht. v. Keissler fand 1900 nur: 1 Dinobryon, 1 Peridinium, 2 Ceratien, 6 Staurastren, 3 Cosmarien; ferner 3 Rotatorien und je 2 Cope- poden und ÜOladoceren. Das Spätsommer- und Herbstplankton zeigte sich aber 1905 qualitativ viel reicher (vgl. die vorläufige Liste S. 469) und quantitativ sehr reich. Schon v. Keissler kon- statierte, dass der Untersee, zu dieser Jahreszeit jedenfalls, die bisher untersuchten großen Alpenseen an Planktonmenge übertrifft (den Neuenburger See um das fünffache, den Attersee um das drei- fache), während er hinter den norddeutschen Binnenseen darin zurücksteht. Als Artenzahl des limnetischen Plankton nennt v. Keissler 20 (7 tierische und 13 pflanzliche); dagegen ließen sich in demselben 1905 17 tierische und 27 pflanzliche Spezies nachweisen. Hinzu- gefügt wurden allein von Rotatorien die Gattungen Asplanchna (häufig), Anapus (häufig), Conochilus (nicht selten), Triarthra (nicht selten), Dinocharis (vereinzelt), Rattulus (selten). Einige davon entstammen offensichtlich der Litoralregion, aus der sie vielleicht, ebenso wie z. B. Chydorus sphaericus und Alonella nana, infolge der Elodea-Invasion ausgewandert sein mögen. Das Nähere bleibt zu untersuchen. Jedenfalls ıst das Spätjahrplankton des Untersees — das Sommerplankton ist noch unbekannt — weniger formenarm, als es zunächst den Anschein hat, wenn es sich auch mit der drängenden Fülle der nordischen Gewässer nicht messen kann. In ihm stellen das Hauptkontingent die Formen: Bosmina, Daphnia, Diaptomus, Polyarthra, Oyelops,; an Pflanzen: Staurastrum, Ceratium, Peridinium und Protococcaceen. Bereits im November ist das Plankton ein ganz anderes: Asterionella tritt auf und gewinnt schnell die Oberhand, die Crusta- ceen und Staurastren treten zurück, Polyarthra, Ceratium, Peridinium werden relativ häufiger. Dieses Winterplankton bleibt unter stetem Dominieren von Asterionella, die sich zu unglaublichen Mengen entfaltet, bis zum April, wo nach dem Schwinden der Eisdecke eine starke Ver- mehrung der Öladoceren und Öopepoden (Diaptomus) einsetzt. Ge- nauere quantitative Angaben werden erst am Platze sein, wenn der Jahreszyklus geschlossen sein wird. Vorläufige Liste des Unterseeplanktons (Sept. 1905)}). Daphnia longispina?) (häufig) Chydorus sphaericus Bosmina coregoni (häufig) °) Alonella nana 1) Bei der Bearbeitung des Materials wurde ich von Herrn Cand. Bernhard (Leipzig) unterstützt. Die Listen und Präparate wurden von Herrn Dr. Brehm Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N -Ö.). 469 Diaptomus gracilis (häufig) Staurastrum paradoxum (sehr häufig) Cyelops strenuus (häufig) = fureigerum * cuspidatum Anuraea aculeata 5 laniatum 35 cochlearis A manfeldtii Polyarthra platyptera (sehr häufig) 4 seuticosum Triarthra longiseta (im April viel häufiger) si gracile Rattulus longiseta Xanthidium spec. 5 carinatus Cosmarium botrytis Dinocharis pocillum Mi margaritiferum Anapus ovalos (häufig) 3, scenedesmum Asplanchna priodonta (häufig) Pediastrum boryanum Conochilus spec. Spirogyren u. a. Fadenalgen Synchaeta (im April sehr hänfig) versch. Protococcaceen Merismopedia elegans Dinobryon sertularia Öseillatoria limosa Ceratium hirudinella (häufig) 4 cornutum Campylodiscus noricus Peridinium tabulatum (häufig) nn hibernicus (Arcella vulgaris) Außerdem fanden sich im Grundschlamm noch nach freund- licher Bestimmung durch Herrn Reichert (Leipzig) folgende Diatomeen: Amorpha ovalis Kütz. Pleurosigma attenuatum W. Sch. häufig Cymbella eymbiformis Ehrb. Gomphonema intricatum var. pumilla Cymbella Ehrenbergii Kütz. Grun. Cymbella cuspidata Kütz. Achnanthes microcephala Kütz. Enceyonema ventricosum Kütz. Eunotia arcus Ehr. Stauroneis Phoenicenteron Ehrb. Synedra danica Kütz. Navicula elliptica Kütz. Tabellaria flocculosa Kütz. Fi meniseulus Schum. Cacconeis pediculus Ehr. a limosa Kütz. Nitzschia sigmoidea W. Sm. Pinnularia major Ehr. Cymatopleura elliptica W. Sın. = viridis Kütz. © Solea W. Sm. 2 nobilis Ehr. Surirella biseriata Breb. Neidium Iridis var. firma Ehr. Cyelotella spec. „ affinis Ehr. Melosira fehlt merkwürdigerweise in den Lunzer Seen. Der Untersee ist, ebenso wie die zuführenden Gewässer, reich an Fischen. Außer zahllosen Ellritzen, sowie Groppen und Grundeln findet sich ein guter Bestand an Edelfischen (Forelle, Saiblıng, amerikan. Bachsaibling, Seeforelle). Im See selbst dominiert natur- gemäß die Seeforelle, von der über 1 m lange Exemplare erbeutet werden (1 Rogner von 1,05 m befindet sich im Hofmuseum zu Wien). Von der Forelle sind fast sämtliche eingeführte Varietäten in den zahlreichen Wasserläufen und Teichen vorhanden, insbesondere hat sich die schottische (Loch-Leven-)Forelle ausgezeichnet akklı- (Elbogen) freundlichst durchgesehen und ergänzt. — 2) In einer der typischen hyalina nahestehenden, ziemlich kleinen und kleinäugigen Form. Der ‚kleine Kopf trägt eine (wenig entwickelte) carina continua (Lilljeborg). Saisondimorphismus geringer als bei der Oberseevarietät (vgl. die Figuren); im November && und Ephippien. —- 3) Im Sinne Burckhardt’s (mit Borste am Mucro). Auch die B. zeigen Saison- und Lokalvariationen (Öber- und Untersee). 470 Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). matisiert. Ferner werden Karpfen, Maränen, Goldorfen kultiviert; weitere Versuche stehen bevor. Der Mittersee (767 m) ist ein ca. 400 m langes und 150 m breites Becken, das, von hohem Fichtenwald umgeben, zwischen die steilen Wände des Hirschtals eingebettet ist. Er ist durch den Seebach, ein typisches Forellengewässer, das zwischen reich bewachsenen Felsen rasch herabstürzt, mit dem Untersee verbunden. Von den Nebenbächen interessiert besonders der aus einem unterirdischen Becken ent- springende, intermittierende „Lochbach“. Merkwürdig sind die Zuflussverhältnisse des Mittersees. Nur bei Hochwasser nämlich führt ihm das Bett des oberen Seebachs Wasser zu. In gewöhnlichen Zeiten verschwindet der Abfluss des Obersees vorher im Geröll und empfängt der Mittersee sein Wasser aus zahlreichen trichterförmigen Quellen seines Bodens, die oft in kurzer Zeit ihren Platz ändern. Der See ist nur 3—4 m tief und ganz mit Charen und einem kleinen Potamogeton ausgekleidet; im Spätsommer wuchern Spirogyra und andere Fadenalgen besonders üppig, im April fand Dr. Ruttner am Rande der Quelltrichter Schwefelbakterien (Beggiatoa) entwickelt. Entsprechend dem unter- irdischen Zufluss ist die Temperatur auch im Sommer sehr niedrig, an einem Tage, an dem selbst der 350 m höher gelegene Obersee eine Oberflächentemperatur von 16° C. zeigte, blieb diese im Mittersee auf 6!/,° ©. bei einer Grundtemperatur von 51/,°C. Die Fauna wird durch die Kälte, Seichtheit und die Durch- strömungsverhältnisse des Wassers in ihrem Charakter bestimmt. Der Saibling tritt hier im Gegensatz sowohl zum Ober- wie zum Untersee in einer Kümmerform auf, das Plankton ist gering ent- wickelt, die Unterschiede zwischen Spätsommer- und Winterfauna sind klein. Ende Dezember fanden sich u. a. folgende Formen: Im freien Wasser: Notholca striata (dominierend) Chydorus sphaericus Cyelops serrulatus Peridinium tabulatum viridis Paramaecium bursaria, Acroperus harpae (Daphnia longispina fehlt nur im Winter) In den Chara-Rasen: Rotifer vulgaris (dominierend) Cyelocypris laevis Lyncaeus affinis Chironomus-Larven. Der Obersee (1117 m) hat eine Ausdehnung von etwa 700m zu 300 m bei einer Tiefe von bis zu ea. 15 m. Seine unmittelbare Umgebung bildet ım Osten ein ausgedehntes (botanisch besonders interessantes) Hoch- moor, während an der Westseite Wald und Fels dicht an ıhn heranreichen. Hier findet sich auch eine (mit alten Fichten be- Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N ODE 471 fig.l, fig.2 Obersee Sept. Obersee Mai Obersee, Mai Fig.3 3 Fig.4 Untersee Mai Untersee Sept. Obersee Sept. Sen Fig. 6 Fig. 14. Daphnia longispina (-hyalina) 9. 1, 2 Oberseevarietät im Mai und September. 3, 4, Unterseevarietät im Mai und September. (Größte Weibchen bei gleicher Vergrößerung, Zeich.-App.) Fig. 5, 6, Anuraeca aculeata. Oberseevarietät. 6 Eitragendes Q, September bis Januar. 5 Desgl., Mai. standene Insel) und nieht weit davon der Ausfluss. In der Vege- tation dominiert Potamogeton; Phragmites und Elodea fehlen, wie 472 Woltereck, Mitteilungen aus der- Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). auch am Mittersee, ganz. Von Oktober bis Mai trägt der See eine mächtige Eis- und Schneedecke; die letztere war noch Mitte April d. Js. über 1'/, m stark. Die Temperatur über dem Grunde beträgt auch im Spätsommer — wie im Untersee — etwas über 4°, gleichzeitig ist die Oberflächentemperatur nur wenig niedriger als dort (am 12. September 16°, nachm. 3 Uhr). Die Zusammensetzung der Fauna ist aber eine ganz spezifische, am meisten fiel mir die Häufigkeit von Polyphemus ım Spätsommer, das Dominieren von Anuraea aculeata im Winter auf. Einige charakteristische Litoral- und Grundbewohner sind: Lynceus guttatus Salpina spec. Chydorus sphaericus Squamella spec. Canthocamtus staphylinus : ä Cypria ophthalmica Velen stagnalis s Larven von Chlo&on a PR „ Chironomus Valvata piscinalis B „ Ceratopogon Pisidium ” „ Phryganiden Difflugia pyriformis Macrobiotus macronyx Y acuminata und 4 weitere Formen 7 Centropyxis aculeata Monostyla lunaria Arcella vulgaris Notholca striata 2 dentata Distyla spec. Ophrydium versatile. Dazu kommen nach freundlicher Bestimmung des Herrn Reichert folgende Diatomeen: Amphora ovalis Kütz. Gomphonema constrietum var. subcapi- hr affinis Kütz. (häufig) tata Grun. Cymbella Ehrenbergii Kütz. (sehr häufig) E35 montanum Schumann e amphicephala Naegeli » angustatum Kütz. ei cymbiformis Ehrb. " vibrio Ehrb Encyonema ventricosum Kütz. Achnanthes microcephala Kütz. Stauroneis Phoenicenteron Ehrb. Eunotia arcus Ehr. var. minor. Grun. 2 anceps Ehrb. Fragilaria elliptica Schumann Navicula elliptica Kütz. v; mutabilis W. Sm. ns pupula Kütz. A construens Ehrb. 3 Tuscula Ehrb. (häufig) Synedra delicatissima W. Sm. ss radiosa Kütz. (häufig) Tabellaria flocculosa Kütz. h eryptocephala (häufig) Denticula subtilis Grun, 35 cuspidata Kütz. Nitzschia linearis Kütz. n limosa Kütz. Surirella biseriata Breb. Pinnularia viridis Kütz. (häufig) er saxonica Auerswald ci nobilis Ehrb. (häufig) er linearis W. Sm. var. constrieta 4 mesolepta Ehrb. Grun. Pleurosigma Kützingii Grun. (selten) Cymatopleura elliptica W. Sm. Gomphonema acuminatum Ehrb. Neidium amphigomphus Ehrb. Das Spätsommerplankton!) enthielt folgende Formen: Polyphemus pediculus (häufig) Simocephalus vetulus Daphnia longispina?) (häufig) Scapholeberis mucronata Bosmina coregoni (häufig) Peratacanthra truncata 1) Die Sonderung der euplanktonischen Formen vom Tychoplankton steht noch aus: — der Obersee ist etwa zur Hälfte flach und von Pflanzen durchwachsen. 2) Der typischen longespina näherstehend als die Untersee- und Mitterseeform. Großer Kopf mit carina interrupta und großem Auge. Gesamtgröße nach Jahres- Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N--O% 473 Acroperus harpae Alonella nana Pleuroxus trigonellus Diaptomus denticornis (häufig) Cyclops serrulatus „» fuscus Staurastrum paradoxum (dominierend) 2 laniatum = manfeldtii Euastrum verrucosum „ oblongum Closterium acerosum Micrasterias erux-melitensis Desmidium Swartzii 55 strenuus Cosmarium botrytos Anuraea aculeata (häufig) ?) Ä margaritiferum A cochlearis r anceps Polyarthra platyptera Triarthra mystacina Merismopedia elegans Anapus ovalos (häufig) Öscillatoria limosa Dinocharis pocillum Nostoc r Ceratium hirudinella Pediastrum boryanum ferner Spirogyren und andere Algen. Ganz anders ist natürlich die Planktonzusammensetzung im Winter. Die geringen, mit der Pumpe gewonnenen Plankton- mengen bestanden ganz vorwiegend aus Anuraea aculeata, daneben war Bosmina coregoni häufig (und in lebhafter Vermehrung be- griffen). Dazu kam noch: Daphnia longispina Cyelops serrulatus 35 strenuus Rotifer vulgaris Polyarthra platyptera Staurastrum paradoxum Asplanchna spec. Ganz verschwunden waren, wie zu erwarten, Diaptomus und Polyphemus, die im Spätsommer eine ganz außerordentliche Massen- entwickelung zeigen. Die Planktonquantität übertrifft infolgedessen zu dieser Zeit die des Untersees um das mehrfache, was wieder zur Folge hat, dass die Fische (vor allem Saiblinge) im Obersee trotz des langen Winters ein rascheres und stärkeres Wachstum zeigen als drunten. Fine vorläufige Analyse des Obersee- und Unterseewassers (durch die landwirtschaftl. chem. Versuchsanstalt Wien) ergab u. a. folgende Differenzen: Obersee (26 IX. 1905). Deutsche Grade Untersee (26. IX. 1905). Deutsche Grade Gesamıthamter on. 419 6.44 100000 Gewichtsteile Wasser enthalten: Gewichtsteile Gewichtsteile RE en u. 02 5.17 Mae ner. : 0.94 0.91 zeit stark verschieden, übertreffen im September bei weitem die Daphnien sowohl des wärmeren Untersees als des kälteren Mittersees (vgl. die Figuren‘. 2) Mit besonders auffälligem Saisondimorphismus (vgl. die Figuren). Und zwar sind September- und Januarformen noch ziemlich gleich, während nach Aufgehen des Eises im Mai plötzlich sehr kurzstachlige Formen auftreten. Ursache? 474 Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). Gewichtsteile Gewichtsteile Kalumoaydser en. N. le 2.50 Natriıamossde 2 .% 720008 0.31 Tonerde u. Eisenoxyd . . 0.13 0.05 Kohlensaumerentr 2 4.88 Schwetelsaure@. .. ..,.2.2046 0.54 k Kresels aunesas.n.000 20 0.33 IM Die neue Biologische Station'). Die Räumlichkeiten der Biologischen Station nehmen den nach Südwesten gerichteten Flügel des Schlosses (den sogen. „alten Seehof“) ein; die Arbeitsräume liegen in einer Flucht im Erd- geschoss, die Aquarienräume in den Kellern darunter, die Wohn- räume für den ständigen Assistenten, die drei wissenschaftlichen Mitarbeiter, sowie für die Gäste der Station liegen im II. Stock darüber. Die Arbeitszimmer sind außerordentlich geräumig, vier sind zweifensterig (nach dem Park hinaus), eins, das für chemische Zwecke und die Arbeiten des Dieners bestimmt ist, hat ein Fenster nach der Hofseite. An diesen Raum schließt sich die (doppelte) Dunkelkammer an. Alle Fenster sind mit Arbeitstischen versehen, an sechs Fenstern sind für Aquarien abnehmbare Eisenträger (je drei, parallel dem Fensterbrett) angebracht, sowie Vorrichtungen zum Ab- und Zulauf von Wasser und für Durchlüftung. In dem ersten Arbeitszimmer sind die Fensteröffnungen so tief (über 1 m), dass in ihnen zahlreiche Aquarien an beiden Seiten aufgestellt werden können. Von den Fenstern sind einstweilen zwei für die erwärmten Aquarien adaptiert, in deren Mehrzahl Öyprinodonten und andere sich schnell vermehrende Tropenfische gezüchtet werden (für Vari- ations- und Bastardierungsversuche), während einige für physio- logische Zwecke reserviert bleiben. Die Erwärmung geschieht, bis wir eine befriedigende elektrische Heizung gefunden haben, mit kleinen Spirituslampen; die Becken werden durch einen besonderen, sehr leistungsfähigen Apparat kräftig durchlüftet. Die ganze An- lage der Warmwasseraquarien wurde von dem bekannten Aquarianer Joh. Thumm (Dresden) ausgeführt. Zu jedem Arbeitstisch gehört die übliche Ausrüstung mit Glas- sachen und Chemikalien sowie eine elektrische Arbeitslampe, eine Anzahl Aquarien u. dgl. Ferner stehen dem Inhaber offene und verschließbare Fächer für seine eigenen Sachen zur Verfügung. Von dem Instrumentarium der Station dürfte folgendes für etwaige Besucher von Interesse sein: Analytische Wage (von Ruepprecht); mikrophotograph. Horizontal-Vertikalkamera (von 1) Hier soll nur das zur Orientierung Nötigste in aller Kürze mitgeteilt werden; ein mit Photographien versehener Bericht wird vorbereitet. Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). 575 Zeiß, dazu ein „Planar“ für schwache Vergrößerung); ebenfalls von Zeiß ein Binokularmikroskop nach Greenough, ein großer Zeichenapparat mit Zeichentisch nach Bernhard; zwei Mikroskope und ein großes Mikrotom von Reichert; ein Thermostatofen (Mo- dell 1) von Sartorius; ferner Heißluft- und Dampfsterilisatoren, Destillierapparat, Wasserleitungsturbine, Elektromotor mit Zentri- fuge, endlich Dredgen, Planktonnetze und -pumpen etc. Zu Heiz- zwecken dienen Spiritus-Bunsen- und -Barthelbrenner, außerdem sind elektrische Wärmeapparate („Kryptol“) vorhanden. Die Dunkelkammer ist für photographische und physio- logische Zwecke adaptiert, für die ersteren ist, wenn der Haupt- raum zu Experimenten gebraucht wird, noch ein kleiner Neben- raum ausgerüstet. Für absoluten Lichtabschluss (Doppeltüren), Durchströmung und Durchlüftung der Dunkelaquarien, und für ver- schiedenfarbiges Licht ist Sorge getragen; eine etwaige Erwärmung der Aquarien kann durch elektrische Heizplatten geschehen. Die zoologisch-botanische Bibliothek, die beständig vermehrt wird, besteht bisher aus ca. 400 Bänden und Separaten; die Be- werber um Arbeitsplätze werden ersucht, bei ihrer Anmeldung Wünsche betreffend Literatur (und auch Instrumente) zu äußern. Für Unterstützung durch Zusendung ihrer einschlägigen Arbeiten ist die Station den Herren Autoren natürlich besonders dankbar! Die Aquarienräume sind folgendermaßen disponiert. Ein kleinerer Kellerraum mit nur einem Fenster enthält zahlreiche Glasbecken verschiedener Größe, die auf mehreren Regalen über- einander stehen, teils vor dem Fenster, teils an den Wänden. Sie können sämtlich durchströmt und durchlüftet werden und sind vorzugsweise für die kleinere Fauna und Flora bestimmt. Daneben liegt an der einen Seite ein großer vierfensteriger Keller — die Fenster sind auch hier, um möglichst viel Licht einzulassen, ver- größert worden —, in welchem unter einem Süd- und einem Westfenster je ein großes Zementaquarium mit Glastafeln (für Fische) errichtet worden ist. Ein weiteres geräumiges Zement- becken befindet sich in der Mitte des Kellers am Boden (für Grund- fauna); über diesem ist auf Eisenträgern ein großes viereckiges Glasaquarium montiert (für pelagische Fauna). In dem gleichen Keller sind noch, teils an dem freien Fenster, teils an den Wänden, die Aquarien für Brackwassertiere, sowie diejenigen für Fisch- versuche und kranke Fische untergebracht. An der anderen Seite des kleineren Aquarienkellers befindet sich die geräumige Fischbrutanstalt mit zahlreichen Brut- trögen, welche eventuell — soweit sie nicht (im Winter und Früh- jahr) für die Salmonidenbrut gebraucht werden, — den Zwecken der Station nutzbar gemacht werden können. Auch sind hier noch einige große Zementbecken zur Unterbringung von Fischen vorhanden. Lunz (N.-O.). 476 Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in = - x SydIrayygyanz pun -SyanSsao A uoydrpypesydney A9p yydısaoq/L —; = E \ \ + \ fe \ e) \ > \ {eb} N‘ DD PRO on Sa = =) > — ay2rag yorzıny = ——N 7 mer =T EI es INT a sz) 22 == | IL B=) ee S| o 2 = = = ne ee = =) == © — a = = \ — & ‚S AB Tageh .-— e) == o 3 2a Eo .— S-E A. no) Ss .-i N sneyopeg pun -SI004 "HT ‘or pun 9 YopL ueyosınz umey wop ur -[3s9p “(geuyprozodus 4yaru) usquıs- pun oydrgsyonsI9 A AULO]Y UEgEUBP :uayPegsyansio‘ UR}TONUDWeZ IOP odeuy IT) (-g013 ey 160 381 “AI ‘OWL 29918 19q NOULOTIOA ‘19F1oqworT aoyyodsunom) uno sop Sugeupmepzurstg A9u1o peN) -SO9S.IHJU[] SPP AOFNISOQ pun uorre)s UAyISIMZ de, die natürlichen smittel, über welche die Station verfügt, Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). 477 und künstlichen Wasserbecken und Wasserläufe im Freien, die Zementbecken, Teiche, Kanäle, Uferaquarien der Seen, endlich diese selbst. An zementierten Freilandbecken sind unweit der Station zunächst 13 in verschiedener Größe und Tiefe hergestellt. Sie sind durch vertiefte Zementgänge getrennt, so dass der Wasser- spiegel in Brusthöhe des Beschauers zu liegen kommt. Sie können mit durchströmendem und mit stehendem Wasser (z. B. mit ver- Untersee und einige der Teiche von Osten gesehen. Vorn der Seehof mit dem Stationsflügel (vgl. Übersichtsplan S. 476). Man sieht nur die Vorberge, die Hochgebirgslandschaft (Scheiblingstein, Hirschtal, Dürrenstein, « Hetzkogel) liegt im Rücken des Beschauers. ändertem Kalkgehalt) gebraucht und jederzeit, da die Station über geübte Zementarbeiter ständig verfügt, nach Bedarf vermehrt werden. Die Teiche, von denen der beigefügte Plan eine Anzahl!) zeigt, sind in mannigfachster Form, Größe, Tiefe, Bewachsung, Durch- strömung etc. vorhanden. Sie alle können, soweit sich das mit den Interessen der Salmo- 1) Einer der nicht verzeichneten Teiche ist der etwa 1 Joch große „Maus- rodel“-Teich (ca. 1 Std. vom Seehof). Er wird von einem unterirdischen Zufluss gespeist, in dem z. B. der blinde Niphargus vorkommt. A478 Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). niden und Karpfen irgend verträgt, zu biologischen Zwecken heran- gezogen werden. Einige sind speziell für Experimente adaptiert worden, und wenn es für bestimmte Fragen sich als nötig erweist, so ist die Herstellung neuer Teiche in kurzer Frist möglich. Das gleiche gilt für die Wasserläufe, von denen eine große Anzahl, nach Tiefe, Gefäll etc. sehr verschieden, vorhanden ist; weitere können nach Bedarf hergestellt werden. Ein weiteres Hilfsmittel für Adaptionsversuche, kontinuierliche Beobachtung unter natürlichen Verhältnissen u. dgl. sind die Ufer- aquarien, die an geeigneten Stellen der drei Seen und des See- baches aus Bohlen und Gittern hergestellt werden. Für später ist die Herstellung gemauerter Uferbassins in Aussicht genommen, wie sie an den Stationen zu Roscoff und Banyuls-sur-mer im Ge- brauch sind. Sie werden auch für relativ einfache biologische Fragen (Modalitäten des Kampfes ums Dasein, der Fortpflanzung, der Winterruhe etc.) gute Dienste leisten. Endlich sind die Seen selbst als große Experimentierbecken wertvoll, um z. B. den Einfluß des veränderten Milieus (Temperatur, Nahrung, Kalkgehalt ete.) auf die Formbildung und Lebensweise der Fische (die Salmoniden sind bekanntlich ein ganz besonders plastisches, anpassungsfähiges Material) zu untersuchen. Die Fische werden vor dem Einsetzen markiert (nach dem Vorgang der Helgo- länder Station) und können jährlich beim Abfischen oder am Laich- platz revidiert werden. Auf diese Weise wird z. B. die Rassen- bildung der Saiblinge, die Konstanz der Forellenvarietäten und. das immer noch strittige Verhältnis der Bachforelle zur Seeforelle zu untersuchen sein. Die Untersuchungen am Obersee, der 2—3 Gehstunden von der Station entfernt ist, werden durch eine geräumige Jagdhütte erleichtert, welche mit den nötigsten Chemikalien, Netzen, Glas- sachen, auch mit einem einfachen Mikroskop ausgerüstet ist. Man kann dort oben auch — in vollkommenster Einsamkeit — wohnen und übernachten. Am Ober- und Mittersee stehen der Station je ein Boot und Floß, am Untersee mehrere Ruderboote sowie ein großes, für Unter- suchungen an Ort und Stelle adaptiertes Floss zur Verfügung. * * Die hier kurzgeschilderten Verhältnisse der Lunzer Seen und ihrer Station lassen wohl erkennen, dass hier einerseits die meisten der Arbeiten ausgeführt werden können, die an süßen Gewässern — mit oder ohne Station — auch sonst gemacht zu werden pflegen. Anderseits aber ist deutlich, dass die neue Station den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Ausnützung dessen verlegen musste, was ıhr Arbeitsgebiet von anderen unterscheidet. Das sind die biologischen Verschiedenheiten ihrer (gleichwohl zusammengehörigen) Gewässer Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-Ö.). 479 und die Möglichkeit, diese Differenzen künstlich zu präzisieren und experimentell in großem Stil auszunutzen. Diese Überlegung ist der Organisation des Ganzen zugrunde gelegt worden. Die Station durfte sich nicht darauf beschränken, Arbeitsgelegenheit für fremde Gelehrte zu schaffen, sondern sie muss in der Hauptsache selbst die langwierige Bearbeitung der sich hier darbietenden kausalen Probleme durchführen, so wichtig und höchst willkommen uns natürlich jede Mitarbeit anderer, welche die Arbeits- mittel der Station benützen wollen, sein wird. Ferner konnte nicht darauf gewartet werden, bis von den Be- suchern der Station die Faunistik, Floristik und Hydrographie unseres Arbeitsgebiets behandelt sein würde. Es wurden deshalb im vergangenen Winter durch gütige Vermittlung der Herrn Proff. Cori und Penck für diese drei Gebiete Hilfskräfte gewonnen. Und zwar hat Herr Dr. Götzinger (Wien) die hydrographische Bear- beitung begonnen; Herr Dr. Brehm (Elbogen), einer unserer besten Planktonkenner der Alpenseen, übernahm die systematisch-ver- gleichende Behandlung des Zooplanktons und der Litoralfauna, mit besonderer Berücksichtigung der Urustaceen und Rotatorien, Herr cand. Knoll (Graz) diejenige der Phanerogamen und Fadenalgen, während der ständige Assistent Herr Dr. Ruttner (Prag) und der unterzeichnete Stationsleiter das übrig bleibende pflanzliche und tierische „Inventar“ übernommen haben. Dem ersteren wurde auch insbesondere die bakteriologische Durcharbeitung — die für nicht verunreinigte Gewässer noch so wenig gefördert ist — übertragen. Endlich hat sich während einiger Monate Herr cand. Bernhard (Leipzig) mit bestem Erfolg an den Vorarbeiten, insbesondere durch Bestimmung und Montierung von Planktonorganismen, beteiligt. Auch den Herren Oori, Chun, Öorrens, Hatschek, Kuckuck (Helgoland), Molisch, Nüsslin, Reichert (Leipzig), Stockmayer, Wesenberg-Lund ist die Station für so manche Hilfe und Freund- lichkeit zu Dank verpflichtet; insbesondere gilt das von dem Eırst- und von dem Letztgenannten: die an den Stationen zu Triest und Lyngby bereitwillig gewährten Informationen und Gefälligkeiten waren für den Unterzeichneten von der größten Bedeutung. Am wenigsten aber möchte ich unterlassen, dem Herrn Güter- inspektor Liemberger, der seine praktische Erfahrung und Tätig- keit unermüdlich der werdenden Station zugute kommen ließ, auch öffentlich zu danken. Zum Schluss möge ım Namen des Gründers der Station die Aufforderung ausgesprochen werden, von ihren Arbeitsplätzen!) 1) Bewerbungen, sowie Anfragen aller Art, sind an die Direktion der Biol. Stat. Lunz (N.-O.) zu richten. Die Platzinhaber erhalten Chemikalien ete. gratis, ferner wird, soweit der Platz reicht, freie Wohnung im Schloss gewährt. Optische 48O Woltereck, Mitteilungen aus der Biologischen Station in Lunz (N.-O.). Gebrauch zu machen, die allen Biologen Osterreich-Ungarns, Deutsch- lands und des Auslands kostenlos offen stehen sollen. * 6 = Anhangsweise möchte ich noch die Bitte an die Planktologen richten, uns Planktonproben des Süßwassers überweisen zu wollen. Mit der Station Lunz ist eine Zentrale für Süßwasserplankton verbunden worden (welche des weiteren auch Grundproben und Litoralproben sammelt). Schon bei mancher Arbeit ist die Möglichkeit vermisst worden, Plankton der gleichen Örtlichkeit aus anderer Zeit oder Plankton aus anderen Gewässern vergleichen zu können. Eine Durchsicht der Literatur lässt ermessen, wie wertvoll es sein würde, wenn die Vergleiche und Folgerungen nicht mehr auf Beschreibungen und mehr oder weniger subjektiven Abbildungen zu fußen brauchten. Eine zentrale Sammelstelle, von welcher aus Vergleichsmaterial leicht zugänglich gemacht werden kann, ist ein entschiedenes Desiderat, ihre Verwirklichung kann mit Hilfe der einzelnen Plankto- logen unschwer erreicht werden. Die vorhandenen Planktonproben sollen von Lunz aus den Bewerbern kostenfrei und leihweise (auf 2—4 Wochen) zugesandt werden, soweit sie nicht grade für ver- gleichende Untersuchungen, welche an der Zentrale selbst angestellt werden, benötigt sind. (Die der Zentrale übergebenen Proben können auf Wunsch der Einsender deren Eigentum bleiben und von ıhr nur verwaltet werden.) Es ist wohl unnötig, den Nutzen, der aus dieser Einrichtung den Planktologen ebenso wie der Station erwachsen kann, im ein- zelnen nachzuweisen. Unser erstes Ziel ist eine möglichst vollständige Sammlung von alpinem und nordischem Plankton, wofür die der Zen- trale gütigst zur Verfügung bezw. in Aussicht gestellten Samm- lungen der Herren Brehm und Zederbauer (Östalpen), Merian (Zentral- und Westalpen), Sven Ekman (Schweden) und Wesen- berg-Lund(Dänemark, Norwegen, Grönland) den wertvollen Grund- stock bilden bezw. bilden werden. Bei den vielen tatsächlichen und hypothetischen (eiszeitlichen) Beziehungen zwischen alpinen und nordischen Planktonten ist diese Sammlung für uns zunächst am wichtigsten. Lunz, Ostern 1906. Prof. R. Woltereck (Univ. Leipzig). Instrumente sind mitzubringen. — Lunz ist Station der Ybbstalbahn und in ca. 5 Stunden von Wien oder Linz zu erreichen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. XXVI.Bd. 1. August 1906. 8 16. Inhalt: Goebel, Zur Biologie von Cardamine pratensis.,,_— Hertwig, Uber Knospung und Ge- schlechtsentwiekelung von Hydra fusca. — Grofs, Uber die Beziehungen zwischen Vererbung und Variation (Fortsetzung). — Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. — Fischer, Über die Ursache der Disposition und über Frühsymptome der Raupenkrankheiten (Schluss). — Zur Biologie von Cardamine pratensis. Von K. Goebel. Von Cardamine pratensis existiert eine in mancher Hinsicht merkwürdige Rasse mit gefüllten Blüten, über welche ıch früher eine kurze Bemerkung veröffentlicht habe). Von Interesse ıst diese Form zunächst durch ıhr Auftreten, welches einen sicheren Schluss über ihre Entstehung zulässt. Man kann die Anschauungen über das Zustandekommen ge- füllter Blüten wohl in drei Gruppen bringen. 1. Als erste sei genannt die, welche die Füllung der Blüten auf die direkte Einwirkung äußerer Faktoren zurückführt. So sagt z.B. A. Braun?): „Hierher gehören manche bekannte Erfahrungen, wie z. B. dass das wilde Leberblümchen (Hepatica nobils) mit seinen lieblich blauen, sechsblättrigen Blüten, wenn es aus dem schattigen Berghain ın den Garten verpflanzt wird, gewöhnlich schon im nächsten Jahre gefüllte und dazu meist rote Blüten hervor- bringt.“ Trotzdem diese Angabe von einem ausgezeichneten Natur- 1) Goebel, Organographie der Pflanzen I, S. 83. Die gefüllt blühende Form ist schon lange bekannt; vgl. die Literatur bei O. Penzig, Pflanzenteratologie TI, S. 248. 2) Sie ist aber auch im Freien gefunden; vgl. z. B. Pluskal, Flora 1849, S. 64; ohne Zweifel sind aus derartigen Funden die Gartenpflanzen entstanden. XXVl 31 482 Goebel, Zur Biologie von Cardamine pratensis. forscher herrührt, muss ich sie doch als eine unzutreffende be- trachten. In der Umgebung Münchens kommt die rotblühende Form von Hepatica auch im „schattigen Berghain“ nicht selten spontan vor, und die blaublühende erhält sich auch — soweit meine Er- fahrung reicht — (im allgemeinen) im Garten konstant und wird dort ebensowenig rot als gefüllt. Zudem ıst der Begriff „Garten“ ja ein ziemlich unbestimmter, es gibt auch ın einem Garten Vege- tationsbedingungen sehr verschiedener Art, namentlich was die Er- nährungsverhältnisse anbelangt. Es ist diese Angabe auch wohl ıicht auf experimenteller Grundlage entstanden, sondern der Beob- achtung entsprungen, dass man die gefüllt blühende rote Form eben nur im Garten zu sehen gewöhnt ist. Das sagt über ihre Entstehung aber nichts aus. Ebenso behauptet neuerdings Velenovsky'), die abnorme gabelige Verzweigung mancher Farnblätter komme „an manchen Farnen sofort zum Vorschein, sobald wir dieselben aus der freien Natur in den Garten verpflanzen*. Aus der umfang- reichen, namentlich englischen Literatur über abnorme Farnformen ist ersichtlich, dass so gut wie alle diese Formen ursprünglich ım Freien gefunden („wild finds“) sind, und im Garten nur gehegt werden, nicht aber durch Kultureinflüsse entstanden sind. — Es ist von diesen Anschauungen nur so viel richtig, dass gewisse Missbildungen sich nur unter bestimmten Ernährungsbedingungen erhalten können, und wenn diese nicht gegeben sind, in die „normale“ Form zurück- schlagen, wofür gerade die hier zu besprechende Pflanze ein lehr- reiches Beispiel bietet. Eine Entstehung einer Missbildung aber durch direkte Einwirkung von Kulturbedingungen, wie A. Braun?) und Velenowsky sie annehmen, ist in den von diesen Autoren an- geführten Fällen durchaus nicht nachgewiesen, ebensowenig bei der Entstehung anderer gefüllter Blüten. Ähnliche Anschauungen wie die von A. Braun und Vele- novsky sind übrigens auch in der gärtnerischen Literatur verbreitet. So sagt z.B. Carriere?) „Nous ferons aussi observer que les fleurs doubles ne se rencontrent guere que dans les plantes cultivees; elles paraissant etre la consequence d'une modification de tempe- rament due ä la domestication, parfois au traitement, aussi ne les vencontre-t-on que tres rarement a l’etat de la nature, si ce n'est aceidentellement, pour ainsı dire.“ Wenn man aber im Frühjahr die feuchten Wiesen der oberbaye- rischen Hochebene betrachtet, so kann man an zahlreichen Stand- orten Tausende von Exemplaren von Cardamine pratensis mit voll- ständig gefüllten Blüten — in denen jede Spur der eigentlichen 1) Beobachtungen über die Erscheinung der Verjüngung in der Natur1851, 8. 334. 2) Vergleichende Morphologie der Pflanzen I. Teil, S. 206. 3) Carritre, Produetion et fixation des variötes dans les v@getaux. Paris 1865, p. 16. Goebel, Zur Biologie von (ardamine pratensis. 483 1 Fortpflanzungsorgane verschwunden ist — beobachten. Diese Pflanze ist nun nie eine Gartenpflanze gewesen, die Füllung kann also auch nicht in der Kultur entstanden sein. Der Satz, dass in der freien Natur Pflanzen mit vollständig gefüllten Blüten verhältnismäßig selten sind, ist trotzdem richtig. Aber er ist anders zu erklären, als Carrı@re dies tat. Im Garten können Pflanzen mit vollständig gefüllten Blüten auf ungeschlecht- lichem Wege fortgepflanzt werden!), sei es durch Okulieren (und Pfropfen) wie bei Rosen oder durch Stecklinge wie bei den gefüllt blühenden Petunien. Für Oardamine pratensis liegt im wilden Zu- stand die Sache insofern analog, als sie, wie gezeigt werden soll, ganz besondere Mittel zur ungeschlechtlichen Vermehrung besitzt undsich so ohne Zutun des Menschen erhalten kann. Auch die mit voll- ständiggefüllten Blüten versehene Formvon Ranumeulus repens pflanzt sich durch Ausläufer fort. Aber das sind immerhin Ausnahmefälle. Wild wachsende Pflanzen aber, welche in ihren Blüten nur Anfänge von Füllung zeigen, sich also durch Samen fortpflanzen können, werden durch Kreuzung mit einfach blühenden Formen ım allgemeinen bald verschwinden. In der Kultur aber lassen sie sich isolieren und zur Züchtung benutzen. Eine experimentelle Stütze für „die Annahme, dass die „Füllung“ der Blüten direkt von äußeren Verhältnissen abhänge, könnte man in Angaben von H. Hoffmann finden zu können glauben. Dieser Autor, welcher zahlreiche Kulturversuche angestellt hat, sagt?) von Paparer alpinum: „Ich finde die Ursache der hiernach unzweifelhaft in der Kultur hervorgetretenen Neigung zur Füllung darin, dass es sich hier bei jeder neuen Anzucht von Samen, also bei jeder neuen Generation, um Top fkultur handelt. Es bedingt diese, ver- glichen mit dem Aufwachsen im Freien, eine Dürftigkeit der Ge- samternährung“...?°). Indes scheint mir der Umstand, „dass die neuen Generationen der verschiedensten Serien ihre nun einmal auf- getretene Füllung weiterhin durch Jahre auch dann beibehielten, wenn sie, was fast in allen Fällen geschah, weiterhin ins freie Land (oft auf den dürftigsten Boden) verpflanzt wurden“ wenig für die Annahme zu sprechen, dass hier eine direkte Beeinflussung durch die Topfkultur vorlag. Eher möchte ich annehmen, dass Hoffmann ein Gemisch verschiedener Rassen, unter anderem auch eine zur Blütenfüllung neigende, vor sich hatte, und dass die letztere bei Topfkultur besser gedieh, oder diese besser ertrug als die Freiland- 1) Von den Fällen, wo bei Levkojen die Füllung durch einfach blühende bestimmter Rassen sich fortsetzt, sehen wir hier ab. 2) H. Hoffmann, Kulturversuche über Variation. Botan. Zeitung 1882, S. 486. 3) Ein Resultat, das mit dem von de Vries für Ranuneulus bulbosus semi- plenus erhaltenen in direktem Widerspruch steht (vgl. de Vries, Die Mutations- theorie I, S. 592). 31* 484 Goebel, Zur Biologie von Cardamine pratensis. kultur, dass also bei der Topfkultur eine unbewusste Auswahl stattfand. Nehmen wir z. B. an, die Samen der gefüllt blühenden Form keimten rascher als die der einfachen, so können sie bei dichter Topfsaat diese unterdrücken, während ım Freien vielleicht gerade die ersten Keimlinge unter äußeren Schädigungen leiden. Dasselbe Bedenken muss ich gegen einen späteren Versuch Hoffmann’s!) geltend machen, in welchem er nachgewiesen zu haben glaubte, dass bei Tagetes patula durch ungenügende Ernährung bedeutende morphologische Veränderungen, die vererbt werden, entstanden seien, ganz abgesehen von der Frage, wie weit seine Kulturen gegen Kreuzbefruchtung geschützt waren. Offenbar haben auch andere Autoren die Hoffmann’schen Angaben nicht für einwandfrei ge- halten, sonst wären sie ja ein glänzendes Beispiel für die Vererbung erworbener Eigenschaften. 2. Die am weitesten verbreitete Ansicht nimmt an, _dass ge- füllt blühende Formen nicht direkt durch Einwirkung äußerer Fak- toren, sondern durch Zuchtwahl von seiten des Menschen entstanden sınd, indem man, ausgehend von Pflanzen, ın deren Blüten die „Füllung“ nur wenig auftrat, diese letztere allmählich steigerte. Es handelt sich aber auch hierbei nicht etwa um eine Steigerung der Füllung durch direkte Beeinflussung mittelst der Gartenkultur, sondern um Isolierung von Formen, welche die Fähigkeit, gefüllte Blüten hervorzubringen, schon besessen haben ?), aber der fortwähren- den Kreuzung mit einfach blühenden entzogen werden, wobei zu beachten ıst, dass die Fähigkeit, gefüllt blühende Formen hervor- zubringen, unter bestimmten Umständen latent bleiben kann. 3. Für die Entstehung gefüllt blühender Pflanzen durch sprung- weise Abänderung — Mutation — bietet Cardamine pratensis em gutes Beispiel, denn aus dem oben angeführten Grunde ist an eine Steigerung der Füllung durch Zuchtwahl hier nicht zu denken. Auch habe ich im Freien Mittelbildungen zwischen der einfachen und der stark gefüllt blühenden Form bis jetzt nicht gefunden, doch werden solche ın der Literatur beschrieben (vgl. Penzig a.a.O.). In der Umgebung Münchens findet sich die gefüllt blühende Form an zahlreichen Standorten, an manchen ist sie ın großer Menge vorhanden und überwiegt die einfach blühende Form, nament- lich auf Wiesen mit feuchtem, gut gedüngtem Boden. Die Pflanzen fallen schon von weitem durch ihre Blüten auf. Diese erreichen zuweilen einen Durchmesser von 2'/, cm, sie sehen aus wie Miniaturröschen, in denen keine Spur von Staub- und Frucht- blättern mehr zu finden ist. Ehe indes auf die Blüten eingegangen wird, sei noch bemerkt, dass, während die Infloreszenzen der einfach blühenden Form normal 1) Bot. Zeitung 1887, S. 769 ff. 2) Vgl. dazu namentlich de Vries, Die Mutationstheorie I Bd., S. 523 u. a.a. O. Goebel, Zur Biologie von (ardamine pratensis. 485 mit der Blütenbildung ihr Wachstum abschließen und keine Weiter- entwiekelung eintritt, die untersuchten Blütenstände der gefüllt blühenden Form alle (soweit sie näher untersucht wurden) die An- lage zur „Durchwachsung“ besitzen. Man findet nämlich am Ende der Infloreszenzachse einen kleinen Schopf von Laubblättern. Diese bleiben unter ungünstigen äußeren Verhältnissen unentwickelt. Hält man aber eine Infloreszenz feucht, so entwickeln sich diese Blattanlagen zu Laubblättern, und bald treten an der Sprossachse auch (exogen) Figur 1. Habitusbild des Endes einer Inflores- Cardamine pr atensis. zenz, welche als Laubspross weiter Er x ewachsen ist, ohne Wurzeln. (Zweifach vergrölsert.) 5 en eh, SW Wurzeln auf?) (Fig. 1), so dass aus dem Infloreszenzende ein Spross 3 O 2 ” ” ” ” hervorgeht, der zur vegetativen Vermehrung dient. Dies ist aber nicht die einzige Art der letzteren, auch ausden Blüten treten unter günstigen Umständen vegetative Sprosse hervor. Da außerdem auch die Laub- blätter von Cardamine mit der Fähigkeit ausgerüstet sind, Adventiv- zu Sur , knospen zu bilden, so erklärt sich leicht, wie die gefüllt blühende . ? . . - O - Form, bei welcher die Samenbildung ganz unterdrückt ist, trotzdem sich vermehren und erhalten kann. 1) Diese bilden sich bei (ardamine pratensis überhaupt ungemein leicht: be- deckt man eine Pflanze mit einer GlasglJocke, so bilden die gewöhnlichen Achsel- sprosse weit über dem Boden Wurzeln aus. 486 Goebel, Zur Biologie von (ardamine pratensis. Die Blüten zeigen außer Kelchblättern und Blumenblättern zu- nächst keinerlei weitere Blattbildungen. Dass die Blumenblätter in großer Überzahl gebildet werden, die Blüten also „petaloman“ sind, zeigt der Augenschein. Die Anordnung der Blumenblätter ist die bei gefüllten Cruciferenblüten übliche!) in vier Reihen, wobei nicht selten Spaltungen auftreten (Fig. 2), eines der Spaltstücke ist dabei öfters fadenförmig entwickelt. Gelegentlich treten — wie dies auch sonst in gefüllten Blüten nicht selten ist an der Blüten Achsel- sprosse auf, die ebenfalls zu gefüllten Blüten werden. Beobachtet man Blüten, welche feucht gehalten wurden, so sieht man, dass die Blütenachse sich oberhalb einer Anzahl von Blumenblättern streckt (Fig. 3, D), es treten dann oberhalb des ge- streckten Intermediums häufig wieder vier Kelchblätter oder Mittel- bildungen zwischen Kelchblättern und Blumenblättern auf. Unter- halb des gestreckten Internodiums bilden sich exogen Wurzeln (Fig. 3, II, IV). Die Spitze des Blütensprösschens aber geht zur Bildung von Laubblättern über (Fig. 3, I, IV, V), die Blütenblätter und Kelchblätter fallen ab. Die Blüte ıst in einen Laubspross übergegangen, welcher zu einer neuen Pflanze heranwachsen kann. Offenbar ıst ın Korrelation mit der Unterdrückung aller Spo- rangienbildung hier die Fähigkeit zum vegetativen Wachstum sowohl an der Infloreszenz- als an den Blütenachsen eine gesteigerte. Aber Ban Bardamıne praseeh BEE Korrelationsbeziehungen sind, Blumenblätter mit Spaltung. (Vierf, vergröfsert.) wie Korrelationen überhaupt, bei den verschiedenen Pflanzen sehr verschieden. Es ist mir z. B. nicht gelungen, gefüllte (petalomane) Blüten von Ranunculus repens zum vegetativen Weiterwachsen zu bringen, während dies bei Cardamine pratensis außerordentlich leicht stattfindet. Einen analogen Fall wie den von Cardamine finden wir dagegen meiner Ansicht nach bei den Blüten (Sporangienständen) von Sela- ginella. Bei den meisten Arten sind diese Blüten Sprosse, welche nach Hervorbringung einer Anzahl von Sporangien ihr Wachstum einstellen. Es wurden früher?) Blüten Sel. Lyalii beschrieben, bei welchen eine vegetative „Durchwachsung“ stattgefunden hatte. I) Vgl. Gocbel, Beiträge zur Kenntnis gefüllter Blüten. Pringsh. Jahrb. für wissensch. Botanik XVII. 1886, 2) Goebel, Beitr. zur Morphologie und Physiologie des Blattes. Botanische Zeitung 1880, S. 221. Goebel, Zur Biologie von (ardamine pratensis. AST Es zeigte sich dabei, dass die obersten Sporangien verkümmert waren, und dieses Verkümmern betrachtete ich eben als die Vor- bedingung für das Durchwachsen (welches bei einigen Arten auch spontan stattfindet). Behrens!) hat später gezeigt, dass man ein solches Durchwachsen resp. Vergrünen auch herbeiführen kann, wenn man Sprosssysteme, welche mit Blüten endigen, als Stecklinge benützt, selbst einzelne abgeschnittene Blüten lassen in meinen Kulturen vielfach ihren Vegetationspunkt vegetativ weiter wachsen, eine Erscheinung, welche bei manchen Arten auch „normal“ eintritt, I Figur 3. I. Zum Laubspross ausgewachsene gefüllte Blüte; die Blumenblätter sind abgefallen. W Wurzeln. ll. Blüte mit Wurzelbildung, ein Internodium hat sich stark gestreckt. III. Blüte von aulsen. 1V. Blüte, die oberhalb der Blumenblätter Laubblätter gebildet hat. V. Ähnliches Stadium, (Sämtliche Figuren sind viermal vergrölsert.) in den genannten Fällen aber hängt sie offenbar mit der Ver- kümmerung der Sporangien zusammen. | Kehren wir zu Cardamine zurück, so ıst eine andere Frage die, ob die Füllung eine konstante ist oder nicht. Dass sie für gewöhnlich auf die (vegetativ entstandenen) Nachkommen vererbt wird, ist klar, denn da die Pflanze so massenhaft vorkommt, so müsste man, wenn die gefüllt blühenden Exemplare nicht die Nachkommen anderer gefüllt blühender wären, annehmen, dass gefüllt blühende öfters als Mutanten aus Samen einfach blühender entstünden. Dies ist aber äußerst unwahrscheinlich, offenbar handelt es sich vielmehr um die Nachkommen einer längst entstandenen Form. 1) Über die Regeneration bei den Selaginellen. Flora 84. Bd., S. 139. 488 Goebel, Zur Biologie von Cardamine pratensis. Indes ist die Fähigkeit, die normale Blütenform zu bilden, auch bei den gefüllt blühenden Pflanzen noch „latent* vorhanden. 1901 sowohl wie 1906 erhielt ich aus gefüllt blühenden Oardamine- Pflanzen, welche ich in Töpfe mit sandiger Gartenerde hatte einpflanzen lassen, einfach blühende Exemplare, und zwar waren alle diese Pflanzen „zurückgeschlagen*. Die einfachen Blüten waren durchaus normal, dass sıe blass ge- färbt waren, entspringt wohl ebensosehr wie die weniger entwickelte Blattgröße dem weniger günstigen Ernährungszustande der Pflanze. Die normale Ausbildung der Blüten (welche auch Früchte an- setzten) ist deshalb hervorzuheben, weil teilweise die Ansicht ver- treten wurde, dass die Pflanzen mit gefüllten Blüten aus solchen mit geschwächter Sexualität entstanden seien. Darwin hat im Jahre 1843 folgende Hypothese aufgestellt'): Is it, then, too bolda theory to suppose that all double flowers are first rendered by some change ın their natural condition, to a certain degree sterile; and that their vessels being charged with or- ganizable matter in excess (which would be greatly formed by high cultivation), it is converted into petals -— the organs which are nearest in their morphological nature and position to those whose functions are checked?* Wenn diese Ansicht richtig ist, so müsste man wohl erwarten, dass die an den früher gefüllt blühenden Pflanzen als „Rückschlag“ entstandenen einfachen Blüten steril seien. Dies war aber, so weıt die Frage untersucht werden konnte, nicht der Fall. Der Pollen dieser Blüten war fast durchaus nor- mal, nur wenige Pollenkörner zeigten sich verschrumpft oder ın der Entwickelung stehen geblieben?). Eine Bestäubung der Blüten ergab Schwellung des Fruchtknotens, und obwohl die jungen Früchte in dem Zeitpunkt, in welchem diese Notiz — aus äußeren Gründen — abgeschlossen wurde, noch klein sind, glaube ich doch annehmen zu dürfen, dass sie normaler Entwickelung fähig sind. Ich darf, was andere Pflanzen anbelangt, wohl auf früher Gesagtes verweisen (a4 a O.9B2281T). | Analog wie die Rückschlagsblüten von Cardamine verhalten sich wohl auch die anderen gefüllt blühenden Pflanzen, denn dass solche Rückschläge vorkommen, ist auch sonst bekannt. So z. B. bei Primula®). Und nach den beiden trockenen Sommern von 1904 und 1905 zeigte sich ein großes Beet mit Ranuneulus repens, dessen Blüten sonst ganz „petaloman“ gewesen waren, vollständig auf die einfache 1) The Gardeners Chronicle 1543, p. 625. 2) Einige Blüten (speziell die an der Basis der Infloreszenz befindlichen) ver- trockneten im Knospenzustand, ohne Frucht anzusetzen. Es darf dies wohl den — absichtlich ungünstig gehaltenen — Ernährungsbedingungen zugeschrieben werden. 3) Vgl. Gardeners Chronicle 1881, p. 540. Vgl. namentlich auch de Vries, Die Mutationstheorie I, S. 636. Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusca. 489 Form zurückgeschlagen. Eskann wohlkeinem Zweifel unterliegen, dass Ernährungsverhältnisse dabei in erster Linie in Betracht kommen. Es ist nicht notwendig, dass die Quantität der Nährstoffe stets einen bestimmten Betrag erreichen muss, um das Auftreten von Rück- schlagssprossen zu verhindern. Eine „kalkfliehende“ Pflanze z. B. wird durch einen kalkhaltigen Boden, auch wenn er sonst alle not- wendigen Aschenbestandteile enthält, doch nach der Minusseite hin beeinflusst werden, die genauere Feststellung der Bedingungen für das Auftreten der Rückschläge und die Untersuchung der Fer- tilität der Rückschlagsblüten dürfte noch manchen interessanten Aufschluss versprechen. Über Knospung und Geschlechtsentwickelung ‚von Hydra fusca. Von Richard Hertwig in München. Im Winter 1904/05 kultivierte ich braune Süßwasserpolypen, um die ersten orientierenden Beobachtungen zu sammeln, in welcher Weise man die geschlechtliche Entwickelung dieses Tieres beein- flussen könne, und dabei die so oft zitierten Untersuchungen Nuss- baum’s über das interessante Problem einer Prüfung zu unterziehen. In diesem Winter hat dann auf meine Veranlassung hin und unter meiner beständigen Anteilnahme und Kontrolle Herr Apotheker Krapfenbauer die Kulturversuche fortgesetzt. Dabei fiel mir auf, was ein eingehendes Literaturstudium vollauf bestätigte, dass wir trotz der vielen entwiekelungsgeschichtlichen, anatomischen und experimen- tellen Untersuchungen, welche über den Süßwasserpolypen erschienen sind, über Knospung und Geschlechtsentwickelung sehr unvollkommen orientiert sind. Ich teile daher einige Betrachtungen, welche gelegentlich der angestellten Kulturversuche gemacht wurden, im folgenden mit. Die zur Untersuchung verwandte Form des Süßwasserpolypen sei im folgenden provisorisch Hydra fusca L. genannt. Bei der großen Unsicherheit, welche in der Speziesbenennung in der Literatur herrscht, füge ich zur genauen Charakteristik einige markante Merk- male der Benennung bei. Das Tier besitzt im allgemeinen ein lichtes Graubraun; wechselt aber seine Färbung je nach den Kultur- bedingungen, unter denen es sich befindet. In Kältekulturen nimmt es eine dunkle Färbung an, ein tiefes Kaffeebraun oder ein nicht selten dem Ziegelrot sich näherndes Rotbraun. Auch die Zimmer- kulturen färbten sich im Lauf der Zucht dunkler, hellten sich aber dann wieder auf, wie auch eine im Zimmer gehaltene Hungerkultur, die neuerdings in Kälte übergeführt und gefüttert wurde, nicht mehr dunkelte, sondern sogar zu einem Ledergelb sich aufhellte. Somit hat auch die Dauer der Kultur auf die Färbung Einfluss, wie ich ähnliches schon für Actinosphärium nachgewiesen habe. Ich ziehe 490 Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusca. daraus den Schluss, dass es sehr bedenklich ıst, auf die Färbung hin neue Hydraarten zu begründen, wie es z. B. von der Hoch- gebirgsseen bewohnenden Hydra rhaetica Asper gilt; es könnten die rötlichen Färbungen dieser Tiere durch die besonderen Lebens- bedingungen, bei H. rkaetiea durch die kühle Temperatur der Hoch- gebirgsseen, verursacht sein. Die Zahl der Tentakeln beträgt m der Regel 6; äußerst selten findet man 7 oder 8 Tentakeln, öfters nur 5; ım letzteren Fall muss man mit der Möglichkeit rechnen, dass noch ein sechster entwickelt werden kann. Denn junge Knospen lösen sich oft nur mit vier Tentakeln versehen ab. Es wäre aber auch denkbar, dass verfrühtes Eintreten der Knospung die Entwickelung des sechsten Tentakels dauernd verhindert. Variationen ın der Temperatur oder der Intensität der Fütterung haben auf die Tentakelzahl keinen Einfluss. Man kann daher die Sechszahl als die Norm bezeichnen. Bei der Knospe entwickelten sich die Tentakeln in dem Rhythmus, den Haacke (1880) für seine H. Roeseli, welche mit Recht von den meisten neueren Forschern mit H. fusca identifiziert wird, angibt. Zuerst entwicken sich ziemlich gleichzeitig zwei laterale Ten- takeln, d. h. zwei emander opponierte Tentakeln, welche symmetrisch zu einer Ebene stehen, die man durch die Längsachsen von Mutter- tier und Knospe legen kann. Dann entwickelt sich ein proximaler Tentakel, ein Tentakel in der dem Muttertier benachbarten Hälfte der Knospe, dann ein distaler, dem proximalen Tentakel genau opponierter. Schließlich bildet sich je ein Tentakel zwischen dem proximalen und dem lateralen Tentakel; diese Entwickelung der letzten zwei Tentakeln kann erfolgen, während die Knospe noch am Mutter- tier festsitzt, oder nachdem sie sich von ıhm abgelöst hat. Ein weiteres Merkmal der offenbar ın den beiden letzten Wintern kultivierten Hydren war ihr getrennt geschlechtlicher Charakter. Im verflossenen Winter erzeugten die Kulturen, welche in verschiedenen Gläsern aufgetreten waren, entweder Hoden oder ÖOvarien. In diesem Winter sind in den Kulturen, welche nach vielen Tausenden zählten, alle aber von sechs Ausgangsexemplaren aus gezüchtet waren, nur männliche Individuen aufgetreten; da diese in großer Anzahl sich entwickelten, ist das gänzliche Aus- bleiben weiblicher Tiere besonders auffallend. Getrennt geschlechtliche Hydren sind wiederholt beobachtet worden. Am ausführlichsten handeln über sie Asper, Brauer und Downing. Asper bezeichnete die von ihm in Hochgebirgsseen des Engadins gefundenen männlichen und weiblichen, ziegelrot gefärbten Hydren als MH. rhaetica. Brauer fand, dass die von ıhm unter- suchten getrennt geschlechtlichen Tiere in ihrem gesamten Habitus dem „braunen Polypen“ der alten Autoren, für welchen er den Linne’schen Namen H. fusca beibehält, gleichen und sich von Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusea. 491 ihnen nur darin unterscheiden, dass die gewöhnlich als braune “Polypen bezeichneten Tiere hermaphrodit sind und abgeplattete Eier besitzen. Er vermutet, dass unter dem Namen H. fusca bisher zwei verschiedene Arten zusammengefasst worden seien, eine ge- trennt geschlechtliche und eine hermaphrodite Form. Downing stimmt Brauer bei; während dieser aber in vorsichtiger Weise mit seinem definitiven Urteil zurückhält und die Möglichkeit erwägt, dass es sich nur um Varianten einer und derselben Form handelt, erklärt sich Downing mit Bestimmtheit für die Annahme ver- schiedener Arten; er nennt die hermaphrodite Form H. fusca, die getrennt geschlechtliche H. dioecia. Ich billige das Verfahren Downings nicht. Wir wissen noch zu wenig, ob Hermaphroditis- mus und Gonochorismus immanente Charaktere der verschiedenen Hydraarten sind oder nicht die Konsequenzen ihrer Existenz- bedingungen im weitesten Sinne des Wortes, so dass je nach der Einwirkungsweise derselben hermaphrodite, rein männliche oder rein weibliche Individuen entstehen würden. Für Downing war beı seinem Urteil wohl mitbestimmend, dass er vergebens versucht hatte, durch Veränderung der Existenzbedingungen bei Hydren die Bildung der Geschlechtsprodukte hervorzurufen. Wir werden sehen, dass seine Versuche sehr unvollkommen gewesen sind, und dass es ın der Tat möglich ist, durch Kältewirkung die Hydren zur Hoden- produktion zu veranlassen. Es wäre sehr wohl denkbar, dass Ab- stufungen in den äußeren Bedingungen Einfluss auf das Geschlecht ausüben und je nach dem Charakter derselben männliche, weibliche oder hermaphrodite Tiere hervorrufen. Solange wir über diese Dinge noch nicht genügend orientiert sınd, ist es nicht ratsam, dem Hermaphroditismus oder Gonochorismus Bedeutung für die syste- matische Unterscheidung verschiedener Hydraarten beizumessen. Das ist wohl auch die Ansicht Nussbaum’s und Kleinenberg’s, welche das Vorkommen rein weiblicher Individuen als ein gelegent- liches Vorkommen bezeichnen. Nussbaum beobachtete auch bei der typisch hermaphroditen FH. viridis vein männliche Tiere. Auch Zoja hält das Vorkommen von getrennt geschlechtlichen Exemplaren von H. yrisea — was Zoja H. grisea nennt, ist offenbar identisch mit der H. fusca Brauer’s, Downing’s und Nussbaum’s -— für einen Ausnahmezustand. \ Sehr auffallend ist bei den von uns untersuchten Hydren die Sonderung in einen lichten schlanken Stiel und einen braun ge- färbten etwas umfangreicheren Körper. Dieser Unterschied ist wohl bei allen Hydraarten vorhanden, nicht aber stets gleich deutlich ausgeprägt, so dass er nicht immer von den Hydraforschern ın ge- bührender Weise berücksichtigt worden ist. Bei A. fusca ist schon den ältesten Autoren die scharfe Sonderung eines Stielteils auf- gefallen; er wird von Trembley und Rösel v. Rosenhof mit 492 Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusca. einem Schwänzchen verglichen. Der Unterschied beider Abschnitte hat vornehmlich seinen Sitz ım Entoderm. Wie schon Greenwood richtig erkannte, enthält das Entoderm des Rumpfes im engeren Sinne resorbierende mit Eiweißkügelchen beladene Zellen und da- zwischen eingestreute Drüsenzellen, das Entoderm des Stiels ent- hält dagegen lichte, große, blasige Zellen. Übrigens kann der Unterschied beider Abschnitte sich verwischen; das ist bei hungern- den Tieren der Fall; andererseits kommt es ım Lauf der Bildung von Geschlechtsprodukten und Knospen vor, dass Teile des Rumpfes in den Stiel verwandelt werden. Was zunächst die Knospung anlangt, so liegen in der Literatur einander merkwürdig widersprechende Angaben vor. Manche Forscher, wie z. B. Kleinenberg (1872) und Delage (1899), geben an, dass die Knospen an irgend einer Stelle des Magenteils entstehen können, und erwecken damit die Vorstellung, als sei ın ihrer Entwickelung keinerlei Gesetzmäßigkeit gegeben. Auf der anderen Seite haben schon ältere Forscher behauptet, dass die Hydren eine besondere Knospungszone besitzen. Ehrenberg bekämpft die Ansicht früherer Forscher, welche überall Knospen hervorsprossen sahen; er habe zahllose Individuen aller drei be- kannten sicheren Arten beobachtet, aber nie eine andere Knospen- stellung gesehen als an der Basıs des Fußes, das ist am Grunde des Magens; wo er vier Knospen sah, waren sie allemal kreuzartig in einer Ebene; er fand nie mehr als vier Knospen. Auch Lau- rent stimmt im wesentlichen den Anschauungen Ehrenberg’s bei; doch unterscheidet er von den „bourgeons qui se developpent normalement A la base du pied“ zwei Arten von „bourgeons ex- ceptionels“, die das gemeinsame haben, dass sie oberhalb der Knospungszone gebildet werden. Die eine Art seı durch Besonder- heiten in der Ernährung bedingt, durch Ernährung mit sperrigen Insektenlarven, die den Magenraum der: Hydren unregelmäßig aus- dehnen, die zweite durch die Entwickelung der „Hautpusteln“, das sind die Hodenanlagen. Wie Laurent gibt auch Ecker an, dass die Knospen sich vorzugsweise an einer Stelle ziemlich in der Mitte des Körpers entwickeln, da wo der sogenannte Fuß beginnt, nur aus- nahmsweise oberhalb. Von neueren Autoren sprechen sich Marshall und Nussbaum ın gleichem Sinne aus. Marshall beschreibt eine „hintere Tuberkelzone an der Stelle, wo der Stielteil der Polypen ın den Abschnitt des eigentlichen Leibesraums übergeht.“ „Der hintere Tuberkelgürtel werde unter allen Umständen zu einer Fort- pflanzungszone, und zwar je nach der Jahreszeit zu einer neutralen (serminationszone oder zur geschlechtlich weiblichen, Eier produ- zıerenden, während eine vordere dicht unter den Tentakeln liegende Tuberkelzone die Hoden bilde. Die Stellen, an denen sich Knospen gebildet haben, sollen nun dauernde Germinationsherde sein, nur Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusca. 495 an ihnen sollen sich, wenigstens bei den grünen Hydren des Mans- felder Sees, neue Knospen bilden. Nussbaum begnügt sich mit einem kurzen Hinweis auf die leicht zu bestätigenden Erfahrungen Trembley’s und Rösel’s, denen zufolge die Knospen an der Grenze zwischen Magenteil und Fuß bei H. fusca oft in großer Zahl entstehen. Weder die Angabe, dass die Knospen an beliebigen Stellen entstehen, noch dass sie auf eine bestimmte Knospungszone be- schränkt sind, entspricht der Wirklichkeit. Vielmehr wird die Knospung von einer Regelmäßigkeit beherrscht, welche einiger- maßen an die die Blattstellung bestimmenden Regeln der Pflanzen erinnern. Zoja ist zuerst auf die einschlägigen Verhältnisse auf- merksam geworden, hat aber von ihnen eine nur unvollkommen den Tatsachen entsprechende Schilderung gegeben. Nach ıhm sollen die Knospen paarweise in- opponierter Stellung auftreten in der Weise, dass das jedesmal folgende Paar höher steht als das vorher- gehende und zugleich im Vergleich zu ihm um 90 Grad gedreht ist. Zoja erblickt den Grund für diese Anordnung darin, dass die Knospen durch sie die günstigsten Ernährungsbedingungen finden. In seinen nicht gerade sonderlich geglückten Abbildungen zeichnet er zwischen zwei aufeinander folgenden Knospenpaaren bedeutende Abstände, so dass ein ansehnlicher Teil der Magenoberfläche von Knospen eingenommen ist. Mit diesen seinen Zeichnungen und Auseinandersetzungen tritt Zoja in Gegensatz zu den Darstellungen Ehrenberg’s, Ecker’s, Marshall’s u, a.; insofern der italienische Zoologe die Knospen über den Magenteil einer Hydra weit zerstreut zeichnet ist seine Darstellung im Vergleich zu früheren Darstellungen als ein Rückschritt zu bezeichnen. Bei Hydra fusca (dioecia) habe ich durch häufig wiederholte Beobachtung folgenden Rhythmus der Knospung feststellen können. Die Knospen entstehen einzeln, aber in ganz regelmäßigen Abständen voneinander. Ich fand diesen Abstand nie durch einen Winkel von 180° bezeichnet, wie es bei der von Ehrenberg und Z.0ja behaupteten opponierten Stellung der Fall sein müsste. Der Winkel betrug vielmehr wenige Grade über 120. Würde er genau 120° betragen, so müsste die vierte Knospe auf gleichen Meridian mit der ersten zu stehen kommen; anstatt dessen ist sie über diesen Punkt ca. 15° hinausgerückt. Der zweite Punkt, der die Stellung der Knospen regelt, ıst darin gegeben, dass jede nächste Knospe etwas höher steht als die vorhergehende. Die zuerst auftretende Knospe entwickelt sich nahe der Grenze von Stiel und Magen, aber noch ım Bereich des dem Magen angehörigen Areals; da die nächsten beiden Knospen sich von der Grenze noch weiter entfernen, steht die vierte Knospe schon in ansehnlichem Abstand vom Anfang des Stieles. Verbinden wir die Fußpunkte der einzelnen Knospen unter- 494 Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusca. einander durch eine Linie, so nimmt diese die Anordnung einer Spirale an. Sind die Hydren sehr lebenskräftige Tiere und werden sie sehr reichlich gefüttert, so können bis zu acht Knospen gleichzeitig vorhanden sein. Dann ist die Spirale sehr flach gewunden, die Knospen auf einen beschränkten Raum zusammen- gedrängt, so dass man den Eindruck einer engbegrenzten Knosp- ungszone erhält, von der aus ein dichtes Büchel von Knospen entspringt. Bei lange fortgesetzter Kultur nimmt offenbar die Lebensenergie der Tiere ab; daher wachsen die Abstände der Knospen; diese verteilen sieh. mehr über die Oberfläche der Hydra; die ihre Fußpunkte verbindende spirale Linie nimmt einen steileren Verlauf an. Wiederholt habe ich beobachtet, dass, wenn in der besprochenen Weise große Abstände zwischen den Knospen ent- standen waren, m den Zwischenräumen sich neue Knospen bildeten, so dass die Knospungsregion ein ganz unregelmäßiges Bild lieferte. Sie begann am unteren Ende des Magens mit Knospen, die reif zur Ablösung waren, dann kamen ganz junge Knospen- anlagen, dazwischen Knospen mittleren Alters, also schon mit Ten- in ausgerüstete Formen, hoch oben wieder ganz junge Knospen. de Akmerwitäten in der Knospung sind schon früher beobachtet worden; so hat schon Trembley abgebildet, dass Knospen, ehe sie sich ablösen, Tochterknospen erzeugen. Es ist - ein seltenes Vorkommnis, wie daraus hervorgeht, dass ich unter den Tausenden von knospenden Hydren, die ich beobachtet hatte, nur wenige derartige Fälle habe ausfindig machen können, trotzdem ich mein a auf sie richtete. Ein weiteres seltenes Vor- kommnis ist darin gegeben, dass eine Knospe mit der Mutter in innigem Verbande verbleibt, besonders mit dem Stielteil, dass sie Ser den Mutterpolypen zur Seite drängt und mit ihm so gleich- wertig wird. Dann entsteht das Bild der Falun; der Stiel gabelt sich in zwei Teile, an denen man nicht mehr erkennen kann, welches die Mutter und welches die Knospe gewesen ist. Zoja hat ähn- liche gegabelte Hydren beobachtet, sie aber auf Längsteilung fälschlich bezogen. Zoja und andere Forscher haben ferner auch Querteilungen beschrieben: es soll sich eine Hydra quer durchschnüren ın ein vorderes Tentakel tragendes Ende und ein oder mehrere der Ten- takeln entbehrende hintere Stücke. Ich habe solche Querteilungen nie gesehen, vermute auch, dass sie normalerweise nicht vorkommen, ee dur ch Schädlichkeiten herbeigeführt werden, vielleicht sogar durch Verletzungen. Laurent konnte sie künstlich erzielen, indem er Hydren mit einem feinen Haar umschlang, aber so locker! dass ‘dureh die Ligatur keine Einschnürung veranlasst wurde. Wenn ich in meiner Schilderung der Knospenanordnung bei Hydra nicht unerheblich von der Darstellung Zoja’s abweiche, PN Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusea. 495 so stimme ich mit ihm in bezug auf die Erklärung der Anordnung der Knospen überein; ich komme ebenfalls zum Resultat, dass die Anordnung von der Gunst der Ernährung abhängt. Offenbar bietet der Magengrund die günstigsten Ernährungsbedingungen, daher hier die erste Knospe entsteht. Die Abstände der nächsten Knospen haben den Zweck, sie an Stellen zu versetzen, an denen die voran- gegangenen Knospen ihnen keinen Abbruch taten. Daher die Zunahme der Knospendistanz bei behindertem Stoffwechsel. Für die gegebene Deutung spricht außer einigen Beobachtungen, auf die ich erst bei Besprechung der Entwickelung der Geschlechts- organe eingehen kann, noch eine Erscheinung, die trotz ihres auf- fallenden Charakters noch von keinem Beobachter hervorgehoben worden ist: dass nämlich der Ort, an welchem eine Knospe sich entwickelt, allmählich sein Aussehen verändert. Wir haben gesehen, dass der verschiedene histologische Charakter der Magenwand und des Stiels schon in der Färbung zum Ausdruck kommt; das Ento- derm des Stiels ist ganz licht, das Entoderm der Magenwand trübe und bräunlich gefärbt. Die Stelle, an welcher eme Knospe heran- reift, verliert allmählich ihre bräunliche Beschaffenheit und nimmt die lichte Beschaffenheit des Stieles an. Die betreffende Magen- partie wird damit zu einem Teil des Stiels umgewandelt. So kann es kommen, dass wenn die Ablösung einer Knospe sich verlang- samt, der Fußpunkt derselben sich am Stiel befindet, manchmal sogar von der Knospungszone ziemlich weit entfernt. Es ist daher vollkommen unrichtig, wenn Marshall behauptet, dass neue Knospen immer nur an Stellen entstehen, an denen früher schon andere gestanden haben. Im Gegenteil, eine Knospungsstelle wird nie wieder benutzt; vielmehr werden zur weiteren Knospung immer neue Partien des Magens herangezogen. Aus diesen Angaben müsste man folgern, dass bei einem Tiere, welches viele Knospen schon erzeugt hat, der Stiel sich auf Kosten des Magens vergrößert. Bis zu einem gewissen Gradeist es auch in der Tat der Fall; wie mir allgemein orientierende Messungen zeigten, nimmt mit zunehmender Knospungsintensität der Stiel an Länge zu und so entstehen die riesigen Hydren, über die schon frühere Forscher berichtet haben. Genaue Messungen an einem und demselben Tier habe ich noch nicht vorgenommen, werde sie aber ausführen lassen. Selbstverständlich geht die Vergrößerung des Stiles nicht ins Unmbegrenzte vor sich, vielmehr erfährt er eine den Zuwachs all- mählich kompensierende Atrophie. Wie dieselbe sich vollzieht, kann ich nicht sagen; dass sie aber vorkommt, zeigen in unzwei- deutigerweise die Erscheinungen bei der Bildung der Geschlechts- produkte, auf die ich nunmehr eingehe. Ich beginne mit der Bildung der Eier, weil dieselbe ın vieler Hinsicht an die Bildung der Knospen erinnert. Die Eier entstehen, 496 Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusca. wie von allen Forschern übereinstimmend angegeben wird, ent- weder ausschließlich oder doch vorwiegend in der Knospungs- zone. Doch kommt es auch vor, dass Eier weit hoch oben in geringer Distanz von den Tentakeln entstehen. Dies ist der Fall, wenn rasch aufeinander zahlreiche Eier gebildet werden, was vor- nehmlich bei rein weiblichen Individuen beobachtet wird, bei denen Brauer gleichzeitig bis zu 10 an demselben Tier zählte. Ehren- berg gibt an und Marshall stimmt ihm bei, dass die Eier nach demselben Prinzip entständen wie die Knospen, paarweis einander opponiert, bei Anwesenheit von vier Biern somit ın gekreuzter Stellung. Die Ähnlichkeit der Ei- und Knospenbildung ist in der Tat überraschend. Wenn Hydren aus dem Stadium der Knospung zur geschlechtlichen Fortpflanzung übergehen, entsteht das erste Ei an der Stelle, an. welcher sofern die Knospung weiter gegangen wäre, die nächste Knospe sich gebildet haben würde; das Ei liegt etwas höher als die letzte Knospe, aber nicht oberhalb derselben wie Ecker angibt, sondern ihr nahezu gegenüber. Das zweite Eı wiederum liegt etwas höher als das erste, und zwar ungefähr um einen Winkel von 180° von ihm getrennt, nicht wie bei den Knospen um einen kleineren Winkel. Doch möchte ich mich hierüber nicht in ganz bestimmter Weise aussprechen, da die Hydren, welche ich untersuchte, offenbar infolge ungenügender Ernährung nur sehr wenige Eier produzierten, gleichzeitig höchstens zwei. Ich kann es daher nicht bestimmt in Abrede stellen, dass bei reicher Ernährung die Abstände genau wie bei den Knospen bemessen sein würden. Ich halte es aber nicht für wahrscheinlich. Bekanntlich lagern die ın Entwickelung begriffenen Eier wie riesige Amoeben im Entoderm. Die lappigen Fortsätze zweier in der Entwickelung aufeinander folgenden Eier sind beiderseits einander fast bis zur Berührung genähert, so dass wohl kaum ein drittes Ei dazwischen Platz finden würde. In zwei Fällen habe ich beobachtet, dass nach der Eı- produktion die Hydra wieder zur Knospung zurückkehrte. Dann lag die neue Knospe höher als das letzte Hı, in der entgegen- gesetzten Hälfte der Hydra, also da wo das nächste Ei zu erwarten gewesen wäre. Knospen und Eier würden somit eine fortlaufende Reihe von Fortpflanzungskörpern darstellen, welche mit Knospen beginnt, zu Eiern übergeht und wieder zu Knospen zurückkehrt. Man könnte daraus, wie es auch geschehen ist, auf eine Homologie von Eiern und Knospen einen Rückschluss machen. Ich halte eine derartige Auffassung für vollkommen verfehlt. Die Eier für Ge- bilde zu halten, die den Knospen homolog sind, würde darauf hinauslaufen, anzunehmen, dass sie ursprünglich an Knospen also an sporosarcartigen Auswüchsen entstanden seien und dass ihr Ent- stehungsrythmus somit auf dem Umweg früher durchlaufener phylogenetischer Zustände zu erklären sei. Nach meiner Ansicht Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusea. 497 lässt der oben geschilderte Entstehungsrhythmus nur eine direkte physiologische Erklärung zu; er ist die unmittelbare Folge ähnlicher Ernährungsbedingungen, wie sie für die Lokalisation bei der Bil- dung der Knospen maßgebend sind. Die Entwickelung eines Eies erfordert ungefähr gleiche Intensität der Ernährung wie die Ent- wiekelung einer Knospe; daher entsteht das Eı möglichst tief am Magen, resp. in bestimmtem Abstand von einer vorhandenen Knospe oder einem vorhandenen Ei. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Eibildung ganz erheblich von der Bildung der Hodenbläschen, von denen jedes einzelne unter allen Umständen kleiner ist als eine Ovarialanlage oder eine Knospenanlage, in seiner Größe außer- dem bis zu geringfügigen Dimensionen abgestuft werden kann und daher nicht in gleichem Maß lokalısierte intensive Ernährung verlangt. Die Bildung der Hodenbläschen kann, wie alle früheren Autoren, welche sich mit dem Gegenstand beschäftigt haben, ein- mütig berichten, bei rein männlichen Individuen in der ganzen Aus- dehnung des Magenraumes erfolgen; doch ist das obere Drittel des Magens bevorzugt. Hier beginnt die keimbereitende Region in größerer oder geringerer Entfernung vom Tentakelkranz; sofern nur wenige Hodenbläschen entwickelt werden, findet man sie daher hoch oben am Magen. Sind Hoden und Eier gleichzeitig vor- handen, so besteht die Tendenz im oberen Abschnitt des Magens Hoden, ım unteren Eier auszubilden. Doch dringen sehr häufig die Hodenbläschen nach abwärts zwischen die Ovarialanlagen vor. Ähn- liches trıtt bei Hydren ein, welche in Knospung begriffen sind und nun zur Hodenentwickelung übergehen. Liegen günstige Ernährungs- verhältnisse vor, so werden die Hodenbläschen so reichlich er- zeugt, dass sie bis in die Knospungszone, zwischen die Basen der Knospen vordringen. Kommt es doch vor, dass eine Hydra von den Tentakeln bis zum Anfang des Stiels mit 50--60 Hoden- bläschen so dicht bedeckt ist, dass diese fast zusammenfließen und das Ektoderm zu einer dicken, gelblich weißen, schwach höckerigen Masse angeschwollen ist. Die folgenden Angaben über die Bedingungen, unter denen die männlichen Geschlechtsorgane entstehen, stützen sich hauptsächlich auf die umfassenden Untersuchungen, welche im verflossenen Winter von Herrn Apotheker Krapfenbauer unter meiner Leitung an einem nach vielen Tausenden von Individuen zählenden Material von H. fusca (H. dioecia Downing) angestellt worden sind und noch jetzt von ihm fortgesetzt werden. Das gesamte Material stammte, wie schon erwähnt wurde, von sechs Hydren ab, die im November im Freien eingefangen waren, um das für den zoologischen Kurs nötige Material zu liefern. Die ganz erstaunliche Vermehrung der Tiere war einer sehr rationellen und reichlichen Fütterung mit Daphniden zu verdanken. Die XXVI. 32 498 Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusea. Hauptkultur wurde in vielen Gläsern im Zimmer geführt bei einer Temperatur, die zwischen 14° C. (Nachts) und 18° C. (Tags, wenn die Zentralheizung in Gang gesetzt war) schwankte. Wiederholt wurden Kulturen abgezweigt, Hungerkulturen bei Zimmertemperatur, Hunger- und Futterkulturen bei Wärme (22°, später 25°) und Hunger- und Futterkulturen bei Kälte (8—10°, selten weniger oder mehr). Geschlechtsentwickelung trat nur bei den Kältekulturen ein, und zwar sowohl bei den Futter- wie Hungerkulturen; ferner bildeten sich ausschließlich männliche Tiere aus. Der Unterschied zwischen den hungernden und den mit Futter versorgten Kälte- kulturen beschränkte sich auf den Grad der Hodenbildung. Bei einem nicht geringen Teil der gefütterten Hydren war die Hoden- entwickelung so stürmisch und ging mit so schweren Schädigungen des Gesamtorganismus einher, dass die Tiere abstarben, ehe die völlige Ausreife der Geschlechtsprodukte erreicht war. Bei den meisten in die Geschlechtstätigkeit eintretenden Tieren war der Körper zwar auch enorm mit Geschlechtsprodukten überladen, aber dieselben gelangten zur Ausreife, und die Tiere blieben am Leben. Bei den Tieren der Hungerkultur hielt sich die Hodenproduktion stets in normalen Grenzen, so dass die Hodenbläschen voneinander durch einen Zwischenraum getrennt blieben. Oder es waren überhaupt nur wenige Hodenbläschen vorhanden, in zwei Fällen z. B. jedesmal nur zwei. Geringe Zahlen der Hodenbläschen waren für Tiere charakteristisch, beı denen die Geschlechtsreife erst spät nach dem Übertragen in Kälte und Hunger eingetreten war, bei denen offenbar das aus der vorhergegangenen Futter periode: stammende Reservematerial an Nahrung ziemlich aufgebracht war, so dass die zum Hodenwachstum nötigen Stoffe fehlten. Sehr häufig, namentlich ın den Futterkulturen ließ sich fest- stellen, dass Hydren, welche in lebhafter Knospung begriffen waren, zur Entwickelung von Hoden übergingen. In keinem einzigen Fall trat dann die Eee elle: an lan Knospen ein, stets nur an dem Muttertier. Es ist daher ganz unverständlich, wie Downing zu der Behauptung hat kommen können, „dass soweit er habe beobachten können, die Sexualorgane an den Knospen, nicht an dem Muttertier entstanden, wenn sie an einem knospenden Tiere zur Entwickelung gelangten.“ Diese Behauptung steht auch mit den Angaben Fa er Forscher in Widerspruch. So hebt Ecker es als eine Ausnahme hervor, dass er einmal „eine noch als Knospe an der Mutter sitzende junge Hydra schon mit zwei Samenkapseln versehen gefunden habe.“ Werden Hydren, welche geschlechtsreif geworden waren, fort- gefüttert, oder wenn es sich um Hungerkulturen handelte, neu mit Nahrung versehen, so beginnt, nachdem die Hodenbläschen heran- gereift sind, die Knospung abermals zu erwachen. Die Knospen Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusea. 499 bilden sich am lebhaftesten, wenn man das Versuchsmaterial wieder in die Temperatur eines mäßig geheizten Zimmers zurückversetzt; sie bleiben aber auch bei fortgesetzter Kältekultur nicht aus. Es bilden sich dann die „bourgeons exceptionels de la deuxieme sorte* Laurent’s. Laurent schreibt diesen Knospen eine unregelmäßige Anordnung zu und lässt sie ım Gegensatz zu Trembley, der den Ort der Entstehung zwischen die Hodenfollikel verlegte, aus diesen hervorgehen, indem er behauptete, dass die braune Innenschicht (das Entoderm der modernen Zoologie) in die Hodenbläschen hinein- wüchse. Laurent deutete die Hodenbläschen damals noch als einen Ausschlag, dessen Reiz die Knospung auslöse. Beide Angaben Laurent’s, sowohl die bezüglich der irregulären Anordnung der Knospen als auch die bezüglich ıhrer Entstehung aus Hodenbläschen, sind falsch. Die Knospen bilden sich zwischen den Hodenbläschen, und zwar in derselben Aufeinanderfolge, wie die Knospen in der normalen Knospungszone. Man gewinnt eine richtige Vorstellung von ıhrer Anordnung, wenn man annımmt eine Knospungszone sei von der gewöhnlichen Gegend ihrer Ent- stehung oralwärts verschoben, so dass sie anstatt am unteren Ende des Magens auf halber Höhe desselben gelegen ist. Unterhalb dieser dominierenden Knospenzone kann sich noch eine zweite entwickeln, welche schon mehr ın die Gegend der normalen Knospung fällt’ Immerhin liegt auch die zweite Knospungszone oberhalb des unteren Randes der Hodenentwickelung. Letzterer verschiebt sich übrigens in ähnlicher Weise, wie ich es oben für den unteren Rand der Knospungszone auseinandergesetzt habe, indem eine Ent- leerung, vielleicht auch Rückbildung der Hodenbläschen eintritt und gleichzeitig ursprüngliches Magengewebe in Stielgewebe umgewandelt wird. Dabei wird unzweifelhaft Stielgewebe rückgebildet, wıe ja auch im Verlauf der Knospung die Verlängerung des Stiels an seinem oberen Ende durch teilweise Resorption kompensiert wird. Aus der verschiedenen Art, in der die drei hervorgehobenen Vor- gänge: Rückbildung der Hodenbläschen, Umwandlung von Magen- gewebe in Stielgewebe, Reduktion des letzteren, ineinander greifen, erklären sich einige auffallende Erscheinungen: 1. dass gelegentlich bei Hydren, die den Höhepunkt der Geschlechtsreife passiert haben, Reste von Hodenbläschen getrennt von der Hauptmasse des Hodens isoliert ım Ektoderm des Stiels liegen, während doch Hoden- anlagen nıemals am Stiel gebildet werden, ebensowenig als es für Knospen beobachtet wird; 2. dass männliche Hydren vorkommen, bei denen die Hodenfollikel und die eigentümliche bräunliche Färbung des Magens nahe der Befestigungsstelle beginnt, so dass ein Stiel fehlt oder nahezu fehlt. Ich begnüge mich mit diesen kurzen Bemerkungen über die geschlechtliche Differenzierung der Hydren und die durch sie be- 32% 500 Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusca. dingte Abänderung des Knospungsprozesses, da Herr Krapfen- bauer die einschlägigen Beobachtungen und Experimente genauer schildern wird; ich gehe nur noch auf einige Literaturangaben ein und schließe einige theoretische Betrachtungen an. Was die experimentelle Beeinflussung der Geschlechtsentwicke- lung der Hydren anlangt, so hat Nussbaum vor längerer Zeit auseinandergesetzt, dass die Geschlechtsbestimmung durch äußere Einflüsse bewirkt werde, und zwar durch verschiedene Ernährung. Während reiche Fütterung die Bildung von Eiern veranlasse, werde die Hodenproduktion durch schlechtere Ernährung herbeigeführt. Mir ist diese Behauptung immer höchst unwahrscheinlich vor- gekommen, obwohl sie von Nussbaum, wie Oskar Schultze erst kürzlich auf Grund brieflicher Erkundigungen mitteilen konnte, auch ın neuesten Zeit aufrecht erhalten wird; sie war mir unwahrscheinlich, weil mit ıhr unvereinbar ıst, dass Hydren so häufig, ja man kann sagen, nm der Regel hermaphrodit snd. Auch ıst es ja bekannt, dass gute Fütterung Veranlassung der Vermehrung durch Knospen ist. Für die sexuelle Differenzierung der Hydren müssen nach meiner Ansicht viel kompliziertere Verhältnisse maßgebend sein, Verhältnisse, an denen die wechselnden Organisationszustände der Tiere einen großen Anteil haben. In meinen Zweifeln an der Richtigkeit der Nussbaum’schen Ansichten wurde ich durch die orientierenden Versuche im Winter 1904/05 bestärkt, welche er- gaben, dass je nach der Zucht sowohl hungernde wie futternde Hydren, sei es Eier, sei es Hoden produzierten. Bezüglich der Hodenbildung haben die Untersuchungen des Herrn Krapfen- bauer jeden Zweifel beseitigt. Von emem vollkommen gleich- artigen Hydrenmaterial erzeugte der ım Zimmer gehaltene Teil, mochte er weiter gefüttert werden oder bis zur Inanition hungern, weder Eier noch Hoden; der Teil welcher in kühle Temperatur ver- setzt wurde es genügte eine Differenz von 8° ©. — lieferte einen großen Prozentsatz männlicher Tiere. Alle Versuche gelangen mit einer so großen Sicherheit, dass es ganz unverständlich ist, wie Downing, welcher ebenfalls mit Erniedrigung der Temperaturen experimentierte, trotz der großen Zahl von 50 mannigfach varierten Experimenten nur Fehlerfolge erzielte. Leider macht Dow- ning nur sehr fragmentarische Angaben; es lässt sich daher nicht entnehmen, ob er vielleicht mit der Temperatur nicht genügend heruntergegangen war. Es wäre auch denkbar und müsste an frisch aus den Schalen ausgekrochenen Tieren methodisch geprüft werden, dass Hydren erst durch fortgesetzte Kultur eine gewisse „Reife“ erreicht haben müssen, ehe das Kälteexperiment zu positiven Resultaten führt. Aus den Krapfenbauer’schen Zuchten können wir mit Sicher- heit den Schluss ziehen, dass die viele Wochen in Futterkultur Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusca. 501 gehaltenen Tiere, welche beim Übertragen in die Kälte geschlechts- reif wurden, beim Verbleiben im Zimmer keine Hoden entwickelt haben würden; wir können ferner behaupten, dass Hunger oder Futter auf Geschlechtsbildung nur insoweit einwirkt, als das eine Mal wenig, das andere Mal viel Hodenmaterial erzeugt wird. Wer einmal gesehen hat, welch riesiges Zellmaterial selbst bei schwacher Hodenproduktion im Ektoderm einer Hydra zur Ausbildung gelangt, dem wird ohne weiteres klar, dass auch bei hungernden Tieren die Bildung von Hoden nur dann möglich ist, wenn durch voran- gegangene reiche Ernährung in den Geweben noch viel Nahrungs- reserve aufgestapelt ist, welche zur Verwendung gelangen kann. Wenn der zur Hodenentwickelung nötige Zustand der Hydra erst nach längerer Dauer von Kälte und Hunger erreicht wird, dann kommt es zur Bildung weniger ganz rudimentärer Hodenanschwellungen, eben von Anschwellungen von einer Größe, wie es der reduzierte Zustand der Nahrungsreserve gestattet. Andererseits verhindert reicher Nahrungszufluss nicht die Hodenbildung, sondern steigert sie zu exzessiver Höhe. Was darüber entscheidet, ob vorhandenes Nahrungsmaterial zu Knospen, Eiern oder Hoden verwandt wird, hängt somit ausschließlich von der Art, im welcher die Nahrung an die Körperzellen verteilt wird, ab. Bei der primitiven Organi- sation einer Hydra, welcher, wenn wir von der differenten Be- schaffenheit von Stiel, Magen und Tentakeln absehen, besondere, verschiedenartige Verteilung der Nahrung ermöglichende Eın- richtungen fehlen, kann die Verteilung der Nahrung nur aus dem Aufnahmebedürfnis und der Aufnahmefähigkeit der einzelnen den Körper zusammensetzenden Zellarten erklärt werden. Wir können uns über diesen für das Sexualitätsproblem nicht unwichtigen Punkt eine präzisere Vorstellung bilden, wenn wir von den oben hervorgehobenen Gesichtspunkten aus die Vorgänge ana- lysieren, welche einerseits der Knospung, andererseits der Geschlechts- bildung zugrunde liegen, und wenn wir diese Vorgänge von ana- logen besser bekannten Vorgängen des Zellenlebens aus zu ver- stehen suchen. Zur Knospung ist nötig, dass die Zellen einer bestimmten Körperstelle in ihrer Gesamtheit die Fähigkeit der Ernährung, des Wachstums und der Teilung, besitzen. Es müssen sich die Zellen des Entoderms und die Epithelzellen und interstitiellen Zellen des Ektoderms teilen können. Anders liegen die Verhältnisse bei der Bildung von Hoden und Ovarien. Hier unterbleibt die Vermehrung der der Nährquelle benachbarten Entodermzellen, dagegen geraten die interstitiellen Zellen des Ektoderms in Wucherung. Aus diesen Betrach- tungen ergibt sich als notwendige Vorbedingung für die Geschlechts- entwickelung, dass trotz vorhandenen Nährmaterials die epithelialen Elemente des Entoderms und Ektoderms ihre Fähigkeit zu wachsen 502 Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusea. und sich zu teilen verloren haben müssen, während die interstitiellen Zellen diese Fähigkeiten noch besitzen. Wir kennen nun in der Natur Fälle, in denen die Zell- ıermehrung darniederliegt, auch wenn die Vorbedingung zur Ernährung, das nötige Nährmaterial gegeben ist. Das sind die Depressionszustände der Protozoen, Zustände bei denen die zur Teilung’ nötige Wechselwirkung von Kern und Protoplasma nicht vorhanden ist, weil das Größenverhältnis beider zueinander, das was ich „Kernplasmarelation“ genannt habe, in ungünstiger Weise ver- schoben ist. Solche Depressionszustände werden durch langdauernde Futterkultur herbeigeführt; ihr Eintreten wird ferner durch Er- niedrigung der Temperatur begünstigt. Ich erkläre mir somit die zur Geschlechtsbildung nötige Verschiebung der Ernährungs- bedingungen aus einer verschiedenen Kernplasmarelation der ento- dermalen und ektodermalen Epithelzellen einerseits und der inter- stitiellen Zellen andererseits. Während jene bis sie sich den veränderten Bedingungen akkomodiert haben, durch die kombinierte Wirkung lang fortgesetzter Kultur und dazu hinzutretender Tempe- raturabnahme in Depression versetzt werden, werden diese zu ge- steigerter Tätigkeit veranlasst, weil ihnen nun alles Nährmaterial allein zur Verfügung steht. Die Menge des vorhandenen Nährmaterials entscheidet dann, ob viele Hodenfollikel gebildet werden oder nicht. In den von Herrn Krapfenbauer geführten Kulturen ist es immer nur zur Entwickelung von Hoden gekommen, niemals von Eiern. Es fragt sich nun, sind die Ursachen zu diesem einseitigen Erfolg der Versuche in der Beschaffenheit des Materials oder in der Art des Experimentierens gegeben? Diese Frage kann nur durch fortgesetzte Untersuchungen entschieden werden, vor allem durch Untersuchung von neu aus der Natur bezogenem Material. Es wäre denkbar, dass die wenigen Individuen, von denen das zu den Experimenten verwandte Material abstammte, sich in einem Zustand befand, welcher nur noch die Entwickelung nach der männ- lichen Richtung erlaubte, sei es, dass es sich in der Tat um Re- präsentanten einer geschlechtlich differenzierten Art im Sinne Dow- ning’s, einer A. dioecia, handelte, sei es, dass schon vor Beginn der Zimmerkultur im Freien geschlechtsbestimmende Einflüsse ein- gewirkt hatten, was gerade nicht sehr wahrscheinlich ist. Was die zweite oben erörterte Möglichkeit, die Art des Experimentierens, an- langt, so wäre denkbar, dass die Experimente über Geschlechts- bestimmung zu spät begonnen wurden und erst zu einer Zeit ein- setzten, in welcher die Erzeugung von Eiern durch die voraus- gegangene Kultur unmöglich gemacht worden war, oder dass der richtige Weg des Experimentierens von uns nicht gefunden wurde. Wir dürfen ja nicht verkennen, dass Eier und Hoden sich nicht unerheblich verschieden verhalten, sowohl rücksichtlich des Orts Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusca. 503 der Entstehung und der damit gegebenen Ernährungsbedingungen als auch rücksichtlich ihres histogenetischen Charakters. Wenn es auch möglich ist, dass ein und dieselbe Region der ektodermalen Magenwand sowohl Hoden als Eier liefert, so geschieht das doch auch bei hermaphroditen Tieren nur bei sehr reichlicher Ausbildung der Geschlechtszellen. Im allgemeinen besteht der Unterschied, dass am oberen Magenende die Ernährungsbedingungen günstiger für Hoden sind, am unteren Ende günstiger für Bier. Es muss also eine durch lokale Verhältnisse bedingte verschiedene Regulierung der Ernährung vorliegen, die trotz einer bestimmten Beschaffenheit des Gesamtorganismus verschiedene Erfolge zeitigt. Die Unterschiede in der Histogenese sind sehr frühzeitig zu erkennen. Nach meinen mit den Angaben Downing’s überein- stimmenden Erfahrungen entsteht das Hodengewebe direkt durch Wucherung der interstitiellen Zellen. Im Ovar liegen die Ver- hältnisse anders. Hier wachsen die durch Wucherung vermehrten interstitiellen Zellen zu einer Größe heran, wie sie bei der Bildung von Hodengewebe nicht erreicht wird. Von diesen vergrößerten Zellen wächst dann eine zum Ei heran, während die anderen in ähnlicher Weise, wie es neuerdings v. Malsen für Dinophilus apatris gezeigt hat, als Nährzellen absorbiert werden. Man könnte aus diesen an die Stelle von Zellteilung tretenden Zellvergrößerungen und aus den anschließenden degenerativen Vorgängen des größten Teils der Eikeime schließen, dass die zur Eiproduktion verwandten Zellen zur- zeit der Geschlechtsbestimmung schon eine zu Depressionszuständen überleitende Veränderung erfahren haben müssen. Hierin würde man Anklänge an die die Knospung verhindernden Zellveränderungen zu erblicken haben, wozu man um so eher Veranlassung hat, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Ei- und Knospenbildung etwas Analoges besitzen, sowohl was den Ort ihrer Entstehung als das Prinzip ihrer Verteilung über die Körperoberfläche anlangt, während in beiderlei Hinsicht die Genese der Hodenbläschen sich ganz anders verhält. Ich habe im vorhergehenden Nutzanwendung von meinen an Protozoen gemachten Erfahrungen auf die vielzellige Organisation einer Hydra gemacht; ich möchte die Berechtigung dieses Ver- fahrens durch einige weitere Beobachtungen über die Lebensprozesse von Hydra erweisen. Die Fragestellungen, welche mir eine intensive Untersuchung des Süßwasserpolypen wünschenswert erscheinen ließen, beziehen sich nicht auf das Sexualitätsproblem allein, sondern auch auf die Veränderungen, welche das Zellenleben erfährt, wenn die einzellige Organisation der Protozoen durch Vielzelligkeit ersetzt wird. In einer in der Festschrift für E. Haeckel erschienenen Abhandlung betitelt: Uber physiologische Degeneration von Aktino- 504 Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusea. sphärium Eichhorni“ bin ich auf die großen Unterschiede im Zellenleben, welche zwischen einzelligen und vielzelligen Organis- men bestehen, zu sprechen gekommen und habe um diese Unter- schiede klar zum Ausdruck zu bringen, die Bezeichnungen „eytotypisches* und „organotypisches“ Zellenwachstum eingeführt. Unter eytotypischem Wachstum verstehe ich ein Zellen- wachstum, für dessen Ablauf nur die Lebensbedingungen der einzelnen Zelle maßgebend sind, welches zwar durch äußere Ein- flüsse, Einflüsse chemischer, thermischer, mechanischer Natur modifi- zıert werden kann, welches der Hauptsache nach aber aus den Wechselwirkungen der Zellbestandteile, von Kern und Protoplasma, resultiert. Das Wesen des organotypischen Wachstums dagegen erblicke ich darin, dass die Zelle in ihren Lebenserscheinungen einer höheren Einheit, dem aus vielen Zellen bestehenden Organ oder gar dem aus vielen Organen aufgebauten Organismus, unter- geordnet ist, dass sie nicht mehr wächst und sich vermehrt, wie es der Zelle als solcher konform sein würde, sondern wie es die Bedürfnisse des Zellenstaats erfordern. Einzellige Organismen — bis zu einem gewissen Grade auch die Lymphoeyten der mit Blut und Lymphe versehenen Tiere sowie die Embryonalzellen — besitzen das ceytotypische Wachstum; sie ernähren und vermehren sich, solange als ıhnen Nahrung zur Verfügung steht, und solange das für die Lebensfunktionen nötige Normalverhältnis von Kern und Protoplasma gewahrt ist und beide Teile lebenskräftig sind. Ein Stillstand der Vermehrung tritt nur ein, wenn Störungen im Haushalt der Zelle, die der Reparation bedürfen, eingetreten sind. Es sind dies die von Öalkins und mir beschriebenen Depressionszustände der Protozoen, Zustände, in denen die Zelle ıhr Assimilationsvermögen und damit die Vor- bedingungen für Wachstum und Vermehrung verloren hat, die durch übermäßiges Anwachsen der Kernmasse charakterisiert sind und nur dadurch überwunden werden können, dass die Zelle eine Reorganisation erfährt, sei es durch Kernverkleinerung, sei es durch Befruchtung, sei es durch die ebenfalls durch teilweise Kern- resorption zur Reorganisation führende Encystierung. Uharakteristische Beispiele für organotypisches Wachstum sind die Zellen ausgewachsener höherer Tiere. Wenn ein Organis- mus nicht mehr wächst, auch wenn man ihm noch so günstige Nahrungsbedingungen bietet, so beruht dieser Stillstand auf dem Unvermögen der Zellen, sich zu vermehren. Nur an Stellen, an denen bei den Lebensfunktionen des Organismus Zellen zugrunde gehen, wie z. B. in der Epidermis, treten Regenerationsvorgänge auf, welche ja im wesentlichen auf einer Erneuerung der Fähigkeiten der Zellen zu eytotypischem Wachstum beruhen. Zwischen Organismen mit rein cytotypischem und solchen mit n Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusea. 05 rein organotypischem Wachstum gibt es alle Übergänge. Jedes höher organisierte Tier durchläuft diese Übergänge, indem die Embryonalzellen bei zunehmender histologischer Differenzierung immer mehr von ihrer zunächst unbeschränkten Teilfähigkeit ein- büßen. Desgleichen gibt es zwischen eytotypischem ui organo- typischem Wachstum vergleichend anatomische Übergänge; die- selben sind durch Tiere Boselen, bei denen es zu keiner völligen Einschränkung der Zellteilung kommt, weil entweder die Tiere kein begrenztes Körperwachstum haben, oder weil sie die Fähigkeit zu ungeschlechtlicher Fortpflanzung besitzen, bei welcher der Über- schuss an Nahrung zur Bildung von Knospen verwandt wird. Endlich kommt ja auch bei höher organisierten, ausgewachsenen Tieren Rückkehr zum cytotypischem Wachstum und nach einiger Zeit Wiederherstellung des organotypischen Wachstums, also Um- formung des einen Wachstums in das andere, vor, wenn‘ durch Reizung, Entzündung oder Defekte regenerative Prozesse ausgelöst werden. Auch die Neubildungen, die gut- und bösartigen Ge- schwülste, beruhen, wie ich in der oben zitierten Schrift auseinander- setzte, auf einer mehr oder minder ausgeprägten Rückkehr der Zellen vom organotypischen Wachstum zum cytotypischen. Indem ich auf die Besprechung der letzterwähnten Vorgänge einging, habe ich versucht nachzuweisen, dass viele Erscheinungen der Geschwülste aus dem Wesen des ceytotypischen Wachstums heraus sich erklären lassen; die merkwürdige Mischung von degenerativen Erscheinungen und unbegrenzten Wucherungsprozessen erinnert an die mit Depressionszuständen alternierenden rapiden Vermehrungen der Protozoen. Unter diesen Verhältnissen hielt ich es für wünschenswert nachzuforschen, inwieweit sich auch bei niederen Metazoen, d. h. solchen Formen, die ein scheinbar unbegrenztes Wachstum ın der ungeschlechtlichen Fortpflanzung besitzen, Anklänge an die Lebens- erscheinungen von Protozoen nachweisen lassen. Hierin war für mich eine weitere Veranlassung gegeben, die Vermehrung von Süßwasserpolypen, Naideen etc., teils selbst zu untersuchen, teils untersuchen zu lassen. Bei Hydra gibt es nun in der Tat ein Gegenstück zu den Depressionszuständen der Protozoen. Ich habe oben schon ver- sucht, das Aufhören der Knospung und den Übergang zur ge- schlechtlichen Fortpflanzung auf partielle Depressionszustände der Körperzellen zurückzuführen. Ich möchte hier noch auf Erscheinungen eingehen, welche die Merkmale typischer Depression noch viel aus- geprägter und ganz unzweifelhaft erkennen lassen. Im Winter 1904/05 kultivierte ich Süßwasserpolypen (MH. fusca), welche schon eine lebhafte Vermehrungsperiode hinter sich hatten, bei reichlichem Futter. Zunächst gedieh die Kultur vorzüglich. 506 Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusea. Bald aber trat ein Zustand ein, auf dem. die Tiere vollkommen unfähig waren sich zu ernähren; sie schrumpften zusammen, wurden intensiv braun, hatten ein stark verdicktes Ektoderm, an den Enden knotig aufgetriebene Tentakeln. Letztere wurden allmählich eingezogen, schließlich gingen die Tiere ganz zugrunde. Soweit meine Untersuchungen reichen, sind die Kerne der ın „Depression“ befindlichen Tiere enorm chromatinreich und vergrößert. ' Die Zellen zeigen eine Tendenz zur Verschmelzung. In einem Falle waren alle Entodermzellen zu einer einzigen syneytialen Masse zu- sammengeflossen. Da auch das Gastrallumen zum größten Teil geschwunden war, resultierte ein Bild, welches außerordentlich an den Darm acoeler Turbellarien erinnerte, bei denen ja auch das Entoderm ein einziges riesiges Syneytium ist, welches die Nahrungsballen ganz nach Art eines Plasmodiums umschließt. Man muss ja vorsichtig sein, offenkundig pathologische Zustände mit normalen Vorkommnissen zu vergleichen. Immerhin legt der Befund die Vermutung nahe, dass bei acoelen Turbellarien ein für Hydra abnormer Zustand zum normalen geworden ist, was es sehr unwahrscheinlich macht, dass die „Acoelie* der Turbellarien als ein primitiver Zustand angesehen werden kann. Die hochgradigen Veränderungen der Hydren, welche ich soeben als Konsequenz einer forzierten Kultur geschildert habe, sind wohl schwerlich durch geeignete Kultur rückgängig zu machen, was ja bei Protozoen in Depression, wenn auch nicht bei allen Individuen, so doch bei einem Teil gelingt. Depressionen geringeren Grades können dagegen, wie Herr Krapfenbauer zeigen wird, rückgängig gemacht werden. Jedenfalls ist jetzt schon eine gewisse Analogie zu den Depressionszuständen der Protozoen nicht zu verkennen. Und noch nach einer .anderen Richtung ist die Analogie durch- führbar. Ich habe gezeigt, dass in der Zeit, in welcher Depressions- zustände sich vorbereiten, die Neigung zu Befruchtungsvorgängen bei Protozoen gesteigert ist. Ein Zusammentreffen von geschlecht- licher Fortpflanzung und Neigung zu Depression ist auch bei Hydra unverkennbar. Frühere Forscher haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Entwickelung der Geschlechtsorgane die Hydren konsumiere, so dass sie nach dem Verlauf der Geschlechtstätigkeit absterben. Wir müssen bei der Beurteilung dieses Satzes die Vorkommnisse, auf die er sich stützt, und die Deutung, welche diesen Vorkommnissen gegeben werden, auseinanderhalten. Es ist richtig, dass Hydren nach der geschlechtlichen Fortpflanzung oft zugrunde gehen. In diesem Herbst wurden zu Kurszwecken zahlreiche Hydren (H. grisea) kulti- viert; dieselben entwickelten einen hermophroditen Geschlechts- apparat und schwanden dann in kurzer Zeit hin, trotz aller Versuche, sie durch Fütterung zur Vermehrung zu bringen. Ich habe ferner weibliche Hydren, welche ihre Eier abgelegt hatten, vor 1!/, Jahren Hertwig, Über Knospung und Geschlechtsentwickelung von Hydra fusca. 507 zu züchten versucht; ich konnte sie auch einige Wochen am Leben erhalten, aber ich konnte sie nicht wieder zur Knospung bringen; schließlich starb die Kultur aus. Da ich jedoch in wenigen Fällen weibliche Hydren (cfr. oben S. 20) Knosper produzieren sah, da ferner männliche Hydren mit „exzeptionellen Knospen“ (vgl. S. 13) schon oft beobachtet worden sind, bedürfen die einschlägigen Ver- hältnisse genauerer Untersuchung. Dieselbe wird aber an dem — wie mir scheint, jetzt schon gesicherten — Resultat nichts ändern, dass in die Zeit der Geschlechtstätigkeit eine große Sterblichkeit fällt. Dagegen halte ich die Deutung, dass erstere die letztere verursacht, für falsch; ich bin vielmehr der Ansicht, dass beide durch eine gemeinsame Ursache bedingt sind. Und diese Ursache erblicke ich in einer Depression des Organismus. Dieselbe Ver- änderung im Gleichmaß der Organisation, welche die Bildung der Geschlechtsorgane begünstigt, ist auch Ursache, dass die Hydren eine Tendenz zeigen abzusterben. Fortgesetzte Kulturen werden zu entscheiden haben, weichen Anteil an diesen die Geschlechtsbildung begünstigenden Depressions- zuständen lang fortgesetzte Kultur oder äußere Temperatureinflüsse oder Nahrungsentziehung haben. Wahrscheinlich wird sich dabeı herausstellen, dass allen diesen Faktoren ein gewisser Einfluss zu- kommt, wenn auch vielleicht dem einen oder anderen nur ein un- bedeutender, wie es nach den mitgeteilten Untersuchungen bezüglich des Hungereinflusses auf die Ausbildung von Hoden offenbar ' zutrifft. Wahrscheinlich wird sich für die Entscheidung, ob eine hermaphrodite, eine rein weibliche oder eine rein männliche Ge- schlechtsbestimmung eintreten wird, das Zusammenwirken ver- schiedener Faktoren als notwendig herausstellen. Die verschiedene Abstufung der Intensität, in welcher die genannten Faktoren wirken, wird voraussichtlich entscheiden, welche Form der Sexualität dabei gewählt wird. G. Asper, Über die Hydra der Limmat. Vierteljahrschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, 24. Jahrg., 1. Heft. 1879. — , Beiträge zur Kenntnis der Tiefseefauna der Schweizer Seen. Zool. Anz., III. Jahrg., S. 200. 1880. Calkins, Gary, Studies on the Life history of Protozoa I, The life cycle of Para- maecium caudatum. Archiv f. Entwickl. mech. Bd. 15. 1902. IV. Death of the A series of Paramaecium. Journ. of Exper. Zool. Bd. I. 1904. E. R. Downing, The spermatogenesis of Hydra. Zool. Jahrb., Abteil. für Ontog. u. Anat. der Tiere. Bd. 21, S.' 379—-426 mit 3 Tfln. 1905. Yves Delage, Traite de Zoologie conerete Bd. II. 189). Al. Ecker, Entwickelungsgeschichte des grünen Armpolypen. Freiburg 1853. Ehrenberg, Über das Massenverhältnis der jetzt lebenden Kieselinfusorien etc. Physik. Abhandl. d. k. Akad. d. Wissensch. Berlin 1836. Ersch. 1838. M. Greenwood, Digestion in Hydra. The Journal of Physiology Bd. 8, S. 317—344, mit 2 Tafeln. 1888. 508 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation, W.Haacke, Zur Speziesunterscheidung in der Gattung Hydra. Zool. Anz., 2. Jahrg. 1879, Nr. 43. W. Haacke, Zur Blastologie der Gattung Hydra. Jen. Zeitschr. f. Naturw. Bd. 14. 1880. R. Hertwig, Was veranlasst die Befruchtung bei Protozoen? Sitzber. Gesellsch. ... f Morph. u. Phys. in München. Jahrg. 1899. —, Über das Wechselverhältnis von Kern und Protoplasma. Ebenda, Jahrg. 1903. —, Über physiologische Degeneration bei Aktinosphärium Eichhorni. Nebst Be- merkungen zur Ätiologie der Geschwülste. Festschrift für E. Haeckel. Jena 1904. Carl Jickeli, Über Hydra. Zool. Anz., o. Jahrg., S. 491. 1882. —, Der Bau der Hydroidpolypen. Morph. Jahrb., Bd. VIII. 1883. N. Kleinenberg, Hydra. Eine anatomisch-entwickelungsgeschichtliche Unter- suchung. Leipzig 1872. Laurent, Zoophytologie in: Vaillant, Voyage autour du monde sur la Bonite. Nouvelles Recherches sur l’Hydre. Paris 1844. W. Marshall, Über einige Lebenserscheinungen der Süßwasserpolypen und über eine neue Form der Hydra viridis. Zeitschr. f. wissensch. Zvol. Bd. XXX VII. 1882. M. Nussbaum, Über die Teilbarkeit der lebendigen Materie. II. Beiträge zur Naturgeschichte der Genus Hydra. Arch. f. mikr. Anat. Bd. XXIX. 1887. —, Die Geschlechtsentwiekelung bei Polypen. Sitzber. der Niederrhein. Gesellsch. für Natur- und Heilkunde zu Bonn. Jahr 1892. : —, Die Entstehung des Geschlechts bei Hydatina senta. Arch. f. mikros. Anat. Bd. 49. 1897. | —, Zur Parthenogenese bei Schmetterlingen. Ebenda Bd. 53. 1898. Pallas, Elenchus Zoophytorum. Hagae Comitum 1766. A. J. Rösel von Rosenhof, Insektenbelustigung. Teil III. Nürnberg 1755. Oskar Schultze, Zur Frage von den geschlechtsbildenden Ursachen. Arch. für mik. Anat. Bd. 63, S. 197—257. 1903. A. Trembley, M&moires pour servir A lYhistoire d’un genre de Polypes d’eau douce. 1744. Carl Vogt et Emile Yung, Trait d’anatomie compar&e practique. Paris 1888. Zoja, Raffaele, Alcune Ricerche morphologiche e fisiologiche sull’ Hydrae. Pavia 1890. Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Von Dr. J. Grofs. (Aus dem zoologischen Institut zu Gießen.) (Fortsetzung. Standfuß (1896) erhielt bei Paarung normaler Stücke der Nonne (Psilma monacha) unter zahlreicher ganz normaler Nach- kommenschaft ein einziges, oben und unten vollkommen geschwärztes Weibchen. Solche Formen sind aus freier Natur als nicht ganz seltene ab. eremita bekannt. Er paarte das Tier mit einem nor- malen, aus anderer Brut stammenden Männchen. Die Paarung gelang sehr gut, und von den geschlüpften Hybriden erwiesen sich 22 als normale Ps. monacha, 23 als typische ab. eremita. In einer immerhin beträchtlich zahlreichen Brut waren also die beiden elter- lichen Formen in fast genau.gleicher Anzahl vertreten. Außerdem fanden sich aber noch sechs Stück, die beide elterliche Charaktere & Groß. Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 509 » e g g mosaikartig gemischt an sich trugen. Und zwar waren in die dunkle Grundfarbe der ab. eremita weiße Flecke der normalen Form ober- seits und unterseits, rechts und links, ganz unsymmetrisch einge- sprengt. Auf die Deutung dieser sechs Mischformen kann ich erst später eingehen. Hier will ich nur betonen, dass Hermaphroditismus ausgeschlossen erscheint. Nach Standfuß’ Angaben waren es fünf unzweifelhafte Männchen und ein solches Weibchen. Noch interessanter sind die Experimente desselben Forschers mit der dunklen ab. Tugens von Aglia tau. Die Aberration variiert ihrer- seits stark von verhältnismäßig hellen bis zu vollkommen verdüsterten Stücken. Niemals aber hat Standfuß, trotz langjähriger Zuchten in großem Maßstabe, Übergänge zwischen den hellsten Exemplaren von ab. Zugens und der Grundart „erzwingen können“. Er konnte also auch nie im Zweifel sein, ob er es mit einem typischen Stück oder einer Aberration zu tun hatte. Die Resultate seiner Experi- mente sind also durchaus einwandsfrei. Die Zucht wurde begonnen mit Exemplaren von ab. lugens, die abstammten von durch zwei- malige Reinzucht erhaltenen Männchen der Aberration und von Weibchen der Stammform, die aus Eiern im Freien gefangener Weibchen gezogen waren. Diese Bastarde wurden in reziproker Richtung mit typischen Stücken gekreuzt. Die eine Zucht ergab 42 tau und 44 lugens, die andere 38 tau und 37 lugens, also ın beiden Fällen wieder fast genau gleich viel Exemplare jeder Form. Stücke von ab. hıyens aus derselben Brut wie die vorher- gehenden wurden auch untereinander gepaart. Das Resultat war 31 tau und 55 lugens. Die Stammform erschien also auch bei Reinzucht der Bastarde und zwar in beträchtlich mehr als einem Drittel sämtlicher Jungen. Dabei will ich bemerken, dass gerade diese Zucht eine besonders gut gelungene war. Von 89 abgelegten Eiern ergaben bloß drei ‚keinen Falter. Von den letzterwähnten 55 Stücken von /ngens hat Standfuß dann zwei Paare zur Nach- zucht ausgewählt. Die Zucht ergab in einem Fall 11 Zauw und 91 Zugens, im anderen 10 tau und 77 Zugens. Die Menge der typischen Exemplare ist also beträchtlich geringer geworden und macht nur noch ein Achtel bis ein Siebentel von der Zahl der ab. hugens aus. Allerdings waren bei dieser Zucht die Prozentsätze an abortierenden Eiern schon nicht mehr ganz gering. Die Zahlen können also noch weniger absoluten Wert beanspruchen als die früheren. Auch von diesen beiden Bruten hat Standfuß Material zu weiterer Zucht ausgewählt. Und jetzt kam die Grundform tax unter der Nachkommenschaft überhaupt nicht mehr vor. Doch war der Ausfall dieser Zuchten stets ein so, wenig günstiger, dass dieses Resultat höchstens die abermalige Abnahme der einen Form beweisen kann, nicht aber ihr tatsächlich bereits völliges Ver- schwinden. 510 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Dass diese Ergebnisse nicht etwa zufällige sind, geht aus wei- teren Experimenten desselben Forschers und anderer Lepidoptero- logen hervor, wenn sie auch nicht so ausgedehnt sind, wie die eben genannten. Unter einer größeren Zahl gewöhnlicher Angerona pru- naria, die Standfuß von einem ganz normalen Paar ab ovo ge- zogen hatte, erschienen drei Männchen und zwei Weibchen der dunklen ab. sordiata. Ein Pärchen der letzteren Form hatte ohne Zutun des Experimentators kopuliert. Aus den abgelegten Eiern entwickelten sich 13 typische A. prunaria und 42 sordiata. Bei zahlreichen Kreuzungen der eben genannten beiden Formen in beiden Richtungen hat nach Standfuß (1896) Zeller im gänzen 101 A. prunaria und 82 ab. sordiata erzielt, also etwa 55°], der Stammform und 45°, der Aberration. Aber diese Zahlen können ebenfalls keinen sehr hohen Wert beanspruchen, da erstens die Zahl der entwickelten Falter in allen Fällen sehr gering war, und außerdem die Ausgangsformen der Zuchten nicht auf ihre Ab- stammung kontrolliert waren. Ähnliche Resultate ergaben nach Standfuß Versuche ver- schiedener Autoren mitanderen Spannern (Amphidasis betularius X ab. doubledayaria, Boarmia repandata X. ab. conversaria) und einer Eulen- art Grammesia trigrammica X bilinea. Immer waren unter den Hybriden erster Generation annähernd gleich viel Vertreter beider Formen, wobei allerdings der Grundtypus der Art etwas zu über- wiegen schien. Als letztes will ich noch ein recht kompliziertes, durch mehrere Generationen fortgeführtes Experiment, ebenfälls nach Standfuß (1896) mitteilen. Von dem Spinner Spelosoma lubrieipeda gibt es eme Reihe von Aberrationen, die sich durch Verdüsterung der Flügel von dem Typus der Art unterscheiden. Eine der dunkelsten von diesen, ab. zatima paarte H. Burckhardt mit Sp. lubricipeda fypica. Unter den, leider nicht gezählten, Nachkommen fanden sich beide elterliche Formen vertreten, dann aber auch einige Stücke der ab. intermedia, die viel heller gefärbt ist als ab. zatima, aber sowohl gegen diese wie gegen die typischen Formen der Art scharf kontrastiert. Zwei zur Kopulation gebrachte Paare der ab. intermedia ergaben wieder alle drei Formen. Die Zahlen wurden leider wieder nicht festgestellt. Das geschah erst bei Kreuzungs- versuchen unter Abkömmlingen dieser Zucht. Und zwar wurde jetzt mit vier verschiedenen Kombinationen experimentiert. Die Re- sultate waren äußerst mannigfaltig, wie folgende aus Standfuß (1896) abgedruckte Tabelle ergibt (s. S. 511 oben). In drei Fällen erschienen also wieder alle drei bei der ganzen Ver- suchsreihe verwendete Formen wieder. Dabei muss es auffallen, dass gerade die ab. intermedia am seltensten zur Beobachtung kam, also die Form, der die Großeltern sämtlicher aufgezählten Bastarde Groß, Uber einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 514 12 Er. III. a Sn ab. zatima 5 « lubrieipeda & «, Jab.intermedia& „, Jab.intermedia & 5 Ein h s DD: . . F 5 PP) lubrieipeda 9 ab. zatima 2 ab. intermediaQ lab. zatima 9 Ergebnis: Ergebnis: Ergebnis: Ergebnis: 4 lubrieipeda 11 ab. zatima 25 lubrieipeda 2 Iuprieipeda 2 ab. intermedia 15 ab. intermedia 15 ab. intermedia 3 ab. zatima 35 ab. zatima 83 ab. zatima angehörten. Das Experiment II ergab eine ganz einförmige Brut der ab. zatima. Aber gerade in diesem Fall war die Zahl der voll entwickelten Stücke so gering, dass hier wohl Zufälle mitgespielt haben können. Im allgemeinen zeigen sämtliche Versuche, dass bereits in der ersten Generation beide verwendeten Formen wieder auftreten, dass also, abgesehen von dem einen unsicheren Fall von Sp. lubrieipeda X ab. xatima, nie Domimanz der einen nachgewiesen werden konnte. Außerdem waren die Zahlenverhältnisse unter den verschiedenen Bastardformen wechselnde und niemals die typischen Mendel’schen. So genau beschriebene und durch mehrere Generationen fort- gesetzte planmäßige Experimente, wie die genannten, habe ich aus anderen Tiergruppen nicht ausfindig machen können. Es gibt ja auch nicht viel Tierklassen, die dem Züchter ein so hervorragendes Versuchsfeld darbieten, wie die Insekten, die an Fruchtbarkeit selbst viele Pflanzen übertreffen. Immerhin habe ich in der Lite- ratur mehrere gute Beispiele finden können, die bewiesen, dass die aus der Lepidopterologie gewonnenen Ergebnisse nichts auf eine Ordnung Beschränktes sind, sondern spezielle Beispiele einer weit- verbreiteten Erscheinung. Zuerst einige sicher beobachtete Fälle von Haustieren. Evart (1902) kreuzte eine rein weiße Katze mit einem weiß und schwarzscheckigen, persischen Kater und erhielt „ein paar weiße und ein paar scheckige“ Junge. Die weißen von diesen ergaben untereinander gepaart ebenfalls wieder zweı weiße und zwei scheckige Kätzchen. Der Fall liegt also ganz so wie einige der oben mitgeteilten Schmetterlingsexperimente. Viel berühmter sind die Zuchtergebnisse mit der schwanzlosen Katze von Man. Auch diese Rasse scheint zu denjenigen zu gehören, die bei An- kreuzung mit der Stammform nicht, oder wenigstens in der Regel nicht, intermediäre Bastarde ergibt. Die aus älteren Autoren über- nommenen Angaben von Darwin (1868) will ich übergehen, da sie nicht hinreichend genau überliefert sind. Aber im zoologischen Garten zu Frankfurt a. M. ist eine schwanzlose Katze von Man mehrere Jahre hindurch beobachtet und auf ihre Nachkommenschaft kontrolliert worden (Weinland, 1862b). Mit einem gewöhnlichen Kater gepaart warf sie das erstemal fünf Junge. Von diesen waren dreı normalschwänzig, eins besaß einen Stummelschwanz, eins war wie die Mutter schwanzlos. Ein zweitesmal fanden sich in dem Wurf zwei - 512 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. geschwänzte und ein schwanzloses Tier. Von diesem letzteren wird noch angegeben, dass es, wie die Mutter, außerordentlich hohe und unverhältnismäßig stark entwickelte „hasenartige“ Hinterbeine hatte. Nachdem das Muttertier sich für eine Zeit verlaufen hatte, erschien es 1863 wieder im Garten in Begleitung eines geschwänzten Jungen. Es wurde jetzt wieder, und zwar dreimal, mit gewöhnlichen Katern gepaart. Über die Ergebnisse der Zucht hat uns Schmidt (1864) berichtet. Im ersten Wurf befanden sich drei langschwänzige Junge und ein viertes, das einen nur etwa zollangen Stummel trug. Aus der zweiten Paarung gingen drei gänzlich schwanzlose und zwei stummel- schwänzige Stücke hervor. Ein dritter Wurf schließlich bestand aus drei Langschwänzen. Wir finden also eine große Mannigfaltigkeit in dem Zahlenverhältnis der beiden elterlichen Formen bei jedem Wurf, und außerdem einige scheinbar intermediäre Bastarde. In neuerer Zeit ist ferner durch Kennel (1902) die Nachkommenschaft einer stummelschwänzigen Katze aus Esthland beschrieben worden, die sicher nicht zu der Rasse von Man oder einer ähnlichen ge- hört, vielmehr offenbar als neu aufgetretene Aberration innerhalb einer normalschwänzigen Familie aufgefasst werden muss. Es sind im ganzen sechs Würfe kontrolliert worden, die alle aus Paarungen mit normalen Katern stammen. Die Zuchtergebnisse waren folgende: Wurf Normal Stummelsch wänzig Schwanzlos d% 4 —_ 2 22 2 - 2 > 1 1 3 4. I — 3 5. 2 2 — 6. 2 1 2 Im ganzen resultierten 12 normal geschwänzte, 4 stummel- schwänzige und 12 schwanzlose Nachkommen. Das Resultat ist also höchst eigenartig. Einen Schwanzdefekt, der dem der Mutter glich, hatten nur 4 der Jungen. 12 schlugen den normalschwänzigen Vätern nach. Und ebensoviele übertrafen die Mutter noch an Verkümmerung des Schwanzes. Die Folgerungen aus diesem inter- essanten Fall verspare ich mir auf einen späteren Abschnitt meiner Arbeit. Ein schönes und genau bekanntes Beispiel für Rassen, die sich mit anderen nicht vermischen lassen, bildet auch das Ancon- oder Ötterschaf von Massachusetts. Es zeichnet sich durch Langrückig- keit und krumme dachshundähnliche Beine aus. Es ist in seiner Heimat längere Zeit hindurch gezüchtet worden. Denn man hielt es für einen Vorzug, dass die merkwürdigen Tiere nicht über Hürden springen konnten. Später ist es dann zugunsten der Zucht von Merinoschafen aufgegeben worden und längst ausgestorben. Nach Darwin (1868) züchtete die Anconrasse bei Inzucht vollkommen rein. Es soll überhaupt nur ein zweifelhafter Fall mitgeteilt sein, Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation, 515 [8 dass „ein Anconwidder und Mutterschaf nicht einen Aneonwurf erzeugt hätten“. Bei Kreuzung mit anderen Rassen fallen die Jungen immer rein nach beiden Eltern. Und das ist, wie Darwin aus- drücklich bezeugt, auch öfter bei Zwillingen, also ın einem Wurf beobachtet worden. Nach Ewart (1902) ıst das Anconschaf ım Lauf der Jahre im ganzen mit 13 anderen Rassen gekreuzt worden, ohne dass intermediäre Bastarde beobachtet worden wären. Bevor ich zu einigen von wilden Tierarten bekannten Fällen übergehe, die wenigstens mit großer Wahrscheinlichkeit hierher gezählt werden dürfen, möchte ich wenigstens ein interessantes Bei- spiel aus dem Menschengeschlecht anführen. Wir sahen oben, dass der Albinismus beim Menschen vielleicht als rezessives Merkmal im Mendel’schen Sinne betrachtet werden darf. Er kann aber offenbar auch den Vererbungsregeln folgen, die wir soeben untersuchen. Der berühmte französische Forscher Quatrefages hat folgende gut beglaubigte Geschichte mitgeteilt, die ich nach Rıbot (1895) zitiere. Sie ist so niedlich, dass ich sie in extenso wiedergeben will. „Auf einer Farm in Virginien heirateten sich zwei schwarze Sklaven, und die Frau brachte ein ganz weißes Kind zur Welt. Beim Anblick desselben wurde sie von Schrecken ergriffen und unter fortwährenden Beteuerungen, dass sie nie die geringsten Beziehungen zu einem Weißen gehabt habe, bemühte sie sich, das Kind zu verstecken und löschte schließlich das Licht in der Hütte aus, damit der Vater die Farbe seines Sprösslings nicht zu sehen bekäme. Sobald der Mann kam, verlangte er sein Kind zu sehen, schalt über die un- gewohnte Dunkelheit und holte Licht herbei zum größten Entsetzen der Mutter. Sobald er jedoch das Neugeborene in Augenschein genommen hatte, geriet er ganz außer sich vor Freude und ein paar Tage später sagte er zu seiner Frau: „Du hast dich vor mir gefürchtet, weil unser Kind weiß ist, aber ich sage dir, dass ich es darum um so mehr liebe. Mein eigener Vater war weıß, obschon er von Eltern abstammte ebenso schwarz wie du und ich; obwohl wir aus einem Lande stammen, wo man nie einen Weißen gesehen hat, gibt es von jeher in unserer und allen mit uns verwandten Familien ein weißes Kind.“ Wir sehen also hier bei einem Paare, in welchem der Mann nachweislich Albinoblut in sich hatte, eın albinotisches Kind erscheinen. Wenn wir die geringe Fruchtbarkeit berücksichtigen und den Umstand, dass der ursprüngliche weiße Stammvater, dessen der Mann sich offenbar nicht mehr erinnert, schon mehrere Generationen zurücklag, sein Einfluss also schon beträchtlich abgeschwächt war, so braucht uns die Angabe des Sklaven nicht zu wundern, dass in den mit ihm verwandten Fa- milien immer ‘nur je ein weißes Kind geboren wurde. Es ist des- halb durchaus wahrscheinlich, dass der Fall ganz analog den eben besprochenen von verschiedenen Tierarten ist. Um einen echten xXXVI. 33 514 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Mendel’schen Fall kann es sich nicht handeln; weil Albimismus beim Menschen, wie wir oben sahen, ja als rezessives Merkmal auf- trıtt, und deshalb bei Kreuzung eines Bastardes mit einer rein- blütigen normalpigmentierten Frau nach der Regel nicht ın Er- scheinung treten kann. Bemerken möchte ich noch, dass es ın unserem Falle sich wahrscheinlich um einen unvollkommenen Albıno mit gelbem Haar und blauen Augen gehandelt hat. Solche kommen bei Negern ja neben vollkommenen Albinos vor und gleichen ın Augen- und Haarfarbe allerdings ganz blonden Europäern. Wäre das Kind ein echter Kakerlake mit roten Augen gewesen, so wäre das arme Weib gewiss nicht ın so großen Schreck geraten. Einige ähnliche Fälle von der Vererbung des Albinismus ın Negerfamilien sind ın der Literatur noch berichtet, aber nie genügend genau für unsere Zwecke. Bei wilden Tieren, namentlich ın freier Natur, ıst die Be- obachtung von Vererbungserscheinungen natürlich viel schwieriger als bei domestizierten. Immerhin sind auch von solchen einige Beispiele bekannt geworden, die mit großer Wahrscheinlichkeit, zum Teil sogar sicher, zu der Gruppe von Vererbungserscheinungen gehören, von der eben die Rede ıst. Wenn z. B. Langkavel (1895) mitteilt, dass bei St. Martın ın Graubünden eine schon länger be- kannte weiße Gemse 1880 mit eimem gleichgefärbten Jungen be- obachtet wurde, so werden wir bei der Seltenheit von Albinos unter dieser Spezies wohl annehmen dürfen, dass der Vater des Jungen ein normal gefärbter Bock gewesen ist. Ebenso ist es aus- geschlossen, dass wir es hier mit einem Mendel’schen Fall zu tun haben sollten. Sicher ın unsere Kategorie gehört wohl folgender Fall, den Tiemann (1868) aufgezeichnet hat. Von Fulica atra, dem Bläss- huhn, war ein Pärchen beobachtet worden, das aus einem normalen Tier und einem vollkommenen Albino bestand. In der Brut fand sich bei späterer Untersuchung ein albinotisches Exemplar. Die Zahl der normalgefärbten Tiere wird leider nıcht angegeben. Ist der echte Albinısmus beı wilden Tieren immerhin eine recht seltene Erscheinung, so kennen wir andererseits von einer Reihe von Säugetieren und Vögeln eine Anzahl:von verhältnismäßig häufigen Abänderungen, die scharf gegen die Stammform kontrastieren und bei Kreuzungen nie intermediäre Bastarde liefern. Sie sind größtenteils früher als selbständige Arten aufgefasst worden, bis man ihre vollkommene Fruchtbarkeit mit den Typus der Art er- kannte und sie m einem Wurf oder einer Brut mit normalgefärbten Stücken fand. In der mitteleuropäischen Fauna ist am bekanntesten das schwarze Eichhörnchen, eine in manchen Gegenden recht häufige Abart des gemeinen roten Seiurus vulgaris. Es ıst schon oft Gegen- stand der Diskussion gewesen. Cuvier hatte es als besondere Art Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 515 q Se, alpinus, und ebenso Bonaparte unter dem Namen Se. italiceus beschrieben, jeder Autor es also nach dem Gebiet benannt, von wo er sein Untersuchungsmaterial bezog. Erst Blasius (1857) hat es als Varietät zum gemeinen Eichhörnchen gezogen. Am ge- nauesten auf Vorkommen und Verhalten hat es, so viel ich eruieren konnte, Liebe (1880) untersucht. Nach seiner Angabe finden sich niemals intermediäre Bastarde zwischen ihm und der typischen roten Form. Allerdings kommen, wie schon Blasius (1857) be- merkt hat, scheinbare Übergänge zwischen schwarzen und roten ‚Eichhörnchen vor. Diese in verschiedener Weise dunkelbraun ge- färbten Stücke sind aber wahrscheinlich gar keine Kreuzungs- produkte, sondern einfach verschieden hohe Grade von Melanismus. Wir haben hier genau denselben Fall, wie bei den oben erwähnten Schmetterlingen. Auch dort varııeren die verdüsterten Aberrationen beträchtlich; aber auch die hellsten Exemplare sind von dem Art- typus immer noch scharf unterschieden. In zahlreichen Eich- hörnchennestern, die er daraufhin untersuchte, hat Liebe, wenn überhaupt schwarze Exemplare darin waren, stets „rein schwarze und rein rote durcheinander“ gefunden. Zweimal beobachtete er eine säugende schwarze Mutter mit rein roten Jungen, niemals nur schwarze, in einem Nest. Dagegen hat v. Fischer (1873) wohl einmal einen rein schwarzen Wurf beobachtet, der von einem schwarzen Vater und einer roten Mutter stammte. Dass gelegent- lich die eine Form unter den Jungen fehlt, darf uns nicht wundern. Wie beı allen Säugetieren ist auch beim Eichhörnchen die Frucht- barkeit (im Höchstfall 9 Junge in einem Wurf) nicht groß genug, als dass die Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung sich schon merklich geltend machen könnten. Ein zweites, interessantes Beispiel ist der schwarze Panther, der sogen. Felis melas von Java und Sumatra. Lange für eine gute Spezies gehalten, wird er jetzt allgemein nur als Varietät von F, pardalis aufgefasst. v. Martens (1864) war wohl der erste, der mit Entschiedenheit behauptete, dass schwarze und gelbe Panther von derselben Mutter geworfen werden, was in der Heimat der Tiere sowohl Eingeborenen als Europäern längst und allgemein be- kannt sei. Auf seine Autorität hin hat dann Brehm seine früheren Angaben korrigiert und fügt zu v. Martens’ Mitteilungen noch hinzu, dass die schwarze Form bei Inzucht rein züchte. Da Panther sich in der Gefangenschaft ebenfalls leicht fortpflanzen, gibt es auch schon einige direkte Erfahrungen über unsere Frage, die mit den Angaben von v. Martens übereinstimmen. In einen von Schmidt (1878) mitgeteilten Falle waren die zwei Jungen, die ein schwarzes Pantherweibchen von einem gelben afrikanischen Leoparden, der ja wohl nur eine geographische Varietät des indischen Panthers ist, brachte, beide in der Färbung dem Vater gleich, was für uns 33* >16 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. ja aber ebenfalls keine Schwierigkeit bedeutet. Auch mit dem Jaguar, F. onca ist der schwarze Panther gekreuzt worden. Von den beiden Jungen glich das eine fast ganz der Mutter, der F\. onca. das andere war schwarz wie der Vater, aber „mit dem durch- scheinenden Flecken der Mutter“. Leider ist die Beschreibung, die Weinland (1861) gibt, nur ganz kurz, so dass sich über das Ver- halten der eigentlichen Artmerkmale an den Bastarden nichts Sicheres eruieren lässt. Sonst liegt den Fall ähnlich wie der oben angeführte von Helix nemoralis und hortensis. Melanistische Exemplare kommen beim Jaguar ebenso vor wie beim Panther, und diese Varietätsmerkmale verhalten sich gleich, einerlei ob sie innerhalb der Art zur Kreuzung gebracht werden oder zwischen nah verwandten Arten. Melanismen sind unter Säugetieren überhaupt weit verbreitet und haben schon Veranlassung zu manchen Erörterungen über ihre Entstehung gegeben. Lönnburg (1898) zählt z.B. sieben Katzenarten auf, die ähnliche schwarze Varietäten haben wie der Panther. Und v. Middendorf (1867) führt die höchst merkwürdige Tatsache an, dass im hohen Norden in einer ganzen Reihe von Tierarten Indi- viduen vorkommen, die statt des gewöhnlichen weißen Winter- kleides ein solches von blau- oder braunschwarzer Färbung anlegen. Er zählt folgende Spezies auf: Canis lagopus, Canis lupus, Lepus timidus, Lagomys alpinus, Mustela ermineus. Außerdem erwähnt er noch melanistische Exemplare als nicht gerade seltene Erscheinung bei Tamias Pallasii aus Sıbirien, und bei Oricetus frumentarius von Simbirsk im europäischen Russland. Auch von Vögeln sind Varietäten bekannt, deren unterscheidenden Merkmale sich mit den Charakteren der Stammform nie wirklich mischen lassen. Auf den Faröer — nach einigen Angaben auch auf Irland, im nördlichen Skandinavien und in Sibirien — kommt ein weiß- gefleckter Rabe vor, der früher als besondere Art unter dem Namen Corvus leucophaeus oder (. varius beschrieben worden ist. Jetzt stellt man ihn als Varietät zu €. corax, nachdem man beobachtet hat, dass die gefleckten Stücke mit rein schwarzen in einem Nest vorkommen. Aus demselben Grunde sind, wie ich Kleinschmidt (1904) ent- nehme, auch die Spezies Athene chiaradiae aus Italien und Sylra heinekeni von Madeira und den Canaren eingezogen und als mela- nistische Formen zum Steinkauz Athene glaux (s. Glaucidium noctua) und zur Mönchsgrasmücke Sylria atricapilla gestellt worden. Am meisten Schwierigkeiten haben den Ornithologen in dieser Hinsicht von jeher Corvus corone und (. cornix, Raben- und Nebel- krähe gemacht. Im Skelett und sonstigen Eigentümlichkeiten gleichen sich beide so sehr, dass sie, wieBrehm sagt, „gerupft“ schwer- lich zu unterscheiden sein dürften. In der Färbung kontrastieren sie dagegen ganz scharf. Die Ansichten der Ornithologen über die Selbständigkeit der beiden Arten sind noch immer geteilt, obgleich Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 517 die Fortpflanzungs- und Vererbungsverhältnisse schon gut erforscht sind. Allerdings stimmen die Resultate der verschiedenen Forscher nicht ganz überein. Naumann (o. D.) hat uns mehrere genaue Beobachtungen über die Frage überliefert. In einer Brut, die von einem Corvus corone & und einem Corvus corniz 9 abstammte, waren zwei Junge schwarz wie der Vater, zwei bunt wie die Mutter. Dasselbe hat Naumann später noch oft feststellen können. In einem Falle fand er jedoch unter den fünf Jungen eines gemischten Paares zwei mit reinem Rabenkrähen- und zwei mit reinem Nebel- krähentypus, daneben aber ein fünftes „von der gemischten Farbe beider Eltern“. Solche intermediäre Bastarde sind nun auch ın erwachsenem Zuztande oft genug geschossen worden. Sie varlieren ihrerseits stark. Es gibt nach Naumann deren eine unend- liche Menge von Verschiedenheiten und „fast kein einziger Bastard ist dem anderen gleich“. Wagner (1863) erklärt die Zusammen- setzung der Brut aus je zwei rein elterlichen und einer inter- mediären Form sogar für das Gewöhnliche bei Kreuzung der beiden Krähen. Ebenso gibt Thienemann (1902) an, dass die Färbung der Bastardkrähen entweder mit einem der elterlichen Kleider übereinstimmt oder gemischt sein kann. In einem genau unter- suchten Falle neigten alle vier Jungen in ihrer Färbung „entschieden zur Nebelkrähe hin, nur war das Grau viel dunkler, wie mit Ruß überstreut“. Als die Vögel heranwuchsen, behielt aber nur einer „das gemischte Kleid, das stark zur cornüx-Färbung hinneigte, die übrigen aber wurden schwarz, so dass man sie in der Freiheit un- bedingt für echte Rabenkrähen gehalten hätte“. Dagegen geben Darwin (1868) und Ewart (1902) übereinstimmend an, dass die Kreuzung der beiden Krähenformen nie intermediäre Hybride er- gebe. Nach Menzbier (1885) endlich. finden sich in der Umgebung von Salzburg reine Nebelkrähen überhaupt nicht mehr, sondern nur Rabenkrähen und Zwischenformen. Über die Fortpflanzung der Bastarde sind wir noch wenig unterrichtet. Naumann macht die Angabe, dass bei Kreuzung der Hybride untereinander, ihre Jungen immer wieder in „der Eltern oder Großeltern Stamm* zurück- schlagen, auch wenn sie selbst eine intermediäre Färbung tragen. Ein ähnliches Resultat ergeben nach Wagner (1863) Paarungen von gemischtfarbigen Bastarden mit einer der elterlichen Formen. Die Jungen aus solchen Bruten sind, wie Wagner in zwei Fällen mit Bestimmtheit konstatieren konnte, immer rein gefärbt, aber nicht immer alle schwarz oder grau, sondern oft finden sich, be- sonders, wenn die Mutter, der rein gefärbte Teil war, ein oder zwei entgegengesetzt gefärbte darunter. Die Angaben über das gegenseitige Verhältnis von Corvus corone und (©. cornix gehen also immer noch auseinander, und ge- klärt ist die Frage noch lange nicht. Damit hängt es Ja in erster 518 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Linie auch zusammen, dass die Ansichten der Ornithologen über die Artberechtigung der beiden Krähenformen noch immer sehr geteilt sind. Aus den Berichten der besten Kenner gewinnt man den Eindruck, dass das Resultat der Kreuzungen in verschiedenen Ländern ein verschiedenes sein könnte. Außerdem wäre bei einer gewiss sehr wünschenswerten neuen Untersuchung der Verhält- nisse noch Folgendes zu berücksichtigen. Für die in erwachsenem Zustande erlegten „Mischformen“ ist es ja keineswegs ausgemacht, dass es wirklich immer Kreuzungsprodukte sind. Vielmehr könnten, wie das in anderen Fällen sicher konstatiert ist, so auch bei den Krähen beide Typen ihrerseits eine gewisse Variationsbreite haben. Und was als Bastarderscheint, könnte eventuell ein einfach reinblütiges, nur weniger typisches Stück der einen Form sein, was übrigens schon Naumann andeutet. Jedenfalls aber dürfen wir als sicher konstatiert annehmen, dass bei Kreuzungen der beiden Krähen inindestens sehr häufig die Hybride rein den beiden elterlichen Tieren nacharten. Und deswegen musste ich hier diese Fälle schon so ausführlich behandeln, auf die ich später in anderem Zusammen- hang noch einmal zurückzukommen habe. Wir haben so bei einer ganzen Reihe von Tierformen, die sich durch Heranziehen nicht ganz sicherer Fälle leicht vergrößern ließe, ge- funden, dass gewisse Merkmale sich durch Kreuzung nicht oder doch nur ausnahmsweise vereinigen lassen, sondern immer oder fast immer wieder in voller Reinheit an je einem Teil der Bastarde auftreten, ohne dass sie aber den strengen Mendel’schen Regeln unterliegen. Es liegt uns ob zu untersuchen, ob die aufgezählten Formen auch sonst gemeinsame Züge aufweisen. Da fällt zuerst Folgendes ins Auge: In allen Fällen, wo wir über ihre Ent- stehung hinlänglich genau unterrichtet sind, haben wir es wieder mit plötzlich, sprungweise aus dem Stammtypus hervorgegangenen Formen zu tun. Auch für die nicht auf ihr erstes Auftreten geprüften Varietäten dürfen wir mit einiger Wahrscheinlichkeit aus dem Fehlen wirklicher Überganistoniee denselben Schluss ziehen. Sehen wir uns jetzt nach analogen. Fällen aus dem Pflanzenreich um, so stoßen wir auch da auf einen großen Komplex von Erscheinungen, welche dieselben wesentlichen Eigen- schaften an sich tragen. Sie haben in den letzten Jahren viel von sich reden gemacht. Ich meine die progressiven Mutationen von de Vries (1903 b). Ihr Entdecker stellt für sie eine Reihe von Sätzen auf, die fast genau auch für die eben besprochenen tierischen Varietäten gelten. Die progressiven Mutationen oder „neuen elementaren Arten“) entstehen plötzlich ohne 1) Inwieweit de Vries berechtigt ist, seine progressiven Mutationen als neue Arten zu bezeichnen, soll weiter unten untersucht werden. Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 19 Übergänge. Sie sind meist völlig konstant, von ersten Auge scblicke ihrer Entstehung an. Sie treten meist in einer bedeutenden Anzahl von Individuen gleichzeitig oder doch in derselben Periode auf. Bei de Vries’ eignen Versuchen traten sie in einem Verhältnis von 1--2 °/,, bisweilen etwas mehr, oft aber auch weniger aus ihrer Mutterart hervor. Die neuen Eigenschaften zeigen zu der individuellen Va- riabilität keine auffällige Beziehung. Bei Kreuzungen mit der Mutterart überwiegt die letztere in dem Sinne, dass sie mehr als der Hälfte, zumeist drei Vierteln der Bastarde ihr Bild aufprägt, während der Typusder „neuen Art“ nur zu etwa einem Viertel unter den Hybriden ver- treten ist. Doch konnte die jüngere Form auch bis zu 45°, der Hybride umfassen. Intermediäre Bastarde sind dagegen bei solchen Kreuzungen nie beobachtet worden. Man sieht, die von de Vries namhaft gemachten Kriterien stimmen fast sämtlich auch für die von mir aufgezählten Varie- täten. Auch für diese ist überall die plötzliche Entstehung nach- gewiesen oder wenigstens sehr wahrscheinlich gemacht. Ein Teil von ihnen, so die Katzenrasse von Man, das Anconschaf, der schwarze Panther haben sich bei Inzucht konstant erwiesen. Bei anderen, wie z. B. der Angerona prunaria ab. sordiata, ist das dagegen nicht der Fall. Der Satz von der Konstanz ‘der Form hat ja aber auch nach de Vries keine absolute Geltung. Er führt selbst von seinen Zuchtversuchen mit Oenothera lamarckiana an, dass eine seiner Mu- tationen, 0. seintillans stark von der Regel abwich. Nach Selbst- befruchtung wurden aus dem Samen immer in überwiegender Zahl Individuen der Stammform 0. Lamarekiana, daneben außerdem einige andere Mutationen erzogen. Der Fall ist also ähnlich wie der oben mitgeteilte von den Aberrationen der Spelosoma lubrieipeda, Auch die Zahlenverhältnisse, in denen die neuen Aberrationen bei Schmetterlingen und anderen Variationen auftreten, sind häufig andere, als die von de Vries angegebenen. Teils sind die plötzlich neu auftretenden Formen an unserem tierischen Material viel seltener, teils, z. B. die schwarzen Eichhörnchen, häufiger als de Vries’ Mu- tationen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass er im wesent- lichen mit Abkömmlingen einer einzigen natürlichen Art gearbeitet hat. Auch die Unabhängigkeit der geprüften Merkmale von der sonstigen individuellen Variabilität wird wohl bei unseren zoologischen Fällen ganz ebenso sein, wie bei dem Material von de Vries, wenn es auch für die einzelnen Fälle nicht speziell nachgewiesen ist. Sahen wir doch an dem Beispiel von Aylia tau ab. lugens, dass sogar das ausschlaggebende Merkmal der jüngeren Form mannigfach variieren und doch vollkommen scharf gegen das ontap Ar des Stamnı- typus kontrastieren kann, so das Übergänge sich nicht „erzwingen - 520 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. lassen“. Ein so starkes Überwiegen der Stammform, wie de Vries es beobachtete, fand bei den Schmetterlingen, den einzigen Tieren, wo einigermaßen zahlreiche Zuchten zu Gebote standen, nicht statt. Vielmehr hielten sich beide Typen gewöhnlich die Wage. Bei den anderen untersuchten Tieren war die Nachkommenschaft immer viel zu wenig zahlreich, um Schlüsse zu ziehen. Aber auch de Vries gibt ja beträchtliche Schwankungen zu bis zu Fällen, wo 45, der ganzen Ernte der jüngeren Form angehörten. Dass es sich hier jedenfalls nur um graduelle Unterschiede handelt, werde ich später noch zeigen, nachdem ich zuerst eine Erklärung der ge- samten auffallenden Erscheinungen versucht habe. Schon de Vries hat mehrfach auf den interessanten Unterschied zwischen denMendel’schen Fällen und seinen progressiven Mutationen hingewiesen. Bei jenen sind die Hybride erster Generation unter- einander gleich, sie arten sämtlich dem einen Elter nach. In der zweiten Generation spalten die Bastarde dagegen auf in der Pro- portion von 3:1. Die progressiven Mutationen, und zu ihnen können wir auch die oben aufgezählten Fälle aus dem Tierreich rechnen, ergeben bei Kreuzung mit der Stammart gleich in erster Generation zweierlei Bastarde. Diese können aber bei Inzucht konstant bleiben. De Vries sieht hierin wohl mit Recht einen prinzipiellen Unterschied. Dieser muss, wie de Vries ebenfalls hervorhebt, konsequenterweise in Unterschieden des Keimplasmas gesucht werden. Für die Mendel’schen Fälle nimmt er an, dass die Anlage für das eine Merkmal bei der Varietät latent geworden oder sonst irgendwie verändert sei, und leitet, wie wir oben sahen, aus dieser Hypothese die Regeln ab, für das Pflanzenreich in ziem- lich ausreichender Weise. Er fasst diese Fälle zusammen unter dem Terminus der „retrogressiven und degressiven Mutationen“. Von diesen sollen sich die „progressiven“, die zur Entstehung „neuer Arten“ führen, dadurch unterscheiden, dass das Keimplasma der mutierten Form um wenigstens eine neue Anlage reicher geworden ist, eben um jene, welche die neue Eigenschaft im Habitus der Pflanze hervorruft. Da de Vries an keiner Stelle seiner Arbeiten den Versuch gemacht hat, die Vererbungserscheinungen seiner pro- gressiven Mutationen mit dieser Hypothese in Einklang zu bringen, so brauche ich auf sie auch nicht näher einzugehen; ich führe sie lediglich der Vollständigkeit wegen an. Bei meinem Erklärungsversuch gehe ich ebenfalls von dem auf- fallenden Unterschied aus, der zwischen den Mendel’schen Fällen besteht und jenen, die uns jetzt beschäftigen. In den Mendel’schen Fällen sind die Hybride erster Generation gleichförmig. Es dominiert die eine elter- liche Form durchaus. Wir durften daraus schließen, dass auch die Zygoten, aus denen sie hervorgehen, die Deter- Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 52 o- IL R minanten des einen Merkmalspaares in gleicher Kombi- nation enthalten. Ganz anders liegen die Verhältnisse in derzweitenGruppe von Fällen. Die Bastarde der ersten Generationkönnen bereits in sehr wechselnden Zahlenver- hältnissen in die zwei elterlichen Formen zerfallen. Das ist sogar die Regel. Es müssen also schon die Zygoten, aus denen sie entstanden, verschieden sein, das heißt, die in Betracht kommenden Ide in wechselnder und nicht regelmäßiger Kombination enthalten. Untereinander gekreuzt spalten die Mendel’schen Bastarde in dem konstanten Verhältnis von 3:1. Unter Berücksichtigung des in der ersten Generation erwiesenen Dominierens der einen Form, ließ sich diese Proportion ungezwungen erklären durch die An- nahme der Bildung von reinen Gameten. In den jetzt zu prüfenden Fällen kann sich die zweite Generation der Hybride sehr verschieden verhalten. Bald züchten sie rein weiter, wie in der großen Mehr- zahl der ven de Vries beschriebenen Fälle, bald tritt die Stamm- form in einer sehr wechselnden Anzahl von Individuen wieder zu- tage, wie wir das bei dem zoologischen Material als Regel fanden. Demnach dürfen wir hier eine Reinheit der Gameten nicht annehmen. Denn eine solche muss, wie längst schon Mendel bewiesen hat, die bestimmten Zahlenverhältnisse seiner Spaltungsregel ergeben. Die Bildung reiner Gameten lässt sich, wie schon de Vries gezeigt hat, am besten erklären durch das Ausbleiben des Austausches von Anlagen, also von Pangenen oder Iden. Wir werden einen solchen Austausch bei den progressiven Mutationen und ähnlichen Fällen, ın denen wir Reinheit derGametennichtannehmen dürfen, demnach wohlvoraus- setzen müssen. Tun wir das, so können wir aber in der Tat die problematischen Erscheinungen in sehr einfacher Weise aus den Vorgängen im Keimplasma ableiten. Ich beginne mit den leichter zu deutenden zoologischen Fällen. Vorausschicken muss ich wieder, dass wir es, wie in den Mendel- schen Fällen mit Eigenschaften zu tun haben, die sich durch Kreuzung nicht miteinander mischen lassen. Die Determinanten, von welchen sie bedingt werden, können nie gleichzeitig in einem Individuum ihre Wirksamkeit entfalten. Sie schließen sich gegenseitig von der Beeinflussung des Charakters der Zellen und Organe aus, sind also, wie man das wohl genannt hat, antagonistich oder exklusiv. Ich machte oben die einfache Annahme, dass jedesmal die Form von Determinanten zur Wirkung gelangt, die in der Mehrzahl vor- handen ist. Ganz dieselbe Auffassung findet sich übrigens schon bei Weismann (1892) in seiner Theorie des Keimplasmas. Die Zahlenverhältnisse der Determinanten innerhalb eines Idanten müssen aber dieselben sein wie jene der Ide. Auf diese höheren Einheiten ‘ 599 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. kann ich mich daher bei der weiteren Darstellung beschränken. Die plötzlich entstandenen Varietäten, mit denen wir es hier zu tun haben, müssen also in bestimmten Idanten ihres Keimplasmäs eine Majorität von Iden enthalten, die soweit abgeändert sind, dass sie sich gegen die Stammide exklusiv verhalten. Alle brauchen es keineswegs zu sein. Vielmehr wird sich zeigen lassen, dass das in vielen Fällen nicht der Fall sein kann. Ferner müssen wir im Auge behalten, dass die in Betracht kommenden Varietäten immer solche sind, die in der betreffenden Art nicht selten auftreten. In den de Vries’schen Fällen kamen sie in der Regel in 1-2, manchmal sogar 3°/, einer Aussaat vor. Die schwarze Spielart des Eichhörnchens muss in manchen Gegenden sogar noch beträchtlich häufiger von neuem entstehen. Das Keimplasma der betreffenden Arten neigt also überhaupt stark zur Umänderung seiner Ide in der bestimmten Richtung. Wir dürfen deshalb mit einiger Sicher- heit annehmen, dass auch die scheinbar reinen Individuen der Stamm- form, wenigstens sehr häufig, eine Anzahl abgeänderter Ide in ihrem Keimplasma mitführen, nur eben immer weniger, meist wohl be- deutend weniger, als Stammide. Bei der Bildung der Keimzellen werden die beiden Sorten von Iden, da sie ja den Austausch nicht verweigern, in sehr verschiedener Weise durchmischt. In den Gameten sowohl der typischen Tiere, als in jenen der Varietät werden somit sehr mannigfaltige Kombinationen von Iden gebildet. Nun wird natürlich in jedem Fall eine bestimmte Sorte von Iden in der Mehrzahl der Gameten überwiegen. Kommen jetzt die Keimzellen zur Vereinigung, so werden auch die Zygoten dem entsprechend sehr verschieden beschaffen sein. Und je nachdem, welche Sorte von Iden in jeder überwiegt, wird sie sich zu einem Individuum der einen oder der andern Form entwickeln. Wenn, wie das wohl die Regel sein dürfte, im Keimplasma der typischen Form die Stammide sehr stark prävalieren, muss auch die Mehrzahl der Nachkommen in den Typus der Art zurückschlagen. Das ist bei den Mutationen der Oenothera in der Tat der Fall, wo die, nach der jüngeren Form artenden, Bastarde nur 20 bis höchstens 45°], der ganzen Ernte betrugen. Bei den Eichhörnehen mancher Länder, wo die schwarze Varietät fast so häufig ist, als die typische Form, wird in den Zellen der roten Exemplaren die Zahl der abgeänderten Ide wohl immer eine beträchtlich hohe sein. Daher wird der Prozentsatz an schwarzen Jungen bei jeder Kreuzung ebenfalls recht groß sein. Doch lässt sich das aus den wenigen bisherigen | Beobachtungen noch nicht berechnen. Frappant, und nicht ohne weiteres aus meiner Hypothese abzuleiten, ist das Auftreten beider Bastardformen in genau gleichen Mengen bei mehreren der oben angeführten Kreuzungen von Schmetterlingen. Man ist versucht, darin das Walten einer strengen Gesetzmäßigkeit zu erblicken. Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 523 Und für eine solche liefert meine Deutung allerdings keine Anhalts- punkte. Doch sind die geprüften Fälle noch lange nicht zahlreich genug, um wirklich schon als Nachweis eines verborgenen Gesetzes gelten zu müssen. Ich kann deshalb darauf verzichten, hier schon meine Hypothese nach dieser Richtung auszubauen. Auch das Verhalten der Hybride zweiter Generation, soweıt sie den Typus der jüngeren Form tragen, lässt sich im allgemeinen leicht durch meine Annahme erklären. Sie enthalten in ihrem Keimplasma wohl fast immer noch einige nicht abgeänderte Ide. Die Durchmischung der Anlagen bei der Bildung der Keimzellen und ihre neue Kombination bei der Befruchtung muss es bewirken, dass in einigen Fällen die Stammide das Übergewicht erlangen, und dadurch eine Anzahl Exemplare wieder in den Arttypus zurück- schlägt. Natürlich wird die Menge dieser Stücke aber viel geringer sein, als nach der ersten Kreuzung. Und bei weiterer Inzucht muss ihre Anzahl von Generation zu Generation abnehmen. Diese Forderungen der Hypothese werden durch die Experimente mit Schmetterlingen in der Tat vollkommen erfüllt. Spröder verhalten sich die Zuchtresultate von de Vries. Denn nach seinen Erfah- rungen züchteten meistenteils die Hybride mit dem jüngeren Merk- mal fast vollkommen rein. Ich müsste also schließen, dass ım Keimplasma der verschiedenen „neuen Arten“ von Oenothera die Zahl der abgeänderten Ide ganz besonders groß ist, und deshalb bei allen Kombinationen immer noch überwiegt. Dem widerspricht aber das Verhalten derselben Formen bei der ersten Kreuzung mit der Stammform. Denn wir fanden gerade bei ihnen ein auffallendes Überwiegen des Arttypus. Es ließe sich die Schwierigkeit aber durch eine Hilfshypothese heben. Die Fähigkeit zum Austausch der Ide braucht ja durchaus nicht immer gleich, also in unserm speziellen Falle nicht mehr vollkommen zu sein. Vielmehr können sehr wohl die Ide einer bestimmten Sorte sich unter günstigen Bedingungen noch austauschen lassen, dabei aber immerhin doch schon zum eigenen Idanten und zu den Iden gleicher Art eine höhere Affinität zeigen, als zu den entgegengesetzten. Deshalb werden sie dann in der Mehrzahl der Fälle zusammenbleiben. Und bei Reinzucht der Mutanten werden infolgedessen die Stammide nur höchst selten oder nie das Übergewicht erlangen können. Die verschiedenen Formen der Oenothera zeigen übrigens, wie de Vries ausdrücklich hervorhebt, bei Kreuzung mit der Stammart eine deut- liche Herabminderung der Fruchtbarkeit. Wenn sich also selbst die Affinität der ganzen Gameten als vermindert erweist, wird man ähnliche Erscheinungen doch wohl auch für die Bestandteile des Keimplasmas annehmen dürfen, ohne der Tragfähigkeit der Hypo- these zu viel zuzumuten. Noch muss ich kurz auf die Fälle eingehen, wo nach der Li 524 Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. Kreuzung zweier Formen neben den ‚beiden elterlichen eine dritte erschienen ist. Diese bieten ja aber keinerlei Schwierigkeiten. Bei Arten, die überhaupt zur plötzlichen Hervorbringung neuer Formen neigen, können solche natürlich gelegentlich auch nach einer Kreu- zung auftreten. Ferner ist es eine einfache Bestätigung meiner Hypothese, dass bei Kreuzung zweier verschiedener sprungweise entstandener Varietäten unter den Nachkommen auch die Stamm- form wieder erscheint. Denn Stammide führen ja beide gekreuzten Individuen nach meiner Annahme in ihrem Keimplasma. Auch diese können sich durch den Idenaustausch so stark häufen, dass sie zur Wirkung gelangen. Eine einfache Überlegung zeigt sogar, dass dieser Fall relativ häufig eintreten muss. Denn Stammide werden von jedem Elter mitgebracht, die abgeänderten jeder Sorte immer nur von einem. Die Stammide müssen also oft genug, wenn auch nicht die absolute Majorität, so doch das Übergewicht über jede der beiden anderen Idgruppen erlangen. Und da wir es mit exklusiven Determinanten zu tun haben, von denen jedesmal nur eine Sorte zur Herrschaft kommen kann, müssen in solchen Fällen die Stammide den Charakter des kindlichen Organismus deter- minieren. Auch hiermit stehen die Tatsachen in schönster Harmonie. (Schluss folgt.) Hatschek’s neue Vererbungshypothese., Von Ludwig Piate in Berlin. Auf der vorjährigen Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Meran hat der verdienstvolle Wiener Zoologe B. Hatschek eine neue Vererbungshypothese !) aufgestellt, die im folgenden kritisch besprochen werden soll. Die Hypothesen und Theorien sind das Salz der Wissenschaft. Sie bilden das einigende Band, welches die Fälle der Einzelbeobachtungen zusammenhält, und wie erst durch den geistigen Bauplan des Architekten Stein auf Stein so gefügt wird, dass ein einheitliches künstlerisches Gebäude entsteht, so ordnen und sichten die Theorien die Tatsachen der einzelnen Er- fahrungsgebiete und schaffen aus ihnen den komplizierten Aufbau einer Wissenschaft. Aber gerade weil die Theorien eine so funda- mentale Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaft haben, muss jede „neue“ auf das Gewissenhafteste geprüft und mit den vorhandenen genau verglichen werden, um den angeblichen theo- retischen Fortschritt klar zu erkennen. Eine solche Prüfung scheint mir nun zu ergeben, dass erstens die wirklich neuen Gedanken Hatschek’s mit dem Vererbungsproblem nur in einem ganz losen 1) B. Hatschek, Hypothese der organischen Vererbung. Leipzig. W. Engel- mann. 1905. p. 4. Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. 325 Zusammenhang stehen und für dieses — mögen sie im übrigen richtig oder unhaltbar sein — nicht weiter ın Betracht kommen; dass zweitens Hatschek’s Versuch, eine Vererbung somatogener Veränderungen nur durch chemische Reizleitung zu erklären — eın Versuch, der übrigens schon wiederholt gemacht worden ist — mit einer ganzen Reihe von Tatsachen kaum zu vereinigen ist; und dass drittens seine Bemühungen, die Determmantentheorie zu erschüttern und durch ein Prinzip der fortschreitenden chemischen Konstitutions- änderung des Zellplasmas zu ersetzen, nicht als gelungen bezeichnet werden dürfen, da seine Theorie ganz durchsetzt ist von deter- ministischen Vorstellungen. Bei aller Hochachtung vor der nicht geringen Gedankenarbeit dieses theoretischen Versuchs und obwohl ich mit Hatschek darin übereinstimme, dass die Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften zugegeben werden muss, weil zahllose Tatsachen sonst einfach unerklärlich sind, so glaube ich nicht, dass wir auf diesem Erklärungswege einen Schritt weiter kommen. Hatschek geht von der Vorstellung aus, dass im Protoplasma zwei verschiedene Arten von Biomolekülen vorhanden sind, erstens die,Ergatüle“, welche unter Stoffaufnahme und -abgabe ergastische Prozesse, d. h. Arbeit irgendwelcher Art leisten, ohne aber die Fähigkeit des Wachstums und der Vermehrung zu haben, und zweitens die „Generatüle“, welche keine eigentliche funktionelle Arbeit leisten, aber die Fähigkeit des Wachstums und der Ver- mehrung auf Grund von Assimilation und Dissimilation besitzen und diese Gabe auf die Ergatüle übertragen, indem sie sich ihnen an- gliedern und dabei ihre charakteristische Eigenart auf sie übertragen. Sie werden gleichsam zum „chemischen Radikal“ der Ergätüle und werden „daher mittelbar bestimmend. für alle Eigenschaften des Körpers“. Die Ergatüle sitzen hauptsächlich im Zellleib, während die Generatüle dem Zellkern, besonders den Chromosomen, ange- hören und diesen dadurch zum Träger der Vererbungserscheinungen machen. Es leuchtet sofort ein, dass uns hier in der generativen Substanz im Prinzip derselbe Begriff entgegentritt, den Nägeli als „Idio- plasma“ und den Weismann als „Keimplasma* bezeichnet. Es ist diejenige Substanz, welche der Art ıhr spezifisches Gepräge aufdrückt und bewirkt, dass aus dem Froschei nur ein Frosch, aus dem Krötenei in demselben Tümpel und unter den gleichen äußeren Bedingungen nur eine Kröte werden kann. Neu ist bei Hatschek jedoch der Gedanke, dass diese Substanz in allen Zellen auch das Wachstum und die Teilung veranlasst, während sonst ganz allgemein angenommen wird, dass jede normale Zelle ganz unabhängig von dem Vorhandensein oder dem Fehlen des Keimplasmas zu assımilieren, d.h. den mit der Arbeit verbundenen Stoffverlust durch Stoff- 526 Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. aufnahme zu deeken vermag und daher auch unter bestimmten Umständen imstande ist, zu wachsen und sich zu teilen, denn das Wachstum ist erhöhte Assimilation, wobei ein Plus von Protoplasma gebildet wird, und muss zur Teilung führen, sobald das individuelle Größenmaß überschritten ist, Ich sehe auch nicht ein, weshalb wir diese althergebrachte Auffassung aufgeben sollen, zumal ja die Ergatüle nach Hatschek ebenfalls assimilieren. Hatschek be- gründet seine Vorstellung mit den Worten: „Es erschien mir un- wahrscheinlich, dass die tausendfältigen Arten von Biomolekülen, welche auf je einen spezifischen Arbeitsprozess, bezw. auf einen besonderen chemischen Vorgang abgestimmt sind, zugleich auch zu einem anderen besonderen chemischen Vorgang, dem generativen Prozess geeignet sein sollen“ (p. 9). Nun scheint es mir durchaus nicht erwiesen zu sein, dass das Wachstum und die Teilung ein „besonderer chemischer Vorgang“ ist, der von den übrigen chemischen Umsetzungen, die mit der Assimilation verbunden sind, so ver- schieden ist, dass man besondere Biomoleküle für sie annehmen muss. Nach demselben Prinzip könnte man eigenartige Biomoleküle für die Atmung, für die Stickstoffausscheidung, kurz für jeden bestimmten chemischen Vorgang aufstellen. Hierzu liegt meines Erachtens erst dann Grund vor, wenn gewisse Tatsachen gebieterisch eine solche Hypothese fordern. Die bloße Möglichkeit, sich der- artige getrennte Biomoleküle denken zu können, genügt nicht, Da solche Tatsachen bis jetzt fehlen, so ist die hypothetische Spaltung der Biomoleküle in Ergatüle und Generatüle zurzeit unnötig und daher als nicht berechtigt zurückzuweisen. Ich bleibe daher bei der alten Auffassung, dass die Biomoleküle nicht nur ihre spezifischen Funktionen, sondern auch auf Grund ihres Assimilationsvermögens die Fähigkeit des: Wachstums und eventuell auch der Vermehrung besitzen. Aber ‘selbst wenn man sich auf den Boden der Hatschek’- schen Hypothese stellt, so ist damit für das Vererbungsproblem nichts gewonnen, denn für dieses kommt es nur darauf an, dass die generative Substanz als „Keimplasma“, als Träger der spezifischen Erbmasse funktioniert und deshalb die Charaktere des Zellplasmas mehr oder weniger bestimmt; ob sie daneben das Zellplasma auch noch zum Wachstum und zur Vermehrung reizt resp. befähigt oder ob nicht, ist für das Verständnis der Vererbung gleichgültig. Ich komme also zu dem Schluss, dass die neue hypothetische Grund- lage der Hatschek’schen Auffassung im besten Falle nur ın einem äußerlichen Zusammenhange mit dem Vererbungsproblem steht. Wenn nun Hatschek weiter annimmt, dass sich die generative Substanz in allen Körperzellen, nicht nur in den Keimzellen, befindet, so bewegt er sich auch hier in bekannten Bahnen. Schon Nägelı ließ, gestützt auf die Regenerationserscheinungen der Pflanzen, das Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. 927 Idioplasma in allen Körperzellen semen Sitz haben; dasselbe gilt für die Pangene von De Vries, die sich von den Pangenen Darwin’s ja gerade dadurch unterscheiden, dass sie sich in ihrer Gesamtheit auf alle Kerne verteilen, während gleichzeitig in jedem Kern nur ein bestimmtes Pangen aktiv wird und der betreffenden Zelle zu ihrer besonderer Struktur verhilft. Endlich nimmt auch Weismann zur Erklärung der Knospung und Regeneration an, dass ein „Nebenkeimplasma“ in verschiedene Körperregionen ge- langen kann, welches entweder mit dem Keimplasma identisch ist und dann den ganzen Organismus aus sich hervorgehen lässt, oder wenigstens soviele Determinanten enthält, wie zum Ersatz des ver- lorenen Teiles nötig sind. Von solchen Nebenkeimplasmen unter- scheidet er darnach erstens „inaktives Keimplasma“, welches den ganzen Körper neu bilden kann (z.B. aus einem Bruchstücke eines Begonienblattes), zweitens „Knospungskeimplasma* und drittens „Regenerationskeimplasma“, denn Knospung und Regeneration ver- laufen bei demselben Organismus zuweilen verschieden und kommen nicht immer zusammen vor. Wir sehen also, dass die Ubiquität der generativen Substanz eine den früheren Vererbungstheoretikern geläu- fige Auffassung ist, und dass sich Hatschek im Irrtum befindet, wenn er sagt (p. 14), dass nach Weismann nur die Kerne der Fortpflanzungszellen den vollständigen Determinantenkomplex be- sitzen. Hatschek sagt in dem Vorworte seines Vortrags, derselbe wende sich vornehmlich gegen die „Determinantenhypothese“, durch welche die alte Präformationslehre in einem gewissen Sinne ihre moderne Wiederholung gefunden habe. Er versteht darunter alle Theorien, welche schon in die Eizelle präexistente Teilchen hinein- legen, durch welche die Gesamtheit der organischen Differenzierungen später hervorgerufen wird. Er rechnet hierhin die Theorien von Darwın, De Vries, Nägeli, Weismann und im gewissen Sinne auch von O. Hertwig. Diese Auffassung verwirft Hatschek und proklamiert dafür die „Lehre von der durch die Entwicklung sich steigernden organischen Mannigfaltigkeit“. Die Differenzierung ım Laufe der Ontogenie hängt nach ıhm ab von den Ergatülen des Protoplasmas, von denen ın der Eizelle zunächst nur eine Anzahl „primäre“ von relativ einfachem chemischen Bau vorhanden sind, die aber dann „durch eine in divergenten Richtungen fortschreitende, chemische Konstitutionsänderung“ immer verschiedenartiger werden und dadurch die ganze Fülle von Strukturen und Geweben des ausgewachsenen Organismus hervorrufen. Hierbei geht die generative Substanz, also das Keimplasma nach der früheren Ausdrucksweise, unverändert auf die Kerne aller Körperzellen über und bleibt dabei stets dieselbe „relativ einfache Primitivsubstanz“. Wäre Hatschek bei dieser Auffassung stehen geblieben, so hätte er sich tatsächlich 598 Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. in einen Gegensatz zu den bisherigen Theorien gestellt und sich von allen präformistischen Anwandlungen frei gehalten. Als reiner strenger Epigenetiker hätte er nur noch die weitere Konsequenz zu ziehen brauchen, dass alle diese chemischen Umwandlungsreihen auf Kosten des Deutoplasmas geschehen und durch die äußeren Faktoren veranlasst werden, wie sie im Wechsel des Milieus und der Lagebeziehungen der Zellen zueinander zum Ausdruck gelangen. Diesen Schluss ich er jedoch nicht!), vermutlich weil es Bei er Vorstellung unverständlich geblieben wäre, wie Veränderungen an der Peripherie des Körpers, im Soma, derartig auf die ganz anders beschaffenen Keimzellen einwirken können, dass sie von diesen vererbt werden. So sehen wır denn Hatschek mit vollen Segeln in das von ihm angeblich gemiedene präformistische Fahrwasser zurück- kehren. Auf p. 12 und 13 erfahren wır, dass die relativ einfache generative Substanz „Teilchen“ abgibt, welche sich in die ergastischen Moleküle umwandeln, gleichsam zu ihren chemischen Radikalen werden und dadurch die Natur aller im Körper vorhandenen Erga- tüle bestimmen, und p. 33 wird die Vererbung erworbener Eigen- schaften dadurch plausibel gemacht, dass ein bestimmter „Bezirk“ der generativen Substanz, welcher beim Übertritt in ein Ergatül einer Körperzelle dessen spezifische Eigenschaften hervorrief, auch in den Kernen der Keimzellen vorhanden ist und dass daher eine gleichsinnige Veränderung dieser Bezirke durch denselben chemischen Reiz postuliert werden darf. Aus diesen Sätzen weht echter Geist der Determinantenlehre, denn es ist klar, dass diese „Bezirke“ der generativen Substanz begrifflich identisch sind mit den Determinanten von Weismann und den Pangenen von Darwin und de Vries: es sind präexistente, die Funktion des Zellplasmas auslösende Atom- gruppen der Vererbungssubstanz. Auch diese Forscher denken sich natürlich die „Vererbungseinheiten“ nicht nur als morphologisch different, sondern von verschiedener chemischer Konstitution, denn sonst wären ihre spezifischen Wirkungen unverständlich. Ob man nun außerdem noch mit Hatschek das Zellplasma vom Eistadium an durch alle Phasen der Ontogenie hindurch nach divergenten Richtungen chemisch sich verändern lässt und hierin einen zweiten funktionsbestimmenden Faktor sieht, oder ob man diese Frage zu- nächst noch offen lässt, ist nebensächlich, da wohl alle Forscher darüber einig sind, dass beständig chemische Umsetzungen statt- finden im Protoplasma des Embryos, ohne dass man ihre formative Be- deutung zurzeit näher analysieren könnte. Hatschek selbst (p. 28) A die Inkonsequenz seiner Theorie gefühlt zu haben, denn er 1) An p. 15 wird nur gesagt, dass die gesetzmäßig fortschreitende chemische Umwandlung ‚je nach den einwirkenden Umständen geschieht“, wobei es offen bleibt, ob diese Umstände äußere oder innere sind. Hingegen werden alle Variationen, also die neu auftretenden Veränderungen, auf äußere Umstände zurückgeführt (p 40). Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. 529 schreibt: „Man wird nun vielleicht meinen, dass diese Vorstellungen mit jenen der Determinantenlehre im wesentlichen übereinstimmen, nur dass hier die ganze Komplikation in das Molekül selbst verlegt sei. Es ist aber daran zu erinnern, dass die gesamte Komplikation des Generatüls in alle von ihm ableitbaren Ergatüle übergeht, und dass nicht etwa eine Auseinanderlegung der verschiedenen Teile des Moleküls oder ein zeitweilig aktiver und inaktiver Zustand des einen oder des anderen Teiles zur Erklärung der Differenzierung des Körpers in Anspruch genommen wird.“ Hierin liegt ein Wider- spruch zu der Behauptung auf p. 33, dass nur ein „Bezirk“ der generativen Substanz die spezifische Eigenschaft des Ergatüls ver- anlasst hat, denn das heißt natürlich so viel wie, dass sämtliche übrige Bezirke für die Genese jener Eigenschaft inaktiv und aus- geschaltet waren. Ich kann mir einen solchen Prozess auch nicht ohne eine „Auseinanderlegung“ irgendwelcher Art vorstellen. Wenn das generative Molekül mit seiner ganzen komplizierten atomistischen Struktur in ein Ergatül eindringt und nun eine bestimmte Atom- gruppe des ersteren auf das letztere einwirken soll, so muss sich diese Gruppe selbstverständlich frei machen und abspalten, sonst kann sie keine chemische Wirkung hervorrufen. Der abgespaltene Bezirk kann ja später durch Wachstum ersetzt werden, sodass das im Ergatül befindliche Generatül dadurch nicht auf die Dauer einen einfacheren Bau erhält. Man kann unmöglich annehmen, dass das Generatül völlig intakt bleibt und keine atomistische Veränderung erleidet und dass dabei trotzdem eine Atomgruppe desselben eine chemische Wirkung ausübt, denn chemische Kräfte können erst frei werden durch Aufhebung vorhandener Atombindungen. Hatschek denktsich offenbar die Wirkung einer Atomgruppe des Generatüls als eine katalytische nach Art der Enzyme, von denen vielfach angenommen wird, dass sie chemisch wirken, ohne sich dabei atomistisch zu verändern. Da diese Auffassung aber bekanntlich dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft widerstreitet, so nehmen andere Chemiker an, dass die Katalysatoren nur scheinbar unver- ändert bleiben, in Wirklichkeit sich hingegen zersetzen, dadurch chemische Energie frei machen und dann wieder ım den ursprüng- lichen Zustand zurückkehren. Wirken die Katalysatoren hingegen physikalisch, etwa durch Bindung oder Abgabe von Wärme, oder dienen sie nur dazu!), das Zeitmfß der chemischen Umsetzung zu bestimmen, also diese zu beschleunigen oder zu verlangsamen, so liefern sie nur die äußeren Bedingungen für das Eintreten und den Verlauf der Reaktion. Mir erscheint die Annahme von Hatschek, dass die verschiedenen Atomgruppen des Generatüls differente 1) Diese Ansicht vertritt W. Ostwald in seinen „Vorlesungen über Natur- philosophie“ 1902 p. 327. XXVl. 34 5530 Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. katalytische Wirkungen auf die Ergatüle ausüben, sehr gewagt und bei der derzeitigen Unsicherheit auf dem Gebiet der feineren enzy- matıschen Prozesse auch verfrüht; aber auf jeden Fall entfernen wir uns damit nicht von dem Boden der Determinantenlehre, denn für diese ist es gleichgültig, ob die Determinante durch Austritt aus dem Keimplasma, oder katalytiısch wirkt. Es sei hier noch auf einen kleinen Widerspruch anderer Art aufmerksam gemacht. Auf p. 12 und 14 wird die generative Sub- stanz als „relativ einfach“ bezeichnet, während wir p. 26 und 27 lesen, dass das „Riesenmolekül“ derselben ganz außerordentlich zusammengesetzt ist, und dass in dieser Beziehung „unseren Vor- stellungen über die Komplexität des Moleküls der allerweiteste Spielraum freisteht“. Meines Erachtens lässt sich nur die letztere Auffassung verteidigen und tatsächlich wird sie ja auch von Hatschek so ausdrücklich betont, dass das „relativ einfach“ wohl als ein lapsus calamı angesehen werden kann. Das Riesenmolekül soll in seiner atomistischen Struktur mehrere engumgrenzte, lokalisierte Ver- änderungen gleichzeitig erleiden können, wodurch dann verschiedene Arten von Ergatülen zu funktionellen Änderungen veranlasst werden. Es ıst klar, dass von einer einfachen Erbmasse keine Mehrheit der Wirkungen ausgehen kann. Deshalb rechnet auch die Determinanten- lehre mit einer Fülle von Vererbungseinheiten. Soll man sich diese bloß als chemische Einheiten im Sinne Hatschek’s, oder als morphologisch und chemisch begrenzte Körperchen vorstellen, wie Weismann und de Vrıes dies annehmen? Ich kann mich nur den letzteren Forschern anschließen, denn erstens rechnet die moderne organische Chemie ebenfalls damit, dass eine stereometrisch differente Anordnung derselben Atome verschiedene Qualitäten be- dingt, und mit dieser räumlichen Betrachtungsweise ist der Über- gang zur morphologischen Auffassung vollzogen. Zweitens ist das Protoplasma bekanntlich eine „historische“ Substanz, welches eine Menge Reminiszenzen aus älterer und jüngerer Zeit mit sich führt. Es scheint mir unmöglich, solche von der Zeit abhängige Werte nur chemisch erklären zu wollen, denn für eine chemische Umsetzung ist es gleichgültig, ob sie schon einmal dagewesen ist oder nicht. Also müssen auch hier morphologische Verhältnisse mit im Spiel sein. Drittens sehen wir, dass in unseren Maschinen, denen doch ebenfalls eine gewisse „Organisation“ zukommt, die verschiedenen Teile aus derselben chemischen Substanz, z. B. in einer Lokomotive aus Eisen, bestehen, aber durch ihre verschiedene Form die einzelnen Leistungen bedingen. Daher kann man auch für das Keimplasma morphologisch differente, aber chemisch vielfach. gleiche Deter- minanten annehmen. Solche Erwägungen werden vermutlich auch für Nägeli maßgebend gewesen sein, als er die Ansicht vertrat, dass die Qualität des Idioplasmas nicht nur chemisch bedingt sei, Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. Ab! sondern von der „Konfiguration“ des Querschnitts der Mizellreihen abhänge. Der letzte Punkt der Hatschek’schen Theorie, welcher hier besprochen werden soll, betrifft den Modus der Übertragung der somatischen Veränderung auf die Keimzellen, also die Frage der Erklärbarkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften. Hatschek ist überzeugt — und ich stimme ihm hierin vollkommen bei —, dass eine solche Übertragung stattfindet, und er weist besonders auf die „Koaptationen“ hin, d.h. auf die zahlreichen harmonischen Umgestaltungen der einzelnen Teile eines sich verändernden Organs, die nach Hatschek unverständlich bleiben, wenn man nur mit einer Selektion blastogener Qualitäten rechnet!). Unser Autor nimmt an, dass die Ergatüle neben ihren Dissimilationsprodukten „kleinste Trümmer oder Splitter“ absondern, die „Ergatine“. Diese üben einen chemischen Reiz aus auf das im Zellkern ihrer Zelle befindliche Generatül und zwar „infolge ähnlicher Atomanordnung ... gerade auf jenen Bezirk des Generatüls...., welcher genetisch für die spezifischen Eigenschaften des Ergatüls bestimmend war, von welchem eben jene Ergatine sich abgespalten haben“ (p. 33). Durch das Blut und die Körpersäfte werden die Ergatine überall hin- geleitet, wobei sie natürlich verdünnt werden, und können somit auch auf denselben Bezirk in den Generatülen der Keimzellen einen gleichsinnigen, wenn auch abgeschwächten Reiz ausüben. Dieses „Prinzip der adaequaten Abänderungen“ ist keineswegs neu. In der unten zitierten Schrift (S. 78) habe ich es ausführlich erörtert, indem ich von der Vorstellung ausging, dass in allen Kernen sich Keimplasma befindet und dass diese Erbmassen durch „Leitungs- bahnen“ irgendwelcher zurzeit nicht bekannter Art untereinander verbunden sind. „Eine somatische Erwerbung ruft daher, wenn sie durch einen hinreichend starken und andauernden Reiz hervor- gerufen wird, eine gleichsinnige Veränderung des genitalen Keim- plasmas hervor, wenngleich natürlich diese Veränderung um so schwächer ausfallen wird, je weniger direkte Leitungsbahnen zwischen dem betreffenden peripheren und dem genitalen Keimplasma exi- stieren. Dauert aber der Reiz auf das Soma durch Generationen an, so muss schließlich die Veränderung im genitalen Keimplasma denselben Grad erreichen, wie er an der Peripherie schon früher erreicht wurde, wobei ich voraussetze, dass das Keimplasma über- haupt nur bis zu einem gewissen Grade auf einen Reiz reagiert, dann aber sich an ihn gewöhnt ... Ich halte es für verfrüht, diese Gedanken im einzelnen weiter auszubauen und zu einer „Vererbungs- 1) Diese Begründung des Prinzips der Vererbung erworbener Eigenschaften halte ich nicht für einwandsfrei; ich gehe aber hier nicht näher darauf ein, sondern verweise auf mein Buch: Die Bedeutung des Darwin’schen Selektionsprinzips und Probleme der Artbildung. Leipzig, Engelmann. 2. Aufl. 1903, p. 788. 34* 539 Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. theorie“ zu erweitern. Dazu sind unsere Kenntnisse auf dem Ge- biete der Vererbung zu lückenhaft. Ich lasse es daher ganz offen, ob das somatische Keimplasma durch den äußeren Reiz in toto verändert wird oder nur in einem Teil, etwa in der Determinante der vom Reiz getroffenen Zellen; ob diese Änderung eine chemische ist oder in einer Umlagerung der Determinanten oder in einem ver- änderten Wachstum besteht. Es genügt die Annahme, dass eigen- artige Schwingungen den Reiz, der-an irgend einer Stelle auf das somatische Keimplasma ausgeübt wird, bis zu den Genitalzellen weiterleiten, sodass er hier eine gleichsinnige, wenn auch ab- seschwächte Veränderung des genitalen Keimplasmas bedingt.“ Diese Vorsicht scheint mir auch jetzt noch geboten. Eine chemische Reizleitung vom Soma zu den Genitalzellen, wie sie erst kürzlich von Rabl!) befürwortet wurde und jetzt wieder von Hatschek angenommen wird, scheint mir aus mehrfachen Gründen schwer verständlich zu sein. Erstens sei an das Galton’sche Experiment erinnert, welcher das Blut von weißen Kaninchen in schwarze einführte, sogar bis zu einem Drittel der Gesamtmenge, ohne dass die Konstanz der schwarzen Rasse dadurch aufgehoben wurde. Welche Fülle von „weißen“ Ergatinen müssen hierbei auf die „schwarzen“ Erga- tüle eingewirkt haben, und trotzdem keine Änderung! Zweitens erweist sich veränderte Ernährung, welche doch die chemische Zu- sammensetzung des Blutes modifiziert, fast ausnahmslos als unwirk- sam für die Vererbung. Fast alle Tiere eines zoologischen Gartens erhalten ein anderes Futter, als sie in der Freiheit gewöhnt sind, und bei manchen ist der Wechsel sogar sehr intensiv, und trotzdem fallen die Nachkommen nicht anders aus als die Eltern. Man denke ferner an die Blattgallen, in denen doch nachweislich ein starker chemischer Reiz die Wucherung des Gewebes veranlasst, ohne dass die ge- ringsten Spuren einer Vererbung zu konstatieren sind. Wie soll es weiter möglich sein, Größenschwankungen der Organe, die doch bei phyletischen Umwandlungen eine bedeutende Rolle spielen, durch Ergatine zu erklären? Ändern sich diese in ihrer chemischen Konstitution, so muss man eine qualitative Änderung des beeinflussten Ergatüls erwarten, aber keine quantitative. Wie soll man es endlich verstehen, dass alle die Hunderte oder Tausende von Ergatinen, welche von den verschiedenartigen Ergatülen produziert werden und sich in derselben Blutflüssigkeit befinden, unverändert neben einander bestehen bleiben und sich nicht gegenseitig chemisch um- setzen. So viele Gedanken, so viele Fragezeichen! Da die Nerven ‚für die Weiterleitung ‚der somatischen a gleichfalls "nicht verantwortlich gemacht werden können, so bleibt meines Er- 1) Vgl. hierzu meine Besprechung der Rabl’schen Schrift: „Über die züchtende Wirkung funktioneller Reize‘“ im Arch. f. Rassenbiologie, Bd. I, p. 446—49. Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. 553 achtens zurzeit nichts anderes übrig als das offene Eingeständnis, dass das „Wie“ der Übertragung erworbener Eigenschaften uns durchaus unverständlich ist. Deshalb wird aber niemand die Be- rechtigung dieser Annahme bestreiten, ebensowenig wie heutzutage ein nur halbwegs orientierter Zoologe die Richtigkeit der Deszendenz- lehre bezweifelt, obwohl über die maßgebenden Faktoren der Evolution noch viel Unklarheit herrscht. Wir können nicht verhindern, dass die Neo-Darwinisten aus jenem Eingeständnis Kapital schlagen, sondern müssen uns vorderhand mit dem theoretischen Nachweis der Möglichkeit einer Reizleitung vom Somä& zu den Keimzellen begnügen. Erstens hängen die sekundären Geschlechtscharaktere vielfach korrelativ von den Keimdrüsen ab, es besteht also eine Reizleitung von diesen zum Soma, woraus zu schließen ist, dass auch der umgekehrte Weg möglich sein muss. Zweitens sprechen, wie ich schon früher betont habe (ibid. p. 82), die Fischer’schen Vererbungsexperimente in hohem Maße dafür, dass identische Deter- ıninanten an der Peripherie des Körpers und im Innern der Keim- zellen gleichsinnig verändert werden können, denn sonst ist nicht zu verstehen, dass die auf die Schmetterlingspuppe einwirkende Kälte in der Flügelanlage und in den Eiern die gleiche Veränderung bewirken kann, sodass die aus diesen Eiern entstehenden Falter dieselbe nur etwas schwächere Aberration zeigen wie die Eltern, obwohl sie als Raupe und Puppe unter normalen Verhältnissen auf- wachsen. In diesem einzigen sicher konstatierten Beispiele einer Vererbung einer experimentell erworbenen Eigenschaft handelt es sich zweifellos nicht um eine chemische, sondern um eine physikalische Reizleitung von der Peripherie des Körpers bis zu den Keimdrüsen, und wenn eine solche für Kälte möglich ist, so ist nicht einzusehen, warum Wärme, Licht und mechanische Reize der verschiedensten Art nicht unter Umständen ebenfalls bei den somatischen und den germinativen Determinanten adaequate Veränderungen bewirken können. Damit soll nicht gesagt sein, dass eine chemische Reiz- leitung für alle Fälle ausgeschlossen ist. Wird ein Ergatin produziert, das sich zwischen all den verschiedenartigen Bestandteilen der Körpersäfte unverändert erhält, so ist anzunehmen, dass die korre- spondierende Determinante durch dasselbe in den Keimzellen adaequat modifiziert wird. Ein solcher Fall wird aber wohl nur selten eintreffen, und daher stimme ich Hatschek nicht zu, wenn er nur für eine chemische Reizleitung eintritt, sondern stehe auf dem Standpunkt, dass, theoretisch betrachtet, eine Übertragung durch physikalische Kräfte ebenso denkbar ist und durch das Experiment sogar gestützt wird. Aber vor allem ist offen zu bekennen, dass über das „Wie“ dieser Übertragung zurzeit nichts Näheres bekannt ist. Aus dem Gesagten geht hervor, dass Hatschek’s Vererbungs- theorie keinen wirklichen theoretischen Fortschritt bedeutet. Neu 534 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. sind an ihr zwei Gedanken, die beide höchst unwahrscheinlich sind: dass erstens die Fähigkeit spezifischer Arbeitsleistungen und des Wachstums (resp. der Teilung) an verschiedene Biomoleküle ge- bunden ist, und dass zweitens die verschiedenen Atomgruppen des Keimplasmas katalytisch das Zellplasma beeinflussen. Aber diese beiden Gedanken sind für das Vererbungsproblem nebensächlich. Im übrigen bewegt sich Hatschek auf denselben Bahnen, wie frühere Theoretiker: die Erbsubstanz befindet sich in allen Körper- zellen, ihre verschiedenen „Bezirke“ üben wie die Determinanten spezifische Wirkungen auf das Plasma der Körperzellen aus, und von letzteren ausgehende Reize bewirken im somatischen und im germinativen Keimplasma gleichsinnige Veränderungen, woraus die Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften erhellt. Es ist also Hatschek keineswegs gelungen, so wie er es in dem Vor- worte ankündigt, die Determinantentheorie zu erschüttern, denn eine Analyse seiner Hypothese zeigt, dass sie selbst durch und durch deterministisch gedacht ist. Es scheint mir überhaupt ein ver- gebliches Bemühen zu sein, diese spekulativen Elemente aus der Biologie zu entfernen, denn die Vererbungslehre kann solche repräsentative Teilchen ebensowenig entbehren wie die Chemie die Atome. Der Gegensatz zwischen Präformation und Epigenese lässt sich heute nicht mehr scharf durchführen, denn eine epigenetische Entwickelung lässt sich nur aufbauen auf einer mehr oder weniger präformierten Grundlage, dem von praexistenten Anlagen erfüllten Keimplasma; ob man diese „Bezirke“, Vererbungseinheiten, Deter- ininanten, Pangene oder sonst irgendwie nennt, ist nebensächlich. Über die Ursachen der Disposition und über Frühsymptome der Raupenkrankheiten. Von Dr. med. E. Fischer in Zürich. (Schluss. ) Außer der abnormen Beschaffenheit der Nahrung dürfte aber bei den Nonnenraupen, was ich betonen möchte, eine Degene- ration infolge der rapiden ungeheuren Vermehrung mitwirken, da sich der Organismus dieser Tiere hierdurch nach kurzer Zeit er- schöpfen wird. Obgleich diese Degeneration bestritten wird, möchte ich sie doch annehmen, weil mit der Nahrungsverderbnis alleın das plötzliche und gänzliche Erlöschen der Nonnenplage nicht er- schöpfend zu erklären ist; denn an der Grenze des vorjährigen Fraßherdes stehen eben doch ganz gesunde Bäume, die einem großen Teile der nächstjährigen Raupen gewiss genügend gesundes Futter bieten würden. Im Innern des Fraßherdes würden die Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 535 Raupen wohl zugrunde gehen, an der Peripherie aber jedes folgende Jahr sich weiter ausdehnen. Der Raupenfraß käme so in großen Wäldern von annähernd gleichem ‚Bestande gar nicht zum Er- löschen, bis der ganze Wald kahl gefressen wäre. Es ist doch auffallend, dass gewisse Falterarten im einen Jahre oft massenhaft auftreten, und ım nächsten wieder fast gänzlich fehlen, als ob sie ausgestorben wären, ohne dass Krankheit oder ungünstige Witte- rung oder Mangel und Verderbnis der Nahrung als Ursache nach- gewiesen werden könnte. Inwieweit Witterungsverhältnisse zur Beseitigung der schädlichen Raupen mitwirken, ist bisher wenig ermittelt, es scheint mir aber eine solche Wirkung nicht geleugnet werden zu dürfen; ich möchte dies wenigstens daraus schließen, dass eine große, bis nach der letzten Häutung zu Hause erzogene Gesellschaft von antiopa- Raupen, die ich im Freien auf 53 Weidensträuche setzte, um sie kurz vor völliger „Reife“ wieder zu holen, nach wenigen Tagen an Flacherie durchweg zugrunde gingen, nachdem sie schon nach den ersten 2 Stunden ihrer Freiheit von einem schweren Gewitter mit ca. 16 Stunden andauerndem starkem Regen und Wind und be- deutendem Temperatursturze überfallen worden waren, während einige zu Hause behaltene Geschwister und ebenso zwei Gesell- schaften von «antiopa-Raupen, die überhaupt in jener Gegend von Anfang an gelebt und nie in Gefangenschaft gewesen, vortrefflich gediehen. Jene verunglückten antiopa-Raupen waren durch die künst- liche Zucht (Domestikation) offenbar etwas verweichlicht, z. T. wohl auch wegen nicht immer völlig frischen Futters disponiert worden. Es reiht sich hieran gleich die Erörterung über die fast rätsel- hafte Erscheinung, dass die Flacherie in der freien Natur nicht nur — und vorwiegend — in nassen Sommern, sondern auch in recht heißen und trockenen vorkommt. Standfuß hat in Anlehnung an die Äußerung Maillot’s an- genommen, dass die Seuche in nassen Jahrgängen deshalb besonders stark auftrete, weil durch die Feuchtigkeit und Nässe viel orga- nisches Leben zugrunde gehe und Fäulnisprodukte liefere die dazu noch durch jene leicht: verbreitet würden, dass dann durch Auf- nahme dieser Fäulnisprodukte mit der Nahrung etwa durch einen daraus folgenden Darmkatarrh oder Ähnliches bei den Raupen eine Prädisposition für die Infektion geschaffen werden könne, nicht aber die Infektion selbst mit Flacherie, oder irgendeiner ver- wandten Krankheit, denn diese hätten ihre spezifischen bakteriellen Träger. Meine experimentellen Untersuchungen sprechen kaum für eine solche Auffassung; dass Fäulnisstoffe aufgenommen werden 536 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. und etwa zu Katarrh führen, ist sehr fraglich, jedenfalls ıst dieser Vorgang durch Maillot nicht einwandfrei bewiesen und sie würde für das Auftreten der Seuche in regenarmen Sommern so ziemlich versagen, wie denn auch für diesen letztern Fall bisher keine Er- klärung gegeben oder auch nur versucht wurde. Fäulnisprodukte würden indessen ohne Ausnahme mit den sie bewirkenden Fäulnis- bakterien massenhaft durchsetzt sein; aber bei.der Flacherie sind Fäulnis und Fäulnisbakterien weder im Darme noch ım Blute bestimmt nachgewiesen worden, auch erinnert der Flacheriegeruch, wie schon oben bemerkt, nicht an Fäulnıs. Die genannten Fälle sind vielmehr darauf zurückzuführen, dass bestimmte Pflanzen in nassen Sommern durch fortwährend zu starke Benetzung der Blätter mit Regen und dadurch behinderte Transpiration, sowie infolge zu starker Durchtränkung des Bodens mit Wasser und dadurch bedingte Schädigung der Wurzeln und auch durch anhaltend starke Wasseraufnahme eine Stoffwechsel- abnormität, zum mindesten eine chemische Veränderung der Blätter er- fahren, wie wir sie beim Kontrollversuche mit eingefrischten Pflanzen- stengeln in kurzer Zeit entstehen sahen. Andererseits werden in heißen Jahrgängen durch starke Austrocknung die Blätter er- fahrungsgemäß ebenfalls geschädigt; nur kommt es dabei vor, dass die mehr trockene Nahrung die Entwickelung der Raupe zur Puppe wesentlich beschleunigt; was ich bei antiopa, polychloros, zantho- melas, cardui u. a. wiederholt beobachten konnte. Auch aus der Pflanzenwelt ist es bekannt, dass Trockenheit, wenn nicht zu extrem, die Reifung beschleunigt, aber dabei das Wachstum, d.h. die Massenzunahme des Individuums beeinträchtigt. Durch die schnellere Entwiekelung entgehen aber viele Raupen der Infektion, denn je länger jene dauert, desto größer ist für eine bestimmte Art das Risiko, was gleichfalls bei den Raupenzuchten zu kon- statieren ıist?). Alexander Schmidt berichtet, dass die sogen. Wipfelkrank- heit der Nonnenraupe nicht besonders durch nasskalte, sondern durch trockene Witterung gefördert wurde. Aber hier liegt m. E. ein ganz besonderer Fall, eine Ausnahme eigentümlicher Art vor, denn bei dem massenhaften Beisammensein der Raupen und der Nährpflanzen im dichten Nadelholzwalde kann hier in der Trockenheit nicht der Veranlasser der Infektionskrankheit erblickt werden, weil bei der sehr gleichmäßig bleibenden Feuchtigkeit des Waldbodens eine Schädigung der Pflanzen durch Trockenheit kaum stattfinden kann; diese letztere dient nur dazu, bereits aus 1) Für die schädigende Wirkung sowohl nasser als trockener Witterung für Pflanzen ist auch die allzubekannte Tatsache beweisend, dass Topfpflanzen ihre Blätter verändern, selbst wenn sie nur ganz kurze Zeit zu nass oder zu trocken ge- halten werden. Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 537 anderen Gründen än Flacherie verendete Raupen alsbald zum Ver- trocknen zu bringen und damit zu einer raschen Verbreitung der Seuche durch Verwehen der zerfallenen und verstäubten Raupen- leichen resp. der darin enthaltenen Infektionskeime zu führen. Dies stimmt ausgezeichnet mit der von Schmidt, Henschel u.a. gemachten Beobachtung überein, dass die Flacherie, sobald sie einmal ausgebrochen, in der Richtung des dann gerade herrschenden Windes in ganz auffallender Weise fortschritt. Wäre durch Trocken- heit verdorbene Nahrung die Ursache gewesen, so hätte die Krank- heit auch in der dem Winde entgegengesetzten Richtung sich ebensogut und rasch ausdehnen und überhaupt oftmals schon im ersten Fraßjahre auftreten müssen. Selbstverständlich sind alle diese Momente je nach Pflanzen- und Raupenart, je nach Zeit, Standort u. dgl. mehr erheblichen Schwankungen unterworfen. Für solche Fälle, wo große Raupenmengen sich an- häufen, nimmt Standfuß zwei disponierende Momente an; erstens das Vorhandensein einer großen Menge schwächlicher Individuen, die der Seuche gute Angriffspunkte bieten und ihr zuerst anheim- fallen und von denen sie dann auch auf die kräftigen Stücke über- gehe; zweitens die bereits erwähnte, übrigens auch in der Land- wirtschaft schon längst bekannte Erscheinung, dass das starke Abweiden der Blätter durch Raupen eine Störung und dadurch ein Verkümmern der Laubsprosse im nächsten Jahre mit sich bringt. Der schlechte oder sogar ausbleibende Nachwuchs der Blätter als Folgeerscheinung des starken Abweidens oder gar des Kahlfraßes ist z. B. bei der Nonnenraupenkalamität wiederholt von mehreren Be- obachtern festgestellt und namentlich wieder in den Jahren 1889/91, wo sie in verschiedenen Gegenden Deutschlands verheerend sich einstellte, als die Ursache des Verkümmerns vieler Raupenindividuen und der kommenden Flacherie erkannt worden. Man war damit, nachdem man Jahrzehnte lang geglaubt, aktiv eingreifen und einen Krieg gegen Eier, Raupen, Puppen und Falter führen zu müssen, schließlich wieder zu einer Ansicht gelangt, die, wie Dorrer ın seiner gediegenen Abhandlung über die Nonnenraupe anführt, be- . reits im Jahre 1840 Forstmeister v. Fromme geäußert hatte, dass nämlich die Nonnenraupen durch ihr massenhaftes Auftreten und das damit verbundene Kahlfressen der Bäume sich selbst den Tod bringen, indem die Bäume im nächsten Jahre sich dürftig und z. T. gar nicht mehr belauben und so den Raupen den Untergang be- reiten. v. Fromme hatte sogar den Vorschlag gemacht, so bald als möglich eine Anzahl Bäume ringförmig zu entrinden und damit zum Abwelken zu bringen, um den Raupen eine möglichst unzu- längliche Nahrung zu bieten. Er war von seinem Standpunkte aus folgerichtig zu der gewiss auffallenden Ansicht gelangt, dass 538 Fischer, Über Ursachen .d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. alles Eier- und Puppensammeln und Raupentöten gar nichts nütze, eher schade, und höchstens dazu dienen könne, den übrig bleiben- den, immerhin doch noch °/,, betragenden Raupen eine bessere Existenz zu verschaffen und dem Insekt damit Vorschub zu leisten. Er hatte denn auch das Ende der Raupen kommen sehen und schrieb im Sommer 1840: „Die ältesten Raupen scheinen krank zu sein, sie werden grün, schwellen auf; — — —. „Wie es vom Forstamt vorhergesehen worden, ist es gegangen. Im Innern des befallenen Waldkomplexes ist zuerst Hungersnot eingetreten und es sind Milliarden von Raupen gestorben, Millionen sterben täglich. Es ist ein weites wüstes Grab.“ — Im Sommer 1841 war dort keine Nonnenraupe mehr zu finden, denn was die Flacherie etwa noch verschonte, war im gleichen Jahre noch durch die an Zahl rasch gestiegenen Raupenschmarotzer (Ichneumonen- und Fliegen- larven) vernichtet worden. v. Fromme hatte zwar zu jener Zeit nicht an Bakterienkrank- heit gedacht, sondern das Absterben der Raupen als Verhungern aufgefasst; es handelte sich aber ohne allen Zweifel um Flacherie und er hat den ätiologischen Zusammenhang doch ziemlich richtig erkannt. Es ist überhaupt seit v. Fromme über die Nonnen- raupenfrage nichts eigentlich Neues, nichts Besseres mehr be- obachtet, gedacht und gesagt worden. Es kommen denn auch seine Ansichten, sowie die übrigen hier soeben angeführten den meinigen, auf experimentellem Wege gewonnenen, sehr nahe; um so auffallender muss es darum erscheinen, dass man seither trotz- dem immer wieder daran vorbeiging, ohne hier die eigentliche Ur- sache der Seuche zu erkennen; wie mir scheint deshalb, weil man in neuerer Zeit zu sehr von der bakteriologischen Auffassung be- herrscht war, und die schlechte Nahrung bloß für einen mit- wirkenden Faktor hielt und diesen auch nur für die genannten Fälle eines massenhaften Auftretens der Raupen glaubte an- nehmen zu dürfen, in der künstlichen Zucht dagegen nicht, denn jene Auffassung konnte in dieser deshalb keine Anwendung und Bestätigung finden, weil bei künstlicher Zucht nicht von ver- kümmerten Futtersprossen gesprochen werden kann, denn hier wurde und wird doch ziemlich regelmäßig mindestens alle 2 Tage frisches und meist noch ausgesucht schönes Futter den Raupen gereicht. Tatsächlich ist denn auch bis zur Gegenwart die eigent- liche Ursache der Flacherie unbekannt geblieben und zum mindesten kein Verhalten genannt worden, durch welches sie bestimmt künst- lich erzeugt, resp. verhindert werden könnte. Man blieb nach wie vor auf Geratewohl und blinden Zufall angewiesen und wenn die Seuche ausbrach, so rief man die Desinfektion zu Hilfe. Ich glaube aber auch, dass ich ohne die Wahrnehmung des Geruches als Früh- symptom kaum zur Auffindung der Dispositionsursache gelangt wäre. Fischer, Über Ursachen d. Disposition u, F rühsymptome d. Raupenkrankheiten,. 539 Es wird nun fernerhin auch nicht mehr verwundern, wenn selbst ganz gesunde, soeben aus der Natur hereingenommene Raupen im Zuchtkasten alsbald an Flacherie erkranken und ihr erliegen. Es lag hier bisher eine Täuschung vor, weil man glaubte, solchen Raupen gute Verhältnisse, bessere sogar als die in der Natur draußen, zu bieten, während dies, soweit es den wichtigsten Faktor für die lediglich zum Fressen und Wachsen geborene Raupe, die Nahrung, betrifft, gar nicht der Fall ist, wie unsere Experimente und verschiedene Beobachtungen dargetan haben; die Disposition, oder wie man die Schädigung nennen will, kann sich nachgewiesenermaßen eben sofort ausbilden. Außerdem ist daran zu erinnern, dass einige Raupenarten sehr schwer bei künstlicher Zucht gedeihen und sogar leicht zugrunde gehen, ohne dass in diesen speziellen Fällen die Nahrung oder Infektion als Ursache nachweisbar wäre. Da dürfte, wie mir scheint, die Annahme gar nicht unzutreffend sein, dass die Domestikation überhaupt, wenn nicht allen, so doch sehr vielen Raupenarten Nachteile bringt; es fehlen z. T. die natürlichen Lebensverhältnisse, was auf viele Arten schlecht zu wirken scheint, und’ dazu kommt dann stets noch die künstlich verminderte Qualität der Nahrung mit ihrer heimtückischen Wirkung. Ich gebe ohne weiteres zu, dass manche Art in der Zucht sehr gut gedeiht und ausnehmend große Falter ergibt, sogar größer als im Freien, aber diese Größe und Massenzunahme des Körpers beweist gar nichts für die Widerstandsfähigkeit; es geht dies aus der Tatsache hervor, dass bei Weiterzucht solcher domestizierter Raupen bald Krankheiten eintreten und zum Erlöschen der Nach- kommen führen. Für alle derartigen Fälle scheint man nun zwar nie etwas anderes als die viel verpönte Inzucht verantwortlich machen zu wollen und zu können. Namentlich Standfuß hat die Inzucht wiederholt schwer an- geklagt, zumal als in hohem Grade disponierend für die Entstehung der Pebrine; er bezieht sich dabei zur Erhärtung seiner Ansicht auch auf die in der Medizin viel behandelten „bedenklichen Folgen fortgesetzter Heirat zwischen hlutverwandten Familien“. Ich konnte der Verdammung der Inzucht in diesem Sinne und Maße von jeher nicht beistimmen; gerade die Pebrine beweist eher das Gegenteil, denn sie ist eine parasitäre Krankheit, bei der der Parasit sich in den Eiern vorfindet und so immer wieder auf die nächste Gene- ration sich überträgt und dieselbe schwächt. Wäre die Inzucht als solche so gefährlich und die Ursache der Pebrine, so würde durch Kontrollierung der Seidenspinnereier auf Pebrinekörperchen und durch Ausschluss der damit behafteten von der Weiterzucht 5,40 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. die Pebrine gleichwohl nicht verhütet werden können. Hier ist aber keineswegs die Inzucht, genauer gesagt, die Verwandtschaft des Blutes als solche, die Abstammung von unter sich gepaarten Ge- schwistern, als Ursache einer Degeneration und Krankheitsdisposition nachgewiesen. Mit viel mehr Berechtigung könnte man doch wohl die beobachteten schlimmen Folgen zum großen Teil als eine rapide Steigerung der Domestikationsschäden deuten, die bei den Raupen, wie hier nachgewiesen, in erster Linie durch falsche Ernährung erzeugt werden und oft ganz schleichend die Gesundheit der Raupen untergraben. Wenn selbst bei einmaliger täglicher Erneuerung der Nahrung schon lebensgefährliche Veränderungen im Raupenkörper erzeugt werden, obgleich dabei die Raupen groß und üppig sind, so können auch Arten, die zufolge besonderer Anpassung auch qualitativ geringeres Futter vertragen und bei deren Zucht es nicht eingefrischt wird, wie z. B. Löwenzahn, Salat, Gräser etec., von den Nachteilen einer solchen Nahrung auf die Dauer doch gewiss nicht unberührt bleiben. — Was weiter die in der medı- zinischen Wissenschaft viel genannten Beispiele betrifft, so ist ihre Zahl nach kritischer Prüfung erheblich zusammengeschrumpft, und sie ließen sich z. T. anders erklären, denn auch beim Menschen hat durchaus nicht so häufig der Umstand, dass die Eltern ver- wandten Blutes waren, zur Entartung und zum Rückgang geführt, sondern weil bei solchen Heiraten eine abnorme Beanlagung oder eine Neigung zu irgendeiner Krankheit, die zufällig, gerade so wie bei nicht Blutverwandten auftritt, sich viel rapider und einseitiger steigert, da beide Teile zufolge gemeinsamer Abstammung meistens in gleicher abnormer Richtung tendieren, und in erster Linie von dieser Auffassung aus kann darum das Verbot blutverwandter Ehen als berechtigt und notwendig erscheinen. — Umgekehrt sehen wir doch häufig genug Entartung eintreten, wenn ähnlich oder gar gleich abnorm veranlagte Personen sich fortpflanzen, selbst wenn sie nichts weniger als blutverwandt sind. Man wird darum auch den Ausführungen von Schiller Tietz, der als scharfer Gegner der Inzucht diese Frage behandelte, nicht durchweg beistimmen können, denn es ist gerade bemerkenswert, dass Tietz schließlich u. a. zu der Annahme gedrängt wird, dass gleiche äußere oder innere Schädlichkeiten, und namentlich eine . immer gleich bleibende stille Lebensweise für Menschen und Tiere gefährlich werden kann, wenn eben die Individuen lange unter dieser Eintönigkeit bleiben und sich unter derselben fortpflanzen. Kohlwey hat gleichfalls auf dergleichen äußere Umstände hin- gewiesen, die bei unzweckmäßiger Anwendung der Inzucht die domestizierten Tiere schwächen und dadurch eine Schädlichkeit der Blutverwandtschaft als solcher vortäuschen können. Diese Ein- seitigkeit der Lebensweise vermindert offenbar wegen des Weg- Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 541 falls zahlreicher lebenswichtiger und lebensreizender Faktoren die Regenerationsfähigkeit des Organismus; das ewige Einerlei führt nach und nach zu einer physiologischen Versimpelung, während die nötige Abwechslung, die eben meistens viel nötiger ist, als man glaubt, aber gleichwohl nicht extrem werden darf, die Regeneration erhöht. Es ist darum auch gar nicht gesagt und keineswegs aus- reichend bewiesen, dass man nicht ohne Nachteil bei Tieren In- zucht walten lassen könnte, wenn ‘den Tieren stets die nötige Ab- wechslung in ihren gesamten Lebensbedingungen geboten würde. Um von den vielen Belegen für die umstimmende und auffrischende Wirkung der Abwechslung aus der medizinischen Wissenschaft nur einen anzudeuten, so denke man an die oft beobachtete rasche Heilung von Chlorose nach vorgenommenem Ortswechsel, selbst in Fällen, wo die Lebensverhältnisse dabei notorisch „schlechtere“ waren’ als vorher. Im Anschlusse an das Dargelegte wird nun eine kurze Er- wägung über die Tragweite der Disposition und der Infektion, oder, was hier, praktisch genommen, dasselbe bedeuten wird, über Ernährung und Desinfektion notwendig sein. Unsere Unter- suchungen bei der Zucht sowohl wie bei den im Freien zumal massenhaft lebenden Raupen haben zunächst für die Flacherie als eine im höchsten Grade bösartige Krankheit den Nachweis erbracht, dass die Disposition die Bakterieninvasion an Bedeutung bei weitem übertrifft. Die Disposition ist die Hauptursache der infektiösen Erkrankung, die Bakterien sind etwas erst sekundär Hinzukommendes, das den letalen Ausgang herbeiführen kann. Die Disposition selber erwies sich nicht als etwas Unbestimm- bares, sondern ließ sich mit Sicherheit auf gewisse äußere Faktoren ursächlich zurückführen, die sie oft überraschend schnell erzeugen. Als den disponierenden Faktor konnten wir durch entsprechende Kontrollexperimente eine Minderwertigkeit der Nahrung nachweisen, die bei den Raupen eine rasch auftretende Stoff- wechselstörung, ich möchte fast sagen eine akute Degene- ration erzeugt, welche den Bakterien sofort einen günstigen Nähr- boden bereitet. Mit dem Nachweise dieses Zusammenhanges ist somit hier die Frage der Infektionskrankheit zu einer reinen Ernährungsfrage geworden. Es gilt dies nicht bloß für die durch Bakterien aus- gelöste Flacheriekrankheit, sondern allem Anscheine nach auch für das durch Parasiten (Nosema bombyeis und Microsporidium polyedri- cam) erzeugte Siechtum, wie uns die jasius-Raupen zeigten, denn die minderwertige Nahrung setzt nicht nur die Vitalität der Körper- gewebe herab, sondern stört auch den Verdauungsprozess, die Magendarmfunktion, an sich, weshalb mitunter bei der Gelbsucht sogar Durchfall sich zeigt. Damit wird den Parasiten das Vege- 549 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. tieren im Magendarmkanal und sodann das Eindringen in die Körpergewebe und eine starke Vermehrung in denselben möglich gemacht. Bestünde nicht dieser Zusammenhang, so hätte die ver- besserte Ernährung die Gelbsucht bei jasizs nicht einer Besserung und sogar Ausheilung entgegenführen können. Sollte bei der nicht vollwertigen Nahrung noch eine erhöhte Azidität der Blätter, wie Suzuki sie bei seinen Untersuchungen fand, mitwirken, so würde dadurch die Alkaleszenz des Magensaftes der Raupe auch direkt abgestumpft, was ein weiteres höchst be- achtenswertes Moment bilden würde, denn nach Verson’s und Bolle’s Feststellungen hat der normale, stark alkalische Magensaft der Raupe die Fähigkeit, sogar polyedrische Körperchen, die z. B. gegen Desinfektionsmittel sehr widerstandsfähig sich erwiesen, sofort abzutöten. — Es scheinen mir diese Ergebnisse noch deshalb von besonderem Werte zu sein, weil hier nicht mit künstlicher Infektion (Verfütte- rung von Mikroorganismen oder Impfung) operiert und keine ab- norme, unnatürliche Schädigung der Raupen erzeugt wurde, um sie absichtlich empfänglich zu machen (z. B. durch Verletzung oder künstliche Abkühlung u. dgl.), sondern weil die Krankheit in ihrer ganz natürlichen Entstehung und Weiterentwickelung untersucht wurde. Trotz all dem hier Vorgebrachten wird man aber nicht voreilig auf die Meinung verfallen dürfen, dass den Bakterien eigentlich keine Bedeutung für die Flacherie und etwa verwandte Krank- heiten beizumessen sei, dass somit auch die Desinfektion zur Spielerei werde und meine heutigen Ansichten mit denjenigen in Widerspruch stünden, die ich 1898 bei Empfehlung meiner Formal- indesinfektionsmethode entwickelte. Ein solcher Widerspruch be- steht sicher nicht. Ich betrachtete schon damals die Infektions- keime nicht als die einzige und alleinige Krankheitsursache, die mit der Desinfektion aus der Welt geschafft werden könnte, sondern sprach auch der Disposition „eine tiefgreifende Bedeutung“ zu, musste aber bekennen, dass wir leider noch keine Wege kennen, um das Zustandekommen der Disposition zu vermeiden,‘ die selbst bei sorgfältiger Aufzucht der Raupen nicht immer zu verhindern sei und offenbar durch „Stoffwechsel- oder Ernährungsstörungen“ erzeugt werde, wofür uns aber jedwede nähere Kenntnis bei dem Dunkel, in dem die physiologische und pathologische Chemie des Raupenkörpers noch liege, vorläufig gänzlich fehle und uns somit zunächst nichts anderes übrig bleibe, als bei der anderen Haupt- ursache, den Mikroorganismen, den Hebel anzusetzen. — Diese damaligen Ausführungen decken sich also durchaus mit meinen heutigen. Nur insofern wird eine Berichtigung anzubringen sein, als ich den Bakterien der Flacherie und Muscardine wohl eine Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. 543 allzu aggressive Kraft zuschrieb. Es erweckte eben stets diese Vorstellung, wenn ganz gesunde Raupen ohne sichtbare Veranlassung rasch erkrankten und starben; man konnte sich nicht denken, wie und wodurch nun so schnell eine Disposition entstanden sein sollte. Heute aber sind wir durch die vorgelegten Untersuchungen dahin belehrt, dass ohne Disposition die Infektion nicht zustande kommen kann und dass die Disposition selber durch eine nicht vollwertige Nahrung oft sehr rasch erzeugt wird. Die Desinfektion wird darum doch noch einen Wert für den Züchter beibehalten, weil bei Raupenzuchten geringere oder höhere Grade der Disposition dann und wann eintreten können trotz aller Um- und Vorsicht. Irgendwelche ungünstige Ab- weichungen in der Qualität der Nahrung sind gewiss nicht immer zu vermeiden (wenn sie auch bei Befolgung des hier vorgezeigten Weges nunmehr zielbewusst außerordentlich vermindert werden können), und sollte die Disposition einmal doch einen erheblichen Grad erreichen, so könnten die Bakterien ihr Werk beginnen. Es ist übrigens nicht zu vergessen, dass die Bakterien, wenn sie einmal in einer Anzahl stark disponierter Raupen Platz ergriffen und sich vermehrt haben, rasch an Virulenz gewinnen können und demzufolge alsdann auch weniger disponierte zu befallen vermögen. Bei der BR oneuchı muss daher der Züchter die Bee in der Umgebung der Raupen möglichst zu schwächen und zu ver- nichten, aber sie auch durch Vorsicht gegenüber allfälliger Ein- schleppungsmöglichkeit fernzuhalten suchen, um ein irgendwie zahl-: reiches Eindringen derselben in die Raupen zu verhindern. Es ist nach Anwendung der Desinfektion nicht so sehr zu befürchten, dass dann etwa an Stelle der durch die Desinfektion verhüteten Flacherie eine andere Krankheit als . „Ersatz“ auftreten werde, vorausgesetzt natürlich, dass die Raupen nicht schon mit Pebrine- erregern besetzt sind oder durch fortgesetzt qualitativ unzureichende Nahrung nicht eine hohe Steigerung des labilen Zustandes und damit schließlich Darmkatarıh oder gar ein förmliches Siechtum und Zerfall des Raupenkörpers provoziert wird. Im Gegensatze zu diesem Vorgehen als einem Verhindern der Flacherie durch Mitwirkung der Desinfektion, womit indessen unter keinen Umständen einer Vernachlässigung der Ernährung Vorschub geleistet werden will und soll, würde zur Vernichtung der Nonnenraupen die künstliche Herbeiführung der Flacherie durch absichtliche Verschlechterung der Nahrung in Erwägung zu ziehen sein, denn es ist eine immer und immer wieder gemachte Erfahrung, dass nur die Flacherie helfen kann und zwar mit einer Schnellig- keit und Gründlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt, während alle menschlichen Maßnahmen, alle Mittel und Kunstgriffe rein nichts nützen, selbst das massenhafte Vertilgen nicht, wie schon 544 Fischer, Über Ursachen d. Disposition u. Frühsymptome d. Raupenkrankheiten. daraus hervorgmg, dass z. B. im Gebiete Weingarten befallene Waldbäume gefällt und daran ca. 4300 tote Puppen gesammelt wurden, wodurch 6760000 Puppen und damit etwa 405000000 Raupen der nächsten Generation zum voraus vernichtet wurden; das half absolut nichts! Es ist darum vollkommen begreiflich, dass ım neuerer Zeit wiederholt künstliche Infektionen der Nonnenraupen mit Kulturen der Flacheriebazillen !) versucht wurden; dies war aber jeweilen erst möglich, wenn die Seuche irgendwo schon ausgebrochen war und Infektionsmaterial daselbst entnommen werden konnte, also erst im dritten, seltener schon ım zweiten Fraßjahre. Es erschien aber wünschenswert, möglichst frühzeitig die Krankheit hervorrufen zu können. Zu diesem Zwecke aufbewahrte Bazillenkulturen erwiesen sich indessen als abgeschwächt, so dass ihre Wirkung keine ge- nügende mehr war; auch sonst scheint die künstliche Infektion aus demselben Grunde nicht immer zu gelingen. | Wenn es erlaubt ist, aus unseren experimentellen Versuchen eine Methode der künstlichen Infektion abzuleiten, so würden wir offenbar dahin gewiesen, die Flacherie nicht durch Stichinfektion und überhaupt nicht durch Bakterienübertragung, sondern auf. dem natürlichen Wege der Disposition einzuleiten, d. h. einige hundert halberwachsene Nonnenraupen zu sammeln, mit in Wasser einge- stelltem und nur etwa alle 3—4 Tage erneuertem Futter zu ver- sehen und nach Eintritt der ersten Flacherietodesfälle die über- lebenden Raupen unter Berücksichtigung des etwa herrschenden Windes sofort im befallenen Waldgebiete auf ziemlich engem Raume auszusetzen, um einen möglichst starken Infektionsherd zu erzeugen. Von der Annahme ausgehend, dass ın diesen schlecht ernährten Raupen die Bakterien eine erhöhte Virulenz gewinnen würden und die „gesunden“, bei denen eine, wenn auch geringgradige Disposition etwa nach extremen Witterungstagen vorhanden sein dürfte, anzu- stecken vermöchten, würde dieser einfache, von Forstbeamten aus- zuführende Probeversuch, der allein entscheiden könnte, sich doch wohl lohnen. 1) Es scheint nicht nur eine, sondern mehrere Bazillenarten zu geben, die sich an der Flacherie beteiligen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. &oebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. XXVI.Bd. 15. August 1906. Ne 17 u. 18. Inhalt: Grofs, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation (Schluss). — Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen und Termitensästen. — v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben und der Schuppenformen während der Puppenentwickelung von Papilio podalirius. — Die Veränderung der Schuppenformen durch äufsere Einflüsse. — Denker, Die Membrana basilaris im Papageienohr und die Helmholtz’sche Resonanztheorie. Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Von Dr. J. Grofs. (Aus dem zoologischen Institut zu Gießen.) (Schluss.) Die eben besprochenen Fälle unterscheiden sich also, wenn meine Schlüsse richtig sind, von den Mendel’schen nur durch einen, allerdings wesentlichen, Zug. Wie bei jenen sind die Ide beider Formen gegeneinander exklusiv. Dagegen haben sie sich noch vollkommene oder fast voll- kommene gegenseitige Affinität bewahrt; sie können gegeneinander ausgetauscht werden. So entstehen immer neue Kombinationen. Es kommt nie zur Bildung reiner Gameten. Die Spaltung vollzieht sich deshalb nicht in ganz bestimmten einfachen Zahlengesetzen. Von den Varietäten, die, mit der Stammform oder untereinander gekreuzt, intermediäre Bastarde ergeben, unterscheiden sie sich dagegen durch die Exklusivität der Determi- nanten oder Ide. Sie nehmen also eine Mittelstellung ein zwischen Varietäten und Mendel’schen Fällen. De Vries will im Gegenteil seine progressiven Mutanten als die stärker ab- XXVI 35 546 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. l geänderten Formen auffassen. In den Mendel’schen Fällen soll die Zahl der Anlagen im Keimplasma bei den Mutanten dieselbe sein wie bei der Stammform. Nur sollen sich die Anlagen eines Merkmalspaares in beiden Formen verschieden verhalten. Die progressiven Mutanten sollen dagegen eine neue Anlage enthalten, für die sich in der Stammform kein Partner vorfindet. Aber eine ausreichende Erklärung für die Vererbungserscheinungen der progressiven Mutanten lässt sıch aus seiner Annahme nicht ge- winnen. Ich glaube deshalb, dass meine viel einfachere Hypothese der de Vries’schen überlegen ist. Sie hat außerdem den Vorzug, dass sie nicht mit so komplizierten Begriffen, wie „aktive“ und „latente“, „semiaktive* und „semilatente* Anlagen zu operieren braucht, über die wir doch gänzlich ım unklaren sind. Was wir tatsächlich beobachten, ist nicht das Latentwerden von Pangenen oder Determinanten, sondern von Eigenschaften des Soma. Und die Grundlage hierfür im Keimplasma fand ich in Übereinstimmung mut Weismann (1892) ın den Zahlenverhältnissen der Ide. Es ist überhaupt interessant zu sehen, zu wie verschiedenen Resultaten die beiden parallel nebeneinander hergehenden Keimplasmatheorien, de Vries’ Theorie der intrazellulären Pangenesis und W eismann’s Determinantenlehre, schließlich gelangt sind. Ihr prinzipieller Unter- schied beruht darin, dass Weismann von morphologischen Ge- sichtspunkten ausgegangen ist, de Vries ‚dagegen von physio- logischen — denn als physiologische Einheiten bezeichnet er aus- drücklich seine Pangene. Ich glaube, wir dürfen sagen, dass in diesem speziellen Falle die Morphologie mehr und Besseres geleistet hat, als ihre Schwesterdisziplin. Das braucht uns aber auch nicht zu wundern. Denn von der Morphologie des Keimplasmas wissen wir immerhin doch schon etwas, seine Physiologie ist uns dagegen noch vollkommen rätselhaft. Dass Weismann mit seimer Theorie der Wahrheit näher ge- kommen ist, als sem Rivale, lässt sich noch in einer Frage von der größten Bedeutung zeigen. Bekanntlich hat er mit Darwin immer daran festgehalten, dass die ganze phylogenetische Ent- wickelung der organischen Welt vor sich gegangen ist durch Summierung ganz allmählicher, kleiner Veränderungen, also durch fluktuierende Variation unter der Herrschaft der Naturzüchtung. De Vries sieht dagegen gerade in den sprungweisen Abänderungen das alleinige Material für die Evolution. Das ıst bekanntlich der Kernpunkt seiner Mu- tationstheorie (1903a) Das Werk erregte bei seinem Erscheinen großes und zweifellos berechtigtes Aufsehen in der wissenschaft- lichen Welt. Weismann (1902) sagt selbst, dass er selten im Buch mit so großem Interesse gelesen habe. Und bei manchen Forschern fand die Theorie ungeteilte Zustimmung. Durch über- Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 547 aus zahlreiche, jahrelang planmäßig betriebene Züchtungsversuche schienen hier Tatsachen bewiesen zu sein, die manche Schwierig- keiten der Deszendenzlehre zu beseitigen versprachen. Gleichzeitig schien den Ansichten einiger älterer Forscher, die lange unbeachtet geblieben waren, jetzt der Sieg zufallen zu müssen. Schon Koelliker’s (1864) Theorie der heterogenen Zeugung suchte die Entstehung der Arten durch sprungweise Variationen zu erklären. Und in ähnlicher Weise hatte sich später Emery (1893) ausge- sprochen. Auch Bateson (1894) glaubte aus zahlreichen Unter- suchungen über die Variabilität schließen zu müssen, dass nicht die kontinuierliche, sondern die diskontinuierliche Variation das eigent- liche Agens der Entwickelung sei. Und noch ganz kurz vor de Vries hatte der russische, inzwischen verstorbene, Botaniker Kor- schinsky (1899) im seiner ebenfalls auf Zuchtexperimente mit Pflanzen gestützten Theorie der „Heterogenesis“ ganz ähnliche Gedanken ausgesprochen wie de Vries. Durch zweierlei schien sich die Mutationstheorie als Erklärungsprinzip für die Deszendenz- lehre zu empfehlen. Da die, für sie hauptsächlich ın Betracht kommenden Abänderungen immer gleich solche größeren Betrages sind, glaubte man bei ihrer Annahme mit kürzeren geologischen Zeiträumen auszukommen zu können, als sie die allmähliche fluk- tuierende Variabilität erfordert. Da ferner die Mutanten mit der Stammform nie intermediäre Bastarde ergeben, so können die neuen Charaktere auch nie durch Kreuzung wieder ausgelöscht werden, sondern müssen sich konstant weiter erhalten. Auch das schien ein entscheidender Vorzug der Mutationstheorie zu sein. Doch hat es auch nicht an Gegnern der neuen Lehren gefehlt. Weismann (1902) lehnt sie entschieden ab. Auch Plate (1903 und 1904) hat sie wiederholt bekämpft. Und Schröder (1904) will ihre Geltung wenigstens auf wenige Fälle beschränkt wissen. Zu den zahlreichen Einwänden der genannten Autoren möchte ich zwei neue hinzufügen, die, wie mir scheint, von entscheidender Bedeutung sind. Der erste betrifft die Länge der für die Ent- wickelung nötigen geologischen Zeiträume. Es ist ein Trug- schluss, dass gerade in diesem Punkt die Mutationstheorie eine besondere Stärke zeige. Für die relativ einfach organisierten Pflanzen, die de Vries allerdings wohl in erster Linie im Auge gehabt hat, mag seine Berechnung allerdings zutreffen. Fassen wir aber höhere Tiere, etwa einen Vogel oder ein Insekt ins Auge, vergegenwärtigen wir uns die ganze Stufenleiter von niederen Typen, die diese hoch entwickelten Klassen im Laufe der Stammesgeschichte durchlaufen haben, und beschränken wir unsere Untersuchung nicht auf die äußeren Kennzeichen, sondern betrachten wir den ganzen inneren Bau mit seinen komplizierten Organsystemen; so kommen wir mit IH 35” 548 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 6000 Eigenschaften und ähnlichen Zahlen, wie de Vries sie an- führt, wohl sicher nicht aus. Dabei müssen wir bedenken, dass Mutationen ja keineswegs beständig zur Verfügung stehen, wie es die fluktuierenden Be cnten tun, sondern immer nur selten, nach langen Intervallen in besonderen „Mutationsperioden“ auf- treten. Selbst wenn wir, wie de Vries in seinem Beispiel, auf je vier Jahrtausende eine solche Periode ansetzen, müssen wir für die Entstehung hochorganısierte Tierstämme ganz enorme Zeiträume zur Verfügung haben. Ein viel wichtigeres Argument gegen die Mutationstheorie lässt sich aber aus dem Studium der Vererbungserscheinungen ableiten. Hierauf ist merkwürdigerweise keiner der Kritiker der neuen Lehre verfallen. Doch hat bereits einige Jahre vor dem Erscheinen des de Vries’schen Werkes Standfuß (1896) allerdings nur beiläufig in einer Anmerkung den Gedanken ausgesprochen, den ich hier aufnehmen und weiter ausführen will. Er sagt pag. 321: „Es ist wohl schon der Gedanke ausgesprochen worden, dass sich auch die Arten durch sprungweise Verschiebung bilden könnten. Allein aus allen Paarungen von Individuen, welche zwei verschiedenen Arten angehören, sind bisher immer nur Zwischenformen als Nachkommen entstanden, niemals aber die beiden sich kreuzenden Arten ohne irgendwelche Übergänge. Die Herausgestaltung der Arten auseinander scheint danach im allgemeinen durchaus eine ganz allmähliche zu sein“. Das ist allerdings das entscheidende Argument, das die Mu- tationstheorie zum Falle bringen muss. Die Tatsache war ja schon lange bekannt. Nach Darwin (1868) hat schon Isıdore Geoffroy St. Hilair e um sie gewusst. Ihre Tragweite zuerst erkannt zu haben ist aber das entschiedene Verdienst von Standfuß. Die Theorie wird hier in ıhrer stärksten Position getroffen und überwunden. Das schien ja gerade ıhr Hauptvorzug gegenüber der Annahme der Entwickelung durch fluktuierende Variation, dass die Mutanten bei Kreuzung mit der Stammform ihre Charaktere rein bewahren. Sie sind so in einfachster Weise „physiologisch“ isoliert, und es schien mit einem Schlage verständlich, wie neue Arten ım Ver- breitungsgebiet der alten entstehen können, ohne sich mit ihr zu vermischen. Wagner’s Migrationstheorie und verwandte Hilfs- hypothesen der Deszendenzlehre schienen überflüssig geworden. Aber so einleuchtend alles erschien, die Theorie muss, sicher wenigstens in der Ausdehnung, die ihr Schöpfer ıhr verlieh, fallen. Denn sie steht mit den Tatsachen im Widerspruch. Die natür- lichen Arten folgen einfach nicht den Vererbungsge- setzen, die für die Mutanten maßgebend sind. So oft manIndividuen verschiedener Spezies gekreuzthat,immer Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 549 erhielt man intermediäre Bastarde!), Da aber anderer- seitsplötzlichneu entstandeneFormen bei Kreuzung, mit der Stammart nie Fusion der Charaktere zeigen, so können die Artennichtsprungweise, alsonicht durch Mutation ent- standen sein. Das Verhalten der aus der freien Natur bekannten Spezies war natürlich auch de Vries nicht unbekannt. Er spricht ausdrücklich und ganz unbefangen davon, hilft sich aber durch Auf- stellungeines Unterschiedes zwischen „natürlichen“ und „elementaren“ Arten. Letztere sollen dann seine durch Mutation entstandenen Formen sein. Die Scheidung der Arten ın natürliche und elemen- tare ist der Botanik ja schon längere Zeit geläufig. In der Zoologie dürfte der Begriff Subspezies, wie ihn namentlich die Ornithologen seit langem verwenden, der elementaren Art der Botaniker fast genau entsprechen. Die natürlichen Arten oder Spezies sind einfach die höhere systematische Kategorie, deren Unterabteilung die elemen- taren Arten oder Subspezies sind. Damit ist auch de Vries ein- verstanden. Ich will hier ganz davon absehen zu untersuchen, ob de Vries berechtigt ist, bereits bestehende Begriffe einfach auf neue Erscheinungen, auf seine Mutanten, zu übertragen, oder ob das nicht vielmehr ein Akt unerlaubter Willkür ıst, der Verwirrung im Gefolge haben muss. Es kommt mir in erster Linie darauf an, nachzuweisen, dass Mutationen schlechterdings nicht zu Artbildung führen kann. Wir haben gesehen, dass natürliche Arten mitein- ander in allen sicheren Fällen intermediäre Bastarde bilden. Trotz aller Verschiedenheit sind die Bestandteile ihres Keimplasmas noch soweit in Harmonie, dass sie innerhalb eines Organısmus gemein- sam wirken können. Die Determinanten der charakteristischen Merkmale der Mutanten verhalten sich aber gegen jene der Stamm- form exklusiv. Sie müssten demnach sekundär wieder „harmo- nisch“ werden, wenn die „elementare Art“ sich zur natürlichen weiter bilden soll. Und das wäre ein Vorgang, den wir uns nicht denken können, und gegen den manche Beobachtungen direkt sprechen. Ich erwähnte schon oben die interessanten Versuche von Lang (1904) mit den beiden Helix-Arten hortensis und nemoralis. Bei ihrer Kreuzung mischten sich die eigentlichen Artmerkmale, Form und Färbung des Peristoms, Schalenform u. s. w. miteinander. Die Mendel’sche Merkmale aber, Fünfbändrigkeit und Bänderlosig- keit verhielten sich exklusiv gegeneinander. Wır dürfen deshalb wohl annehmen, dass bereits die gemeinsame Stammart von hortensis und nemoralis die verschiedenen Grade der Bänderung durch plötz- liche Variation hervorgebracht hatte. Der Zerfall der Mutterart in getrennte Spezies ist aber offenbar durch allmähliche Verände- 1) Auf das Verhältnis von Corvus corone und (C. cornix, das dem obigen Satz eventuell widersprechen könnte, komme ich später in anderem Zusammenhang noch ganz speziell zurück. 550 Groß, Über einige Beziehungen zwiscı:>n Vererbung und Variation. rungen vor sich gegangen. Und in jeder der beiden neuen Arten hat sich die Fähigkeit, Mendel’sche Rassen hervorzubringen, er- halten. Und ähnlich dürfte es sich in dem weniger genau unter- suchten Fall von Kreuzung von Jaguar und schwarzen Panther verhalten, den ich ebenfalls schon erwähnt habe. Darf es so als erwiesen betrachtet werden, dass sprungweise Variationen, also auch die progressiven Mutationen von de Vries auf direktem Wege gar nicht zur Artbildung führen können, so könnte vielleicht der Versuch gemacht werden, ihnen diese Fähig- keit auf mehr indirektem Wege doch noch zu vindizieren. Setzen wir ‚den Fall, dass die Stammform einer mutierenden Art, also beispielsweise das rote Eichhörnchen oder die Oenothera lamarckiana ausstirbt, und nur die Mutanten nachbleiben, so könnte man schließen, dass jetzt im Vergleich zu dem ursprünglichen Zustande, da nur die Stammform existierte, eine neue Art da sei. Aber ich glaube, das wäre ein einfaches Spielen mit Worten, welches zu- dem immer wieder zunichte gemacht werden würde. Sobald, wie das ja bei allen Mutationen immer vorkommt, durch Atavismus einmal wieder die alte Form auftritt, würde sie sich bei Kreuzungen mit den Mutanten wieder ebenso verhalten, als ehemals, als sie noch neben ihnen bestand, und nicht wie eine andere gute oder natürliche Art. Gegen die Bedeutung der Mutationen als artbildende Faktoren, speziell im Pflanzenreich, spricht noch der Umstand, dass die neu entstandenen Formen sich immer als Schwächlinge erweisen. Sie bringen es oft nicht zur Entwickelung von Sexualorganen, und wenn dieses ihnen auch noch gelingt, so ist doch ihre Fruchtbarkeit, und zwar gerade bei Reinzucht, nach den übereinstimmenden Angaben von Korschinsky und de Vries vermindert. Sie werden demgemäß sich neben den kräftigern Stammformen in freier Natur wohl kaum lange halten können. Vielmehr werden sie immer wieder ver- löschen allerdings auch immer wieder von neuem hervorge- bracht werden. Auch in der Tierwelt sehen wir, dass wenig- stens die extremen Formen, wie z. B. Albinismen, immer selten bleiben und fast stets in wenigen Jahren aussterben. Mir ist nur ein Fall bekannt, dass Albinos als regelmäßige, nicht ganz seltene Erscheinung sich in einer bestimmten Gegend durch Jahrzehnte gehalten haben. Staats von Wacquant-Geozelles (1892) berichtet, dass auf einem ganz bestimmten kleinen Gebiet („die genannte Strecke ist bequem in einer Stunde abzugehen*) in der Nähe des Fleckens Ärzen im Lippe-Detmold nachweisbar seit mehr als 60 Jahren alljährlich weiße Maulwürfe, und zwar totale Albinos beobachtet wurden. Auf den Ländereien einer daselbst ge- legenen Domäne wurden alljährlich 2—8 solcher allein von den professionellen Maulwurfsfängern älterer Zeit gefangen und ab- Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 551 geliefert. Auch haben dem Berichterstatter einmal fünf nachweis- lich aus einem Nest stammende Albinos vorgelegen. Sonst bleibt aber der Albinismus und manche andere „Mutation“ immer eine sehr seltene Erscheinung. Soweit plötzlich entstandene Formen sich als Kümmerformen erweisen, die für den Kampf ums Dasem schlecht ausgerüstet sind, kann das exklusive Verhalten ihrer ab- geänderten Determinanten für die Erhaltung der Art von Nutzen sein und fast als eine Schutzmaßregel der Natur für die „natür- lichen Arten“ betrachtet werden. Denn dadurch bleibt, trotz gelegent- licher Kreuzung mit den Mutanten, das „Blut“ der kräftigeren Stammform rein und vor Verschlechterung bewahrt. Dass es allein die allmähliche oder fluktuierende Variation ist, die zur Bildung neuer Arten führt, lässt sich in ganz besonders inter- essanter Weise noch in Fällen zeigen, wo durch sie Formen ge- bildet werden, die den plötzlich entstandenen äußerlich fast völlig gleichen, sich bei Kreuzung mit der Stammform aber wesentlich anders verhalten. Ich besprach oben das Zuchtergebnis, das Standfuß (1896) bei der Kreuzung einer typischen Pselura monacha mit einer nachweislich plötzlich entstandenen ab. eremita erhielt. Die Nachkommenschaft zerfiel, abgesehen von einigen Mosaik- bastarden, in die beiden elterlichen Typen. Ganz anders gestaltete sich ein früher vorgenommener Zuchtversuch desselben Forschers. Ich lasse über den wichtigen Fall Standfuß selbst berichten: „1883 fand ich bei Liegnitz (Schlesien) ein Psölura ab. eremita & mit monacha 9 in Paarung. Dieses ab. eremita ö gehörte aber nicht der typischen, vollkommen geschwärzten Form an, sondern besaß noch weißliche Zeichnungen an der Flügelbasis und einen rötlichen, nicht durchaus geschwärzten Leib. Die Nachkommenschaft dieses Pärchens wies teilweise in beiden Geschlechtern die normale monacha auf, ferner alle Übergänge von dieser bis zu der väterlichen Form, ebenfalls in beiden Geschlechtern, dann schließlich aber auch noch einige wenige männliche wie weibliche Individuen, welche vollkommen geschwärzt waren und von dem mütterlichen Individuum der vorher besprochenen Zucht sich in ihrem Färbungstypus äußerlich kaum irgendwie unterschieden. Genaue Angaben über das Zahlenverhältnis der verschiedenen Formen zueinander habe ich seiner Zeit leider nicht aufgezeichnet. Es zeigte sich also hier ein durchaus anderes Ergebnis als bei der vorhandenen Kreuzung. Warum dies ? müssen wir fragen. Ich vermute, dass die Sache folgendermaßen liegt: Psilura monacha gestaltet sich gegenwärtig und zwar von ihren nördlichen Verbreitungsgebieten her beginnend, in südlicher Rich- tung hin fortschreitend, aus der normalen, überwiegend weißlichen sehr allmählich zu einer mehr und mehr geschwärzten Form um. Dieser Umgestaltungsprozess, dessen letzte Gründe ich in der Eın- wirkung äußerer Faktoren suchen möchte, wird durch die natür- 552 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. liche Zuchtwahl, da die geschwärzte Form eine wesentlich ge- schütztere ist, sehr beschleunigt. Kleine, in gleicher Ent- wickelungsrichtung ende Veı engen werden durch fortdauernd ende Erhaltung der am stärksten in dieser Bnubwickelugesrichtung merander ten Individuen von Brut zu Brut addiert und so schnell gesteigert. Als das Glied einer solchen Kette, wie sie sich in Norddeutschland an vielen Punkten findet (Breslau, Berlin, Hannover ete.), werden wir uns das bei der zweiten ZuchtinFrage kommende nicht gauz vollkommen geschwärzte männliche Indıssduu m zu denken en Der schließliche Kulminationspunkt dieser Kette zeigt äußerlich zwar ein recht ähnliches oder fast ein ganz gleiches Bild wie das, welches bei der sprungweisen een Verschiebung resul- tiert, und die beiden Formen können und dürfen darum Ee mit verschiedenen Namen belegt werden, aber der verschiedenen Ent- stehungsweise en besitzen die beiden einander äußerlich so Kanhahan Formen keineswegs die gleichen Eigenschaften hin- sichtlich der Übertragung ihrer Charakiere auf die Nachkommen- schaft. Sie sind ihrem inneren Wesen nach, ihren physiologischen Qualitäten nach verschieden. Diese Nachkommenschaft zerfällt, wie wir sahen, von dem sprungweise verschobenen melanistisehen Weibchen, das von einem normalen Männchen gepaart wurde, scharf geschieden in die Grundart und in die melanistische Form, wie in einige Individuen, bei denen der Gegensatz dieser beiden Formen unharmonisch, unausgeglichen zum See gelangt. Von dem geschwärzten Männchen aber, das wir als das Glied einer ganz allmählich veränderten Formenreihe ansahen, und einem normalen Weibchen gestaltet sich diese Nachkommenschaft zu einer Reihe vollständig ineimander übergehender und das aberrative väterliche una in wenigen Exemplaren hinsichtlich der Abweichung sogar noch überbietender Formen. Die aberrativen Individuen würden danach in jedem der beiden Fälle die Art und Weise ihres Werdens, ihres Auftretens in dem Gepräge ihrer Nachkommenschaft w iederspiegeln. Aber die Nonne ist "nieht der einzige Fall, in dem wir diese interessante Parallele in der lan verfolgen können. Vom Birkenspanner ist ganz Ähnliches bekannt. Ich er- wähnte schon kurz die Kreuzung der typischen Form Amphidasis betularius mit der ab. doubledayaria. Nach Standfuß (1896) er- hielt Steinert von einem bei Dresden gefangenen Weibchen der geschwärzten Form, dass er mit einem typischen Männchen gepaart hatte, 75 4A. betularius und 90 ab. doubledayaria. Das Weibchen muss als sprungweise entwickelter typischer Melanismus aufgefasst werden, da es nach Standfuß „wohl bis zur Stunde em Unikum der Dresdner Fauna“ sein dürfte. In anderen Fluggebieten, in England, der Rheinprovinz, Westfalen findet sich nun aber die ab. Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 553 doubledayaria häufiger, und neben ihr alle Übergänge zu dem typischen A. betularius, sowie diese Form selbst. Hier kennen wir sogar die allmähliche Ausbreitung der dunklen Form recht genau. Standfuß sagt darüber folgendes. „Auch dieser Spanner ist also wie Psölıra monacha in einer sehr energisch Platz greifenden Umgestaltung zu einer vorzüglichen Schutz bietenden Färbung begriffen. Noch vor kaum mehr als 30 Jahren war die ab. doubledayaria nur von Großbritannien bekannt. Seit mehr als 10 Jahren wird sie in West- falen und in der Rheinprovinz häufiger und häufiger beobachtet 1884 ıst sie von Hannover und Gotha notiert, und in den letzten Jahren wurde sie nun auch bei Dresden und 1892 in Schlesien bei Gnadenfrei — an letzterem Ort nur in einer Zwischenform — nach- gewiesen“. So gut wie über die genannten Schmetterlinge sind wir bei andern Tieren über solche Erscheinungen nicht unterrichtet. Ähn- lich dürfte es sich aber vielleicht mit der roten und schwarzen Form von Seiurus vulgaris verhalten. Auch für diese Spezies ge- winnt man aus verschiedenen Teilen ihres Verbreitungsgebietes ein durchaus anderes Bild über das Auftreten des Melanısmus. In Deutschland ist die „reguläre“ Farbe nach Liebe (1880) rot. Da- neben kommen, namentlich in bergigen und hügeligen Gegenden, schwarze Individuen in wechselnder Anzahl vor. Dabei bevorzugen sie, wie Liebe hervorhebt, gewisse Reviere und Waldkomplexe vor den andern und treten in diesen regelmäßig viel häufiger auf, als ın den benachbarten, scheinbar dieselben Bedingungen bietenden Waldstrecken, wo die normal rotgefärbten weit überwiegen. „Sodann ıst der Prozentsatz der Häufigkeit ın derselben Gegend im Wechsel der Zeit ein sehr verschiedener: die schwarzen Hörnchen nehmen ım Verhältnis zu den roten einige Jahre hindurch zu und dann wieder ab. So: zeigten sich 1845 bis 1847 ın den Wäldern des west- lichen Vogtlandes außerordentlich viele; gleiches geschah 1838 bis 1840 ın den Wäldern zwischen Schleiz und Neustadt, 1850 ın den Fürstlichen Hohenloheschen Waldungen im Orlagau und 1871 bis 1872 in einigen Waldungen des Herzogtums Altenburg.“ Später hat Liebe in seinem Beobachtungsgebiet im Jahre 1878 eine starke Zunahme des Prozentsatzes an schwarzen Stücken an der oberen Saale beobachtet, die dazu führte, dass 1879 fast drei Viertel aller Eichhörnchen schwarz waren. Dieses sporadische und jedesmal auf engbegrenzte Bezirke beschränkt Auftreten der schwarzen Eich- hörnchen in Deutschland, ım Verbindung mit den Beobachtungen über ıhre Fortpflanzung, die ich oben, gleichfalls hauptsächlich nach Liebe, mitgeteilt habe, spricht mit Entschiedenheit dafür, dass die schwarze Form hier gelegentlich als plötzlich entstandene Varietät, also als Mutation erscheint, sich aber neben der roten Stammform nicht halten kann, sondern nach wenigen Generationen verschwindet, 554 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. bis wieder ein ebenfalls sprungweise entstandener Nachschub folgt. Gerade das Auftreten in ganz bestimmten Waldrevieren weist darauf hin, dass es nur bestimmte „Familien“ sind, in denen jedes- mal die Neigung zum Melanismus auftritt. Ähnlich wie in Deutsch- land scheinen die Verhältnisse in Schweden zu liegen, wo nach Lönnberg (1898) „dann und wann“ schwarze Exemplare erlegt werden. Nur scheint ihr Vorkommen hier bedeutend seltener zu sein, als in Deutschland. Östlich von der Weichsel scheint auf einem riesigen Gebiet die rote Stammform fast ganz allein vorzu- kommen. Aus dem europäischen Russland ist v. Middendorf (1867) kein einziger Fall von Melanismus unter. den Eichhörnchen bekannt geworden, weder durch eigne Anschauung, noch aus der Literatur. Noch im nördlichen Ural und in Südwest-Sibirien ist das Sommerkleid der Tiere nach v. Löwis (1884) immer rot. Dieser Forscher hat aber doch eimen interessanten Fall von Auftreten des schwarzen Eichhörnchens in Osteuropa ausfindig machen können. Wie im ganzen europäischen Russland, so kommt auch in der Provinz Livland, wie v. Löwis aus jahrzehntelangen Beobachtungen wusste, nur die rote Form von Seiurus vulgaris vor. Es ist für das livländische Festland nie eine Ausnahme von dieser Regel be- kannt geworden. Auf den Livland im Nordwesten vorgelagerten, nicht eben sehr großen Inseln Oesel und Dagö aber, sind, nach Angaben dort angesessener Jäger, schwarze Exemplare nicht selten beobachtet worden. Ein auf Oesel geschossenes Stück hat v. Löwis selbst zur Untersuchung vorgelegen. Auch hier haben wir wieder dieses gelegentliche Vorkommen in kleinen, abgeschlossenen Gebieten, das auf plötzliche Entstehung der Form hinweist. Ein ganz anderes Bild gewinnen wir aber aus dem östlichen Sibirien. Hier wird das schwarze Eichhörnchen um so häufiger, je weiter wir nach Osten fortschreiten, bis es schließlich im Amurgebiete das rote ganz ver- drängt. Dabei können nach v. Middendorf(1867) die Verbreitungs- bezirke der beiden Formen eng aneinander grenzen, aber, wie es scheint, nur dort, wo sie durch große Ströme, wie Jenissei und Lena, voneinander getrennt sind. Im Gegensatz zu Mitteleuropa macht das Auftreten der beiden Formen in Sibirien durchaus den Eindruck, dass wir es hier mit geographischen Varietäten zu tun haben. Und ähnlich ist es m Südeuropa, wo z. B. in Italien und Sizilien nach v. Löwis (1884) die schwarze Farbe wieder „die alleinherrschende* wird. Wäre noch das Auftreten von Übergangs- formen aus den zuletzt besprochenen Gebieten erwiesen, so würden die Verhältnisse ganz analog liegen wie bei der Nonne und dem Birkenspanner. Leider fehlen die Angaben hierüber fast gänzlich. Es wird wohl gelegentlich von braunschwarzen Tieren aus Sibirien gesprochen, aber ohne alle Details. Blasius (1857) sagt allerdings, „dass man die Farbenübergänge in allen Zwischenstufen beobachten Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 555 kann,“ gibt aber nicht an, von wo er solche Übergangsformen er- halten hat. Da sie nach Liebe in Deutschland nicht vorkommen, liegt es nahe zu glauben, dass Blasius sie aus Italien bezogen hat. Doch lässt sich Sicheres hierüber nicht mehr ausmachen. Ich bin über die Eichhörnchenfrage zum Teil auch deswegen so ausführlich geworden, um zu zeigen, wie vorsichtig man zu sein hat bei Erörterungen über den Einfluss von Nahrung und Klıma auf die Färbung einer Tierart, wie sie oft, noch in jüngster Zeit von Lönnberg (1898) gerade in bezug auf Melanismen angestellt worden sind. Immer müsste in solchen Fällen versucht werden, festzustellen, ob es sich wirklich um geographische Varietäten odlen um einfache Aberrationen handelt. Wo Übergänge fehlen, werden wir meist berechtigt sein, das letztere anzunehmen. Die hierauf gerichteten Untersuchungen haben also für die Tiergeographie einen ähnlich hohen Wert wie für die Vererbungslehre. Alle mitgeteilten Tatsachen, so wenig befriedigend unsere Kenntnis von einigen unter ihnen noch ist, be- stätigen in ihrer Gesamtheit doch den Satz, dass nur die fluktuierende Variation derwirklicheW eg des organischen Fortschrittes ist, der zur Bildung neuer Arten führt. Die sprungweise sich vollziehende Kander ung oder Mutation stellt immer einen Abweg dar, der in eine Suckeasse führt, welche über kurz oder lang zu Ende geht. Der alte Spruch Natura non saltum facit gilt auch für die Art- bildung. Den Grund hierfür fanden wir in dem grundverschiedenen Verhalten der Determinanten in beiden Fällen. In mutierten Formen sind sie exklusiv gegen die Determinanten der Stammform und der anderen Mutanten. Br der fluktuierenden Variation bleiben sie dagegen in den verschiedenen Rassen und Varietäten, ja sogar in guten Spezies harmonisch und wirken in den Bastarden gemeinsam an der Determinierung der Zellen und Organe des Soma. Die Weiter- entwickelung der Varietät zur selbständigen Art geht nun, wenn wir uns auf einen streng vererbungstheoretischen Standpunkt stellen, dadurch vor sich, dass die betreffenden Formen die Fähigkeit ver- lieren, miteinander fruchtbare Bastarde zu liefern. Auch hierfür muss der Grund im Keimplasma der Organismen gesucht werden. Haecker (1902) hat zuerst - die Vermitans ausgesprochen, die Bildung funktionsfähiger Gameten bei den Ko ıden könne daran ee n, dass die Reifungserscheinungen, vor allem die Konjugation väter licher und mütterlicher Chromosomen nicht mehr regelrecht vollzogen werden können. Oder mit anderen Worten, die Über- einstimmung der Bestandteile des Keimplasmas nah verwandter Arten ist noch so groß, dass die beiderseitigen Gameten sich in der Befruchtung vereinigen und einen lebensfähigen Organismus hervor- bringen können. Dagegen ist die gegenseitige Affinität der Chromosome 556 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. oder Ide die „Chromotaxis“, wie Haecker es genannt hat, bereits so vermindert, dass sie die Konjugation verweigern. Vielmehr zeigen sie „Repulsion“ gegeneinander. Die Ausdrücke „Affinität“ und „Repulsion“ verwendet übrigens schon Darwin im ganz dem- selben Sinne in seiner Theorie der Pangenesis (1868). Schon vor dem Erscheinen von Haecker’s (1902) Arbeit hatte Guyer (1900) gezeigt, dass in den Geschlechtsorganen von Taubenbastarden sich in der Tat Anomalien zeigen, die die Bildung von funktionsfähigen Gameten zur Unmöglichkeit machen. Wenn Haecker’s Hypothese damit auch noch nicht ganz strikt bewiesen ist, so hat sie schon an und für sich große überzeugende Kraft. Man kann in der Tat die Unfruchtbarkeit der Bastarde durch keine andere Annahme so ein- fach und so im Einklang mit unserem ganzen Wissen von der Vererbung erklären. Beiläufig möchte ich hier noch einen hoch- interessanten Fall von einem unfruchtbaren Bastard erwähnen, weil er wenig bekannt zu sein scheint und zu weiteren Untersuchungen anregen könnte. Rörig (1900) berichtet von einer Kreuzung zwischen Axis- und Edelhirsch im Wildpark bei Koburg. Der Bastard war ein männliches Tier. Er machte aber „hinsichtlich seiner Figur ganz den Eindruck eines weiblichen Individuums, indem der Kopf länglich schmal und die Extremitäten schlank gebaut waren.“ Das Tier, das etwa 8 Jahre alt wurde, setzte, als es heranwuchs, ein sehr merkwürdig gestaltetes Kümmergeweih auf. Regungen des Geschlechts- triebes hat er während seines ganzen Lebens nicht gezeigt. „Es ist niemals beobachtet worden, dass dieser Hirsch zur Brunstzeit sich anders benommen hätte als außerhalb dieser Zeit; er hat weder geschrieen, noch hat er sich begattet, so dass man wohl annehmen muss, dass er fortpflanzungsunfähig war.“ Rörig glaubt, dass das Tier ein Hermaphrodit gewesen sei. Liegt es aber nicht viel näher, dass alle Anomalien des merkwürdigen Geschöpfes: sein weiblicher Habitus, das Kümmergeweih, der Mangel des Geschlechtstriebes einfach die Folge seiner illegitimen Herkunft waren? Rörig(1899) hat ja selbst durch exakte Untersuchungen bewiesen, dass die Kastration, wenn sie nur früh genug ausgeführt wird, nicht nur Verkümmerung des Geweihes hervorruft, sondern auch die Schädelform u. s. w. nach der weiblichen Richtung verschiebt. Und dieselben Folgen wie die Vernichtung normal angelegter Geschlechtsorgane kann doch auch die angeborene, durch die Bastardierung verursachte Anomalie hervorrufen. Die nächste Etappe auf dem Wege der Formentrennung wäre dann die völlige Unfruchtbarkeit zwischen zwei Arten. Die Ver- änderungen im Keimplasma sind dann bis zur „Repulsion der Gameten“ gediehen. Doch ist es gewiss nicht nötig, dass es aus- schließlich die Verminderung der Affinität des Chromatins ist, welche die völlige Unfruchtbarkeit bewirkt. Vielmehr können sehr wohl Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 557 auch Unterschiede ım Plasma der Ei- und Spermazellen hier mit- spielen. Völlige gegenseitige Sterilität finden wir in der Regel erst bei Tieren oder Pflanzen, welche wir ın verschiedene Gattungen stellen. Es ließen sich so für die letzten Kategorien des Systems, Genus, Spezies, Varietät scharfe Definitionen auf Grund der ver- schiedenen Affinitätsgrade des Keimplasmas finden, wıe das auf der nebenstehenden Tabelle versucht worden ist. Das kann aber selbst- verständlichimmer nurrein theoretische Bedeutungbeanspruchen. Denn die Systematik kann in praxi natürlich nur in den wenigsten Fällen auf die Fortpflanzungsverhältnisse Rücksicht nehmen. Auch die plötzlich entstandenen Formen lassen sich nach Affini- tätsgraden gliedern. Die de Vries’schen Mutationen und tierische Formen, die sich ähnlich verhalten, lassen sich in einer Gruppe vereinigen. Sie unterscheiden sich von Varietäten durch die Exklusivi- tät der Determinanten, besitzen sonst aber zur Stammform und unter- einander noch vollkommene, unverminderte Affinität. In den Mendel’schen Fällen ist dagegen die Affinität in besonderer, nur für sie charakteristischerweise verringert, Nicht nur sind die Determinanten exklusiv, sondern die Ide verweigern auch den Aus- tausch. So erhalten wir zwei verschiedene Skalen von verschiedenen Affinitätsgraden, eine mit drei, die andere mit zwei Stufen. Zur Bildung von Arten, Gattungen etc. führt nach unserer Auffassung nur die eine, auf der Tabelle Iinksstehende. Tabelle der Variationsweisen und Affinitätsstufen. Mutation Fluktuation Harmonie der Determinanten Exklusivität der Determinanten I. Stufe Affinität vollkommen Affinität vollkommen Intermediäre fruchtbare Bastarde | Irreguläre Spaltung der Bastarde Varietät (oder Konstanz) de Vries’sche Mutanten II. Stufe Repulsion der Idanten Repulsion der Ide Intermediäre unfruchtbare ı Dominanz und reguläre Spaltung Bastarde | der Bastarde Spezies Mendel’sche Mutanten III. Stufe Repulsion der Gameten Fruchtbarkeit aufgehoben Genus Natürlich kann eine Tierart sich gleichzeitig durch Fluktuation und Mutation verändern, und so entstehen dann Verhältnisse, wie wir sie oben von Helix hortensis und nemoralis und den melanistischen Feliden kennen lernten. Aber auch sonst sind die Rubriken der 558 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Tabelle in der Natur nicht ganz scharf geschieden, sondern durch Übergänge vermittelt. Die gegenseitige Fruchtbarkeit der Arten ist ja längst als eine sehr verschieden hohe bekannt. Oft paaren sich z. B. die Bastarde nicht mehr untereinander, wohl aber noch mit einer der Stamm- formen. Und auch von Arten, die sich in der Regel nicht frucht- bar kreuzen lassen, werden mitunter Hybride erzielt. Kurz es gibt eine ganze Reihe von verschiedenen Graden der Unfruchtbarkeit auf der linken Seite der Tabelle. Interessanter und weniger allgemein bekannt dürfte es sein, dass auch die verschiedenen Grade der Mutationen untereinander und mit den Fluktuationen durch Übergänge verbunden sind. Die Ancon-Schafe z. B., die nach Entstehung und Vererbungsmodus im allgemeinen durchaus als Mutanten zu betrachten sind, welche sich mit andern Rassen nicht mischen lassen, haben nach Darwin (1868) in seltenen Ausnahmefällen doch bei Kreuzungen intermediäre Bastarde geliefert. Darwin berichtet in demselben Werk von einer andern Schafrasse, die für uns noch interessanter ist. Im Jahre 1828 wurde in einer Merinoherde ein Widderlamm geboren, das sich von den typischen Stücken scharf unterschied. Es war von auffallend ge- ringer Größe mit großem Kopf, langem Hals, schmaler Brust und langen Seiten, und besaß eine merkwürdig lange, glatte, schlichte, seidenartige Wolle. Seiner Entstehung nach dürfte auch dieses Tier unbedingt als Mutante zu betrachten sein. Trotzdem erzeugte es, mit gewöhnlichen Merinos gepaart, halbschlächtige Tiere. Auch vom schwarzen Panther sind Fälle bekannt geworden, die den sonstigen Beobachtungen über diese Tierform widersprachen. So befand sich nach Weinland (1862) in einer Menagerie ein Panther von dunkelaschgrauer Grundfarbe mit schwarzen Extremi- täten und ebenso gefärbter „Mundgegend“. Seine Herkunft war nicht bekannt, und das Tier ist als neue Art Felis poliopardus be- schrieben worden. Wahrscheinlich ist er aber ein Bastard vom Jaguar und schwarzen Panther gewesen. Denn von einem ganz ähnlichen in einer spanischen Menagerie geborenen Stück steht diese Ab- stammung fest. Dieser zweite Fall ist noch besonders interessant, weil der intermediäre Bastard auf sein Verhalten bei Kreuzungen geprüft worden ist. Mit seinem Vater, dem Jaguar gepaart, brachte es zwei Junge zur Welt. Nach Sace (1863) war „das eine ein Jaguar, das andere ein schwarzer Panther“. Hier verhielten sich also die Ide in den Soma- und Keimzellen eines und desselben Tieres ver- schieden — in jenen harmonisch, in diesen exklusiv. Ganz ähnlich, nur noch komplizierter ist das gegenseitige Ver- hältnis von Corvus corone und C. cornix. Ich habe es bereits oben ausführlich besprochen. Es liegen erstens für die beiden Krähen Beobachtungen kompetenter Autoritäten vor, dass bei Kreuzung Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 559 unter den Hybriden nur reine Exemplare beider Formen gefunden werden. Es kann neben diesen aber auch wenigstens ein inter- mediär gefärbtes Stück auftreten. Solche Mischformen unterein- ander oder mit einer der Stammformen gekreuzt, ergeben aber, wie es scheint, regelmäßig immer wieder lauter reine Stücke der beiden groß- elterlichen Typen. Sie verhalten sich also völlig analog dem „grauen Panther“, dem Mischling von Jaguar und „Felis melas“. Schließlich Sprechen die Angaben von Bier (1885) dafür, dass bei Salzburg die rl noch anders sind. Da dort reine Nebelkrähen überhaupt nicht mehr vorkommen, sondern neben der Rabenkrähe nur Mischformen, wird man zu der Angabe gezwungen, dass diese dort die Regel bilden bei Kreuzungen von Corvus corone und C. cornix, und dass sie sich ihrerseits konstant rein erhalten können. Das gegenseitige Verhalten der beiden Krähen ist übrigens dringend einer erneuten und zwar in verschiedenen Ver- breitungsbezirken gleichzeitig vorzunehmenden Untersuchung be- dürftig. Auch die stummelschwänzigen Exemplare, die zuweilen ın der Nachkommenschaft der Katze von Man nach Paarung mit geschwänzten Tieren vorkommen, könnten vielleicht als wirkliche Mischformen aufzufassen sein. Doch ıst hier die Möglichkeit einer neu aufge- tretenen Mutation nicht ausgeschlossen. Bestimmt dürfte letzteres der Fall sein, bei den schwanzlosen Individuen, die von Kennel’s (1902) stumelschwändiger Katze geboren wurden. Einen weiteren, häufiger en Übergang von inter- mediären zu spaltenden Bastarden bilden die sogen. Mosaik- hybride. Sie treten, wie es scheint, überhaupt nur als Ausnahmen auf, und zwar sowohl bei de Vries’schen als bei Mendel’schen Mutanten. Ich erwähnte bereits oben. einen von Standfuß mit- geteilten Fall. In einer Brut von Psilura monacha X ab. eremita fanden sich neben zahlreichen reinen Stücken sechs Mosaikindividuen. Nach Darwin (1868) wird der haarlose Zustand des Paraguay- hundes in der Regel „entweder vollständig oder gar nicht auf die Mischlingsnachkommen überliefert.“ Darwın hat aber selbst einen solchen Bastard gesehen, welcher einen Teil seiner Haut haarig, den andern nackt trug. „Die Teile waren so deutlich voneinander getrennt, wie bei gescheckten Tieren.“ Einen Bastard zwischen einem aus Mexiko importierten haarlosen Hunde und einer Wachtel- hündin hat ferner Tiemann (1865) beschrieben. Das Gebiss glich fast völlig dem des Vaters, das wie bei allen nackten Hunden sehr schwach und lückenhaft war. Behaarte Stellen fanden sıch nur am Kopfe, am Schwanz und an den Beinen. Auch an diesen Stellen war die Behaarung nur dünn und schwach. Das Tier hatte vier aus demselben Wurf stammende Geschwister, von denen zwei „nach jeder Richtung zur Wachtelhundrasse gehörten, die übrigen aber, 560 Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. ihrer Bekleidung gemäß, eher der nackthäutigen als irgend einer andern Rasse zugezählt werden mussten“. Im Anschluss an den Paraguayhund führt Darwin noch an, dass, wenn fünfzehige Dorkinghühner mit andern Rassen gekreuzt werden, die Jungen oft fünf Zehen an dem einen Fuß und vier an dem andern haben. Auch solche Fälle sind wohl als echte Mosaik- hybride aufzufassen. Und in ganz ähnlicher Weise können nach Darwin Nachkommen von „einhufigen“ und gemeinen Schweinen zwei Füße „mit ordentlich geteilten und zwei mit vereinten Hufen“ besitzen. Von diesen beiden Fällen gehört der letztgenannte ver- mutlich zu den de Vries’schen, der erste nach Bateson (1904), wie oben erwähnt, zu den Mendel’schen Mutanten. Häufiger kommt es vor, dassRassen, die zu den typischen Mendel’- schen gehören, ausnahmsweise irregulär spalten. So hat Ewart (1902) aus der Kreuzung eines wilden Kaninchens mit einem weißen Angora- bock sowohl weiße als graue Nachkommen erhalten. Und ähnliche Erfahrungen haben andere Forscher gemacht. Auch Lang (1904) hat bei seinen Zuchten von fünfbänderigen und bänderlosen Helix hortensis, die im allgemeinen ebenfalls streng nach den Mendel- schen Regeln ausfielen, zuweilen schon in der ersten Generation das Aufspalten in beide elterlichen Formen beobachten können. Schließlich möchte ich noch erwähnen, dass auch „gute Arten“ zuweilen Mosaikbastarde erzeugen können. Bei den oben erwähnten Kreuzungsprodukten von Lepus europaeus und timidus scheinen sich im Winterkleide nach Brehm (1891) die graue und weiße Färbung scharf gegeneinander abzusetzen, so dass man wohl den Verdacht auf einen leichten Grad von Exklusivität der Determinanten aus- sprechen könnte. Echte Mosaikbastarde sind vielleicht die ebenfalls schon aufgeführten Hybride von Oygnus olor und Uygnus atratus. Nach Noll (1868) hatten sie ein durchweg weiß und schwarz ge- schecktes Gefieder. Aus allem Mitgeteilten geht hervor, dass die verschiedenen Gruppen von Veerbungserscheinungen, nach unserer Auffassung also die verschiedenen Affinitätsstufen, sich keineswegs ganz unvermittelt gegenüber stehen. Sie sind im Gegenteil alle miteinander durch Übergänge verknüpft. Auch hier zeigt sich wieder, dass die scharfen Grenzen, die wir überall so gerne setzen, in der Natur gar nicht vorhanden sind, sondern nur von uns ın sie hinein gedeutet werden. Ich bin am Schluss: Fassen wir die Ergebnisse der Untersuchung noch einmal kurz zusammen, so erhalten wir als wichtigstes Resultat eine schärfere Begründung des Unterschiedes zwischen den beiden Kategorien von Variationen. Sie weichen voneinander auch in den Vererbungserscheinungen ab. Ihre Unterschiede müssen also in Besonderheiten der Keimplasmastruktur begründet sein. Die durch Fluktuation entstandenen Varietäten haben Groß, Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. 561 sich bei aller Verschiedenheit untereinander dieHarmonie der Determinanten bewahrt und ergeben deshalb bei Kreuzung intermediäre Bastarde. Sie allein führen zur Artbildung durch allmähliche Schwächung der Affinität zwischen den Keimplasmen im Laufe der phylogenetischen Entwickelung. Diese geht in zwei Etappen vor sich. Anfangs wird nur die Affinität der Idanten so weit herab- gesetzt, dass die Gameten sich wohl noch zu einer ent- wickelungsfähigen Zygote vereinigen können. Zur Bil- dung von normalen Keimzellen in den Sexualorganen der Bastarde kann es aber nicht mehr kommen, da die Idanten nicht mehr imstande sind zu konjugieren und die Reifungs- erscheinungen infolgedessen nicht mehr normal verlaufen können. Die Bastarde müssen deshalb unfruchtbar sein: die Varietät hat sich zur Art weiter entwickelt. Wenn die Affinität der Keimplasmen noch weiter herabgesetzt wird, so kann es überhaupt nicht mehr zu einer erfolgreichen Paarung kommen. Nach unserer Auf- fassung ist in solchen Fällen die Repulsion der Idanten weiter gediehen zur Repulsion der Gameten. Solches ist die Regel bei Arten, die verschiedenen Gattungen ange- hören. Die Mutation führt überhaupt nicht zur Artbildung, sondern lässtnur „Spielarten“ entstehen, dieimmer wieder ausgemerzt werden und nur vorübergehende Erscheinungen darstellen. Die Mutanten enthalten immer wenigstens ein Merkmal, dessen Determinanten sich gegen die ent- sprechenden der andern Mutanten und der Stammform exklusiv erweisen. Es kommt daher nie zu intermediären Bastarden. Von Mutationen lassen sich zwei Stufen unter- scheiden. Die Determinanten der de Vries’schen Mutanten zeigen, abgesehen von ihrer Exklusivität, noch voll- kommene Affinität untereinander. Die Ide lassen sich bei der Rekonstitution der Chromosomen während der Reifungs- periode der Keimzellen gegeneinander austauschen. Demgemäß spalten die Bastarde schon in der ersten und in allen folgenden Generationen irregulär. In den Mendel’schen Mutanten ist dagegen Repulsion der Ide eingetreten. Der Austausch der Ide unterbleibt. Es werden somitin bezug aufein Merkmal, oder auf einige, reine Gameten gebildet. Bei Kreuzungen treten infolge- dessen die Erscheinungen der Mendel’schen Regeln auf: Dominanz des einen Merkmals in der ersten, und Spaltung in dem Verhältnis von 3:1 in der zweiten Generation. Behalte ich mit meiner Auffassung, dass nur die fluktuierende XXVI. 36. ..> 562 Groß, Uber einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Variation zur Bildung neuer Arten führt, Recht, so ist damit auch der Zuchtwahllehre eine neue Stütze geschaffen. Denn da die durch allmähliche Abänderung entstandenen Varietäten bei Kreuzung mit dem Stammtypus immer Mischformen ergeben, so bleibt, außer geographischer oder sonstiger Isolierung, die Selektion der ein- zige Faktor, der die Formentrennung bewirken kann durch Ausmerzung der weniger zweckmäßigen Varietät. Es ar- beitet dann eben die Natur doch ebenso wie die künstliche Züch- tung, wie Darwin es zuerst ausgesprochen, und woran Weismann trotz allen Widerspruchs festgehalten hat. Was zuletzt noch das Verhältnis meiner Hypothese zu andern Vererbungstheorien betrifft, so erweist sie sich einfach als An- wendung der Weismann’schen Determinantenlehre auf spezielle Fälle. Mit dieser stimme ich in der Tat ın allen wesent- lichen Stücken überein. Abgewichen bin ich von ihr nur, soweit ich auf neuere Beobachtungen Rücksicht nehmen musste, die Weis- mann bei der Aufstellung seiner Theorie noch nicht kennen konnte. Auf die Neuentstehung von Determinanten im Keimplasma, die ja ein Postulat sowohl der Pangenesistheorie als der Deter- minantenlehre ist, bin ich nicht näher eingegangen. Neue Gesichts- punkte für diese Frage hat meine Untersuchung mir nicht ergeben. Ich habe daher nichts hinzuzufügen zu den Darlegungen Weis- mann’s hierüber in seiner Germinalselektion (1906). Literaturverzeichnis. 1892a. Alexander, G. und A. Kreidl, Anatomisch-physiologische Studien über das Ohrlabyrinth der Tanzmaus, in: Arch. f. d. ges. Physiol., 88. Bd., 1892. 1892b. — und A. 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Als Beispiel rezenter Artenbildung im ersteren Sinne habe ich 1901!) die Gattung Dinarda unter den Kurzflüglern (Staphyliniden) angeführt. Es ließ sich zeigen, dass unsere nord- und mittel- europäischen zweifarbigen (rot und schwarzen) Dinarda-Formen, welche an verschiedene Arten oder Rassen der Gattung Formica angepasst sind, auf verschiedenen Stufen zur Artenbildung stehen. Zwei derselben, Dinarda dentata (bei F. sangwinea) und D. Märkeli (bei F. rufa) sind bereits in ihrem ganzen Verbreitungsgebiete zu so konstanten Formen geworden, dass man sie früher nicht mit Unrecht als „Arten“ bezeichnete. Zwei andere nahe verwandte Formen dagegen, D. Hagensi (bei F. exsecta) und D. pygmaea (bei F. rufibarbis und speziell bei der Var. fusco-rufibarbis) sind erst im Anpassungsprozesse an ihre Wirtsameisen begriffen; in einigen Teilen des Verbreitungsgebiets der letzteren sind sie bereits zu festbegrenzten Formen geworden, in anderen Gegenden zeigen sie noch zahlreiche Übergänge zu D. dentata, in anderen endlich hat überhaupt noch keine Anpassung von Dinarda an F. exsecta und rufibarbis stattgefunden. Wir haben also in diesen beiden Dinarda Formen vor uns, die auf dem Wege der Varietäten- und Rassen- bildung allmählich jener Stufe der Artenbildung sich nähern, welche von Dinarda dentata und Märkeli bereits früher erreicht wurde. Meine seitherigen Beobachtungen haben diese Auffassung im wesentlichen bestätigt und zugleich auch einige weitere Anhalts- punkte ergeben bezüglich der äußeren Faktoren, welche jenen auf 1) Gibt es tatsächlich Arten, die heute noch in der Stammesentwickelung be- griffen sind? (Biol. Centralbl. XXI, Nr, 22 u. 23.) 566 Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. Anpassung beruhenden Differenzierungsprozess bedingen?). Je früher in einer Gegend die Anpassung von Dinarda an F. exsecta und rufibarbis stattgefunden hat, je mehr sie ferner durch örtliche Iso- lierung der betreffenden Ameisennester von jenen der verwandten Formica-Arten (besonders von F. sanguinea) unterstützt wurde, desto weiter ist auch die Differenzierung der betreffenden Dinarda-Formen fortgeschritten. Am deutlichsten zeigte sich dies bisher bei der Differenzierung von D. pygmaea gegenüber ihrer Stammform dentata. Auch für D. Hagensi sind in den letzten Jahren einige neue Mo- mente hinzugekommen, welche bestätigen, dass ihre Anpassung an F. exsecta noch nicht vollendet ist, sondern an verschiedenen Punkten ihres Verbreitungsgebietes auf verschiedenen Stufen der Artbildung steht. Donisthorpe?) fing zu Bournemouth (Grafschaft Southampton, Südengland) bei F. exsecta eine Anzahl Dinarda, welche mit den durch v. Hagens 1855 im Siebengebirge entdeckten typischen Exem- plaren näher übereinstimmen, als die von mir bei Linz am Rhein 1893-1901 bei derselben Ameise gefundenen Dinarda. Mehrere jener englischen Exemplare besitzen nämlich, ebenso wie die v. Hagens’schen Typen, keinen erhabenen, gekielten Seitenrand der Flügeldecken, sondern derselbe ist gleichmäßig gewölbt, wodurch diese Exemplare sogar von der Gattungsdiagnose von Di- narda (elytrorum margine lateralicarinato) abweichen. Auch sind die Fühler kürzer und gedrungener als bei D. dentata. Bei den Linzer Exemplaren ist dagegen der Seitenrand der Flügeldecken deutlich erhaben gekielt, und die Fühler sind etwas schlanker als bei dentata. Bei einigen der Donisthorpe’schen Exemplare aus Eng- land sind jedoch Übergänge zwischen beiden Hagensi-Formen be- merkbar, indem der Seitenrand der Flügeldecken manchmal schwach erhaben ist, und die Fühler minder gedrungen sind. Dinarda Hagensi ist also auf verschiedenen Punkten ihres Verbreitungs- gebietes verschieden weit zu einer eigenen Form entwickelt; ferner ist sie nach den bisherigen Funden am weitesten entwickelt im rheinischen Siebengebirge und in Südengland, welche zur Diluvial- zeit eisfrei blieben und das älteste Anpassungsgebiet dieser Dinarda an F\ exseeta darstellen. Sollte der Differenzierungsprozess, welcher D. Hagensi von dentata trennt, auch anderswo noch weiter fort- schreiten, so würde sich schließlich D. Hagensi überhaupt gar nicht mehr unter die Gattungsdiagnose von Dinarda unterbringen lassen, weil der gekielte Seitenrand der Flügeldecken bisher für letztere als „wesentlich“ galt. Ja wir werden sogar die ganze 1) Vgl. hierüber auch mein Buch „Die moderne Biologie und die Entwick- lungstheorie“ (Freiburg i. B. 1904), S. 214—215. 2) Dinarda Hagensi W asm., aspecies of myrmecophilous Coleoptera new to Britain (Entomol. Record 1905, 8. 181—182). — Donisthorpe sandte mir Exem- plare jener Dinarda zu. Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. 567 Gruppe der Dinardini anders begrenzen müssen als bisher, da jener gekielte Seitenrand der Elytren das „wesentlichste* ihrer Merkmale bildete! Es ist mir von einigen Vertretern der Konstanztheorie entgegen- gehalten worden, die bei Dinarda beobachteten Vorgänge böten keinen Beweis für die Entwickelungstheorie, weil es sich hier nur um eine Entwickelung „innerhalb der Art“ handle. In der Tat kann man, wie ich bereits 1896!) näher ausgeführt habe, unsere vier zwei- farbigen Dinarda-Formen vielleicht richtiger als Rassen, denn als Arten im strengen systematischen Sinne bezeichnen. Aber sie stellen jedenfalls Rassen dar, die auf verschiedenen Stufen zur Artbildung stehen: D.dentata und Märkeli haben sich, was ihre Konstanz anlangt, den „echten Arten“ bereits viel mehr genähert als D. Hagensi und pygmaea. Ferner ist ja bei der typischen D. Hagensi, wie oben gezeigt wurde, der gekielte Seitenrand der Flügeldecken verschwunden. Wenn aber bei dieser Entwicklung ein Merkmal schwinden konnte, das man bisher als „wesentlich“ nicht bloß für die Art, sondern für die betreffende Gattung, ja sogar für die ganze Gattungsgruppe gehalten hatte, so wird der Einwand, es handle sich bloß um eine Entwickelung „innerhalb der systematischen Art“ offenbar hinfällig. Denken wir uns nun einen Ähnlichen Differenzierungsprozess, wie jener ist, der zur Bildung unserer zweifarbigen Dinarda-Formen durch Anpassung an verschiedene Arten der Gattung Formica ge- führt hat und noch führt, auf die Anpassung von Dinarda-\Ver- wandten an Wirtsameisen verschiedener Gattungen und Unter- familien ausgedehnt, so gewinnen wir auch ein phylogenetisches Verständnis für die Differenzierung der Gattungen Dinarda und Ohitosa. Die im Mittelmeergebiete lebende „Dinarda nigrita*, die später von Casey zur neuen Gattung Ohitosa erhoben wurde, ist höchst wahrscheinlich durch Anpassung einer Dinarda-ähnlichen Stammform an die Myrmicide Stenamma (Aphaenogaster) testaceopilo- sum entstanden, welche die gegenwärtige Wirtsameise von Chitosa nigrita ist. Wesentlich derselbe Differenzierungsprozess, den wir in der Dinarda-Entwickelung finden, liegt auch hier vor, nur dass er bereits in früherer Zeit begonnen und durch die große Verschieden- heit der Wirtsgattungen Formica und Stenamma zu einer viel größeren Kluft zwischen den betreffenden Anpassungsformen ge- führt hat. Ahnliches ließe sich auch noch für die tropischen Gat- tungen Fauvelia und Allodinarda Wasm. ausführen. Wie ich schon früher bemerkte, wäre es allerdings irrtümlich, hieraus schließen zu wollen, die Bildung neuer Arten und Gattungen habe sich auch bei allen übrigen Ameisengästen und Termitengästen 1) Dinarda-Arten oder Rassen (Wien. Entom. Zeitung XV, 4. und 5. Heft, 8. 125—142). 568 Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. auf dem nämlichen Wege einer ganz allmählichen Varietäten- und Rassenbildung vollzogen wie bei Dinarda. Für die Gäste des Trutz- typus, zu denen Dinarda gehört, gelten großenteils andere bio- logische Anpassungsbedingungen als für die Gäste des Symphilen- typus und des Mimierytypus. Neben der fluktuierenden Variation müssen wir jedenfalls auch die Möglichkeit der Bildung neuer Formen durch Mutation in unsere Berechnung ziehen. Ohne die Naturalselektion gänzlich auszuschließen, glaubte ich ferner bei den Gästen des Symphilentypus auch der Amikalselektion eine wichtige Bedeutung als Entwicklungsfaktor zuschreiben zu müssen'). 2. Zur Entwicklung der Lomechusini. Während bei unseren Dinarda-Formen von einer rezenten Artenbildung im eigentlichen Sinne die Rede war, insofern bei ihnen nämlich der Entwickelungsprozess gegenwärtig noch fortschreitet, bieten uns einige andere Ameisengäste und Termitengäste Beispiele von Artenbildung, die wir als „relativ rezent“ bezeichnen können. Unter diesen Beispielen sei zuerst die Artenbildung bei den Gattungen Atemeles und Xenodusa kurz berücksichtigt. Schon in früheren Arbeiten?) habe ich gezeigt, dass die Gruppe der Lomechusini (Lomechusa, Atemeles, Xenodusa) wahrscheinlich als eine monophyletisch entstandene Gruppe aufzufassen ist, welche von Myrmedonia-Verwandten bereits in der Tertiärzeit sich ab- zweigte und zwar durch Anpassung an das echte Gastverhältnis zu der zirkumpolaren Gattung Formica. Ja ich glaubte sogar die gemeinschaftlichen Charaktere dieser Gruppe (gelbe Haarbüschel des Hinterleibs, ausgehöhltes Halsschild, breite Körperform) als „ein Züchtungsprodukt des Symphilieinstinktes von Formica“ erklären zu müssen. Hieraus folgt, dass die Anpassung der Lome- chusini an Formica als primär, ihre Anpassung an andere Ameisen- gattungen als sekundär aufzufassen ist; erstere müssen wir für stammesgeschichtlich älter ansehen als letztere. Hieraus folgt weiter, dass wir die Gattung Lomechusa, welche einwirtig ist, indem ihre Arten bei je einer Formica-Art ihr ganzes Leben zubringen, für den ältesten Zweig der Lomechusini anzusehen haben, während die Gattungen Atemelesund Xenodusa, welche doppelwirtig sind, indem sie als Käfer den größten Teil ihres Lebens bei Myrmica, bezw. Camponotus zubringen und nur zur Fortpflanzungszeit bestimmte Formica-Arten aufsuchen, bei denen sie ihre Larven erziehen lassen, als jüngere Zweige desselben Stammes aufzufassen sind. Die Larven- erziehung dieser beiden Käfergattungen bei Formica ist gleichsam 1) Vgl. hierüber Biologie und Entwickelungstheorie, 2. Aufl., 9. Kap., besonders S.219ff., 230, 259 ff. 2) Biologie und Entwicklungstheorie, 9. Kap., S. 222--231; Zur Lebensweise von Atemeles pratensoides. Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiologie 1906, 1.u.2. Heft. Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. 569 eine stammesgeschichtliche Reminiszenz an die einwirtige Lebens- weise ihrer Vorfahren bei jener Ameisengattung. Hiernach müssen wir auch die Artenbildung ine der Gattungen Atemeles und Xenodusa für relativ rezent halten im Ver- gleich zur Artenbildung innerhalb der Gattung Lomechusa. Hier- mit stimmt auch die größere morphologische Variabilität der Atemeles-und Xenodusa-Arten im Vergleich zuden Lomechusa-Arten gut überein!). Auch die biologische Tatsache, dass Lomechusa strumosa gegenüber allen großen Formica-Arten unserer Fauna völlig „inter- national“ ist?), d. h. von allen freundschaftlich aufgenommen wird, während jede Atemeles-Art nur bei einer bestimmten Formica-Art oder Rasse Aufnahme findet, deutet an, dass die Artbildung bei Lomechusa viel älteren Datums ist als bei Atemeles. Unter unseren mitteleuropäischen Atemeles gibt es ferner zwei Formen, welche im Vergleich zu den übrigen weitverbreiteten und häufigen Arten (At. emarginatus, paradoxus, pubicollis) sehr selten sind und nur ein sehr beschränktes Verbreitungsgebiet haben, obwohl ihre Larvenwirte (Sommerwirte)?) ebenso häufig und weit- verbreitet sind, wie jene der übrigen Atemeles. Ich meine den Atemeles pubicollis Var. Foreli, der als Larvenwirt Formica sangwi- nea hat, und den Atemeles pratensoides, der als Larvenwirt F\ pra- tensis hat. Da F. sanguwinea als viel älteren Stammgast in Europa und den benachbarten Gebieten Asiens die Lomechusa strumosa besitzt, ist es begreiflich, weshalb bei dieser Ameise die spätere Anpassung einer Atemeles-Form, die viel weniger ergiebige Exsudat- organe besaß als Lomechusa, nur sehr schwer gelingen konnte. 1) Unter 100 Exemplaren von Lomechusa strumosa findet sich kaum eine bemerkenswerte Abweichung der Halsschildform vor. Bei Atemeles emarginatus, paradoxus und pubicollis ist dieselbe dagegen so variabel, dass unter 10 Exemplaren jeder Art nicht einmal 2 miteinander ganz übereinstimmen. Deshalb stellte ich früher auf Grund der Halsschildform eine Reihe von „Varietäten“ jener Arten auf (Deutsch. Entomol. Zeitschr. 1887, I. Heft, S. 97--107). Noch größer scheint die Variabilität der nordamerikanischen Xenodusa cava zu sein. 2) Vgl. Die internationalen Beziehungen von Lomechusa strumosa (Biolog. Centralbl. XTI, 1892, Nr.18—21). Es sei jedoch hier beigefügt, dass die Internationalität von Lomechusa zunächst nur für die Imago gilt. Die Larven von Lomechusa werden nach meinen seitherigen Versuchen nur in fremden Kolonien von F\. san- guinea regelmäßig adoptiert und erzogen, während sie bei rufa, pratensis und truncicola meist nur vorübergehend adoptiert und dann aufgefressen werden. Hieraus müssen wir folgern, dass die Sitte der Formica, die Larven von Lomechusa zu erziehen, phylogenetisch weit späteren Datums ist, als das echte Gastverhältnis der Imago zu jenen Ameisen. Dies schließt jedoch nicht aus, dass mit Lomechusa infizierte Kolonien von F. rufa und pratensis in freier Natur manchmal auch die Larven derselben erziehen bis zur Pseudogynenbildung. (Neue Bestätigungen der Lomechusa-Pseudogynentheorie in: Verh Deutsch. Zool. Gesellsch. 1902, S. 102.) 3) Die Käferwirte (Winterwirte) sind für alle Atemeles dieselben, nämlich die Rassen von Myrmica rubra L. Über diesen Saisondimorphismus in der Biologie von Atemeles siehe die oben zitierten Arbeiten. is 570 Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. Wir müssen nämlich annehmen, dass Atemeles pubicollis seine Speziescharaktere der Anpassung an F! rufa (seinen Larvenwirt) verdankt und dass die Var. Foreli dieses Atemeles erst später zu F. sanguinea überging und sich ıhr in der Färbung anpasste. Es liegt hier somit eine auf relativ rezentem Wirtswechsel beruhende Varietätenbildung vor, durch welche die Var. Foreli des At. pubi- collis entstand. At. pratensoides, den ich 1903 ın großer Anzahl bei Luxemburg entdeckte, ist bisher überhaupt nur von diesem einzigen Fundort bekannt. Er ist durch Anpassung an seinen Larvenwirt, F. pra- iensis, zu einer von den übrigen Atemeles sogar „spezifisch“ ver- schiedenen Form geworden. Wir müssen annehmen, dass die ört- liche Isolierung der betreffenden pratensis-Nester von den Nestern anderer Formica-Arten gerade hier die Entwickelung einer eigenen Atemeles-Art bei F. pratensis besonders begünstigt hat. Da F. pra- tensis allerorts ebenso häufig ist wie F. rufa und trotzdem den Atemeles pratensoides nur so selten besitzt, während Atemeles pubi- colis bei F. rufa durch ganz Europa nicht selten ist, so handelt es sich bei At. pratensoides wahrscheinlich um eine relativ rezente Artenbildung, die durch besondere örtliche Verhältnisse begünstigt wurde. Am 27. April 1905 fand ich bei Luxemburg in einem Neste von Myrmica ruginodis eine durch ganz schwarzbraune Färbung ausgezeichnete Varietät des Atemeles paradoxus, die ich als Var. nigricans beschrieb!). Da F\ rufibarbis der Larvenwirt des Al. paradoxus ist, und da in der Nachbarschaft jenes Myrmica-Nestes mehrere Nester von sehr dunkel gefärbten F. rufibarbis Var. fusco- rufibarbis sich befanden, liegt die Annahme nahe, dass die Var. nigricans des paradoxus aus einer rezenten Anpassung an die Lebensweise bei F. fusco-rufibarbis hervorgegangen sei. In dem- selben Myrmica-Neste fand sich jedoch zugleich auch ein paradoxus von normaler Färbung vor zugleich mit einigen At. emarginatus. Da die Atemeles, von verschiedenen Formica-Arten oder Rassen kommend, oft ın denselben Mwyrmica-Nestern zusammentreffen, lässt sich natürlich nicht mehr fesstellen, ob die Var. nigricans des At. paradoxus ın dem nämlichen Formica-Neste mit der Normal- form des paradoxus erzogen worden war oder nicht. Weitere Funde müssen deshalb erst darüber Aufschluss geben, ob wir in jener Var. nigricans wirklich eine neue Anpassungsform an F\ rufibarbis Var. fusco-rufibarbis zu sehen haben. Wir hätten also bei den Atemeles folgende drei Anpassungs- etappen zu unterscheiden. a) Die älteste Anpassung ihrer Vorfahren an das echte Gast- 1) Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiol. 1906, 1. Heft. Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. 571 verhältnis bei Formica. Durch diese Anpassung ist die ganze Gruppe der Lomechusini ursprünglich monophyletisch entstanden; sie er- folgte vor der Differenzierung der heutigen Gattungen Lomechusa, Atemeles, Xenodusa. b) Eine jüngere Anpassung an Myrmica, durch welche die Gattung Atemeles entstand. Durch diese sekundäre Anpassung differenzierten sich die drei Gattungen der Lomechusini: zu echten Lomechusa wurden die bei Formica dauernd verbleibenden ein- wirtigen Formen, zu Atemeles wurden die zu Myrmica als sekun- dären Wirten übergehenden doppelwirtigen Formen, zu Xenodusa wurden die zu Camponotus als sekundären Wirten übergehenden Formen. c) Eine allerjüngste Anpassung, durch welche innerhalb der Gattung Atemeles die Differenzierung der heutigen Arten und Rassen sich vollzog, indem dieselben neben ihrer gemeinschaftlichen Anpassung an Myrmica noch besondere Anpassungen an bestimmte Formica-Arten oder Rassen ausbildeten. Dieser letzte Anpassungs- prozess scheint auch heute noch nicht vollständig abgeschlossen zu sein, wenigstens nicht für alle betreffenden Formen. Ähnliches gilt wahrscheinlich auch für die NXenodusa Nordamerikas. 3. Zur Umbildung von Dorylinengästen in Termitengäste. In den letzten Jahren ıst unsere systematische und biologische Kenntnis der Gäste der Wanderameisen (Dorylinen) einerseits und der Gäste der Termiten andererseits sehr bereichert worden durch eifrige Forschungen in den Tropen. Eines der interessantesten Er- gebnisse jener Forschungen ıst wohl die Entdeckung, dass ge- wisse Termitengäste erst ın relativ rezenter Zeit von der dorylophilen zur termitophilen Lebensweise überge- gangen sind. Die betreffenden Beispiele für die Umwandlung von Ameisen- gästen in Termitengäste stammen aus einer Unterfamilie der Sta- phyliniden, welche Fauvel nach der ältesten beschriebenen Gattung derselben als Pygostenini benannt hat. Die Pygostenini gehören nach ihrer gemeinsamen morphologischen Eigentümlichkeit zum Trutz- typus der Dorylinengäste. Sie sind durch ihre keilförmige Körper- gestalt, durch die eigentümliche Bildung der Hinterleibspitze und namentlich auch durch die “enggeschlossenen, horn- oder spindel- förmigen Fühler ausgezeichnet, deren erstes Glied tonnenförmig ausgehöhlt ist und als Gelenkpfanne für den übrigen Teil des Fühlers dient. Ihre konische Körpergestalt zugleich mit der Kürze ihrer Extremitäten macht sie für die Kiefer ihrer wilden Wirte weniger leicht angreifbar. Auch die Kürze und die konisch zu- gespitzte Form der Fühler ist ein Merkmal des Trutztypus, während die eigenartige Bildung des ersten Fühlergliedes die Beweglichkeit 572 Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. der Fühler erhöht und dadurch einen biologisch wichtigen Ersatz für die Verkürzung dieser Organe bietet. | Unter den Gattungen der Pygostenini, welche sämtlich Be- gleiter von afrikanischen und indischen Wanderameisen sind, um- fassen Pygostenus Kr. und Doryloxzenus Wasm. die zahlreichsten Arten. In diesen beiden Gattungen finden sich auch die erwähnten interessanten Beispiele der Umwandlung einiger Arten aus Ameisen- gästen in Termitengäste, und zwar bei Doryloxenus ın Ostindien, bei Pygostenus neuerdings in Afrika. Für zwei ostindische Dorylozenus-Arten (transfuga und termi- lophilus Wasm.) konnte ich bereits vor zwei Jahren zeigen!), dass wir für ihre Lebensweise bei Termiten sowie für die morpholo- gischen Unterschiede, durch die sie von den übrigen, bei Dorylinen lebenden Arten derselben Gattung abweichen, keine andere natür- liche Erklärung haben als die, dass sie in relativ rezenter Zeit — wahrscheinlich erst während der Diluvialzeit — aus der Ge- sellschaft der Ameisen in jene der Termiten übergegangen sind. Auch die äußere Veranlassung zu jenem Übergang lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit angeben: Die Dorylozenus pflegen als Reiter auf den räuberischen Dorylinen zu sitzen und sie auf ihren Raubzügen zu begleiten, welche besonders häufig gegen Ter- mitennester sich richten; bei Gelegenheit eines solchen Überfalls wurden in den engen Gängen des Termitennestes die kleinen Reiter von dem Körper ihrer Wirte abgestreift und blieben im Termiten- neste zurück, wo sie sich zu Termitengästen umbildeten. Unter Beibehaltung der alten Gattungscharaktere, welche — wie die völlige Umbildung der Tarsen zu Haftorganen — noch an die frühere dorylophile Lebensweise erinnern, haben sie neue spezifische Charaktere erworben, durch die sie gewissen viel älteren Termiten- gästen des Trutztypus aus derselben Coleopterenfamilie sich nähern: die Skulptur wird glänzend, die Behaarungsweise ändert sich und der Kopf beginnt auf der Unterseite des Körpers hinabzurücken. Denken wir uns diesen Umbildungsprozess weiter fortgesetzt, so gelangen wir schließlich zu der termitophilen Gattung Discoxenus Ostindiens und von dieser endlich zu der indisch-afrikanischen Gat- tung Termitodiscus (Termitenscheibchen), welche den vollkommensten Trutztypus der termitophilen Aleocharinen-Verwandten darstellt. Der Gedanke liegtdaher nahe, auch die beiden letzteren Gattungen hypothe- tisch abzuleiten von ehemaligen Dorylinengästen, die vor viel längerer Zeit aus der Gesellschaft der Wanderameisen in diejenige der Ter- miten übergegangen seien. Es kann sich hier jedoch, wie ich bereits 1) Zur Kenntnis der Gäste der Treiberameisen etc. Zool. Jahrb. Festschr. f. Weismann. 1904, S. 611-682, mit 3 Taf., S. 651ff.; Die phylogenetische Um- bildung ostindischer Ameisengäste in Termitengäste. ©.R. VI. Congr. Int. Zool. p. 436—448 mit 1 Taf.; Biologieund Entwickelungstheorie. 2. Aufl.,Kap. 9, S.238— 245. Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. 575 1904 zeigte, nicht um einen e@inzigen realen Entwickelungsprozess handeln, sondern nur um drei verschiedene, ähnlich verlaufende Entwickelungsreihen, deren jüngste zu den heutigen termitophilen Doryloxenus Ostindiens führte, die etwas ältere zu den heutigen ostindischen Discoxenus und die allerälteste zu den heutigen indisch-afrikanischen Termitodiscus. Außer anderen Gründen war es namentlich die Tarsenbildung jener drei Gattungen, welche die Aufstellung jener drei getrennten Entwickelungsreihen forderte: Denn die heutigen Doryloxenus — auch die termitophilen Arten — haben vollkommen rudimentäre Tarsen, die zu Haftorganen umgebildet sind, um die kleinen Reiter auf dem Rücken der Wanderameisen festzuhalten. Die Gattungen Discoxenus und Termitodiscus haben dagegen normale Tarsen. Eine Rückkehr zur ursprünglichen Tarsenbildung ist aber phvlogenetisch sehr unwahrscheinlich. Daher bemerkte ich schon 1904, die beiden älteren Entwickelungsreihen, welche zu den heutigen Discoxenus und Termitodiscus führten, müssten ihren Ausgangspunkt von „Doryloxenus-Verwandten“ genommen haben, die noch normale Tarsen besaßen. Diese hypothetische Kombination hat nun durch neue Ent- deckungen im tropischen Westafrika eine greifbare Stütze gewonnen. Unter den Termitengästen, welche E. Luja am unteren Kongo (bei Sankuru, Süd-Kassaı) 1904-1905 sammelte und mir zusandte, findet sich eine neue kleine termitophile Art der Gattung Pygostenus, welche gleich den zahlreichen dorylophilen Arten des- selben Genus normale Tarsen besitzt. Sie lebt in den pilzförmigen Bauten von „Eutermes* (Cubitermes W asm.!) fungifaberSjöst. Ferner sandte mir Fauvel unter den von Escalera am Cabo San Juan (Gabun) gefundenen Staphyliniden ebenfalls eine neue kleine Pygo- stenus-Art zur Ansicht, welche der von Luja am Kongo entdeckten sehr nahe steht. Biologische Angaben fehlen bei der Fauvel’schen Art. Dass sie bei Termiten lebt, und zwar bei derselben Wirtsart wie der von Luja am Kongo entdeckte termitophile Pygostenus, ist jedoch sehr wahrscheinlich; denn unter den Escalera’schen Staphyliniden findet sich auch eine Art der Gattung Termitusa Wasm. (T. Esca- 1) Ich gebe hier die kurze Diagnose dieser neuen Termitengattung, deren Typus Termes bilobatus Havil. bildet. Sie steht den Gattungen Capritermes und Miro- termes Wasm. nahe. Cubitermes n. g. Soldat mit großem, hohen, von oben und seitlich fast rechteckigem oder würfelförmigem Kopfe (daher Cubitermes). Vorderteil der Stirn steil abfallend, mit einem, von einem Borstenkranze umgebenen Fontanell- punkte. Oberkiefer schmal säbelförmig, etwas kürzer als der Kopf. Oberlippe gabelförmig (tief zweispaltig). Fühler meist 15-gliedrig. Arbeiter mit weißem, viel kleinerem Kopf als bei Eutermes, Epistom sehr stark gewölbt. Fühler meist 15-gliedrig. Imago alata kaum größer als der Soldat, meist dunkel gefärbt und dicht behaart mit rauchfarbigen Flügeln. Auf der Stirn ein kleiner Fontanellpunkt Fühler 15—16-gliedrig. Nähere Diagnose später. 7 Arten aus Afrika liegen mir vor, darunter 3 neue, 574 Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. lerae Fauv.), deren Wirt nach Luja’s Funden am Kongo ebenfalls Oubitermes fungifaber ıst. In einer größeren Arbeit über neue afrikanische Termitophilen werde ich die nähere Diagnose des Pygostenus termitophilus vom Kongo geben. Hier sei Folgendes zu der Charakteristik dieser neuen Art bemerkt. Sie ist nur 2,5 mm lang und kaum 0,8 mm breit, bedeutend kleiner als die meisten dorylophilen Arten; nament- sich ist sie relativ schmaler als diese. Ihre Fühler sind länger, den Hinterrand des Halsschildes bedeutend überragend. Die Ober- seite des gelbbraunen, auf Kopf und Flügeldecken etwas dunkleren Körpers ist stark glänzend, und zwar ‚nicht bloß auf dem Vorder- körper, sondern auch auf dem Hinterleib, der bei den dorylophilen Arten durch dichte Strichelung stets matt, oder fast matt ist; nur auf der hinteren Hälfte des Abdomens zeigt sich bei D. termitophilus eine äußerst feine Strichelung. Die Oberseite ıst völlig unbehaart, mit Ausnahme der Randborsten und Spitzenborsten des Hinterleibs, während bei den dorylophilen Arten wenigstens der Hinterleib dorsale Querreihen von Borsten und eine feine anliegende Be- haarung trägt. Der Kopf ist stärker gewölbt als bei den letzteren. Sehr ähnlich mit Pyg. termitophilus ıst der andere, von Escalera in Gabun entdeckte P. infimus Fauv. der wahrscheinlich ebenfalls termitophil ist und von Fauvel beschrieben werden wird. Er ist noch kleiner und schmaler als dieser (1,4 mm lang und kaum 0,5 mm breit) und etwas dunkler gefärbt. Vergleichen wir nun diese beiden termitophilen Pygostenus Afrikas mit den beiden termitophilen Doryloxenus Ostindiens, so ergibt sich Folgendes. Erstere sind von den dorylophilen Arten der nämlichen Gattung etwas weniger weit abgewichen als letztere. Der Kopf ist bei ihnen nicht vorn tief eingedrückt, sondern nur stärker gewölbt als bei den dorylophilen Pygostenus während die termitophilen Doryloxenus gerade hauptsächlich ın der Kopf- bildung von ihren dorylophilen Gattungsgenossen sich unterscheiden. Die Aenderungen in der Skulptur und Behaarung des Körpers be- wegen sich jedoch in derselben Richtung bei den termitophilen Arten beider Gattungen: die Körperoberfläche wird glatt und stark glänzend, die anliegende Behaarung schwindet vollständig und die abstehenden Borsten beschränken sich auf die Seiten und die Spitze des Hinterleibes. Wie haben wir uns also_die beiden termitophilen Pygostenus-Arten Afrikas stammesgeschichtlich zu er- klären? Dass sie gleich den weit zahlreicheren dorylo- philen Arten derselben Gattung ehemals Dorylinengäste waren, ist nicht zu bezweifeln; denn die Gattungsmerkmale, die zum Trutztypus der Dorylinengäste gehören, sind dieselben wie bei den Wanderameisengästen des nämlichen Genus. Wir Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengässen u. Termitengästen. 575 können unmöglich annehmen, dass diese Gattungsmerkmale bei den termitophilen Arten unabhängig von der dörylophilen Lebensweise entstanden seien; also bleibt nur die Annahme übrig, dass die be- treffenden jetzt termitophilen Pygostenus früher ebenfalls bei Wander- ameisen gelebt haben und erst in rezenter Zeit zu den Ter- mitenübergegangen seien. Daihre Unterschiede von den dorylo- philen Pygostenus etwas geringer sind als die zwischen den termito- philen und den derylophilen Dore yloxenus bestehenden Unterschiede, dürfen wir ferner annehmen, dass bei jenen Pygostenus der 508 gang zur termilophilen Lebensweise vielleicht in noch rezenterer Zeit stattgefunden habe als bei den ostindischen Doryloxenus. Die äußere Veranlassung, welche die afrikanischen Pygostenus aus der Gesellschaft der Dorylinen in jene der Termiten führte, dürfte etwas verschieden gewesen sein von den Faktoren, welche in Ostindien den rezenten Übergang von Doryloxenus- "Arten zur termitophilen Lebensweise vermittelt haben. In Ostindien sind schon während der Diluvialzeit die oberirdisch jagenden Dorylinen verschwunden, und dieser Wechsel in der Lebensweise der Wirte wird auch für den Wechsel ın der Lebensweise der Gäste ein wichtiges Moment gewesen sein. Im tropischen Afrıka sind aber heute noch die oberirdisch wandernden Dorylus (subg. Anomma) ın massenhafter Individuenzahl vertreten; also fällt jener Grund des Wirtswechsels für die afrıkanischen Dorylinengäste fort. Ferner ist hier die Verschiedenheit der Lebensweise bei Dorylowenus und Pygostenus zu berücksichtigen. Erstere sitzen gewöhnlich als Reiter auf dem Hinterleib ihrer Wirte und können deshalb bei den häufigen Überfällen, welche die Wanderameisen gegen Termitennester unter- nehmen, leicht in die Gänge der Termitenbauten gelangen und dort abgestreift werden. Die Pygostenus sind dagegen nach den Be- obachtungen von P. Kohl gewandte Läufer, welche zu Fuß die Heere der Treiberameisen begleiten. Allerdings haben auch sie nach meinen mikroskopischen Untersuchungen Hafthaare an den Vorderfüßen!). Namentlich die kleineren Arten sind also gelegentlich auch imstande, an dem Rücken ihrer Wirte sich festzuhalten und so weiter befördert zu werden; aber ihre gewöhnliche Bewegungs- weise ist es nicht: Die Pygostenus können also auch auf andere Weise in die Gesellschaft der Termiten gelangt sein als die Dorylo- xzenus; entweder dadurch, dass sie bei einem abe schen Überfalle eines Termitennestes in den Gängen desselben sich verirrten, oder auch dadurch, dass sie auf dem Marsche der Treiberameisen durch einen Zufall von ihren Wirten getrennt wurden. Wenn sie letztere nicht wiederfanden, so mussten sie eben anderswo einen Schlupf- 1) Zur Kenntnis der Gäste der Treiberameisen ete. S. 645—646,. 576 Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. winkel suchen, und diesen fanden sie am leichtesten in den Bauten einer häufigen Termitenart, deren Kiefer ihnen nicht so gefährlich werden konnten, wie diejenigen fremder Ameisen. In diesem Falle kann also ebensogut die unstete Lebensweise der Dorylinen als ihre Sitte, Termitennester zu berauben, die Veranlassung dazu gewesen sein, dass Pygostenus-Arten in die Gesellschaft von Termiten übergegangen sind. Fassen wir nun das Ergebnis unserer Untersuchung über den Übergang von Dorylinengästen zur termitophilen Lebens- weise kurz zusammen. Wir haben anzunehmen: I. Zwei rezente Übergangsperioden, welche auf Grund der Tatsachen als sehr wahrscheinlich, ja als nahezu sicher bezeichnet werden dürfen, und zwar: a) Den Übergang von echten Pygostenus-Arten zur termitophilen Lebensweise im tropischen Afrika in allerjüngster Zeit (erst nach der Diluvialzeit?). b) Den Übergang von echten Doryloxenus-Arten zur termi- tophilen Lebensweise in Ostindien in etwas früherer Zeit (während der Diluvialzeit?). II. Zwei ältere Übergangsperioden, auf welche wir nur nach Analogie mit den beiden rezenten schließen können, und welche daher einen mehr hypothetischen Charakter tragen: a).-Einen Übergang von Pygostenini-ähnlichen Formen zur termito- philen Lebensweise in Ostindien, wodurch die heutige ostin- dische Gattung Discoxenus entsand (am Ende der Tertiärzeit?). b) Einen Übergang von Pygostenini-ähnlichen Formen zur termito- philen Lebensweise auf dem noch vereinigten indisch-afrika- nischen Kontinent, wodurch die heutige indisch-afrikanische Gattung Termitodiseus entstand (in der Mitte der Tertiärzeit?). Weitere Forschungen über die Dorylinengäste und Termiten- eäste Ostindiens werden uns vielleicht noch andere interessante Überraschungen bringen, welche wie die oben erwähnten von hohem stammesgeschichtlichem Interesse sind für die Entwickelung der Ameisengäste und Termitengäste. Nach den hier mitgeteilten Ent- deckungen über die termitophilen Doryloxenus Ostindiens und über die termitophilen Pygostenus Afrikas wird man den anfangs so kühn erscheinenden Gedanken einer „historischen Umwandlung von Ameisengästen in Termitengäste“ wohl nicht mehr als vage Hypothese bezeichnen dürfen. 4. Einige allgemeinere Bemerkungen zur Entwickelungstheorie. Im obigen werden einige Beispiele „rezenter Artenbildung* aus meinem wissenschaftlichen Spezialgebiete angeführt. Ferner sind auch in meinem bereits erwähnten Buche „Die moderne Biologie und die Entwickelungstheorie“ (im 9. Kapitel der 1904 erschienenen Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. 577 Auflage) eine Reihe von neuen Beweisen für die Entwickelungs- theorie aus der vergleichenden Morphologie und Biologie der Ameisen- gäste und Termitengäste zusammengestellt. Während einige Kritiker jenes Buches darın einen Vorzug sahen, dass ich dies von der Ent- wickelungstheorie bisher noch nicht behandelte Gebiet als Beweis- material wählte, haben andere daraus gegen mich einen Vorwurf gemacht, dass ich die Entwickelungstheörie nur innerhalb meines Spezialgebietes anerkannt und die übrigen bereits bekannten Be- weismomente vernachlässigt hätte. So beispielsweise F. v. Wagner in einer Besprechung im „Zoologischen Centralblatt“ 1905, Nr. 22, S. 691—699. Dieser Vorwurf ist ebenso kurzsichtig wie ungerecht. Es war, wie in jenem Buche wiederholt betont wurde, nicht meine Absicht gewesen, ein „Lehrbuch der Deszendenztheorie“* zu schreiben. Die hauptsächlichen Beweisquellen aus der Paläontogie, der vergleichenden Morphologie und Entwickelungsgeschichte sind übrigens sowohl im 8. als im 9. Kapitel jenes Buches gelegentlich hervorgehoben worden. Es ist ferner völlig unbegreiflich, wie ein Rezensent, der das 8. Kapitel („Gedanken zur Entwickelungslehre“) überhaupt gelesen, im Ernste behaupten kann, ich hätte die Entwickelungstheorie nur „innerhalb meines Spezialgebietes“ als berechtigt anerkannt. Man vergleiche z. B. den Abschnitt S. 179—185 „Die Entwickelungs- theorie ım Lichte der copernikanischen Weltanschauung.“ Dass ich bloß die aus meinem Spezialgebiet 'entnommenen Beispiele ein- gsehender ausführte, hatte seinen Grund darin, dass das Buch an erster Stelle für jene konservativ gesinnten Kreise geschrieben worden war, welche gegen die landläufigen Beweise für die Deszendenz- theorie sowohl durch die Haeckel’schen Stammbäume als durch Fleischmann’s Kritik jener phylogenetischen Spekulationen in hohem Grade misstrauisch gemacht worden waren. Daher war es psychologisch notwendig, das Thema auf neuer, selbständiger Grund- lage zu behandeln. Meine Stellung zur Entwickelungstheorie steht in der Mitte zwischen jenen beiden Extremen, welche durch Fleischmann und die Konstanztheoretiker einerseits und durch die Deszendenzfanatiker andererseits bezeichnet werden. Fleischmann beging schon in den ersten Kapiteln seines Buches den Fehler, dass er den Nach- weis der Stammesverwandtschaft zwischen den großen Organisations- typen des Tierreichs als einen wesentlichen Punkt der Deszendenz- theorie hinstellte (z. B. S.33). Da aber dieser Nachweis bisher nicht gelungen ist, will Fleischmann die ganze Theorie verwerfen. Zu letzterem Zwecke hätte er vielmehr zeigen müssen, dass auch alle Versuche, innerhalb engerer Formenkreise eine Entwickelung der Arten zu beweisen, ebenso unhaltbar seien; dieser Teil seiner Argumentation ist aber sehr unvollständig und umfasst nur die XXVI. 37 578 Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. Kritik emiger weniger Beispiele. Auch ist die von Fleischmann (S. 4, 33 etc.) von Darwın’s „Entstehung der Arten“ gegebene Darstellung nicht zutreffend, aus der man schließen müsste, der Hauptgegenstand jenes Werkes sei der Nachweis einer Stammes- verwandtschaft der Kreise des Tierreiches untereinander gewesen. Darwin’s erwähntes Werk befasst sich vielmehr mit der Ent- stehung der Arten und sucht für die systematisch nahe ver- wandten Formen eine phylogenetische Erklärung zu bieten. Das Problem der Ableitung sämtlicher Organisationstypen des Tierreichs von einer oder wenigen Urformen berührt er nur nebenbei und ın ganz unbestimmter Fassung. Das letztere Problem gehört daher nicht zum Wesen der Deszendenztheorie. Was gehört also eigentlich zum Wesen der Entwickelungs- theorie als naturwissenschaftlicher Hypothese und Theorie? Zu ihrem Wesen gehört, dass sie die absolute Konstanz der systematischen Arten aufgibt und an deren Stelle die stammesgeschichtliche Entwickelung der Arten innerhalb bestimmter (einfacher oder verzweigter) Formenreihen setzt, soweit solche Formenreihen bisher mit genügender Zuver- lässigkeit nachweisbar sind. Zum Wesen der Entwickelungs- theorie gehört also keineswegs, dass sie eine einstammige Ent- wickelung des ganzen Tierreichs oder Pflanzenreichs nachzuweisen vermöge. Sie wird gerade so gut Entwickelungstheorie bleiben, wenn sie für eine vielstammige Entwickelung beider Reiche sich entscheidet. Noch viel weniger aber gehört es zum Wesen der Entwickelungstheorie, dass sie die erste Entstehung der Organismen durch „Urzeugung“ erkläre; denn der Ursprung des Lebens ist eine über das naturwissenschaftliche Gebiet hinausliegende, zur Naturphilosophie gehörige Frage, die also nicht zum Gegenstand der Entwickelungslehre als naturwissenschaftlicher Hypothese und Theorie gerechnet werden darf. Das ist mein Standpunkt, den ich auch ım dem erwähnten Buche „Biologie und Entwickelungstheorie“ vertrat. Die- selben Bemerkungen, die ich im obigen gegen Fleischmann an- führte, gelten aber noch in erhöhtem Maße gegenüber jenen extremen Vertretern. der Deszendenztheorie, welche wie F. v. Wagner; und andere monistische Rezensenten heftige Angriffe gegen mein Buch gerichtet haben, weıl ich die Entwickelungstheorie nicht „in ihrem ganzen Umfange“ anerkennen wolle. Wenn man unter, diesem „ganzen Umfange“ der Entwickelungstheorie ihre Verquickung mit einer monistischen Weltauffassung versteht, — dann stehe ‘ich allerdings nicht auf dem Boden, der. Entwickelungstheorie. Aber ‚diese „monistische“ ‚Entwickelungslehre ist keine natur- wissenschaftliche Theorie, sondern ein aprioristisches Lehrge- bäude, das auf keine naturwissenschaftliche, Begründung Anspruch Wasmann, Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen u. Termitengästen. 579 erheben kann und deshalb auch nicht im Namen der Naturwissen- schaft sich Anerkennung erzwingen sollte. Mit einem großen Teile der heutigen Zoologen und Botaniker, namentlich aber der heutigen Paläontologen, unter denen ich besonders Koken und Steinmann nenne, neige ich zu der Ansicht, dass für den gegenwärtigen Stand unseres Wissens die Annahme einer polyphyletischen Entwickelung sowohl des Tier- wie des Pflanzen- reiches weit größere Wahrscheinlichkeit besitzt, als die Annahme einer monophyletischen Entwickelung aus einer einzigen „Ur- zelle“, die sich schließlich nur als ein schöner Traum herausgestellt hat. Da es sich nun in meinem obenerwähnten Buche, das, wie Emery und andere objektiv urteilende Kritiker richtig hervor- gehoben haben, an erster Stelle für christlich gläubige Kreise ge- schrieben war, vor allem darum handelte, die Vereinbarkeit der Entwickelungslehre als naturwissenschaftlicher Hypothese und Theorie mit der christlichen Weltauffassung darzulegen, bezeichnete ich die stammesgeschichtlichen Reihen oder „Stämme“ der Entwickelungs- theorie mit dem neuen Namen „natürliche Arten“ und stellte den Satz auf: Es gibt so viele natürliche Arten, als es ursprünglich verschiedene Stammformen oder Prototypen gab. Wie groß oder wie klein die Zahl dieser natürlichen Arten oder Stammesreihen sei, welchen systematischen Umfang wir jeder derselben zuzuschreiben haben, wie die ursprünglichen Stammformen beschaffen waren, welche Ursachen ferner die Stammesentwickelung im einzelnen geleitet haben — das habe ich ausdrücklich und wiederholt als Fragen bezeichnet, an deren Lösung die entwickelungs- theoretische Forschung der Zukunft ruhig weiterarbeiten solle. Die Schöpfungstheorie, welche die ersten Organismen zwar aus der anorganischen Materie, aber unter Mitwirkung einer höheren Gesetzmäßigkeit entstehen lässt, bildet also gar keinen Gegensatz zur Entwickelungstheorie, insofern diese eine naturwissenschaft- liche Hypothese und Theorie ist; denn der erste Ursprung des Lebens liegt bereits außerhalb des Bereiches dieser Theorie und wird von ihr als gegeben vorausgesetzt. Gegen diese meine Auffassung haben sowohl F. v. Wagner als auch andere meiner monistischen Rezensenten lebhaften Wider- spruch erhoben, aber nicht auf naturwissenschaftliche Gründe hin, Sondern auf monistische. Da die sachlichen Gründe zur Bekämpfung nicht ausreichten, haben sie ferner den obigen Begriff der natürlichen Art zu verdrehen und zu entstellen gesucht (Fore)). Besonders eifrig hat v. Wagner nach „theologischen Tendenzen“ in meinem Buche gesucht, um den Mangel an Objektivität desselben nachzuweisen; dass er selber hierbei von „monistischen Tendenzen“ geleitet wurde, scheint ihm entgangen zu sein. Es macht in der Tat einen merkwürdigen Eindruck, wenn die neun Seiten lange 37% 580 v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. Besprechung meines Buches im zoologischen Centralblatt durch F. v. Wagner in den Satz ausklingt: „Es ist eben immer derselbe Missklang, wenn die Wissenschaft nur auf der Zunge liegt und nicht im Herzen (sic) sitzt!). Diese Ausdrucksweise war zwar etwas höflicher als jene Ernst Haeckel’s, der meine Stellung zur Entwickelungstheorie vom „jesuistischen Lügengeiste*“ inspiriert sein ‚lässt, aber „objektiv“ war sie ebensowenig wie letztere. Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben und der Schuppenformen während der Puppenentwickelung von Papilio podalirius. — Die Veränderung der Schuppenformen durch äufsere Einflüsse. Von Maria Gräfin v. Linden in Bonn. Die Schuppen der Schmetterlinge sind, wie bekannt, nicht nur in ihrer Farbe, sondern auch in ihrer Gestalt und ihrer Größe sehr veränderlich. Die Formverschiedenheiten der Schmetterlings- schuppen wurden zum erstenmal von Kettelhoit?) in eingehender Weise studiert und aus ihrem Verhalten Anhaltspunkte für die Systematik der Schmetterlinge abgeleitet. Kettelhoit stellte fest, dass der Typus der Schuppe durch den Verlauf der Seitenränder und namentlich durch das Vorkommen oder Fehlen des Ausschnittes an der Basis der Schuppe, des sogen. Sinus, bestimmt wird. Er fand z. B., dass die Schuppen der meisten Nachtfalter sınuslos waren, oder keinen Ausschnitt besaßen, während die von ıhm unter- suchten Schuppen der Tagfalter in der Regel durch einen größeren oder kleineren Sinus ausgezeichnet waren. 18 Jahre später machte es sich Schneider zur Aufgabe, zu untersuchen, wie sich die Schuppen der verschiedenen Flügel- und Körperteile zueinander verhalten. Schneider?) gelangte dabei zu folgenden allgemeineren Ergebnissen: 1. „Die Schuppen sind am Leib des Schmetterlings am stärksten entwickelt mit den be- deutendsten Processus, bei Rhopaloceren mit kleinstem, oft ganz fehlendem Sinus, sinken auf den Wurzelfeldern schon an Größe, auf den Mittelfeldern noch mehr und werden auf den Randfeldern am kleinsten bei Rhopaloceren und den wenigen Heteroceren mit bedeutendstem Sinus, allgemein mit abnehmendem Processus. Mit steigender Hervorbildung des Processus sinkt also die Größe des Sinus, mit steigender Hervorbildung des Sinus, die der Processus, ein Gesetz, das sich auch auf die Ver- hältnisse der Heterocerenschuppen zu den Rhopalocerenschuppen anwenden lässt. 3, Die freien Randschuppen sind immer sehr lang und dünn, mit einigen sehr spitzen Processus und stets fehlendem Sinus und schließen sich entweder unmittelbar 1) Ist im Originale durch Sperrdruck hervorgehoben. 2) Kettelhoit, De squamis Lepidopterorum. Dissert. Bonnae 1860. 3) Schneider, Die Schuppen an den verschiedenen Flügel- und Körperteilen der Lepidopteren. Zeitschr. f. d. gesamt. Naturwissenschaften 1878, Bd. III. v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. 581 an die typischen Randfelderschuppen an oder werden durch einige Lagen schmäler werdender Übergangsschuppen aus diesen vermittelt. 3. Die Cellula suprema — das Haftfeld — der Hinterflügel zeigt die eigen- tümlichen asymmetrischen Schuppen bei Rhopaloceren schief genagelt, bei Heteroceren schief gerandet, die dann in symmetrische aber noch fortsatzlose Schuppen über- gehen, welch letztere sich auf der Area basalis immer, auf der Area intima teilweise erhalten; diese gehen dann auf der Area media wieder in normale Schuppen über, die sich auf die Area limbalis völlig wie die der Vorderflügel stellen. 4. Die Schuppen der unteren Seite sind gegen die der oberen kräftiger ent- wickelt, sowohl was allgemeines Volumen als auch Größe der Processus betrifft. 5. Die asymmetrischen Schuppen der Cellula suprema der Hinterflügel, obere Seite, setzen sich auf die untere Seite der Vorderflügel, soweit diese die Cellula suprema decken, fort, gehen dann in den darüber liegenden Cellulis wieder in sym- metrische Schuppen ohne Processus über, die sich endlich in den Cellulis marginis anterioris, wie auch nach der Area media und der limbalis zu wieder in die typischen Schuppen umgestalten. 6. Die Cellula suprema der Vorderflügel zeigt meistenteils durch Größe und Processus ausgezeichnete Schuppen. 7. Die Thoraxschuppen werden repräsentiert bei den Rhopaloceren erstlich durch die kleinen stark schwarz pigmentierten, zweitens durch die sehr unregel- mäßig gebildeten, mit besonderen scharfspitzigen Processus versehenen Schuppen mit oft fehlendem Sinus und von schwankender, verhältnismäßig unbedeutender Größe; bei den Heteroceren sind die Thoraxschuppen ebenfalls durch sehr be- deutende Processus, zugleich aber durch die allgemeine Größe ausgezeichnet, worin sie die Schuppen aller übrigen Körperteile übertreffen. Die größten aller be- obachteten Schuppen waren Thoraxschuppen von Heteroceren. 8. An den Füßen zeigen die Schuppen des Femur gegen die der Tibia eine kräftigere Ausbildung, welches Verhältnis bei den Rhopaloceren konstant, bei den Heteröceren allerdings nicht immer mit Sicherheit zu erkennen ist. Die anormalen Schuppen glasheller Stellen, sowie Tüpfel und Federbuschschuppen sind aus dem Kreise der Gesetzmäßigkeiten ausgeschlossen, ebenso natürlich der Ausnahmsfall, wo die Beschuppung ganz fehlt. Schließlich sind als verschiedene Arten von Schuppen- bekleidung auf Glasstellen folgende zu erwähnen: | a) Sehr kleine aber wohl pigmentierte Schuppen stehen sporadisch dünn ver- streut (Eryciniden, Heliconiden), oder haarartige Gebilde (exotische Saturniden). b) Ziemlich große, regelmäßige, aber pigmentlose Schuppen, ohne Processus stehen dicht, wie auf anderen Teilen des Körpers (Hesperiden). c) Die glashellen Felder entbehren der Schuppen überhaupt (Sesioideen).“ Aus dieser Zusammenstellung Schneider’s ersehen wir, dass die Schuppenform nicht nur bei verschiedenen Arten sehr variabel ist, sondern dass auch die verschiedenen Stellen der Körperbedeckung abweichend gestaltete Schuppen tragen. Über die Ursache. dieser auffallenden Formverschiedenheit der Schmetterlingsschuppen geben uns die bisherigen Untersuchungen keinen Aufschluss, sie lehren uns auch nicht, ob diese Organe schon bei ihrer Bildung gewisse Formeigentümlichkeiten zeigen, oder ob sie sich, ursprünglich gleich gestaltet, erst später differenzieren. Die vorliegende Studie soll nun zur Lösung dieser zweiten Frage einen Beitrag liefern und auch über die die Schuppenform bedingenden Momente, soweit als es auf Grund von Experimenten heute schon möglich ist, einiges aussagen. Gleichzeitig werden die Färbungsphänomene der Schuppen beiin Segel- falter in ihrer ontogenetischen Entwickelung eingehender besprochen. 582 v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben etc. Um die Ontogenese der verschiedengefärbten Flügelschuppen des Segelfalters einwandsfrei verfolgen zu können, um zu bestimmen, welchen Veränderungen die Flügelschuppen im Laufe der Puppen- entwickelung unterworfen sind, war es in erster Linie geboten, die zum Vergleich zu verschiedenen Zeiten konservierten Schüppchen stets einem und demselben Flügelbezirk zu entnehmen; denn die Schneider’schen Ergebnisse haben ja gezeigt, wie sehr die Form von dem Standort der Schuppen abhängig ist. Ich untersuchte die gelben Schuppen der Grundfarbe, die Schuppen der dunkeln Binden und die orangegelben und blauen Schuppen der Prachtzeichnung an der Unterseite des Hinterflügels von Papilio podalirius. Die Schuppen der Grundfarbe entnahm ich dem Mittelfeld an der Oberseite des Vorderflügels, die dunkeln Schuppen den Binden I und II am Flügelseitenrand und die orange- gelben und blauen Schuppen stammten vom Afterfleck, somit die beiden ersten von der Oberseite des Vorderflügels, die beiden letzten von der Unterseite des Hinterflügels. Die Schuppen wurden fünf in aufeinanderfolgenden Ent- wickelungsstadien stehenden Schmetterlingspuppen entnommen. Dem jüngsten Stadium, das zur Untersuchung kam, fehlte noch jede Zeichnung. Der Flügel war im getrockneten Zustand gelblich- weiß. Im Bereich der Diskoidalzelle schimmert die rotgefärbte Flügelmembran durch die hier noch weniger dichte Schuppendecke hindurch (Stadium 1). Auch auf der als zweites Stadium be- zeichneten Entwickelungsstufe fehlte noch die dunkle Zeichnung. Der Flügel war gelblichweiß und schimmerte rosa. Am Seiten- rand, an der Flügelspitze, an der Gabelzelle und an der zweiten Seitenrandzelle erschien der Flügel dunkler gelb wie auf der übrigen Fläche, die Schuppen standen hier auch dichter wie an anderen Stellen. Im dritten Stadium waren die dunkeln Zeichnungen als gelbgraue Streifen angelegt, im vierten Stadium zeigten sich die- selben bedeutend dunkler pigmentiert. Das fünfte Stadium ent- sprach dem fertig ausgebildeten und ausgefärbten Flügel. I. Entwickelung der Schuppen der hellgelben Grundfarbe (Fig. 1—6). Dem unbewaffneten Auge erscheinen die Schuppen, wenn sie auf dunkeln Grund gehalten werden, weiß. Bei schwacher Ver- größerung (Obj. A. A. Oc. 1. Tub. 16 mm. Zeiss) und auffallendem Licht sind dieselben farblos oder weißgelblich, je nachdem sie vereinzelt oder zu mehreren übereinander liegen, sie werden hell goldglänzend, wenn wir durch Vorhalten der Hand so abblenden, dass die Schuppen nur von den einfallenden Randstrahlen beleuchtet werden. Im durch- fallenden und auffallenden Licht und bei geöffneter Blende sind die Schuppen farblos, oder sie nehmen einen graugelblichen, Farbenton an, der teils durch eingelagertes Gerinnsel, teils durch die Struktur v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. 583 der Schuppenmembran selbst hervorgerufen wird. Schließen der Blende lässt die Schuppen da, wo sie zu mehreren übereinander liegen, dunkelgrauschwarz erscheinen. Die einzelnen Schuppen sind hell und dunkel gestreift und zwar sind die jetzt schon vor- handenen verdickten Streifen der Schuppenhaut, die Schuppen- leisten stets hell, deren Begrenzungen dunkel. An Stellen, wo die Leisten infolge von Verletzung fehlen oder noch nicht ausgebildet sind, ist die Schuppenhaut vollkommen durchsichtig. Wenden wir stärkere Vergrößerungen an, so verändert sich das Bild im wesentlichen nicht. Wir sehen dann, dass die Schuppen gelblich gefärbtes Plasma enthalten, das zum Teil körnige Ein- lagerungen darstellt. Auch die Schuppenmembran ist bei tiefer Einstellung gelblich gefärbt. In Alkohol ändern die Schuppen ihr Aussehen nur unbedeutend. Sie werden so durchsichtig, dass sie bei geöffneter Blende ganz verschwinden. Die bei trockenen Schuppen an den Leisten beobachteten hellen und dunkeln Streifen ver- schwinden vollständig, ein Beweis, dass sie durch Reflexion des Lichtes entstanden waren. Die Schuppen sind jetzt schwach gelb- lich gefärbt, etwas intensiver an den Stellen, wo die Leisten, die Verdickungen der Schuppenmembran, verlaufen. Die Schuppen sind jetzt noch sehr dünne fragile Gebilde, die sich leicht falten und leicht zerreißen. An ihrem Vorderrand be- sitzen sie alle lange, scharf zugespitzte Processus. Die Zahl dieser Fortsätze ist wechselnd. Sinusbildung ist an der Schuppenbasis noch nicht zu beobachten; die Schuppen sind an ihrer Basis und an ihrem Vorderrand ziemlich gleich breit. Die Länge der Schuppen beträgt im Durchschnitt 118 a. Die mittlere Breite einer Schuppe ist — 43,2 u, die mittlere Dicke, am gezackten Vorderrand gemessen = 1-2 u. Stadium II. Fig. 2. Das optische Verhalten der gelben Schuppen hat sich nur insofern geändert, als das feine gelbe, in dem Schuppenlumen eingelagerte Gerinnsel zugenommen hat und die Schuppe gelblicher erscheinen lässt. An der Schuppenform ist dadurch eine Änderung eingetreten, dass die Seitenlinien der Schuppe in die äußeren Processus nieht spitz auslaufen, sondern sich nach innen biegen und die vorher zackigen Fortsätze mehr abgerundet erscheinen lassen. Stadium HI. Fig. 3. Die Schuppen heben sich auf dunkelm Grund noch immer als weiße Punkte ab, auf hellem Grund ver- schwinden sie vollkommen. Bei schwacher Vergrößerung und auf- fallendem Licht sind die Schuppen gelbweiß glänzend, um so gelb- licher, je mehr Schuppen übereinander liegen. Bei durchfallendem Licht und offener Blende nehmen sie einen lichtgelben Ton’ an. Wird die Blende geschlossen, so verändern sie ihre‘ Farbe in grau, rötlichgelb, und erscheinen schließlich intensiv rot und gelb gestreift. 584 v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben etc. Die Leisten sind rot, die dünneren Stellen der Schuppenmembran sind gelb. In diesem Verhalten unterscheiden sich die gelben Schuppen von denen der dunkeln Zeichnung auf gleicher Entwickelungsstufe. Unter starker Vergrößerung (D.D.Oc.1) erscheinen die Schuppen ebenfalls lichtgelb; im Sehuppenlumen befinden sich kleine gelb- glänzende Körnchen, die am dichtesten in der Schuppenspitze am wenigsten dicht an der Schuppenbasis liegen. Beim Schließen der Blende geht die Farbe der Körnchen in bräunlichgelb über. In Alkohol untersucht, zeigt hauptsächlich die Schuppenmembran und weniger die Körnchen einen blassgelben Ton. Die Form der Schuppen ist dadurch verändert, dass die früher spitzigen Processus am Schuppenvorderrand jetzt abgerundet er- scheinen, eine Entwickelungsrichtung, die sich bereits im Stadium II bemerkbar machte. Die Processus selbst sind aber noch länger als bei den gleichaltrigen dunkeln Schuppen. Auch in ihrer übrigen Fig. 1. Fig. 2. Fie.3. Fig. 4 Fig. 5. Fig. 6. N f NL ; - N Al 4 {N AA | DN \ Fair \ IN ar m N AAN IN >38 ; ! | | | | I U £ \ | 1 \ | ; \ \ \ \ U ) y \ | Y \ \ \ Papilio podalirius. Schuppen der gelben Grundfarbe (Oberseite des Vorderflügels) fünf verschiedene Entwickelungsstadien. Fig. 1—5 Schuppen der verschieden alten Puppe. Fig. 6 Schuppen des ausgeschlüpften Schmetterlings. Gestalt sind die gelben Schuppen von den dunkeln verschieden, sie sind am Vorderrand breiter wie die letzteren. Die Länge der Schuppen beträgt jetzt im Durchschnitt: 120 a, die Breite: 43—-45 u, die Dicke: 3—4 u. Stadium IV. Fig. 4. Von einem dunkeln Hintergrund heben sich die Schuppen der Grundfarbe als weißlichgelbe Punkte ab, sie sind nieht mehr rein weiß. Auf hellem Grund sind sie bis auf einzelne, weiß glänzende noch immer kaum wahrnehmbar. Bei schwacher Vergrößerung und auffallendem Licht sind die Schuppen gelblichweiß und spielen ins grünliche. Bei durchfallendem Licht erscheinen sie intensiver gelb und spielen ins Braune, wo mehrere übereinander liegen. Mit stärkerer Vergrößerung betrachtet, lassen sich im Schuppenlumen, wie vorher gelblich glänzende Körnchen erkennen. Diese Färbung der Körnchen bleibt auch, wenn die Schuppe in Alkohol liegt, es handelt sich somit tatsächlich um pigmentierte Einlagerungen und nicht um optische Farben im v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. 585 engeren Sinn. Die gefärbten Körnchen sind jetzt in Reihen zwischen den Leisten angeordnet. Die Schuppen erscheinen in diesem Stadium an ihrem Vorder- rand erheblich verbreitert; die Fortsätze sind ne, und mehr oder weniger lang. Die Länge der Schuppen ist im Durchschnitt: 125 u, die Breite: 50 u, ihre Dieke: 3—4 u. Sie sind somit wieder gewachsen. Stadium V. Fig. 5 u. 6. In ihrem optischen Verhalten unter- scheiden sich die ausgebildeten Schuppen von denen der vorher- gehenden Entwickelungsperiode nur durch die größere Intensität der Pigmentfarben. Die Schuppenhaut ist immer noch sehr blass gefärbt, die Körnchen haben indessen an Zahl zugenommen und färben die trockene Schuppe grünlichgelb; nach dem Ausschlüpfen sind die Pigmentkörnchen noch zahlreicher. Die Gestalt der Schuppen ist jetzt ausgesprochen schaufelförmig, um so viel breiter ist ihr Vorderrand ım Vergleich zur Schuppenbasis. Die Länge der Schuppen beträgt 125 «u, die Breite 50 a, die Dicke 5 u. Nach dem Ausschlüpfen hat die Breite der Schuppen an ihrem Vorderrand noch mehr zugenommen, sie beträgt jetzt im Durch- schnitt 55—60 u. Die Processus sind fast vollkommen verschwunden. Wenn wir die Gestaltsveränderung der gelben Schuppen auf dem Flügel von P. podalirius ın den verschiedenen ontogenetischen Rene en verfolgen, so sehen wir, dass a Schuppen nicht nur nach allen Dimensionen an Größe zunehmen, sondern dass sie namentlich in zwei Richtungen eine Änderung in ihrer Form erfahren: Während ım ersten hier betrachteten Entwickelungs- stadium der Durchmesser in der Mitte der Schuppen am größten ist, erreicht derselbe bei der ausgewachsenen Schuppe sein Maximum am Schuppenvorderrand; die Schuppe wird schaufelförmig. Hand in Hand mit dieser Gestaltveränderung läuft die Umbildung der Schuppenfortsätze von spitzen, zackigen Gebilden in abgerundete Processus, die schließlich mehr oder weniger vollkommen mit- einander verschmelzen. Der Vorderrand der Schuppe neigt dazu, ganzrandig zu werden. II. Entwickelung der dunklen Bindenschuppen (Fig. 7—13). Die zur Untersuchung verwendeten dunkeln Schuppen wurden den Binden I und II der Vorderflügeloberseite entnommen. Im ersten Stadium (Fig. 7), in dem noch keine dunkle Zeichnung sichtbar ist, unterscheiden sich die später dunkel ge- färbten Schuppen noch nicht von denen der gelben Grundfarbe. Das optische Verhalten der Schuppen ist bis ins einzelne mit dem für die gelben Schuppen beschriebenen identisch und bedarf des- halb keiner besonderen Erwähnung. Auch in Gestalt und Größe weichen die später dunkel erscheinenden Schuppen nur wenig von 586 v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben etc. den gelben ab. Die Länge der Schuppen beträgt 118 u, die mittlere Breite 43,7 u, die mittlere Dicke 1,0 a. Die Schuppen sind sinuslos und tragen wie die gelben Schuppen an ihrem Vorderrand scharfe, spitzige Fortsätze. Auch im zweiten Stadium (Fig. 8. u. 21) ist von dunkler Zeichnung noch nichts zu beobachten und die Schuppen auf den Bänderstellen sind dementsprechend nur schwer von den Schuppen der Grundfarbe zu unterscheiden. Unter Alkohol betrachtet zeigen die Schuppen der Bänder allerdings jetzt schon ein wenig dunkleres gelbgraues Kolorit und außerdem treten die körnigen Einlagerungen etwas deutlicher hervor wie bei den später gelben Schuppen. Die Gestalt der Schuppen hat sich so gut wie gar nicht verändert, die Processus sind noch immer ziemlich lang und scharf zugespitzt. Die Schuppen sind etwas gewachsen, die durchschnittliche Länge beträgt jetzt: 120 u, die Breite 50 «, ihre Dicke 5—6 u. Die Fig. 7. Fig. 8. Fig. 9. Fig. 10. Fig. 11... Fig. 12. Fig. 13. N 2 RN N N N N \ | | | { \ / \ \ Papilio podalirius. Schuppen der dunkeln Bindenzeichnung (Oberseite des Vorderflügels I u. II). Fünf verschiedene Entwickelungsstadien. Schuppen erscheinen demnach hauptsächlich dicker und auch etwas breiter geworden. Stadium II. Fig. 9 u. 22. Die dunkeln Binden heben sich jetzt als gelbgraue Streifen von der Flügelfläche ab. Auf dunklem Grund erscheinen sie dem unbewaffneten Auge gelblichweiß, bei schwacher Vergrößerung und auffallendem Licht sind sie gelbweiß glänzend, bei gleichzeitig auffallender und durchfallender Beleuchtung und offener Blende wird der Glanz der Schuppen hellgoldgelb, um so intensiver, je heller von unten beleuchtet ‚wird. Schließen wır die Blende, so geht die vorher goldgelbe Schuppenfarbe in röt- licehgrau bis rotbraun über, da wo mehrere Schuppen übereinander liegen, erscheinen: sie einförmig dunkelbraun... Die Schuppen unter- a 'n sich in diesen Farbeneifehien von den gelben Schuppen, die auf gleicher Entwickelungsstufe und unter BER Bedingungen rotgelbe Farbe zeigen. . In Alkohol eingelegt erscheinen die Schüppchen ‚auf a Hintergrund als Eh ieae: Pünktchen. Von heller, Unterlage v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben etc. 587 heben sie sich als gelbe Punkte ab. Unter Alkohol zeigen die Schuppen die im trockenen Zustand sichtbaren Farbeneffekte in abgeschwächter Form, trotzdem ist ihre Färbung eine intensivere wie bei den gleichalten gelben Schuppen. Die Schuppenform hat sich in bezug auf die Processus bereits erheblich geändert. Dieselben sind nicht mehr spitzig, sie erscheinen abgerundet und weniger lang. Es treten somit genau dieselben Veränderungen ein wie bei den Schuppen, deren Entwickelung wir zuerst verfolgt haben. In einer Beziehung unterscheidet sich die Form der dunkeln Schuppen indessen jetzt schon von derjenigen der gelben. Während diese letzteren in dem vorliegenden Entwickelungsstadium bereits Papilio podalirius. Fig. 21. Schwarze Schuppe Stadium II (DD. Oc. 3 Zeiss) in Alkohol Struktur und Körnchen sichtbar. Fig. 22. Schwarze Schuppe Stadium III (DD. Oe. 1). Die körnigen Einlagerungen haben an der { Spitze sehr zugenommen. Fig. 23. Schwarze Schuppe Stadium IV (DD. Oe. 1). Schuppe nahezu ausgefärbt. anfıngen, schaufelförmig zu werden, ist das bei den dunkeln Schuppen nicht der Fall; sie behalten ihre anfängliche mehr ovale Gestalt auch später beı. Die Dimensionen der Schuppen haben sich wenig verändert. Ihre durchschnittliche Länge ist dieselbe geblieben, ihre Breite und Dicke hat dagegen etwas abgenommen. Länge 120 a, Breite 40-—43 u, Dicke 4 u. RE Stadium IV. Fig. 4 u. 23. Die dunkeln Binden heben sich jetzt als graue Streifen von der übrigen hellgefärbten Flügelfläche deutlich ab. Die einzelnen Schuppen erscheinen jetzt auf dunkeln Grunde gelbgrau, auf heller Unterlage grau mit gelblichem Schimmer. Mit schwacher Vergrößerung Betrachtet sind die Schuppen im auf- fallenden Licht gelblich gefärbt, wenn sie vereinzelt liegen, gelb 588 v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben etc. bis grau, wo mehrere übereinander gelagert sind. Derselbe Farben- unterschied ergibt sich bei Anwendung starker Vergrößerung. Bei geschlossener Blende erscheinen die Schuppen schwarzbraun. Die in dem Schuppenlumen eingelagerten Körnchen sind sehr stark lichtbrechend, ihre Oberfläche ist hellglänzend, während ihre Kon- turen sehr dunkel erscheinen: Die verdickten Streifen der Schuppen- membran, die dunkler gefärbt erscheinenden Leisten, sind regel- mäßıg angeordnet und reflektieren das Licht ebenfalls ziemlich stark. Zusatz von Alkohol verändert die Farben der Schuppen nur wenig, die Töne werden nur etwas heller und wir sehen jetzt, dass auch die Pıgmentkörner die Färbung der Schuppenmembran besitzen. Die Processus am Schuppenvorderrand sind fast vollkommen ver- schwunden, die Gestalt der Schuppen ist oval geblieben. Länge der Schuppen im Durchschnitt 120 a, Breite 50 u, Dicke 5—6 u. Stadium.V. Fig. 11—13. Die dunkeln Binden sind nun so gut wie ausgefärbt, das Präparat stammt von dem Flügel eines Segelfalters, der kurz vor dem Ausschlüpfen steht. Die Schuppen sind der Binde I am Seitenrand entnommen. Auf dunkelm Grund erscheinen die Schuppen grau, auf hellem grauschwarz. Auch mit schwacher Vergrößerung betrachtet zeigen sich die Schuppen grau- schwarz pigmentiert. An ihrer Basis und überall wo der in Körnchen eingelagerte Farbstoff fehlt, erscheinen die Schuppen mehr oder weniger glänzend gelb- oder weißgrau. Werden die Schuppen zur Lichtquelle so orientiert, dass der einfallende Lichtstrahl senkrecht zu dem Leistenverlauf steht, so treten auf den vom Licht abge- kehrten Leistenflächen deutliche Interferenzfarben auf. Die Schuppen sind auf dieser Entwickelungsstufe kaum durchscheinend, da ihr ganzes Lumen jetzt mit dunkeln Farbstoffkörnchen erfüllt ıst. Auch bei gleichzeitiger Anwendung von auffallendem und durchfallendem Licht bleiben die Farbeneffekte dieselben. Die Farbstoffkörnchen sind in der Schuppe nicht gleichmäßig verteilt, sie liegen dichter an der Schuppenspitze wie an der Schuppenbasis und bewirken die dunklere Färbung der ersteren. Die Schuppen sind in diesem Stadium um sehr viel reicher an Farbstoff wie auf der vorhergehenden Entwickelungsstufe; die ein- zelnen Farbstoffkörnchen erscheinen auch größer wie vorher. Zusatz von Alkohol hellt den Farbenton der Schuppen auf und zeigt, dass die Färbung der Schuppe einmal durch Pigmentierung der Schuppenmembran, besonders aber durch die im Schuppen- lumen enthaltenen Pigmentkörner bewirkt wird. Die Schuppen sind nun fast alle ganzrandig geworden, einige zeigen noch kleine Fortsätze am Vorderrand, namentlich finden sich ziemlich häufig zweispitzige Formen, aber mit ganz kurzen, abgerundeten Processus. Auf einem Präparat, das von den Schuppen v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. 589 der Wurzelbinde angefertigt war, hatten alle Schuppen zwei etwas längere Fortsätze. An der Schuppenbasis der meisten Schuppen lassen sich jetzt deutliche Sinusbildungen erkennen. Die Färbungsunterschiede, die zwischen den hellen und dunkeln Schuppen in diesem Stadium bestehen, werden nach dem Aus- schlüpfen des Falters noch dadurch vergrößert, dass sich in der allerletzten Periode, in der einen Schuppe der gelbe Farbstoff, in der anderen der braungraue erheblich vermehrt. In bezug auf ihre Form sind die genannten Schuppen dadurch verschieden, dass die gelben Schuppen der Grundfarbe schaufelförmige, die dunkeln Schuppen der Zeichnung ovale Gestalt besitzen. Die gelben Schuppen zeigen außerdem auch auf der Höhe ihrer Entwickelung noch deut- lichere Fortsätze wie die dunkeln Schuppen. In ihrer Größe stehen die letzteren den ersteren bis auf ihre Dicke erheblich nach. Die dunkeln Schuppen des fertigen Schmetterlings maßen: Länge — 120 u, Breite = 37 u, Dicke = 56 u. III. Entwickelung der orangegelben Schuppen vom Afterfleck (Fig. 14-17 u. 24). In dem ersten hier betrachteten Entwickelungsstadium unter- scheiden sich die später dunkelgelben Schuppen ebensowenig von den umgebenden später blauen, schwarzen und hellgelben, wie die Schuppen der Grundfarbe von denen der Zeichnung. Sie sind wie alle anderen auf dunkelm Grund weiß, bei schwacher Vergrößerung und auffallendem Licht erscheinen sie durchscheinend, manche durchsichtig bis auf die Seitenränder und die Spitze, die weißliches Licht reflektieren. Im übrigen verhalten sich die orangegelben Schuppen sowohl bei starker Vergrößerung wie unter Alkohol be- trachtet, allen anderen so ähnlich, dass höchstens in ihrer, wie es scheint, von Anfang an etwas kräftigeren, derberen, weniger leicht faltbaren Schuppenmembran ein unterscheidendes Merkmal gefunden werden könnte. Was die Gestalt der Schuppen betrifft, so ist dieselbe ziemlich gleichmäßig oval, mit deutlichen tief einschneidenden, spitzen Fort- sätzen am Vorderrand. Sinus ist wie auch bei den früher be- schriebenen Schuppen keiner vorhanden. Die orangefarbenen Schuppen sind indessen von ‚Anfang an größer wie die Schuppen der Grundfarbe und die dunkeln Zeichnungsschuppen. Ihre Länge beträgt im ersten Stadium 125 «, die Breite durchschnittlich 43,7 u, die mittlere Dicke 3—4 u. Stadium II. Fig. 15. Auf dunkelm Grund erscheinen die Schuppen weißlich. Bei schwacher Vergrößerung sind sie glänzend weiß und nicht mehr durchscheinend, wie im vorhergehenden Stadium, oder wie die gleichalterigen Schuppen der gelben Grund- farbe. : Bei starker Vergrößerung lässt sich erkennen, dass die 590 v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben etc. Schuppenmembran an sich noch farblos ist. Diese Schuppenmembran springt an den getrockneten Schuppen leicht ab und man kann nun beobachten, wie an ihrer Innenseite feine, stark lichtbrechende Granulationen eingelagert sind und ferner, dass sich zwischen der Membran und dem geronnenen Schuppenplasma eine trübe im durchfallenden Licht rötlich erschemende Plasmahaut ausbreitet, die die Farbeneffekte der Schuppe beeinflusst (Fig. 24). Auf der Abbildung ist eine Schuppe wiedergegeben, bei der diese trübe Zwischenschicht nur teilweise vorhanden ist. Untersuchen wir die Schuppen in Alkohol, so erscheint bei einzelnen die Schuppenmembran gelblich gefärbt, der körnige Inhalt dagegen farblos, aber stark glänzend. Die Gestalt der Schuppen "hat sich insofern etwas verändert, als das Corpus an der Basis breiter geworden ist. Die Processus Fig. 14. Fig. 15. Fig. 16. Fig. 17. Fig. 18. Papilio podalirius. Schuppen des orangegelben Afterflecks (Flügelunterseite des Hinterflügels ete.). Vier verschiedene Entwickelungsstadien. sind noch immer sehr deutlich entwickelt. Die Schuppen sind sehr bedeutend in die Länge gewachsen. Die durchschnittliche Länge beträgt 150 a, ihre Breite 50 a, ihre Dicke 4—5 u. Von Stadium III wurden keine Präparate gemacht. : Im IV. Stadium (Fig. 16) erscheinen die Schuppen auf dunklem Grund als orangegelbe Pünktchen, die teilweise deutlich irisieren. Bei‘ durchfallendem Licht und schwacher Vergrößerung zeigt sich be- sonders die Schuppenspitze leuchtend gelb gefärbt, der basılare Teil ist mehr grünlichgelb. Bei geschlossener Blende werden: die Schuppen braungelb. Die Schuppen enthalten eine große Menge hellgelb gefärbter, stark lichtbrechender Körnchen und auch die Schuppenhaut ist gelblich pigmentiert.: Wie wir es bei den dunkeln Schuppen der Zeichnung und den gelben Schuppen der Grundfarbe beobachtet hatten, so liegen auch hier die Pigmentkörnchen viel zahlreicher an der Schuppenspitze wie an der Schuppenbasis. In v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. 591 dieser ungleichen Farbstoffverteilung ist auch die Ursache der Farbendifferenzen zwischen den verschiedenen Schuppenteilen zu suchen. Werden die Schuppen in Alkohol gebracht, so erscheinen sie heller gefärbt wie vorher; das gelbe Pigment wird indessen durch Alkohol gelöst und die Lösung färbt die Schuppen diffus. Statt der spitzen Fortsätze am Schuppenvorderrand finden sich in diesem Stadium meistens nur zwei abgerundete Processus. Die Schuppen sind jetzt sehr viel länger wie diejenigen der Grundfarbe und der Zeichnung, sie messen im Durchschnitt in der Länge: 162 u, in der Breite: 50 « und sind durchschnittlich 5 a dick. Papilio podalirius. Orangegelbe Schuppe vom Afterfleck. Die Schuppenmembran a ist teilweise abgesprungen, es wird die trübe Zwischenschicht b und das geronnene Schuppenplasma e sichtbar (Obj. F. Oe. 1). 24a Oberseite. 24b Unterseite. In dem beschriebenen vierten Stadium sind die orangegelben Schuppen des Afterflecks so gut wie fertig entwickelt. Die Färbungs- unterschiede, die die ‚Schuppen im Akon Stadium zeigen, sind nicht mehr wie individueller Natur (Fig. 17, 18), bald erschemen die Schuppen heller, bald dunkler gelb. In einigen Präparaten lassen sich alle Übergänge en von den intensiv rotgelben: Formen bis zu dem : hellen Gelb der Grundfarbe; es Ban danach. einige Schuppen ın ihrer Entwickelung früher stehen zu bleiben wie andere. Wie die Schuppen der Grundfarbe so zeigen auch die orangegelben Schuppen die Tendenz, sich an ihrem Vorder- rand zu verbreitern. An einzelnen orangefarbenen Schuppen. be- obachten wir ‚auf der Höhe. ihrer. a © Sinusbildung bei gleichzeitiger Reduktion der Processus. 592 v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. VI. Die Entwickelung der blauen Schuppen in der Umgebung des Afterflecks (Fig. 19, 20). In ihren ersten Entwickelungsstadien lassen sich die blauen Schuppen der Afterzeichnung so schwer von den rotgelben unter- scheiden, dass eine Trennung beider Gebilde erst von dem Augen- blick an möglich ist, wo in den orangefarbenen Schuppen gelbes Pigment auftritt. Erst ım Stadium IV (Fig. 19) ist eine deutliche Differenzierung der blauen Schuppen zu beobachten. Im durch- fallenden Licht erscheinen die blauen Schuppen gelblichweiß. An dem Vorderrand, der oval gebauten, an ihrer Basıs bereits ziemlich breiten Schuppe finden sich kürzere, aber noch scharf zugespitzte Fortsätze. In ihrer Größe stehen die blauen Schuppen den rot- gelben nur wenig nach. Die charakteristische Eigenschaft, auf dunkelm Grund blaues oder blauweißes Licht zu reflektieren, er- halten die blauen Schuppen erst im Stadium V, also kurz vor dem Ausschlüpfen des Schmetterlings. Auch bei schwacher Vergrößerung und auf- fallendem Licht erscheinen die Schüpp- BIN ALS chen graublau, bei durchfallendem Licht sind sie dagegen rötlichgelb, was auf die | | Anwesenheit einer trüben Schicht als | farbenerzeugende Ursache schließen lässt. Die blauen Schuppen enthalten gar kein / oder sehr wenig körniges Pigment und a / Ki unterscheiden sich auch dadurch von den a ir übrigen. Auf Zusatz von Alkohol werden Papilio podalirius. die blauen Schüppchen lichtgelb und Schuppen der blauen Monde am After- vollkommen durchsichtig. Die Schuppen cr Arena form, wenigstens soweit es die Processus anbetrifft, verändert sich ın derselben Richtung wie die der übrigen Schuppen. Die anfangs längeren, scharf zugespitzten Processus werden kürzer und runden sich ab. Viele blaue Schuppen sind vollkommen processuslos. Fig. 19. Fig. 20. Zusammenfassende Betrachtungen über die ontogenetische Entwickelung der verschiedenen Schuppenformen und Schuppenfarben. Die Abhängigkeit der Schuppenformen von äußeren Einflüssen. Wir ersehen aus den vorhergehenden Ausführungen, dass die Schmetterlingsschuppe ein während der Ontogenese, während des Puppenlebens, sehr veränderliches Gebilde ist. Auf frühen Ent- wickelungsstufen des Falters sind die Schuppen, wenn sie später in ihrem Aussehen auch noch so erheblich voneinander abweichen, gleich gefärbt und gleich gestaltet. Wenn wir noch frühere Ent- wickelungsstadien, als es ım vorhergehenden geschehen ist, zum Ver- v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. 593 gleich herbeiziehen, so sehen wir, dass die Schuppen von ursprüng- lich einspitzigen lanzettförmigen Gebilden abzuleiten sind, von Gebilden, die den an manchen Körperstellen sich erhaltenden haarförmigen Schuppen am meisten ähnlich sehen. Zu dieser Zeit stellt auch der Puppenflügel ein außerordentlich zartes Organ dar, das sehr leicht dehnbar und faltbar ist. Sobald der Flügel in seiner Form fixiert erscheint und der Puppenhülle entnommen werden kann, zu der Zeit also, wo unsere ontogenetischen Untersuchungen beginnen, verlieren auch die Schuppen den haarartigen Bau. Das Schuppencorpus hat sich verbreitert und an dem Vorderrand der Schuppe sind mehrere scharf zugespitzte Processus aufgetreten, Das Vorhandensein dieser scharfen Fortsätze ist, wie aus der Ontogenese sämtlicher hier in Betracht gezogenen Schuppenformen hervorgeht, . für die junge Schuppe durchaus charakteristisch. In diesem Stadium sind alle Schuppen von Papilio podalirius noch vollkommen farblos. Je älter die Schuppe indessen wird, desto mehr verliert sie ihr durchsichtiges, farbloses Aussehen. Es lagern sich im Schuppenlumen gefärbte Körnchen ab, und die Schuppen- haut selbst nimmt häufig einen gelblichen Ton an, wie z. B. bei den dunkeln Schuppen der Binden von Papilo podalirius. Bei den gelben Schuppen wird die Färbung hauptsächlich durch die in der Schuppe enthaltenen Pıgmentkörnchen bewirkt, die, wie wir sehen, bis zum Ausschlüpfen des Schmetterlings, an Menge zunehmen. Die Körnchen sind stets in der Schuppenspitze am zahlreichsten, und deshalb ist es auch zu verstehen, dass die Schuppenspitzen meist dunkler gefärbt erscheinen wie die Schuppenbasis, die pigment- ärmer bleibt. Bezüglich ihrer Form treten bei den verschieden gefärbten Flügelschuppen des Segelfalters schon frühzeitig kleine Unterschiede auf. Die Schuppen der Grundfarbe verbreitern sich an ihrem Vorderrand schaufelförmig, während die später dunkel gefärbten Schuppen oval gestaltet bleiben. Die dunkelgelben Schuppen des Afterflecks sind bereits in den ersten Entwickelungsstadien durch ihre Größe und auch durch ihren mikroskopischen Bau von denen der Grundfarbe und der dunklen Zeichnung verschieden. Sie überragen die anderen an Größe und zeichnen sich durch das Vorhandensein einer trüben, plasmatischen Zwischenschicht aus, die bewirkt, dass die Schuppen schon früh- zeitig undurchsichtig erscheinen, und die den Farbenton des gelben Pigmentes modifiziert. Allen Schuppen gemeinsam ist die Umbildung der zuerst spitzen, tief einspringenden Auszackungen des Schuppenvorderrandes in abgerundete Processus und schließlich die Neigung der Fort- sätze untereinander zu verschmelzen und ganzrandige Schuppen zu bilden. xXVI. 38 594 v. Linden, Untersuehungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. Sämtliche Schuppen bei Papilio podalirius sind ferner anfangs sinuslos. Mit der Rückbildung der Processus geht Hand in Hand das Erscheinen eines Sinus an der Schuppenbasis. Das ontogene- tische Verhalten der Schuppen entspricht also auch hierin den Befunden, die Schneider an der Hand phylogenetischen Materials abgeleitet hat. Sämtliche Schuppenarten nehmen während des beobachteten Zeitraumes ihrer Entwickelung sowohl an Länge, wie auch an Breite und an Dicke zu. Die Schuppen wachsen nach allen Dimensionen, entsprechend den einzelnen Schuppenarten in verschiedenem Maße. Das stärkste Längenwachstum zeigen in dem vorliegenden Fall die orangegelben Schuppen des Afterflecks. Bei diesen betrug die Differenz vom I.—V. Stadium 162—125 —= 37 u in der Länge, 50—43 = 7 u in der Breite, 5-3 —=?2 u in der Dicke. Das ge- ringste Längenwachstum zeigten die dunkeln Bindenschuppen 120—118 = 2 u bei einem Breitenwachstum von 50-43 —=717 u und einem Dickenwachstum von 6—-1=5 u. In der Mitte stehen die gelben Schuppen der Grundfarbe mit 125-118 = 7 u Längen- ee 60—43,5 = 16,5 „ Breitenwachstum und 5—1 = 4 u Diekenwachstum. Ihrem verschiedenartigen Wachstum entsprechend werden die orangeroten Schuppen zu mehr langgestreckten, die dunkeln Schuppen zu kurzen und breiten, die gelben Schuppen der Grundfarbe zu vorne stark verbreiterten Gebilden. Die Schuppen einer Farbe sind natürlich nicht alle gleich groß, die einen bleiben in ihrem Wachstum früher, die anderen später stehen. Ihre Größe und ihre Gestalt hängt, wie Schneider bereits erwähnt, in hohem Grade von der Stelle ab, auf der sich die Schuppen auf der Flügel- fläche befinden. An der Unterseite der Flügel pflegen sich die längsten Schuppen zu bilden, das Längenwachstum vollzieht sich hier besonders schnell, wie die Entwickelung der gelben und blauen Schuppen des Afterflecks deutlich gelehrt hat. Es scheint mir sehr wahrscheinlich, dass die charakteristischen Unterschiede zwischen den verschiedenfarbigen Schuppen auf die abweichenden Ernährungsbedingungen im Flügel zurückzuführen sind. An den Flügelstellen mit schlechterer Ernährung werden auch die Schuppenzellen später zur Entwickelung gelangen, früher zu wachsen aufhören und einen weniger kräftigen Habitus. tragen. Umgekehrt werden da, wo die günstigsten Ernährungsbedingungen bestehen, auch die Schuppen ihre ; volle Ausbildung erreichen. Auf ähnliche Ernährungsbedingungen ‚kann es zurückgeführt werden, dass Schuppen verschiedener Farbe, da wo die abweichend gefärbten Bezirke aneinanderstoßen, ähnlich gebaut sind und dass sie sich um so stärker differenzieren, , je weiter sie voneinander entfernt stehen. aeg Ich. verstehe unter günstigen Iruährungsbedin gungen ‚solche, v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. 595 die die Schuppenzellen im den Stand setzen, als Schuppen auszu- wachsen und kräftige Chitinmembranen zu bilden. Der Chitinisierungs- prozess der Schuppenzellen ist in vieler Beziehung dem der Ver- hornung bei den Epidermiszellen höherer Tiere zu vergleichen; während dort das Zellplasma eine Metamorphose in Hornsubstanz erfährt, wird hier das Plasma der Schuppenzelle zum großen Teil in Chitin, ein amidiertes Kohlenhydrat verwandelt. Wenn : man sich über die chemischen Prozesse, die sich bei der Bildung des Chitins im Puppenorganismus abspielen, auch noch nicht ganz klar ist, so steht doch schon auf Grund der Analysenergebnisse dieser Substanz fest, dass sich an ihrer Bildung Stoffe beteiligen, die wichtige Bausteine für den Insektenorganismus darstellen, Sub- stanzen, die auf diese Weise festgelegt, d. h. aus dem Kreislauf der Stoffe im Organismus ausgeschaltet werden. Es ist ferner an- zunehmen, dass bei gut ernährten Puppen und unter Verhältnissen, wo der Stoffverbrauch der Puppe ein relativ geringer ist, mehr Material zur Chitinbildung erübrigt wird, wie bei schlechter Er- nährung, oder bei sehr intensivem und beschleunigtem Stoffwechsel. Auf Grund der Ergebnisse meiner Untersuchungen über die assi- milatorischen Vorgänge, die sich im Organismus von Schmetterlings- puppen abspielen, halte ich es auch keineswegs für ausgeschlossen, dass der Schuppenzelle eine wichtige Rolle bei der Assimilation des Kohlenstoffes und des Stickstoffes aus der Luft zufalle. Viel- leicht entnimmt die Zelle wenigstens einen Teil dieser für die Chitinbildung wichtigen Stoffe der Atmosphäre. Dass die Schuppenzellen keine unwichtigen Organe im Puppen- körper darstellen, scheint mir schon aus ihren morphologischen Eigenschaften hervorzugehen. Die Schuppenzellen erinnern in ihrem Bau an Drüsenzellen, sie enthalten meist gefärbte Granulationen, die reduzierende Eigenschaften besitzen. Die Entwickelung der Pigmente steht in einer bestimmten Beziehung zum Licht, die Farbe der Granulationen wechselt mit dem Grad ihrer Oxydation. Dies alles lässt darauf schließen, dass sich in diesen Zellen eine Reihe wichtiger chemischer Prozesse abspielen, deren Natur mög- licherweise mit der Ernährung der Zelle und durch Vermittlung der Zelle, mit der Ernährung des Organismus in Beziehung zu bringen ist. Die Entwickelung und Gestaltung der Schuppenzelle dürfte danach verhältnismäßig leicht durch äußere Einwirkungen zu beeinflussen sein, sie müsste durch alle Einflüsse alteriert werden, die sich in einer verändernden Stoffwechseltätigkeit des Puppenorganismus und der Schuppenzellen selbst offenbaren. Wie sehr die Ausbildung der Schuppen von solchen Einwirkungen abhängt, zeigen einige Experimente, die ich in den letzten Jahren an Schmetterlings- puppen und zwar an Vanessenpuppen gemacht habe. Puppen der Vanessa urticae, die ihre Entwickelung in einer kohlensäurefreien 38* 596 v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. reinen Sauerstoffatmosphäre durchgemacht hatten!), zeigten eine sehr dünne Schuppenhaut und hatten Neigung, sich aufzurollen. Alle Chitinteile waren bei solchen Faltern sehr dürftig entwickelt. Ich erklärte mir diese Erscheinung damals dadurch, dass ich an- nahm, dass der größere Partialdruck des Sauerstoffes die Oxy- dationsvorgänge angeregt und den Verbrauch der ım Falter abge- lagerten Reservestoffe beschleunigt habe. Heute aber, nachdem ich nachgewiesen, dass die Schmetterlingspuppen den Stickstoff und Kohlenstoff zu assimilieren vermögen, frage ich mich, ob die schlechte Ausbildung der Chitinteile nicht richtiger der Abwesen- heit des Stickstoffes und Kohlenstoffes zuzuschreiben war? Ähn- liche dürftige Schuppenbildungen erhielt ich in den Experimenten, in denen ich die Schmetterlingspuppen längere Zeit (24 Stunden und länger) im luftverdünnten Raum bei einem Quecksilberdruck von nur 15 mm gehalten hatte. Hier konnte freilich auch eine mechanische Zerstörung der Schuppenzellen, des Flügelepithels stattgefunden haben. & den zu den übrigen Experimenten verwendeten Faltern ergab die Messung der Schuppen folgende Einzelheiten: Die roten Schuppen wurden bei allen zur Untersuchung verwendeten Exem- plaren dem Winkel entnommen, der durch die Medianader und deren dritten Seitenast (— fünfte Seitenrandzelle) gebildet wird, die schwarzen Schuppen stammten von dem in der Diskoidalzelle gelegenen Bindenfleck (VI, VII, Eimer). 1. Die Messung an einem len normalen Verhältnissen ge- haltenen Falter ergab für die roten Schuppen der Grundlarhe folgende Beziehungen. Die Schuppen waren: 124,0 u lang, 68,8 u breit, für die dunkeln Schuppen der Bänderflecken erhielt ich die Maße: 132,8 u lang, 65,6 « breit. Die Mehrzahl der Schuppen hatte vier gut ausgebildete Zacken, einige auch sechs kleinere Fortsätze. Die Länge der Fortsätze betrug bei den roten Schuppen 9,6 u, bei den schwarzen Schuppen 8,4 u. Die schwarzen Schuppen hatten einen sehr gut entwickelten Sinus. 2. Bei einem durch Einfluss erhöhter Temperatur in die südliche Varietät öchnusa verwandelten Falter waren die roten Schuppen: lang: 118,4 u, breit: 65,6 u die schwarzen Schuppen: „ 140, 8,0" 5 2 oo Die Schuppen hatten 4-6 zum Teil gut ausgebildete Zacken, diese maßen ım Durchschnitt an den roten Schuppen: 7,8 1, au den schwarzen: 8,4 u. Die Sinusbildung war noch schärfer wie bei der Normalform. - 3. Bei einem Falter, dessen Puppe sich über Schwefelsäure in trockener Luft entwickelt hatte, waren 1) Der Einfluss des Stoffwechsels der Schmetterlingspuppe auf die Flü gelfärbung und Zeichnung des Falters. Arch. f. Rassen- u, Gesellschaftsbiol. I, 4, S. 477—518. v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. 597 die roten Schuppen: lang: 145,6 u, breit: 65,6 u, die schwarzen Schuppen: „ 1536 u, „ 752 u. Die Schuppen hatten 2—4 meistens 3 gut ausgebildete Processus. Diese maßen an den roten Schuppen: 15 «, bei den schwarzen ebenfalls 15 «. Die Sinusbildung an den Schuppen war weniger ausgesprochen wie bei der Normalform. 4. Aus einer anderen Puppe, die während vier Stunden Radium- strahlen ausgesetzt gewesen war, entwickelte sich ein Falter, dessen Schuppenmaße die folgenden waren rote Schuppen: lang: 128 u, breit: 76,8 u, schwarze Schuppen: „ 1392 m „ 72,0 u. Die Schuppen trugen 3—5 Processus, die weniger gut. aus- gebildet waren, wie am normalen Tier. Tänge der Processus an den roten Schuppen: 7,5 „u, von den schwarzen 9,6 «. Ein Sinus war besonders an den schwarzen Schuppen zu beobachten, er zeigte sich teils scharf eingeschnitten, teils abgerundet. 5. Die Puppe ist während der ersten 36 Stunden ihrer Ent- wickelung 24 Stunden lang in reiner Kohlenatmosphäre gewesen. Die Messungen ergaben an einem auf diese Weise erhaltenen, zur Aberration ichnusoides veränderten Falter, für die roten Schuppen: lang: 126,4 u, breit: 64 u, die schwarzen Schuppen: „ 1264, „65,6 u. Die Schuppen trugen 3—5 kurze abgerundete Processus. Diese maßen bei den roten Schuppen 5,1 a, bei den schwarzen Schuppen 4,2 u. Sinusbildung der schwarzen Schuppen sehr tief und scharf einschneidend. 6. Die junge Puppe befand sich 24 Stunden lang in Stickstoff- atmosphäre, die Messungen am Falter -ergaben für die roten Schuppen: Länge: 129,6 u, Breite: 60,8 u, die schwarzen Schuppen: „ 128.83 202, 76,8 u. Die Schuppen waren ganzrandig oder sie hatten 2—-5, meist 3 kurze abgerundete Fortsätze. Dieselben maßen bei den roten Schuppen: 5,1 u, bei den schwarzen: 5,4 u. Die Processus neigen also auch hier zum Verschwinden. Der Sinus war bei den Schuppen nicht so tief wie bei den Schuppen der im Kohlensäureexperiment er- haltenen Falter. \ 7. Die Puppen waren während 12 Stunden im luftverdünnten Raum bei 15 mm Hg-Druck. Die roten Schuppen des Falters maßen: Länge: 121,2 a, Breite: 60,8 u, die schwarzen ergaben: = 102.2 U 7 Ana 76,8 u. Processusbildung wie bei 6. Bei den roten Schuppen Länge der Processus: 4,5 u, bei den schwarzen: 4,8 «. Die Sinusbildung ist ziemlich tief, teils scharf einspringende Zacken, teils abgerundete Ecken erzeugend. 598 v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben etc. Es ergibt sich aus dieser Zusammenstellung, dass die längsten Schuppen mit den größten Processus bei den Schmetterlingen er- halten wurden, deren Puppen sich über Schwefelsäure, also in trockener Atmosphäre entwickelt hatten. Durchschnittliche Länge der Schuppe 149,60 «u, des Processus 15 «. Die kürzesten ergab das Experiment im luftverdünnten Raum, sie maßen 124,8 u im Durchschnitt und hatten Processus, die durchschnittlich 3,55 u lang waren. Nicht viel länger waren die Schuppen der aus dem Kohlensäure- und Stickstoffexperiment erhaltenen Falter. Durch Radiumbestrahlung ergaben sich die zweitlängsten Schuppen (133,6 u). Mit den Schuppen der Normalform verglichen, deren Länge 128,32 u bei einer Processuslänge von 9 u betrug, können eigentlich nur die in trockener Atmosphäre gezogenen Schuppen als typisch ab- geändert gelten. Wenn wir nur die Processusbildungen berück- sichtigen, so fallen ebenfalls die aus dem Schwefelsäureexperiment erhaltenen Schuppen mit ihren spitzen Fortsätzen in erster Linie auf, die um zwei Fünftel länger sind wie die der normalen, anderer- seits stechen von diesen mit langen Processus versehenen Schuppen die aus den drei Experimenten mit Sauerstoffentziehung (Kohlen- säure, Stickstoff, verdünnte Luft) erhaltenen Schuppenformen ab, deren Processus ausnehmend kurz sind, die an Länge kaum mehr wie ein Drittel der normalen Processuslänge erreichen. Gleichzeitig ist zu ersehen, dass bei Vanessa urticae ‚die schwarzen Schuppen die längeren zu sein pflegen und in der Mehr- zahl der Fälle auch längere Processus tragen wie die roten Schuppen. Im allgemeinen war auch hier mit dem Zurückgehen der Processus- bildungen eine Vertiefung des Sinus an der Schuppenbasis zu kon- statieren. Noch mehr in die Augen fallende Ergebnisse erhielt Federly, als er den Einfluss der verschiedenen Temperaturen auf die Schuppen- bildung im Schmetterlingsflügel studierte. Federly') fand, wenn die zum Versuch verwendeten Puppen während ihrer Entwickelung mäßigen Wärme- oder Kältegraden ausgesetzt worden waren, dass die Schuppen der ausschlüpfenden Falter, größer, breiter, und processusärmer wurden. Wirkte die Wärme längere Zeit auf die Puppen ein, so entstanden kleinere Schuppen, die sich ebenfalls durch ee Fortsätze auszeichneten. Wurden die Schmetterlingspuppen, statt mäßiger Wäre! Hitze- temperaturen über 39° ausgesetzt, so waren die Schuppen spärlich und schlecht entwickelt. Die Form war bei allen lang und schmal, das Verhalten des Corpus zu den Processus war verschieden, bei einzelnen Exemplaren zeigten sich die Schuppen ähnlich wie die Haarschuppen nach vorne zugespitzt, bei anderen trugen sie sehr 1) Lepidopterologische a he mit besonderer Berücksichtigung der Flügelschuppen. Festschr. f. Palmen. Helsingfors 1905. v. Linden, Untersuchungen über die Veränderung der Schuppenfarben ete. 599 lange und feine Fortsätze und selten mehr wie drei. Bei noch intensiverer Hitzewirkung zeigte sich die Beschuppung ganz dege- neriert. Die Schuppen kommen in solchen Fällen nur vereinzelt ohne Ordnung auf den Flügeln vor, am zahlreichsten auf den Rippen am Flügelvorder- und -außenrand. Die Form der Schuppen war ganz unregelmäßig, wie die Abbildung eines Flügelstückes von Lymantria dispra & deutlich zur Anschauung bringt. Man findet lange und schmale Schuppen neben kurzen und breiten, alle ohne deutlichen Processus, viele am Vorderrand wie zerrissen aussehend. Bei Saturnia pavonia wurde die Schuppenform gespaltenen Haaren ähnlich. Es ist sehr bemerkenswert, dass sich aus dem Frost- experiment Falter entwickelten, deren Schuppen in ganz ähnlicher Weise verändert waren, wie diejenigen, die sich unter dem Ein- fluss großer Hitze gebildet hatten. Die Schuppen waren gleichfalls reduzierte schmale Gebilde geworden und standen undicht. Damit ist bewiesen, dass extreme Temperaturgrade, die auf die jungen Schmetterlingspuppen einwirken, nicht nur die Zeichnung und Fär- bung der Falter, sondern auch das Wachstum der Schuppen in analoger Weise beeinflussen, in beiden Fällen wird die Schuppen- bildung unterdrückt, die einzelnen Schuppen bleiben auf einer sehr frühen ontogenetischen Stufe, auf der der Haarschuppe, oder der mit langen spitzen Processus versehenen dünnwandigen Schuppe stehen. Mäßige Wärme und Kälte befördert dagegen die Schuppen- entwickelung, das Schuppencorpus wird breit, die Fortsätze bilden sich zurück. Verkleinerung der Schuppen erreichte Federly durch länger andauernde Wärmeexposition, es fand aber auch hier gleich- zeitig eine Reduktion des Processus statt, was einer fortschritt- lichen Entwickelungsrichtung entspricht. Die durch länger an- dauernde Wärmewirkung erhaltenen Schuppenformen entsprechen ziemlich genau den Veränderungen, die ich durch Sauerstoffentziehung in den Kohlensäure- und Stiekstoffexperimenten und im luftver- dünnten Raum erhalten habe, auch hier hatten die Schuppen die Processus verloren und waren kleiner geworden. Die auffallende Schuppendegeneration im Hitze- und Frostexperiment erinnern an die Schuppenabnormitäten, die sich in meinen Versuchen ergeben hatten, wenn ich die Puppen ihre Entwickelung in reiner Sauer- stoffatmosphäre durchmachen ‘ließ. In beiden Fällen handelt es sich offenbar um eine schwere Schädigung der Schuppenzellen und der Chitinbildung, die zu der Entstehung von pathologischen Schuppenformen mit ausgesprochen regressivem Charakter führen. Wenn wir die Ergebnisse der vorstehenden. Untersuchung nochmals kurz zusammenfassen, so kommen wir zu dem Schlusse, dass sich während der Ontogenese, wenigstens bei Papilio podalirius, die zuerst haarförmigen, schmalen, lanzettförmigen Schuppen in ‚solche mit spitzigen Processus verwandeln, dass während’ des 600 Denker, Die Membrana basilaris im Papageienohr ete. weiteren Wachstums die Fortsätze mehr und mehr verschwinden und schließlich zu einer ganzrandigen Schuppenform überführen. Dieser Umbildungsprozess vollzieht sich in seinem vollen Umfang oder nur in beschränkterer Weise bei allen Flügelschuppen des Segelfalterss. Mit dem Schwinden der Processus am Schuppen- vorderrand bildet sich häufig ein deutlicher Sinus an der Schuppen- basıs. Die Schuppen wachsen während ihrer ganzen Entwickelung. An der Flügelunterseite scheint die Wachstumsenergie eine größere zu sein wie an der Oberseite, das lehrt uns die Entwickelung der orangegelben und blauen Schuppen in der Umgebung des After- flecks. Aus diesem Verhalten erklärt sich auch die längst beobachtete Erscheinung, dass die Schuppen auf der Unterseite der Flügel die der Oberseite an Größe übertreffen. Äußere Einflüsse, die geeignet sind, den Stoffwechsel der Schmetterlingspuppe zu alterieren, verändern unter Umständen ın sehr ausgesprochener Weise die Form der Flügelschuppen. Das Ergebnis solcher Einflüsse besteht entweder in der Ausbildung ontogenetisch hochentwickelter Schuppen (Atmung in Kohlensäure- atmosphäre, in Stickstoff oder im luftverdünnten Raum), oder aber in der Erhaltung primitiver Schuppenformen (haarförmige Gebilde bei Hitze- und Frostexperimenten) und der Erzeugung einer allge- meinen oder beschränkten Schuppendegeneration. Die Membrana basilaris im Papageienohr und die Helmholtz’sche Resonanztheorie. Von Alfred Denker, Erlangen. Unter den verschiedenen Lehren, welche den Modus der Über- tragung der Bewegungen des Labyrinthwassers auf das Corti'- sche Organ und die Endausbreitung des Nervus acusticus behandeln, dürfte auch heute noch die Helmholtz’sche Resonanzhypothese die meisten Anhänger haben. Nach dieser Theorie wird bekanntlich angenommen, dass die in der Membrana basilaris radıär ausge- spannten, elastischen Fasern ein System von Saiten darstellen, von denen jede auf einen bestimmten Ton abgestimmt ist; trifft dieser Ton nun das Ohr, so wird die entsprechende Partie der Basilar- membran in Mitschwingungen versetzt, und diese Bewegungen werden auf die mit derselben in Verbindung stehenden Nerven- fasern übertragen. Will man die Richtigkeit dieser Hypothese anerkennen, so müssen vor allen Dingen zwei Voraussetzungen erfüllt werden: es muss erstens eine genügend große Anzahl von Radiärfasern vor- handen sein, um das Unterscheidungsvermögen des menschlichen Ohres für die zahlreichen, verschieden hohen perzipierten Töne zu Denker, Die Membrana basilaris im Papageienohr etc. 601 erklären; und zweitens muss die Länge der Radiärfasern — bei gleicher Spannung derselben — von dem höchsten bis zum tiefsten, Tone außerordentlich zunehmen. Was den ersten Punkt betrifft, so wird die Zahl der elastischen Fasern auf der 33,5 mm langen Membrana basılarıs des Menschen von Retzius auf etwa 24000, von Hensen auf 13400 geschätzt; dies würde nach den Ausführungen Schäfer'’s!) im Nagel’schen Handbuch der Physiologie des Menschen in Anbe- tracht der größeren Unterschiedsempfindlichkeit in der mittleren Tonregion nicht ganz ausreichen, um für jede einzelne unterscheid- bare Tonhöhe eine besondere Faser verfügbar zu machen, doch sei zu bedenken, dass die Unterschiedsempfindlichkeit nach den Enden der Skala, zumal nach dem oberen hin, sehr viel geringer ist; man darf deswegen wohl annehmen, dass bezüglich der erforderlichen Zahl der Radiärfasern die Helmholtz’sche Hypothese genügend gestützt erscheint. Wie steht es nun mit dem zweiten Punkt, mit der Differenz in der Länge der Fasern? Durch die funktionelle Prüfung mit der Bezold’schen kontinuierlichen Tonreihe können wir den bestimmten Nachweis liefern, dass das menschliche Ohr von der unteren bis zur oberen Hörgrenze mehr als 11 Oktaven zu perzi- pieren imstande ist. Nehmen wir nun zunächst einmal an, dass die Dicke und die Struktur sowie die Spannung und die Belastung der einzelnen Radiärfasern eine annähernd gleiche ist, so müsste die Länge der- selben von dem höchsten Ton an durch die 11 Oktaven hindurch in geometrischer Progression zunehmen, da die einem bestimmten Ton entsprechende Saite doppelt so lang sein muss als die Saite, welche auf denselben Ton in der nächstfolgenden Oktav abgestimmt ist. Wenn man demnach die Länge der Faser, welche bei dem Erklingen des Tones a° mitschwingt, ‘mit 1 bezeichnet, so muss die Länge der dem Ton a’ entsprechenden Faser mit 2, die Länge der dem Ton a*® entsprechenden Faser mit 4 bezeichnet werden u.s.w. in geometrischer. Progression ; setzt man diese Berechnung durch die 11 vom menschlichen Ohr perzipierbaren Oktaven fort, so erhalten wir bei dem A der Subkontraoktave die Zahl 1024, d. h. diese Faser müsste 1024mal so lang sein, als die auf den Ton a® abgestimmte. Faser. Vergleicht man nun mit den gefundenen Werten die durch Messungen festgestellte wirkliche Differenz in der. Länge der Basilarfasern, so lässt sich eine Übereinstimmung keineswegs konstatieren. Nach den Untersuchungen Hensen’s beträgt die Breite der Membrana basilaris beim Neugeborenen im Anfangsteil der Schnecke 0,04125 mm, ‚an der Spitze 0,495 mm; sie nimmt also etwa um das Zwölffache, d.h. — wenn wir die in 1) K.L. Schäfer, Der Gehörssinn. Handbuch der Physiologie des Menschen von W.Nagel, Bd. III, 2. Hälfte, S. 565. 602 Denker, Die Membrana basilaris im Papageienohr etc. der Basilarmembran ausgespannten elastischen Fasern als eine in gleichmäßiger Zunahme sich vergrößernde Anordnung musikalischer Saiten auffassen wollen — durch die 11—12 Oktaven hindurch annähernd in arithmetischer, nicht aber in geometrischer Progression an Länge zu. Wollen wir demnach an der Auffassung der Mem- brana basilaris als einer Skala von Resonatoren festhalten, so er- scheint es notwendig, als Erklärung für die Unterschiedsempfind- lichkeit des Ohres durch die ganze perzipierte Tonskala hindurch außer der verschiedenen Länge der Radiärfasern eine Differenz in ihrer Spannung, in ihrer Belastung und vielleicht auch in ihrer Dicke anzunehmen. Ob wir jemals durch Untersuchungen eine Aufklärung über die Spannungsverhältnisse der Membrana basilaris am Lebenden erhalten werden, dürfte mehr als fraglich sein, da wir die Möglichkeit von postmortalen Veränderungen nicht aus- schließen können, und durch die Präparationsmethoden Beein- flussungen sehr leicht möglich sind. Auch eine Prüfung der Ver- schiedenheit in der Belastung der Membrana basilaris und ihrer elastischen Fasern dürfte gewiss auf große technische Schwierig- keiten stoßen; die Belastung besteht abgesehen von den endo- und perilymphatischen Flüssigkeiten, die die Membran auf beiden Flächen begrenzen, in dem auf ihr ruhenden Stützapparat und der Endaus- breitung des Nervus cochlearis. Man könnte sich nun wohl vor- stellen, dass durch sorgfältige, durch die verschiedenen Windungen hindurch ausgeführte Messungen der Größenverhältnisse der Cortr- schen Pfeiler und der übrigen Zellen sowie ihrer Ausdehnung über die Basilarmembran sich Anhaltspunkte gewinnen lassen würden für die Annahme einer Verschiedenheit in der Belastung der Saiten. Auch scheint mir die Möglichkeit einer Feststellung der Diekenver- hältnisse der Faser nicht ausgeschlossen. Will man am menschlichen Gehörorgan Studien in dieser ‚Richtung vornehmen, so ist die Herauslösung der ganzen Basilar- membran nötig, um vergleichende Untersuchungen anstellen zu können. Dieses Herauspräparieren der Basilarmembran aus seiner knöchernen Umgebung erfordert große Übung, eine ruhige Hand und gute Augen und ist am menschlichen Ohr wohl nur am Neu- geborenen möglich. — Wesentlich einfacher. dagegen gestaltet sich die Isolierung des Ductus cochlearis bei denjenigen Tieren, bei welchen der Hohlraum, in dem sich die Endausbreitung des Nervus cochlearis befindet, sich nicht schneckenartig aufwindet, sondern wie ein annähernd geradlinig verlaufendes, zylindrisches Rohr ge- staltet ist. : Dieses ist der Fall beim Gehörorgan der Vögel. Meine vergleichend-anatomischen Untersuchungen haben mich seit zwei Jahren von dem Säugetierohr zu dem Gehörorgan der Vögel geführt; und unter diesen hat mich die Untersuchung des Ohres desjenigen Tieres am meisten beschäftigt, welches nicht nur Denker, Die Membrana basilaris im Papageienohr etc. 605 in anatomischer, sondern vor allem auch in physiologischer Be- ziehung unser Interesse geradezu herausfordert: das ist das Papa- geienohr. Dieses Interesse ist hauptsächlich begründet in der Tatsache, dass der Papagei fast das einzige Tier ist, von dem wir mit abso- luter Sicherheit wissen, dass es die menschliche Sprache hört. Wir können vermuten, dass die Säugetiere, deren Gehörorgan dem Menschenohr fast vollständig gleicht, die Sprachlaute zu ver- nehmen vermögen, aber die wirklich erfolgte Perzeption lässt sich nachweisen nur bei dem Tier, welches, wie der Papagei, die gehörten Worte reproduziert, sie nachspricht. In einer anatomisch-physiologischen Studie, die noch in diesem Jahre als Monographie erscheinen wird, werde ich die Gesamt- ergebnisse meiner Untersuchungen niederlegen; ım nachstehenden soll nur berichtet werden über die in der Membrana basılarıs aus- gespannten elastischen Fasern und über die Möglichkeit, die ge- fundenen anatomischen Verhältnisse in Einklang zu bringen mit der Helmholtz’schen Resonanzhypothese. Wie überall im inneren Ohr der Vögel, lässt sich auch beim Papagei eine mit dem Vorhofsfenster kommunizierende Scala vesti- buli, eine mit dem Schneckenfenster in Verbindung stehende Scala tympani und ein zwischen beiden Skalen liegender endolymphatischer Raum, der Ductus cochlearis, unterscheiden. Der letztere wird gegen die Vorhofstreppe abgegrenzt durch das Tegmentum vasculo- sum (Membrana Reissneri) und ist von der Paukentreppe getrennt durch die Membrana basilarıs. Während die Basilarmembran beim Menschen ausgespannt ist zwischen dem äußeren Rande des Labium tympanicum der Crista spiralis und der Crista basilarıs des Liga- mentum spirale, ist dieselbe ım Vogellabyrinth befestigt in einem Rahmen von knorpelartiger Struktur, der sich vom oberen Anfang der Schnecke bis herunter zur Lagena erstreckt und der knöchernen Labyrinthkapsel anlıegt. Und zu einer richtigen Vorstellung über die Längen- und Breiten- verhältnisse der Membrana basilaris und den Verlauf und die Länge der in derselben ausgespannten Radiärfasern zu gelangen, war es erforderlich, den Knorpelrahmen in toto unverletzt herauszu- präparieren. ; Diese Aufgabe wird wesentlich erleichtert durch den Umstand, dass die knöcherne Schneckenkapsel als ein annähernd zylindrisches Rohr sich ohne größere Schwierigkeit aus der umgebenden Spongiosa isolieren lässt; die weitere Herausschälung des Knorpelrahmens dureh Abtragung der knöchernen Kapsel gelingt ebenfalls bei einiger Ubung mit feinen, scharfen Messerchen, wenn man unter Zuhilfe- nahme der Binokularlupe arbeitet; nach einigen misslungenen Ver- suchen, die an minderwertigem Material (Huhn, Ente) vorgenommen 604 Denker, Die Membrana basilaris im Papageienohr etc. waren, war ich imstande, an sechs Papageienlabyrinthen den Knorpel- rahmen mit dem Ductus cochlearıs nach seiner Abtrennung vom Ductus reuniens wenigstens annähernd unverletzt herauszubringen. Die Präparate stammen von Tieren, die kurze Zeit nach dem Tode in meine Hände gelangten und waren in 70°/, Alkohol aufgehoben. Die weitere Behandlung war folgende: Überbringung in 50°/, Alkohol, dann in 35°/, und schließlich in Aq. destill.; darauf Färbung in sehr dünner Delafield’scher Hämatoxylinlösung. Bei der Be- trachtung zeigte sich nun, dass die Einzelheiten in der Membrana basilaris auch nach Entfernung des Nervus cochlearis durch das stark gefärbte, gefäßreiche Tegmentum vasculosum hindurch und ebenso von der tym- panalen Fläche her nicht zu erkennen waren. Es musste daher das Tegmen- tum vasculosum entfernt werden; die Lösung dieser heiklen Aufgabe, der ich mich selbst nicht ganz gewachsen fühlte, ıst den Händen meines ver- ehrten Kollegen, Prof. Fleischmann, gelungen; eine stellenweise Abreißung der Membrana basilaris ließ sich zwaı nicht vermeiden, jedoch ließ sich durch Kombination aus den vier vorhandenen Präparaten ein vollkommenes Bild, wie es untenstehend gezeichnet ist, herstellen!). Da die Färbung mit Häma- toxylin für die Darstellung der Ra- diärfasern nicht recht genügte, wurde dieselbe nach vergeblichen Versuchen mit Vesuvin und ÖOrcein in befrie- Ansieht der in einem Knorpelrahmen aus- digender Weise erreicht mit einer gespannten Membrana basilaris im Papa- 5 o rn zeienohr, won. der ympanslen Fläche ge Le/, gen. alkoholischen‘ Tösungseron a EB Ss ELRaEeger Schenkel. KR Kongorbot. Die Präparate wurden ın Membrana basilaris mit den Basilarfasern. x x = B. Blutgefäfse im Knorpelrahmen. x.s. steigendem Alkohol nachgehärtet, ın Somenenkel. Sn Düren de} Xylol aufgehellt und im Pappschutz- den Nervenschenkel. $.t. Blindsaek der rähmchen unter Deckglas in Kanada- a balsam eingebettet. Betrachten wir nun an der Hand Ber beigefügten Zeichnung zunächst die Befestigungsverhältnisse der Membrana basilarıs, so sehen wir, dass die dieselbe einschließenden Knorpelschenkel sowohl 1) Es sei hier darauf hingewiesen, dass bereits Retzius in seinem Werke über das Gehörorgan der Wirbeltiere Bd. II, Tafel XVIII, Fig. 2 die Membrana basilaris der Taube abgebildet hat. Denker, Die Membrana basilaris im Papageienohr etc. 605 nach oben nach dem Vestibulum als nach unten nach der Lagena zu sich vereinigen. Während sie nach oben einigermaßen spitz zu- laufen, verbreitern sie sich nach der Lagena zu und bilden hier der Schneckenkapsel anliegend eine Tasche, welche die Macula lagenae mit ihrem Otolithen aufnimmt. Der eine der beiden Knorpel- schenkel (in der Zeichnung rechts) wird als Nervenschenkel be- zeichnet, da durch ıhn hindurch der Nervus cochlearis an die Membrana basilaris herantritt; der andere Schenkel führt den Namen dreieckiger oder hinterer Schenkel und entspricht seiner Funktion nach dem Ligamentum spirale beim Menschen. Was nun zunächst die Gestalt der in dem Knorpelrahmen aus- gespannten Basilarmembran betrifft, so weist dieselbe eine lang- gestreckte, in sanftem, nach hinten außen leicht konkavem Bogen verlaufende, am unteren Ende abgerundete und oben spitz zulaufende Form auf. Ihre größte Breite befindet sich nahe der Lagena; sie nimmt nach oben bis nahe zum Ende hin fast unmerklich an Breite ab, verjüngt sich alsdann aber bis zur Spitze schnell. Die Länge der Membran hatte ich nach meinen Serienschnitten auf 2,2 mm eingeschätzt; bei den Messungen an den vier mir jetzt vorliegenden Präparaten jedoch ergab sich eine Länge von 2,6—2,7mm; die Differenz dürfte sich dadurch erklären, dass die Serienschnitte nicht genau senkrecht zur Längsachse des Schneckenrohres orientiert waren, sondern mehr oder weniger schräg verlaufen sind. Bei der Besprechung der zwischen den Knorpelschenkeln aus- gespannten Fasern, zu der wır jetzt kommen, seı zunächst darauf hingewiesen, dass dieselben nicht genau transversal d.h. senkrecht zur Längsachse des Schneckenrohres ziehen, sondern von dem Nervenschenkel etwas in der Richtung nach oben zu dem hinteren Schenkel hinüberlaufen; die einzelne Faser schließt daher mit dem nach oben von ihr liegenden Stück des Nervenschenkels einen spitzen, mit dem nach oben von ihr befindlichen Teil des drei- eckigen Schenkels einen stumpfen Winkel ein. Die Fasern ver- laufen nicht ganz geradlinig, sondern sind besonders in der unteren, nach der Lagena zu gelegenen Hälfte schwach S-förmig geschlängelt. Die Länge der Fasern wurde an drei verschiedenen Stellen ge- messen: in der Mitte der Basilarmembran, dann nahe der Lagena an der Stelle, wo die Fasern am längsten sind und ferner an einer nicht weit von dem oberen spitz zulaufenden Ende entfernten Stelle, von der an die Fasern nach oben zu schnell an Länge ab- nehmen. Die beiden letzten Stellen sind in den Abbildungen durch stärkere Striche hervorgehoben. Die vorgenommenen Messungen hatten folgende durchschnittliche Ergebnisse: die längsten Fasern wiesen eine Länge von 0,50 mm auf, in der Mitte der Membran betrug ihre Länge 0,41 mm und an der oben bezeichneten Stelle nahe dem oberen Ende 0,28 mm. 606 Denker, Die Membrana basilaris im Papageienohr ete. Durch die darauf gerichtete Betrachtung der Präparate, deren Ergebnis durch die angestellten Messungen eine Bestätigung fand, ließ sich demnach feststellen, dass zwischen der oberen und der unteren Maßstelle, d. h. in einer Strecke, welche etwa drei Viertel der ganzen Länge der Basilarmembran einnimmt, nur eine kaum merkliche, sich ganz allmählich vollziehende Zunahme in der Länge der Fasern von oben nach unten stattfindet, dass dagegen die Länge derselben von den beiden bezeichneten Stellen aus sowohl nach unten als auch nach oben schnell abnimmt. Wir haben es demnach mit einer Anordnung von Fasern zu tun, die an den beiden Enden der Membran eine rasche Zunahme der Länge auf- weist, dagegen in dem größeren mittleren Abschnitt nur in sehr geringem Maße an Länge differiert. | Bei der Zählung der vorhandenen Fasern, welche mit Hilfe des Seibert’schen Mikrometerokulars (System III) vorgenommen wurde, zeigte sich, dass die an verschiedenen Partien der Basilar- membran zwischen zwei Teilstrichen angestellten Zählungen nicht ganz gleiche Resultate ergaben, derart, dass in der gleichen Teil- strecke nahe der Lagena 22—-23 Fasern, ın der oberen Hälfte 25—27 Fasern durchschnittlich gezählt wurden. Die ganze Zahl der ım Papageienohr vorhandenen Basilarfasern konnte ich auf etwa 1200 berechnen. Vergleichen wir zunächst die ım vorstehenden kurz skizzierten Untersuchungsergebnisse mit den Befunden am menschlichen Laby- rınth, so springt vor allem die große Differenz in der Länge der Membrana basılarıs in die Augen; während die Länge der mensch- lichen Basilarmembran nach Retzius 33,5 mm beträgt, misst die Membrana basilarıs im Papageienohr nur 2,6—2,7 mm, die erstere ist demnach mehr als 12mal so lang wie die letztere. Während die Zahl der Fasern beim Menschen nach Retzius 24000 beträgt, fanden sich ım Papageienohr nur 1200, als etwa nur der 20. Teil der im Menschenohr konstatierten. Was die Länge der Fasern betrifft, so sind die längsten im Papageienohr gefundenen Fasern (0,50 mm) fast genau so lang wie die längsten Fasern der menschlichen Basilarmembran (0,495 mm, Hensen). Auch dürften sich am oberen Ende der Membran beim Papagei Fasern nachweisen lassen von der Länge der kürzesten Fasern (0,04125 mm) im menschlichen Ohre. Jedoch ist bezüglich des Längenverhältnisses der Basilarfasern in beiden Gehörorganen eingrundsätzlicher Unterschied insofern vorhanden, als beim Menschen die Länge derselben von dem Anfang der Basalwindung bis zum apikalen Ende kontinuierlich und gleichmäßig um das zwölffache zunimmt, während beim Papagei in dem größeren Teil der Membran die Zunahme nach der Lagena zu eine sehr langsame, im Anfangs- teile dagegen eine sehr rasch sich vollziehende ist. Denker, Die Membrana basilaris im Papageienohr ete. 607 Ferner findet an dem unteren abgerundeten Ende im Papa- geienohr wiederum eine Verkürzung der Fasern statt, die am menschlichen Ohre nicht zu konstatieren ist. Wenn wir uns nun fragen: Lassen sich die gewonnenen Unter- suchungsresultate in Einklang bringen mit der Helmholtz’schen Resonanztheorie, können wir auf Grund der festgestellten ana- tomischen Verhältnisse im Papageienohr ähnlich wie im mensch- lichen Gehörorgan die Existenz eines mechanischen Hilfsapparates annehmen, dessen einzelne Saiten beim Erklingen eines Tones mitresonieren, so ist zunächst zu bemerken, dass die Grundbe- dingung dafür — das Vorhandensein einer großen Zahl von Basilar- fasern — auch im Ohr der Papageien erfüllt wird. Zwar ist diese Zahl wesentlich geringer als im menschlichen Ohr — sie beträgt unter Zugrundelegung der Hensen’schen Zählung (13400) etwa den 11. Teil, wenn man die Zählung von Retzius (24000) als richtig annimmt, etwa den 20. Teil der menschlichen Basilar- fasern; das würde in ersterem Fall annähernd einer Oktave, in letzterem Falle nur etwas mehr als einer halben Oktave entsprechen. Vergleicht man das Verhältnis zwischen Länge der Basilarmembran und der Anzahl der Fasern beim Menschen und Papagei, so erhält man bei letzterem ca. 462 Fasern auf 1 mm der Membrana basi- larıs, beim Menschen nach der Zählung Hensen’s berechnet 400, nach der Zählung von Retzius ca. 713 Fasern auf 1 mm Länge der Basılarmembran. Wir finden demnach im Papageienohr nur einen relativ ge- ringeren Bruchteil der im Menschenohr vorhandenen Tonskala. Dazu ist jedoch zu bemerken, dass wir keineswegs zu der Annahme berechtigt sind, dass der Papagei ebenso wie der Mensch 11 —12 Oktaven zu perzipieren imstande sei. Ferner ist auf die wichtige, von Bezold vor einigen Jahren am Taubstummenohr festgestellte Tat- sache hinzuweisen, dass die Perzeptionsfähigkeit für nur eine Quinte — für die Töne vom b der eingestrichenen bis zum g der zweige- strichenen Oktave — vorhanden zu sein braucht, um das betreffende Individuum zu befähigen, die menschliche Sprache durch das Gehör zu erlernen. Auch können wir durchaus nicht ohne weiteres an- nehmen, dass das Papageienohr die so außerordentlich feine Unter- schiedsempfindlichkeit für verschieden hohe Töne besitzt wie das menschliche Ohr; und es muss daran erinnert werden, dass diese Unterschiedsempfindlichkeit ebenfalls beim Menschen außerordentlich differiert. N3, Betrachten wir nun weiterhin, wie es sich im Papageienohr mit dem zweiten wichtigen Erfordernis der Helmholtz’schen Reso- nanzhypothese, der Differenz in der Länge der Basilarfasern verhält, so haben wir so gleichmäßige Längenunterschiede, wie wir sie beim Menschen annehmen, nicht konstatieren können. Wir haben eine 608 Denker, Die Membrana basilaris im Papageienohre etc, mittlere (drei Viertel der ganzen Länge einnehmende) Zone von Fasern mit sehr geringen Längendifferenzen von einer oberen Zone mit schnell in der Länge sich verändernden Fasern und einer unteren Zone mit ebenfalls schneller sich verkürzenden Fasern unterscheiden müssen. Als Erklärung für diese Unterschiede darf man vielleicht anführen, dass beim Papagei ebenso wie beim Menschen die Unter- schiedsempfindlichkeit in der Mitte der Skala viel größer ist als an den Enden der Skalen. Das würde wenigstens das differente Verhalten des oberen Teiles der Skala verständlich machen; eine Erklärung für die Abnahme der Faserlänge am unteren Ende nahe der Lagena vermag ich nicht zu geben. Wenn man nicht die Möglichkeit von postmortalen Veränderungen bezüglich der Spannung der Basilarfasern zugeben müsste, so würde der leicht S-förmig geschlängelte Verlauf derselben den Gedanken nahe legen, dass dieselben nicht genügend gespannt seien, um als schwingende Saiten dienen zu können. Man kann sich jedoch wohl vorstellen, dass durch die Loslösung des Knorpelrahmens von der knöchernen Labyrinthkapsel möglicherweise eine Entspannung der Membrana basilarıs in der Querrichtung eintritt, die eine leichte Schlängelung der am lebenden Tier straff gespannten Fasern zur Folge hat. Wenn wir uns nun, das Gesagte überblickend, nochmals die Frage vorlegen, ob die am Papageienohr gewonnenen Untersuchungs- ergebnisse sich mit der Helmholtz’schen Resonanzhypothese, d.h. derjenigen Theorie, welche uns bisher einzig und allein die Fähig- keit der Klanganalyse unseres Ohres physikalisch verständlich macht, in Einklang bringen lassen, so darf man dieselbe vielleicht folgender- maßen beantworten: Diein der Membrana basilariıs gefundenen, verschieden langen elastischen Fasern gestatten die An- nahme, dass dieselben beim Papagei ebenso wie beim Menschen aufzufassen sind als ein mechanischer Hilfs- apparat, dessen einzelne Saiten beim Erklingen eines Tones mitschwingen. Wesentliche neue Stützpunkte für die Rich- tigkeit dieser Hypothese haben sich bei der Untersuchung nicht ergeben; es gibt uns im Gegenteil das Papageienohr noch weitere Rätsel (die relativ kleine Zahl, die ungleich- mäßige Veränderung in der Länge und die Schlängelung der Fasern) auf, für die wir wohl eine notdürftige Erklärung, aber keine Lösung gefunden haben. Berichtigung. ‚Der in den „Mitteilungen aus der Biolog. Station in Lunz“ von Prof. Woltereck (S. 469 dieses Bandes) erwähnte Leipziger Diatomeenforscher heißt nicht, wie dort leider versehentlich gedruckt, Reichert, sondern Hugo Reichelt.“ Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer, Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen, j Biologisches Gentralblatt Unter Mitwirkung von K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik ‘ Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. ZRWVI:.Bd. 1. September 1906. Ne 19. ’ Inhalt: De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. — Ziegler, Die Verer bungslehre in der Biologie. — Emery, Zur Kenntnis des Polymorphismus der Arten. — Leisewitz, Über ehitinöse Fortbewegungsapparate einiger (insbesondere fufsloser) Insektenlarven. — Hesse, Lu lia in Bufo vulgaris Laur. schmarotzend, — Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau,der elektrischen Organe der Fische. Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. Von Hugo de Vries. Die bedeutenden Errungenschaften des Kalifornischen Züchters Luther Burbank, namentlich auf dem Gebiete der Obstkultur, erregen seit Jahren ın Amerika ein lebhaftes Interesse. In der letzten Zeit wird auch die Aufmerksamkeit der europäischen Gärtner immer mehr auf ihn gelenkt, und auch in wissenschaftlichen Kreisen erwecken seine Resultate Bewunderung. Die Beziehungen, welche die Entstehung von gärtnerischen Neuheiten zu der Theorie der Artbildung aufweist, Rd wohl eine der wesentlichsten Ursachen, weshalb eine genauere Bekanntschaft mit Burbank’s Arbeiten für den Biologen von Bedeutung sein dürfte. Das „Agrieultural Department“ in Washington hat eine offizielle Berechnung wenigstens für eine der Leistungen Burbank’s veröffent- licht. Es teilte mit, dass die Züchtung der nach ihm benannten und von ihm gewonnenen Kartoffelsorte den Ertrag der Kartoffel- ernte in den Vereinigten Staaten um etwa 17000000 Dollars Jähr- lich erhöht hat. Ds Zahl dürfte ausreichen, um dem Laien eine Einsicht in die Größe der Interessen zu geben, welche hier im Spiel sind. Ähnliche Verdienste hat sich Burbank in der Obstkultur er- worben, und namentlich sind es die Pflaumen, welche von ihm in xXVl. 39 510 De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. zahlreichen Varietäten derart verbessert worden sind, dass die landesüblichen Sorten allmählich überall von seinen Neuheiten ver- drängt werden. Die Maynard-Pflaume und die „Alhambra“ gehören zu den bekanntesten. Im Sommer des Jahres 1904 hatte ich die Gelegenheit, Burbank zweimal zu besuchen und unter seiner Leitung seine Kulturen sowohl in Santa Rosa, wo er wohnt, als auch ın Sebastopol zu studieren. ‚Auf dem letzteren Gute, das etwa zwei Stunden von Santa Rosa entfernt liegt, findet man die älteren und umfangreicheren Gruppen, während die jüngeren und noch kleineren Stämme, welche aber mehr Aufsicht bedürfen, sich ım Garten hinter seinem Hause be- finden. Es ist sehr wichtig, sich darüber klar zu werden, was man bei einem solchen Besuche zu sehen bekommt. Die fertigen Varietäten und Kreuzungsprodukte sieht man selbstverständlich nicht, sie sind bereits längst verkauft und dem Handel übergeben worden. Der Ver- kauf einer Neuheit schließt das Alleinrecht auf Weiterzüchtung in sich ein, und somit gibt der Züchter dabei alles von der neuen Varietät ab, was er ın seiner Kultur hat. Ebenso bekommt man keine, oder nur eine sehr oberflächliche Ansicht über die Bedeutung, welche diese Neuheiten für den Handel und die Großkultur schließlich gewonnen haben. Dazu wäre das Studium der jährlichen »ffiziellen statistischen Angaben erforderlich. Früher hat Burbank allerdings manche seiner Neuheiten selbst vermehrt und die Bäumchen oder Pflanzen einzeln oder in kleineren Mengen verkauft. Diese Branche ist zwar eintragsreicher und namentlich zuverlässiger als die Neuzüchtung selbst, doch entspricht sie seiner Natur weniger, und deshalb hat er sie aufgegeben, sobald die finanziellen Resultate seiner Haupt- beschäftigung ıhm dieses erlaubten. Ganz im Anfang, vor etwa 30 Jahren, hatte er eine gewöhnliche Gärtnerei zur Vermehrung und zum Verkauf von Obstbäumen und Blüthenpflanzen. Diese hat er aber nur benutzt um das erforderliche Kapital zu seinen eigentlichen Studien herbeizuschaffen, und dann aufgegeben. Fertige Varietäten sieht man demnach jetzt auf seinen Gütern nicht, mit Ausnahme der wenigen, welche grade für den Verkauf bereit sind. Was man sieht, sind also nur die Vorbereitungen für spätere Neuheiten, aber grade dieser Charakter seiner Kulturen macht den Besuch für den Botaniker besonders wertvoll. Die Züge, welche Burbank im wesentlichen von den meisten Züchtern unterscheiden, welche ich in Europa besucht habe, sind die große Anzahl der Gattungen, welche er gleichzeitig bearbeitet, und der großartige Maßstab, ın welchem er die Versuche für jede einzelne Gruppe vornimmt. Die meisten übrigen hervorragenden Gärtner sind ın erster Linie Handelsgärtner, die Produktion von Samen und Zwiebeln, von Wurzelstöcken und Stechlingen, oder von De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. 611 ganzen Pflanzen und jungen Bäumchen ist ihnen die Hauptsache, die Erzeugung von Neuheiten ist eine mit größerer oder geringerer Vorliebe betriebene Nebensache. Burbank widmet sich ganz seinen Selektionen und Kreuzungen, eigentliche Vermehrung betreibt er nicht mehr. Dazu kommt, dass er ın der Wahl seiner Versuche sich hauptsächlich von gewissen Idealen und nur nebenbei von Handelsinteressen leiten lässt. Es liegt ihm daran vorzügliche Pro- dukte für bestimmte Zwecke zu erzeugen, ob sie ıhm aber Geld einbringen, ist ıhm gleichgültig, vorausgesetzt, dass der Ertrag schließlich die Kosten deckt. Seine Ideale gehen teilweise im allgemeinen auf Hebung der Obst- und Blumenkultur aus, großenteils aber speziell auf die Gewinnung von Varietäten, welche mit einem trockenen Boden zu- frieden sind und dadurch große bis jetzt unbebaute Gegenden des halbdürren Westen für die Bebauung zugänglich machen können. Darauf zielen namentlich seine Kaktuszüchtungen und seine Kreuz- ungen der Pflaumen mit Prunuus maritima. In bezug auf Blumen strebt er nach harten und billigen und dennoch sehr schönen Va- rietäten, damit überall die Gärten auch der ärmeren Volksklassen, das ganze Jahr hindurch in üppiger Farbenpracht prangen können. Selbstverständlich habe ich mich hier auf die wissenschaftliche Seite seiner Versuche zu beschränken. Dabei dürfte es sich empfehlen gewisse allgemeine Gesichtspunkte vorauszuschicken, zu denen ich durch meine Besuche bei mehreren der hervorragendsten Züchter ge- langt bin. Im allgemeinen hat man sehr vorsichtig zu sein, wenn man die Erfahrungen der Praktiker für die Begründung wissen- schaftlicher Behauptungen benutzen will. Die Praktiker arbeiten nicht ım Interesse der Wissenschaft, und die Anforderungen ihrer Kulturen sind damit oft gerade direkt im.Widerspruch. Jedermann weiß, dass Darwin mit größtem Erfolg die Erfahrungen der Züchter für seine Theorie verwertet hat. Aber wohl ebenso bekannt ist es, dass diese für ıhn nur ın ıhren großen Zügen zu wesentlichen Stützen geworden sınd, während sie ıhn im einzelnen vielfach ent- weder im Stiche ließen oder gradezu auf Irrwege führten. Es liegt dieses einfach daran, dass der Praktiker nur Interesse hat an dem, was er zustande bringt, nicht aber daran, wie er es erreicht. Er hat somit allen Möglichkeiten die Türe soweit wie möglich offen zu halten, ohne zu beachten, was dadurch. herein- kommt. Grade ım Gegenteil hat man bei wissenschaftlichen Ver- suchen alle fremden Möglichkeiten, so gut wiees geht, auszuschließen, aber es ıst klar, dass man dadurch seine Aussichten ganz bedeutend einengt. Die Bedeutung dieser Behauptung wird am leichtesten klar bei der Vergleichung praktischer und wissenschaftlicher Kreuzungen. Bei den letzteren wird der Vaterpflanze ebenso genaue Aufmerksam- keit gewidmet als der Mutter, und der Zutritt fremden Pollens wird ar 612 De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. aufs sorgfältigste verhütet. Die Beziehung des Bastardes zu beiden Eltern soll über jeden Zweifel erhoben sem. Grade umgekehrt bei praktischen Kreuzungen. Burbank kastriert seine Blüten kurze Zeit bevor sie sich öffnen, mittelst eines Kreisschnittes, der Krone und Staubfäden entfernt. Den Pollen der Vaterpflanze hat er auf einem Uhrglase gesammelt und mitgebracht; ein Teil wird sofort nach dem Kastrieren mit dem Finger auf die noch unreife Narbe gebracht. Darauf wird die Blüte ohne jede Umhüllung sich selbst überlassen. Diese Methode genügt um ın weitaus den meisten Fällen die Kreuzung zu sichern, sie schließt aber die Möglichkeit nicht aus, dass von Zeit zu Zeit Insekten anderen Blütenstaub auf die Narben bringen. Der Erfolg solcher unbeachteten, seltenen Kreuzungen ist nun folgender: Sind ihre Bastarde weniger tauglich als die ge- wünschten, so werden sie ın der nächsten Generation bei der Se- lektıion ausgemerzt und schaden weiter nicht. Offenbar erfordert dieses viel weniger Arbeit und namentlich viel weniger Genauig- keit als eine Einhüllung der Blüten verlangen würde. Die Methode ıst also auf dieser Seite einfach und zweckmäßig. Es kann aber auch vorkommen, dass unter den zahlreichen Varietäten der näm- lichen Art, die zusammen für die Kreuzungen kultiviert werden, einzelne bessere Bastarde geben als vermutet wurde. Kommt ihr Staub nun zufällig auf die Narben der kastrierten Blüte, so werden in der nächsten Generation die betreffenden Hybriden ganz gewiss ausgewählt und beibehalten werden. Hieraus ergibt sich, dass die offene Tür dem Züchter gewisse Aussichten auf besseren Erfolg eröffnet und somit durchaus empfehlenswert ist. Für den Botaniker ergibt sich aber, dass der Bastard unter einem falschen Namen be- schrieben wird, denn er hat einen unbekannten Vater und nicht den angeblichen. Diese Sachlage ist nun eine ganz normale. Die Mütter der Bastarde , sind bekannt, über die Väter ist ın schwierigen Fällen meist ein Zweifel gestattet. Als Beispiel führe ich an, dass Beddinghaus, der die ersten Kreuzungen von Gladiolus ausführte, als Mutter seiner Hybriden @. psittacinus und als Vater @. cardinalis nennt. Spätere Gärtner fanden dieselbe Kreuzung aber steril und behaupten, dass der betreffende Bastard, der jetzt allgemein als @G. gandaviensis bekannt ist, von @. psittacinus und @. oppositiflorus abstammt. Die gärtnerischen Stammbäume dürfen also für wissen- schaftliche Zwecke nur mit Vorsicht benützt werden. Ich habe mehrfach gesehen, wie der Staub der verschiedensten Varietäten auf die Blüten desselben Schirmes oder derselben Traube gebracht wurde, und es fällt wohl keinem Züchter ein, die einzelnen Kreuz- ungen dabei getrennt zu halten. Dieser Art des Verfahrens entsprechen die Notizen und Tage- De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. 615 bücher. Oft geben sie die Mütter genau, die Väter nur andeutungs- weise an, oder greifen aus der Menge der Pollenpflanzen eine oder zwei heraus. Sie werden meist nur im Interesse der Handelskata- loge gehalten, und sind dementsprechend kurz. Burbank züchtet fast ausschließlich Neuheiten mit vegetativer Vermehrung. Von Samenpflanzen hat er nur ganz vereinzelte. Daraus geht hervor, dass die Erblichkeit der Charaktere oder ihrer Kombinationen, durch Samen, für ıhn keine Bedeutung hat. Ob irgendeine Abweichung durch Mutation oder durch fluktuierende Variation entstanden ist, ist ihm durchaus gleichgültig; auch gelten ihm die extremen Varianten der letzteren ebensoviel wie die scharf getrennten elementaren Arten. Variabilität ist ihm die Hauptsache, da sie das Material zu seinen Selektionen liefert, welcher Art sie aber ist, ıst gleichgültig. Genau so ist es bei den Bastarden. Man kreuzt teilweise mit dem Zwecke, bestimmte Eigenschaften aus zwei getrennten Formen in eine einzige zusammenzubringen, oder wie es heißt, um die Vor- züge einer Art auf eine andere zu übertragen. Teilweise kreuzt man einfach, um die Varıabilitat zu erhöhen und so ein ausgedehnteres Material für die Selektionen herbeizuschaffen. Wie dann die Va- rıabilıtät erhöht wird, ıst wiederum gleichgültig. Die Gesetze der Bastarde und die durch Kreuzungen bewirkten Spaltungen und Kombinationen von Eigenschaften sind jetzt ein Hauptgegenstand des wissenschaftlichen Interesses, der Praktiker aber zielt nur auf möglıchste Variabilität hin, und auch unter seinen Hybriden sind die Äußerungen der fluktuierenden Veränderlichkeit für ihn gleichwertig mit den übrigen. Ihm liegt am meisten daran, die Merkmale mög- lichst vieler Arten, sechs oder häufig acht und vielleicht mehr, so durcheinander zu arbeiten, dass ein unerschöpfliches Chaos von Kombinationen entsteht. Daraus kann er dann das Beste wählen, ohne sich über den Ursprung jeder einzelnen Verbindung zu quälen. In großen Zügen und ın einzelnen klaren Fällen enthalten die Versuche Burbank’s für den Botaniker wichtige Erfahrungen, die meisten Angaben dürfen aber nur mit Rücksicht auf die vorher- gehenden Bemerkungen verwandt werden. Aus diesem Grunde werde ich zuerst einige spezielle Beispiele auswählen, um nachher das Prinzip der Methode: die Erhöhung. der Variabilität durch Kreuzung im Interesse einer Selektion aus möglichst reichhaltigem Materiale, näher zu beleuchten. . Einige wenige Versuche beruhen nur auf Selektion, ohne vor- hergehende Kreuzung. Oder die Vorbereitungen sind noch nicht so weit gekommen, dass jetzt schon Kreuzungen mit Vorteil aus- geführt werden könnten. In den mir bekannt gewordenen Fällen scheint es dabei jedesmal unsicher zu sein, ob die Wahl zwischen elementaren Arten oder zwischen den Fluktuationen eines einzelnen 614 De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. Typus stattfindet. Darüber, dass die von ihm kultivierten Arten reich an Unterarten sind, ist Burbank durchaus orientiert, sowohl in bezug auf Kulturpflanzen als auf die wildwachsenden Arten, von denen er manche mit Vorliebe züchtet. Es ist ihm wohl bekannt, dass in verschiedenen Gegenden Kaliforniens die wilden Arten Differenzen aufweisen, welche mit Vorteil zu verwerten sind. Er bringt daher diese Sorten von möglichst vielen Lokalitäten zusammen, um sie zunächst vergleichend zu prüfen und nachher die besten miteinander zu kreuzen. Da es sich aber am Schlusse doch nur um Produkte mit rein vegetativer Vermehrung handelt, sind ihm die Extreme der fluktuierenden Variabilität ebenso willkommen wie die konstanten elementaren Typen, und geben seine Notizen über diese Frage somit keinen Ausschluss. Einige Beispiele mögen erwähnt werden. Die japanische Quitte oder Loquat (Eryobotrya japonica) hat er in großem Umfange aus- gesät, schließlich aber nur zwei Bäume beibehalten. Ich sah sie schwer beladen mit den herrlichen, duftenden Früchten. Der eine Baum war die gewöhnliche Form, der andere aber ausgewählt als Träger der größten und saftigsten Früchte. Die Früchte des eimen waren so groß wie Kirschen, gelb, säuerlich und mit dünnem Frucht- fleisch um die großen Steine herum. Die Früchte des anderen Baumes sahen aus wie kleine Birnen, größer als Wallnüsse, und da ihr Kern unverändert geblieben war, besaßen sie ein reichliches Fruchtfleisch. Dieses war von süsem Geschmack. Der Baum war reich verästelt und für den Verkauf fertig. Der Käufer wird ihn später ganz zu Topflingen zerschneiden, und so in kurzer Zeit eine große Menge von Bäumchen dem Handel übergeben können. Die blutrote Johannisbeere (Fibes sangwineum) ist ein kalıfornischer Strauch, welcher in mehreren elementaren Arten in dieser Gegend vorgefunden wird. Bei uns ist sie nur ein Zierstrauch; aber einige ihren Unterarten setzen reichlich Frucht an. Diese unterscheiden sich durch die Größe der Trauben und der einzelnen Beeren, sowie im Grade der Winterhärte. Ich sah eine lange Reihe von Sträuchern schwer mit Früchten beladen, und obgleich diese noch nicht so saftig waren als gewöhnliche Johannisbeeren, so überragten mehrere doch die bei uns reifenden Früchte von Rübes sangıwinea weit, und zeigten sich dabei durch ein eigenes kräftiges Aroma aus. Frühreife Sorten wurden von Burbank bevorzugt, sowie äuch die ertragsreiche klebrige Varietät (R. s. glutinosa). Die ganze, aus gemischten Samen gewonnene Gruppe war im höchsten Grade variabel. In derselben Weise versucht Burbank die schönen gelben Beeren der kalifornischen Arten von Elaeagnus zu einer neuen eßbaren Frucht zu machen. Ein letztes Beispiel liefert die Zucht von Brombeeren ohne Stacheln. Ich sah davon eine lange Reihe mit vielen Hun- derten von stachellosen Pflanzen. Woher die Samen stammten, De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. 615 weiß ich nicht, aber m hölzernen Kästen stand die Saat, welche in bezug auf Stacheln den größtmöglichen Grand von Variabilität aufwies. Jedesmal wurden die bewaffneten Keimlinge ausgemerzt und die unbewaffneten ausgepflanzt, und von diesen war selbstver- ständlich die Mehrzahl auch im späteren Leben ohne Stacheln. Nachher sollten sie nach den Früchten sortiert und die besten unter ihnen als stachellose Varietäten der entsprechenden Sorten in den Handel gebracht werden. Eine zweite Gruppe von wichtigen Ergebnissen bilden die kon- stanten, und somit durch Samen vermehrbaren Bastardrassen. Sie bieten dem Züchter kein gewünschtes Material, sind aber für den Botaniker um so wichtiger. Sie scheinen im ganzen und großen selten zu sein, und neben den von Kerner beschriebenen wild- wachsenden Typen sind nur eine geringe Anzahl künstlicher, kon- stanter Hybriden bekannt. Ich führe nur die Gattung Anemone an, von der Janczewski einige derartige Fälle beschrieben hat. Zwei solche Rassen hat Burbank in der Gattung Rubus erhalten, und zwar durch die Kreuzung wildwachsender konstanter Arten. Er kreuzte die kalıfornische „Dewberry“ (Rubus calöfornieus) mit der sibirischen „Raspberry“ (Rubus sibirieus). Die erstere ist eine kleine Art von Brombeeren, während die letztere mit den Himbeeren verwandt ist. Beide haben aber unbedeutende Früchte und in dieser Hinsicht überragt der Bastard seine beiden Eltern so weit, dass er eine gute Handelssorte geworden ist. Er ist unter dem Namen „Primus-berry* eingeführt worden. Eine ähnliche Abstam- mung hat eine andere von Burbank erhaltene Bastardrasse, welche jetzt als „Phenomenal-berry* verkauft wird. Beide sind hei Aus- saat konstant!). Eine dritte Gruppe von Tatsachen bezieht sich auf die Frage, ob- durch Kreuzungen nicht nur neue Kombinationen, sondern ge- legentlich auch ganz neue Eigenschaften entstehen. Die Reklame vieler Züchter behauptet bekanntlich das letztere. Burbank aber versicherte mir, dass in seiner ausgedehnten Erfahrung ein solcher Fall nicht vorgekommen sei. Über die einzelnen Fälle, welche in seinen Katalogen für eine solche Annahme zu sprechen schienen, habe ich ihn dann gebeten, mir seine Erfahrung mitzuteilen. Es kommt stets darauf hinaus, dass er die neue Eigenschaft in irgend- einer wildwachsenden oder in der Kultur vergessenen Form ent- deckt und sie dann auf seine Rasse übertragen hat. Genau so verhält es sich ja auch in den älteren, ausreichend bekannten Fällen. Lemoinein Nancy hat sehr zahlreiche gefüllte Fliedern durch Kreuzung 1) In der Praxis bedeutet aber „konstant“ sehr oft nur, dass unter den Nach- kommen eine genügende Anzahl den Eltern gleicht, um nach Selektion die Rasse rein zu erhalten. Zwischen Atavismus und Vieinismus wird bekanntlich meist nicht unterschieden. 616 De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. erhalten, aber nur dadurch, dass er anfangs einen Baum der Syringa axurea plena gekauft und zu seinen Versuchen benutzt hat. Die Anzahl der durch Kreuzung entstandenen Kaktus-Geor- ginen ist eine außerordentlich große, alle verdanken sie aber das betreffende Merkmal einer einzigen aus Mexiko eingeführten Pflanze. Die Kunst des Gärtners ist es, solche vielversprechende Ausgangs- punkte ausfindig zu machen. Burbank erhielt durch Kreuzung eine Reihe von Varietäten von weißen Brombeeren, „white black- berries“, wie es im Englischen heißt; ihre Früchte waren groß, saftig und süß und die Stauden reich tragend. Ihre weiße Farbe erhielten sie aber von einer weißen Varietät der kalifornischen Brombeere, welche zwar selten ist, aber doch hier und dort ım Freien vor- kommt. Von Heuchera mierantha, einer kleinblütigen Art der Wälder hat Burbank irgendwo in Kalıfornien eine varietas erispa aufgefunden, und jetzt kreuzt er diese mit der H. sangwinea, der bekannten rotblütigen Art unserer Gärten. Die großblumigen Kultursorten von Canna sucht er durch Kreuzung mit Canna flacerda zu verbessern u.s.f. Wichtige Beispiele sind ferner sein stachelloser Kaktus und seine steinlose Pflaume. Von beidenkonnte ich die Kulturen studieren, aber für den Handel sind sie noch nicht reif. Die erstere Art ist eine Opuntia, deren große Scheiben ganz unbewaffnet sind, eine nahezu 2 m hohe, reich verzweigte Staude. Man ist erstaunt, wenn man ohne irgend eine Unannehmlichkeit sich‘ die Scheiben über die Wangen reibt. Der Verlust ist aber dennoch kein voll- ständiger und es gelang mir ganz vereinzelte Stacheln aufzufinden. Die Stacheln sind bei den Opuntien bekanntlich häufig von zweierlei Art, jede von beiden Arten kann gelegentlich fehlen, und es kommen auch Arten ohne Stacheln vor. Durch die Kreuzung dieser seltenen Formen mit den gewöhnlichen großscheibigen Sorten wurde Bur- bank’s stachelloser Kaktus erhalten. Der Zweck dabei war, eine Pflanze zu züchten, welche in den dürren Wüsten Südkalıforniens auch ohne Irrigation eine Kultur ermöglichen würde, denn die Opuntien sind, abgesehen von den Stacheln, ein vorzügliches Vieh- futter. Pflaumen ohne Stein sind etwas sehr auffallendes. Ihr Same liegt nackt im Fruchtfleisch, höchstens findet man hier und dort noch einige winzige Überreste des Steinkerns vor. Man beisst ruhig durch das Fleisch und den Samen hindurch. Ohne Zweifel werden sie einmal eine sehr beliebte Verbesserung werden, sobald es gelungen sein wird, ihren Charakter mit dem der käuflichen Sorten zu verbinden. Augenblicklich sind sie zwar schmackhaft, aber noch klein. Die Bäume, welche ich bei Burbank sah, waren durch Kreuzung gewonnen. Auf meine Frage, wie er die betreffende Eigenschaft bekommen habe, antwortete er, dass vor längerer Zeit in Frankreich eine „prune sans noyau* kultiviert worden sei. Sie De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. 617 wurde aber wegen ihrer unansehnlichen Früchte nahezu ganz ver- nachlässigt. Es sei ihm gelungen, einige Bäumchen zu kaufen, und mit diesen habe er seine Kreuzungen angefangen. Diese Mitteilungen sind deshalb wichtig, weil sie uns den meist verborgenen Ursprung neuer Qualitäten bei züchterischen Kreuzungen kennen lehren, und uns deshalb warnen, bei anderen Beispielen, wenn die betreffende Angabe fehlt, in unseren Voraussetzungen und Erklärungsversuchen vorsichtig zu sein. Ich komme jetzt zu der letzten und größten Gruppe der Burbank’schen Kulturen, deren Prinzip darin beruht, dass er die Variabilität durch Kreuzungen soweit wie möglich zu steigern ver- sucht, um aus den Tausenden von verschiedenen Individuen die besten auszuwählen. Wie die Kreuzung die Variabilität erhöht, ist eine Aufgabe für umfangreiche Untersuchungen. Der Züchter be- nützt dazu hauptsächlich zwei Wege, erstens die Kreuzung bereits stark varııerender Sorten, oder doch einer solchen mit einer neu eingeführten konstanten Art, und zweitens die Verbindung von mehr als zwei Eltern zu einer Bastardrasse. Ob das betreffende Varieren darin besteht, dass die Art reich an elementaren Arten ist, oder vielleicht mutiert oder fluktuierend variiert, oder ob der Formenreichtum von vorhergehenden Kreuzungen herrührt, ist ihm dabei selbstver- ständlich gleichgültig. Unter Bastardrasse versteht man in der Praxis meist die ganze Gruppe von durch zahllose einzelne Kreuz- ungen innerhalb eines Haupttypus nebeneinander erhaltenen Hybriden. Zwei Punkte sind also von hervorragender Wichtigkeit, der Umfang der Versuche und die Auswahl der besten. Von Pflaumen wählt Burbank aus 300000 Hybhriden, welche im Gruppen auf größeren Bäumen gepfropft sind. Es war ganz merkwürdig, jeden einzelnen Baum der großen Bastarde 40--50 und mehr verschiedene Arten von Früchten tragen zu sehen. Seine Brombeeren hat er aus 60000 Hybriden ausgewählt, seine Rosen aus 15000. Von Lilium tigrinum, dieser prachtvollen hohen, ın Kalifornien wild- wachsenden Art, hat er über 100 000 Bastarde zum Blühen gebracht, u. s. w. Es ist deutlich, dass unter solchen Zahlen die Aussicht auf einzelne ganz ausgezeichnete Varietäten eine ausreichend große ist. Um eine Vorstellung von diesen Zahlen zu geben, teile ich mit, dass die erwähnten 60000 hybriden Brombeeren, nach Auswahl der allerbesten, in voller Frucht ausgerodet, auf einen Haufen gebracht und nach vorläufigem Trocknen verbrannt worden sind. Der Haufen war über 20 m lang und breit und nahezu 10 m hoch. In einigen Jahren hat er von verschiedenen Arten 10--15 solche Haufen ver- brannt. In der Auswahl zeigt sich aber erst wirklich das Genie des Züchters. Die Selektion findet teils nach den direkt wahrnehm- baren Eigenschaften, teils nach den korrelativen Merkmalen statt, 618 De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. Es handelt sich aber darum, nicht nur beurteilen zu können, ob eine Frucht beim Publikum als besser schmeckend Eingang finden wird, sondern gleichfalls um alle übrigen Eigenschaften. Sie muss ertragsreich sein, wıiderstandsfähig gegen Krankheiten, nicht zu anspruchsvoll und namentlich geeignet für die Verpackung und den Transport über große Entfernungen. Für alle diese Eigenschaften hat Burbank einen scharfen Blick, welcher einem Laien, wie mir, unverständlich, für seinen Erfolg aber durchaus entscheidend ist. Hätte ich an jenem Tage die vielen Hunderte von Arten von Pflaumen vergleichend beurteilen müssen, ich wäre mit dem Kosten allein .nicht fertig gekommen. Burbank aber erklärte mir, dass seine jahrelange Erfahrung mit einer kleinen Reihe von Haupt- kulturen ıhn in den Stand gesetzt habe, seine Selektionen auszu- führen. Für jede neue Gattung müsse er sich aber erst auf den betreffenden Punkten einüben. Bisweilen gibt eine Kreuzung gar keine verwertbaren Resultate. So erhielt er unter Tausenden von Samen von Necotana, nach Be- stäubung mit Petunia, einen einzigen lebensfähigen Keim. Die be- treffende Pflanze, welche er Nicoltunia nannte, war einjährig und steril und konnte nicht vegetativ vermehrt werden. Sie ging somit einfach zugrunde. Auf die Narben einer Brombeere brachte er den Staub aller ihm zugänglichen Rosaceen und erhielt ein buntes Ge- misch von Formen, unter denen aber nicht eine einzige die Mühe lohnte, beibehalten zu werden. Papaver orientale macht mit dem Staub von P. somniferum keine Samen, wohl aber die umgekehrte Verbindung. Die Bastarde, welche ich sah, gehörten der zweiten Generation, nach teilweiser Befruchtung mit den Eltern an, sie waren sowohl in ihren Blättern als in ihrer Fruchtbarkeit im höchsten Grade variabel. Stark variabel waren auch die Bastarde anderer Arten derselben Gattung, sowie diejenigen von Eschscholtzia californica. Von Aquilegia hatte er eine Varietät ohne Spornen mit mehreren anderen Arten gekreuzt. Ob aus diesen und ähn- lichen Versuchen etwas Wertvolles herauskommen wird, muss einst- weilen der Zukunft überlassen bleiben. Sehr wichtig ist es für Kreuzungen, die zu verbindenden Typen so zahlreich wie möglich zu sammeln, um dann aus dem vor- handenen Material sofort die am meisten versprechenden Formen für die Kreuzungen anzuwenden. Burbank zeigte mir den Anfang eines solchen Versuches. Von J. M. Thornburg & Co. in New York war eine neue Art von Grassamen, bezw. ein neues Gemisch, unter dem Namen „Perennial sweet scented vernal grass“, wohl eine Art von Anthoxanthum, in den Handel gebracht. Burbank hatte eine Probe gekauft und ausgesät. Sobald die Keimlinge einige Zentimeter hoch waren, suchte er die gleichförmigen aus und warf sie weg, während er die übrigen auf einem großen Beete auspflanzte. De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. 619 Die Samen keimten nur nach und nach, und die ausgewählten Exemplare hatten also ein sehr verschiedenes Alter. Unter etwa hundert Pflanzen war schon ım Juli ein ganz erstaunlicher Reich- tum von Formen sichtbar. Seine jetzt berühmten großblumigen Shasta-Gänseblumen, von denen jede Blüte ein Blatt dieser Zeitschrift völlig bedeckt, hat er durch Kreuzung der beiden europäischen Arten, Chrysanthemum Leucanthemum und (. lacustre, mit großblütigen japanischen Arten gewonnen. Von den erstern haben sie eine hohe Variabilität ererbt, aus der namentlich eine Rasse mit röhrenförmigen weißen Zungen- blüten herzuleiten ıst. Von Calla kreuzte er Ü. hastata, die gelbe „Pride of the Kongo“, die dunkelgelbe geflektblättrige ©. Elhottiana, die gelbe purpurn gefleckte (. Pentlandi, die rötliche ©. Rehmanni und die zwerghafte (. Nelsoni. Ich bewunderte die langen Reihen der in voller Blüte prangenden Hybriden, die ansehnliche Größe ihrer Kelche und den Reichtum der Formen. Die Abstammung der einzelnen Typen konnte mit größerer oder geringerer Wahrschein- lichkeit aus ihren Merkmalen abgeleitet werden, war aber selbst- verständlich nicht weiter bekannt. Zwiebeln von bis über 20 cm Diameter, riesenhafte Blätter und Kolben, das bunteste Farben- gemisch auf Blättern und Scheiden bildeten hier ein Material, aus dem ohne Zweifel wichtige Neuheiten werden ausgewählt werden können. Alljährlich wird das Gemisch durch neue Kreuzungen bereichert. Eine spezielle Aufgabe stellt sich Burbank in der Erzeugung von Freilandpflanzen mit rascher Vermehrung, großen Blumen und üppigem Blütenreichtum. Wie bereits erwähnt gehört. es zu seinen Idealen, die Gärtchen der Volksklassen mit billigen und schönen Blumen zu zieren. Amaryllis und Gladiolus sind unter dem Klima Kalıforniens Gartenpflanzen, welche im Freien ausdauern, wie bei uns Krokus. Er züchtet sie teilweise in bezug auf Größe und Farbenzeichnung der Blüten, wesentlich aber auf Winterhärte und rasche Vermehrung. Es kommt am meisten auf die Anzahl von Nebenzwiebeln an, welche eine Pflanze jährlich erzeugen kann. Denn die reiche Vermehrung wird sie schließlich ganz billig machen und somit allgemein einführen. Die betreffende Fähigkeit wechselt in den Hybriden von Amaryllis; welche ich sah, im höchsten Grade: Die meisten Zwiebeln machten jährlich etwa 10—12 junge Zwiebelchen, aber bei den für die Weiterzucht ausgewählten erreichte diese Zahl 20—24. Bisweilen gestatten seine Notizen, den Stammbaum einer neuern Sorte auszumalen. Als Beispiel führe ich eine der jetzt im Handel verbreiteten Pflaume, die Alhambra, an. Durch dreizehnjährige Arbeit wurde sie aus der Verbindung von europäischen, amerikanischen und japanischen Sorten erhalten. Zuerst wurde „Kelsey* mit 620 De Vries, Die Neuzüchtungen Luther Burbank’s. Prunus Pissardt verbunden, und der Hybride mit den französischen Sorten gemischt. Inzwischen waren P. Simoni mit P. biflora und P. americana mit P. nigra gekreuzt worden. Der Blütenstaub dieser Hybriden wurde dann auf die Narben der Bastardrasse übertragen. Diese siebenfache Verbindung gab eine außerordentliche Menge von Typen, aus denen die Alhambra ausgewählt worden ist. Ob sie von allen der genannten Arten abstammt oder sonst von welcher Gruppe, kann selbstverständlich nicht mehr entschieden werden und ist für den Züchter auch ebenso selbstverständlich ohne Wert. Kreuzungen der gewöhnlichen Pflaumen mit den wildwachsenden widerstandsfähigen und ertragsreichen P. maritima sind im vollen Gang; Burbank erhofft von ihnen eine oder mehrere, für wasser- arme Gegenden geeignete Sorten. Schließlich habe ich noch die Selektionen auf Grund von korre- lativen Merkmalen zu besprechen. Es handelt sich darum, dass Burbank, nach jahrelanger Übung sich in den Stand gesetzt hat, von den Blättern der Keimlinge die Eigenschaften der Früchte vorauszusagen. Dieses gilt wohl nicht im einzelnen, aber doch so weit, dass es eine Auswahl im ersten oder zweiten Jahre ermöglicht und dadurch den Umfang der Kulturen innerhalb der Grenzen des Möglichen hält, auch wenn die Saat viele Hundertausende um- fassen sollte. Das wissenschaftliche Studium solcher Korrelationen ist noch in seinem ersten Anfange, und die Arbeit der Züchter scheint fast unverständlich. Burbank zeigte mir einjährige Kulturen von Juglans californica X nigra und zweijährige von Prumus Pissardi mit gewöhlichen Pflaumen gekreuzt. Es waren dreifache Hybriden, für welche die Väter der zweiten Kreuzung nicht näher angegeben werden konnten. Unter Hunderten und Tausenden von Keimlingen war die Verschiedenheit des Laubes eine fast unübersichtlich große, in der Farbe und der Form bei den Pflaumen, im Grade der Zu- sammensetzung und der Form bei den Wallnüssen. Burbank deutete mir an, was ıhm schien, Gutes zu versprechen, aber die Beziehungen zu den Früchten konnte ich nicht erfassen. Daher führe ich hier das folgende Beispiel an. Vor vielen Jahren hatte er eine ähnliche Kultur von hybriden Quitten. Er wählte nach dem Laube der einjährigen Pflänzchen die zehn besten aus, numerierte sie nach ihrem vermutlichen Werte und erzog sie bis zur Zeit der Blüte und des Fruchtansatzes. Nr. 1 ergab sich als weitaus der beste, Nr. 2—-9 waren in verschiedenen Graden vorzüglich, während alle übrigen nur mittelmäßigen oder geradezu schlechte Früchte her- vorbrachten. Seit meinem Besuche hat die Uarnegie-Institution zu Washington Burbank eine jährliche Zulage für seine Versuche von 10000 Dollar verliehen unter der Bedingung, dass seine Ergebnisse auch ın methodischer Hinsicht für andere zugänglich gemacht werden sollten. Ziegler, Die Vererbungslehre in der Biologie. 621 Teils durch Vorträge an der Stanford-Universität in Kalifornien, teils durch wissenschaftliche Studien von Botanikern auf seinen Gütern soll dieser Zweck erreicht werden. Hauptsache ist dabei weniger, das theoretisch Wichtige festzustellen und der Vergessen- heit zu entziehen, als wohl seine Methode für andere Züchter besser zugänglich zu machen und im einzelnen auszubreiten. Ohne Zweifel wird sich dabei manches ergeben, was sowohl für die Wissenschaft als für die Praxis von hoher Bedeutung ist. Wie man aus meiner Beschreibung sieht, handelt es sich vor- wiegend um Versuche, deren Resultate noch nicht spruchreif sind, da der Besucher die älteren, bereits in den Handel übergegangenen Kreuzungpsrodukte nicht mehr antrifft. Über ihren Wert wird man nur in großen Zügen unterrichtet. Die laufenden Versuche bieten aber so viel des Wichtigen, dass sie uns dafür völlig entschädigen. Dabei ist aber immer im Auge zu behalten, dass die Verwendung praktischer Resultate für wissenschaftliche Schlussfolgerungen immer gefährlich ist, denn nur zu häufig sind Umstände, welche in wissen- schaftlichen Versuchen als Fehler anzusehen sein würden, in der Praxis entweder unvermeidlich, oder gar nützlich. Abgesehen davon behält aber Burbank’s Arbeit ohne jeden Zweifel seine hervor- ragende Bedeutung, auch für die Forschung. Ziegler, H. E., Die Vererbungslehre in der Biologie. VIII und 76 p. Mit 9 Figuren im Text und 2 Tafeln. Jena (Gustav Fischer) 1905. Die überaus interessante und anregende Schrift ging hervor aus einem Vortrage: „Uber den derzeitigen Stand der Vererbungs- lehre in der Biologie,“ welcher infolge einer Aufforderung der Ge- schäftsleitung des XXII. Kongresses für innere Medizin im letzten Jahre in Wiesbaden gehalten wurde. Er liegt hier in erweiterter Form vor. Es gliedern sich folgende Kapitel an, die einen selb- ständigen Wert für sich beanspruchen: Beiträge zur Chromosomen- theorie; das Mendel’sche Gesetz; Vererbungsexperimente an Schmetterlingen; Vererbungsexperimente an Meerschweinchen; die Vererbungstheorien von Hugo.de Vries und August Weismann. H. E. Ziegler steht auf dem vielfach geteilten Standpunkt, dass wir zurzeit noch keine schlagenden Fälle von Vererbung er- worbener Eigenschaften kennen. E Von der echten Vererbung sind zu trennen: Die Übertragung von Infektionskrankheiten aller Art von den Eltern auf die Kinder durch die Geschlechtszellen oder während der Schwangerschaft und ferner die Schädigung der elterlichen Keimzellen durch chronische Vergiftungen (Alkohol, Blei, Phosphor u. s. w.). 622 Ziegler, Die Vererbungslehre in der Biologie. Die Vererbung bei den Protisten (Teilung) ist zu trennen von der Vererbung bei den höheren Pflanzen und Tieren durch die generativen Zellen (Ei- und Samenzellen) im Gegensatz zu den Körperzellen (somatische Zellen. Nur in den generativen Zellen finden wır die Träger der Vererbung in Gestalt der im Zellkern enthaltenen Chromosomen. Verfasser geht auf die bekannten Vor- gänge bei den Kernteilungsprozessen näher ein, nach denen jeder Tochterkern durch Spaltung der Kernfäden wieder die gleiche Normalzahl der Chromosomen enthält. Bei der Reifung der Ge- schlechtszellen tritt aber etwas Besonderes, die Zahlenreduktion der Chromosomen, ein, d. h. sowohl m der Eizelle als auch in der Samenzelle verringert sich die Anzahl der Uhromosomen auf die Hälfte, so dass bei der Vereinigung der beiden Geschlechtszellen wieder die normale Chromosomenzahl erreicht wird. Mit anderen Worten: das Kınd erhält vom Vater wie von der Mutter die gleiche Menge Erbsubstanz; eine erbliche Belastung von väterlicher Seite muss daher ganz dieselbe Wirkung haben wie die von mütterlicher Seite. Beı der Verschmelzung der beiden Geschlechtszellen während des Befruchtungsvorganges vermischen sich die Vererbungsanlagen (Amphimixis). Es können hierdurch reine Milchformen entstehen oder es treten Rückschläge em z. B. auf Eigenschaften eines Groß- elters oder stammesgeschichtlich ältere Formen oder schließlich die Vererbungsresultate zeigen sich nach dem Mendel’schen Gesetz geordnet, auf das hier nicht weiter eingegangen werden soll. Im Gegensatz zu Haecker nımmt H. E. Ziegler an, dass die bei den Reifungserscheinungen der Geschlechtszellen sich bildenden Chromosomenvierergruppen (Tetraden) nicht gleichartige Elemente enthalten, sondern väterliche und mütterliche Chromosomen ge- mischt, d. h. jede Vierergruppe enthält zwei väterliche und zwei mütterliche. Da jede Vierergruppe jeweils nur ein beliebiges Chromosoma an die Geschlechtszelle abgibt, können also verschie- dene Kombinationen der Erbanlagen entstehen. Auf Grund dieser Annahme erklärt sich die Verschiedenheit der Kinder eines Eltern- paares, da einmal mehr väterliche und einmal mehr mütterliche Erbteile (Uhromosomen) überwiegen. Hierdurch wird auch ein Rückschlag auf den Großvater oder die Großmutter begreiflich und warum eine ererbte Krankheitsanlage meistens nicht bei allen (Geschwistern auftritt u. s. w. In den an den Vortrag sich angliedernden Beiträgen zur Chromosomentheorie tritt H. E. Ziegler mit guter Begründung für die dauernde Individualität der Chromosomen ein, wie sie ja schon mehrfach verfochten worden ist, und widerlegt ausführlicher die im Vortrag herangezogene Haecker’sche Theorie der Gono- merie, nach der in der Vierergruppe jeweils nur mütterliche oder nur väterliche Erbteile vorhanden sein sollen. Wenn also nach H. E. Ziegler aus den gemischte Erb- elementen enthaltenden Tetraden jeweils nur 1 CUhromosoma in die Geschlechtszelle übergeht, so ist es, wie gesagt, dem Zu- Ziegler, Die Vererbungslehre in der Biologie. 623 fall überlassen, ob dieses eine väterlichen oder mütterlichen Ur- sprungs ist. Um sich eine Vorstellung zu schaffen, über die Häufigkeit, ın welcher ein bestimmtes zahlenmäßiges Verhalten väterlicher und mütterlicher Chromosomen durch das zufällige Zusammenfinden in den Keimzellen zu erwarten ist, ahmt H. E. Ziegler diesen Zufall durch ein geschickt präparier tes und sehr rain ausgeführtes Würfelspiel nach und kommt hierbei zu neuen, sehr interessanten Resultaten. Ich setze einen Fall hierher. „Nehmen wir an, die Normalzahl der Chromosomen sei $, also die Zahl der Vierergruppen 4. Die Zahl der väterlichen Chro- mosomen in einer Keimzelle kann 4, 3, 2, 1 oder O betragen; es sind also 5 Fälle möglich. Diese Fälle haben aber verschiedene Wahrscheinlichkeit. Es wurden 100 Keimzellen in Betracht ge- zogen. Durch das Würfelspiel ergab sich, dass die einzelnen Fälle unter 100 Fällen in folgender Häufigkeit "vorkommen können. Väterliche Mütterliche Häufiekeit Chromosomen Chromosomen ALLIIERET 0 4 3 mal ! 3 Ban 2 2 a H 1 23h, e 0 Ink „Es ist beachtenswert, dass das gleiche Verhältnis der mütter- lichen und väterlichen Chromosomen (2: ) hier weitaus am häufigsten auftrat (37mal).“ In dieser Weise berechnet Ziegler noch andere Fälle mit verschiedener Normalzahl der Chromosomen, z. B. 12, 18, 24, 32. Das Resultat dieser Berechnungen möge aus der Schrift selbst ersehen werden. Diese Resultate, auch die über „die Möglichkeiten und Wahr- scheinlichkeiten der Chromosomenkombinationen bei Inzucht“ ‚ haben inzwischen eine vortreffliche Bestätigung erhalten durch Ammon, der, angeregt durch die Ziegler’sche Arbeit auf Grund mathe- matischer Berechnung (Naturw. Wochenschr. 1905, p. 606-608) im wesentlichen zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt ist. Ich gebe auch hier ein Beispiel. Chromosomen „ Häufigkeit der Kombinationen en ron Ziegler mit Mehr ae er 4 nach der Wahr- auf 100 vn 5. väterliche mütterliche scheinlichkeit berechnet den i Wü feln ermittelt 0 4 1 6,25 3 1 3 4 25,00 28 2 2 6 37,50 97 3 1 t 25,00 23 4 0; 1 6,25 ) Zusammen: 16 100,00 100 694 Emery, Zur Kenntnis des Polymorphismus der Ameisen. Diese Wichtigkeit der Chromosomen für die Vererbung legt es dem Verfasser nahe, die Geschlechtsbestimmungsfrage auch in den Kreis der Betrachtungen zu ziehen. Es wird angenommen, dass die Chromosomen, welche aus einem weiblichen Individuum stammen, eine etwas größere Tendenz zur Bildung von Weibchen haben und vice versa. Das jeweilig prävalierende gibt den Aus- schlag. Diese Hypothese löst selbstverständlich nicht alle Fort- pflanzungsverhältnisse, wie der Verfasser sehr wohl einsieht. Der Abschnitt über „das Mendel’sche Gesetz“ wird manchem willkommen sein, da auch die neuere Literatur berücksichtigt ist; desgleichen die Kritik der „Vererbungsexperimente an Schmetter- lingen.“ Die bekannten Versuche von Standfuß und Fischer an Schmetterlingen, die so oft als Beweise für die Vererbung er- worbener Eigenschaften in Anspruch genommen werden, haben nach H. E. Ziegler keineswegs diese Beweiskraft, wie das schon mehrfach ausgesprochen ist. "Ziegler gibt aber zu: „dass das Klima und andere Verhältnisse der umgebenden Natur ım Laufe längerer Zeit einen Einfluss auf das Keimplasma und somit auf die Vererbung ausüben können.“ „Auch Weismann spricht von einem Einfluss des Klimas auf das Keimplasma.“ Im Anschluss hieran werden die Vererbungsexperimente an Meerschweinchen (Brown-Sequard, Westphal, Obersteiner) besprochen und die abweichenden Ergebnisse von Romanow und Sommer -angeführt. Auch hier sehen wir kemerlei Beweis für eine Vererbung erworbener Eigenschaften. Zum Schlusse gibt die inhaltsreiche Schrift des geistvollen Verfassers noch interessante Gedanken über die Vererbungstheorien von Hugo de Vries und August Weismann. Buttel-Reepen. Zur Kenntnis des Polymorphismus der Ameisen. Von €. Emery in Bologna. Ergatomorphe und gynäkomorphe Männchen. Die neueren Fortschritte ın der Kenntnis der Ameisen haben uns eine immer größere Zahl von flügellosen Männchenformen kennen gelehrt, und merkwürdigerweise kommen derartige Männchen be- sonders oft bei solchen Ameisenarten vor, welche als Schmarotzer ın den Nestern anderer Arten leben (Anergates, Formicoxenus, Wheeleria, Symmyrmica) aber nicht ausschließlich bei ihnen, sondern auch noch bei einigen Ponera und bei fast allen Arten von Cardiocon- dyla. — Vermutlich liegt hier eine Anpassungserscheinung vor, deren Grund und Be uns noch unbekannt bleibt. Mit dem Ungeflügeltsein der Männchen verbindet sich die dadurch unver- meidlich gewordene Inzucht, infolge der Paarung der Geschwister im Mutternest. Jene Männchen sind aber nicht nur flügellos, sondern sie bieten in der Bildung ihres Thorax und anderer Korn teile und sogar in Emery, Zur Kenntnis des Polymorphismus der Ameisen. 625 der Form der Antennen und des ganzen Kopfes Charaktere dar, welche lebhaft an die Arbeiterinnen erinnern und dementsprechend zum Teil eigentlich Charaktere des weiblichen Geschlechtes sind. Nach Forel’s Vorgang werden solche Männchen allgemein als ergatomorphe oder ergatoıde bezeichnet. Die höchste Ausbildung des Ergatomorphismus finden wir ın einer kleinen Gruppe von Ponera-Arten (P. punectatissima Rog., P. ergatandria For.) Die Bildung des ganzen Leibes jener Männchen entspricht genau der einer Arbeiterin. Besonders ıst dieses am Kopf auffallend, wo sogar die Antennen den langen Skapus und die normale Gliederzahl (12 Glieder) des weiblichen Geschlechtes bekommen haben. Die Männchennatur offenbart sich in der äußeren Gestalt nur noch durch die Zahl der äußerlich sichtbaren Hinter- leibssegmente und durch die kleinen, aber wohlausgebildeten Kopu- lationsorgane, welche aus dem Hinterleibsende hervorragen. Roger!), welcher zuerst, vor mehr als 40 Jahren, das Männchen der P. punc- tatissima beschrieb, glaubte eine besondere Spezies vor sich zu haben, die er mit dem neuen Namen von P. androgyna belegte. Später bewies Forel dessen Beziehungen zu Arbeiterinnen und Weibchen von P. punctatissima; er wurde durch die sonderbar ab- weichende Erscheinung jener Exemplare dazu geführt, dieselben als eigentümliche in der betreffenden Spezies normal gewordene Herma- phroditen zu bezeichnen ?). Ich halte diese Bezeichnung, welche Forel seitdem wieder hat fallen lassen, für nicht gerade unrichtig. Wıe können wir uns ın der Tat die Entstehung derartiger ergatomorpher Männchen vor- stellen? — Ich denke mir, dass, wenigstens in solchen extremen Formen wie Ponera punctatissima und ergatandria, eine erbliche Übertragung von weiblichen Eigenschaften auf das Männchen statt- gefunden hat, entweder auf einmal, so zu sagen durch die Er- scheinung eines fortpflanzungsfähigen Monstrum, oder wiederholt in mehreren Vorschüben einer Vererbungsvariation in der gleichen Richtung. Das Endstadium lässt sich passend mit den anomalen unter den Menschen vorkommenden Individuen vergleichen, welche geschlechtlich Männer sind, obgleich sie in ihrem äußerlichen Körper- bau weibliche Eigenschaften erkennen lassen. Zur Erläuterung jener extremen Formen sind die bei einer nahe verwandten Art, P. eduardi For. bekannt gewordenen Männchen sehr interessant. Das normale Männchen ist geflügelt und den Männchen der meisten anderen Ponera-Arten ähnlich beschaffen. Vergleicht man es aber genauer mit anderen Arten, z. B. mit dem Männchen von P. eoaretata Latr., so weicht das geflügelte Männchen 1) J. Roger in: Berlin. ent. Zeitschr. 3, S. 254, Anm. 1859. 2) A. Forel, Les fourmis de la Suisse, p. 66. 1874. XXVI. 40 626 Emery, Zur Kenntnis des Polymorphismus der Ameisen. von P. eduardi davon ab: 1. durch das Fehlen des dornartigen Fort-. satzes am Ende des Pygidium; 2. durch den niederen Thorax, bei verhältnismäßig massiven Kopf; 3. durch die kürzere Fühlergeissel. Erklärung der Abbildungen: A. — Ponera coarctata Latr. — Geflügeltes Männchen. Profilumriss des Rumpfes, mit der linken Antenne. B. — Ponera eduardi For. — Geflügeltes Männchen. Profilumriss wie oben. >. — Dieselbe Art. — Flügelloses Männchen. Ebenso. D. — Ponera punctatissima Rog. — Ergatomorphes Männchen. Thorax und Hinterleib im Profil; Kopf schief von der Seite und oben. Alle vier Zeichnungen sind bei gleicher Vergrößerung entworfen. Diese Unterschiede wären ziemlich unbedeutend, wenn sie nicht Anklänge zur neuerdings von Forel!) nach einem einzelnen Exem- 1) A. Forel in: Ann. Soc. ent. Belgique, v. 48, p. 421. 1905. Emery, Zur Kenntnis des Polymorphismus der Ameisen. 627 plar beschriebenen, flügellosen Männchen derselben Art bildeten. Ich gebe hier eine Skizze, die ich gelegentlich eines Besuches zu Forel’s Sammlung gefertigt habe. Diese Ameise sieht beim ersten Anblick ganz arbeiterartig aus; aber der Hinterleib samt Petiolus ist durchaus männlich, und selbst der Thorax zeigt im buckligen Rückenprofil des Mesonotum und Epinotum noch Anklänge an die Männchengestalt. Der Kopf neigt zur Arbeiterinnenform, hat ziem- lich kleine Augen, aber die Mandibeln sind kaum größer als beim normalen Männchen, viel kleiner als bei der Arbeiterin; die An- tennen behalten die 13-Zahl ihrer Glieder und den kurzen Skapus des männlichen Fühlers; aber die Geissel besteht aus viel kürzeren Gliedern, wie ın den weiblichen Formen. In keiner anderen Ameisengattung ist der Ergatomorphismus des Männchens so weit fortgeschritten, wie bei Ponera punctatissima und ergatandria. Am nächsten kommt in dieser Beziehung Cardio- condyla: bei den bekannten flügellosen Männchenformen, (C. stam- buloffi For., nuda mauritanica For. etc.) haben die Antennen den langen Skapus und die 12-Zahl der Glieder wie beim weiblichen Geschlecht, oder sogar eine noch mehr reduzierte Gliederzahl. Da- gegen hat O©. emeryi For. ein geflügeltes Männchen mit 13-gliedrigen Antennen, aber mit langem Skapus und mit einem Kopfbau, der sehr an den der betreffenden Arbeiterin erinnert. Ob der lange Skapus dieses sonst normalen Myrmicinenmännchens einen ersten Schritt auf dem Wege zum Ergatomorphismus darstellt oder nicht, bin ich nicht imstande zu entscheiden. Ich neige zur ersteren Annahme, weil in der Mehrzahl der Myrmicmengattungen mit normalen Männchen der Skapus kurz oder sehr kurz ist. Bei Formicoxenus nitidulus Nyl. ıst das Männchen vollkommen ergatomorph: sein Skapus ist nur wenig kürzer als bei Arbeiterinnen und Weibchen, aber die Gliederzahl der Antennen ist männlich (12 Glieder, während Arbeiterinnen und Weibchen deren 11 haben). Bei der nahe stehenden Gattung Symmyrnica hat das flügel- lose Männchen einen ziemlich gewölbten Thorax und einen durch- aus männlichen Kopf mit Ocellen, großen Augen und nicht be- sonders langem Skapus. Eine besondere Stellung nehmen die Männchen der arbeiter- losen Gattungen ein. N Während die Männchen von Wheeleria, Sympheidole und Epi- pheidole ganz normal gebaut sind und an ihren Antennen nichts Besonderes bemerken lassen, ıst das Männchen des Anergates eines der am meisten abweichenden unter den flügellosen Formen und von plumper, krüppelhafter Gestalt. Bei genauerer Betrachtung erscheint es mehr einem Weibchen als einer Arbeiterin ähnlich: der Kopf ıst dem des Weibchens ähnlich gebaut und die Antennen haben die weibliche Gliederzahl (11 Glieder), mit einem ziemlich langen 40* 528 Emery, Zur Kenntnis des Polymorphismus der Ameisen, Skapus; auch der Thorax ist hoch, vollgegliedert und hauptsächlich durch die Abwesenheit der Flügel vom weiblichen verschieden. Bei Epoecus, einer Gattung, welche mit Anergates sehr nahe verwandt zu sein scheint, ist das Männchen zwar geflügelt, dabei aber dem Weibchen ganz außerordentlich ähnlich, mit wenig kür- zerem Skapus als beim Weibchen. Die Zahl der Fühlerglieder ist veränderlich; in beiden Geschlechtern findet man Exemplare mit 11- und 12-gliedrigen Fühlern. Wir finden also bei den arbeiterlosen Ameisen keine wirklich arbeiterartigen Männchen, sondern weiıbchenartige d. h. gynäko- morphe. Ihre eigentümlichen Eigenschaften haben sie ebenso wie die ergatomorphen vom weiblichen Geschlecht geerbt; da aber in der betreffenden Spezies die Fähigkeit der Weibchen sich arbeiter- artig zu entwickeln erloschen war, so konnte sie nicht auf die Männchen übertragen werden. Ergatomorphe wıe gynäkomorphe Männchen dürfen nach meiner Ansicht nicht einfach als flügellos und infolge der mit dem Verlust der Flügel verbundenen Reduktion des Thorax mehr oder minder arbeiterartig gewordene Individuen aufgefasst werden. Sie sind Männchen, welche in bezug auf die Zeugungswerkzeuge zwar ihr (eschlecht völlig bewahrt haben, aber in anderen Beziehungen vom entgegengesetzten Geschlecht ın ihrem Körperbau weibliche Eigen- schaften geerbt haben und dadurch sekundär weibchenartig (resp. arbeiterartig) geworden sind. Über die Bedeutung der Flügel bei den Ameisenweibchen. In einer früheren Schrift habe ich!) die Meinung ausgesprochen, dass bei den Urformen der Ameisen die fruchtbaren Weibchen ebenso wie die Arbeiterinnen flügellos waren und die Flügel erst nachträglich erwarben. Ich leitete die Formiciden von mutilliden- ähnlichen Ahnen ab. Diese Anschauung hielt ich für die wahr- scheinlichste: 1. weıl die Mutilliden sich in ihrem Körperbau den Formiciden nahe anschließen; 2. weıl mir durch diese Annahme die Entstehung flügelloser Arbeiterinnen leichter verständlich erschien als bei der Annahme von ursprünglichen Gesellschaften geflügelter Weibchen und Arbeiterinnen; 3. weil gerade beı den stacheltragenden Ameisen, d. h. im den primitiveren Gruppen der Familie (Dorylinen, Ponerinen und Myrmicinen) flügellose fruchtbare Weibchen am häufigsten vorkommen, ja ın vielen Arten als regelrechte Königinnen. Wheeler?) hat gegen meine Hypothese hauptsächlich das von Dollo und Hedley behauptete Prinzip aufgeführt, dass verlorene 1) C©.Emery, Die Gattung Dorylus ete. Zool. Jahrb., Syst.,8, S. 774—775, 1895. 2) W.M. Wheeler, Dimorphie queens in an american ant. Biolog. Bulletin, 4, S. 160. 1903. \ Emery, Zur Kenntnis des Polymorphismus der Ameisen. 529 Organe nicht wieder auftreten können und dass die Evolution über- haupt ihren Weg nicht zurückzumachen imstande ist. Dieses Prinzip erfreut sich einer immer allseitigeren Anerkennung und würde auch für mich als ein sehr starker Einwand gegen meine An- schauung gelten, falls die Sachen so einfach wären, wie sie Wheeler darstellt. Die theoretische Begründung des ebenerwähnten Prin- zips besteht für mich darin, dass ein atavistisches Wiedererscheinen einer geschwundenen Eigenschaft nur in dem Fall denkbar ist, in welchem die entsprechenden Vererbungselemente im Kleimplasma noch enthalten sind. Ein derartiges Wiederaufleben ist unmöglich, wenn solche Elemente im Kleimplasma fehlen, oder sich in einem atrophischen Zustand befinden, der sie unfähig macht, auf den werdenden Organismus anders einzuwirken als durch Hervorrufen von Rudimenten. Dieses ist aber bei den flügellosen Mutilliden- und Ameisen- weibchen in bezug auf Flügelbildung nicht der Fall und war es auch damals nicht; denn jedem solchen Weibchen wohnt die la- tente, aber vollkräftige Erbschaft der männlichen Flügel inne. Das Wiedererscheinen der Flügel bei den Weibchen im Stamm der Ameisen wäre also im Sinne meiner Hypothese kein Neuerwerb, keine Rückläufigwerden der Evolution und auch kein Mtayismüs gewesen, sondern der Ausdruck einer Übertragung männlicher Eigen- se haften. auf die Weibchen. In gleicher Weise wie die in neueren Stufen der Phylogenese entstandenen flügellosen Männchen einiger Ameisen weibliche Bil- dung des Kopfes und sonstiger Teile ihres Leibes vom anderen Geschlecht geerbt haben, denke ich mir, dass die flügellosen Weib- chen der primitiven Ayeisen oder besonderer nen unter den- selben von ihren männlichen Eltern die Flügel wieder erben konnten. Aber diese Erbschaft wurde modifiziert in dem Sinn, dass die Flügel der weiblichen Ameisen keine normalen Hymenopterenflügel darstellen, sondern solche, die an ihrer Basis zum leichten Ab- . brechen einzerichtet sind; die Vererbung war mit einer besonderen Anpassung verbunden. Es wird meistens angenommen, dass die Weibchen der Ameisen und der sozialen Hymenopter en überhaupt dem primitiven Grundtypus, die Arbeiterinnen einer mehr angepassten Form sich anschließen. Ich habe bis jetzt auch selbst diesen Standpunkt festgehalten, obgleich ich nicht verkennen konnte, dass viele Weihcherfern en ın Bau tief modifizierte und angepasste Formen darstellen; so z. B. die absonderlich gebildeten diehthadiaartigen Doryhıs-Weibchen. Ich habe mich aber nach und nach immer mehr davon überzeugen müssen, dass der Körperbau der fruchtbaren Ameisenweibchen an Anpassungen sehr reich. ausgestattet ist, ja kaum minder reich als der Leib der Arbeiterinnen. Es handelt sich um morphologische, 630 Leisewitz, Über chitinöse Fortbewegungsapparate einiger Insektenlarven. sowohl wie ethologische Anpassungen, welche hauptsächlich zu den besonderen Verhältnissen bei der Gründung neuer Gesellschaften in Beziehung stehen. Dieses tritt bei einzelnen Gruppen auffallender an den Tag, in welchen die Weibchen untereinander viel mehr ab- weichen als die betreffenden Arbeiterinnen. Als Beispiele mögen aufgeführt werden: die merkwürdigen Weibchen von nordamerika- nischen Formica-Arten der Rufa-Gruppe, welche in den letzten Jahren entdeckt worden sind; die ebenfalls nordamerikanischen gelben Lasius der Acanthomyops-Gruppe und namentlich L. latipes Walsh mit seinen zwei Weibchenformen a und ß!); die Weibchen der südamerikanischen Axteca und mancher afrıkanıscher Oremato- gaster-Arten; die riesigen Weibchen der Carebara- und verwandten Gattungen mit Zwergarbeiterinnen. Das Feld ist sehr weit und lässt sich zurzeit kaum übersehen. Ich will mich deswegen begnügen, diese Probleme angedeutet zu haben. Die richtige und lichtbringende Beurteilung von so zahl- reichen und verschiedenartigen Anpassungserscheinungen wird erst dann gut möglich werden, wenn wir die Verhältnisse kennen, an welche die Tiere eigentlich angepasst sind. Dafür erwartet die Morphologie ihre Belehrung von den Fortschritten der Ethologie. W. Leisewitz. Über chitinöse Fortbewegungsapparate ee (insbesondere fufsloser) Insektenlarven. 43 Seiten mit 46 Abbildungen im Text. München, Ernst Reinhardt, 1906. ei: Fortbewegungsapparate betrachtet Verf. zahlreiche, mannig- faltig gestaltete und gruppierte Fortsätze der Chitinhaut fußloser oder mit rückgebildeten Füßen versehener Insektenlarven. Zu ein- gehendem Studium dieser Bildungen veranlassten ihn seine älteren Untersuchungen über den „Enddorn“ am Analende der Larve von Xiphydria dromedarius (Forstl.-naturw. Zeitschr. 1897), in dem er ein kompliziertes Fortbewegungsorgan erkannte. Seine Studien bestätigten dem Verf. die Vermutung, dass die komplizierteren Bildungen unter den Fortbewegungsapparaten auf wenige einfache: Grundformen zurückzuführen seien und dass „das wachsende Maß funktioneller Inanspruchnahme“ der Anlass zu dieser Ausgestaltung gewesen sel. Untersuchungsobjekte waren Larven von Lamellivorniern, Anobiiden, Lymexyloniden, Bostrychiden und aus vielen anderen Coleopterenfamilien, sowie von Neuropteren, Lepidopteren und Dipteren. Die Funktionsweise der Fortbewegungsapparate wurde nach eigner Methode amı lebenden Engerling, an Bostrychiden-, Cureculioniden-, Cerambyciden-, Buprestiden "und Dipterenlarven studiert. — Aus dem Abschnitt über die Technik interessiert be- 1) Vergl. Wheeler Il. c. Leisewitz, Uber chitinöse Fortbewegungsapparate einiger Insektenlarven. 631 sonders die Färbung der einzelnen Schichten des Chitins. Verf. unterscheidet 3 Chitinlagen; von diesen bildet die äußerste die Chitinfortsätze, die mittlere ragt in die Basalkegel der Dornen hinein. Verf. strebt ein Verfahren an, durch das nur die äußere Schicht und die Fortsätze gefärbt werden. Als brauchbar erwiesen sich: Methylgrün (blaue Färbung), das jedoch langsam färbt und in Glyzerin ausgezogen wird, Kalium hypermanganicum, Delafield (in Stunden bis Tagen), Fuchsin, Pyrogallol, Anilinblau (grüne Färbung) u. a. Andere Farbstoffe färben nur die inneren, wieder andere alle 3 Lagen. Bei Besprechung der Morphologie und der Entstehungsweise der Chitinfortsätze unterscheidet Verf.: 1. „Undifferenzierte Härchen“ (0,0026 bis 0,0050 mm lang). Diese Gebilde repräsen- tieren die ursprüngliche Form und sind unabhängig von den Ein- flüssen entstanden, die sich bei den übrigen Kategorien geltend machen. Dementsprechend kommen sie auch bei Larven vor, die solchen Einflüssen nicht ausgesetzt sind. Sie stehen meist in parallelen Reihen; durch Verschiedenheiten im Abstand der Reihen und der einzelnen Härchen entstehen Gruppen von Reihen und von Härchen. Aus solchen Gruppen entstehen durch überwiegendes Wachstum einzelner und durch Anschluss und Verschmelzung, zum Teil auch Rückbildung der übrigen Härchen 2. „Dornen“. Gesetz- mäßige Unterschiede bei der Auswahl derjenigen Härchen, die beim Wachstum bevorzugt werden, ergeben sich, je nachdem die Härchen- gruppen in geraden Linien oder ın Bögen angeordnet sind. Da- nach entscheidet es sich, ob die Härchen in der Mitte oder die am Rande einer Gruppe der stärksten Inanspruchnahme ausgesetzt sind und ob am Ende des Prozesses ein oder zwei Dornen (selten noch ein schwächerer mittlerer) von jeder Gruppe übrig bleiben. Man wird hier an die Unterschiede erinnert, welche sich .bei Pe- risso- und Artiodaktylen am Ende des Rückbildungsvorganges der ursprünglich in gleicher Anzahl vorhandenen Zehen ergeben (Ref.) 3. Bei weiter steigender Inanspruchnahme wächst die „Basalplatte* der Dornen zum „Basalkegel“ aus, zuweilen unter völliger Rück- bildung des auf der Platte stehenden Dornes. Im letzteren Falle ist an die Stelle des Dornes ein „Höcker getreten. Durch Ver- schmelzung von Basalkegeln ergibt sich der Fall, dass ein Kegel mehrere Dornen tragen kann. Unter dem Einfluss besonderer Ver- hältnisse schwinden Dornen, ohne dass es zur Bildung von Höckern kommt; es bleiben dann nur die Basalplatten übrig. Auch diese können verschmelzen oder neue Verdickungen produzieren. — Als besonders wertvoll verdient hervorgehoben zu werden, dass es dem Verf. mehrfach gelungen ist, ganze Reihen der soeben auf- gezählten Umwandlungsstadien an einer Larve festzu- ‘stellen. In diesen Fällen ließen sich mit besonderer Sicherheit Schlüsse auf die biologische Bedeutung der einzelnen Stadien ziehen. DieGrundform einer anderen Entwickelungsreihesinddie „Haare“ die längst bekannt und wiederholt hinreichend charakterisiert sind. Aus ihnen entstehen bei funktioneller Inanspruchnahme die kürzeren, 632 Leisewitz, Über chitinöse Fortbewegungsapparate einiger Insektenlarven. diekeren „Borsten“. Diese Gebilde können, je nach der Art ihrer Funktion, außerordentlich komplizierte Formen annehmen. — Von den detaillierten Angaben des Verf. über die Faktoren, von denen der Anstoß zu den verschiedenartigen Um- wandlungen ausgeht, sei folgendes kurz erwähnt: Die Art der Fortsätze hängt ab von der Beschaffenheit des (sehr verschieden- artigen) Materials, in dem sich die Larve bewegt; die Umbildung unterbleibt an Stellen, welche nicht beansprucht werden; hier be- harren die „Grundformen“. Die Stufe der Ausbildung hängt ab vom Grade der Beanspruchung. Dieser ist gegeben durch die Lebensweise der Larve (speziell, ob sie im nährstoffreichem oder -armen Material lebt und infolgedessen kleine oder große Strecken bei Beschaffung ihrer Nahrung zurücklegt) und für den einzelnen Körperteil durch ihre Organisation; so zeigen Larven mit einfacher Körperform und gleichmäßig gebildeter Körperoberfläche, gleich- mäßige, solche mit verschiedenartig gestalteten und ungleich beanspruchten Segmenten ungleich differenzierte Ausrüstung. — Über diejenigen Faktoren, welchedie Vermittlerrolle spielen zwischen den Ansprüchen der Umgebung und dem zweck- entsprechenden Verhalten der Chitinhaut, hat der Verf. sich nur ausgesprochen, soweit die Abkönimlinge der ersten Grundform, der „undifferenzierten Härchen“, in Betracht kommen. Er neigt zu der Annahme, dass die Zweckmäßigkeit der Neubildungen in diesen Fällen zu erklären sei aus der Einwirkung des Druckes, den das Material der Umgebung auf die Larve während ihrer Beweg- ungen ausübt. Es wäre zu unterscheiden: Mechanisch “ model- lierende Einwirkung auf das Chitin und Reizwirkung; von der Intensität der letzteren wäre insbesondere die Quantität des neu- gebildeten Chitins abhängig. Bezüglich der komplizierteren Gebilde ist auch Ref. im Zweifel, ob es möglich sein wird, auf dem vom Verf. eingeschlagenen Wege mit Hilfe der erwähnten Faktoren allein eine zureichende Erklärung für die Zweckmäßigkeit der Funktion zu schaffen. Trotzdem erscheinen dem Ref. Erklärungs- versuche vom Standpunkte der funktionellen Anpassung aus in diesem speziellen Falle aussichtsreicher als etwa solche, die vom rein selektionistischen Standpunkt unternommen würden. Zum Schlusse sei auf die. Bedeutung hingewiesen, welche diese Untersuchungen für die Systematik der Insektenlarven bean- spruchen können. „In vielen Fällen wird damit die Möglichkeit gegeben sein, an Larven genauere Artunterscheidung festzustellen, welche bei bisheriger Betrachtungsweise keine Unterschiede auf- wiesen und deshalb ..... unbestimmbar waren.“ Für die Unter- scheidung größerer natürlicher Gruppen ergibt sich dagegen die Einschränkung, dass bei der Umbildung der Fortsätze „der Einfluss der Funktion den der Verwandtschaft bei weitem übertrifft.“ In-' dessen sind diese größeren Gruppen ja an anderen Merkmalen hin- länglich gut zu unterscheiden. Dr. F. Schwangart (München). Hesse, Lueilia in Bufo vulgaris Laur. schmarotzend. 62 (eb) Lucilia in Bufo vulgaris Laur. schmarotzend. Von Dr. E. Hesse in Leipzig. (Mit einer Tafel vom Autor.) Im Juni der Jahre 1903—05 fing ich in der Umgegend von Leipzig je eine Kröte (Bufo vulgaris Laur.), von denen di 'jenige im erstge- nannten Jahr mit Fliegeneiern, die beiden anderen mit Pliegenlarsch behaftet waren. In letzteren beiden Fällen habe ich de Fliege gezüchtet, und diese wurde von Herrn Prof. E. Girschner (Toreau) als Luciha splendida Zett. und Meig. bestimmt. Der Parasitismus von Lueilia-Larven (Myiasis) !) speziell an Bufo vulgaris ist schon geraume Zeit bekannt. Ich verweise hier auf die Abhandlung Prof. Dr. C. B. Klunzinger's: „Über parasitische Fliegenmaden an einer Kröte“ (mit 5 Figuren)?), in welcher der Verfasser zunächst zwei von ihm beobachtete Fälle mitteilt, weiter eine kurze Zusammenstellung und Besprechung der bisher er- schienenen diesbezüglichen Literatur, ferner eine von ihm verfasste, genauere Beschreibung der Larve und endlich eine solche der Fliege, aus einer französischen Arbeit Moniez’s übersetzt, gibt, welche Fliege letzterer „Lucilia bufonivora n. sp.“ benannte. Ich werde aus der Abhandlung Klunzinger’s öfters zitieren. Im folgenden will ich nun kurz die drei von mir beobachteten Fälle mitteilen, ohne mich auf genauere Einzelbeschreibungen von Larve, Puppe oder Imago einzulassen, da es mir vorläufig überhaupt erst einmal darauf ankam, die Imago zu züchten und hauptsächlich das rein biologische Verhältnis zum Wirt kennen zu lernen. Viel- leicht gelingt es späterhin, die Fliege vom Ei aus zu züchten und so die ganzen Entwickelungsstadien eingehender zu untersuchen. Allzu selten scheint diese Lucilia hier nicht zu sein, da ich ja jedes Jahr eine derartig befallene Kröte gefunden habe, wiewohl ich bei meinen letztjährigen, vor allem der Ornithologie gewidmeten Exkursionen nicht einmal speziell danach gesucht habe. — Meine folgenden Mitteilungen stellen daher nur einen weiteren Beitrag zu dem bis jetzt ee dar. Fall tVelrTar."RRie:t.) Am 19. Juni 1903 fing ich auf den Bienitzwiesen nordwestlich Leipzigs eine ca. 6!/, cm lange°) Kröte, die auf ihrer rechten Parotis- 1) Der Parasitismus von Dipterenlarven an oder in lebenden Tierkörpern (Myiasis) ist bekanntlich auch beim Menschen mehrfach festgestellt und in der Lite- ratur bekannt gegeben worden. Auch ich erinnere mich eines Falles aus meiner Studentenzeit in Leipzig, als ich noch im zoolog.-zootom. Laboratorium Leuckart’s arbeitete: Im Sommer 1897 wurde letzterem Forscher von Herrn Geh. Med.-Rat Trendelen burg eine Larve zur Bestimmung übergeben, die einem Patienten der Klinik aus einem Geschwür am Fußgelenk exstirpiert worden war; sie stellte sich als eine Östridenlarve heraus. — Verf. 2) Jahreshefte d. Ver. f. vaterl. Naturk. in Württ. 1902, 8. 37179 3) Die Maße beziehen sich nur auf die Rumpflänge ohne Beine. — Verf. 634 Hesse, Luecilia in Bufo vulgaris Laur. schmarotzend. drüsenwulst ein Dutzend Fliegeneier aufwies; diese Eier saßen fest und ließen sich bei Berührung mit dem Finger nicht wegstreichen. Ich nahm das Tier mit nach Hause, wo es sich nach zwei Tagen häutete; hierbei waren die Eier mit der Haut abgestreift worden. Das Befallenwerden der Kröte durch die Schmarotzer scheint hier- nach nur von dem günstigen Zufall abzuhängen, dass die Eier noch vor der nächsten Häutung der Kröte ausschlüpfen, und die Larven auf diese Weise durch die Nasenlöcher oder in deren Nähe in das Innere der Kröte einwandern oder eindringen können. Weiter ist zu bemerken, dass unsere Anuren in der Regel bekanntlich ihre Haut bei dem Akt der Häutung nach und nach hinunterschlingen; — diese Kröte häutete sich leider in meiner Abwesenheit, so dass ich es gerade in diesem Fall nicht beobachten konnte; ich habe ın- dessen keine Spur von der Haut im Aquarium zu finden vermocht, so dass anzunehmen ist, dass letztere auch diesmal verschluckt wurde; — da nun aber diese Kröte noch jetzt, also nach fast drei Jahren, wohlbehalten bei mir in der Gefangenschaft lebt, würde eine Weiterentwickelung der Eier im Darm und ein Eindringen der Larven in den Wirtskörper gewissermaßen in umgekehrter Weise, also von innen, wenigstens in diesem unsern Fall aus- geschlossen sein. — Es unterliegt wohl kaum einem Zweifel, dass diese Fliegeneier unserer Lucilia angehörten. Hierzu einiges aus Klunzinger’s Abhandlung. S. 3750.: „Die Infektion geschieht teils durch Ablegen der Eier der Fliege irgendwo am Froschkörper, wo die Larven dann den Kopf erreichen, zum Teil aber auch, und zwar, wie P. sagt, meistens vom Magen aus, durch verschluckte, eiertragende Fliegen- weibehen.“ Diese Beobachtung hat Portschinsky gemacht, der Lueilia ın der Umgegend von Petersburg häufig am Grasfrosch schmarotzend fand; Klunzinger stellte dagegen ım Magen nur tote und mazerierte Larven fest; letzteres würde sich also ähnlich wie ın unserm Fall verhalten. S. 375 m.: „Vielfach sind die Fälle von Myıasis unvollkommen beschrieben, namentlich betreffs der Art und der Gattung und selbst Familie (ob Musciden oder Östriden), eine Aufziehung zur Imago ıst durchaus nötig, da nur diese sicher bestimmt werden kann. Fast alle Fälle, wo Kröten den Wirt bilden, weisen auf Lueilia bufonivora hin (obiger Fall von Martensen auf Lueciha sylvarıum). Girard empfiehlt einen experimentellen Nachweis für die Frage, ob die Fliegen die Haut der Batrachier durchbohren oder ıhre Eier in schon vorher vorhandene Wunden legen, und zu- gleich, welcher Art die Fliegen angehören: ‚Man verteile die Batrachier in zwei Käfige, setze in das eine ganz gesunde Exem- plare, in das andere solche mit künstlichen Wunden und setze hier und dort Puppen von Lueilia, Calliphora, Sarcophaga u. Ss. Ww. £ Hesse, Lueilia in Bufo vulgaris Laur. schmarotzend. 635 ‚ein; die daraus ausschlüpfenden Weibchen werden, nach erfolgter Begattung mit ausgeschlüpften Männchen, bald ihre Eier ablegen. Dabei muss tägliche Beobachtung stattfinden‘. * Ferner S. 378 u. (aus der Beschreibung der Fliege von Mo- niez): „Ein anderer Charakter ıst mehr physiologisch: Die vor- liegende Fliege dürfte, was ein Charakter der Sarcophagineen ist, im Gegensatz zu den eierlegenden Muscineen, lebendig gebärend sein; anders könnte man das Eindringen der Larven ins Innere nicht wohl erklären, da das Tier den Ort, wo die Brut abgesetzt ist, leicht mit den Füßen erreichen kann.“ Was zunächst die Frage Girard’s anbelangt, ob die Fliegen ihre Eier in Wunden legen oder die Haut des Wirtes durch- bohren, ist in unserem Fall weder durch die eine noch durch die andere Möglichkeit zu beantworten, da die Eier einfach in oben- geschilderter Weise auf der Körperhaut aufgeklebt waren (s. o.). Betreffs der Gattung u. s. w. handelt es sich außer ın den beiden von mir beobachteten auch in allen anderen bisher zur Kenntnis gelangten Fällen nur um ZLxeila. Moniez’s Vermutung eines Lebendiggebärens der Fliege würde durch unseren Befund der Eiablage gleichfalls erledigt sein, ebenso seine Bemerkung über ein etwaiges Entfernen der Eier seitens der Kröte durch ihre Füße; in unserem Fall saßen, wie erwähnt, die Eier so fest, dass sie sich nur gewaltsam hätten entfernen lassen können, ganz abgesehen davon, dass die Kröten, die, wenn sie z. B. gewühlt haben, oft von Schmutz starren, wohl sehr wenig oder nichts von der Existenz auf ihnen haftender Fliegeneier merken dürften; aber auch die winzigen ausgeschlüpften Larven, zum min- desten ein Teil davon, werden in die Nasenlöcher einschlüpfen oder kraft ihrer Kiefer und Haftwerkzeuge in. deren Nähe sich einbohren können, ohne dass die Kröte es immer zu verhindern imstande sein wird. Allerdings sind andererseits die Kröten, überhaupt die Anuren, gerade an den Nasenlöchern sehr empfindlich; berührt man letztere z. B. nur leicht mit einem weichen Pinsel, so zucken die Tiere zusammen oder streichen sofort abwehrend mit einem der Vorderfüße über die Nasengegend hinweg. Möglicherweise können ja vielleicht diesen Bewegungen außer dem unangenehmen Reiz des „Krabbelns“ auch schon instinktive Abwehrmaßregeln gegen etwa eindringenwollende Schmarotzer mit zugrunde liegen (s. u.). — Es müsste somit das direkte Einwandern bezw. Einbohren der Larven erst noch beobachtet werden. Fall II. (Vgl. Taf. I, Fig. 20a—e.) Am 27. Juni 1904 fand ich im südlichen (Connewitzer) Leip- ziger Ratsholz eine ca. 8!/, cm lange (s. 0.) Kröte, die beiderseits zwischen Augen und Nasenlöchern eine Fraßstelle zeigte, in denen sich die Fliegenlarven aufhielten. Am vorliegenden Präparat be- 6356 Hesse, ZLueilia in Bufo vulgaris Laur. schmarotzend. findet sich das rechte Fraßloch direkt unter .dem Auge (Fig. 2a), hat eine längliche Gestalt und misst an der größten Breite etwa 3!/;, mm bei einer Länge von ca. 7 mm. Diese Fraßhöhle durch- bricht das häutige Gaumendach (Fig. 2), wo ihre Öffnung durch das quer verlaufende os palatinum ın zwei ungleich große Hälften geteilt wird, von denen die kleinere vor diesem Knochen gelegene Mündung längliche Gestalt besitzt und, etwa 2 mm lang und 1!/, mm breit ıst, während die hintere größere birnenförmig erscheint und etwa 9 mm lang und 7 mm breit ıst. Das Auge war bei Lebzeiten zwar etwas herausgetreten und mit Blut unterlaufen, jedoch nicht angegriffen; auch vom Gaumen aus ıst es nebst Nerv am Präparat intakt und deutlich sichtbar (Fig. 2c). Das linke Fraßloch (Fig. 2b) stellt einfach eine Erweiterung des Nasenloches dar, indem sich von diesem ausgehend eine le angeschwollene Höhle nach dem Auge hin reiten: die Länge betr ägt etwa 5, die größte Breite etwa 3 mm. Diese Höhle durchbricht ea. er Gaumen (Fig. 2), aber nur in einer vor dem gelegenen rundlichen Öffnung von ca. 3 mm Durchmesser. Durch bde äußere Öffnungen Fach und links gelangt man also mit der Sonde direkt in die Mund- höhle. Das linke Auge ist gleichfalls unversehrt. Da die vordere rechte Nasenhälfte intakt ist, so kommunizieren die beiden Fraß- höhlen nicht miteinander. Dieser unser Fall hat bezüglich der Fraßstellen große Ähnlichkeit mit dem ersten von Klunzinger beschriebenen. Ich beherbergte die Kröte in einem Behälter, dessen Boden mit lockerer, mäßig feucht gehaltener Lehmerde bedeckt war, auch ein tieferer, mit Wasser gefüllter Blumentopfnapf wurde eingestellt. In den ersten Tagen kroch das Tier noch recht lebhaft umher und suchte auch öfters das Wasser auf, Oft strich es auch hastig mit einem der Vorderfüße über die Fraßstellen hinweg, offenbar um die nagenden und quälenden Schmarotzer zu entfernen zu suchen; häufig schnappte es nach Luft, da ihm deren Aufnahme durch die Nase natürlich von den in der ganzen inneren Nasengegend sich aufhaltenden und selbige zerstörenden Larven versperrt wurde. Einigemal fand ich in dem Wassernapf eine ertrunkene Larve, die wahrscheinlich beim Untertauchen der Kröte unter Wasser das Fraßloch verlassen hatte; in einem „zukünftigen Fall“ werde ich übrigens die Kröte, wenn sie noch bei relativ voller Lebenskraft ist, in ein Aquarium bringen, wo sie längere Zeit untertauchen kann, um experimentell zu at ob nicht lee bei längerem Aufenthalt unter Wasser alle Larven durch das End des Wassers in die Fraßhöhlen und mangels genügender Atmung ge- zwungen sind, den Wirt zu verlassen; die Kröte könnte dann in der Natur einfach zur Selbsthilfe greifen — wenn sie es könnte! — indem sie irgendwo in einer tieferen Pfütze, einem Graben, Tüm- Hesse, Lueilia in Bufo vulgaris Laur. schmarotzend. 637 pel etc. längere Zeit unter Wasser bliebe. — Späterhin saß das Tier immer nur in einer bestimmten Ecke seines Käfigs, den Kopf zur Erde geneigt. Suchte man es in die Höhe zu heben, so stämmte es sich mit einer für diesen immerhin kleinen Organismus geradezu erstaunlichen Gewalt dem hebenden Finger entgegen, augenschein- lich machte ihm eine andere Lage oder Stellung ungeheure Schmerzen; diese Prozedur habe ich daraufhin nur wenige Male gemacht, um das geplagte Tier nicht noch mehr zu quälen, späterhin überhaupt nur, um zu sehen, ob es noch Lebenszeichen von sich gebe. So saß bezw. lag die Kröte die letzte Zeit unbeweglich da, schrumpfte mehr und mehr, die obersten Hautschichten verdorrten und platzten, und die Zehenspitzen namentlich der Hinterfüße begannen bereits einzutrocknen, bis sie am 17. Juli tot im Kasten lag. Seit dem Einfangstag waren also noch 20 Tage bis zu dem unter allmäh- lichem und vielleicht überaus qualvollem Absterben erfolgten Tode vergangen. Am 5. Juli hatten die ersten Larven den Wirt verlassen, um sich in der Erde zu verpuppen; am 7. Juli fand ich keine mehr in der Kröte vor, letztere hatten also nach obigem noch 10 Tage nach dem Verlassen der Larven gelebt; die Fraßstellen waren ein- gefallen und vertrocknet. Bei der Sektion fand ich zunächst vor Kehlkopf und Ösophagusmündung einen großen Schleimpfropf (Fig. 2c), der sich wahrscheinlich durch den Reiz der Larven auf die Schleimhäute gebildet hatte; möglicherweise war also die Kröte in letzter Instanz auch den Erstickungstod gestorben. Sonst war der situs viscerum völlig normal und intakt; es handelte sich um ein 9. Im Magen und Darm fand ich nur ganz wenige Insekten- reste, hauptsächlich von Cucurlioniden, außerdem eine erhebliche Menge von allerhand Pflanzenteilen, auch Sandkörnchen, die mit hinuntergewürgt worden waren, jedoch keinerlei Fliegeneier oder -Jarven (s. o.). Das Ausschlüpfen der Imagines vollzog sich in folgender Weise: %7..VEEN2 8,210 | 18494 2.6, 29, insges. 10 St.—46, 69. 19. ” A 1 eg J Ball @Vel. Tat. I; File. 3a —.) Am 28. Juni 1905 fing ich im Kanitzsch bei Gundorf (nord- westlich von Leipzig) wiederum eine mit Fliegenlarven behaftete Kröte, deren Länge (s. 0.) etwa 5!/, cm betrug. Es waren gleich- falls zwei Fraßstellen vorhanden, die jedoch einfach die erweiterten Nasenlöcher darstellten (Fig. 3«). In diesem Fall griff nun ein ganz rapides Vorwärtsdringen und Zerstören seitens der Larven im Wirtskörper um sich, wie aus folgendem ersichtlich ist. 1) Zufällig derselbe Tag, an dem die Kröte verendete. — Verf. 638 Hesse, ZLueilia in Bufo vulgaris Laur. schmarotzend. Das Tier wurde in denselben Behälter wie in Fall II gesetzt. Am 28. Juni abends war die Kröte noch ziemlich lebhaft und ihr Benehmen, so namentlich die abwehrenden Bewegungen mit den Vorderfüßen über die Fraßstellen, das Schnappen nach Luft u. s. w., glich durchaus dem im vorigen Fall geschilderten. Am 29. Juni früh war die Brücke zwischen den beiden Nasenlöchern bereits zerstört, und die Fraßstelle erschien ungefähr als ein Oval, welches fast den ganzen Raum zwischen den beiden Augen einnahm (Fig. 3); das Tier saß ruhig in einer Ecke und kratzte nur ab und zu in der mehrfach erwähnten Weise mit den Vorderfüßen über und ın die Fraßstelle; hierbei war es ihm augenscheinlich gelungen, einige Larven zu entfernen, da mehrere noch nicht erwachsene auf der Erde herumkrochen. Am 30. Juni früh war die Kröte bereits tot, die Vorderfüße, vielleicht im letzten Schmerz, über den Kopf zu- sammengekrümmt (Fig. 3c). Die Larven hatten schon die ganze vordere Schädelregion zwischen den Augen vernichtet, auch Zunge und Unterkiefer waren fast gänzlich zerstört. Am 1. Juli waren auch die Augen zum Opfer gefallen, und die Schmarotzer bereits in die Leibeshöhle vorgedrungen; am 2. Juli war letztere bis auf einige Reste des Dickdarms völlig ausgefressen (Fig. 3 e), auch die Muskeln des rechten Oberschenkels hatten die Larven, auf der Rückenseite aus der Leibeshöhle hervorbrechend, fast völlig abge- nagt und eine weitere, etwa 2 cm lange und 1 cm breite Fraßstelle auf dessen Oberseite entstehen lassen (Fig. 3 d), durch welche viel- leicht die Mehrzahl den Wirt verlassen haben mochte, nur einige wenige waren noch im Kadaver zu bemerken; am 3. Juli früh fand ich nur noch eine einzige erwachsene Larve darin vor, die übrigen waren schon alle zur Verpuppung in die Erde gegangen. Von den Knochen des Schädels habe ich nur finden können das Parasphenoid (Fig. 3 f), sowie die das Hirn eimschließende Schädelkapsel, an welcher die die einzelnen Knochen (exoccipitalia, prootica, parieto- frontalia, sphenethmoidea) zusammenhaltenden und verbindenden dünnen Knorpel bezw. Bindegewebshäute auffälligerweise erhalten geblieben sind (Fig. 39). Alle übrigen Schädelknochen und -knorpel müssen also dem Zerstörungswerk der Schmarotzer oder der Fäulnis, eventuell beiden zugleich, anheimgefallen sein. Hirn und Rücken- mark waren natürlich gleichfalls verschwunden. Ferner sind Atlas und die ersten beiden Rumpfwirbel isohert (Fig. 3 R), ebenso die ın ihren einzelnen Knochen zum Teil noch zusammenhängenden Schultergürtel (Fig. 32); die beiden Vorderextremitäten sind nur noch durch schmale Hautfetzen mit dem Kadaver verbunden, der übrige Teil der Wirbelsäule samt Becken und Hinterextremitäten ist noch in Zusammenhang (Fig. 3d, e). — In vier Tagen war hier also von den Schmarotzern die Zerstörung des Wirtes in, wie schon angedeutet, geradezu verheerender Weise geschehen. Hesse, Lucilia in Bufo vulgaris Laur. schmarotzend. 639 Einen abscheulichen Anblick bietet es übrigens immer, die Larven, die meist eng zusammenhalten, sich in den Fraßlöchern des noch lebenden Wirtes bewegen zu sehen, oder wenn sie sich rückwärts hervorwälzend mit den Stigmen des Aftersegments Luft schöpfen (Fig. 35) und die Kröte dann hierbei jene Abwehr- bewegungen mit den Vorderfüßen macht. Die Imagines schlüpften wie folgt: 13V. 7:3.8,.— Bert 10,8 ol: BR © 992 nn 2 = 11.8,.12 8, laser Bord 9 In Fall II waren also die 0, in Fall III die & an Zahl überlegen. Der Puppenzustand währte ın beiden Fällen etwa 10—12 Tage. Bemerkenswert ist weiter die gleiche Jahreszeit in allen drei Fällen, nämlich die Monate Juni/Juli, für die Entwickelung unserer ZLucila. Auch der erste Fall Klunzinger’s datiert vom Juli 1892, während der zweite in den September 1899 fällt. Mortensen in Kopen- hagen berichtet dagegen z. B. von einem Überwintern der Larven von Lue. sylvarum Meig., ebenfalls an Bufo vulgaris schmarotzend, in der Erde, die sich erst im Frühjahr verpuppten und Imagines gaben!). Ferner ıst noch hervorzuheben, dass es sich in allen unseren drei Fällen nur um Bufo vulgaris Laur. als Wirt handelt. Mir sind eine außerordentlich große Anzahl von Amphibien, speziell aus der Leipziger Umgegend, durch die Hände gegangen, aber nicht ein einzigesmal habe ich bisher eine andere Art mit diesen Parasiten befallen gefunden. Auch die große Mehrzahl der in der Literatur bekannten Fälle, die sich auf Amphibien beziehen, ist an Bufo vulgaris konstatiert. Diese Wirtsart scheint demnach von dem Schmarotzer in auffälliger Weise bevorzugt zu werden. Weiter waren es ın unseren Fällen sehr große oder erwachsene Individuen von Bufo, die behaftet waren; ich habe sehr oft kleine Exemplare, die einem ja viel häufiger über den Weg laufen, untersucht, habe aber hierbei niemals ein von Zueilia befallenes feststellen können. U. a. sind auch die beiden von Klunzinger mitgeteilten Fälle an er- wachsenen Kröten beobachtet. Die Schmarotzer scheinen also nur oder hauptsächlich große oder ausgewachsene Kröten zu befallen. Zum Habitus der Fliege will ich nur kurz noch folgendes erwähnen. Die Gesamtlänge (ohne Flügel) misst bei der Generation von Fall II im Durchschnitt 7 mm, bei derjenigen von Fall III 8 mm; letztere Generation ist demgemäß merklich größer und robuster. Farbe 1) Zool. Anz. 1892, 8. 193. 640 Schulze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. glänzend goldgrün, die an Getöteten häufig in Blaugrün sich ver- wandelt oder übergeht. — Betreffs der Spezies teilte mir Herr Prof. Girschner u.a. noch mit: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Moniez’sche Art L. bufonivora mit L. splendida oder sylvarım identisch ist... .* Weiter gehe ich, wie gesagt, an dieser Stelle auf speziellere Untersuchungen nicht ein. Am Schlusse dieser Mitteilungen möchte ich nicht unterlassen, den Herren Alex. Reichert (Leipzig) und Prof. E. Girschner (Torgau) für ihre Mühewaltung meinen besten Dank auszusprechen. Leipzig, den 23. April 1906. Bemerkungen zu Fig. 1—3, Taf. I. (Die Figuren sind zum Teil etwas schematisiert.) Dunkel- oder hellrot: Die Fraß- höhlen, bezw. -stellen. Figur 1, 2a, b, 3a, e, f—i bedürfen keiner weiteren Erklärung (s. Text). Figur 2e. Man sieht in den weit geöffneten Rachen der Kröte; die Zunge ist zurückgeschlagen. Oben links die den häutigen Gaumen durchbrechenden Öffnungen der rechten Fraßhöhle, durch das querverlaufende os palatinum ge- trennt, in der größeren unteren (dunkelrot) der unversehrte Augapfel nebst Nerv (hellrot) sichtbar; oben rechts die Mündung der rechten Fraßhöhle, gleichfalls den Gaumen durchbrechend. Vor dem aus dem Schlund hervortretenden oberen Teil des Kehl- kopfes der große Schleimpfropf. Figur 35. Die Larven kommen mit den Stigmen des Aftersegmentes in der Fraßhöhle zum Luftholen rückwärts an die Oberfläche (s. S. 639). Figur 3d). Der Krötenkadaver von der Rückenseite. Hellrot die Fraßstelle in ihrer Ausdehnung auf der Oberseite des rechten Oberschenkels; dunkelrot die von der ausgefressenen Leibeshöhle aus nach oben durchgefressene Öffnung. Figur 3e. Der Krötenkadaver von der Bauchseite. Man sieht in die völlig ausgefressene Leibeshöhle; auf der Rückenseite der noch in Zusammenhang befind- liche Teil der Wirbelsäule, ferner die rechte scapula und zum Teil abgenagte Knochen- partien der Beckenregion. Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. Von ©. Schultze in Würzburg. Im Jahre 1894 leitete Th. W. Engelmann seine Arbeit über die elektrischen Organe von Raja!) mit folgenden Worten ein: „Durch A. Babuchin’s denkwürdige Entdeckung der Ent- wickelung der elektrischen Organe aus Muskelfasern ist, wie durch jeden großen anatomischen Fund, der Physiologie eine Fülle neuer Probleme, zugleich aber auch die Aussicht auf Lösung wichtiger 1) Th. W. Engelmann, Die Blätterschicht der elektr. Organe v. Raja in ihren genetischen Beziehungen zur quergestreiften Muskelsubstanz. Pflüger’s Arch. 57. 1894. Biologisches Centralblatt Bd. XXV1. Katz. E. Hesse gez. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. 641 alter Aufgaben eröffnet worden. Eine genaue Verfolgung der Pro- zesse, durch welche sich die zuckende Faser zum elektrischen Apparat umbildet, musste vor allem Aufschluss versprechen über Sitz und Wesen sowohl einerseits des Kontraktionsvermögens als anderer- seits der elektromotorischen Wirksamkeit. Es war zu erwarten, dass in dem Maße, als das Zuckungsvermögen sich zurückbildete, auch die materiellen Grundlagen, an welche dasselbe gebunden ist, einer Rückbildung unterliegen würden, und dass auf der anderen Seite mit zunehmender Steigerung der elektromotorischen Fähigkeiten die Organisationsverhältnisse, welche Träger dieser letzteren F ähigkeiten sind, sich deutlicher und deutlicher ausbilden würden. Nirgends in der organischen Natur ist ein ähnlich großartiger, jene fundamentalen Erscheinungen vitaler Erzeugung mechanischer und elektrischer Energie betreffender Struktur- und Funktionswechsel in auch nur annähernd vollkommener Weise der Untersuchung zu- gänglich, ja überhaupt bisher wahrgenommen. Doch haben gerade die angedeuteten Probleme bisher noch nicht die gewünschte allseitig eingehende Behandlung seitens der zahlreichen vortrefflichen Forscher gefunden, welche die Entdeckung des russsischen Histiologen weiter verfolgten. Im großen und ganzen ist man nicht viel weiter ge- kommen, als zu dem schon von Babuchin formulierten allgemeinen Ergebnis, dass die Substanz der Muskelfaser unter Verlust der Kontraktilität und des spezifischen Baues zu dem einen, dem so- genannten muskulären oder metasarkoblastischen, die motorische Nervenendigung zu dem anderen, dem nervösen Gliede des elek- trischen Organs sich umbildet.“ Mit Recht hebt dann Engelmann hervor, dass für das Studium der histologischen und funktionellen Umgestaltung der als Musku- latur angelegten Organe in erster Linie die pseudoelektrischen, mit geringer elektromotorischer Wirksamkeit begabten Organe von Raja geeignet seien, da hier in Gestalt der sogenannten lamellösen oder mäandrischen Schicht der Organe noch Reste der quergestreiften Substanz sich dauernd erhalten, während bei Torpedo von fibrillärer Muskelstruktur keine Reste mehr aufzufinden sind. Durch die grundlegenden Untersuchungen Babuchin’s war zwar nachgewiesen, dass die mäandrische Schicht aus der quer- gestreiften Substanz hervorgeht, doch wussten wir nicht, welche Homologien zwischen den Lamellen der Blätterschicht und den Querschichten der Muskelfasern bestehen und speziell nicht, ob die stark lichtbrechenden dünnen Lamellen der Blätterschicht den anisotropen oder den isotropen Querscheiben der Muskelfaser ent- sprechen und wie die schwach lichtbrechenden Schichten sich im polarisierten Lichte verhalten. Diese Frage schien Engelmann besonders deshalb von Bedeutung, weil nach seiner Auffassung die doppeltbrechenden Fibrillenglieder und speziell die metabolen Teile xXXVI. ” 41 6542 Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. Au (Rollet) Sitz der Kontraktilität sind, während die isotropen Teile (die arımetabolen Rollet’s) wesentlich bei dem Leitungsvermögen und den elektromotorischen Prozessen beteiligt sein sollen. Engelmann wies nach, dass die dünnen stark lichtbrechenden Schichten der Lamellensubstanz des elektrischen Organes von Raja aus den iso- tropen, die dicken schwach lichtbrechenden Schichten aus den anısotropen Schichten der Muskelfasern hervorgehen. Die metabolen, ursprünglich anısotropen Schichten werden bei der Umwandlung der Muskelfaser in die Platte schwach lichtbrechend und verlieren ihr Doppeltbrechungsvermögen, die arımetabolen, ursprünglich iso- tropen werden stark lichtbrechend und fester. Im einzelnen hat Engelmann die morphologischen und chemisch-physikalischen Um- wandlungsvorgänge der quergestreiften Substanz der Muskelfaser ın die Blätterschicht genau verfolgt. Er findet in dieser Umwand- lung und speziell in der proportional dem Verlust der Kontrak- tılität erfolgenden Abnahme des Doppeltbrechungsvermögens eine neue Stütze für seine Annahme, dass die metabolen Glieder der Muskelfibrillen Sıtz und Quelle der verkürzenden Kräfte des Muskels sind. Andererseits bemerkt Engelmann, dass das Bestehen- bleiben und die Zunahme der isotropen Fibrillensubstanz in guter Übereinstimmung steht mit der von ihm früher begründeten Vor- stellung, dass die elektromotorischen Prozesse ım Muskel an die reizleitende isotrope Substanz gebunden seien. Jedoch macht er selbst den Einwand, dass bei den stark elektrischen Fischen, z. B. bei Torpedo, überhaupt gar keine Reste von Fibrillen, bezw. Lamellen- substanz mehr vorhanden sind. In der Tat scheint mir der Um- stand, dass die elektromotorische Wirkung der Organe bei den pseudoelektrischen und den elektrischen Fischen in dem Maße zunimmt, als die Fibrillensubstanz abnimmt, von größter Bedeutung zu sein. Die Tatsache, dass in den Platten von Torpedo jeder Rest von Fibrillensubstanz schon frühzeitig völlig schwindet, zwingt uns meiner Überzeugung nach, bei der Frage nach dem Sitz der elektrischen Energie die Fibrillensubstanz sowohl bei den schwach- als bei den starkelektrischen Fischen ganz fallen zu lassen. Histologie und Histogenese der Platten müssen der physio- logischen Forschung vorarbeiten, wenn es sich darum handelt, welcher Art die Substanz ist, in die wir den Sitz der Elektrizitätsentwickelung zu verlegen haben. Der die Histogenese untersuchende Anatom hat sich, wenn er zu physiologischer Betrachtung übergeht, von dem oben ausgesprochenen Gedanken Engelmann’s leiten zu lassen, dass bei der Umwandlung der Muskelfaser in die elektrische Platte mit der Steigerung der elektromotorischen Wirksamkeit auch die- jenigen Strukturen, an welche diese gebunden ist, sich immer deut- licher und massiger ausbilden. Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische, 643 Der Prüfung der Histogenese eines Organes hat zweckmäßiger- weise die möglichste Erkenntnis und richtige Auffassung des aus- gebildeten Organes vorauszugehen. Hier aber stoßen wir sofort auf eine große Schwierigkeit: Es gibt heute keine einheitliche Auffassung des histologischen Baues der elektrischen Platte. Doch müssen wir aus der Tatsache, dass sowohl bei Raja, als bei Torpedo die Platte aus einer quergestreiften Muskelfaser hervorgeht, die Notwendigkeit des Bestrebens ableiten, auch zwi- schen den schwieriger zu deutenden Teilen der Platte und der ursprünglichen Faser den histogenetischen Zusammenhang fest- zustellen. Unter den neueren Autoren sagt Ballowitz, der die letzten ausführlichen Arbeiten über die elektrischen Organe der Fische ver- öffentlicht hat!), im Jahre 1897 mit Bezug auf das „elektrische Ge- webe“, der Platte von Raja, „dass es sich hier um ein recht schwieriges Gewebe handelt“. Hiernach würde also aus der ur- sprünglichen Muskelfaser später ein vollständiges „Gewebe“ ent- standen sein, das freilich in seiner histogenetischen Ableitung recht schwierig sein könnte. Der Ausdruck Gewebe erscheint nach Ballowitz insofern berechtigt, als er von „einem filzartig dichten, feınfädigen, äußerst engmaschigen Netzgerüst und von zahlreichen in besondere Lücken des Netzgerüstes eingelagerten Zellen “?) spricht. „Das Netzgerüst ist als eine spezifische Zwischensubstanz aufzufassen, als deren Bildner die Zellen?) angesehen werden müssen.“ Auch G. Retzius°), der die Nervenendigung in dem elektrischen Organ von Raja mit den neueren Methoden untersuchte, vertritt die Auffassung, dass es sich um’einen Zellenkomplex mit eingelagerter Zwischensubstanz handelt. Helle Räume, die um die Kerne der Platte bei Raja radiata und.Raja clavata zur Beobach- tung kommen, werden als Zellkörper gedeutet. „Es ist nun in der Tat nicht leicht, sagt Retzius, in solchen Präparaten zu ent- scheiden, wo sich die Zellgrenzen finden und wie sich die zwischen den Zellen befindliche Substanz verhält.“ Auch bei Torpedo gehören nach Ballowitz die zahllosen in die Platte eingelagerten runden Kerne Zellen an, die in die Platte eingelagert sind. „Die hellen Höfe, welche die Kerne umsäumen, werden abgeschlossen von =, 1) E. Ballowitz, Über den Bau des elektrischen Organes von Torpedo. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 42. 1892. — Derselbe, Über den feineren Bau des elektrischen ÖOrganes des gewöhnlichen Rochen (Raja elavata L.). Anatomische Hefte. 7 Bd. 1897. — Derselbe, Zur Anatomie des Zitteraals (Gymnotus eleetrieus L.) mit be- sonderer Berücksichtigung seiner elektrischen Organe. Archiv für mikroskop. Anatomie. Bd. 50. 1897. 2) Von mir gesperrt. 3) G. Retzius, Über die Endigung der Nerven im elektrischen Organ von Raja elavata und Raja radiata. Biologische Untersuchungen. Neue Folge, Bd. VIII. 189. 4l* 644 Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. membranartig erscheinenden, oft wie zerknittert (in den: Osmium- präparaten) aussehenden Teilen der Gerüstsubstanz, welche dieselben kapselartig umgeben.“ Während wir nach Ballowitz und Retzius sonach die Platte als aus Zellen mit eingelagerter Interzellular- substanz aufzufassen haben, nennt Gegenbaur!) die Platten „flach ausgebreitete, aus verschmolzenen Zellen?) bestehende Gebilde“. Diese Anschauung nähert sich derjenigen, die wir unter den neueren Autoren durch Th. W. Engelmann?) vertreten finden, der die Substanz der Platte von Raja —. abgesehen von der aus der quer- gestreiften Muskelfasersubstanz hervorgegangene Lamellenschicht — als einen die Blätterschicht einhüllenden „kernhaltigen Protoplasma- mantel“ bezeichnet. Auch Ewart?), dem wir wichtige Arbeiten auf diesem Gebiet verdanken, bezeichnet die in Rede stehende Substanz als eine Protoplasmaschicht mit großen Kernen. Auch G. Fritsch?) fasst die Plattensubstanz von Torpedo als eine kern- haltıge Protoplasmamasse auf. Wir sehen also, dass zwei wesentlich verschiedene Auffassungen unter den neueren Forschern bestehen. Die einen betrachten die Platte als ein aus Zellen mit Interzellularsubstanz aufgebautes Gewebe, die anderen als eine kernhaltige Protoplasmamasse. Das sind Widersprüche, die gerade mit Rücksicht auf das physiologische Interesse, welches die Substanz der Platte beansprucht, unbedingte Aufklärung fordern. Die älteren Autoren deuten, soweit sie sich bestimmt äußern, fast allgemein die Plattensubstanz bei Raja und Torpedo in einer der Ewart-Engelmann’schen Anschauung entsprechenden Weise. So bezeichnet Kölliker‘) die Substanz als eine körnig gleichartige Masse mit eingelagerten Kernen. Am klarsten hat sich im Jahre 1865 Robin’) ausgesprochen. Ihm gebührt das Verdienst, zuerst den Bau, die Bedeutung und das übereinstimmende Vorkommen einer spezifischen Struktur in den elektrischen Organen der Fische erkannt zu haben; es muss dies mit Rücksicht auf die später her- 1) ©. Gegenbaur, Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere. Bd. 1, S. 103. 1898, 2) Von mir gesperrt. 3). 1»&, 4) J.C. Ewart, The electrical organ of the skate. On the development of the electrical organ of Raja batis. Philos. Transact. London. Vol. 179. 1888. — On the structure of the electrical Organ of Raja eireularis. Ebenda — The electrical organ of Raja radiata. Ebenda. 5) G. Fritsch, Die elektrischen Fische. 2. Abt. Die Torpedineen. Leipzig 1890. 6) A. Kölliker, Untersuchungen zur vergleichenden Gewebelehre. Verhandl. d. phys.-med. Gesellschaft zu Würzburg Bd. 8. 1858. II. Über das Schwanzorgan des gewöhnlichen Rochen. 7) Ch. Robin, M&moire sur la d&monstration experimentale de la production d’eleetrieit@ par un appareil propre aux id du genre des raies. Journal de l’anatomie et de la physiologie 1865. Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische 645 vorgetretene Unklarheit besonders hervorgehoben werden. Er sagt von seinem „element ou substance &lectrique ou 6lectrogene*: „Üet element anatomique est compos& d’une masse fondamentale, trans- parente, finement granuleuse, dans laquelle existent cä et lä des noyaux Spheriques en certains points, ovoides ailleurs, hyalins ou finement granuleux, sans nuclöoles, larges de 0,007 mm—0,009 mm. Quelsquesuns sont entoures, d’une areole circulaire de fins granules.“ Robin hat erkannt, dass eine einheitliche, nicht in Zellen geteilte granulierte Masse vorliegt, welche zahlreiche, öfters von einem Körnchenhof umgebene Kerne emschließt. Auch hat er besonders hervorgehoben, dass ein heller Hof um die Kerne (derjenige Teil, der die wesentliche Ursache davon ist, dass man von „Zellen“ sprach und spricht, wie ich schon jetzt bemerken will) nur gelegentlich, jeden- falls nicht typisch vorkommt. Auch Boll!) vertritt diese Auf- fassung. Die Platte des Zitter welses (Malopterurus), über deren Genese wir nichts sicheres wissen, wurde schon von meinem Vater?) als eine aus einem Eiweißkörper gebildete, glashelle und durchsichtige Masse beschrieben, in welche viele feine Körnchen und außerdem zahlreiche kreisrunde Kerne eingebettet liegen. Die Granula sind besonders um die Kerne hofartig angehäuft. Diese Struktur der Plattensubstanz des Zitterwelses konnte ich an eimem jungen aus Westafrika stammenden 15 cm langen Exemplar, das mir dureh die Liebenswürdigkeit des Herrn Kollegen Przibram von Wien nach Triest gesandt wurde, völlig bestätigen°). Die Struktur der Platten- substanz macht durchaus einen plasmodialen Eindruck. Nirgendwo sind um die zahlreichen Kerne Zellgrenzen zu finden. Auch G. Fritsch) hat offenbar Übereinstimmendes gefunden. Er findet „zahlreiche, häufig doppelte Kerne, welche von einem in Fortsätze auslaufenden Hof eines klaren Protoplasmas umgeben sind“ und fasst die Platten als „elektrische Riesenzellen“ auf. Die Beschreibung Bolls°’) ist mit alledem wohl vereinbar. Er sagt, dass an den Polen der in die Platte 1) F. Boll, Die Struktur der elektrischen Platten von Torpedo. Arch. f. mikroskop. Anatomie Bd. X. 1874. 2) M. Schultze, Zur Kenntnis der elektrischen Organe der Fische. Halle 1858. 3) Der seltene Fisch war abends lebend von Wien abgesandt und traf mit dem Eilzug am folgenden Morgen ein. Leider war die über Nacht eingetretene Kälte sein Tod gewesen, jedoch überzeugte ich mich sowohl sofort von dem frischen Ge- webe als an Teilen, die in Osmiumsäurelösung und anderen Flüssigkeiten konserviert waren, dass der Erhaltungszustand ein ausgezeichneter war. 4) G. Fritsch, Übersicht der Ergebnisse einer anatomischen Untersuchung über den Zitterwels (Malopterurus eleetrieus). Sitzungsber. d. kgl. preuß. Akad. d. Wissensch. zu Berlin. Math. phys. Klasse. 2. Dez. 1886. — Ders., Die elektrischen Fische. 1. Abteilung. Malopterurus eleetrieus. Leipzig 1887. 5) F. Boll, Zur Kenntnis der elektrischen Platten von Malopterurus. Arch. f. mikr. Anatomie. Bd. 10. 1874. 6465 Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. eingelagerten Kerne eine körnige Masse angehäuft sei, „so dass das Ganze den Eindruck einer kernhaltigen spindelförmigen Zelle macht.“ Das hier gewählte Wort „Eindruck“ ist charakteristisch und erinnert an die Zeit, in der man die ın die quergestreifte Muskelfaser ein- gelagerten, von Körnchenhöfen umgebenen Kerne als Zellen oder „Muskelkörperchen“ auffasste, bis man auf Grund der Histogenese zu der richtigen Auffassung kam!'). Für den Zitteraal (Gymnotus electricus) vertritt Ballowitz?) dieselbe Meinung wie für Torpedo und Raja. Er sagt: „Das spezifisch elektrische Gewebe ist aus einem äußerst feinmaschigen, aus feinsten körnchenhaltigen Fädchen gebildeten Gerüstwerk zusammengesetzt, dessen zwischen den Fädchen befindliche, unter sich kommunizierende Räume von einem mehr flüssigen Inhalt eingenommen werden.“ In das „Gewebe“, welches Ballowitz dann eingehend beschreibt, sind ın eigene „Höhlen“ eingeschlossene Zellen eingelagert. Ballo- witz nähert sich wieder der alten, von den ersten Untersuchern des Organs, z. B. von Pacini’) bei @ymnotus, vertretenen Auf- fassung, dass es sich um einen Zellenkomplex (corpo cellulare) handelt. Jedoch hat schon mein Vater?) an Gymnotus-Präparaten mit einer sehr guten Konservierung gezeigt, dass es sich um einen zahlreiche Kerne führenden Eiweißkörper handelt. Nach ihm be- stehen dıe Platten des Zitteraales aus einer „homogenen, glasartig durchsichtigen Grundsubstanz, deren Konsistenz an guten Spiritus- präparaten nicht unpassend von Pacini mit der einer steifen Gela- tine-Gallert verglichen wird, welche viele molekuläre Körnchen und einzelne runde Kerne eingebettet enthält. Um die Kerne liegt, wie in der elektrischen Platte von Malopterurus, eine Ansammlung kleiner molekulärer Körnchen, welche in dem homogenen mittleren Teil der Platte seltener sind.“ Die verschiedenartige Darstellung von Pacıni, M. Schultze und Ballowitz legt es wieder einmal fast nahe, wie ım Jahre 1861 ausgehend von den Muskelkörperchen, zu verhandeln über „das, was man eine Zelle zu nennen habe“, wenn auch ın etwas anderem Sinne, da es sich damals lediglich um die Eliminierung des Membran- begriffes handelte. In den elektrischen Platten der Nilhechte (Mormyriden) finden wir, wie ich den übereinstimmenden Angaben von G. Fritsch’) und 1) M. Schultze, Über Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. Reichert’s und du Bois-Reymond’s Archiv 1861. 2) E. Ballowitz, Zur Anatomie das Zitteraales (Gymnotus eleetrieus) mit bes. Berücksichtigung seiner elektr. Organe. Arch. f. mikr. Anatomie Bd. 50. 1897. 3) Pacini, Sulla struttura intima dell’ organe elettrico del Gimnoto edi altri peseci elettriei. Firenze 1852. 4) l. c. 5) G. Fritsch, Weitere Beiträge zur Kenntnis der schwach elektrischen Fische. Sitzungsb. der kgl. Preuss. Akad. der Wissensch. zu Berlin XLIV. 5. Noy. 1891. Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. 647 Ogneff!) entnehme, noch im ausgebildeten Zustand eine hoch- gradige Annäherung an den Bau der quergestreiften Muskelfaser. Die kontraktile Substanz ist zu einer zentralen relativ geringen Masse zurückgebildet, welche allseitig von einem protoplasmatischen, reichliche Kerne führenden Mantel umhüllt ist, in welchen die zutretenden Nerven kontinuierlich übergehen. Ogneff spricht nur von Kernen, die der Plattensubstanz eingelagert sind, niemals von Zellen. Die Plattensubstanz zeigt eine zarte netzförmige Struktur, die sehr an die von Ballowitz ın den Platten von Torpedo, Raja und Gymnotus geschilderte Struktur erinnert, von Ballowitz aber als Interzellullarsubstanz gedeutet wird. Die Annäherung an den Bau einer Muskelfaser wird besonders deutlich, wenn wir z. B. die Abbildungen der Muskelfasern vergleichen, welche Rollet?) von den interessanten Flossenmuskeln des Seepferdchens ge- geben hat. Die Muskelfasern in der durch die eigenartigen, zierlich schnellen, wellenförmigen Bewegungen ausgezeichneten Rückenflosse von Hippo- campus besitzen, wie Rollet sagt, „Eigentümlichkeiten im Bau der Faser, die zu den sonderbarsten und merkwürdigsten gehören, auf welche man bisher gestoßen ist.“ Auch die Analflosse und die Kiemenflossen enthalten Muskeln, die ebenso wie die der Rückenflosse im Bau in auffallendster Weise von den übrigen Skelettmuskeln abweichen. Diese Abweichung ist so groß, dass sogar ein so aus- gezeichneter Kenner des Baues der Muskulatur, wie Rollet, sagte: „Ich muss gestehen, dass ich, als ich zuerst Querschnitte gehärteter Flossenmuskeln ansah, zwar in großes Erstaunen versetzt war, dass ich aber, was ich sah, kaum verstand.“ Am auffallendsten ist die große Menge des sogenannten Sarkoplasmas, d. h. derjenigen der beiden Hauptsubstanzen der Muskelfaser, welche nicht fibrilläre Substanz ist. Eine breite Schicht des feinkörnigen Plasmas liegt dicht unter dem Sarkolemm; sie enthält die zahlreichen Muskel- kerne und setzt sich in solcher Masse zwischen die fibrilläre Sub- stanz in das Innere der Faser fort, dass sie der fibrillären Substanz ungefähr an Masse gleich kommt. Ähnlich verhalten sich Muskeln von Urustaceen, wie dies z. B. aus der Rollet’schen Abbildung von Maja squinades (Tafel VIII. Fig. 4) sofort hervortritt. Nach meiner Auffassung der elektrischen Platte, zu der ich nunmehr übergehe, können wir die sarkoplasmareichen Muskel- fasern der Rückenflosse des Seepferdchens, in welchen offenbar — wohl im Zusammenhang mit der relativ geringen in reichliches 1) J. Ogneff, Einige Bemerkungen über den Bau des schwach elektrischen Organs bei den Mormyriden. Zeitschr. f. wiss. Zoologie Bd. 32. 1898. 2) A. Rollet, Uber die Flossenmuskeln des Seepferdchens (Hippocampus antiquorum) und über Muskelstruktur im allgemeinen. Arch. f. mikr. Anatomie Bd. 32. 1888. 648 Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. Sarkoplasma eingebetteten kontraktilen Substanz — ein energisches Zuckungsvermögen fehlt, morphologisch als eine Übergangsform zur elektrischen Platte deuten. Meine Befunde an dem elektrischen Organ von Raja elavata gewann ich an einem Material, das ich während eines Aufenthaltes auf Helgoland dank dem liebenswürdigen Entgegenkommen des Direktors der biologischen Anstalt, Professor Dr. Heincke, sammeln und zum Teil verarbeiten konnte. Die Konservierung geschah in Kalıiumbichromatosmiumsäure und Osmiumsäure, in beiden Fällen unter Nachbehandlung mit Kaliumbichromatlösung von 1°/, und 2°/, und späterer Färbung mit Hämatein und Alauncochenille. Der Erhaltungszustand der fertigen Präparate ist ein vorzüglicher. Auch die Untersuchung des frischen Organes wurde reichlich berück- sichtigt. Ich berichte an dieser Stelle ausschließlich über die Platten- substanz in dem angegebenen Sinne. Wer zuerst die elektrischen Platten von Raja an Flach- schnitten und Querschnitten untersucht, der dürfte ın der Regel so erstaunt sein, wie Rollet bei dem Anblick der Flossen- muskeln von Hippocampus. So erging es auch mir. Es ist nicht nur die völlige Eigenart der „mäandrischen“ oder Blätterschicht, welche frappierend. wirkt, sondern auch die Deutung der diese umhüllenden Masse, die als vordere (kopfwärts gelegene) und hintere Rindenschicht bezeichnet werden, macht zunächst große Schwierigkeiten. Vordere und hintere Rindenschicht gehen am Rande der Platte kontinuierlich ineinander über und bilden zu- sammen sonach einen geschlossenen Mantel um die Blätterschicht. Hierbei ist die vordere Rindenschicht, d. ı. diejenige, welche die Nervenendigung aufnimmt und sich elektronegativ verhält, ‚eine einfache, im allgememen gleichmäßig dicke Lage, während die hintere Rindenschicht durch die ansehnlichere Dicke und die zahl- reichen Leisten und Gruben, welche sie trägt, im Flächenbild ganz an das Flächenbild der abgelösten menschlichen Epidermis von der Hand oder Fußinnenfläche erinnert. Dies Verhalten hat ıhr den alten Namen „Schwammkörper“ eingetragen. Doch ich will mich jetzt nur mit der histologischen Auffassung der Rindenschichten beschäftigen. Die Untersuchung des frischen wie die des konservierten Objektes ergibt mit Sicherheit, dass es sich um ein einheitliches Protoplasma mit zahllosen eingelagerten Kernen handelt. Die Auffassung, dass hier Zellen im einer Interzellularsubstanz liegen, und es sich „um ein recht schwieriges Gewebe“ handelt, ist irrtümlich. Wie aber ıst diese entstanden? Während ın den meisten Fällen die Kerne unmittelbar in das Protoplasma eingebettet liegen, finden wir in anderen um diese Kerne hell erscheinende, hofartige Zonen. Sie können gegen das Protoplasma eine scharfe Abgrenzung zeigen, die den falschen Eindruck einer Membran erweckt, und diese Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. 649 Abgrenzung ist häufig durch einen Ring (bezw. Kugelschale) stärker granulierten Plasmas hervorgehoben. Niemals aber erhält man in Zupfpräparaten frischer oder konservierter Teile eine Zelle, sondern immer nur Kerne, in voller Übereinstimmung mit dem, was die Schnittbilder bestkonservierter Objekte ergeben!). Alles das wird durch die zahlreichen Zeichnungen meiner Präparate, welche von einem objektiven Zeichner gefertigt wurden, auf das deutlichste erwiesen. Dass innerhalb der protoplasmatischen Grundlage der Zellkern von einer homogeneren Schicht umgeben ist, hat nichts Auf- fallendes und wird oft in Zellen beobachtet. Über die Bedeutung dieser, wie es scheint, für das Leben in der Zelle wichtigen, auf- tauchenden und wieder vergehenden Kernzone des Protoplasmas wissen wir nichts. In jungen Amphibieneiern steht sie, wie ich früher gezeigt habe, mit der Auflösnug des Dotterkerns in naher Beziehung. Was ich hier für die Plattensubstanz von Raja angebe, gilt in gleicher Weise auch für Torpedo. Auch hier handelt es sich nicht um Zellen, welche in die Platte eingelagert sind, sondern um Kerne innerhalb einer kontinuierlichen Plasmamasse. Ich kenne sehr wohl die Bilder, welche eine hellere um den Kern gelegene Zone nach außen gelegentlich durch eine ziemlich scharfe Linie begrenzt er- scheinen lassen, sie entspricht aber durchaus nicht einer Membran, sondern ist nur der Ausdruck der scharfen Abgrenzung jener Kern- zone gegen die übrige Plattensubstanz. Das hat mir mein vor- trefflich konserviertes, aus Neapel erhaltenes Material ebenso wie das in Triest untersuchte Objekt mit Sicherheit ergeben. Ich bin schon nach diesen Befunden von der Richtigkeit der schon von meinem Vater ausgesprochenen Angaben über den Bau der Platten vollkommen überzeugt: ;Die Platten der echten elek- trischen Organe sind Scheiben, in deren Innerem in gewissen Ab- ständen ovale oder kugelige Kerne eingesprengt liegen, hie und da von wenig feinkörniger Substanz umgeben. Die Platten der so- sogenannten pseudoelektrischen Organe zeigen dieselben Kerne.“ ?) Wie haben wir nach dem Gesagten die Substanz der elck- trischen Platte aufzufassen? Es handelt sich um eine kernreiche Protoplasmamasse, eine Energidenkolonie im Sinne von J. Sachs oder eine plasmodiale Masse im Sinne von A. Kölliker und 1) Sehr deutlich wird auch die Unrichtigkeit der Auffassung, dass es sich bei der Platte um Zellen handelt, welche in Zwischensubstanz eingebettet liegen — etwa wie die Knorpelzellen in den hyalinen Knorpel — dadurch erwiesen, dass alle Ubergänge zwischen unmittelbar in die Plattensubstanz eingelagerten Kernen und solchen gefunden werden, welche von einen besonderen „Zellkörper“ umgeben sind. Bald ist die umgebende Zone ganz schmal, bald breiter, bald durch wenige, bald durch mehr Granula gegen die umgebende Substanz abgegrenzt. 2) Strieker’s Handbuch der Lehre von den Geweben. Leipzig 1871. I, 8.125; 650 Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. R. Bonnet. Ja, wir können auch jede Platte in diesem Sinne als eine zahllose Kerne einschließende Riesenzelle deuten. Der gleichen Auffassung kann auch für die quergestreifte Muskelfaser ihre Berechtigung nicht abgesprochen werden, da diese aus einer einfachen Zelle unter enormer Kernvermehrung und fibrillärer Differenzierung des Protoplasmas entstanden ist. Sonach erkennen wir eine wesentliche, für das Verständnis der elektrischen Platte wichtige Übereinstimmung in der Morphologie der Muskelfaser und der aus ihr hervorgegangenen Platte, eine Übereinstimmung, die nur auf Grund einer genauen Verfolgung der Histogenese der Platte völlig verstanden werden kann. Vergleichen wir die den ursprünglichen muskulären Bau am deutlichsten wahrende Platte der pseudoelektrischen Organe mit dem der quergestreiften Muskelfaser, so finden wir in beiden Fällen kontraktile Substanz, bezw. Reste derselben eingebettet in eine kernhaltige plasmatische Substanz, und es drängt sich gleich- sam die Überzeugung auf, dass von den beiden Hauptsubstanzen der quergestreiften Faser, Be wir seit A. Rollet unterscheiden — der Fibrillensubstanz und dem Sarkoplasma — die erste, wie wir bereits wissen, in die Lamellensubstanz, die letztere in die spezifische Plattensubstanz, das kernreiche Elektroplasma, wie ich es nennen will, sich umwandelt. Die Entwickelungsgeschichte der Platte hat uns seit Babuchin wiederholt gelehrt, dass der sinn- fälligste Vorgang bei dieser Umwandlung der ist, dass die zylin- drische, lange Faser unter Abnahme des Längendurchmessers und enormer Zunahme des Breitendurchmessers in eine flache Scheibe umgebildet wird. Hierbei wird naturgemäß die Fibrillensubstanz unter Verlust ihrer Funktion auf ein Minimum verkürzt, und die sogenannten Discs wachsen in die Breite zur Blätterschicht aus. Oder die kontraktile Substanz schwindet (bei Torpedo) vollständig. Diese Umwandlung vollzieht sich (bei Raja) von dem die Nerven- zutrittstelle darstellenden, kopfwärts gerichteten Teil der Faser aus, während der kaudale Teil sich als ein langer dünner Fortsatz nicht nur ın auffallender Weise bei der den primitivsten Typus dar- stellenden Platte von Aaja radiata, sondern, wie mich meine Schnittserien lehren, auch bei Raja elavata, dauernd erhält. Die hintere Rindenschicht der Platte geht bei dem gewöhn- lichen Rochen in eine lange Faser über, welche die so- genannte (nichtzur Platte gehörige) Gallertschicht durch- setzt und sich durch das Vorkommen von quergestreifter Substanz noch deutlich als der nicht in die Platte um- gewandelte Teil der Muskelfaser zu erkennen gibt. In- folge seiner Zartheit und seines nicht gradlinigen wird dieser Plattenstiel von Schnitten des Organes leicht übersehen. Man findet ihn nur ganz und deutlich an sehr dieken Schnitten, Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. 651 in denen er nicht zerschnitten ist. Unsere Hauptfrage bleibt die, ob wir berechtigt sind, die plasmodiale kernführende Substanz der Platte als aus dem Sarkoplasma hervorgegangen zu deuten. Hierüber kann naturgemäß nur die entwickelungsgeschichtliche Untersuchung definitiven Aufschluss geben; sie wird zu entscheiden haben, ob sich ein allmählicher Üherenng des sarkoplasmatischen Teils der Faser in das Elektroplasma der Platte in allen Stadien verfolgen lässt. Die bisher vorliegenden histogenetischen Angaben drängen die Richtigkeit solchen Geschehens geradezu auf. Bevor ich auf diese kurz eingehe, will ich jedoch hervorheben, dass auch das Organ des erwachsenen Tieres einen solchen allmählichen Über- gang deutlich erkennen lässt. Er findet sich an dem oben er- wähnten Stiel der Platte bei Raja elavata. Dieser erhebt sich un- gefähr aus der Mitte der Platte mit konischer Basis. Zunächst macht er einen rein plasmatischen Eindruck. In die Substanz sind zahlreiche Kerne von spindelförmiger, ovaler und runder Form ein- gelagert. Untersucht man aber eine Anzahl von diesen eigenartigen Plasmafäden genauer, so findet man stellenweise in das Plasma eingelagerte ee Substanz, immer nur einzelne Gruppen von Dises, zwischen welchen wieder von quergestreifter Masse völlig freie Regionen des Stieles liegen. Außer den der Mehrzahl nach ovalen, mit der Längsache in der Richtung des Stieles liegenden Kernen, die ich einmal, wie oft die Plattenkerne, von helleren Zonen umgeben fand, enthält das Stielplasma dieselben in Osmium- mischungen dunkel gewordenen Granula, welche sich in der Platten- substanz finden. Es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass der Plattenstiel der kaudale Rest der Muskelfaser ist, aus.deren den Nerveneintritt aufnehmendem kephalem und elektronegativem Teil die Platte hervorging. Der Stiel besteht deutlich aus den beiden Substanzen der Faser, von denen das Sarkoplasma mit den Kernen den Hauptteil, streckenweise den einzigen Teil und die kontraktile Substanz den intergeprdneten und funktionslos gewordenen Bestandteil darsteli, Das färberische und das optische Verhalten des sarkoplas- matischen Stielanteiles ist genau dasselbe wie das der Plattensub- stanz; der Übergang des pe des Stieles in die Platten- substanz ist kontinuierlich, so dass das Sarkoplasma des Stieles einfach zu dem scheibenförmigen Elektroplasma gleichsam anschwillt. Am konischen Stielübergang in die Platte wer en die ovalen Kerne des Stieles allmählich kugelförmig; die Granulierung des Stiel- plasmas geht ohne jede ee in die gleiche en der Platte über. _ So lehrt also die Untersuchung des elektrischen Organes von Raja elavata, dass die Plattensubstanz — abgesehen von der mäan- drischen oder Blätterschicht — dieselbe ist wie die, welche wir 652 Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. in dem Plattenstiel als Sarkoplasma finden, und wir kommen schon ohne histogenetische Befunde zu der Auffassung, dass die Hauptmasse der elektrischen Platte ein zu hoch- gradiger Massenentwickelung gesteigertes kernreiches Sarkoplasma ist. Und wenn wir zu der einfachen Auffassung berechtigt sind, dass die typische Energieentwickelung in derjenigen Substanz des Organes erfolgt, welche seine Hauptmasse bildet, soliegt es nahe, in diesem Sarkoplasma den Sitz der elektromotorischen Wirksam- keit zu vermuten. Wir erinnern uns hierbei wieder der Worte Th. W. Engelmann’s, dass bei der Umwandlung der Muskelfaser in die Platte mit der zunehmenden Steigerung der elektromotorischen Fähigkeiten auch die Substanz zunehmen müsse, an welche diese gebunden sind. Nach dieser meiner Auffassung kommen wir zu der, wie mir scheinen will, einfachen Auffassung, dass Muskelfaser und elektrische Platte in den beiden Hauptsubstanzen, Fibrillen und Sarkoplasma, eine entgegengesetzte Proportionalität zeigen: Die Muskelfaser — reichliche Fibrillensubstanz, weniger Sarko- plasma, reichliche mechanische, geringere elektrische Energie; die elektrische Platte — wenig oder keine Fibrillensubstanz, reichliches Sarkoplasma, kein Zuckungsvermögen, lebhafte Umsetzung chemischer in elektrische Energie. Ich bin mir moi bewusst, dass über diese Auffassung, nach welcher der Umsatz der chemischen in elektrische Energie inner- halb der enormen Protoplasmamassen des elektrischen Organes er- folgt, der Physiologie das definitive Urteil zusteht, worauf ich weiter unten noch eingehe, obwohl ich dies im allgemeinen Berufeneren überlasse. Hier will ich zunächst noch unsere bisherigen histo- genetischen Kenntnisse der elektrischen Platte so weit berück- sichtigen als sie die von mir begründete histologische Auffassung betreffen. Schon Babuchin, der Entdecker der muskulären Anlage der elektrischen Organe, hat deutlich sprechende Angaben über die Entwickelung der Plattensubstanz gemacht!). Er beschreibt, wie bei Raja das vordere Ende der Faser unter starker Vermehrung der Muskelkerne anschwillt und die zylindrischen Muskelfasern sich in birnförmige, „geschweifte“ Körper umwandeln. Später atrophieren die „Schweife“, und es bleiben so die späteren „Kästchen“. Der Rest des Protoplasmas, der nicht quergestreifte Substanz geworden, wandelt sich in den kernreichen Schwammkörper um, die Lamellen- substanz entsteht durch komplizierte Faltungen der quergestreiften Substanz. Hiermit ‚stimmen die Angaben von Ewart?) völlig überein; 1) Babuchin, Über die Bedeutung und Ep Er ar Organe. Zentralblatt für die mediz. Wissenschaften. 1572 Nr. 2) J. C. Ewart, The Eleetrieal Organ of the Mar = he Development 2 are “B Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. 653 seine; Abbildungen, ebenso wie diejenigen von Engelmann!), welcher die Ewart’schen Präparate von Raja radiata und Raja eircularıs nachzuuntersuchen Gelegenheit hatte, und welchem außer- dem von Muskens neu gefertigte Präparate von Raja clavata vor- lagen, sprechen deutlich, so dass es geradezu auffallend ist, dass die sarkoplasmatische Natur der ganzen (nicht als Fibrillenreste zu deütenden) Plattensubstanz nicht deutlich ausgesprochen wurde. Ewart’s Mitteilungen beziehen sich vornehmlich auf Raja batis. Die ersten Spuren der Muskelumwandlung treten bei 7 cm langen kiementragenden Embryonen auf. Das proxinale Ende der Faser, die Nervenzutrittsstelle, schwillt kolbenförmig an, die Muskelkerne ver- mehren sich reichlich, nehmen Kugelform an und ordnen sich an der Nervenzutrittstelle innerhalb des kolbigen Endes zu einer im Durch- schnitt einreihigen Scheibe an. Sie wird zur vorderen Rindenschicht. Die Breitenzunahme des vorderen Faserendes steigert sich, und die kolbige Verdickung erscheint nun als eine dicke Platte, an welcher der kaudale, nicht veränderte Teil der Faser wie ein fadenförmiger Anhang erscheint. An der Stelle, wo dieser von dem scheibenartig umgebildeten Teil nach hinten abgeht, wuchert die kernreiche Masse und bildet durch Oberflächenvergrößerung in Form von Gruben umschließenden Leisten den Schwammkörper (d. h. die hintere Rindenschicht). Er wird von Ewart passend mit dem Bilde ver- glichen, welches der Anblick der Innenfläche der ausgedehnten Froschlunge bietet. Die Blätterschicht geht aus dem kontraktilen Teil des scheibenartig umgewandelten Faserteiles durch Breiten- wachstum hervor. Für Torpedo, bei dem das entwickelte Organ keinerlei gene- tische Beziehungen zu der Muskelfaser mehr erkennen lässt, haben ‚außer Babuchin besonders die Untersuchungen von Fritsch?) und Ogneff?) uns Aufschluss gegeben. Nach Fritsch werden mit der Umbildung der Muskelfasern in die Platten die ursprüng- lich länglichen Kerne kugelförmig und ordnen sich zugleich in querer Richtung reihenweise bezw. scheibenförmig an. Die fibrilläre Längsstreifung verschwindet. Ogneff kam auf Grund seiner ein- of the electrical organ of the Raja batis. Philosophical Transact. of the R. Soe, of London. Vol. 179. 1889, S. 399. h x Derselbe, On the structure of the electrical Organ of Raja cireularis, Philos. Transactions Vol. 179. 1889, S. 410. The electrical Organ of Raja radiata. Ebenda S. 539. SO ee 2)G. Fritsch, Bericht über die Fortsetzung der Untersuchungen an elektrischen Fischen. Beiträge zur Embryologie von Torpedo. Arch. f. Anat. und Physiol. Phys. Abt. 1884. Derselbe, Die elektrischen Fische. 2. Abt. Die Torpedineen. Leipzig 1890. ® 3) J. Ogneff, Über die Entwickelung des elektrischen Organs bei Torpedo. Arch. f. Anat. und Physiol. Phys. Abt. 1897. 654 Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. eehenden Untersuchungen an Torpedo zu der Überzeugung, dass die Substanz der hellen, um die Kerne der Platte auftretenden Zone nicht wesentlich von der übrigen Plattensubstanz verschieden ist. Er wendet sich besonders gegen die falsche Auffassung, dass es sich um in die Platte eingelagerte Zellen handelt. Er beweist, dass die Platten ihrer Genese nach als vıelkernige Riesenzellen aufgefasst werden können, und dass das Protoplasma der Platten direkt aus dem Sarkoplasma der Muskelfaser hervorgeht. So kommt Ogneff zu einem mit meinen Angaben völlig übereinstimmenden Resultat. Unsere Auffassung bedarf — das verhehle ich mir nicht —, obwohl sie sehr wahrscheinlich ist, einer nochmaligen genauen embryologischen Untersuchung, welche ich demnächst auszuführen gedenke. Unter den Physiologen hat in den letzten beiden Jahrzehnten die Frage auf der Tagesordnung gestanden, ob die elektromotorische Wirkung in den Nervenendigungen des Organs oder in den von der Muskelfaser abstammenden Teilen, d. h. in der Plattensubstanz selbst zu suchen sei. Die letzte diese Frage auf Grund von experi- menteller Untersuchung an Torpedo behandelnde Arbeit ist diejenige von S. Garten!), die in Neapel entstand. Garten lehrte uns das Verhalten des elektrischen Organs der Zitterrochen nach Durchschneidung der zutretenden Nerven (sowie nach Behandlung mit Curare und Veratrin) kennen. Die Nerven- durchschneidung führte zu völliger Unerregbarkeit des Organs bei indirekter und direkter Reizung. Trotzdem waren mikroskopisch noch keine Veränderungen „an der Nervenendausbreitung oder an dem sarkoplastischen Teile des Organes zu beobachten“. Garten fasst seine Resultate wie folgt zusammen: „Alle am elektrischen Organ des Zitterrochens beobachteten Erscheinungen stehen jetzt mit der Annahme in Einklang, dass die Nervenendausbreitung selbst oder ein funktionell innig mit dieser verbundenes Gebilde, das elektromotorisch Wirksame im elektrischen Organ der Zitterrochen darstellt. Insbesondere ist es die nach der Nervendurchschneidung rasch auftretende indirekte und direkte Unerregbarkeit des Organes, welche die früher viel vertretene Annahme des muskulären Ursprungs der elektromotorisch wirksamen Bestandteile zu einer sehr unwahr- scheinlichen machen.“ Ohne die Bedeutung der Garten’schen Experimentalunter- suchung im geringsten anzweifeln zu wollen, möchte ich doch die 1) S. Garten, Beiträge zur Physiologie des elektrischen Organes des Zitter- rochen. Abh. d. kgl. sächs. Gesellsch. d. Wissensch. Bd. 25. 1899. Hier findet sich auch eine umfassende Literaturzusammenstellung der Physiologie der elektrischen Organe. "Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. 655 Frage aufwerfen, ob denn überhaupt — wenigstens für Torpedo, um den es sich hier handelt — eine derartig scharfe Trennung von „Nerven- ausbreitung oder einem funktionell innig mit dieser verbundenem Gebilde“ einerseits und Teilen „muskulären Ursprungs“ anderer- seits statthaft ist. Jenes „funktionell innig mit der Nervenendaus- breitung verbundene Gebilde“ ist eben selbst Plattensubstanz, die ja auch nıcht ohne Berechtigung als das Homologon einer motorischen Enndplatte — nach meiner Überzeugung, ee ausgedrückt, einer starken Ansammlung von kernreichem ne _- Dei achtet wird. Die Plattensubstanz aber ist muskulären Ursprungs. In diese geht die Nervenendausbreitung kontinuierlich über. Trotz der zahlreichen Arbeiten, welche über die Endigung der Nervenfasern in dem elektrischen Organ von Torpedo erschienen sind, ist eine definitive Einigung noch nicht erzielt. Als gesichert kann die bereits von Kölliker und meinem Vater beschriebene netzförmige Endigung betrachtet werden, die neuerdings auch von Ballowitz und zuletzt von Garten gut abgebildet ist. Sie ist an Osmiumpräparate — und auch am frischen Objekt, an den ersteren besonders gut nach Färbung mit Hämatein, vortrefflich zu sehen, und gelegentlich wieder auf- tauchende Behauptungen, dass die Nersen „frei“ endigen, beruhen auf mangelhafter Beobachtung oder Konservierung. Nicht gesichert aber ist bisher die Art der Beziehung dieses Nervenendnetzes zu der Plattensubstanz. Es hat dies meiner Überzeugung nach wesent- lich seinen Grund darin, dass diese „Beziehung“ in einer zur Platte vertikalen Richtung erfolgt, also an der dem Untersucher auf dem Objektträger enden Platte in der Richtung der optischen Achse des Mikroskopes. Hier sieht man, wenn das der ventralen Plattenfläche entsprechende Nervennetz nach oben liegt, direkt darunter das Netz der Boll’schen Punktierung (Boll’sche Granula) oder das von Ballowitz genauer beschriebene Netz der normaler- weise vertikal zur Platte gerichteten „elektrischen Stäbchen“ („eils electrigues“ Ranvier.) Von diesen hat zuerst Boll in seiner vortrefllichen Arbeit über das Torpedo-Organ eine gute Beschreibung gegeben. Er sah von der Unterfläche des nervösen Terminalnetzes ein System „stiftförmiger Fäserchen“ ausgehen, „welche senkrecht in die Substanz der elektrischen Platte eindringen und somit alle frei aufhören.“ Ich habe nun bei meinen Plattenisolierungen eine bisher infolge ihrer außerordentlichen Zartheit kaum beachtete Stelle in der Platte gefunden, welche in schönster Weise an gefärbten oder ungefärbten Osmium-Präparaten bei Untersuchung in schwach licehtbrechenden Medien die Beziehungen zwischen Ner venendigungen und Plattensubstanz erkennen lässt. Es ist der äußerste schmale und dünne Saum der Platte, von welchem man auch bei vorsich- tiger Präparation immer nur Teile im Zusammenhang mit der Platte 656 Schultze, Zur Frage von dem feineren Bau der elektrischen Organe der Fische. erhält. In diesen Saum treten typische Endbüschel markloser Fasern ein, deren Äste radiär zum äußersten Plattenrand verlaufen. Der Saum ist aber so dünn, dass der Übergang der Endigungen in die Plattensubstanz nicht mehr, wie in der ganzen Platte vertikal zur Platte erfolgt, sondern den Plattenflächen parallel oder horizontal. Dadurch liegeit bei Flächenansicht des intakten Plattensaumes die Endigungen der Nerven hier dem Beobachter in flacher Ausbreitung so klar vor, wie sie nicht der dünnste Horizontalschnitt (senkrecht zu der Säulenlängs- achse geführte Schnitt) zeigen könnte, dies um so weniger, als der Rand nicht genau horizontal verläuft. Schon mit einem guten starken Trockensystem, besser mit der Ölimmersion, sieht man nun die Endigungen, welche radiär und fast parallel verlaufend aus denrin den Plattensaum eintretenden Ästcehen hervorgehen, in die Boll’sche Punktierung kontinuierlich übergehen, derart, dass die Endigungen sich einfach in die feinen Granula-auflösen. Diese Beobachtung wird dadurch erleichtert, dass die Boll’schen Granula genau in der Richtung der Nervenendigungen weiter nach dem Plattenrande auf- gereiht verlaufen. Jedes Fäserchen setzt sich, einen deutlich granu- lierten Bau annehmend, in eine gleichgereihte Boll sche Pünktchenreihe fort. Schließlich gehen diese Perkira eihen am Rande des Saumes kontinuierlich und arkadenförmig ineinander über. Ein ganz schmaler Teil des Saumes — der äußerste — bleibt noch jenseits dieser Arkaden frei. Diese Bilder sind so klar, dass ich es für un- bedingt nötig halte, dass in Zukunft jeder, der sich mit der Unter- suchung des Torpedo-Organes befasst, sein besonderes Augenmerk auf diesen Rand des Organs richtet. Vorbedingung für deut- liche Bilder ist möglichst glatte Konservierung der Platten in Omniumsäure und Isolierung von zwei zusammenhängenden Platten. Dann wird das Objekt in zwei Hälften oder vier Quadranten mit der Scheere geteilt und von der Mitte aus wird unter dem Präparier- mikroskop vollends gespalten. Freilich bedarf es besonderer Vor- sicht am Rande; aber die Mühe wird reichlich belohnt durch den Einblick in die Art und Weise, wie hier feinste Nerven- enden kontinuierlich in Protoplasma übergehen. Als Medium benutzte ich entweder Wasser oder, wenn das Präparat aufgehoben werden soll, eine Mischung von konzentrierter wässriger 1ösune von Kalıum aceticum, Methylalkohol und Wasser zu gleichen Deden. Berichtigung. In Bd. XXVI, p. 455 ist das t in Gatze zu streichen, p. 539, III. Abs. ist zu lesen „größere“ statt „größer“, und p. 544 soll stehen: „4300 Liter Raupen und Puppen“ statt N tote Puppen‘ Verlag von Georg Thieme i in Leipzig, Rabensteinplatz 2 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel. und. Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. j2) XXYVI. Bd. 15. September 1906. NM RO. Inhalt: Steinbrinck, Über Schrumpfungs- und Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. — Raädl, Einige Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. — Spuler, Uber einen parasitisch lebenden Schmetterling, Bradypodicola hahneli Spul. — W. Rosenthal, Beobachtungen am Hühnerblut mit stärksten Vergröfserungen und mit dem Ultramikroskop. Über Schrumpfungs- und Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. Von €. Steinbrinck. Mit 28 Abbildungen. I. Einleitung. Durch sein berühmtes Werk „Das mechanische Prinzip im anatomischen Bau der Monokotylen mit vergleichenden Ausblicken auf die übrigen Pflanzenklassen“ hat Schwendener im Jahre 1874 die Pflanzenanatomie bekanntlich in eine neue Richtung ge- lenkt und damit der Botanik ein ausgedehntes Gebiet eröffnet, auf dem sich eine so reiche Tätigkeit entfaltet hat, dass der zusammen- fassende Bericht, den Haberlandt darüber in seiner „Physiol. Pflanzenanatomie“ gibt, schon in der zweiten Auflage von 1896 ‘einen Band von 550 Seiten füllte. In dem erwähnten Werke hatte Schwendener nun gezeigt, in wie ökonomischer Weise die Natur diejenigen Zellelemente im Pflanzenkörper verteilt, welche die Form und den Zusammenhang seiner Organe gegenüber biegenden, ziehen- den und abscherenden äußeren Kräften sichern. Es erregte Auf- sehen, dass sich in dem „statischen Gewebesystem“ der Pflanzen, ebenso wie im Knochengerüst der Tiere, vielfach solche Kon- struktionen wiederfinden, wie sie dem Techniker vom Brücken-, Häuserbau u. s. w. geläufig sind. Nun gibt es aber in Pflanzen- XXVI 42 658 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. organen auch Einrichtungen, die im Gegensatz zu jenen Strukturen darauf angelegt sind, in einer bestimmten Entwickelungsperiode den Zusammenhang der Gewebe zu sprengen und die Form der Organe in biologisch-vorteilhafter Weise zu verändern. Es sind dies vornehmlich solche Behälter, in denen Samen, Pollenkörner und Sporen erzeugt werden. Die Sprengung und Deformation der- selben tritt zu ihrer Reifezeit ein, wenn die genannten Fortpflanzungs- körper in Freiheit gesetzt werden sollen, und zwar gewöhnlich unter Wasserverlust, der schließlich zum Vertrocknen führt. Hin- sichtlich dieser Organe sind schon vor dem Erscheinen des Schwen- dener’schen Werkes Untersuchungen begonnen und bis in die neueste Zeit fortgesetzt worden, welche sich auf die anatomischen Ursachen dieser Formänderungen richteten und darauf abgezielt haben, auch im Bau ihrer „dynamischen“, d. h. die Krümmungs- bewegungen bewirkenden Gewebe einen gemeinsamen „Plan“ oder eventuell mehrere leitende „Prinzipien“ aufzufinden. Infolge einer Aufforderung des Herrn Prof. Goebel habe ich als der bei diesen Forschungen am meisten Beteiligte die Aufgabe übernommen, über die hauptsächlichsten und biologisch inter- essantesten hierbei gewonnenen Resultate zusammenfassend zu be- richten. Eingehende mikroskopische, sowie mathematisch-physi- kalische Studien haben dazu geführt, dass das gewünschte Ziel hinsichtlich der trocken aufspringenden Samenbehälter etwa ı. J. 1891 erreicht wurde. Durch die Mitarbeit von Schwendener, A. Zimmermann und Eichholz war es bis dahin gelungen, den Aufbau ihrer dynamischen Gewebe, so überaus mannigfaltig sie auch im einzelnen ausgestaltet sind, einem einzigen in weitestem Umfang gültigen Prinzip unterzuordnen, das später (1898 und 1901) durch Weberbauer bestätigt wurde. Somit lag die Hoffnung nahe, dasselbe auch an den übrigen vorher genannten Organen wiederzufinden. Es gelang dies in der. Tat bei den Ausstreuungs- vorrichtungen, mit denen die Laubmooskapseln versehen sind (dem sogen. Peristom) i. J. 1897 in hervorragendem Maße. Bei den Sporangien der höheren Kryptogamen und den Pollensäcken der Angiospermen schlug jene Erwartung jedoch fehl. Auf die Er- klärung derselben hatten zwar Schinz, Schrodt und Leelere du Sablon schon seit Jahren ihre Bemühung gerichtet. Von ihnen war aber der Umstand übersehen oder nicht physikalisch- richtig gewertet worden, dass die tatsächlichen Verhältnisse bei den aufspringenden Trockenfrüchten ganz anders liegen, als bei Staubbeuteln und bei den Sporangien der Farne, Schachtelhalme und verwandter Kryptogamen. Bei jenen beginnen nämlich die durch den Wasserverlust verursachten Krümmungen, die das Sprengen des Gehäuses bewirken und die Samenausstreuung zur Folge haben, erst nachdem die Lumina der „dynamischen“ Zellen Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 659 ihr Füllwasser vollständig abgegeben haben und die Austrocknung auf die Zellwände übergreift. Ihr.Mechanismus hängt daher aufs engste mit der fortschreitenden Schrumpfung der Zellmembranen zusammen. Bei Staubbeuteln, sowie bei Farn-, Schachtelhalm-, Selaginella- und Lebermoossporangien ist dagegen von verschiedenen Seiten konstatiert worden, dass die Lumina ihrer dynamischen Zellen mit Zellsaft noch ganz erfüllt sind, oder gar anscheinend ihr lebendes Protoplasma und unveränderte Zellkerne noch ent- halten, nachdem diese Behälter bereits aufgesprungen und die Aus- trocknungsbewegungen der getrennten „Klappen“ weit vorge- schritten sind. Unter solchen Umständen sind selbstverständlich auch die den Zellsaft umschließenden Membranen noch reichlich imbibiert; die erwähnten, durch den Wasserverlust hervorgerufenen Krümmungen können somit nicht auf der Membranschrumpfung beruhen. Es sind hier ganz andere Betriebskräfte vorhanden, unter denen die Adhäsion des Zellsaftes an der umschließenden Wandung und seine eigene Kohäsion eine Hauptrolle spielen. Wenn der flüssige Zellinhalt nämlich Wasser in Dampfform an die Atmosphäre abgibt, büßt er mehr und mehr an Volum ein und muss sich daher entweder von der Zellwand ablösen bezw. in sich selbst zerreißen, wenn diese Wandung fest genug gebaut ist, um ihre Form und die ursprüng- liche Größe des umschlossenen Zellraumes zu wahren; oder Zellsaft und Protoplasma bleiben an der Membran haften und ziehen sie beim Wasserverlust in Falten hinter sich her, ins Zellumen hinein, falls der Widerstand der Wand nicht groß genug ist, um die An- ziehung der flüssigen Teilchen zueinander (und zur Wand) zu über- winden. Eine derartige Kohäsionswirkung des Wassers!) wurde 1897 yon Schrodt und von mir zunächst bei Farnsporangien aufgefunden. Kamerling, der ihre. allgemeinere Bedeutung für zartwandige Pflanzengewebe zuerst erkannte, hat 1898 für derartige Einrich- tungen den Namen „Kohäsionsmechanismen“ vorgeschlagen und sie von den vorher besprochenen „Schrumpfungsmechanismen“ scharf geschieden. Seit jener Zeit habe ich mich nun bemüht, einerseits die allgemeinen Bedingungen der Kohäsionsleistungen des Wassers in der Pflanze nach verschiedenen Richtungen hin physikalisch zu klären, anderseits eine Reihe von Spezialfällen auf ihren Ko- häsionsmechanismus durch möglichst eingehende anatomische und physikalische Untersuchungen zu prüfen. Im nachfolgenden Berichte soll nun in den Abschnitten II und III zunächst eine eingehendere Charakteristik der Schrumpfungs- 1) Die Kohäsion des Wassers ist, wenn dasselbe durch Adhäsion an eine be- nachbarte Wandung verhindert wird, sich zu feinen leicht zerreißbaren Fäden aus- zuziehen, weit größer als der Laie gewöhnlich annimmt und kann mehrere Atmo- sphären übersteigen. 42* 660 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. und Kohäsionsmechanismen im allgemeinen gegeben werden, wobei wir uns an einfache, leicht auszuführende Versuche halten und die Auseinandersetzung über die verschiedenen anatomischen Kennzeichen, aus denen wir die speziellen Konstruktionspläne er- schließen können, oder über verschiedene Wege, auf denen die Natur zum Ziele gelangt, an passend gewählte Beispiele knüpfen. In den beiden folgenden Abschnitten IV und V mögen dann noch einige weitere Einzelfälle angefügt werden, um zu illustrieren, in welcher Mannigfaltigkeit und, man möchte sagen, mit welcher genialen Kunst die erwähnten Hilfsmittel von der Pflanze in bio- logischem Interesse verwertet werden. Übrigens hoffe ich, dass die mitzuteilenden Erfahrungen auch über den beschränkten Rahmen der „pflanzlichen Ingenieurkunst“ hinaus und zwar namentlich für die Theorie der Quellungserschei- nungen organischer Körper überhaupt von Interesse sein werden. Während nämlich die Eigenart der Schrumpfungsvorgänge in den Membranen bis in Einzelheiten hinein mit Nägeli’s micellarer Auf- fassung der Quellung in Einklang steht, wonach diese auf dem Auseinanderdrängen der kleinsten voneinander isoliert ge- dachten festen Teilchen (Micelle) durch das eindringende Wasser beruhen soll, liefern die Vorgänge, die sich in den Kohäsions- mechanismen abspielen, ein ausgezeichnetes Vergleichsmaterial für Bütschli’s Vorstellung, dass die organischen Substanzen durchweg einen wabenartigen Bau besäßen und das Quellungswasser in die vorgebildeten Hohlräume dieser Waben aufnähmen, die beim Aus- trocknen in ähnlicher Weise zerknittert werden und bei neuem Wasserzutritt in gleicher Weise wieder aufschwellen sollen wie die dynamischen Zellen jener Mechanismen. Wir kommen auf diese Frage zurück, wenn erst die Physik der Kohäsionsvorrichtungen eingehender erklärt worden ist (s. S. 677). II. Allgemeine Charakteristik der Schrumpfungsmechanismen. a) Ihr wichtigstes dynamisches Bauprinzip. Wir kennen eine Anzahl von Gewächsen, die ihre Samen- gehäuse bei feuchter Witterung öffnen, bei eintretender Trocken- heit aber wieder abschließen, ihre Samen somit nur während der Regenzeit entlassen. Es sind dies namentlich Bewohner von Land- strichen, in denen lange Perioden der Dürre durch kurze Regen- perioden unterbrochen werden (wie der syrisch-arabischen Wüste, der Hochflächen Südafrikas u. s. w.). Unter solchen Umständen kann es der Pflanze von Vorteil sein, wenn sie ihre Samen vor dem Versinken in tiefe Spalten des von Trockenheit zerklüfteten Bodens oder vor der Entführung nach Orten, die für die Vegetation ungeeignet sind, durch heftige Stürme, schützen und sie erst zu einer Zeit freigeben, wenn sie sich an Ort und Stelle rasch zu ent- Fr Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 661 wickeln vermögen. Eine solche Einrichtung treffen wir z. B. bei den Eisgewächsen (Mesembryanthemum) Südafrikas, bei der Jericho- rose der nordafrikanischen und westasiatischen Einöden u. a., merk- würdigerweise aber wenigstens in gewissem Grade auch bei einigen Bewohnern unserer Flora. Diese lassen ihre Samenbehälter näm- lich zwar beim Austrocknen aufspringen, öffnen sie recht weit aber erst bei nachfolgender Benetzung. Die Abbildung eines solchen Falles liefert unsere Fig. 25. Ascherson hat diese Erscheinung als Hygrochasie bezeichnet. Wie in der Einleitung erwähnt worden ist, haben die Phanerogamen meist xerochastische Samenkapseln, die, beim Austrocknen aufspringend, sich bei Regenfällen wieder schließen. Offenbar machen sich diese Pflanzen den Umstand zu- nutze, dass die Samen in trockenem Zustande durch Windstöße eine weitere Verbreitung finden können, als, wenn sie durch Wasserdurchtränkung spez. schwerer geworden wären oder gar aus den geöffneten Kapseln durch den Regen ausgewaschen und gleich an Ort und Stelle auf den Erdboden gespült würden. Im Zusammen- hang hiermit steht unzweifelhaft auch der Umstand, dass die Samen- behälter, wenn sie ihre Samen nicht selbsttätig ausschleudern, ge- wöhnlich so gestaltet und gerichtet oder die Samen so geformt sind, dass diese nach dem Aufspringen ihrer Gehäuse nicht „von selbst“ herausfallen, sondern erst durch Windstöße, vorüberhuschende Tiere u. s. w. herausgeschüttelt werden. Zum Belege hierfür sei nur daran erinnert, dass die Kapseln von Glockenblumen (Cam- panula), die sich bei der Reife mit drei Poren öffnen, wenn sie steil aufrecht gestellt sind, diese Poren am apikalen Ende tragen, am basalen Ende dagegen, wenn sie zur Reifezeit niecken. _ Wir dürfen es also als eine für die Pflanze im allgemeinen vorteilhafte Einrichtung betrachten, dass das Aufspringen ihrer Früchte erst dann beginnt, wenn der Feuchtigkeitsgehalt der Um- gebung soweit gesunken und die Austrocknung der Frucht- und Samengewebe soweit gestiegen ist, dass selbst die Zellmembranen ihr Imbibitionswasser abgeben müssen. Ehe man über das Zu- standekommen der „hygroskopischen Krümmungen“ hierbei genauere Untersuchungen angestellt hatte, schrieb man dieselben meist dem ungleichen Wasserreichtum, der verschiedenen „Quellungsfähigkeit“ zweier antagonistischer Gewebezonen zu. Indem die wasserreichere Schicht bei dem Austrocknen mehr an Volum verlöre als die andere, sollten die Kontraktionsdifferenzen entstehen, die das Aufspringen der Trockenfrüchte zur Folge haben. Diese Auffassung hat sich aber nur in geringem Umfange bestätigt. Denn eine erhebliche Differenz im Wassergehalte antagonistischer Membranen ist vielfach nicht nachzuweisen oder nach dem Ergebnis eingehender Prüfung sogar direkt ausgeschlossen. Die Natur benutzt vielmehr zur Er- zielung der nötigen Kontraktionsdifferenzen gewöhnlich eine be- 6652 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. merkenswerte Eigenschaft der meisten Zellmembranen, nämlich die, dass sie nicht isotrop sind. Diese Anisotropie erstreckt sich nicht nur auf optische, Wärmeleitungs- und Festigkeitsverhältnisse, sondern auch auf die Quellungs- und Schrumpfungsmaße nach verschiedenen Richtungen hin. Jede solche Membran hat eine Richtung, in der sie am stärksten schrumpft und quillt, ferner eine zu der vorigen senkrechte, in der das Maß der Schrumpfung und Quellung am geringsten ist und eine dritte, zu beiden vorigen normal gerichtete mit einem mittleren Betrag der Verkürzung oder Verlängerung. Es bedarf nur einer ungleichen Orientierung dieser Hauptschrumpfungs- und Quellungsachsen in antagonistischen Mem- branen oder Membranlamellen, um trotz substantieller Identität derselben intensive Trockenkrümmungen zu erzielen. In der ökonomisch-rationellen Anordnung dieser Schrumpfungsachsen liegt nun das hauptsächliche, die Struktur der dynamischen Membranen bestimmende und ihre Formänderungen beherrschende Bauprinzip der Schrumpfungsmechanismen. b) Einfache Versuche über die Tragweite dieses Bauprinzips. Nachdem ich 1. J. 1891 die Formänderungen von Plattensystemen mit verschiedenartig gekreuzten Schrumpfungsachsen mathematisch abgeleitet hatte, glückte es mir auch, diese Folgerungen an Doppel- platten aus Lindenbast zu bestätigen. Sehr bald fand dann J. Ver- schaffelt, dass zur Herstellung geeigneter solcher Doppelplatten gewöhnliches Papier genüge. Auch dieses ist nämlich infolge seines Herstellungsverfahrens anisotrop, und zwar liegen die Achsen der stärksten und schwächsten Flächenquellung und -schrumpfung den Rändern der Papierbogen parallel. Von dieser Anisotropie kann man sich leicht überzeugen, wenn man z. B. zwei rechteckige Streifehen linierten Briefpapiers, wie in Fig. 1a und ce, parallel und senkrecht zu den Linien geschnitten, auf eine Wasserfläche legt. Man sieht bald, dass sich dieselben nach Art der Fig. 1b und d aufwärts krümmen. Das eine nimmt die Form einer Rinne an, das andere nimmt einen Anlauf, sich spiralig . einzurollen. Diese Formänderungen rühren davon her, dass sich die Unterseite des Papiers mit Wasser imbibiert, während die Oberseite noch trocken ist, und dass sie sich dabei etwa in der Richtung der Lineatur erheblich weniger ausdehnt als senkrecht dazut). Daher 1) Nachträgl. Anm. Nach mündlicher Mitteilung des Herrn Dr. P. Klemm hängt die Anisotropie des Papiers mit der Lagerung zusammen, welche die Fäserchen des Papierbreis bei der Fabrikation annehmen. Diese ordnen sich nämlich größten- teils annähernd parallel zueinander in der Richtung, in der die breiige Masse be- wegt wird. Nach dem Trocknen ist senkrecht zu diesen Fäserchen, also quer zur Längsrichtung der Papierbahnen, die Quellung am größten, die Zugfestigkeit dagegen Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 663 verflachen sich die Krümmungen von selbst wieder, wenn sich der Streifen gleichmäßig durchtränkt; rascher geschieht dies natürlich, wenn man ihn untertaucht. Nachdem wir uns so von der, Anisotropie unseres Papiers überzeugt haben, versuchen wir nunmehr, die Verhältnisse der pflanzlichen Schrumpfungsmechanismen durch Paare zusammen- geklebter Papierstreifen nachzuahmen. Zu diesem Zwecke durch- tränken wir zwei Papierrechtecke von gleicher Form, aber ungleicher Lage der Quellungs- und Schrumpfungsachsen (der Lineatur) durch sofortiges Untertauchen erst ganz mit Wasser, kleben sie auf- einander und lassen sie dann, frei an einer Nadel aufgehängt, aus- trocknen. Das erste Streifenpaar sei so geschnitten, wie es Fig. 1a und c zeigen. Beim Trockenwerden wird sich ce in der Längsrichtung, a in der Quere stärker zusammenziehen; die erstere Kontraktion wird also auf eine Längskrümmung nach Art von Fig. 1d, die zweite auf eine Querkrümmung nach Analogie von Fig. 1b, aber nach der entgegengesetzten Seite hinarbeiten. Nun ist aber die Fig. 1. Stücke von Briefpapier auf Wasser gelegt, um ihre .ungleichmäßige Ausdehnung bei Imbibition zu zeigen. Die Linien auf den Rechtecksflächen geben die Richtung der ursprünglichen Linierung des Papiers an. physikalische Tatsache zu beachten, dass bei schmalen Komplexen antagonistischer Doppelplatten die Längskrümmung durchweg vor- wiegend zur Geltung kommt. Daher tritt an unserem getrockneten Streifenpaar hauptsächlich die spiralige Einrollung nach Art der Fig. 1 d in die Erscheinung. Gewöhnlich lässt sich aber mindestens stellenweise auch die entgegengesetzte Querkrümmung deutlich wahrnehmen). Diese Anordnung der Quellungsachsen ist nun in der Natur bei Trockenfrüchten und Hüllblättern derselben ungemein am kleinsten. . Die Verhältnisse liegen also ähnlich denen, die die Micellartheorie in den natürlichen Pflanuzenmembranen annimmt. 1) Ist der Klebstoff nicht ganz homogen, oder ist er ungleichmäßig aufgetragen, oder ist während des Verklebens beim Andrücken das Papier in einer Richtung besonders gezerrt worden, so treten an den getrockneten Streifen Unregelmäßig- keiten auf, die aber die Hauptkrümmungen selten ganz verdecken. 664 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. verbreitet und wird meist benutzt, wenn eine Längskrümmung in einer Vertikalebene hervo rgebracht werden soll. An den ge- krümmten Geweben kann man aber in diesen Fällen sehr häufig auch die entgegengesetzte Querkrümmung wahrnehmen; der beste Beweis dafür, dass hierbei nicht Differenzen der Quellbarkeit: sondern die Kreuzung der .Quellungsachsen die Hauptrolle spielen. Stellen wir uns nunmehr nach Anleitung von Fig. 2a und b mehrere andere Streifenpaare her, bei denen die Linierung jedesmal nur auf einem der verklebten Rechtecke einem Rande parallel, auf dem anderen dagegen schräg dazu verläuft!). Diese Schrägstellung hat zur Folge, dass die Tape der Hauptkrümmungsebenen nicht Fig. 3. Zei / Mh 17 M “ u Fig. 2. a und b zwei Paare von Rechtecken aus Briefpapier, die nass aufeinander- geklebt sind. Linierung asymmetrisch. Die starken Linien gehören wie durchweg auch bei späteren Figuren dem vorderen, dem Beschauer am nächsten liegenden Liniensystem an. c ein solches Paar nach dem Austrocknen gewunden. Fig. 3. a Zwei aufeinandergeklebte Papierblätter mit symmetrischer Linierung. b Die Platte durch Austrocknen tordiert. mehr dieselbe bleibt, wie im vorigen Falle, sondern ebenfalls zu den Streifenrändern schräg gerichtet sind. Die Einrollung wird daher aus einer spiraligen zu einer schraubigen (s. Fig. 2c). Der Streifen wird nach dem Trocknen, je nach der Kome der Linierung zu den längeren Rechtecksseiten, links oder rechts a sein, in- dem ie Längskrümmung, wie oben gesagt, est Liegen dagegen beide hs schräg zu den Rechtecks- seiten, jedoch wie in Fig. 3a symmetrisch zu dendeiken, so kann theoretisch keine der an Krümmungen überwiegen: nach dem Austrocknen sind zwei gegenüberliegende Zipfel nach vorn, die beiden anderen nach hinten gebogen (Fig. 3b). Die Formänderung 1) Die punktierten Linien gehören in der Figur der hinteren Platte, die aus- gezogenen der vorderen an. EN Br Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 665 hat den Charakter der Torsion angenommen. Ist die Symmetrie in der Lage der Schrumpfungsachsen keine so vollkommene wie in Fig. 3a, so entstehen Zwischenformen zwischen den Fig. 2c und 3b, die je nach dem Grade der Asymmetrie mehr den Typus der schraubigen Windung oder der Torsion tragen (vgl. die späteren Bie. 6d u. e; 22, e, f;/23b,.c, d, e). c) Die mikroskopischen Kennzeichen der Schrumpfungsachsen. Wir haben soeben erfahren, wie alle in der Natur vorkommenden hygroskopischen Formänderungen, sowohl ebene Krümmungen als auch Windung und Torsion, durch geeignete Kreuzung der Schrumpfungsachsen hervorgebracht werden können. Bei unserem Papier war die Lage dieser Achsen sofort aus der Linierung zu er- sehen. Es fragt on ob uns auch die Natur so bequeme Mittel in die Hand gibt, eh ‚die wir uns über die Richtung der Schrumpfungs- achsen in Zellmembranen leicht orientieren können. Dies ist aber in der Tat vielfach der Fall. Als Kennzeichen dieser Art dienen uns teils Eigentümlichkeiten der anatomisch erkennbaren Membran- struktur, teils die Lage der die Wand durchsetzenden Poren, teils die Richtung der optischen Achsen, die aus der Untersuchung im polarisierten Lichte erhellt. Die optischen Achsen der Zellmembranen fallen nämlich im allgemeinen nach Lage und Größenabstufung mit den Achsen des „Schrumpfungsellipsoids“!) zusammen. Sind die Poren einer Membranfläche nicht kreisförmig begrenzt, sondern einseitig gestreckt, so liegt in der Längsrichtung der Porenmündungen die Achse der geringsten Schrumpfung, senkrecht zu ihr zieht sich die Membranfläche beim Weasserverlust am stärksten zusammen, und noch stärker ist gewöhnlich die Kontraktion der Membran senkrecht zu ihrer Flächenausdehnung, d. h. in radialer Richtung. Wenn dickere Membranen aus einzelnen schalenförmig übereinander- gelagerten Schichten zusammengesetzt erscheinen, so gilt von diesen dasselbe, was soeben über die stärkste Kontraktion der Gesamt- membran gesagt ist: Die Schrumpfung senkrecht zu den Schicht- flächen ist überall größer als längs denselben. In manchen Fällen kann man aber in den mikroskopischen Bildern von Membranen nicht bloß Schichtlinien, sondern noch. ein anderes Liniensystem erkennen, welches die Schichten durchsetzt und als „Streifung“ bezeichnet wird. Auch die Richtung dieser Streifenlinien zeigt in der Flächen- ansicht die Achse der geringsten Schrampfung an, senkrecht zu diesen Streifen schrumpft die Membran meist recht erheblich. Es ist hier nicht der Ort dazu, um ausführlicher darüber zu berichten, wie diese Einzelheiten durch Nägeli, Schwendener, A. Zimmer- 1) D. h. desjenigen Ellipsoids, das aus einem kugelförmigen Stück der natür- lichen imbibierten Membran beim Austrocknen entsteht, 666 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. mann u. a. nach und nach entdeckt worden sind, oder wie man ihren Zusammenhang theoretisch zu deuten gesucht hat. Not- wendiger dürfte es sein, die Bedeutung der angeführten Ergebnisse an einzelnen Beispielen zu veranschaulichen. a) Orientierung durch Schichtlinien. Die Fig. 4a zeigt die aufgesprungene Kapsel unseres gemeinen Leinkrautes (Linaria vulgaris). Das Öffnen derselben ist erfolgt, indem sich rechts und links von der Scheidewand s einige Zähne abgelöst und nach außen und unten zurückgeschlagen haben. Es liegt also der Fall einer einfachen Längskrümmung vor. In Fig. 4b. ist ein Stückchen eines radialen Längsschnittes dargestellt, der durch das hierbei beteiligte Zellgewebe eines Zahnes geführt ist. Es besteht aus den längsgestreckten Zellen der Innenepidermis e und aus einer Lage tafelförmiger stark verdickter Zellen %, die in unserem Schnitt palliısadenartig gestreckt erscheinen. Ihre Verdickungsmasse kon- s Fig. 4. h \ Linaria vulgaris. a Trockene Kapsel. b Stück vom rad. Längschnitt aus einem Zahn. Die Krümmung wird durch die starke Kontraktion senkrecht zu den Schichtungslinien der Pallisadenzellen % hervorgerufen. trahiert sich beim Austrocknen in der Richtung o—u sehr bedeutend, während die Zellen e und die an sie anstoßenden Wände ww der Zellen k in dieser Richtung nur sehr wenig schwinden. Verfolgt man nun das Streichen der Schichtlinien, indem man sich daran erinnert, dass die Schrumpfung senkrecht zu ihnen durchweg er- heblich größer ist als längs derselben, so wird sofort verständlich, warum sich der Schnitt Fig. 4b und somit auch jeder Zahn von Fig. 4a beim Austrocknen so krümmen muss, dass die außen- liegenden Zellen A die Konkavseite einnehmen. Da die Zellen Ah, wie bereits oben gesagt, ın Wirklichkeit nicht pallısaden-, sondern tafelförmig, und Dr "Tafeln an der aufrecht gedachten Kapsel horizontal übereinander gelagert sind, so chen ın den Zähnen die Verdickungsschichten dieser Zellen ebenfalls großenteils horizontal. So kommt es, dass darın nur eine Längskrümmung und nicht zu- gleich eine Querkrümmung nach außen eintritt. ß) Orientierung durch Streifenzüge. Fig. 5a stellt die Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 667 mit vier Zähnen aufspringende Kapsel einer wilden Nelke (Dianthus prolifer) dar. Das Gewebe, auf dem die Auswärtskrümmung dieser Zähne beruht, ist hauptsächlich die Außenepidermis, von der uns Fig. 5b ein Querschnittsstück darstellt. Wir finden auch hier eine Zellwand, und zwar die äußere, außerordentlich massig verdickt und ebenfalls von Schichtlinien durchsetzt, die uns hier aber nur insofern interessieren, weil ıhr Verlauf der normale, d. h. fast überall vorkommende ist und ein Vergleich zwischen Fig. 4b und 5b die eigenartige Abweichung der Schichtenbildung in Fig. 4b von der gewöhnlichen deutlich hervortreten lässt. Für den Schrumpfungsmechanismus von Dianthus maßgebend sind die breiten Streifenbänder, die in der Flächenansicht der Außenepidermis (s. Fig. 5c) quer durch die Zelle laufen und scheinbar isoliert sind, die aber, wie der Radialschnitt Fig. 5d lehrt, durch andersartige Zwischensubstanz miteinander verbunden sind und mit dieser ver- eint die dicke Außenwand der Epidermis bilden. Sie setzen jedoch » Dianthus prolifer. a reife Kapsel. b Querschnitt der Außenepidermis eines Zahns. c Flächenansicht derselben von außen mit Streifenbändern. d Rad. Längsschnitt mit durchschnittenen Streifen, die an der Grenzzone z absetzen. vor dem Lumen ab (Fig. 5d) und werden von diesem durch eine gewellte Grenzlamelle x getrennt. Diese schmale Lamelle bildet im Verein mit der gegenüberliegenden dünsen Innenwand z beim Austrocknen die Widerstandszone gegenüber der äußeren gestreiften Wandmasse, deren Schrumpfung sich, wie oben gesagt, hauptsäch-. lich senkrecht zu den Streifen, d. h. in der Längsrichtung des Zahnes vollzieht und diesem daher‘ die in Fig. 5 a gezeichnete Längskrümmung nach außen aufnötigt. y) Orientierung durch Streifen- und Porenlage — Fig. 6a führt uns ein trockenes Teilfrüchtchen eines sogen. Zimmer- geraniums (Pelargonium sp.) vor Augen. Der untere Teil f des- selben birgt den Samen fest umschlossen. Dieses Samenfach ist oben in eine lange schmale „Granne“ verlängert, die, ursprünglich ‚annähernd gerade gestreckt, beim Austrocknen eine schraubige Windung erleidet. Die Innenseite der Granne ist mit vielen seidigen 668 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen, langen Haaren besetzt, die ihr ursprünglich eng anliegen, die sich aber beim Austrocknen abspreizen und zu einer ungemein zierlichen und regelmäßigen Schraubenfläche ordnen. Indem die Haare ın dieser mehrfach gewundenen Fläche dicht nebeneinander stehen, bilden sie einen vorzüglichen Fallschirm. Da ursprünglich stets fünf solcher Früchtehen einer gemeinsamen Mittelachse angelagert sind und da ihre Ablösung von derselben von unten her beginnt, so hängen die gewundenen Grannen zuletzt nur noch durch ihre obersten feinen Endigungen mit der Achse zusammen. Wenn nun ein stärkerer Windstoß unter den Fallschirm eines Früchtchens bläst, so löst es sich völlig los und wird vom Luftzuge entführt. Aus dem Gesagten erkennen wir, welche biologische Bedeutung die schraubige Windung der Granne hat. Sie bewirkt nicht nur das Ablösen des Früchtchens von seiner Mittelsäule, sondern bildet 6d Pelargonium sp. a Reifes trockenes Teilfrüchtehen. b Flächenansicht der Außen- epidermis seiner Granne mit Querporen in der äußeren und Schrägstreifen in der inneren Wandpartie. c Querschnitt davon. d Abgezogene Außenepidermis der Granne in toto, durch das Trocknen selbständig gewunden. e Isolierte Epidermis- zelle durch Austrocknung gewunden. auch ein geeignetes Gerüst für den Flugapparat. Sie soll aber vielfach außerdem noch dazu dienen, um das Fruchtfach f mit dem eingeschlossenen Samen in die Erde zu bohren. Darüber aber erst später Genaueres. Zunächst wollen wir hören, wie die Schraubenkrümmung zustande kommt. Fig. 6b zeigt ein Stückchen Außenepidermis, das von der Granne abgezogen ist, vergrößert von der Fläche; Fig. 6c einen Querschnitt durch dasselbe. Wie wir sehen, hat diese Epidermis wiederum eine sehr verdickte Außenwand, die einige Schichtlinien aufweist. Sie ist von Poren durchsetzt, deren Mündungen an- nähernd queroval sind (Fig. 6b). Die in Fig. 6b unten oder hinten liegend gedachte Innenwand ist dagegen durch ein System schmaler Schrägstreifen ausgezeichnet, die nach links ansteigen. Es bedarf Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 669 nur eines Vergleichs mit dem Schema der Fig. 2a, um zu erkennen, dass die Struktur der Fig. 6b beim Wasserverlust zu einer eben- solchen Windung führen muss, wie sie in Fig. 2c dargestellt ist. In der Tat braucht man die abgezogene Grannenepidermis nur austrocknen zu lassen, um dies zu bestätigen. Sie rollt sich dann ganz alleın für sich in zahlreichen Windungen ein (s. Fig.6d). Ja selbst die isolierten Einzelzellen unterliegen einer solchen (s. Fig. 6 e und vgl. sie mit Fig. 2e). Aber mit diesem Mechanismus hat sich die Natur noch nicht zufrieden gegeben. Auch der von der äußeren Epidermis befreite Grannenrest erfährt beim Austrocknen noch Linkswindungen, die Fig. 7. Pelargonium sp. a Von der Außenepidermis befreite Granne, nach dem Austrocknen ebenfalls, wenn auch viel schwächer gewunden als 6d. b Schema des Aufbaues der Granne. e Epidermis, p Parenchym,:f,, fs, fs Zonen von Faserzellen mit eingezeichneter Porenlage. Fig. 8. Siülene otites. Kapselzahn; Stück eines rad. Längsschnitts durch die Außen- epidermis mit Strukturschema nach dem Ergebnis der optischen Untersuchung. Die Querstreifung ist auch anatomisch ausgeprägt. oft noch erheblich stärker sind, als Fig. 7a dies von einem solchen „Grannenrest* darstellt. Die Ursache dieser Krümmung soll an Fig. 7b erläutert werden. Diese Figur ist schematischer Art und soll den Aufbau der Granne aus ihren hintereinander gelegenen Zellschichten veranschaulichen‘). Die vorderste Lage (e) soll die Außenepidermis vorstellen; die dunklen starken Linien auf ihr kennzeichnen die Porenlage auf ihrer vorderen, dem Beschauer zu- gekehrten Wand, die zarteren schrägen Linien den Streifenverlauf ihrer abgekehrten Innenwand. Entsprechend sind die kurzen Linien der Lagen f,, f, und /, zu verstehen. Diese bestehen nun aus 1) Diese sind in der Figur desto mehr gekürzt, je mehr sie vorne liegen. 670 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. verdickten Faserzellen und sind durch Parenchym p von der Epidermis geschieden. Innerhalb der Zonen f, und f, ist die Struktur der Vorder- und der Hinterwand jeder Faser wiederum wie bei der Außenepidermis verschieden; jedoch wird die Lage der Schrumpfungsachsen auf der Hinterwand nicht mehr dureh auffällige Streifenlinien, sondern ebenfalls durch die Orientierung der Porenmündungen gekennzeichnet. Die kurzen Striche deuten also in den drei Zonen f,, fs, und f, die Längsachse dieser Poren- mündungen an, wobei sich die zarteren wieder jedesmal auf die hintere Wand jeder Faserzelle, die kräftigeren auf die Vorderwand der- selben Zelle beziehen. Wie die Figur zeigt, laufen die Poren in der Lage f, auf den Wänden der Fasern gleichmäßig, nämlich steil-längs. Die Faserzonen f, und f, erinnern nun in ihrer Struktur durchaus an die Schemata Fig. 2a und b. Jede einzelne ihrer Fasern windet daher, auch für sich isoliert, beim Austrocknen nach Art der Fig. 2 c. Die Zone f, bietet offenbar einen verstärkten Widerstand gegenüber den Krümmungen, die durch e, f, und f, hervorgebracht werden würden. (Man beachte, dass die Außenepidermis für sich allein [Fig. 6 d] weit mehr Windungen erleidet, als das ganze Organ [Fig. 6a]). Eine Beschränkung der Zahl der Windungen. ist viel- leicht für die Fallschirmwirkung erwünscht. — Was nun diesen Schirm selbst noch angeht, so möge hervorgehoben werden, dass das Aus- spreizen seiner Haare, die ja anfangs der Granne eng angeschmiegt sind, nicht etwa durch die Windung der Granne allein zustande kommt. Vielmehr krümmt und dreht sich jedes einzelne Haar mit seiner Basis selbständig derart, dass alle miteinander eine regelmäßige breit ausladende und schwach ansteigende Schrauben- fläche formieren. Auch diese Krümmungen sind auf die Membran- struktur der Haare zurückzuführen. Es würde jedoch zu weit führen, wenn wir auch dies hier noch auseinandersetzen wollten. ö) Orientierung durch Streifenlage und optisches Ver- halten. Im Anschluss an Fig. 5d ıst auf S. 667 die Innenzone x der äußeren Epidermiswand ın den Zähnen der Kapsel von Dianthus prolfer als Widerstandslage gegenüber der Längskontraktion der gestreiften Hauptmasse derselben Zellwandung bezeichnet worden. Hier soll nun nachgeholt werden, wie man in Fällen, wo weder Schichtung, noch Streifung, noch Porenlage über die Lage der Schrumpfungsachsen Fingerzeige geben, sich über diese Aufschluss verschafft. Wir müssen uns allerdings aus Raummangel auf eine kurze Andeutung des Verfahrens beschränken. Die Fig. 8 stellt ein Stück Zahnlängsschnitt aus eimer anderen Nelkenkapsel (Silene otites) dar. Die gezeichnete Zellreihe gehört wieder der Außen- epidermis des Zahnes an. Die queren Strichel in der Außen- membran derselben sollen schematisch die Lage der Streifen ver- anschaulichen, die hier ebenso auftreten wie bei Dianthus (Fig. 5.d). Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 671 Die Längsstrichel in den Wandpartien, die das Lumen einfassen, geben dagegen die Richtung der schwächsten Schrumpfung dieser Regionen an, wie sie aus den Färbungen derselben bei der Prüfung im polarisierten Licht (in Übereinstimmung mit direkten Messungen der Schrumpfungsbeträge an entsprechenden voneinander isolierten Wandstücken)!) erschlossen worden sind. Diese Übereinstimmung ist übrigens auch in zahlreichen anderen Fällen festgestellt wor- den und das optische Verhalten der Membranen ist daher als ein zuverlässiges Hilfsmittel unserer Untersuchungen zu betrachten. Auch die Querstruktur der Außenzone unserer Fig. 8 würde sich aus ihren optischen Achsen sofort ergeben haben, wenn die Streifung nicht vorhanden wäre. Trägt man nun entweder nach dem anato- mischen oder dem optischen Befund die Lage der Achsen ge- ringster Schrumpfung in eine mikroskopische Zeichnung durch Strichel ein, ebenso wie in unserer Fig. 8, so lässt sich aus einem solchen Schema, wie Fig. 8 lehrt, die Ursache der hygroskopischen Bewegungen gewöhnlich mit einem Blick überschauen. III. Allgemeine Charakteristik der Kohäsionsmechanismen. 1. Vorgänge bei der Wasserabgabe. a) Kohäsionszug bei safterfüllten Geweben. Macht man Schnitte durch lebende aber gewelkte Blätter und Blattstiele, Kraut- stengel und junge Schösslinge von Holzgewächsen, fleischige Wurzeln, Spargelschosse, getrocknete Pflaumen und Feigen u. s. w., so findet man je nach dem Grade des Wasserverlustes die Zell- wände derselben mehr oder weniger gefaltet und zerknittert, die Zellräume aber völlig luftfrei. Diese Zerknitterung tritt auch ein, wenn man diese Organe ım Vakuum welken lässt?). Der Luft- druck kann also die Ursache ihrer Volumverminderung nicht sein; eine andere Kraft, die diese Wirkung ausüben könnte, als der Kohäsionszug des schwindenden Zellsaftes, ist aber bis jetzt nicht bekannt. b) Verhalten der zerknitterten Gewebe beim völligen Austrocknen und Absterben. In allen den obengenannten Fällen bleibt die Zerknitterung der Membranen auch nach dem Absterben der Gewebe und dem Vertrocknen ihrer Zellwände be- stehen. Man findet sie daher z. B. auch in trockenem Dörrobst, 1) Dieser Schluss wird endlich auch dadurch bestätigt, dass Schnitte durch die äußerste Zellwand von Nelkenkapseln sich nicht selten beim Austrocknen ver- schieden verhalten, je nachdem sie quer oder längs geführt sind. Die Längsschnitte werden nämlich, entsprechend der Zahnkrümmung, außen konkav; bei den Quer- schnitten wird dagegen die konkave Seite von der innersten Zone z der Wand eingenommen. 2) An künstlichen Zellhüllen, die aus Tierblase hergestellt sind, lassen sich diese Vorgänge leicht nachahmen. 672 Steinbrinck, Uber Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. wie Äpfel- und Birnenschnitzen, ebenso wie in Dörrgemüse. Sie kommt offenbar den zartwandigen Zellen, deren Membranen dem Kohäsionszuge des schwindenden Zellsaftes leicht nachgeben können, ziemlich allgemein zu. Sind die Zellhüllen nur teilweise zart und zum andern Teil durch Verdickungsmassen ausgesteift, so werden selbstver- ständlich hauptsächlich die dünneren Partien der Wandung einwärts gezogen, die stärkeren aber mehr oder weniger mitverbogen. Söllen also in den eigentlichen Kohäsionsmechanismen bei der Wasser- abgabe besondere biologisch wichtige Formänderungen eintreten, so raucht die Pflanze zur Erzielung der nötigen Öffnungsspannungen und -krümmungen von Organen oder Organteilen in den dynamischen Zellen nur die Dean in geeigneter Weise lokal stärker oder schwächer auszugestalten. Dies geschieht z. B. in den dyna- mischen Geweben der Antheren von Phanerogamen. a N Ib 9a Digitalis purpurea, Anthere. a Schema einer isolierten Griffzelle. b Tangential- schnitt in der Richtung «—f durch wassergesättigte ‚Griffzellen. ce Dasselbe Gewebe geschrumpfelt. d Querschnitt (von @ nach a) durch geschrumpfelte Griffzellen. In Fig. 9a ist eine einzelne solche Antherenzelle (eine sogen. „Griffzelle“) schematisch gezeichnet. Sie ist mit Verdickungsleisten besetzt, die auf der Innenwand i i zu einer Scheibe zusammen- fließen, an der entgegengesetzten, der Außenwand «aa, spitz endigen. Fig. 9b gibt einen in der Richtung a ß der Fig. 9a geführten Tangentialschnitt durch mehrere solcher nebeneinander liegender Zellen wieder, während diese Zellen noch mit Flüssigkeit gefüllt sind. Fig. 9c zeigt einige solcher Zellen, nachdem sie durch den Kohäsionszug zerknittert und endlich völlig ausgetrocknet sind. Die Fig. 9d endlich stellt einen in der Richtung von a nach ö (der Fig. 9a) geführten Schnitt durch drei nebeneinander liegender Griffzellen in trockenem Zustande dar. Die anstoßenden ebenfalls verbogenen Zellen e e gehören der Außenepidermis des Staub- faches an. (Weiteres über die Bauverhältnisse der Antheren siehe später.) N Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 675 c) Ursache des Ausbleibens der Zerknitterung im Trockenzustande. Es ist nicht auffällig, dass bei den dick- wandigen Zellen der vorher besprochenen Schrumpfungsmechanismen die Kohäsion des Zellsaftes nicht ausreicht, um den Widerstand der festen Wandung gegen die Verbiegung zu überwinden. Aber auch zartwandige Zellen trocknen häufig aus, ohne ihre Form wesent- lich zu verändern. Die Ursache dieser Formbeständigkeit ist in manchen Fällen noch unklar. Bei zarten Markgeweben wird die Zerknitterung manchmal ohne Zweifel durch den Widerstand des Holzmantels, der sie umgibt, verhindert. Dies trifft z. B. anscheinend für das Mark der Sonnenrose (Helianthus annuus) zu. Fig. 10 a ist ein Querschnitt durch das natürliche ausgetrocknete Mark derselben. Die Wände seiner Zellen sind, wie man sieht, trotz ıhrer Zartheit straff ausgespannt. Mit Hilfe der Luftpumpe lassen sich aber größere Prismen, die aus diesem Mark geschnitten sind, leicht und in kurzer Zeit völlig mit Wasser wieder durch- Fig. 10. 10b 10a Helianthus annuus (Sonnenrose), Mark. a Im natürlichen Trockenzustande. b Nach neuer Durchtränkung geschrumpfelt (stärker vergrößert). tränken. Werden diese Stücke dann, sei es ım Vakuum, sei es in freier Luft, wieder ausgetrocknet, so unterliegen ihre Zellen eben- falls der Zerknitterung, wie dies an einem Schnitt eines so be- handelten Stückes in Fig. 10b zu erkennen ist. In verschiedenen anderen Fällen rührt der Mangel intensiver Faltung der trockenen Zellhüllen davon her, dass diese beim Riss der die Zellräume erfüllenden Flüssigkeit, der bei zunehmender Wasserabgabe endlich eintritt, wie gebogene Stahlreifen elastisch zurückspringen. Wir können dies sehr bequem bei Farnsporangien beobachten, an denen die Kohäsionswirkung des schwindenden Zell- saftes daher zuerst entdeckt worden ist. In Fig. 11a sehen wir ein solches Sporangium von Polypodium vulgare noch geschlossen. In seiner Wandung fällt auf den ersten Blick eine Gruppe von etwa 13 Zellen auf, die einen Halbring (den sogen. Annulus) bilden. Von der Seite gesehen (wie in unserer Figur) erscheinen sie U-förmig verdickt; nur die Außenwand ist XXVL 43 6574 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. dünn, aber trotzdem zugfest. Wenn die Zellen bei der Reife Wasser aus ihrem Lumen an die Atmosphäre abgeben, so wird die dünne Außenwand einwärts gezogen. Hiermit ist aber notwendigerweise eine Streckung des Ringes verbunden, durch die .das zartere Ge- webe des Sporangiums zerrissen wird. Bei fortschreitender Wasser- abgabe kehrt sich die Krümmung des Annulus um (vgl. Fig. 11 b); diese Rückwärtsbewegung kann sogar soweit gehen, dass die beiden Enden o und x des Ringes fast bis zur Berührung genähert werden. Selbstverständlich ist dies aber nicht möglich, ohne dass die Seiten- wände jeder U-Zelle ebenfalls nahe aneinander rücken und ohne dass der Bogen der Innenwand, der sie verbindet, unter dem Zuge der tief eingestülpten Außenwand stark elastisch gespannt wird. Kann die Flüssigkeit, die die Zellen erfüllt und durch ihre Volum- abnahme jene Deformation verursacht hat, diesen Zug nicht mehr aushalten, so reisst sie plötzlich. Die Wände jeder Zelle springen, lle Farnsporangium von Polypodium. a Geschlossen. b Aufgerissen mit geschrumpfeltem Ring vor dem Abschleudern. e Nach dem Abschwellen der Sporen ausgetrocknet. (Annuluszellen von a und b noch wassergefüllt.) wie gesagt, wie stählerne Federn elastisch zurück und schleudern dabei die vorher schon bloßgelegten Sporen. weit hinaus. Die Form, in die der Ring zurückschnellt, ist ungefähr wieder die ur- sprüngliche der Fig. 11a. Durch die nachfolgende Austrocknung seiner Membranen wird er aber dann wieder etwas mehr gestreckt (vgl. Fig. 11 c). — Ein solches Zurückschnellen ist übrigens ein ver- hältnismäßig seltenes Vorkommnis. Wir kennen es noch von den schraubenförmig verdickten „Schleuderzellen* (Elateren) einiger Lebermoose und von Selaginella-Sporangien, die später noch be- sprochen werden sollen. 2. Vorgänge bei nachträglicher Wasserzufuhr. Sind Zellen durch Wasserverlust zerknittert und man führt ihnen wieder Wasser zu, so lässt sich sehr häufig beobachten, wie = Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. KoBäsionsmechanismen von Pflanzen. 675 sich ihre Falten wieder ausglätten und wie sich ihre ursprüngliche Form wieder herstellt. Hierauf beruht z. B. das Aufschwellen der Moospolster nach dem Regen, ja überhaupt die Wasseraufnahme der meisten Laubmoosblätter. Wir sehen ein Stück eines Moosblattquerschnittes von Mnium punetatum unter Weglassung des Protoplasmakörpers in Fig. 12 a ın wassergesättigtem Zustande, in Fig. 12b nach starkem Wasser- verlust vor uns. Im wasserarmen Zustande sind die Außenwände stark einwärts gezogen und auch die Seitenwände verbogen. Tritt aber Wasser wieder hinzu, so bedarf es oft keiner Minute, um die Form Fig. 12a wieder herzustellen, und nunmehr kann der vorher in Ruhe versetzt gewesene Protoplasmakörper seine Ernährungs- tätigkeit von neuem aufnehmen. Man dürfte geneigt sein, diesen Wasserzutritt auf Osmose zurückzuführen. Diese Auffassung widerlegt sich aber dadurch, dass sich längst abgestorbene und protoplasmafreie Zellen ebenso verhalten wie lebende und dass Fig. 12. ce a SAD STETT- 12b Laubmoos Mnium punetatum, Blattquerschnitt a durch das safterfüllte Blatt, b durch das geschrumpfelte Blatt. dies ferner nicht nur bei geschlossenen, sondern auch bei ange- schnittenen Zellen der Fall ist. Auch an eine Luftdruckwirkung ist dabei gedacht worden, jedoch vollzieht sich die pralle Wasser- füllung auch im Vakuum. Die Betriebskraft bei der Saugung ist somit sehr wahrscheinlich die Elastizität der verbogenen Zellwände im Bunde mit der Kohäsion des Wassers. Betrachten wir zunächst spezieller den Fall, wo die verbogenen Zellen noch mit Flüssigkeit (reinem Wasser, Zellsaft, Protoplasma) ganz erfüllt sind, so können wir uns den Vorgang ihrer Saugung folgendermaßen veranschaulichen. Wir nehmen einen starkwandigen, hohlen, mit einer Öffnung versehenen Gummiball, tauchen ihn mit der Öffnung nach oben unter Wasser und lassen ihn sich ganz da- mit füllen. (Etwaige zurückgebliebene Luftblasen treiben wir durch wiederholtes Pressen heraus.) Drücken wir ihn dann unter Wasser wieder etwa auf die Hälfte zusammen und entlasten ıhn darauf von dem Druck, so nehmen wir wahr, wie er sich im Wasser von 43% 676 Steinbrinck, Über Schrumpfungs-"u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. neuem rundet und prall wird. Wir sind kaum ım Zweifel darüber, dass die Ursache dieser Rundung seine Elastizität ist. Da aber an der Innenseite seiner elastisch nach außen bewegten in die ur- sprüngliche Form zurückkehrenden Wandung Wasser haftet und dieses sich von dem Nachbarwasser nicht losreißen kann, so wird in den sıch erweiternden Hohlraum des Balles hinein das Außen- wasser einfach hinter der Gummiwandung hergezogen, ohne dass ein Druck seitens der äußeren Luft zur prallen Füllung des Balles nötig wäre. Die Entfaltung des zusammengepressten Balles unter Neufüllung mit Wasser würde ın der Tat auch im Vakuum stattfinden und nur unterbleiben, wenn seine Elastizität nicht ausreichte. Die Schnellig- keit, mit der seine Entfaltung erfolgt, wird davon abhängen, wie rasch das Wasser nachfolgen kann, also wie weit die Öffnung ist. Vergleichen wir mit diesem Beispiel nun etwa den Annulus unserer Fig. 11b, den wir ebenfalls ın Wasser getaucht denken, so finden wir nur den einen Unterschied von Bedeutung, dass seine Ringzellen kein Loch haben, wie der Gummiball. Dafür ist aber die ganze Wandung und namentlich die dünne Außenwand wasserdurchlässig. Statt der einen Öffnung des Balles haben wir uns also nur unzählige viel feinere zu denken, um den Vergleich ziemlich vollkommen zu machen. Entsprechendes gilt aber auch für die Moosblätter und alle übrigen pflanzlichen Gewebe, die durch‘ Wasserverlust gefaltet, jedoch noch flüssigkeitsgefüllt sind. Sie werden um so rascher wieder anschwellen, je größer die Elastizität und die Durchlässigkeit ihrer Membranen ist. Das gleiche kann aber von den zerknitterten Geweben, die völlig trocken sınd, ebenfalls gesagt werden. Man muss nur an- nehmen, dass mit dem Zustande der Austrocknung ein solcher der Starre verbunden ist, der den Membranen ihre Geschmeidigkeit, d.h. den Substanzteilchen derselben die gegenseitige Beweglichkeit geraubt hat und daher auch ihre elastischen Kräfte gebannt hält. (Man denke an die Sprödigkeit und Starrheit von Stücken Schweins- blase, die man nach dem Durchfeuchten getrocknet hat, an die Festigkeit trockenen Leims, Gummis u. s. w., im Gegensatz zu der Geschmeidigkeit wassergesättigter Tierblase und der Beweglichkeit, gequollenen Leims und anderer Gallerten.) Die Imbibition erlöst die gefalteten Membranen aus ihrer Starre, sie gestattet ıhren Substanzteilchen wieder eine freiere Beweglichkeit und stellt so die ursprüngliche Elastizität der Gewebe wieder her. — Das zugeführte Wasser dringt aber nicht nur in die Membran, sondern kapillar auch zwischen die Wandfalten ins Zellumen ein und mit Hilfe dieses Wassers kann sich nun der elastische Zug der Membran auf das benetzende Außenwasser fortsetzen und somit wie in dem vorher besprochenen Falle auch ohne Mitarbeit des äußeren Luftdruckes saugend wirken. N Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. 677 3. Terminologie der besprochenen Kohäsionsvorgänge. Der im vorigen häufig gebrauchte Ausdruck: „Die Gewebe sind durch Wasserverlust (oder durch den Kohäsionszug) verbogen“ (ge- faltet, zerknittert), ist umständlich und lästig. Ich habe daher (in Anlehnung an den Ausdruck: „schrumpflige“ Äpfel) vorgeschlagen, statt dessen den kurzen Ausdruck „schrumpfeln“ zu wählen. Ge- webe sind hiernach „geschrumpft“, wenn ihre Volumverringerung auf dem Wasserverlust und der Kontraktion ihrer Membranen be- ruht; sie sind „geschrumpfelt“ zu nennen, wenn ihre Membranen unter dem Kohäsionszuge des schwindenden Wassers ın Falten gelegt sind und dies die Ursache der Gewebsverkürzung ist. Der Gegensatz vom „Schrumpfen“ ist „Quellen“. Als Gegensatz zum „Schrumpfeln“ habe ich „Schwellen“ oder „Entfalten* empfohlen. Zum Unterschiede von der „osmoti- schen Schwellung“ kann man unseren Vorgang genauer als „elastische Schwellung“ oder „elastische Entfaltung“ cha- rakterisieren. Bis dıe F rage nach .dem wahren Wesen der Quellung geklärt ist, scheint es mir jedenfalls großen Missverständnissen Vorschub zu leisten, wenn man unsere ee Schwellung auch als Quellung beaschnen und zwischen Schrumpfen und an nicht scharf unterscheiden wollte. (Schluss folgt.) Einige Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. Von Dr. Em. Rädl (in Prag). Vor drei Jahren habe ich eine größere Abhandlung über den Phototropismus der Tiere veröffentlicht!), in welcher ich eine Reihe, wie ich überzeugt bin, wichtiger Tatsachen und einige neue Hypo- thesen mitgeteilt habe. Ich habe dort auf verschiedenartige kom- pensierende Bewegungen bei den Insekten, Orustaceen und Mollusken hingewiesen, habe den Nystagmus bei den Insekten beschrieben, habe die Art erwähnt, wie die Raubinsekten ihre Beute bemerken und erhaschen, habe den Flug der Insekten in die Flamme analysiert, und glaube nachgewiesen zu haben, dass alle diese Erscheinungen Erscheinungen des Phototropismus sind und dass der Phototropismus der Tiere wesentlich dieselbe Erscheinung ist wie das Fixieren irgend eines Gegenstandes durch den Menschen und dass die sogen. kompensierenden Kopf- und Augenbewegungen, sowie der Nystagmus, Erscheinungen, welche bei den Wirbeltieren allgemein auf die Funktion der Bogengänge des inneren Ohres zurückgeführt werden, bei Insekten rein optisch verursacht sind, und habe daraus ge- folgert, dass man auch bei den Wirbeltieren streng unter den 1) Unters. über d. Phototropismus der Tiere. Leipzig, W. Engelmann, 1903. 678 Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. optischen und statischen Bedingungen unterscheiden muss, welche beide einen Anteil an der Hervorbringung jener Reflexe haben können. Es ist wohl, namentlich aus den Untersuchungen von J. S. Breuer bekannt, dass die kompensierenden Ki und Augen- bewegungen bei den Wirbeltieren auch dann bestehen bleiben, wenn der Bogengangapparat zerstört wurde, allen man ging über diese Tatsache stillschweigend über, und schrieb auch fernerhin jene Reflexe ausschließlich den Bogengängen resp. dem statischen Sinne zu. Ich freute mich nun, dass ich durch den Nachweis, dass die kompensierenden Bewegungen, der Nystagmus, die Manege-Be- wegungen, die Herabsetzung der Muskelspannung, überhaupt alle die Be welche auf die len der Wirbeltiere zurück- geführt werden, auch bei den Insekten vorkommen, welche nicht nur keinen Bogengangapparat, sondern auch keine Statoeysten be- sitzen!) und keine Reaktionen zeigen, welche auf das Vorhanden- sein eines anderen, noch unbekannten, auf den Zug der Schwerkraft reagierenden Sinnesorgans hinweisen würden, dass ich also durch den obigen Nachweis den Untersuchungen über die reflektorischen Augenbewegungen eine neue Richtung gegeben habe. Ich freute mich jedoch umsonst; keine meiner Beobachtungen wurde wider- legt, ich glaube, dass keine ‚auch nicht angezweifelt, auf eine Lücke in meiner Beweisführung wurde ich ebenfalls nicht aufmerksam gemacht, und trotzdem ist die von mir erhoffte Wirkung total aus- geblieben?). Offenbar werden daran Mängel meiner Arbeiten eine große Schuld haben; ich glaube jedoch, dass nebstdem auch die Tatsache gewirkt hat, auf die man immer und immer von neuem stößt, dass man rimlich die Untersuchungen an Wirbellosen in der Physiologie der Wirbeltiere missachtet. Trotz der so viel- fachen Bemühungen, eine „allgemeine Physiologie“ zu begründen, bleibt man immer auf demselben Fleck, dass man nämlich unter „allgemein“ nur die von den Wirbeltieren abstrahierten, und auf die Wirbellosen verallgemeinerten Begriffe versteht und nicht ein- sehen will, dass auch die an niederen Tieren gemachten Beobach- tungen auf den Aufbau an Theorien einen ebenso selbständigen Einfluss haben können wie die Tatsachen über Wirbeltiere. Besser gesagt: man lässt diese Bedeutung der Wirbellosen- 1) Neuerdings sind die Statocysten von H. Stauffacher bei Phylloxeres (Zeitschr. f. wiss. Zool. 82, S. 372—378) beschrieben worden; da es nicht das erste- mal ist, dass man als Statocysten bei den Insekten Organe beschrieb, die später anders gedeutet werden mussten, wird man sich auch diesmal nicht auf bloße anatomische Beschreibung verlassen dürfen. 2) Dass man meine Theorie über die Ursache des Phototropismus nicht ange- nommen hat, wundere ich mich nicht; ich habe mich selbst von den Schwierig- keiten überzeugt, die ihrem direkten Beweis im Wege stehen; doch hoffe ich trotz alledem, dass es mir gelingen wird, dieselbe, wenn auch nicht in der nächsten Zeit, als richtig nachzuweisen. Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. 679 physiologie theoretisch zu, allein praktisch bleibt es beim Alten. Die Untersuchungen über die Tropismen der Tiere bieten ein gutes Beispiel dafür. Es war wohl begreiflich, dass man anfänglich dieses Gebiet als ein selbständiges betrachtet hat und dass man solche Unterschiede wie Tropismus, Taxis, Heliotropismus, Selenotropismus u. s. w. gemacht hat, die weitere Analyse musste jedoch die Minder- wertigkeit dieser Unterschiede zeigen. Bisher ist man jedoch kaum mehr fortgeschritten, als dass man nicht mehr Seleno- und Helio- tropismus unterscheidet; der Unterschied zwischen Tropismus und Taxis wird jedoch immer noch hartnäckig aufrecht erhalten. Doch dies wäre eine Sache von geringerer Bedeutung. Wichtiger ist, glaube ich, dass man immer noch unter den Tropismen eine geheimnisvolle schlechthin unverständliche Erscheinung sieht, welche insbesondere den niederen Wesen eigentümlich ist und an keine spezifischen Sinnesorgane gebunden ist. So sieht man z. B. in den Erscheinungen des Rheotropismus eine spezifische Reizbarkeit der Tiere, obwohl niemand gegen meine Bemerkung etwas eingewendet hatte und wahrscheinlich auch kaum etwas einzuwenden hatte, dass sich der Rheotropismus der Mücken, der Ephemeriden, durch nichts anderes von einem papiernen in der Luft schwebenden Drachen unterscheidet, als dass die Insekten durch ihre eigene Muskelkraft gegen den Luftstrom streben, während der Drache von einem Knaben gehalten wird. Die Behauptung, dass der Flug eines Vogels, die Steuerung desselben durch dessen Schwanz eben- falls Rheotropismus ist, diese Behauptung scheint den Physiologen absurd zu sein, und wie ich glaube, einzig und allein aus dem Grunde, dass man unter Rheotropismus gerne etwas Mysteriöses verstehen würde, während der gesteuerte Flug eines Vogels etwas wenigstens scheinbar ganz Durchsichtiges bietet. Ich will nicht behaupten, dass der Begriff „Rheotropismus* überhaupt falsch sei und dass man keinen Grund hat, von Rheo- tropismus zu reden, allein das Mysteriöse, das angeblich Gegen- sätzliche gegen die Reaktionen höherer Tiere, dies ist falsch. Es gibt auch bisher unerklärte Elemente des Rheotropismus, allein, alles was an demselben unverständlich ist, ist auch an dem Flug eines Vogels unverständlich. Es ist physiologisch notwendig, dass eine Eintagsfliege mit ihren langen zusammengeschlagenen, nach vorne gestreckten Vorderfüßen und den langen Cirrhen am Hinter- körper sich bei dem Flug so stellen muss, dass sie den Kopf gegen den Wind kehrt, unverständlich bleibt dabei nur die erwähnte Körperbeschaffenheit, dass diese Ephemeride nämlich auf das Ba- lancieren in der Luft so schön angepasst ist — doch, diese Anpassung findet sich eben auch bei dem Vogel (langer Hals, Schwanz u. s. w.) und unverständlich ist ferner, dass die Ephemeride diese ihre An- passung wirklich ausnützt, dass sie tatsächlich gegen den Luftstrom 680 Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. fliegt, alleın auch der Vogel tut dies, nur ist sein Flug viel diffe- renzierter: er kann, aber muss nicht gegen den Luftstrom fliegen. Der Rheotropismus einer Ephemeride ist nur viel stereotyper als der eines Vogels: der Vogel gebietet über eine größere Reihe der Mittel, durch welche er ıhn variieren kann. Der Fall mit dem Phototropismus der Tiere, d. h. mit ihrer Orientierung im Licht ist ganz analog. Auch hier bemüht man sich beständig, darunter etwas Mysteriöses, eine neue Kraft des lebenden Organısmus zu entdecken; man weist immer und immer von neuem darauf hin, dass der Phototropismus auch bei augenlosen Formen vorkommt, dass Spuren desselben auch nach der Exstirpation der Augen bestehen bleiben, um dadurch nahezulegen, dass die Augen nichts mit demselben zu tun haben, obwohl ein solcher Beweis dem ähnlich wäre, wenn man aus der Tatsache, dass augenlose Formen lichtempfindlich sind, folgen würde, dass das Auge kein Sehorgan sei. Der Phototropismus der Tiere ist das, was wir beim Menschen Sehen, Fixieren nennen, nur ist wieder der Phototropismus bei niederen Tieren stereotyper, allein es lassen sich alle Übergänge von den niedersten Stufen desselben, bis zu dem Sehen der Wirbel- tiere auffinden. Was bedeutet, dass ich einen Punkt sehe? Es bedeutet u. a., dass ich angeben kann, wo im Raume er sich be- findet, und dieses Angebenkönnen bedeutet, dass ich auf denselben hinweisen, hingehen kann, überhaupt, dass ich meine Muskel- bewegungen in räumlicher Beziehung zu jenem Punkt koordinieren kann. Doch auch ein augenloser Wurm oder eine Fliegenmade tut bei einer phototropischen Orientierung und Bewegung nichts anderes, als dass sie ihre Bewegungen in räumliche Beziehung zum leuchtenden Punkt setzen, auch diese Tiere geben durch ihre Be- wegungen an, wo sich die Lichtquelle befindet, d. h. wir können nach ihren Reaktionen die Lage der Lichtquelle ebenso erraten, wie daraus, wenn uns dieselbe ein Mensch mit seiner Hand zeigt. Der Unterschied liegt wieder darin, dass der „Phototropismus“ des Menschen viel komplizierter ist als der des Wurmes. Die niederen Tiere, welche noch keine Augen besitzen, reagieren phototropisch so, dass sie sich mit ihrem ganzen Körper in die Richtung des Lichtstrahles einstellen und, wenn ich mich so aus- drücken kann, sich ganz der Wirkung des Lichtes hingeben; sie müssen sich in der Richtung des Lichtstrahls bewegen, ebenso wie sie alle anderen Reflexe mit der gesamten Masse ihres Körpers ausüben müssen. Das ıst das eine, das elementarste Ende der Entwickelungsreihe des Phototropismus; am anderen, an dem höchsten Ende steht der Mensch. Nicht sein ganzer Körper, sondern nur sein Auge reagiert phototropisch, d. h. es stelit sich in die Richtung des Lichtstrahls. Auch hier ist die Einstellung ein Reflex: ein nichts ahnender Mensch, dessen Aufmerksamkeit Be ni di Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. 681 nicht anders gefesselt ist, wird in einem dunklen Raume unwill- kürlich, reflektorisch die Augen nach einem plötzlich auftauchenden hellen Punkte kehren. Doch wird dieser elementare Reflex durch viele andere Umstände verdeckt; erstens kann der Mensch den Reflex unterdrücken, indem er seine Aufmerksamkeit anderswohin richtet; zweitens muss der sichtbare Punkt nicht der hellste Punkt der Umgebung sein, es genügt uns, wenn er sichtbar ist; drittens steht der elementare Reflex, die Augenwendung nach dem leuchten- den Punkt, mit vielen und ar nen anderen Reflexen im Zu- sammenhang: der Mensch muss nicht die Augen, er kann den Kopf oder den gesamten Körper nach der Lichtquelle wenden, er muss sich nicht der Lichtquelle nähern oder sich von der Lichtquelle entfernen und dadurch die Richtung des Lichtstrahl angeben, sondern er kann diese Richtung mit der Hand, mit dem Kopf, mit dem Fuß u. a. angeben, d. h. er kann verschiedene Muskelgruppen in bezug auf den gesehenen Liehtstrahl koordinieren, während z. B. eine Beperifinde nichts anderes kann, als die Muskelbewegungen so koordinieren, dass sie von der Lichtquelle wegflieht. Zwischen dem Phototropismus der niederen. Tiere und dem Sehen des Menschen gibt es alle Übergänge, die man nur wünschen kann. Ich will nur die wichtigsten Stufen der Entwickelung des Phototropismus hervorheben. Unser Cyelops ist ein positiv-phototropischer Organismus, der bereits Augen besitzt, welche jedoch noch unbeweglich mit dem Körper verwachsen sind; in diesem Falle ist also bereits das Sinnesorgan von den Bewegungsorganen differenziert, allein das Tier ist doch genötigt, mit dem Gesamtkörper auf den Licht- strahl zu reagieren, sich in dessen Richtung zu stellen und in der- selben sich zu bewegen. Es gibt viele andere Tiere, die in einer ähn- lichen elementaren Weise auf den Lichtstrahl reagieren. Ich habe diese einfache Art des positiven Phototropismus neuerdings beı der Rotatorengattung Asplanchna beobachtet, welches ich deshalb bemerke, weil bisher meines Wissens bei den Rotatoren der Photo- tropismus ‚nicht konstatiert wurde. Ich habe das durchsichtige Tier unter dem Mikroskop beobachtet und dabei den Mikroskop- tisch langsam gedreht, worauf das Tier durch eine Bewegung im entgegengesetzten Sinne reagiert-hat. Auf diese Weise gelingt es, den Phototropismus auch dort zu konstatieren, wo die gewöhn- liche Methode, das Tier einseitig zu beleuchten, keine Resultate gibt; denn während der Drehung des Tisches wird das Tier von der Lichtquelle entfernt und ich habe seinerzeit bemerkt!), dass die phototropische Reaktion verstärkt wird, wenn man die Licht- quelle‘ von den Organismen allmählich entfernt. 1) Unters. üb. d. Phototr. d. Tiere S. 94. 082 Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. Doch bereits bei einer dem Cyelops verwandten Gattung, bei Diaptomus, steht der Phototropismus auf einer höheren Stufe, in- dem bei diesem Copepoden die Augen etwas beweglich sind. Fixiert man das Tier zwischen einem Objekt- und einem Deckglas unter dem Mikroskop und dreht man dann langsam den Objekttisch, bemerkt man an den Augen des Diaptomus schwache kompensierende Be- wegungen!). Diese Augenbewegungen entstehen dadurch, dass das Tier mit den Augen den Lichtstrahl (des einfallenden Lichtes) fixiert, sein Auge ist phototropisch; da dasselbe im Körper drehbar befestigt ist, kann es die Orientierung zum Lichtstrahl behalten, auch wenn der Körper eine andere Stellung einnimmt. Hier: ist also bereits der Phototropismus insoweit differenziert, dass das Auge für sich selbständig reagieren kann, und dass der Körper sich in die Richtung des Lichstrahls stellen kann, nicht aber muss. Wieder gibt es verschiedene Organismen, die in dieser ziem- lich noch elementaren Art auf den Lichtstrahl reagieren. Ich habe neuerdings diese Art von Phototropismen bei den Hydrach- niden, welche schwach bewegliche Augen besitzen, beobachtet; auch hier kann man am drehbaren Objekttisch unter dem Mikroskop schwache kompensierende Augenbewegungen konstatieren. Nur quantitativ höher stehen die Reaktionen der Cladoceren, deren Augen sehr beweglich und in einem ziemlich großen Winkel drehbar sind; ich habe über dieselben in meinen oben angeführten Mitteilungen berichtet. Auf einer noch höheren Stufe steht der Phototropismus vieler Insekten, indem da nicht nur ein leuchtender Punkt im dunklen Raume anziehend wirkt, sondern auch dunkle Punkte im hellen Raume. Die bisherigen Versuche über den Phototropismus der Tiere haben zu der einseitigen Vorstellung über dessen Wesen geführt, dass derselbe nur dann stattfindet, wenn in einem sonst dunklen Raume eine Lichtquelle sich befindet, welche die Richtung der Orientierung des reagierenden Organismus bestimmt. Wenn einige Autoren den Phototropismus im hellen Raume, im Zimmer studierten, so hielten sie praktisch doch die weißen Wände u. s. w. für tatsächlich nicht leuchtend und beachteten nur das starke vom Fenster kommende Licht. Doch ist die Annahme, dass nur unter diesen Bedingungen der Phototropismus stattfindet, wie be- merkt, nicht richtig, denn alle sichtbaren Gegenstände der Um- gebung des Tieres senden Lichtstrahlen aus, und sie alle können, sofern sie für das Tier sichtbar sind, unter bestimmten Bedingungen (das Tier phototropisch reizen. Nur in einem Raume, dessen Punkte gleich intensiv beleuchtet würden, wäre jede phototropische Orien- tierung ausgeschlossen, im Freien jedoch, wo die Blumen, Bäume, 1) Ich habe diese Beobachtung in dieser Zeitschr. 21, 1901, S. 75—86 beschrieben. Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. 685 Wälder, Berge u. a. Strahlen verschiedener Intensität aussenden, da ist der Phototropismus immer möglich. Dies würde übrigens, glaube ich, ein jeder ohne Widerspruch >. ? Oo N . . . zugeben. Was aber nicht beachtet wird und doch wichtig ist, das ist- die Tatsache, dass es nicht immer die intensivsten Lichtstrahlen sein müssen, welche den Organismus phototropisch orientieren. Vielleicht ist dies bereits bei niederen Wesen der Fall, ganz bestimmt aber bei den Insekten und höheren Organısmen. Wenn man z. B. eine Laphria (Raubfliege) im Zimmer beobachtet, so stellt sie sich mit dem Kopf geeen das Fenster: dreht man nun das Tier samt seiner pi ses ; Unterlage um die Vertikalachse, so sucht es mit dem Kopf die phototropische Orientierung einzuhalten und die Folge davon ist eine kompensierende Kopfbewegung, dieselbe kann jedoch nur bis zu einem gewissen Grade stattfinden, nur so lange es die Hals- muskeln erlauben, dreht man weiter, so springt der Kopf der Fliege in die normale Lage gegen den Körper und die Fliege sieht jetzt nicht gegen das Fenster hin, sondern seitlich gegen eine Zimmer- wand. Bei weiterer Drehung bleibt jedoch ihr Kopf wieder zurück, zum Beweis, dass auch die Zimmerwand die Fliege anziehen kann. Nach welcher Ecke des Zimmers die Fliege auch gekehrt ist, immer ruft man durch langsame Drehung Kompensationsbewegungen hervor, die Fliege kann also gegen jeden Winkel des Zimmers phototropisch orientiert sein, obwohlals die hellste Lichtquelle nur das Fenster dasteht. Wie es der Organısmus zustande bringt, dass er trotz An- wesenheit hellerer Punkte durch andere, mehr dunkle angezogen wird, das kann ich nicht nach allen Seiten erklären, widersinnig ist es jedoch nicht, es steht dies eben mit der höheren Differen- zierung des Sehorgans im Zusammenhang, denn immer besteht diese . Differenzierung einer Funktion darin, dass dieselbe stereotyp zu sein aufhört, dass nicht mehr einfache physikalische Quantität “ des Reizmittels entscheidet, sondern auch spezifische Dispositionen des Organismus. Ich glaube, dass man theoretisch gegen meine Schlussfolgerungen wird wenig einwenden können; das einzige, das man einwenden wird, wird das sein, dass ich den Begriff des Photo- tropismus ungebührlich erweitere. Doch warum ungebührlich ? Welcher Grund spricht dafür, dass man unter Phototropismus nur die Orientierung gegen den intensivsten Strahl der Umgebung ver- stehen soll? Ich kenne weder einen logischen Grund einer solchen Behauptung, und was die Tatsachen betrifft, so gibt es keinen Unterschied zwischen dem Phototropismus einer gegen das Fenster und einer gegen die Zimmerwand gerichteten Fliege. Nach den bisherigen Theorien ıst die erwähnte Tatsache, dass eine Fliege, um welche sich die Umgebung dreht, derselben mit ihren Augen folgt, unverständlich. Zwar sınd ganz analoge Er- scheinungen auch von dem Menschen bekannt, sie werden jedoch 684 Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. wenig beachtet. Wenn sich vor unseren Augen eine größere Fläche bewegt, so folgen wir ihr unwillkürlich mit den An und bewegt sich der ganze uns sichtbare Raum in derselben Richtung, so müssen E ihm mit den Augen folgen!). Woher kommt dieser Zwang, der zu ähnlichen Schwindelerscheinungen führt, wie wenn unser Körper in einem festen Raume gedreht wird? An eine Reizung des statischen Organs ist nicht zu Ben, denn der Körper steht unbeweslich fest. Die Erscheinung ist offenbar optischen Ursprungs; Fewskuhch wird die Sache dadurch abgefertigt, dass wir ein Streben haben, irgend einen Punkt im Raume zu fixieren. Diese Erklärung ist zwar nicht unrichtig, allein es kommt viel darauf an, was wir unter „Streben“ verstehen. Ich habe oben bemerkt, dass eine Raubfliege und andere Insekten den feststehenden Raum mit ihren Augen en wenn sie mit ihrer Unterlage langsam gedreht wird. Dieselbe Erscheinung kann man auch umgekehrt ausführen. Ich habe neuerdings den Versuch an verschiedenen Insekten und auch an Wirbeltieren wiederholt und bestätigt gefunden. Ein hohler Zylinder, etwa 3 dm breit, an beiden Enden offen, konnte um seine vertikalstehende Längsachse mit einer Geschwindig- keit von etwa einmal in 3—5 Sek. Se werden. Die inneren Wände des Zylinders habe ich mit en und weißen Papier- streifen beklebt. In der Mitte des Zylinders stand an einem hohen Fuß ein kleines rundes Glasgefäß, welches also unbeweglich war, wenn sich der Zylinder dr ehte, In dieses (Grasgefäß legte ich nun zuerst verschiedene Käfer, z. B. eine Coceinella; dieselbe sah also vor sich die schwarzen und weißen Papierstreifen, welche gedreht werden konnten, während ich dieselbe von oben beobachten konnte. Sobald als sich der Zylinder zu drehen anfing, begann auch die Coceinella, wenn sie sich überhaupt bewegte, eine krumme Bahn zu beschreiben, welche nach derselben Richtung lief, nach welcher der Zylinder gedreht wurde. Auch diese Reaktion ist offenbar ein Phototropismus; während jedoch ım gewöhnlichen Fällen das Tier dem intensivsten fest- stehenden Lichtstrahl folgt, folgt hier der Käfer einem sich be- wegenden Raumabschnitt. In den Worten der usuellen Psycho- oe würde man sagen: der Lichtstrahl zieht die Aufmerksamkeit des Käfers an sich: in unserem Falle wird die Aufmerksamkeit durch das sich drehende Objekt angezogen, denn es ist bekannt, dass bewegte Gegenstände sehr auf das Gesicht der Tiere wirken. Es ıst nichts gegen diese Worte einzuwenden, als die eine Tat- sache, dass der Käfer (wenn er sich bewegt) seiner sich drehenden Umgebung folgen muss, dass die ganze Reaktion ein Reflex ist. l) Ich habe über diese Erscheinung und über die betreffende Literatur in meiner Abhandlung „Über einige Analogien zwischen der statischen und optischen Orientierung“ (Arch. f. [An. u.] Phys. 1906) berichtet. Ber N u; u Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. 685 Allein nicht nur die Insekten reagieren in dieser Weise. Als ich in das oben erwähnte Gefäß Wasser mit verschiedenen kleinen Fischen gab, und den Zylinder drehte, schwammen sie ebenso kon- stant in der Richtung des Stromes!). In einer Hinsicht steht jedoch diese Reaktion der Fische über der von (Coeeinella; sie reagieren auch dann, wenn sie früher ruhig waren, während der Käfer nur dann sich zu drehen anfängt, wenn er sich früher bereits bewegte; auf den ruhigen Käfer scheint die Drehung der Um- gebung keinen Einfluss auszuüben, die Fische dagegen kann man durch Drehung ihrer Umgebung zum Schwimmen bewegen. Wenn man vor einem ruhig im Wasser schwebenden Goldfisch den Zylinder langsam dreht, folgt ıhm der Fisch zuerst mit seinem Vorderkörper nach um dann durch eine ruckweise Bewegung in die ursprünglich normale Stellung wieder zurückzukehren. Die Re- aktion kann am besten an der Schwanzflosse des Fisches beobachtet werden, welche gleich seitlich zu schlagen anfängt, wenn sich der Zylinder zu drehen beginnt. Es resultieren eigentümlich pendelnde Bewegungen des Fisches, welche man mit dem Nystagmus der höheren Tiere vergleichen kann: ebenso wie bei einer nystagmischen Bewegung der Augen dieselben zuerst kontinuierlich dem bewegten Objekte folgen und dann ruckweise zurückspringen, folgt hier der Fisch mit seinem Körper dem sich drehenden Zylinder und springt dann ruckweise zurück. Diese nystagmischen Bewegungen dauern jedoch nicht lange; bald fängt der Fisch an, zuerst zögernd, dann mit voller Kraft im Gefäß herumzuschwimmen, dieselbe Richtung einhaltend, in welcher sich der Zylinder dreht. Welcher Grund nötigt uns, diese Reaktion der Fische von dem Phototropismus zu unterscheiden? Kein einziger Grund liegt dafür vor, im Gegenteil, alle Einzelheiten sprechen dafür, dass wir es hier mit einem Fall des Phototropismus zu tun haben. Wenn man unter Phototropismus „ein Streben zum Licht“ versteht, so ist auch diese Reaktion der Fische ein Streben zum Licht, wohl nicht zum Licht überhaupt, sondern zu einem gegebenen Raumgebiet. Es ıst dies ein Streben, jedoch ein blindes, reflexartiges. Der Fisch kann nichts anderes als in diesen Fällen zum Licht zu streben. Ein anderer Versuch wird zeigen, was das bedeutet, dass das Tier zum fixierten Gegenstand streben muss. Ich habe den mit Fischen ausgeführten Versuch auch am Frosch wiederholt. Der Frosch (Rana temporaria) ist besonders zu solchen Versuchen ge- eignet, da er relativ sehr ruhig ist und die Wirkung der Drehung nicht durch willkürliche Bewegungen kompliziert. Nachdem sich der Frosch im Gefäß beruhigt hat, habe ich den Zylinder in lang- same Drehung gebracht; sogleich fing der Kopf des Frosches an. 1) Diese Tatsache wurde zuerst von W. E. Garrey beobachtet: A Sight Reflex shown by Stickelbacks. Biol. Bull. 8, 1905, S. 79-84. 686 KRädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. sich ın derselben Richtung zu drehen; nachdem er sich etwas ge- neigt hat, blieb er entweder in dieser neuen Lage oder kehrte ruck- weise zurück, um sich dann wieder nach der Richtung der Drehung zu neigen. Lange hielt es gewöhnlich der Frosch nicht aus; bald fing er an, seine Lage unbequem zu finden, und sprang in der Drehrichtung nach vorne. Ich habe nicht beobachten können, dass der Frosch nach dem Aufhalten des Zylinders irgendwelche Er- scheinungen des Schwindels hätte. Ich habe nun den Versuch umgekehrt. Bekanntlich bekommt der Frosch, wie alle anderen Wirbeltiere, wenn er mehrfach um seine Achse gedreht wird, heftige Schwindelanfälle, welche auf die Funktion der Bogen- gänge zurückgeführt werden. Ich habe nun den Frosch, der ın einem Glasgefäß ruhig saß, langsam gedreht; ich konnte ıhn so lang- sam drehen, wie nur möglich, immer kompensierte er die Drehung mit dem Kopf, d.h. der Kopf drehte sich langsam in umgekehrter Richtung. Diese Kompensationsbewegungen lassen sich nicht durch die Funktion der Bogengänge erklären. Denn sollen diese wirken, so muss die Drehung mit einer solchen Geschwindigkeit geschehen, dass eine Strömung der Lymphe in den Bogengängen entsteht. Dies war jedoch bei meinen Versuchen ausgeschlossen. Um dem Einwand zu begegnen, dass sich mit der Hand keine gleichmäßige Drehung ausführen lässt, dass man unwillkürlich Zuckungen macht, welche doch das Labyrinth reizen könnten, habe ich einige Ver- suche mit Fröschen an einem Klinostaten, den mir Herr Prof. B. Nemec aus dem botanisch-physiologischen Institut gefälligst zur Verfügung stellte, ausgeführt. Der Klinostat drehte sich um seine vertikale Achse einmal in 10 oder 20 Minuten ohne ruckweise von einer Lage zur anderen zu überspringen. Ich habe an das Tischehen, welches sich an der Achse des Klinostaten dreht, das Glasgefäß mit Frosch angelegt und habe den ganzen Apparat am Tisch im hellen Zimmer sich mit einer Geschwindigkeit von einmal in 20 Minuten (= 18 Bogenminuten in einer Sekunde) sich drehen lassen und beobachtete gleichzeitig den Frosch von oben. Auch bei dieser äußerst langsamen Drehung blieb der Kopf des Frosches zurück, kehrte dann ruckweise in die Normalstellung zurück, drehte sich wieder langsam der Drehungsrichtung des Klinostaten ent- gegen u.s.w. Oft war der Versuch durch die Bewegungen des Frosches unterdrückt; sobald er sich zu bewegen anfıng, hörten die Kopfbewegungen auf, fingen jedoch wieder an, sobald der Frosch ruhig wurde. Bei diesen Versuchen war es gleichgültig, ob der Frosch gegen das Fenster oder in einer anderen Richtung orientiert war. Zwar hat sich der Frosch anfänglich mit dem Kopf gegen das Fenster gestellt und diese Orientierung wurde auch fernerhin von ihm be- sonders bevorzugt, allein er ließ sich auch andere Stellungen geben Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. 687 und reagierte in jeder derselben gleich gut. Die Reaktion blieb auch nicht aus, als ich die grauen Vorhänge an den Fenstern herab- gelassen habe. Ich habe ferner den Frosch mit dem Klinostaten in die Dunkelkammer gestellt und mit einer Kerzenflamme von der Entfernung von 1!/, m beobachtet; auch jetzt waren noch die Kom- pensationsbewegungen vorhanden, obwohl in nur schwachem Grade und obwohl der Frosch durch wiederholte Bewegungen den Ver- such gestört hat. Ich habe kein anderes Tier gefunden, welches so gut wie der Frosch diese Reaktionen zeigen würde, denn alle beobachteten Tiere waren zu beweglich und hielten nicht während einer gewissen Dauer die ihnen einmal gegebene Stellung ein. Achten wir nun darauf, was diese Reaktionen des Frosches für die Theorie des Phototropismus bedeuten. Der Frosch fixiert den gesehenen Raum so fest, dass er ihn auch dann in den Augen be- hält, wenn er gegen denselben verschoben wird; er legt einer Ver- schiebung der Bilder ın seiner Netzhaut Widerstand, nicht nur einer raschen Verschiebung, sondern auch einer so langsamen, welche nur 18 Bogenminuten ın einer Sekunde beträgt; würde man diese Verschiebung des Bildchens im Auge des betreffenden Frosches direkt untersuchen können, so wäre dieselbe so langsam, dass man sie direkt nicht sehen könnte. Und diese langsame Bewegung ge- nügt, um den Kopf des Frosches nach sich zu ziehen! Man sieht daraus, wie fest das Auge mit dem gesehenen Raume verbunden ist, man sieht, was das heisst, dass der Frosch dem sich bewegenden Raume mit den Augen folgen muss. Ich glaube, dass sich ganz analog wie in unseren Versuchen der Frosch, auch der Mensch selbst verhalten würde, wenn er nur genug Ruhe hätte, um einige Minuten ruhig sitzen bleiben zu können, wobei auch die Augen ruhig bleiben müssten, d.h. ohne innere Anstrengung sich dem Einflusse der Umgebung hingeben würden; ich glaube, dass sie in diesem Falle auch der sich drehenden "Umgebung folgen würden, auch wenn die Verschiebung derselben noch so langsam sein würde; ein Mensch wird aber kaum die Augen so lange in Ruhe (ohne seinen Willen darauf anzuwenden) behalten. Es bleibt uns nun noch übrig, von dieser Art des Phototropis- mus zu dem Sehen isolierter Punkte überzugehen. Ich glaube, dass auch das Sehen im gewöhnlichen Sinne des Wortes, also das Bemerken der Buchstaben, der Sterne am Himmel nur wesentlich mit dem Phototropismus der Tiere übereinstimmt. Um mich be- stimmter auszusprechen: das Lesen eines Buches ist selbsverständ- lieh ein viel komplizierterer Akt als der Phototropismus eines Wurmes, insbesondere auch dadurch, dass dabei vielerlei geschieht, was direkt wenig oder nichts mit dem Phototropismus zu tun hat: 688 Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. beim Lesen unterscheiden wir die Buchstaben, erkennen in den- selben etwas früher Gesehenes, wir sehen ıhre Farbe und ihre (sröße, es werden Begriffe, Gedanken und Gebilde ın uns er- weckt; nebst alledem aber fixieren wir die Buchstaben, wir müssen eine Kraft anwenden, um das Auge von eimem Buchstaben zum anderen überzuführen, während es uns keine Mühe kostet, denselben Buchstaben im Auge zu behalten, auch wenn das Buch vor den Augen langsam verschoben wird, und dieses nenne ich Phototropismus. Zwischen der Fixierung des ganzen das Auge umgebenden Raumes und der Fixierung einzelner Punkte ın demselben besteht der Unterschied, dass wir unsere ganze Umgebung im Auge be- halten müssen, wir müssen ihr auch mit den Augen folgen, wenn sie sich langsam bewegt, während wir einzelne Punkte im Raume fixieren können. Gibt es mehrere sichtbare Punkte im Raume, so können wir unsere Aufmerksamkeit dem einen oder dem anderen zuwenden; richten wir jedoch unser Augenmerk auf einen Punkt, so folgen wir seinen ‚(nicht zu raschen) Verschiebungen mit unseren Augen ebenso unwillkürlich, wie wenn wir das gesamte Gesichts- feld betrachten. Wenn wir z. B. einen langsam fliegenden Vogel hoch über uns betrachten, fällt uns nicht im mindesten ein, dass wir unsere Augen verschieben müssen, um den Vogel nicht aus dem Gesicht zu verlieren; bemerken wir jedoch über dem einen Vogel einen anderen, so ist dazu eine sichtbare Kraft nötig, um das Auge von dem einen Vogel zu dem anderen zu überführen. Das Auge ist an den durch dasselbe betrachteten Vogel ebenso photo- tropisch gebunden, wie die Fliegenmade an dem von Fenster kommenden Lichtstrahl, nur hat unser Auge die Kraft, den Licht- strahl zu wählen, resp. zn ändern, an den es sich fesseln will; ıst es jedoch einmal an ihn gefesselt, reagiert es in derselben Art wie die Fliegenmade. Es kann auch geschehen, dass auch der Mensch nur einen Punkt im Raume hat, zu welchem sich sein Auge wenden kann. Es wird erzählt, dass Leute im Dunkeln durch Irrlichter verführt worden sind und die Erzählung soll etwas Wahres an sich haben. Der Mensch geht in der Dunkelheit und bemerkt ein Licht vor sich; er nähert sich demselben, nicht weil es seine Neugier erweckt, auch nicht weil er dasselbe für das Leuchten einer Lampe im Dorf hält, sondern er nähert sich demselben, auch wenn er es für ein Irrlicht hält, aus demselben Grunde, wie ein ungeschulter Radfahrer einem Passanten begegnet und ıhn zu meiden suchend, gerade auf ihn hinfährt, und aus demselben Grunde, aus welchem ein Nacht- schmetterling in die Flamme fliegt: wenn der Mensch nichts anderes als das Licht sieht, so muss er seine Augen demselben zuwenden, und wenn er es betrachtet, so muss er seine Bewegungsrichtung von der Lage des Lichts abhängig sein lassen, welches zuletzt an er Rädl, Bemerkungen und Beobachtungen über den Phototropismus der Tiere. 689 das Annähern an dasselbe führen wird. Die Erzählungen von den Irrlichtern sind so verwandt den bekannten Tatsachen des Fluges der Insekten in die Flamme, dass an ihrer Verwandtschaft nicht zu zweifeln ist, sie bieten uns einen Fall von ziemlich reinem Phototropismus des Menschen. Man sage nicht, dass es bloße Er- zählungen von zweifelhaftem Werte sind, denn sie sind nur ein Beispiel von vielen anderen; frage man einen Zyklisten, er wird uns die Tatsache bestätigen, versuche man die Sache selbst: Geht man durch eine Straße und eine Erscheinung in der Mitte derselben zieht unsere Aufmerksamkeit an sich, so nähern wir uns unwillkürlich etwas der Mitte der Straße. Ich schließe meine Erörterung; ich habe in derselben noch einmal versucht, zu beweisen, dass der Phototropismus keine mysteriöse, den niederen Wesen eigentümliche Erscheinung ist, sondern dass er dasselbe ıst, was man Sehen, Betrachten, Fixieren eines Gegenstandes nennt. An den niedersten Stufen besteht wohl der Phototropismus nur in einer Orientierung des Tieres zur un- bemerkten Lichtquelle, man kann jedoch bereits bei den Insekten finden, dass sich das Insekt auch zu anderen Lichtquellen orien- tieren kann; die Erscheinung, dass ein ısolierter Punkt fixiert wird, ist nur ein mehr spezualisierter Fall des Phototropismus. Der Mensch steht in dieser Hinsicht nur insofern über den niederen Wesen, dass er eine Wahl zwischen den zu fixierenden Raumstellen treffen kann, er steht jedoch insofern auf der gleichen Stufe mit den Tieren, dass er ım hellen Raume mit offenen Augen etwas fixieren muss und in bezug auf diese fixierte Raumstelle verhält er sich ganz ebenso, wie ein niederer, phototropisch reagierender Organısmus. Ich behaptete, dass man sich unter dem Phototropismus nichts Mysteriöses vorstellen soll; dadurch will ich nicht sagen, dass an demselben nichts Wichtiges mehr zu erforschen sei, nur möchte ich das Unbekannte an demselben gerade darın suchen, was den meisten ein nebensächliches Problem zu sein scheint und als leicht verständlich, was andere als dunkel betrachten. Das wichtigste Problem des Phototropismus liegt meines Erachtens nicht darin, dass gewisse Organısmen eine eigentümliche Fähigkeit haben, sich gegen den Lichtstrahl bestimmt zu orientieren, sondern in der Frage, wie es möglich ist, dass der Organismus, sei es nur ein Flagellat oder das Auge eines Mer ben, den Lichtstrahl findet, welche Kraft ıhn gegen denselben orientiert. Dieses Problem, sage ich, gilt ebenso für den Menschen wie für ein einzelliges Wesen; denn auch für den Menschen ist bisher die elementare Tatsache nicht erklärt, wie der Mensch dazu kommt, einen Punkt im Raume zu fixieren. Wie kommt es, dass ich so leicht eine Raumstelle mit unbeweg- lichen Augen längere Zeit hindurch betrachten kann, dass ich jedoch XXVI. 44 690 Spuler, Über einen parasit. lebend. Schmetterling, Bradypodieola hahneli Sp. eine Kraft anwenden muss, um das Auge von einem Punkt zu einem anderen überzuführen (wie groß mag diese Kraft sein), warum muss ich etwas ım gesehenen Raume fixieren, warum zieht ein sich vor meinen Augen verschiebender Raum (z. B. die aus den Fenstern eines fahrenden Zuges betrachtete Gegend) ganz notwendig die Augen mit sich? Welcher physiologische Grund liegt dem Nystagmus unter, der bereits bei den Crustaceen, ferner bei den Insekten und bei allen Wirbeltieren vorkommt? Ich habe versucht, auf diese Fragen in meiner oben erwähnten Arbeit zu antworten; ich habe mich auf Analogien zwischen dem Geotropismus und Phototropismus gestützt, und habe diese Analogie bis in ıhr Extrem durchführen wollen. Doch wurde mein Gedanke, dass wie die Schwerkraft die Richtung durch einen Zug angıbt, dass auch der Lichtstrahl in dem Organismus eine physiologische Span- nung bewirkt, sehr ungünstig aufgenommen und es bleibt mir noch heute nichts anderes übrig als zu behaupten, dass ich auch heute keine andere Erklärung finde, welche besser den Tatsachen des Phototropismus angepasst wäre. Über einen parasitisch lebenden Schmetterling, Bradypodicola hahneli Spuler. Von Arnold Spuler in Erlangen. Vor einigen Jahren erhielt ich von Dr. ©. Staudinger, dem Manne, der so ungemein dazu beigetragen, die Arten der Schmetter- linge der ganzen Erde kennen zu lernen, einen interessanten Schmetterling geschenkt, den — mit 1 oder 2 weiteren Stücken, wenn ıch mich recht erinnere — der so früh verstorbene Dr. Hahnel an einem lebenden Faultier gefunden hatte, auf dem er parasitisch lebe. Dass es Raupen gibt, die andere, sowie frische Puppen morden und verzehren, ıst längst allgemein bekannt, ebenso, dass dies ım Freien viel weniger vorkommt als bei künstlicher, nicht natur- gemäßer Zucht, dass Raupen auch von anderen Insekten als Regel leben, ist auch in manchen Fällen festgestellt. Dass sie in trockenen Vegetabilien und auch von trockenen anımalıschen Stoffen, nament- lich von Horngebilden, Haaren und Federn, leben, ıst von vielen Arten bekannt. Dass aber die Raupen am lebenden Tier schma- rotzen als Ektoparasiten, und dass auch die Imago ım Fell des Wirtes sich aufhält, das ıst meines Wissens bisher von keinem Schmetterling bekannt geworden. So hat denn die Form, die ich im folgenden dee will, besonderes Interesse in bio- logischer Hinsicht — aber auch in morphologischer weist sie viel Merkwürdiges auf. Ich gebe zunächst eine Beschreibung des Tierchens, der ich die Diagnose vorausschicke: 2 x Spuler, Über einen parasit. lebend. Schmetterling, Bradypodieola hahneli Sp. 691 Nov. Subfam. Bradypodicolinae, Nov. Genus Dradypodicola Spuler. Pyralis corpore applanato, antenn. filiform. partim squammat. part. subtil. ciliatis, ocellis et palpis maxill. deficient., palpis labial. brevis (in S); tibus mediis in fine, posticis prope medium et in fine bicalcaratis, primo. tars. ant. articulo in fine spina magna; alis ant. area discoid. valde tenue et parva, syst. venos. //-tribus (4?) tan- tum ramıs terminal., venis aetß pervalidis, 5 laquea basal. formata marginem intern. attingente; alıs post. latis, venis 7 + II, cum II, " Kiss? Kopf und Vorderteil des Thorax von der Seite, letzterer erscheint durch die Einwirkung der Nadel zu diek; etwas stärker als Fig. 1 vergröfsert. P Labialpalpe, L Saugzunge, Se Schulterdecke, Vfl Ansatzstelle des Vorderflügels. Fig. 1. Vorderkörper der Bradypodicola hahneli Spul. von der Dorsalseite gesehen; stark vergröfsert. Vfi Vorderfügel, Hfl Hinterflügel, Sc Schulterdecke, Ms Mesothorax, Mt Ubergangsstück am Meta- thorax, 7, 11, III die drei vordersten Hinterleibsringe. Die gestrichelten Linien am Thorax und Abdomen ergänzt; von den Fühlern nur der basale Teil wiedergegeben. IIR,+3«), cum IV; partim coniunctis, area dıscoid. brev., area plicata magna, ven. V, a,ß normal. decurrentibus. Nova spec. hakneli Spuler. Corpus ant. et alae anter. colore fulvo-brunneo, al. ant. vix obscurius transverse multistrigat. alae posticae et abdom. sordide albogriseae; corp. longitudo 6,8 mm. Habitt: Bradypus spec. ın pelle, teste W. Hahnel. Typus in collectione A. Spuler. Die Körperlänge des gelbbraunen, sehr lädierten und abge- flogenen Tierchens beträgt 6,5 mm. Der Kopf steht vor und er- scheint oberseits durch den gleichmäßig auf den Thorax über- gehenden Schuppenbelag nicht abgesetzt (Fig. 1). Die Stirne ist 44* 692 Spuler, Über einen parasit. lebend. Schmetterling, Bradypodieola hahneli Sp. breit und springt, von der Seite gesehen (Fig. 2), wegen der Ab- plattung ihrer Unterseite firstartig vor. Die Augen sind groß, nicht behaart, an der dem Thorax zugewandten Kante mit straffen Wimpern versehen (Fig. 2 u. 3). Der Rüssel (Fig. 2 u. 3Z) ist zıemlich kräftig, aber weich, an der Wurzel oberseits beschuppt und reicht, hervorgezogen, bis gegen die Thoraxmitte; er war regelrecht spiralig aufgerollt. Die hängenden Labialpalpen sind kurz, ihr Mittelglied kugelig, das Endglied stumpf eiförmig, beide ın ihrer Beschuppung und der langen, einen dorsoventral abgeflachten Pinsel bildenden Behaarung versteckt (Fig.2 u. 3 P). Maxillarpalpen waren nicht aufzufinden, dagegen trat nach Entfernung der Beschuppung der Epipharynx als dreieckiges häutiges Läppchen hervor. Der Kopf ıst dicht anliegend beschuppt, die Schuppen von der Stirn- kante gegen die Mundteile und andererseits gegen den Thorax ge- richtet, von den Augen ziehen die Schuppen etwas medial gerichtet in die Höhe (Fig. 1 u. 2). Die Fühler sind von halber Vorderflügellänge, gegen das ge- rundete Endglied allmählich verdünnt; ich zählte 43 Glieder. Sie sind zylindrisch, die letzten 10 Glieder an der Unterseite durch Ein- kerbungen voneinander abgesetzt. An drei Vierteln ihres Umfanges sind sie anlıiegend beschuppt, unten aber fein bewimpert und nahe dem Ende jedes Gliedes mit zwei seitlich abstehenden stärkeren Borsten besetzt; die Bewimperung erscheint an den abgesetzten Gliedern büschelig. Das unterste sichtbare (Wur- zel?) Glied ist kräftig, länger und dicker als die übrigen. Der Thorax ist sehr stark abgeflacht. Unterseits (Fig. 3) erscheint er vorn ge- genüber der ebenen Fläche, welche hin- ten an den Augen den Kopf begrenzt, abgeschnitten und trägt unten seitlich mit den Wimpern korrespondierende ab- stehende, büschelig angeordnete, steife Haare. Beim Senken des Kopfes, dessen Kopf und Anfang des Thorax von Ventralseite dann der Unterlage flach unten und kaudalwärts gesehen ; eben- . .- er falle stärker als Fig, 1 vergrößern, anliegt, kommen beide ebenen Flächen P Labialpalpe, L Zunge, XRinnezur aufeinander zu liegen. Zwischen die Aufnalime des Papinsels der Daial- Vorderhüften schiebt sich ein ansehnlicher ne Einschnitt, der Zunge beim Anziehen des Kopfes Raum gewährend. Auf ihnen befindet sich jederseits eine flache Rinne (Fig. 3X) zur event. Aufnahme des Palpenpinsels. Die Struktur des Thorax auf der Dorsalseite ist aus Fig. 1 ersicht- lich, ventral ist außer dem größeren Teil der vordersten Hüftplatten leider der Thorax abgefressen, ebenso wie der größte Teil der Unterseite des Abdomens. \ ‚Spuler, Über einen parasit. lebend. Schmetterling, Bradypodieola hahneli Sp. 693 Der Hinterleib ıst stark abgeflacht und nimmt vom Thorax aus rasch an Breite zu bis zum 5. Segment, um sich im gleichen Konturbogen bis zum 58. wieder zu verschmälern, die letzten Teile springen als stumpfer Zapfen vor. Über den Genitalapparat ist am Exemplar, wie es vorliegt, nichts zu eruieren; da für die systematische Stellung Wesentliches aus einer genaueren Unter- suchung desselben nicht zu erwarten ist, habe ich es vorgezogen, das Tierchen nicht noch weiter für die Beurteilung des Habitus zu zer- stören. Die Schenkel der Beine sind nur für Vorder- und Mittelbeine sicher festzustellen, an dem einen Hinterbein, das ich noch besitze, nur ım distalsten Teil erhalten. Die Vorderschenkel (Fig. 4) sind sehr breit und natürlich ganz flach, wie die übrigen anliegend be- Fig. 4. Fig. 5. Fig. 6. Tib Fig. 4. Vorderbein, Schenkel ergänzt; Tib Vorderschiene, X Schienenblatt. Fig. 5. Mittelbein; D Schuppenkante, Sp Endsporenpaar. Fig. 6. Hinterbein; in gleicher Vergröfserung wie die Fig. 4u. 5. Sp Iu. SpII die Mittel- u. Endsporen, schuppt. Die Mittelschenkel sind wesentlich schlanker, etwas keulen- förmig gestaltet, die Hinterschenkel vermutlich noch schlanker. Die Vorderschienen (Fig. 4 Tib) sind etwas über halb so lang als der Vorderschenkel, viel schlanker als dieser und tragen ein kräftiges, in eine etwas gebogene Spitze auslaufendes, auf der der Tibia zugekehrten Seite mit kräftigen, plumpen Stacheln besetztes Schienenblatt (X). Sporen fehlen. Die schlankeren Mittelschienen (Fig. 5) tragen ein ungleiches Endsporenpaar (Sp) und eine kräftige Schuppenkante (D). Die Hinterschienen (Fig. 6) sind gestreckt, vermutlich erheblich länger als das Hinterfemur, mit Mittel- (Sp. I) und Endsporen (Sp. II) versehen. Auch die Tarsen nehmen von vorn nach hinten an Länge zu; sie tragen an Mittel- und Hinterbeinen an den Gliedern 1-—4 694 Spuler, Über einen parasit. lebend. Schmetterling, Bradypodieola hahneli Sp. je ein paar kräftiger, spitzer, eingelenkter Dornen am Ende. An den Vordertarsen ist nur je ein Dorn vorhanden, der am Ende des ersten Gliedes außerordentlich kräftig. Die Flügel sind anliegend kräftig beschuppt, leider der Saum der Vorderflügel gar nicht, der der Hinterflügel nur teilweise er- halten. Die Vorderflügel haben ein höchst eigenartiges Geäder, wie es Fig. 7, aus beiden Vorderflügeln kombiniert, zur Darstellung bringt. Das Diskoidalfeld ist schmal und erreicht nicht die Flügel- mitte, es ist außen durch eine sehr kräftige, mäßig konkave Quer- ader abgeschlossen. Ader 7 mündet vor der Flügelmitte ın den Vorderrand und verläuft näher an Ader II als an der Flügelkante. Ader II teilt sich erst hinter dem Diskoidalfeld und zwar nur in Fig. 7. Die Flügelgeäder. Die feinen gewellten Linien geben die Grenzen der erhaltenen Flügelteile an, die Ergänzungen gestrichelt dargestellt. drei Äste, wenigstens waren nicht mehr an dem Material nachzu- weisen. Möglich ist, dass sich bei vollständiger Entfernung der Schuppen noch ein schwacher Nebenast von /Z, ; findet, der dann als //; aufzufassen wäre, am vorliegenden Exemplar glaube ich ge- wisse Bilder in der Gegend des Flügels nicht als einen solchen Ast deuten zu dürfen, leider konnte ich, wegen der Brüchigkeit der Flügel, nicht volle Klarheit in der Gegend schaffen. System III ist mit Endast //Z; nahe der Vorderecke des Mittelfeldes aufgestützt, III; und III, sind basal miteinander und dann mit IV, resp. IV verschmolzen. System IV teilt sich erst jenseits des Diskoidalfeldes. V ist an Basis und Ende verhältnismäßig gut entwickelt (diese Grenzader zwischen Falten- und Spreitenteil des Flügels ist ja meist erheblich schwächer als die übrigen Adern), in der Mitte Spuler, Über einen parasit. lebend. Schmetterling, Bradypodicola hahneli Sp. 695 eben noch zu erkennen. Der Faltenteil des Vorderflügels ist sehr kräftig und durch zwei ungemein starke Adern (a und ß) gestützt; diese bilden eine lange Wurzelschlinge und darauf erreichen beide, also auch ß, den Innenrand. Der schmutzig weißgraue Hinterflügel ist breit, die Adern W, a und 8 wohlentwickelt, zwei Falten (punktiert in Fig. 7 einge- zeichnet) deutlich, die zwischen a und ß vielleicht auf einen Nebenast von a zurückzuführen, indes ist an dem Material darüber nichts Sicheres festzustellen. Ader //, ist von der Wurzel ab mit / ver- schmolzen. Ader II jenseits des recht kurzen Diskoidalfeldes auf eine Strecke mit I/I, und dann, schräg hinziehend, auf lange mit I-+ II, vereinigt. Die Grenze des Mittelfeldes bildet einen asym- metrischen Spitzbogen, der wie die basalen Stücke von /I und III nur schwach chitinisiert ist. Ast III; ist nicht getrennt vorhanden, vermutlich ist er mit 1/1, ganz verschmolzen, dann ist die nächste Ader als /V, anzusprechen. Möglich, aber nicht wahrscheinlich, wäre auch: eine Verschmelzung von III; mit IV,. Die Haftborste ist kräftig, in der Abbildung um ein Viertel zu kurz geraten. Die Fransen an Vorder- und Hinterflügeln sind nicht erhalten. Die Vorderflügel des stark öligen Stückes sind glänzend gelbbraun mit kaum angedeuteten feinen dunkleren Querlinien, namentlich im Mittelfeld, leider ist die Erhaltung so schlecht, dass Genaueres über die Zeichnung nicht mehr festzustellen ist. Einen Büschel längerer Haare hinter Ader /V der Hinterflügel konnte ich nicht finden, indes könnte er vorhanden gewesen sein. Zu welcher Gruppe ist nun diese eigenartige Form zu stellen? Von Staudinger erhielt ich sie als eine Tineide und in der Tat liegt die Vermutung, dass sie zu dieser formenreichen Superfamilie gehöre, recht nahe, wenn man sich daran erinnert, dass die Tineides, speziell die Tineidae, zum großen Teil die Formen enthalten, deren Raupen an Haaren und Federn, wenn auch daneben auch an trockenen, vegetabilischen Substanzen, leben. Die Wurzelschlinge von Ader a mit 8 kann einen in dieser Vermutung bestärken; das sehr kurze Diskoidalfeld auf die Blabophaninae hinweisen, und auch der Anschluss von III; an IV,, sowie die Teilung von IV jenseits des Mittelfeldes bei Blabophanes (Subg. Monopis Hb., H. 8.) rusticella Hb. auf diese Gruppe hindeuten. Der eigenartige Bau von System 77 wider- spricht dem nicht, die Flügelspitze wäre dann etwas weiter nach hinten, dicht nach III, zu legen, nicht, wie in Fig. 7 angenommen, hinter II, ; zu suchen. Die Blabophanes-Arten haben eingeschlagene Maxillarpalpen — doch ist auf deren Vorhandensein bei den eigent- lichen Tineidae kein Gewicht zu legen, ich erinnere nur an Tineola biselliella Humm., der sie ja fehlen. Aber die Palpenform will nicht stimmen und der kräftige Rüssel erst recht nicht. Wenden wir uns an den Hinterflügel, so passt dieser ganz und gar nicht zu den Tinerdae, 696 Spuler, Über einen parasit. lebend. Schmetterling, Bradipodieola hahneli Sp. wohl aber vorzüglich zu den Pyraliden, speziell zu den Gallerüinae; damit stimmt die Verbindung von Ader // mit I—+ Il, ferner die Form des Diskoidalfeldes, der Anschluss von IR}; an IV,, wenn er auch hier an der Hinterecke des Diskoidalfeldes oder durch eine kleine Querader, bei unserer Art indes in der Mitte des Astes IV, erfolgt. Auch die Beine widersprechen nicht, namentlich nicht die Enddornen an den Tarsen. Zumeist haben die Pyraliden keine Wurzelschlinge a ߣ der Vorderflügel, bei den Gallerüinae aber findet sich eine kräftige als Regel und, nachdem £ eine kurze Strecke mit a verschmolzen war, wird sie wieder frei und wendet sich, bei Galleria mellonella L. als ansehnlich kräftiger Ast, innenrand- wärts, allerdings erheblich vor ihm schon verstreichend. Die Galleriinae haben zum Teil ım männlichen Geschlecht recht kleine Palpen, im weiblichen buschig dicht behaarte Endglieder, die Palpen unseres männlichen Exemplares widersprechen demnach bei der er- heblichen Variabilität der Palpenform einer näheren Verwandtschaft nicht. Der Rüssel, der ziemlich weich ist trotz seiner ansehnlichen Größe, und die Beschuppung an seinem Anfang, passen recht gut zu der fraglichen Gruppe, ebenso die nach vorn herabstreichende Beschuppung der Stirn. Auch das Fehlen der Nebenaugen, ebenso die Fühlerverhältnisse stimmen, letztere sogar sehr genau. Aber bei allen Gaileriinen finden sich dreigliederige zierliche Maxillar- palpen, die nur durch die abnorm starke Beschuppung, bei Gal. mellonella z. B., plump erscheinen, bei der Bradypodicola aber fehlen sie sicher ganz. Die Galleriinen haben auf den Vorderflügeln, namentlich im männlichen Geschlecht, große, ja abnorm große, durch eine konkave Querader zwischen ///, und Ill, geschlossene Diskoidalfelder, unsere Art ein abnorm kleines; System II hat fünf Äste bei den Gallerimen und die Äste /T, und I ent- springen vom Diskoidalfeld stets, /7; oft, bei der parasitischen Art dagegen haben wir nur drei (vielleicht vier?) Äste, die alle erst jenseits des Mittelfeldes sich vom Stamme abzweigen. Der Verlauf von Ader / viel näher an // als am Vorderrand stimmt. Aus dieser Betrachtung ergibt sich also, dass das Tierchen in näherer Verwandtschaft steht mit der Gruppe, die gegenwärtig noch als Unterfamilie Gallerünae zu den Pyralidae gestellt wird — ob mit Recht, will ich hier nicht untersuchen —, doch wird es durch den Verlauf von Ader I/, die Kleinheit des Diskoidalfeldes, den Verlauf von /IZ; und III; und die späte Teilung von Stamm IV der Vorderflügel, durch die Verhältnisse der Adern II, II; IV, und /V, der Hinterflügel, sowie durch das Fehlen der Maxillar- palpen soweit von ihnen getrennt, dass es eine eigene Unterfamilie, nicht nur eine Gattung innerhalb der Galleriinae, bildet. Dass die Form des Körpers eine Anpassung an die parasitische Lebensweise darstellt, ist wohl ohne weiteres klar, dass dies auch W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 697 von den Beinen, speziell auch von dem Enddorn an dem ersten Tarsalglied der Vorderbeine gilt, brauche ich nicht weiter auszu- führen. Auch die starke Entwickelung der Adern a und ß, die in dem am weitesten in der Ruhestellung hervorragenden Flügelteil verlaufen, möchte ich als Anpassung an die parasitische Lebens- weise auffassen, denn dieser Flügelteil ist dabei besonders dem Verletztwerden ausgesetzt und ist bei der schwachen Stütze, die das rudimentäre System // dem Vorderrand gewährt, sicher von erheb- licher Bedeutung für das Flugvermögen. Dass dem Tierchen die Saumteile der Flügel leicht verletzt werden, zeigt der Erhaltungs- zustand unseres Exemplares, dass aber ein unverletztes Diskoidal- feld bei nicht durch die Schuppen versteiftem Flügel und besonderer Stützung des Vorderrandes sehr wesentlich ist, darüber kann nicht wohl gestritten werden, somit ist die Entwickelung eines kräftigen, kurzen Diskoidalfeldes, wie sie eine Haupteigentümlichkeit des Vorderflügels der Bradypodicola im Vergleich zu den Gallerüinae bildet, sicherlich sehr vorteilhaft für die Erhaltung des Flugvermögens bei stärkeren Läsionen des Saumfeldes. Schließlich könnte die eigentümliche Rückbildung von System // der Vorderflügel eben- falls als Anpassung an die parasitische Lebensweise gedeutet werden, doch scheint mir das, was dafür angeführt werden könnte, nicht so gewichtig, dass ich es hier vorbringen möchte, zumal ich keine absolute Sicherheit über die Verhältnisse erlangen konnte. Die Galleriinen leben vorzugsweise am Wachs der Bienenwaben, auch in Hummel- und Wespennestern, von trockenen, animalischen und auch, z. B. Coreyra cephalonica Stt., vegetabilischen Substanzen, ein großer Nahrungswechsel war also mit dem Übergang zum Ekto- parasıtismus nicht verbunden. Hoffentlich werden wir in absehbarer Zeit genauere Nach- richten über die Lebensweise und die ersten Stände dieses bis jetzt einzigen als an einem Tiere parasitisch lebend bekannten Schmetterlings erfahren. Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergröfserungen und mit dem Ultramikroskop. Von Werner Rosenthal in Göttingen. Die folgenden Beobachtungen an normalem Hühnerblut sind veranlasst worden durch das Suchen nach kleinsten Krankheits- erregern in solchem Blut, sie werden aber auch für die Biologen im allgemeinen nicht ganz ohne Interesse sein. Denn so eifrig das Blut als dankbarstes und bequemstes Objekt von den ersten Zeiten der Mikroskopie an von ungezählten Forschern untersucht worden ist, so bietet es doch heute noch ebensoviel Probleme wie je dem Morphologen, und die Diskussion über die —_ 695 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. Art und Zahl und den Bau seiner morphologischen Elemente wird eben jetzt so lebhaft wie je geführt. Das Interesse der Seuchen- forscher aber ıst diesem Objekte ebenso sehr zugewandt: denn in dem letzten Jahrzehnt wurde nachgewiesen, dass die Erreger ver- schiedener Infektionskrankheiten sich im Blute, zuweilen in unge- heuerer Zahl, mikroskopisch nachweisen lassen, so dass aus dem Blutbefund die Krankheit erkannt werden kann; ın anderen Fällen können wir zwar den Nachweis führen, dass ebenfalls das Krank- heitsvirus reichlich in dem Blutplasma vorhanden ist, der mikro- skopische Nachweis ist aber, und zwar anscheinend wegen der Kleinheit der Erreger, noch nicht gelungen. Zu diesen Infektions- krankheiten gehört die Hühnerpest, die den besonderen Anlass zu diesen Untersuchungen bot. (serade bei dieser Seuche lässt sich leicht nachweisen, dass der Infektionsstoff m kleinsten Teilchen des Blutserums enthalten ist und dass er von einer ganz besonderen Feinheit sein muss, weil er Filter noch zu passieren vermag, die auch die kleinsten bekannten Bakterien zurückhalten. Da nun die letzteren in ihren Dimensionen schon der Grenze recht nahe kommen, die nach Helmholtz’ und Abbe’s Berechnungen für die mikroskopische Abbildung kleinster Körperchen besteht, so wurde, zuerst von Löffler (14), die Ver- mutung ausgesprochen, dass es sich in solchen Fällen um Körperchen unter dieser Grenze, also um auch mikroskopisch unsichtbare Er- reger handle. Deshalb dürfen wir das Forschen nach diesen Erregern aber doch noch nicht als aussichtslos aufgeben; denn eben die letzten Jahre haben uns gelehrt, dass sich mit vollster Ausnützung unserer besten bisherigen Hilfsmittel Lebewesen erkennen lassen, die bis dahin den Augen vieler Beobachter entgangen waren, wie 7. B. die Spirochaeta pallida, und außerdem wurde durch Siedentopf eine Anordnung geschaffen, mit der sich Teilchen, die unterhalb der Helmholtz-Abbe’schen Größengrenze liegen, zwar nicht abbilden, aber doch sichtbar machen lassen (24). Il. Untersuchungsmethoden. Das eben genannte Verfahren beruht auf dem Prinzip, die Teilchen auf dunkelm Grunde so intensiv zu beleuchten, dass die an ihnen, durch Diffraktion, abgebeugten Strahlen sie gewisser- maßen selbstleuchtend machen, so dass sie als helle Punkte dem Beobachter sichtbar werden. Siedentopf hat zweierlei Anordnungen zu diesem Zwecke ausgearbeitet: in dem einen Falle blickt der Beobachter senkrecht auf den Gang des beleuchtenden Lichtkegels; das Objekt stellt in diesem Fall eine ziemlich dicke Schicht des zu untersuchenden durchsichtigen Körpers, eines Glasflusses zum Bei- spiel, oder einer Flüssigkeit dar, von dem aber nur eine mikro- skopisch dünne (2—3 u dicke) Schicht beleuchtet wird. Diese Ä W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen etc. 699 Untersuchung ist deshalb nur dann möglich, wenn es sich um soweit klare Körper handelt, dass die oberen, nicht durchleuchteten Schichten die Beobachtung nicht verhindern. Teilchen von der Größe der Blutkörperchen dürfen deshalb nicht vorhanden sein und auch Blutserum kann nur in Verdünnung so mit Erfolg unter- sucht werden. Um auch trübe Flüssigkeiten „ultramikroskopisch* untersuchen zu können, hat Siedentopf eine zweite Anordnung konstruiert, die auf einem von Abbe erdachten Prinzip beruht. Der zentrale Teil des Objektivs ist durch Schwärzung eines Feldes der Frontlinse abgeblendet; die Beleuchtung geschieht mittelst einer Lupe, die einen genau dieser Blende entsprechenden Strahlenkegel auf das Präparat wirft. Es kann also kein direkter Strahl aus der Lichtquelle durch das Objekt in das Auge gelangen, sondern lediglich solche Strahlen, die durch Beugung an den Teilchen des Objektes in solchem Maße von ihrer Richtung abgelenkt worden sind, dass sie nun als Randstrahlen die freien peripheren Teile des Objektivs passieren können. Die Vorzüge dieser Anordnung vor der älteren Art der Dunkelfeldbeleuchtung mit zentraler Blende im Beleuchtungs- apparat und konzentrischer Abblendung des Objektives, bei der durch Reflexe eine diffuse Erhellung des Gesichtsfeldes bestehen blieb, zeigen sich darin, dass bei richtiger Einstellung des Apparates das Gesichtsfeld tiefschwarz, vorhandene Teilchen und größere Gebilde aber als leuchtende Sternchen oder umzogen von mehreren hell- leuchtenden Konturen erscheinen. Über Untersuchungen frischen Blutes mit dieser Vorrichtung zur Sichtbarmachung ultramikroskopischer Teilchen hat meines Wissens bisher nur Raehlmann (22) berichtet und zwar hat er sehr auffallende, von anderer Seite noch nicht bestätigte Befunde erhoben. Mir ist die Benützung dieses kostbaren Apparates ermög- licht dank einer Unterstützung, die ich aus dem Elizabeth Thompson Science Fund zu Boston erhalten habe. Über eine besondere Technik bei der eigentlich mikroskopischen Untersuchung frischer Körperflüssigkeiten hat am genauesten John Siegel berichtet in seinen höchst interessanten, in den Schluss- folgerungen aber noch sehr bestrittenen Untersuchungen über die Ätiologie der akuten Exantheme, der Maul- und Klauenseuche und der Syphilis (26-29). Er empfiehlt intensivste künstliche Be- leuchtung, wofür er meist eine Auerlampe verwendet, starke Ab- blendung dieses Lichtes und die Benützung der stärksten, 12 Ja 18fach vergrößernden Kompensationsokulare in Verbindung mit den vollkommensten apochromatischen Immersionslinsen mit weiter Apertur. Die beiden genannten Autoren verwandten bei ihren Unter- suchungen verdünntes Blut; Raehlmann benützt 0,6°/, Kochsalz- ‚lösung zur Verdünnung, John Siegel empfahl zunächst abgekochtes destilliertes Wasser zu diesem Zweck; in den späteren Mitteilungen 700 W. Rosenthal, Beobachtnngen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen etc. empfiehlt auch er physiologische Kochsalzlösung oder aber gar keine Verdünnung des Blutes. Im letzteren Fall ist es nötig, das Blut in so dünner Schicht auszubreiten, dass die roten Blutkörperchen noch durch breite Zwischenräume getrennt liegen, damit man neben ihnen die etwa vorhandenen kleineren Gebilde erkennen kann. Ich habe bei meinen Untersuchungen von Anfang an Ver- dünnungen mit steriler Kochsalzlösung von 0,85°/, verwendet und zwar verfahre ich folgendermaßen: Objektträger und Deckgläser, mit Alkohol und Äther gereinigt, sind vor dem Gebrauch sterilisiert; die Blutentnahmestelle, beim Huhn immer eine Spitze des Kammes, wird ebenfalls mit Alkohol und Äther gereinigt. Auf Objektträger oder Deckglas wird ein Tröpfchen der Verdünnungsflüssigkeit ge- bracht, das frisch vorquellende kleinere Blutströpfehen in diesen Tropfen hinein abgetupft und nun möglichst rasch zugedeckt und mit Wachs umrandet. Da aber meine eigenen Beobachtungen mir in Übereinstimmung mitden Angaben W eidenreich’s (31) und Mosso’s (18) dartaten, dass es wirklich indifferente Salzlösungen zur Verdünnung des Blutes nicht gibt, habe ich auch Kontrollpräparate ohne Zusatz angefertigt; dazu tupfte ich ein kleines Blutströpfehen mit einem sehr dünnen Deckglas (0,08 mm dick) ab und legte es auf den Objektträger auf: in der Mitte wird dann die Schicht etwas dicker und die Blut- körperchen liegen dicht gedrängt, an den Rändern aber breitet sich das Serum etwas langsamer in einer außerordentlich dünnen Schicht aus, so dass auch die flach liegenden Erythrozyten festgeklemmt und je weiter hinaus, desto spärlicher werden. So erhält man auch in derartigen Präparaten kleine Bezirke, die sich zur Untersuchung des Blutplasma auf kleinste suspendierte Teilchen und zur ultra- mikroskopischen Betrachtung eignen. Auch diese Untersuchungs- weise hat ihre Nachteile: die roten Blutkörperchen sind fixiert, liegen alle auf der Fläche und werden durch den Druck des durch die Kapillarität angesaugten Deckglases mehr oder minder deformiert. Es sind nur kleine Bezirke, in denen man das Plasma untersuchen kann und in diesen ist die Schicht so dünn, dass frei schwebende Teilchen leicht und bald an den Glasflächen haften bleiben und dadurch der Beobachtung entzogen werden. Weidenreich (35) hat zur Untersuchung der Gestalt der Erythrozyten als indifferentes Zusatzmittel Blutserum derselben Tierart empfohlen; für unsere Zwecke eignet sich dasselbe nicht, da wir nicht wissen können, was für mikroskopisch oder ultra- mikroskopisch sichtbare Teilchen wir damit in das Präparat bringen. Für die ultramikroskopische Untersuchung kann auch die Auf- saugung des Blutes in Hollundermarkscheibchen, wie sie Arnold und seine Schüler üben (2), nicht in Frage kommen. So bleibt W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 701 nur die vergleichende Untersuchung des mit Salzlösungen verdünnten Blutes und des Blutes ohne. Zusatz. 11. Blutstäubehen und freie Granula im Blut. Untersucht man mit Salzlösungen verdünntes Hühnerblut mit dem Ultramikroskop, so sieht man immer neben den Blutkörperchen in größerer oder geringerer Zahl lebhaft frei tanzende leuchtende Pünktchen. Die Bewegungen derselben sınd bei den starken Ver- größerungen (1000 mal bıs 2250 mal), die man anwenden kann, über- raschend ausgiebig und rasch; ich habe Exkursionen von 1—2 u, die mehrfach ın der Sekunde erfolgen, beobachtet. s Man hat oft den Eindruck, als ob die Teilchen sich fort- schnellten und möchte diese Bewegungen zuerst für Eigenbewegungen halten. In diesem Sinne hat wohl zuerst Kahane (13), die Be- wegungen solcher kleinster Körperchen ım Blut beobachtet und beschrieben. Mit H. F. Müller (20), der für derartige Teilchen die Bezeichnungen Blutstäubchen oder Hämokonien eingeführt hat, bin ich überzeugt, dass es sich lediglich um Brown’sche Molekular- bewegung handelt, wenn auch die Teilchen unter diesen schwingenden oder zitternden Bewegungen vom Platz rücken, weil sich Flüssig- keitsströmungen in den Präparaten wohl kaum ganz vermeiden lassen. Da die Präparate bei der ultramikroskopischen Untersuchung auf der Kante stehen, senken sich die Teilchen in der Regel und wandern so langsam, an den meist festhaftenden Erythrozyten vorbei, durch das Gesichtsfeld. Ein Teil dieser Körperchen erscheint als lichtschwache Pünktchen und stellt unzweifelhaft „submikroskopische“, auf andere Weise nicht abbildbare Teilchen dar, die in keiner Dimension die halbe Wellenlänge des beleuchtenden Lichtes erreichen. Man sieht aber alle Übergänge zu heller leuchtenden Teilchen und auch zu solchen, die schon Abweichungen von der Kreisform erkennen. lassen, also eine mikroskopisch darstellbare Ausdehnung haben müssen. Der Siedentopf’sche Apparat ist nun mit einer Vorrichtung versehen, die den raschen Übergang von der Dunkelfeld- zur lulkihes Beleuchtung -gestattet: mit drei Handgriffen kann die Deleuehen Lupe gegen den üblichen Abbe’schen Kondensor ausgewechselt und die Irisblende, und wenn man will zugleich eine Mattscheibe, eingeschaltet werden. Macht man von dieser Möglichkeit Gebrauch, so kann man sich überzeugen, dass die größeren, helleuchtenden Körperchen auch bei direkter Beleuchtung erkennbar sind: dieser Wechsel der ultramikroskopischen und der regulär mikroskopischen Betrachtung ist ein gutes Mittel, sich für die äußersten Leistungen der Mikroskopie einzuüben. Viele sorgfältig wiederholte Versuche haben mich aber überzeugt, dass das Urteil, das man sich auf diesem Wege bildet, ob gewisse Teilchen wirklich „submikroskopisch“, 702 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen etc. oder noch auf gewöhnlichem Wege erkennbar sind, unzuverlässig ist. Man kann nämlich mit dem zentral abgeblendeten Objektiv und der zum ultramikroskopischen Apparat gehörenden Bogenlampe nicht dieselben günstigsten Beleuchtungsverhältnisse erhalten, wie mit einem gewöhnlichen Objektiv; verengert man die Irisblende über ein gewisses Maß, so erhält man eine Dunkelfeldbeleuchtung, nur viel unvollkommener als mit der „Speziallupe“, die man eben ausgeschaltet hat; erweitert man die Blende, bis das Gesichtsfeld hell erscheint, so ist die Strahlenfülle schon zu groß für die Er- kennung kleinster, farbloser Körperchen. Das beste Ergebnis erhält man mit etwas exzentrischer mäßig enger Blende, aber doch nıe ein so gutes, als wenn man dieselben Präparate mit der oben angegebenen, von Siegel besonders empfohlenen Anordnung betrachtet; dann lernt man bald. einen überraschend großen Teil der im ultramikroskopischen Bild so auf- fallenden Teilchen auch hier erkennen!). Bei solchen vergleichenden Untersuchungen mit verschieden- artiger Beleuchtung drängt sich einem die Beobachtung auf, dass die Helligkeit und die Größe der Beugungsscheibchen im ultra- mikroskopischen Bild durchaus nicht von der Größe der betreffenden Teilchen allein abhängt. Man erkennt zuweilen bei gewöhnlicher Beleuchtung durchaus nicht allzu kleine Körperchen, aber allerdings sehr blass, die man ım ultramikroskopischen Bild als ebenso blasse, wenig auffallende Lichtpünktchen wiederfindet, während andere auf- fallend hell leuchtende Teilchen, deren Beugungsscheibcehen eine gut messbare Ausdehnung haben, sich im gewöhnlichen Bild als aller- winzigste, kaum erkennbare Teilchen entpuppen, die allerdings dann sehr stark lichtbrechend oder undurchsichtig erscheinen. Die Diffraktion, die uns die Teilchen bei der Siedentopf’scben An- ordnung sichtbar macht, hängt eben nicht nur von der Größe, sondern auch von der Durchsichtigkeit und dem Brechungsindex der Körperchen ab. In den Hühnerblutkochsalzpräparaten nun finden sich die wirklich submikroskopischen Teilchen in außerordentlich wechselnder Menge; zuweilen spärlich, nur einzelne auf mehrere Erythrozyten, selten in großer Zahl, alle Lücken zwischen letzteren erfüllend. 1) Die Bilder, die man so mit enger Blende erhält, beruhen jedenfalls auch zum großen Teil auf Diffraktion, wie ja auch Abbe eine hierauf begründete Theorie der mikroskopischen Abbildung geschaffen hat. Versucht man diese Teilchen mit Hilfe von Okularmikrometern zu messen, so erkennt man, dass ihre Konturen nicht einfach und scharf sind, sondern ebenfalls Beugungsscheibchen darstellen. Mir scheint es daher nicht unwahrscheinlich, dass wir auch auf diesem Wege schon Teilchen sichtbar machen können, deren Dimension unterhalb der Helmholtz- Abb e’schen Größengrenze, der halben Wellenlänge des beleuchtenden Lichts, bleibt, nnd die also in diesem Sinne auch schon als submikroskopisch zu bezeichnen wären. Für Linien, die in einer Dimension weit unter dieser Grenze bleiben, hat Lord Rayleigh eine derartige Berechnung ausgeführt. er W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 705 Solche Unterschiede kann man nicht nur zwischen Präparaten, die aus dem Blut verschiedener Tiere oder zu verschiedenen Zeiten angefertigt sind, sondern zuweilen auch in zwei gleichzeitig und möglichst auf gleiche Weise angelegten Präparaten von demselben Blut finden, ja sogar auch in verschiedenen Teilen eines Präparates. Eine genaue Vergleichung lehrt dann meist, dass dort, wo diese Stäubchen zahlreicher auftreten, auch sonstige Veränderungen sich deutlich machen: eine größere Zahl von Erythrozytenschatten, Spuren einer Quetschung oder von Schrumpfung. Zuweilen kann man auch Erythrozyten sehen, die einen deutlichen Riss, eine Ver- letzung aufweisen und diese Wunde fällt ım ultramikroskopischen Bild dadurch auf, dass ein kleines, aber lebhaft durcheinander zitterndes und flimmerndes Häufchen von Blutstäubchen sie umgibt. Die Zahl der submikroskopischen Körperchen nımmt in den ersten Stunden nach der Anfertigung eines Präparates meist deutlich zu; sie kann aber, besonders wenn das Präparat gequetscht worden ist, auch schon nach wenigen Minuten sehr groß und in anderen Fällen auch nach Stunden sehr spärlich sein. In noch weiterem Verlauf mindern sich die freitanzenden Körperchen meist. Ver- mutlich bleiben sıe großenteils an den Glasflächen haften; dadurch werden sie zwar nicht ultramikroskopisch unsichtbar, aber sıe lassen sich nun nicht mehr von solchen Teilchen, die von vornherein dort hafteten, unterscheiden und leider gelingt es nicht, die zu ver- wendenden Gläser völlig „ultramikroskopisch rein“ zu putzen. In den Hühnerblutpräparaten ohne Zusatz habe ich nie größere Mengen submikroskopischer Stäubchen gefunden, außer wenn grobe Quetschungen des Präparates erfolgt waren. Vereinzelte submikro- skopische wie auch ziemlich helle, schon bei direkter Beleuchtung erkennbare Teilchen findet man jedoch immer. Ich glaube deshalb, dass im Hühnerblut im größerer Menge - auftretende submikroskopische Teilchen als Kunstprodukt anzusehen sind: als Ausdruck einer Eiweißfällung, die entweder allein durch die Verdünnung des Blutplasma mit einer Salzlösung oder, häufiger, dann eintritt, wenn vorher Bestandteile der roten Blutkörperchen in das Plasma gelangt waren. Bei Säugetieren liegen die Verhältnisse vermutlich anders. Ich habe zu Vergleichszwecken öfters Menschen- und Kaninchenblut in entsprechender Weise wie das Hühnerblut untersucht. Auch hier waren die Befunde submikroskopischer Körperchen außerordentlich wechselnd; sie fanden sich aber zuweilen in großer Zahl auch in ganz frischen Präparaten ohne jeden Zusatz oder Zeichen einer Schädigung. Nun findet man, wenn man viele Proben menschlichen Blutserums zu sehen Gelegenheit hat, darunter nicht ganz selten durchaus trübe, opaleszierende. Ein solches Blut muss ultramikro- 704 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen etc. skopisch sich von diskreten, leuchtenden Teilchen erfüllt zeigen; die wechselnde Zahl solcher Blutstäubchen in verschiedenen Proben von demselben gesunden Individuum, die schon von H. F. Müller selber, wie auch schon von älteren Autoren, hervorgehoben worden ist (20), hängt vermutlich mit dem Verlauf der Verdauung und dem Eintritt der Chylusflüssigkeit in den Blutstrom zusammen. Ich glaube nach meinen Beobachtungen, dass eine Unter- scheidung zwischen den kleinsten, rein submikroskopischen Teilchen und den H. F. Müller’schen Blutstäubchen sich nicht durchführen lässt, und wir den Begriff der letzteren auch auf die mit dem Siedentopf’schen Apparat erst sichtbar gewordenen Teilchen des normalen Blutes ausdehnen müssen. Erst nach Abschluss dieser Niederschrift wurde mir eine Mit- teilung bekannt, die ©. Reichert 1905 der Wiener Akademie der Wissenschaften eingereicht hat (36). R. hat im frischen unver- dünnten Menschenblut mit Hilfe des Ultramikroskopes ebenfalls solche Teilchen gefunden und Beziehungen zwischen ihrer Häufigkeit und Alter und Nahrungsaufnahme der Versuchspersonen aufgestellt. Die älteren Untersuchungen über Blutstäubchen erwähnt er nicht. Neben den bisher besprochenen allerfeinsten finden sich im Blut gesunder Hühner nur sehr spärlich größere, d. h. von !/, bis zu höchstens 2 u im größten Durchmesser messende Gebilde; doch wird man bei sorgfältigem Suchen auch solche von verschiedener Gestalt und Lichtbrechungsvermögen nie ganz vermissen; bestimmte Typen unter diesen Körperchen, die großenteils dieselbe lebhafte Mole- kularbewegung zeigen, wie die eigentlichen Blutstäubchen, kann ich nicht aufstellen. Viel häufiger habe ich sie im Blute kranker Hühner gefunden, und da lässt sich eine Art derselben nach ihrer Herkunft bestimmen: nämlich spindelförmige, stark lichtbrechende Körperchen von etwa !/, u Dieke und 1-2 u Länge, die nichts anderes sind als freie azidophile Körnelungen der eosinophilen Blutzellen, die beim Huhn diese leicht kenntliche Spindelform besitzen. Auch in Trockenpräparaten desselben Blutes kann man durch die charak- teristische Färbung diese freien Granula neben zerfallenden azido- philen Zellen nachweisen, so dass eine Verwechslung, etwa mit Bakterien, ausgeschlossen ist. Deshalb glaube ich auch die Mehr- zahl der von ihnen verschiedenen, aber in der Größenordnung ent- sprechenden Teilchen als Trümmer von zugrunde gegangenen Leuko- zyten ansehen zu dürfen!). 1) Die von Raehlmann [22] mitgeteilten Befunde über sich bewegende Teilchen innerhalb verschiedener Arten von Blutkörperchen habe ich nicht be- stätigen können. \ W.Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 705 Ill. Fadenbildung im Hühnerblut. Die bisher geschilderten Befunde haben gewiss durchaus nichts Auffallendes an sich, Aber zuweilen kann man sehr überrascht werden, wenn man ein mit ungefähr isotonischer Kochsalzlösung bereitetes Hühnerblutpräparat einige Stunden oder auch einen Tag nach der Herstellung wieder mit stärkster Vergrößerung untersucht. Da kann man nämlich zwischen den röten Blutkörperchen und ihnen anhaftend eine große Zahl zarter Fädchen von beträchtlicher Länge, die wohl sogar die Erythrozyten an Zahl übertreffen können, finden. Das auffallendste an diesen Fädchen ist ihre Beweglichkeit: fortwährend sieht man sie, wie ein von wechselnden Strömungen bewegtes Wassergewächs sich wellenförmig schlängeln und die festgehefteten mit den freien Enden sich nach allen Seiten wenden. Sıe haben gemeinsam eine große Zartheit, geringe Lichtbrechung, einen meist ganz glatten Kontur uud die große Flexilität; an Länge sind sie außerordentlich verschieden, von 2—25 u, und auch ihre Dicke variiert etwas: vielleicht können sie zuweilen beinah !/, u Dicke erreichen und sind dann auch bei geringer Okularver- größerung und hellem Gesichtsfeld erkennbar, die meisten aber sind dünner und stehen gerade an der Grenze des mikroskopisch darstell- baren, so dass sie mit schwächeren Okularen oder nicht intensivster Beleuchtung kaum aufzufinden sind. Wenn sie zahlreich vorhanden sind, so findet man vielleicht die Mehrzahl frei fluktuierend; bei sonst ganz glattem Kontur er- scheinen dann die Enden meist leicht verdickt und abgerundet. Je seltener sie sich finden, desto spärlicher sind die frei schwimmenden gegenüber den an Blutkörperchen angehefteten. Und zwar findet man sie am häufigsten einzeln dem Polende eines roten Blut- körperchens angeheftet. Seltener findet man Erythrozyten, die an beiden Polen solche Fädchen tragen. In manchen Präparaten aber treten sie auch nicht so selten mehrfach an einem Erythrozyten auf: sie sind dann meist kleinen Zäckchen an den Polen angeheftet, seltener gehen sie von einem anderen Punkt des Randes, oder von der Fläche in der Nähe des Kerns aus. Bei einem so überraschenden Befunde drängt sich naturgemäß zuerst die Frage auf: handelt es sich um Verunreinigungen, um selbständige Lebewesen? Dafür könnte ja die auffallende Beweg- lichkeit, das Auftreten in den Präparaten erst im Verlaufe einiger Zeit und die Zunahme an Zahl während eines gewissen Zeitraumes sprechen. Nun, Bakterien sind es gewiss nicht: dazu sind die Fädchen zu zart, zu schwach lichtbrechend und vor allem zu flexil; wegen dieser Eigenschaft könnte man an die jetzt eine so be- deutende Rolle spielenden Spirochäten denken: aber außer der Flexilität ergibt sich doch auch mit diesen kein wesentlicher Ver- XXVl. 45 706 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. gleichspunkt. Sie können aber vor allem deshalb weder Bakterien noch Spirochäten sein, weil ihre Färbung in Trockenpräparaten nicht gelingt. Und eine sorgfältige Beobachtung ergibt auch sonst keinen Anhalt, sie für Lebewesen zu halten: ihre Bewegungen tragen immer den Charakter eines passiven Fluktuierens und so auffallend ausgiebig sie auch bei den starken Vergrößerungen er- scheinen, so bleiben sie doch immer entsprechend der Brow.n’schen Bewegung benachbarter freier Blutstäubchen. Man findet auch kein Zeichen einer Vermehrung durch Teilung an ihnen; und während in dem einen Präparat innerhalb einiger Stunden eine große Zahl dieser Fädchen erscheint, findet sich in einem anderen zu Beginn wie Ende des gleichen Zeitraums nur dieselbe sehr spärliche Zahl. Von einer erkennbaren Struktur dieser Fädchen kann überhaupt keine Rede sein. In möglichst rasch nach der Anfertigung untersuchten Präparaten habe ich nie einen solchen fertigen Faden finden können, die zahl- reichsten aber in 10-24 Stunden alten Präparaten. Wir müssen also annehmen, dass die Fädchen aus den Blutbestandteilen sich außerhalb des Körpers bilden. Diese Bildung selbst zu beobachten, ist mir aber nur an einem Präparat geglückt, dort aber an zwei verschiedenen Erythrozyten und es erscheint mir lohnend, das Beobachtungsprotokoll im wesent- lichen Teil ausführlich wiederzugeben. Mindestens eine halbe Stunde nach der Blutentnahme zeigt ein Erythrozyt an dem einen Ellipsenpol eine Ausziehung, die ın eine zarte, hin- und herpendelnde Geißel übergeht. Diese als Aus- wuchs des Erythrozytenleibs erscheinende Geißel streckt sich sicht- lich, ohne erkennbare äußere Einwirkung: Erythrozyt und Geißelende, besonders das letztere, flottieren frei. Dann ist eime zarte Ab- grenzung, wie eine Lücke, zwischen dem Spitzchen des Erythro- zyten und dem Faden zu erkennen und auf einmal ist dieser nun etwa 6 «u lange Faden frei und flottiert unter wellenförmigen pendelnden Bewegungen. Beim Verfolgen dieses Fadens fällt bald eine gleichartige Aus- ziehung an einem anderen Erythrozyten auf, die zunächst noch kurz ist, etwa 3 « misst, aber sichtlich sich verlängert. Auch hier ist keinerlei äußere Einwirkung zu erkennen, sowohl der Erythrozyt wie das anscheinend etwas knopfförmige Fadenende flottieren frei. Nun wird das Fadenstück mit dem Okularmikrometer auf 6 u ge- messen. Es streckt sich, immer unter pendelnden, flottierenden Schlängelungen zusehends, ohne merklich dünner zu werden; als es etwa 9 u lang ist, ist eine deutliche Abgrenzung, wie eine Lücke, von dem Erythrozyten vorhanden, es bleibt aber noch lange mit ihm verbunden und wächst weiter, so dass es ebensolang wie die Längsachse des Erythrozyten, nämlich 12 « lang wird. Der Erythrozyt, W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 707 der in einem fort seine Stellung und auch langsam den Ort ändert, wird dauernd in Beobachtung behalten, etwa eine Stunde lang, bis auf einmal der Faden losgelöst ist. Nun wird der Faden im Auge behalten; den Erythrozyten von anderen zu unterscheiden ist nicht möglich. Der Faden zeigt nach der Loslösung keine Veränderung, er bleibt von gleicher Länge und flottiert frei unter auf- und ab- laufenden Schlängelungen. Er wird noch eine Viertelstunde etwa beobachtet, dann geht er bei einer Erschütterung des Mikroskops aus dem Gesichtsfeld verloren und kann nicht wieder erkannt werden, da jetzt gleichartige Fäden in größerer Zahl im Präparat vorhanden sind, die beim Beginn der Beobachtungen ganz gefehlt hatten. Diese Beobachtung, die ein glückliches Erfassen des rechten Zeitpunktes und viel Geduld erfordert, zu wiederholen, ist mir nicht gelungen. Über eine etwas andersartige Entstehung ähnlicher Fadenbildungen im Mäuseblut werde ich weiter unten een) Die ersten und auffallendsten dieser Befunde wurden am Blute kranker Hühner und bei Verdünnung mit 0,85°/, Chlornatriumlösung erhoben. Bald zeigte sich, dass auch am Blut ganz gesunder Tiere und ohne jeden Zusatz dieselben Fädchen, wenn auch im unver- dünnten Blut meist nur in geringer Anzahl, auftreten. Es gelang mir aber nicht, die Bedingungen für das Auftreten des Phänomens zu beherrschen: bei anscheinend ganz gleichem Verfahren fanden sich zuweilen Massen, meist nur wenige dieser Gebilde und einige Male, auch bei wiederholter Untersuchung einzelner Hühner wurden sie ganz vermisst. Ja in demselben, durch Auffangen des Blut- tröpfchens in einem Tröpfchen Kochsalzlösung bereiteten Präparat habe ich zuweilen in einigen Partien ne in anderen gar keine dieser Fädchen gefunden A) Ich habe keinen Bericht eines früheren Beobachters gefunden, der mir gleichartige Erscheinungen, wie die eben en wiederzugeben schien. Sucht man aber Beziehungen zu wenigstens ähnlichen Tatsachen, so wird man zunächst an die Fibringerinnung, dann an die durch die verschiedensten Agentien hervorgerufenen Abschnürungen an roten Blutkörperchen und in letzter Linie an die von Gaule (8) beobachtete Auswanderung von lebhaft eigenbe- weglichen „Würmchen“ aus den Erythrozyten des Frosches erinnert. 1) Ich habe darauf verzichtet, diese Beobachtungen durch eine Abbildung darzustellen; denn als das eigentlich charakteristische dieser Fädchen erscheint mir ihre Beweglichkeit und ihre außerordentliche Zartheit; und da die erstere Eigen- tümlichkeit gar nicht, die zweite nur sehr unvollkommen in einer Zeichnung sich wiedergeben lässt, so würde diese doch nur eine schematische Andeutung des mikro- skopischen Bildes sein. Eine solche erschien aber bei der großen Einfachheit des Darzustellenden als überflüssig. Eine Mikrophotographie endlich ist schon durch die Beweglichkeit ausgeschlossen. 45* 8 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 8 g 8 Zunächst können wir diese letzte Beziehung ausschließen: denn eine solch lebhafte Eigenbewegung, wie sie für die Gaule’schen Würmchen charakteristisch erscheint, fehlt den Fädchen vollkommen. Die Analogie zu den an zweiter Stelle genannten Erscheinungen geht dagegen schon aus den obenstehenden Beobachtungen hervor. Unter den Agentien, die Abschnürungen von Kugeln und Fäden an roten Blatkösporchen hervorrufen En stehen die Erhitzung auf etwa 53° (Beale 6, Max Schultze 23) unter den physikalischen und der Harnstoff unen den chemischen Mitteln obenan. Die Schilderungen von Beale und Max Schultze, von denen letzterer auch Hühnerblut untersucht hat, sınd in manchem der eben wieder- gegebenen Beobachtung recht ähnlich, aber beide sprechen doch nie von ganz glatten Fäden. Und M. Schultze gibt besonders an, dass bei längerer Beobachtung die Fäden sich wieder zu Kugeln, die frei oder nur noch durch dünnste Stielchen untereinander oder mit dem Rest des Blutkörperchens verbunden sind, abrunden. Etwas Derartiges habe ich in meinen Präparaten nie beobachten können. Auch konnte ich durch Erhitzung von verdünntem Hühner- blut auf 50°—60° durchaus nicht die Fadenbildung befördern und überhaupt keine Abschnürungen von Erythrozytensubstanz herbei- führen. Dagegen trat Fadenbildung ein ın Präparaten, die seit der Anfertigung ım ziemlich kühlen Zimmer unberührt gelegen hatten. Durch den Zusatz eines Harnstoffkristalls zu unverdünntem Hühnerblut konnte ich, neben rascher Schattenbildung und Ver- wandlung gefärbt bleibender Erythrozyten in Kugeln, die Ab- schnürung verschieden großer, meist kugeliger Teilchen von den Polenden der Erythrozyten hervorrufen, die öfters durch wirklich kaum mehr erkennbare Fädchen noch an dem Ursprungsort be- festigt erschienen; in solch einem Präparat sah ich auch an einzelnen der wie „angenagten* Erythrozyten längere zarte, fluktuierende Fäden nach wenigen Minuten auftreten, die sich nur dadurch, dass auch sie einige kleine Anschwellungen aufwiesen, von den typischen Fädchen unterschieden; bei längerer Einwirkung des Harnstoffes waren aber diese Bilder wieder geschwunden und zwar die Schatten- bildung und Quellung viel weiter verbreitet als vorher, aber keine -Fadenbildung mehr eingetreten. Das Auffangen des Blutes ın Harnstofflösungen (1°/, u. 2°/,) führte alle roten Blutkörperchen schnell in Schatten über, ohne Abschnürungen zu verursachen, und annähernd isotonische Harn- stoffkochsalzlösungen hatten gar keinen anderen Einfluss als reine Kochsalzlösungen. Wenn man die oben angeführten vereinzelten Beobachtungen als beweisend dafür ansehen will, dass die Fädchen aus der Sub- stanz der roten Blutkörperchen stammen, so ist damit schon eine Beziehung zu der Fibringerinnung im engeren Sinne ausgeschlossen, a k 77 ; W. Rosenthal, Beobachtungen am Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen etc. 709 da ja die Beteiligung der roten Blutkörperchen beı der extravasku- lären Blutgerinnung zuverlässig ausgeschlossen ist. Da aber die Beziehungen zwischen intravaskulärer Thrombose und extravaskulärer Blutgerinnung und die Rolle, die bei der ersteren den Erythrozyten zukommt, auch noch ein Gegenstand der Diskussion sind, habe ich auch auf etwaige Beziehungen der Fadenbildung zur Gerinnung geachtet. Eine richtige Gerinnung konnte ich in meinen Präparaten, auch in denen unverdünnten Blutes, nie beobachten. Nach den histiologischen Untersuchungen über Fibrinbildung in Exsudaten, insbesondere von Hauser [9], ist anzunehmen, dass das Fibrin häufig zunächst in Gestalt feinster Körnchen ausflockt, die sich dann erst zu Fäden und Netzen zusammenfügen. Man kann nun unter den im ersten Abschnitt geschilderten eben sichtbaren Körnchen solche Fibrinteilchen vermuten. Die Fäden, die uns hier interessieren, aber zeigen in ihrer typischen Form durchaus glatten Kontur und nichts, was auf einen Aufbau aus Körnchen hindeutet. Da es sich hier um so außerordentlich feine, nur schwer zu beobachtende Gebilde handelt, so ist es sehr wertvoll, dass die Untersuchung mit dem Ultramikroskop diesen Befund bekräftigt. Es liegt nämlich im Wesen der Abbildung in Beugungsscheibchen, dass alle Ungleichmäßigkeiten der Struktur und Unregelmäßigkeiten der Umrisse gleichsam in übertriebenem Maße sich geltend machen. So erscheinen die Leukozyten wegen der in ihnen enthaltenen Granula im ultramikroskopischen Bild als ein Haufen leuchtender Körperchen, der überhaupt von keinem gemeinsamen Kontur mehr umschlossen ist. Normale rote Blutkörperchen zeigen einen glatten Kontur; Maulbeer- und Stechapfelformen in Säugerblut aber zeigen ein verwirrendes System sich gegenseitig unterbrechender, heller und dunkler Konturlinien. Fäden, die irgendwelche Unregelmäßigkeiten in der Dicke oder auch nur Schraubenwindungen zeigen, erscheinen im Dunkelteld zusammengesetzt aus einzelnen, mit leuchtendem Kontur rings um- gebenen Abschnitten. Die Fäden nun, die uns jetzt beschäftigen, zeigen bei Dunkelfeldbeleuchtung einen zarten, Jlichtschwachen und in der Regel ganz glatten, ununterbrochenen Kontur, so dass wir zuverlässig. auf ihre gleichmäßige Struktur schließen können). 1) Aus dem mehr oder weniger deutlichen doppelten Kontur eines Gebildes im ultramikroskopischen Bild kann man nur auf die Gleichmäßigkeit seiner Oberfläche und seines optischen Baues, nicht aber etwa auf das Vorhandensein oder Fehlen einer Grenzmembran schließen, denn es liegt im Wesen der Abbildung durch Diffraktion, dass jeder abgebildete Körper umgeben erscheint von hellen und dunkeln Zonen; bei sehr hellen (stark das Licht zerstreuenden und großen) Objekten kann man leicht eine größere Zahl solcher Zonen erkennen. Man darf also nicht aus dem „doppelt konturierten‘ ultramikroskopischen Bild einen Schluss ziehen auf das Vorhanden- 710 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen etc. Eine zweite Eigentümlichkeit des Fibrins ist es, dass seine Fäden meist sich zu Netzen verbinden. Eine derartige Verbindung habe ich an diesen flexilen Fädchen, auch wenn sie zahlreich vor- handen waren, nie beobachten können; außerordentlich selten waren auch Bilder, die auf eine dichotomische Verzweigung oder seitliches Anhaften eines zweiten Fadens sich deuten ließen. Eine dritte Eigentümlichkeit der im Gewebe frisch gebildeten Fibrinfäden ist, dass sie besonders häufig von Leukozyten in größerer Zahl ausstrahlen. In den Hühnerblutpräparaten finden sich nun in spärlicher Zahl auch farblose Rundzellen, die zuweilen mit einer größeren Fadenzahl besetzt erschienen, als den Erythrozyten zukam. Es sind das etwa 5 « im Durchmesser zählende Zellen, die keine deutliche Struktur zeigen und die ich glaube mit „kleinen Lympho- zyten* identifizieren zu dürfen, die sich in gefärbten Blutausstrichen in entsprechender Zahl und Größe finden: dort sind es nämlich Rundzellen mit einem verhältnismäßig großen, blassen Kern und schmalem basophilen Protoplasmasaum, der auffallenderweise meist einen unregelmäßigen, mit kleinen Fortsätzchen besetzten Kontur besitzt (Mosso 18, S. 246 hat ähnliches im Vogelblut gesehen). In Präparaten nun, die überhaupt die Fadenbildung zeigen, erscheinen diese Zellen umgeben von einem Strahlenkranz sehr zarter, flottierender Fädchen und häufig auch nöch von kleinen freitanzenden Granula. Die Fädchen selber erschienen zuweilen aus zarten Körnchen zusammengesetzt, doch habe ich auch ebenso glatte, wie die an den Erythrozyten haftenden, unter ihnen be- obachtet. Eine Verbindung zu Netzen habe ich auch an diesen von farblosen Blutzellen ausgehenden Fädchen nie bemerkt. Ich habe auch versucht, Präparate mit den typischen Fädchen in Trockenpräparate zu verwandeln und zu färben. Dies ist aber nie geglückt und besonders fand sich kein nach W eigert färbbares Fibrin auf den betreffenden Gläschen. Dies negative Ergebnis ist aber von nur geringer Bedeutung, weil nach den Erfahrungen von Arnold’s Schülern es überhaupt nur sehr selten gelingt, unter dem Mikroskop ausgeschiedenes Fibrin typisch zu färben (19). Endlich habe ich versucht, zu den Kochsalzlösungen solche Substanzen zuzusetzen, die erfahrungsgemäß die Fibringerinnung verhindern. Im erster Linie verwendete ich Ammoniumoxalat. Dieses ist für die Erythrozyten durchaus nicht indifferent: auch wenn man es in Lösungen verwendet, die der 0,85°/, Chlornatrium- lösung äquimolekular sind, verwandelt es bald die roten Blutkörperchen teils in Schatten, teils in Kugeln mit flüssigem, wenn auch noch sein einer Membran, wie das Raehlmann (22) bezüglich der Erythrozyten und Herxheimer (12) und ihm folgend Curt Thesing (30) bezüglich der Spiro- chaeta pallida getan haben. W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 711 hämoglobinhaltigem Inhalt. Ich habe Lösungen verschiedener Kon- zentration verwendet, die aus neun Teilen einer (0,5—1,0°/,) Chlor- natrıumlösung und einem Teil einer äquimolekularen Ammonoxalat- lösung gemischt waren. Die schädigende Wirkung des Oxalats auf die Erythrozyten zeigt sich dann in geringerem Maße; die Faden- bildung wird jedenfalls durch diesen Zusatz nicht völlig verhindert. Ebenso nicht in einer Lösung von 1°/, Pepton und !/,°/, Kochsalz, die sich als ein auffallend indifferentes Verdünnungsmittel für Hühnerblut erwies. Bei der Launenhaftigkeit, die das Auftreten der Fädchen immer zeigte, ist aber ein bestimmtes Urteil über den Einfluss solcher Lösungen schwer zu fällen. Ich habe wiederholt von „typischen Fädchen“ gesprochen, worunter ich solche verstehe, denen alle folgende Eigenschaften zukommen: große Zartheit, d. h. geringe Lichtbrechung und aller- höchstens !/, u Dicke, glatter Kontur und Flexilität. Es darf nicht verschwiegen werden, dass mir bei dem Suchen nach solchen Bil- dungen unter verschiedenen Bedingungen auch öfters Formen auf- gestoßen sind, die in dem einen oder andern Punkt abwichen, die ich aber doch den meist in den betreffenden Präparaten spärlich vorhandenen typischen Fädchen allzu ähnlich fand, um sie durchaus als verschieden von diesen zu trennen. Das sind also erstens zarteste flexile Fädchen, die aber etwas unregelmäßig gebaut oder richtig aus Körnchen zusammengesetzt erschienen. Ich habe sie schon als Ausläufer farbloser Blutzellen genannt; auch frei im Serum fanden sie sich zuweilen, nie in größerer Zahl, und nur selten Erythrozyten angeheftet. Und es sind das solche Gebilde, die cha gebaut, jedoch etwas dieker als die Fädehen erschienen und vor allem steif: sie fanden sich neben flexilen längeren Fäden zuweilen frei flot- tierend als etwa 3 «u lange, an den abgerundeten Enden merklich verdickte Stäbchen. Ebensolche Gebilde waren auch öfters Erythro- zyten angeheftet oder erschienen als unzweifelhafte Ausflüsse aus deren Kontur. Nicht so selten sieht man Erythrozyten an einem Pol rüssel- artig in die Länge gezogen, was vermutlich auf mechanische Wir- kungen bei der Ausbreitung der Präparate zurückzuführen ist, und diese Fortsätze können kontinuierlich oder auch mit einer zartesten Abgrenzung ebensowohl in lange flexile Fäden als auch in steife farblose Borsten ausgehen. Selten nur habe ich eine Bildung bemerkt, wie sie Meves erwähnt (17), nämlich dass an einem Pol- ende zwei kurze und anscheinend steife Fortsätzchen in einem Winkel zueinander an nah benachbarten Punkten entspringen. In fixierten und gefärbten dünnen Ausstrichen von Hühnerblut finden sich hie und da den letztgenannten Formen entsprechende Fortsätzchen an den Erythrozyten, die sich im Farbenton genau 712 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen etc. wie die Erythrozytenleiber verhalten. Lange, zarteste Fäden habe ich nie ın solchen Präparaten gefunden; sie sind ja dort auch nicht zu erwarten, da sie sich in den feuchten Präparaten immer erst nach einiger Zeit zu bilden beginnen. , IV. Fadenbildungen im Säugetierblut. Es blieb noch zu untersuchen, ob nicht an andern Blutarten unter genau den gleichen Bedingungen sich ähnliches beobachten ließe, wie ım Hühnerblut. An Menschenblut habe ich durchaus nichts Ähnliches be- merken können. Dagegen lassen sich an den roten Blutkörperchen des Kaninchens und der Maus leicht geißelartige Fortsätzchen zur Erscheinung bringen, die jedenfalls einige Vergleichspunkte bieten. Dieselben sind nıcht unbekannt und werden insbesondere in den Abhandlungen Arnold’s und seiner Schüler als „zilien- artige Fortsätzchen“ beschrieben Es scheint mir aber doch nicht genügend bekannt, dass sie sich an manchen Blutarten ziemlich leicht, an anderen aber unter denselben Bedingungen anscheinend gar nicht darstellen lassen. Wenn man Kaninchenblut in leicht hypertonischen Kochsalz- lösungen (0,9—1,0°/,) auffängt, so findet man dort, wo das Bluts- tröpfchen weniger verdünnt ist, mehr oder weniger gut erhaltene biıkonkave Scheiben, verbogene und gebuckelte Formen und „Maul- beerformen“, am Rande aber, wo die reine Kochsalzlösung ein- gewirkt hat, findet man nur „Stechapfelformen“, d. h. regelmäßige Kugeln, die mit zahlreichen, ziemlich regelmäßig verteilten und fast gleichlangen allerfeinsten Fortsätzchen besetzt sind. Untersucht man solche Präparate einige Zeit später oder erst am folgenden Tag, so findet man meist, dass einige, zuweilen viele dieser Fort- sätzchen in allerfeinste, geißelartig schwingende Fädchen ausgehen, die den Durchmesser der Erythrozytenkugeln, an denen sie haften, in ihrer Länge übertreffen können. Sie erscheinen immer in leb- hafter Bewegung und wie aus feinsten Körnchen zusammengesetzt. Auch in 0,85°/, Kochsalzlösung findet man einzelne solcher Stech- apfelformen mit Geißeln. In schwach-hypotonischen Lösungen ent- stehen an den Stellen, an denen das Blut am stärksten verdünnt ist, ebenfalls „Stechapfelformen“, wenn auch mit wesentlich größerem Durchmesser der Kugel; hier sind aber geißelartige Verlängerungen der Fortsätzchen nicht oder nur selten vorhanden. Ebensolche Stechapfelformen und bewegliche Fortsätzchen können sich in geringer Zahl auch finden, wenn Kaninchenblut ohne Zusatz in ganz dünner Schicht untersucht wird. Unter ähn- lichen Umständen, aber auch unter der Einwirkung 10°, Jodkalı- lösung sind sie von Arnold und seinen Schülern gesehen worden (3, 4, 5, 19). An Menschenblut sieht man unter den gleichen Be- Be .- W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 713 dingungen ganz entsprechende Stechapfelformen, mit sehr feinen kurzen Fortsätzchen, nie aber konnte ich eine bewegliche geißel- artige Verlängerung dieser Fortsätzchen auffinden. Dagegen sah ich in verdünntem Mäuseblut zuweilen ähnliche Bilder wie ım Kaninchenblut. In Präparaten von Mäuseblut ohne weiteren Zusatz habe ich dagegen wiederholt Fäden gefunden, die durch ihren ganz glatten Kontur den im Hühnerblut auftretenden viel ähnlicher waren als die eben beschriebenen; sie finden sich frei oder auch Erythrozyten angeheftet, dann aber immer nur einzeln und an scheibenförmigen Blutkörperchen, die häufig sonst ganz glatten Kontur haben, ganz unvermittelt entspringend. Zuweilen sieht man solche Fädchen ganz gerade und starr ausgestreckt, und dann, falls mehrere ım Gesichtsfeld sind, einander parallel; wenn leichte Strömungen vor- handen sind oder durch Druck auf das Deckglas erzeugt werden, kann man erkennen, dass das Ende des Fadens am Deck- glas haftet und das Blutkörperchen gleichsam vor ihm vor Anker liegt. Einigemale löste sich dabei ein solcher Faden vom Deck- glas: sogleich sieht man das Blutkörperchen langsam davon- schwimmen und den Faden in pendelndwellenförmigen Bewegungen flottieren, wie sie auch für die Fädchen des Hühnerblutes charak- teristisch sind. Ein Zerreissen der Fäden, oder Ablösen derselben von den Erythrozyten habe ich nicht beobachtet, doch darf man wohl annehmen, dass die wenigen freien, die sich finden, auf diese Weise entstanden sind. V. Versuch einer Erklärung der Fadenbildung im Hühnerblut und Erörterung des Baues der Erythrozyten. Es sind oben die Versuche wiedergegeben, eine etwaige Be- ziehung der Fadenbildung zur Fibrinbildung festzustellen, die jeden- falls kein positives Ergebnis hatten. Ich will hier unerörtert lassen, ob die geißelnden feinkörnigen Fädchen an den stechapfelförmigen Nager- blutkörperchen möglicherweise Fibrinfädchen darstellen, die durch Apposition des Fibrins an die vorgebildeten Spitzchen entstanden seien. Arnold, der diese zilienähnlichen Fortsätzchen zuerst beschrieben hat, nımmt zwar an, dass sie zur Fibrinbildung in Beziehung stehen, lässt sie aber aus den Blutkörperchen entstehen. Für die gleichmäßig gebauten, glatt konturierten Fäden des Hühner- und Mäuseblutes erschiene die obenstehende Deutung äußerst unwahr- scheinlich, auch wenn: es mir nicht möglich gewesen wäre, ihre Entstehung aus der Substanz der Erythrozyten bei den Hühnern zu beobachten. So leiten diese Beobachtungen uns mitten hinein in die Er- örterungen über den Bau und die Bestandteile der roten Blut- körperchen, die durch Albrecht (1) und Weidenreich (31, 32) 714 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen etc. in den letzten Jahren wieder in Schwung gebracht sind. Sie ver- treten die alte Meinung, dass die Erythrozyten aus einem halb- Hüssıgen, das Hämoglobin enthaltenden Inhalt, dem Endosoma und einer Hülle, einer Membran beständen. Nur wollen sie diese Hülle nicht als eine feste, elastische Haut, sondern ebenfalls als eine zähflüssige, weder mit dem Plasma noch mit dem Endosoma mischbare Substanz auffassen. Mit dieser Annahme lassen sich die als Gegenbeweise gegen die ältere Membrantheorie angeführten tropfenartigen Abschnürungen und Verschmelzungen hämoglobin- haltıger Blutkörperchenteile erklären. Weidenreich dehnt diese Annahmen auch ausdrücklich auf die kernhaltigen Erythrozyten der Amphibien und Vögel aus und widerspricht der Anschauung von Meves, dass diese eine besondere Grenzschicht nur als Kunst- produkt, als eme Niederschlagsmembran, die bei der Einwirkung einer veränderten Umgebungsflüssigkeit auf die zähflüssige Substanz des Blutkörperchens entstehe, besäßen (15). Dagegen hat er sich neuerdings überzeugt, dass den Blutkörperchen der Amphibien der zuerst von M. Heidenhaın beobachtete, von Dehler (7) bei Hühner- embryonen und von Meves (15) bei den Amphibien nachgewiesene Randreif als ein besonderer Strukturteil zukomme. Meves hat nun (17) darauf hingewiesen, dass ım Blut des Feuersalamanders, besonders wenn die Erythrozyten durch eine hypertonische Salzlösung geschädigt sind, sich an manchen Ery- throzyten in der Nähe der Pole heraustretende Fortsätze finden, die er als vorstehende Bruchstücke des zerrissenen elastischen Rand- reifens deutet. Ich habe oben erwähnt, dass ich sehr selten ähn- liche Bilder in meinen Präparaten gesehen habe (S. 322). Es erhebt sich die Frage, ob die flexilen Fäden im Hühnerblut austretende Randreifen oder Teile desselben darstellen könnten? Ich glaube das aus verschiedenen Gründen ausschließen zu können: erstlich zeigen sie eine solche Flexilität, wie sie sich mit der Funktion eines Randreifens, der die elliptisch scheibenförmige Gestalt der Blut- körperchen bedingen soll, wohl kaum vereinigen ließe. Zweitens kann man nicht beobachten, dass bei ihrem Heraustreten diese Gestalt wesentlich verändert würde, wenn auch die betreffenden Erythrozyten meist kleine Unregelmäßigkeiten des Konturs zeigen. Drittens wäre das Vorkommen mehrfacher Fäden an einem Blut- körperchen und vor allem das Entspringen von der Fläche ın der Nähe des Kerns, das ich einige Male beobachten konnte, mit dieser Annahme unvereinbar und wir müssten solche Bilder erklären mit der Hilfsannahme, dass diese Fäden nachträglich an den betreffen- den Stellen der Erythrozyten haften geblieben wären, während sonst nichts für eine solche Klebrigkeit der Fäden spricht. Andere fadenartige Strukturteile, aus denen wir diese Fäden als vorgebildet ableiten könnten, sind nach der Anschauung der W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 715 > fe} 5 Ä angeführten Autoren und nach meiner eigenen Auffassung in den Erythrozyten nicht vorhanden. Ich will hier bemerken, dass ich die Beobachtung W eidenreich’s (31, 32) über das Auskristallisieren von Hämoglobin innerhalb von Erythrozyten für Hühnerblut be- stätigen kann. Ich fand gelegentlich in einem mit 1°/, Chlor- natriumlösung verdünnten Blutpräparat neben leicht zerschrumpften, sonst aber wohlerhaltenen Erythrozyten Schatten, in denen der gesamte gefärbte Inhalt in Gestalt von rhomboidalen Kristallen ausgeschieden war: zuweilen lag nur ein solcher Kristall zwischen dem Kern und dem einen Pol des Schattens, anscheinend mit seinen Flächen etwas dem engen Raume angepasst; öfters fanden sich zwei oder drei kleinere, deutlich gefärbte Kristalle in dem Raum zwischen Kern und Kontur und endlich auch zahlreiche kleinere Kristalle, diesen ganzen Raum erfüllend. Bemerkenswert erscheint mir, dass dabei die zentrale Lage des Kerns und der glatte, übrigens ganz blasse Kontur des Schattens keinerlei Störungen aufwiesen: die Kristalle waren augenscheinlich in einem freien Raum zwischen beiden zur Abscheidung gelangt. Dabei erschien der Umriss dieser Schatten, wie in der Regel bei den Schatten von Hühnererythrozyten, etwas kleiner und vor allem rundlicher als der der farbigen Blut- körperchen: die lange Achse der Ellipse ist wesentlich kürzer, die kurze verhältnismäßig länger als bei diesen. Solche Bilder machten mir wie Weidenreich den Eindruck eines wichtigen Beweisstückes gegen die Annahme irgendeines Gerüstes, das sich zwischen dem Kern und der Oberfläche dieser Blutkörperchen ausspannen sollte. Denn wenn es, wie man weiter annehmen müsste, in diesen Fällen zerstört wäre, so müsste man doch. irgend welche Veränderungen in der Lage des Kerns oder dem Verlauf des Konturs erwarten. Ich glaube also, dass die Fäden in den Erythrozyten nicht vorgebildet sind, sondern erst bei ıhrem Heraustreten aus den letzteren gebildet werden. Ich möchte die näheren Bedingungen dieses Vorganges zunächst bei der Fadenbildung ım Mäuseblut be- trachten, weil sie dort klarer liegen als beim Hühnerblut. Oben S. 324 habe ich eine durchaus objektive Beschreibung meiner Beobachtung gegeben: nun möchte ich das Wesentliche der- selben zu der Schilderung des höchst wahrscheinlichen Verlaufes, den ich in seinen Anfangsstadien freilich nicht verfolgt habe, zu- sammenstellen. Bei der Ausbreitung des unverdünnten Mäuseblutes zwischen Objektträger und Deckglas bleiben einige rote Blut- körperchen mit einem kleinsten Teilchen ihrer gewölbten Oberfläche am Deckglas kleben; durch Strömungen werden sie von dieser Stelle fortgezerrt und nun spinnt sich an dieser Stelle ein dünner Faden aus ihrer Substanz heraus. Dieser Faden hat eine ziemlich große Festigkeit gegen Zug, während er doch flexil ist: er verhält sich also wie ein Gespinstfaden; wird er abgelöst und seine Längs-- 716 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. spannung aufgehoben, so verändert er seine Gestalt nicht mehr, sondern flottiert wie ein Gespinstfaden. Aus diesem sich aufdrängenden Vergleich mit einem „Gespinst- faden“ ergibt sich nun auch die Vorstellung, die man sich meiner Überzeugung nach von seiner Entstehung machen muss. Nur wenn eine zähflüssige Masse ausgezogen wird und im Ausziehen erstarrt, wie es bei der Bildung des Kokonfadens der Seidenraupe, oder bei dem Spinngewebe der Spinne der Fall ist, können solche ganz glatt konturierte, zugfeste, nicht merklich elastische, flexile Fäden ent- stehen. Ich glaube also, dass ein zähflüssiger Bestandteil der Mäuse- bluterythrozyten das Bildungsmaterial dieser Fäden darstellt und dass er im Moment des Herausziehens, also bei der Berührung mit dem Blutplasma erstarrt: dies letztere können wir uns durch die Bildung einer Niederschlagsmembran erklären, wie sie ja mit guten Gründen an der Grenze von Zellplasma und umgebender Flüssig- keit schon oft angenommen worden ist. Dann müssen wir aber weiter annehmen, dass auch das ganze Blutkörperchen schon vorher von einer solchen minimalen Niederschlagsmembran umhüllt war, wie es viele Autoren aus theoretischen, physikalisch-chemischen Gründen schon getan haben. Der Vorgang wäre also der, dass dieses Nieder- schlagshäutchen am Glase kleben bleibt, an der betreffenden Stelle herausgezerrt wird, in diese so entstandene Lücke zähflüssige Masse nachfließt, oberflächlich erstarrt, weiter herausgezerrt wird und so der Faden herausgesponnen wird. Dabei haben wir uns dieses das Blutkörperchen einhüllende Häutchen als kaum elastisch vorzustellen: denn wäre es elastisch, dann müsste sich der Zug über eine größere Fläche ausbreiten, es würde zu einer Formveränderung des Körper- chens kommen, der der Inhalt desselben, wie wir wissen, keinen Widerstand entgegensetzen würde, zu dem .Ausziehen eines Zipfels, aber nicht zu dem Ausspinnen des Fädchens. Die Fädchen in den Hühnerblutpräparaten sind den eben be- sprochenen des Mäuseblutes so ähnlich, dass ich annehme, dass sie ebenfalls durch das Austreten und gleichzeitige Erstarren einer zähflüssigen Masse entstanden seien. Aber ich kann nach den oben wiedergegebenen Beobachtungen nicht annehmen, dass sie ebenfalls durch äußerlich angreifende Kräfte herausgesponnen werden. Sondern ich muss vermuten, dass hier die zähflüssige Masse durch eine winzige in der Niederschlagsmembran entstandene Lücke heraus- gepresst wird. Welcher Art die Spannung ist, die beides bewirkt, kann ich nicht angeben, es ist vielleicht die Schrumpfung, da die betreffenden Blutkörperchen ja meist einige Buckel, besonders an den Polenden zeigen und die Fäden auch aus solehen Buckeln heraustreten oder ihnen angeheftet erscheinen. Dieser Umstand und die Bevorzugung der Polenden stützen auch diese Vermutung, - W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 717 denn an diesen Stellen, wo die Krümmungsspannung am größten ist, muss auch am ehesten ein Zerreissen des Niederschlagshäutchens erfolgen. Oben ist angeführt, dass Meves sich vorstellt, die Amphibien- und Vogelblutkörperchen seien nur in Berührung mit differenten Flüssigkeiten von einem Niederschlagshäutchen, einer Orusta be- grenzt, Weidenreich dagegen, sie besäßen eine Hüllschicht, die identisch sei mit dem Stroma und aus Eiweißsubstanzen einerseits und Lezithin und diesem ähnlichen lipoiden Körpern andererseits zusammengesetzt sei (35, 21). Ich habe mich schon für die An- nahme einer Niederschlagsmembran entschieden: die Frage ist nun, ob diese Annahme genügt, oder ob wir außerdem noch die Hüll- schicht im Sinne Weidenreich’s annehmen wollen. Im ersten Falle müssen wir die zähflüssige Substanz, die austretend und er- starrend die Fädchen bildet, mit der hämoglobinhaltigen Haupt- substanz der Erythrozyten identifizieren, im letzteren Fall können wir sie aus der Hüllschicht ableiten. Ich glaube nun, dass die erstere, einfachere Annahme zu Wider- sprüchen führt. Wir wissen, dass das Hämoglobin in Kochsalz- lösungen vollkommen löslich ist, dass es unter den verschiedensten Umständen leicht in Lösung geht. Hier aber hätten wir nach einer Durchbrechung des Niederschlagshäutchens, nach unserer Hypothese der einzigen Membran, nicht Lösung des Hämoglobins, Schattenbildung, sondern das Blutkörperchen bleibt farbig und eine ım Plasma oder der Kochsalzlösung unlösliche, erstarrende Masse tritt aus. Die andere Annahme aber, dass dıe austretende Masse ein Teil der zähflüssigen Hülle im Sinne Weidenreich’s sei, erklärt das Nötige, denn das Stroma der roten Blutkörperchen ist ja in wässrigen Lösungen unlöslich. Durch welcherlei Kraft nun aber diese zäh- flüssige Masse hervorgetrieben wird, darüber vermag ich nichts auszusagen. Weidenreich (31) spricht sich über den Zustand der Hüllschicht nicht ganz entschieden aus. Er braucht wiederholt den Vergleich mit einem Gummiball, also mit einer festen elastischen Membran, z. B. um die Dellenformen der Erythrozyten zu erklären; an anderen Stellen zieht er als Beweis für die Existenz der Membran Faltenbildungen und Risse in derselben an, die auch nur bei einer festen Membran vorkommen können; die Haupteinwände der Membrangegner aber weist er ab mit der Annahme einer zähflüssigen Membran. Dass er den flüssigen Aggregatzustand nicht für den normalen ansieht, geht freilich daraus hervor, dass er von einer vermutlichen Ver- flüssigung der Membran durch die Wärme spricht, aber eine genauere Beschreibung der Membran unter normalen Verhältnissen gibt er nicht. Ich glaube nun, dass wir mit der Annahme einer zähflüssigen 718 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen etc. Hülle, die sich gegen das Blutplasma durch ein Niederschlags- häutchen abgrenzt, allen Anforderungen an die Membran der Ery- throzyten gerecht werden können; Runzeln kann das feste Nieder- schlagshäutchen bilden, größere Risse müssen als solche bestehen bleiben, wenn sie selbst rasch durch frische Niederschlagsmembranen begrenzt werden. In den Fällen, in denen Weidenreich von einer Verflüssigung der Membran spricht, nehmen wir eine Auflösung des Niederschlagshäutchens an: es stimmt mit anderen Erfahrungen überein, dass diese sowohl durch physikalische Einwirkungen, wie die Erhitzung, wie durch chemische Stoffe, Harnstoff z. B., herbei- geführt werden kann. Bei einer solchen Verflüssigung, die eine Lösung des Häutchens in der einen oder der andern der beiden Flüssigkeiten, die es begrenzt, darstellt, müssen naturgemäß wesent- liche Änderungen auch in der Oberflächenspannung entstehen und, wenn sie nicht an der ganzen Oberfläche gleichmäßig eintreten, zu reißenden Strömungen und damit zu Bewegungsvorgängen, Ausfließen und Abschnürungen, sowohl der Hüllsubstanz als auch des Endo- soma führen können, wie dies Bütschli und neuerdings M. Heiden- hain (10) ausgeführt haben. So scheinen mir z. B. auch die oben angeführten Unterschiede in der Wirkung des Harnstoffs, je nach- dem er konzentriert und ungleichmäßig oder als Lösung zur Wirkung gelangt, verständlich. So glaube ich also, Weidenreich’s Annahmen über die Struktur der Erythrozyten ım wesentlichen bestätigen zu können. Auf die von ıhm aufgeworfene Frage über die normale Form der Säugererythrozyten habe ich keinen Anlass ausführlicher ein- zugehen; doch möchte ich bemerken, dass ich in den ohne Zusatz gefertigten Präparaten von Menschen-, Kaninchen- und Mäuseblut sehr mannigfaltige Formen der Erythrozyten, in großer Zahl auch die von Weidenreich für die normalen erklärten einfach ein- gedellten Napfformen gesehen habe. Ergebnisse. 1. Im normalen unveränderten Hühnerblut finden sich Blut- stäubehen nur in geringer Zahl. In größerer oder sehr großer Menge treten aber submikroskopische Teilchen jedesmal auf, wenn das Hühnerblut in vitro mit Salzlösungen verdünnt oder die Blut- körperchen irgendwie geschädigt werden. 2. In Hühnerblutpräparaten sieht man, zuweilen in großer Zahl, unter nicht festzustellenden Bedingungen zarteste, glatte, flexile Fädchen aus den Erythrozyten entstehen. 3. Im Mäuseblut kann man zuweilen gleichartige Fädchen finden, die augenscheinlich durch Zug aus der Oberfläche der Erythrozyten herausgesponnen sind. Vermutlich entstehen sie, analog einem W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 719 Kokonfaden, durch Ausziehen und Erstarren einer zähflüssigen Substanz. 4. Die Fadenbildung ım Hühnerblut ıst dementsprechend zu erklären, nur muss hier eine in den Blutkörperchen wirkende Kraft die Fäden vortreiben. 5. In Übereinstimmung mit Weidenreich’s Ausführungen ist anzunehmen, dass die reifen Erythrozyten des Huhnes bestehen: aus dem Kern, dem hämoglobinhaltigen, wasserlöslichen Endosoma und der wasserunlöslichen Hüllschicht; letztere ıst vermutlich zäh- flüssıg, aber nach außen durch ein Niederschlagshäutchen begrenzt. Aus ihrer Substanz sınd die Fadenbildungen abzuleiten. Für oder gegen das Bestehen des Randreifens ıst aus den vorstehenden Beobachtungen nichts abzuleiten, sonstige Strukturen in den roten Blutkörperchen des Huhnes sind aber nicht anzunehmen. Literatur. l. E. Albrecht, Neue Beiträge zur Pathologie der Zelle. Verhandlungen der deutschen patholog. Ges. zu Karlsbad 1902, 8. 7. 2. J. Arnold, Zur Technik der Blutuntersuchung. Zentrallblatt f. allgem. Pathol. u. s. w. 7. Bd., 1896, 8. 705. 3. Ders., Zur Biologie der roten Blutkörperchen. Münch. Med. Wschr. 1896, S. 417. 4. Ders., Zur Morphologie u. Biologie der roten Blutkörperchen. Virchow’s Archiv 145. Bd. 1896. 5. Ders., Über die Herkunft der Blutplättchen. Zentralbl. f. allgem. Pathol. u. s. w. 8. Bd., 1897, S. 289. 6. Lionel S. Beale, Observations upon the nature of the red blood -corpuseles. Transact. of the microscop. soc. of London, vol. XII, 1864, S 32. ° 7. Adolf Dehler, Beitrag zur Kenntnis u. s. w. Archiv f. mikroskop. 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Meves, Zur Struktur der roten Blutkörperchen bei Amphibien und Säugetieren. Anatom. Anzeiger 23. Bd., 1903, S. 212. 790 W. Rosenthal, Beobachtungen an Hühnerblut mit stärksten Vergrößerungen ete. 16. 26. Ders., Die Hünefeld-Hensen’schen Bilder u. s. w. Ebendort, 24. Bd., S. 465. . Ders., Über Auftreten von Deformationen u. s, w. Ebendort 25. Bd., 1904, S. 465. A. Mosso, Die Umwandlungen der roten Blutkörperchen u. s. w. Virchow’s Archiv 109. Bd., 1887, S. 205. . F. Müller, Die morphologischen Veränderungen der Blutkörperchen u. s. w. Ziegler’s Beitr. zur allgem. Pathol. u. s. w. 23. Bd., 1898, 5. 498. ‚ Herm. Franz Müller, Über einen bisher nicht beachteten Formbestandteil des Blutes. Zentralbl. f. allgem. Pathol. u. s. w. 7. Bd., 1896, S. 538. . ©. Paseucei, Die Zusammensetzung des Blutscheibenstromas und die Hämolyse. Hofmeister’s Beitr. zur chem. Physiologie u. Pathol. 6. Bd. 1905. . E. Raehlmann, Über ultramikroskopisch sichtbare Blutbestandteile. Deutsche med. 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Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. XXYI.DBd. 1. Oktober 1906. N 21. Inhalt: Steinbrinek, Über Schrumpfungs- und Kohäsionsmechanismen von Pflanzen (Schluss). — Kupelwieser, Versuche über Entwickelungserregung und Membranbildung bei Seeigel- eiern durch Molluskensperma. — Höber, Zur Frage der elektiven Fähigkeiten der Re- sorptionsorgane, — Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung, Über Schrumpfungs- und Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. ‚von €. Steinbrinck. Mit 25 Abbildungen. (Schluss.) 4. Kennzeichen der Kohäsionsmechanismen. a) Flüssigkeitsgefüllter Zustand der Zellen. Soll man ein Urteil darüber abgeben, ob bei einem Mechanismus Membran- schrumpfung oder Kohäsionsverkürzung als Ursache in Betracht kommt, so wird man naturgemäß sein Augenmerk zunächst darauf richten, ob die Zellen, während sich der betreffende Vorgang in der Natur abspielt, wasserleer oder flüssıgkeitsgefüllt sind. Da aber die vertrockneten Organe bei Wasserzufuhr wieder zu schwellen und dann nochmals zu schrumpfeln pflegen und dieses Spiel sich oft wiederholen lässt, so wird man an zweiter Stelle auch an längst ausgetrockneten Geweben die betreffende Untersuchung an- stellen dürfen, obwohl der Kohäsionszug in solchem Material manch- mal nicht mehr so sicher arbeitet wie bei frischem. Die Prüfung möglichst unverletzter Gewebe liefert dabei wieder ein zuverlässigeres Resultat als die an dünnen Schnitten angestellte. So haben Schwendener und Colling aus der Beobachtung von mikro- skopischen Antherenquerschnitten geschlossen, dass ihre Zellen .XXVI. 46 722 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. wasserleer und lufterfüllt wären, wenn sie sich in der gewöhnlichen Weise kontrahierten. Sie haben aber nicht beachtet, dass diese starke Kontraktion nur bei dicken Schnitten eintritt, in denen zahl- reiche Zellen geschlossen geblieben sind. Indem sich die ange- schnittenen oberflächlichen Zellen des Schnittes beim Wasserverlust Fig. 13. 12 1 2 137 f ” 3 4 3 4 Fritillaria imperialis, Anthere; Querschnitte. a Dicker Querschnitt, wie in der Natur geschrumpfelt. b Zarter Querschnitt, nur geschrumpft. mit Luft füllen, kann es den Anschein haben, als ob das gesamte Gewebe voll Luft wäre!). Wäre dies wirklich der Fall und beruhte 1) Nachträgl. Anm. In der letzten Antherenarbeit von Colling ist mit- geteilt, dass sich unter etwa 100 von ihm untersuchten Pflanzenarten nur bei vier ein Kohäsionsmechanismus ihrer Antheren herausgestellt habe. Aus Colling’s Pflanzenliste habe ich nun in den ersten Tagen dieses August nahezu 20 Arten, wie sie mir die nächste Umgebuug ganz zufällig bot, herausgegriffen. Von allen diesen behauptet Colling, dass die Öffnungsbewegung ihrer Staubbeutel erst be- gänne, nachdem die Flüssigkeit aus den Zellen verschwunden sei. Jeder Anfänger eines botanischen Praktikums ist aber mit Leichtigkeit imstande, die Unrichtigkeit dieser Darstellung nachzuweisen. — Die von mir nachträglich geprüften Arten aus Colling’s Liste sind: Hemerocallis, Lilium, Gladiolus, Aconitum, Verbascum, Veronica, Sym- phytum, Petunia, Scabiosa, Lysimachia, Potentilla, Geranium, Saponaria, Dianthus, Impatiens, Sinapis, Phlox, Begonia. Wenn man an sonnigen und trockenen Tagen Antheren hiervon aufsucht, deren Fächer weit klaffen und den Staub freigegeben haben, deren Klappen aber noch nicht stark verschrumpfelt sind, so braucht man ein geöffnetes Fach (mit der Innenseite nach oben gewandt) bloß in unverletztem Zustande auf dem Öbjektträger auszubreiten und in Flächenansicht unter dem Mikroskop zu prüfen. Benutzt man ein Deckglas, so tut man gut, die Luft zwischen dem Objekt und dem Glase vorher durch einen Tropfen Öl zu verdrängen. Man wird dann (wenn nicht etwa ein zu weit vorgeschrittenes Stadium des Wasser- verlustes getroffen worden ist) das Faserzellgewebe saftgefüllt und klar vor sich liegen sehen. Bei späteren Stadien ist dieses klare Gewebe stellenweise durch Gruppen blasenhaltiger schwarzer Zellen unterbrochen, und erst bei ganz ver- schrnmpfelten und ausgetrockneten Klappen sind die Faserzellen durchweg schwarz, d. h. blasenhaltig und wasserfrei. — Warum hat Oolling solche Beobachtungen, auf die von Schrodt und mir längst hingewiesen war, nicht selbst unternommen ? Ein einziger solcher Kontrollversuch hätte ihn überzeugen müssen, dass sein auf Querschnitte gegründetes Schlussverfahren im Prinzip trügerisch und daher, wie oben im Text angegeben, ganz ohne Beweiskraft ist. Da aber Colling seine ganze Argumentation auf dieses eine einzige Beweismittel gründet und auch von den an- deren oben im Text angegebenen weiteren Methoden, obwohl diese längst veröffent- licht waren, keinen Gebrauch gemacht hat, so fällt seine Beweisführung haltlos in sich zusammen. PR Sa X Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 793 die Austrocknungsbewegung der Antheren auf Membranschrumpfung, so wäre nicht einzusehen, warum ein dünner Schnitt sich anders verhalten sollte als ein dickerer. In Fig. 13a u. b sind nun aber zwei trockene Antherenquerschnitte der Kaiserkrone (Fritillaria imperalis) abgebildet, die ım durchfeuchteten Zustande ganz gleich geformt und gleich groß waren. Der eine von ihnen (Fig. 13 b) hat diese Form und Größe nur wenig verändert, weil seine Zellen durch den Schnitt geöffnet waren, der andere hat sich dagegen kontrahiert wie die natürlichen Staubbeutel, weil er dicker war und noch genügend viele geschlossene Zellen enthielt. | b) Ausbleiben der Kontraktion bei Verhinderung des Kohäsionszugs. Wir haben soeben einen Fall kennen gelernt, Fig, 14. fh IE fi 1 fr l4c 14b l4a ö Fritillaria imperialis, Anthere. a Reif, aber noch nicht aufgesprungen. b Reif, ohne Schrumpfeln aus Alkohol im Vakuum getrocknet, kaum aufgesprungen, kaum verkürzt. ce Natürliche trockene geschrumpfelte Anthere. (f deutet die Lage eines Staubfaches an.) in dem wir die natürliche Kohäsionsverkürzung durch Anschneiden der Zellen hinderten. Bisweilen kann man dasselbe Resultat auf ganz anderem Wege und sogar am ganzen Organ erreichen. Fig. 14 b stellt eine reife Fritillaria-Anthere dar, die ohne Kohäsionswirkung ausgetrocknet und daher nur schwach verkürzt und kaum aufge- sprungen ist. Zum Vergleiche ist daneben in Fig. 14a und ce die- selbe Anthere im natürlichen frischen und im gewöhnlichen Trocken- zustand in ziemlich gleichem Maßstab gezeichnet. Die Buchstaben f f sollen andeuten, wo ein Staubfach zu suchen ist. Der Quer- schnitt in Fig. 13 wird die Orientierung erleichtern. Das Ausbleiben der Kohäsionsverkürzung ist nun dadurch er- zielt worden, dass die geschlossene, aber völlig reife Anthere längere 46* 724 Steinbrinck, Uber Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. Zeit in möglichst wasserfreien Alkohol eingelegt und darauf im Vakuum zu raschem Austrocknen gebracht worden ist. Der Alkohol ıst nämlich in der Luftleere zu rasch entwichen, als dass er einen genügend starken Kohäsionszug hätte ausüben können. Es sei übrigens bemerkt, dass die Membranschrumpfung durch die Im- bibition mit Alkohol durchaus nicht beeinträchtigt wird, sowie ferner, dass die Anthere der Fig. 14 b ebenfalls die Form und Größe von Fig. 14c annımmt, wenn man sie unter der Luftpumpe mit Flüssig- keit von neuem durchtränkt und dann ın freier Luft trocknen lässt. Fig. 15. \ N L\ J mm V\ V 2 NN N N \ N) AN A IV W U N YUV \W\ NN VAT NUN RSS m mer‘ 0,5 mm N 15e Equisetum arvense, Sporangium. a Vollreifer Sporangienstand ohne Schrumpfeln ausgetrocknet. b Derselbe, mit natürlicher Schrumpfelung. c Spiralzellen aus der Wandung von a, trocken, ungeschrumpfelt. d Spiralzellen mit natürlicher Schrumpfelung. Zur Bestätigung des Gesagten sind in Fig. 15 Sporangien vom gemeinen Schachtelhalm (Zqwisetum arvense) abgebildet. Fig. 15 b zeigt solche im natürlichen geschrumpfelten Zustande, in Fig. 15a sind die Sporangien ebenfalls völlig trocken, aber nicht geschrumpfelt; sie waren ebenso behandelt worden wie die Fritillaria-Anthere der Fig. 14b. In Fig. 15c sehen wir ein Stückchen der Sporangien- wand von 15a; ihre Spiralzellen sind demnach trocken, aber nicht geschrumpfelt.. Zum Vergleich ist in Fig. 15 d versucht worden, ein entsprechendes Stück aus geschrumpfeltem Gewebe in Flächen- ansicht wiederzugeben!). 1) Die Flächenansicht lässt hier die Einfaltung der dünnen Membranpartien, die auf einem Schnitt eher hervortreten würde, nicht erkennen. Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 725 c) Faltung der Zellwände. Die Membranfalten sind oft so verschlungen, dass es schwer wird, sie zu enträtseln. Zudem sind die zarten Wandpartien häufig so eng zwischen die Verdickungs- leisten eingepresst, dass sie sich der Wahrnehmung leicht entziehen. So mag es kommen, dass Schwendener, Brodtmann und Hirsch bei Antheren und beim Kompositenpappus die Existenz der Falten überhaupt bestritten haben. Daher seien in Fig. 16 und 17 noch einige Bilder von Membranfaltung bei diesen Organen angefügt. In Fig. 16a sieht man die Faserzellen d und die Epidermis e einer Lilienantheret) quer durchschnitten und zwar noch wassergesättigt, Fig. 16. 16d Antherenquerschnitte. a und b von Lilium candidum, a in saftigem Zustand, b geschrumpfelt. e Querschnitt durch die geschrumpfelte Anthere von Digitalis purpurea. d Querschnitt durch eine geschrumpfelte Antherenzelle von Berberis vulgaris (aus dem Kläppchen). in Fig. 16 b dasselbe nach Wasserabgabe mit deutlicher Fältelung der Außenwand. Fig. 16c gibt bei stärkerer Vergrößerung ein ähn- liches Bild von der Anthere des Fingerhutes (Digitalis purpurea). Fig. 16d endlich ein solches von der Berberitzenanthere. Jeder kennt ferner die Haarschöpfe an den Früchtchen des Löwen- zahns (Taraxacum offieinale), welche dicht zusammenstehend von den Kindern als „Lichtehen“ angeblasen werden. Fig. 17a stellt einen schematischen Längsschnitt durch die Ansatzstelle jener Haare vor; ein Ringwulst unterhalb denselben, der im Schnitt in Form der beiden Polster » p rechts und links erscheint, bildet das Ge- 1) Lilium candidum. 726 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. webe, das durch sein Schrumpfeln die ursprünglich aufwärts ge- richteten Haare herabzieht und strahlig ausbreitet. Derselbe Bau kehrt bei vielen anderen Kompositen wieder, so z. B. beim Wiesen- bocksbart Tragopogon pratense. Fig. 17 b bringt einen etwa in der Richtung qq von Fig. 17a geführten Schnitt durch das geschrumpfelte Fig. 17. 17 a Kompositenpappus. a Taraxacum offieinale, schematischer Längsschnitt des Pappus- trägers (p Bewegungspolster, saftig). b Tragopogon pratense, Schnitt in der Rich- tung q—q durch das geschrumpfelte Polster. Polster von Tragopogon. Dagegen würde ein gerader Längsschnitt des Polsters von Tragopogon, wenn es auch geschrumpfelt ist, trotz- dem keine Falten zeigen, weıl seine Zellen nach der Richtung der Schraffierstriche in Fig. 17a in die Länge gestreckt sind und fast ausschließlich Längsfalten erleiden, die erst auf dem Querschnitt hervortreten. Hirsch hat diesen Umstand übersehen. IV. Besondere Beispiele von Schrumpfungsmechanismen. Die hierher gehörigen Apparate lassen sich in sechs Gruppen sondern. Zu der ersten, an Zahl beschränkten, rechnen wir die- jenigen, bei denen die Kontraktions- und die Widerstandszone in einer und derselben Wand einer einzigen Zellage, z. B. in der äußeren Wandung der Außenepidermis vereinigt sind. Solche Fälle haben wir im Anschluss an die Figg. 2 und 8 schon genügend be- sprochen. Die zweite Gruppe umfasst diejenigen Einrichtungen, bei denen die antagonistischen Membranen die aneinander- stoßenden Wandungen benachbarter Zellen sind. Das Peristom der Laubmoose bietet hierfür zahlreiche Beispiele, von denen wir einige charakteristische und biologisch-interessante herausgreifen wollen. In die dritte Gruppe mögen diejenigen gestellt sein, bei denen die antagonistischen Membranen Wandungen derselben Zelle bilden. Auch dieser Fall ist in Anlehnung an Fig. 6 an dem Früchtehen von Pelargonium bereits auseinandergesetzt worden. Wir erwähnten dabei aber, dass den Pelargonium-Früchtchen (z. B. von Ludwig) auch ein Bohrmechanismus zugeschrieben wird, über den wir bisher hinweggegangen sind, weil er bei dem verwandten f ‘ Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanisnien von Pflanzen. 727 Erodium und bei tordierenden Grasgrannen mit größerer Sicherheit beobachtet ist. An diesen soll die Bohreinrichtung daher noch zur Besprechung gelangen. — Zu den drei folgenden Gruppen zählen wir die Fälle, wo ganze Zellagen oder Zellgruppen als Anta- gonisten auftreten. Diese Einrichtung findet sich vielfach mit vor- hergenannten verbunden. Wenn die betreffenden Zellelemente untereinander parallel bleiben (Gruppe 4), brauchen wir hier nicht weiter auf sie einzugehen. Es genügt ein Blick auf die Fig. 7b und die noch folgende Fig. 22b (S. 732), um diesen Fall zu übersehen. Dagegen stehen noch die Konstruktionsformen aus, wobei nicht die Schrumpfungsachsen allein, sondern auch die Rich- tungen der längeren Zellachsen gekreuzt sind. Infolge der Wand- struktur schrumpft ihre Fläche nämlich in der Quere gewöhn- lich erheblich stärker als in der Längsrichtung. Diese Anordnung ist überaus verbreitet und darum noch besonders günstig, weil dabei nicht nur die Differenzen der Flächenschrumpfungen ausgenutzt sind, sondern auch die Radialschrumpfung (Dickenabnahme der Zellwand), die im allgemeinen die Flächenschrumpfung überwiegt, verwertet wird. Die gekreuzten Zellgruppen können dabei ver- schiedenen Zellagen angehören (Gruppe 5) oder Komponenten einer morphologisch einheitlichen Zellschicht, z. B. der Innenepidermis, sein (Gruppe 6). Aus beiden Gruppen soll noch ein Beispiel ange- führt werden. Das letztere ist so gewählt, dass auch die Erschei- nung der Hygrochasie mit in Betracht gezogen werden konnte. 1. Peristome von Laubmoosen. a) Fig. 18a stellt den äußeren Zahnbesatz an der Mündung des Käpselchens eines bei uns häufigen Mooses, des Orthotrichum diaphanum, vergrößert dar. Das Bild wird sofort an eine Nelken- kapsel (Fig. 2 S. 667) erinnern; die Zähne sind nur zahlreicher, sind aber ebenfalls nur bei Trockenheit gespreizt und neigen sich, wenn sie feucht sind, nach oben zu einer Kuppel zusammen. Die Ursache dieser Bewegungen wird nach den zu Fig. 8 gemachten Bemerkungen (S. 669) aus dem Strukturschema Fig. 18 b des Zahn- längsschnittes sofort verständlich sen. — Von zwei benachbarten Zellagen sind bei der Reife nur die beiden Nachbarwände e und © übrig geblieben. e ist die äußere, © die innere Wandlamelle; die Strichel geben, wie auch in den folgenden Figuren, die Richtungen der geringeren Schrumpfung an. Diese Strukturen zwingen ohne Zweifel dem Zahn bei dem Trocknen die Auswärtskrümmung auf, die bei der Befeuchtung rückgängig gemacht werden muss. Die Ausstreuung der Sporen wird hier offenbar dem Winde überlassen. Da die Kapsel steil aufrecht steht, können diese nicht von selbst herausfallen. Der Wind kann aber um so besser wirken, da das 798 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. Moos kein Bodenbewohner ist, sondern an Baumrinden, alten Zäunen und auf Mauern, also an erhöhten Standorten wächst. b) Das nun folgende Moos Ceratodon purpureus ıst ein bei uns sehr verbreiteter Erdbewohner. Wir finden an seinem Peristom einen sehr interessanten Schleudermechanismus. Werfen wir zu- nächst einen Blick auf den Längsschnitt, Fig. 19b, von einem seiner Zähnchen, so finden wir, dass ım größten Teile desselben (von ‚u aufwärts) der Gegensatz in der Struktur der beiden Lamellen wieder- kehrt; jedoch hat diesmal die innere ö Quer- und die äußere e Fig. 18. Bier: 19 b Fig. 18. Orthotrichum diaphanum, äußeres Peristom. a Gesamtansicht des trockenen Peristoms. b Radialer Längsschnitt eines Zahnes mit Strukturschema (e äußere, öinnere Lamelle). Fig. 19. Ceratodon purpureus, Peristom. a Ein trockener Doppelzahn. b Radialschnitt eines feuchten Zahnes mit Strukturschema. c Unterer Teil des vorigen mehr vergrößert. Längsstruktur. Daher biegen sich die oberen Enden der Zähnchen beim Trocknen nach innen um und bilden sogar mehrfach gewundene Locken (Fig. 19a). An dem untersten zackigen Teile des Zähnchens erkennen wir in Fig. 19a aber eine schwache Auswärtskrümmung. In Fig. 19c ist der Längsschnitt desselben vergrößert. Aus dieser Zeichnung wird die Ursache jener Krümmungsumkehrung sofort einleuchten. Denn unterhalb « kehrt sich ja auch die Struktur der Innenlamelle um, und die Struktur der äußeren Lamelle ändert sich dort ebenfalls ganz augenfällig. Sie erinnert mit dem Schema ihrer Schichtlinien lebhaft an das Bild von Fig. 4b. Der Verlauf Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 729 dieser Schichtlinien zieht dementsprechend eine bedeutende Er- höhung der Längsschrumpfung ım Vergleich zu der im oberen Teile der Außenlamelle nach sıch. Es ıst nun sehr interessant zu beobachten, was die Natur mit diesen verhältnismäßig einfachen Strukturunterschieden zu erreichen weiß. Die Mooskapsel ıst bekanntlich durch einen Deckel ge- schlossen, der das Peristom unter sich birgt und bei der Reife erst dadurch abgestoßen wird, dass eine ringförmige Zellgruppe (der Annulus unter ihm) in Wasser stark quillt, und die Kapsel sprengt. Wir legen daher ein reifes Käpselchen von Ceratodon einige Stunden lang m Wasser, bringen es dann auf einen Objektträger und streifen mit einer Nadel von unten nach oben darüber, so dass der Deckel abgehoben und das Peristom freigelegt wird. Dieses besteht nun aus 32 an ihrer Basıs durch Querriegel zu 16 Paaren vereinigten Zähnen. Oben weichen die Enden der Zähne jedes Paares wie Hörner seitlich auseinander. Alle vereint bilden nach dem Ab- streifen des Deckels eine eiförmige Reuse, innerhalb deren wir auf unserem Objektträger einen Ballen von Sporen erblicken. Sobald die Zähne anfangen trocken zu werden, nehmen wir nun wahr, wie sich ihre Spitzen einwärts biegen und in den Sporenhaufen hinein- greifen. Nach einiger Zeit macht sich auch die Austrocknung des basalen Zahnteiles bemerkbar. Die gelockten Enden werden durch sie mit den ihnen anhaftenden Sporen nach außen geführt und lassen da- bei die Sporen mit abtrocknen. Nun greifen die gelockten Enden aber vielfach ineinander und hemmen dadurch manchmal die dem Austrocknungsgrade der einzelnen Zähne entsprechende Auswärts- bewegung so lange, bis ein solcher Zahn plötzlich abgleitet, elastisch zurückschnellt und dabei die anhaftenden Sporen wegschleudert. Es gewährt Überraschung, bei fortgesetzter Beobachtung des Sporen- bombardements die außerordentliche Empfindlichkeit des Peristoms gegen Änderungen im Feuchtigkeitsgehalte der umgebenden Luft kennen zu lernen. Die unwillkürlichen Atemzüge des mikroskopi- schen Beobachters sind hinreichend, um die Oszillationen der Peristomzähne und das Abschleudern der Sporen fortwährend in Gang zu erhalten. Die schlanken Endigungen des Mundbesatzes sind von einer geradezu unruhigen Beweglichkeit. Immer wieder greifen sie von neuem in den Sporenhaufen hinem und nehmen einen Teil desselben nach außen mit. Dies geschieht aber nicht von allen gleichzeitig: Indem die einen den anderen voraus sind, stören sich ihre Bewegungen gegenseitig eine Zeit lang, bis die ineinandergreifenden elastischen Zinken aneinandervorbeigleiten. So wird in kurzer Zeit die ganze Umgebung des Käpselchens mit Sporen übersät. -— Eine so große hygroskopische Empfindlichkeit wäre wohl durch einen Kohäsionsmechanismus schwer zu erreichen; ın dieser Hinsicht erscheint ihm der Schrumpfungsmechanismus also überlegen. 730 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. c) Bei zahlreichen anderen Laubmoosen finden wir ferner eine Schleudereinrichtung, bei der die elastischen Gebilde, die das Ab- werfen der Sporen zu besorgen haben, ganz andere sind als die- jenigen, durch deren Auswärtsbewegung sie gespannt werden. Nur die letzteren sind hygroskopischen Bewegungen unter- worfen, sie bilden den äußeren Mundbesatz, die anderen (s. Fig. 20c, b und a unter 0) stellen einen besonderen hygroskopisch un- empfindlichen Zahnkranz, den inneren Mundbesatz dar. Wie die Fig. 20 a u. b zeigen, die sich auf Brachythecium velutinum beziehen, greifen die äußeren Zähne sowohl im feuchten Zustande (20a) als im ausgetrockneten (20 b) zwischen die elastischen Wimpern w Fig. 20. 20a 20b 20 e a Brachythecium velutinum, Veristom in feuchtem Zustande (w Strahlen des inneren Peristoms). b Peristom nach völligem Austrocknen. ce Erstes Trockenstadium. hinein. Es gibt aber ein erstes Stadium der Austrocknung (20 e), bei dem die Außenzähne strahlig nach außen gespreizt sind. Stellen wir uns nun wiederum vor, was mit einem eben ent- deckelten Sporenkäpselchen von Brachythecium beim Austrocknen geschieht. Wenn die feuchte Form 20a in die erste Trockenform 20 ec übergehen soll, so müssen sich die äußeren Peristomzähne mit den anhaftenden Sporen durch die Spalten der Reuse des Wimper- kranzes 0 hindurch nach außen drängen. Da aber ihre Innen- seite gezackt ist (vgl. Fig. 20b und c, sowie 21), so werden die inneren Peristomstrahlen © bei dieser Auswärtsbewegung vielfach mit erfasst und eine Strecke weit nach außen mitgeführt. Zugleich ist ein Teil des Sporenstaubes an ihnen abgestreift worden. Wird ihre Spannung nun zu stark, so schnellen sie zurück und dienen so als Sporenschleudern. Hat sich dieser Vorgang vollzogen, so kön: ". Steinbrinek, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 7131 bewegen sich die äußeren Peristomzähne bei weiterem Austrocknen wieder zurück, schieben sich von neuem zwischen die starren Wim- pern ein und krümmen ihre eigenen spitzen Enden endlich sogar noch stärker in die Kapselhöhlung hinab, als dies im feuchten Zu- stande der Fall war (vgl. den endgültigen Trockenzustand 20 b mit dem feuchten 20a). Sie kommen hierdurch mit neuem Sporen- staub, der noch in der Kapsel zurückgeblieben war, in Berührung, und sind so darauf vorbereitet, beim Eintritt nasser Witterung und nachfolgender Trockne das vorige Spiel von neuem zu beginnen, wenn nicht der Wind inzwischen den Sporenrest durch die feinen Spalten der Peristomreusen allmählich hinausgeblasen hat. b Fig. 21. Amblystegium serpens, äußeres Peristom. a Radialschnitt eines Zahnes mit Strukturschema. b Mittleres Stück des vor., mehr vergrößert. Betrachten wir uns nun das Strukturschema des Längsschnittes eines äußeren Peristomzahnes in Fig. 21a, so fällt uns wieder der Wechsel der Struktur in der einen Lamelle und zwar der äußeren e an der Stelle m auf. Der Deutlichkeit halber ist diese Partie in Fig. 21b etwas stärker vergrößert. Die Längsstruktur der äußeren Lamelle e oberhalb »» macht es uns verständlich, warum sich die Zahnspitzen beim Austrocknen infolge der stärkeren Kontraktion der geschichteten Innenlamelle © (vgl. wieder Fig. 2b) einwärts herabbiegen. Dass diese Einwärtskrümmung ziemlich spät erfolgt, ist ein Zeichen dafür, dass die Massen der Innenlamelle nicht so hygroskopisch empfindlich sind, wie z. B. die zarten Lamellen von Ceratodon. Wir fanden ja auch bei Ceratodon eine geringere Empfind- lichkeit der kompakteren geschichteten Zahnbasis. So ist es also nicht zu verwundern, dass die quergestreifte Außenlamelle e der 732 Steinbrinek, Uber Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. unteren Hälfte der Brachythecium-Zähne (Fig. 21a) hygroskopisch weit empfindlicher ist als ihre Nachbarin 2'). Darauf dürfte die auffällige Auswärtsbewegung beruhen, die zum ersten Trocken- stadium 20 c führt. Erst wenn sich der Wasserverlust auch in der Innenlamelle geltend macht, kann die erste Auswärtskrümmung wieder ausgeglichen werden. Daher bewegen sich die Zähne vom zweiten Trockenstadium wieder einwärts. 2. Bohrmechanismen von Erodium und Stipa. Die Teilfrucht von Erodium gruinale Fig. 22a erinnert sehr an die von Pelargonium Fig. 6a (S. 668), nur sind die Flughaare Ss 99 24a Erodium gruinale, Teilfrucht. a Trocken gewunden. b Schema des Grannenbaues. c Feuchte Faserzellen der Zone f, mit Porenlage. d Querschnitt davon. e und f trocken gewundene Faserzellen aus Zone f,. bei Erodium durch aufwärts gerichtete steife Borsten ersetzt. Die Zuspitzung s am unteren Ende des Fruchtfaches f findet sich eben- falls bei beiden, wenn auch bei Pelargonium weit schwächer aus- geprägt, desgleichen die steifen aufrechten Borsten, mit denen die Fachwandung besetzt ist. Wollte man diese gemeinsamen Eigen- tümlichkeiten allein auf die nahe Verwandtschaft der beiden Gattungen schieben, so würde man beim Anblick der nächsten Fig. 23a stutzig werden, denn das Grasfrüchtehen von Stipa zeigt ganz dieselbe Einrichtung. In der Tat ist festgestellt, dass sie bei Hrodium und Stipa dem Einbohren der Samen in den Boden dient. Die Spitze erleichtert das Eindringen; die Haarborsten stemmen sich, nach- 1) Man ist versucht, sich vorzustellen, dass die Querstruktur von e eine raschere Wasserzufuhr von außen gestattet als die kompliziertere von i. En er Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 755 dem der Same durch die Windung der Granne eingebohrt ist, gegen die höher gelegenen Erdteilchen und verhindern, dass der Same wieder herausgezogen wird, wenn sich die Schraube beim Witterungswechsel zurückdreht. In demselben Sinne wirken die Borsten, mit denen bei Erodium die Granne selbst besetzt ist. Nun kann aber das Einbohren nur zustande kommen, wenn sich das oberste einfach gebogene Grannen- ende gegen den Boden stemmt. (Auch bei Stipa ıst ein solches untordiertes, einfach gebogenes Ende vorhanden, wegen der großen Grannenlänge aber von uns nicht gezeichnet.) Hat dieses Grannen- Fig. 23. 23b 02 re) \ıv SZ v = 23€ Ss 23a Stipa capillata. a Grasfrucht mit einem kleinen Stück der tordierten Granne. b und e Flächenansichten von Fasern der Granne mit Angabe der Porenlage. d und e Isolierte Faser nach dem Austrocknen. d Gewunden wegen Porenlage b. e Tordiert wegen Porenlage c. ende aber einmal einen genügenden Halt gefunden, so muss auch das vorher erwähnte Zurückdrehen der Granne beim Wechsel der Witterung dazu beitragen, den Samen tiefer ın den Boden einzu- treiben, da sich die Granne ja bei der Befeuchtung (beim Entrollen) strecken muss. Unsere pflanzliche Bohrvorrichtung ist somit ın dieser Beziehung vollkommener eingerichtet als die Schraubenbohrer aus menschlichen Werkstätten. Ich hoffe nun, dass die Figg. 22 und 23 über das Zustande- kommen der Bohrbewegungen raschen Aufschluss gewähren. Fig. 22 b ist ja der Fig. 7b (S. 669) ganz analog. Epidermis und Parenchym (Lage p in 22b) sind aber bei Erodium unwirksam. Das aktive 734 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. Gewebe besteht nur aus Fasern (s. Längs- und Querschnitt einer solchen aus der Zone f, in 22c und d). Unsere Faserlagen f},, f» und /, entsprechen den gleichbezeichneten Zonen in Fig. 7b. Den letzteren finden wir hier aber noch zwei Zonen, f, und /,, hinzu- gefügt. Die eine /, mit Querporen verstärkt offenbar die Längs- kontraktion der Konkavseite; die andere /, mit „rechtsläufigen“ schiefen Poren, die beim Trocknen für sich allen einer Rechts- windung unterliegt (im Gegensatz zu der Linkswindung der ganzen (Granne), soll den Widerstand der Konvexseite erhöhen. Durch die Steigerung der Gegensätze wird nämlich auch die Intensität des Windungsbestrebens vermehrt. — Die Fig. 22e und f stellen ein Paar Fasern aus der Zone f,, mit,der Porenlage der Fig. 22 c (vgl. Schema Fig. 2a) dar, nachdem sie durch Austrocknen in 1so- liertem Zustande einige Linkswindungen erfahren haben. Die Granne von Stipa ıst nicht wie die von Erodium gewunden, sondern in sich tordiert (s. Fig. 23a). Einen Hauptbestandteil ihres Gewebes bilden daher Zellfasern, deren Struktur an das Schema Fig. 3a erinnert (vgl. die Längsansicht eines Abschnittes einer solchen Faser in Fig. 23c und beachte die eingezeichnete Porenlage). Eine isolierte solche Faser, die durch den Wasser- verlust tordiert worden ist, findet sich in Fig. 23e dargestellt. Andere dieser fibrösen Elemente sınd mehr nach dem Schema Fig. 2a gebaut und daher wie die der Fig. 23d nach dem Aus- trocknen gewunden. Fig. 23b zeigt die Porenlage einer solchen. Wie schon S. 665 erwähnt, finden sich ın den tordierten Organen noch vielfache Übergangsformen zwischen 23c und d. Wie diese Formen aber alle harmonisch zusammenwirken und wie sie im ein- zelnen innerhalb der Granne angeordnet sind, um 'sich gegenseitig zu unterstützen, kann hier nicht ausführlicher auseinandergesetzt werden. (Vgl. darüber Ber. d. Deutsch. Bot. Ges. 1888, S. 393 ff.) 3. Der Schleudermechanismus von Papilionaceenhülsen. Drückt man auf die Nähte einer reifen Erbsenhülse, so dass diese platzen, so werden oft unversehens einzelne Samen daraus mehrer Meter weit weggesprengt. Bei vielen Hülsen ist dies nun eine natürliche, mit dem selbständigen Aufspringen verbundene Erscheinung. Beim Austrocknen sucht sich nämlich jede der zu einer Hülse vereinigten Schwesterklappen, ähnlich wie die ın Fig. 24a gezeichnete Klappe einer wilden Linse, schraubig einzurollen. Dieser Formänderung widerstehen aber die festen Nähte ziemlich lange. Die Spannungen müssen erst einen hohen Grad erreichen, ehe die Nähte reißen. Ist ihr Zusammenhang aber endlich überwunden, so vollzieht sich die Drehung der Klappen um so rascher und intensiver. Befindet man sich ın der Nähe eines Ginstergebüsches es Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 735 zur Reifezeit der Hülsen bei hellem Sonnenschein, etwa um die Mittagszeit, so kann man das Krachen der gesprengten Hülsen und das Anprallen der ausgeworfenen Samen nicht selten sehr deutlich hören. Diese Austrocknungsbewegung beruht auf dem Antagonismus zweier voneinander durch Parenchym getrennter Gewebslagen, deren Elemente schief zur Längsachse der Hülse gestreckt und recht- winkelig gekreuzt sind. In Fig. 24b ist versucht, die Lage der- selben durch Striche anzudeuten. Die punktierten Linien e—e geben die Richtung der Außenepidermiszellen an, die übrigens sehr be- trächtlich verdickt sind. Die ausgezogenen Linien f—f dagegen fallen in die Längsachse der Faserzellen, aus welchen das innere dynamische Gewebe gebildet ist. Die Schrumpfungskontraktion ist ın jeder der beiden Gewebezonen senkrecht zu den ihr zu- kommenden Linien der Fig. 24b am stärksten, längs derselben am geringsten. Diese stärkere Kontraktion bewirkt nun seitens der Fig. 24. Ervum hirsutum, Hülsen- klappe. a Im natürlichen Trocken- zustande. b Nach dem Ab- lösen der Außenepidermis und des Parenchyms bei erneutem Austrocknen noch schwach gewunden. 24a Faserschicht das schiefe Einrollen jeder Klappe. Dieses wird aber begünstigt durch das entgegengesetzte Krümmungsstreben, das von der stärkeren Kontraktion der Epidermis ausgeht. Denn durch diese wird die ursprüngliche Konvexwölbung der Außenseite der Hülsenklappen abgeflacht; der flache Streifen lässt sich aber leichter einrollen als der gekrümmte. Übrigens ist auch hier durch die Darlegung des Gegensatzes zwischen Epidermis und Faserschicht der Mechanismus durch- aus noch nicht erschöpft. Die Faserzone ist nämlich nicht ein- heitlich gebaut, vielmehr krümmt sie sich infolge ihrer Struktur- verschiedenheiten, auf die wir nicht näher eingehen können, selb- ständig ım Sinne der ganzen Klappe. Fig. 24 b stellt die von dem übrigen Gewebe befreite Faserschicht einer Klappe nach dem Aus- trocknen dar. Ihre Krümmung ist aber, wie man sieht, durchaus nicht so extensiv und auch nicht so energisch, wie dies in der Natur im Interesse des Schleudervorganges durch den Verband von Epidermis und Fasergewebe erreicht wird. 736 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 4. Xerochasie und nachträgliche Hygrochasie bei Veronica serpyllifolia. Die Kapseln von verschiedenen als Unkräuter unsere Äcker bewohnenden Ehrenpreisarten springen zwar, wie das Fig. 25a von Veronica serpyllifolia zeigt, beim Trocknen in einer schmalen Spalte auf, erweitern diese aber erst bei nachfolgender Benetzung (Fig. 25 b). Beide Erscheinungen beruhen auf dem Bau der Innenepidermis. In Fig. 25 e ist em Stück von der Innenepidermis der Kapselscheide- wand stärker vergrößert gezeichnet, und zwar von der Stelle, wo diese mitten durchreisst und wo die Quellzellen q, welche die Form Fig, 25. Veronica serpyllifolia, Kapsel. a Trocken aufgesprungen. b Durch nachträgliche Benetzung er- weitert. ce Innenepidermisstück (in Flächen- ansicht) von der Rißstelle mit den Quellzellen g. 25€ 25a in 25b überführen, an die übrigen anstoßen. — Das Öffnen der Kapseln beim Austrocknen wird großenteils dadurch bewirkt, dass die Scheidewandränder s—s ın Fig. 25 a und b, die ursprünglich durch die Randzellen r ın Fig. 25c zusammenhängen, konvex zu werden streben und infolge dieser Konvexität nach dem Riss oben auseinanderweichen. Erinnert man sich der früher (S. 726) ange- führten hygroskopischen Eigenschaften der Zellwände bei den meisten gestreckten Zellen, so wird die Ursache dieser Krümmung aus der Fig. 25c bald einleuchten. Die Randzellen r sind ja in der Richtung «—o (von unten nach oben an der aufrechten Kapsel) verlängert, die seitlich von ihnen gelegenen Innenepidermiszellen dagegen mehr und mehr quergestreckt. Daher kontrahieren sich u a Bo Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 737 die letzteren beim Wasserverlust in der Richtung «—o mehr als die Randzellen und veranlassen so die Konvexität. — Die Wand- substanz der massig verdickten Quellzellen q, die den unteren Teil der Scheidewand einnehmen, nimmt bei Wasseraufnahme in sehr hohem Maße an Volumen zu. Wie hierdurch die beiden Klappen weiter auseinander gedrängt werden, bedarf wohl keiner ferneren Erörterung. Die eigenartige Ausbildung der Quellzellen lässt zwar vermuten, dass diese Pflanzen von der nachträglichen hygrochastischen Bewegung einen gewissen Vorteil haben. Das Nähere hierüber ist jedoch noch nicht ganz aufgeklärt. V. Weitere Beispiele von Kohäsionsmechanismen. Unter den Schrumpfungsmechanismen haben wir bereits mehrere verschiedenartige Schleudervorrichtungen für Samen und Sporen kennen gelernt und dabei erfahren, mit welcher Meisterschaft die Natur das einfache Mittel der gekreuzten Schrumpfungsachsen zu handhaben und wie sie diese Einrichtung zu variieren versteht. Von Schleuderapparaten der Kohäsionsmechanismen haben wir da- gegen bisher nur den der Farnsporangien besprochen, bei dem das Auswerfen der Sporen mit dem Riss der Zellflüssigkeit zusammen- bängt. Wir finden aber in den Makrosporangien von Selaginella auch einen Apparat von genialer Einfachheit vor, der das Weg- sprengen der Sporen besorgt, schon ehe die Kohäsion unterbrochen wird. Auf diesen möchte ich noch ım folgenden näher eingehen. Da wir uns aber bisher fast ganz ausschließlich mit Fortpflanzungs- organen beschäftigt haben, so soll zum Schluss außerdem noch eine Kohäsionseinrichtung besprochen werden, durch die das vege- tative Leben der betreffenden Pflanzen bedingt ist, nämlich der Saugmechanismus von Blatthaaren wurzelloser Gewächset), durch den ihrem Chlorophyllapparat die nötige Zufuhr von Wasser und Nährsalzen vermittelt wird. Es sind dies fels- und baumbewohnende Bromeliaceen. 1. Schleudereinrichtung der Makrosporangien von Selagimella. Ein Makrosporangium von Selaginella enthält nur vier kugelige Sporen. In Fig. 26, die ein noch nicht lange aufgesprungenes Sporangium darstellt, sind die vier Sporen deutlich sichtbar und zwar liegen regelmäßig zwei von ihnen nebeneinander in dem unteren, von den Rissen nicht durchsetzten Teile des Behälters, der, anfangs ziemlich gerundet, jetzt eine kahnförmige Gestalt angenommen hat, während die beiden anderen einander gegenüber in je einer 1) Sind Wurzeln vorhanden, so dienen sie nur zur Befestigung an die Unter- lage, nicht zur Ernährung. xXxXVl 47 738 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. Vertiefung der oberen Wandteile der Kapsel ruhen, die sich als Klappen voneinander getrennt haben und weit gespreizt sind. Ihr Herausfallen wird dadurch verhindert, dass sie mit ihrer Unterlage schwach verklebt sind. — In dem Zustande der Fig. 26 bleibt nun das Sporangium trotz des ferneren Wasserverlustes ziemlich lange anscheinend in Ruhe. Hat man es lose auf einem Objektträger liegen, so springt es dann aber plötzlich zentimeterweit weg und schleudert zugleich meist die vier Sporen auf einmal ab. Untersucht man nunmehr sofort seine Gestalt, so fällt sehr augenfällig auf, dass am „Kahn“ die oberen Ränder und die soeben noch gewölbt gewesenen Seitenwände, zwischen denen vorher die unteren Sporen eingeklemmt waren, gerade gestreckt und flach geworden sind und nun enggepresst aneinander liegen. Durch Kontrollversuche lässt sich dartun, dass es das Streben nach eben dieser Formänderung gewesen ist, was die Sporen weggesprengt hat. Sie sind nämlich durch einen auf ihre unteren Hälften ausgeübten, stetig wachsenden Fig. 26. Selaginella, Makrosporangium. Durch Wasserverlust weit geöffnet, zum Abschleudern der Sporen bereit. Druck ebenso „abgeschnippt“ oder „weggeknipst“ worden wie em Kirschkern, der zwischen zwei Fingern gepresst war. Die beiden oberen Klappen haben dagegen beim Abschleudern der Sporen ihre Form nicht wesentlich geändert. Das Wegsprengen der ihnen einge- betteten Sporen kommt daher nicht durch eine aktive Bewegung der Klappen, sondern lediglich dadurch zustande, dass diese, sobald die unteren Sporen abgeschossen sind, ebenso wie die Kahnwände, einer sehr schnellen Bewegung gegeneinander unterliegen, die beim Zusammenprallen der Kahnwände plötzlich gehemmt wird. Nach dem Gesetze der Trägheit setzen die ihnen nur locker ansitzenden oberen Sporen ihre Bewegung mit unverminderter Geschwindigkeit fort und werden somit nach entgegengesetzten Seiten abgeworfen. Wird nach dem Schleudervorgang das ganze Organ unter dem Mikroskop untersucht, so ist leicht festzustellen, dass seine Zellen auch jetzt noch durchweg mit Zellsaft gefüllt sınd. Es liegt hier also unzweifelhaft ein Kohäsionsmechanismus vor. Damit steht ım Einklang, dass Goebel in diesen Zellen bei Beginn des Öffnens noch Protoplasma und Chlorophylikörner gefunden hat und sie Steinbrinck, Uber Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 739 hiernach in diesem Zeitpunkt noch für lebendig hält. Durch Mem- branschrumpfung, wie Schwendener meint, kann also das Auf- springen des Sporangiums keinesfalls verursacht sein. Die durch den Kohäsionszug hervorgebrachten Bewegungen setzen sich in den Sporangienwänden sogar noch geraume Zeit nach dem Abschnellen der Sporen weiter fort. Namentlich wenn man den „Kahn“ eben- falls zertrennt hat, unterliegen die einzelnen Hälften des Behälters noch außerordentlich starken, feineren Deformationen, ehe im Saft ihrer Zellen der Riss eintritt. Ist dieser Zeitpunkt erreicht, so springen die auf dem Objektträger hegenden Sporangienstücke aufs neue zentimeterhoch und weit und ihre Verkrümmungen sind plötz- lich verschwunden. Die Austrocknung ihrer Membranen, die nun- mehr erst erfolgt, bringt dagegen keine wesentlichen Formverände- rungen mehr hervor; jede Sporangienhälfte ist danach nur stärker abgeflacht als im Leben. Fig. 27 gibt das Bild einer solchen und zwar der vorderen Hälfte von Fig. 26 wieder. Man erkennt, wie sowohl der Knick bei v, als auch die Umstülpung der oberen Ränder bei « wieder verschwunden sind. Fig. 27 (Kopie einer Abbildung (soebel’s) bringt zugleich das Zellennetz dieser Klappe zur An- schauung. Wir benutzen sie, um uns darüber zu unterrichten, in welch einfacher Weise die Natur den besprochenen Schleuder- mechanismus konstruiert hat. Um dies zu verstehen, müssen wir uns zunächst vor Augen halten, dass auch bei sämtlichen ın Betracht kommenden Zellen des Selaginella-Sporangiums, wie bei dem Annulus der Farne (vgl. Fig. 11) die Außenwand zart, die übrigen Wände dagegen kräftig verdickt sind; dass diese Zellen ferner nur eine einzige Lage bilden und dass sie größtenteils nach irgendeiner Richtung, wenn auch nur mäßig gestreckt sind. Man kann sich ein Bild von einer Einzelzelle machen, wenn man in einem Schutzkarton eines Buches die offene Seite mit Papier überspannt denkt. Dieses Papier stellt dann die dünne Außenhaut einer solchen Zelle, die fünf Pappe- wände die verdickte Membran derselben dar. Nimmt man aber einen solchen Schutzkarton ın dıe Hand, so wird man finden, dass schon ein leichter Druck auf die breiten Seitenwände genügt, um diese einander zu nähern, dass es dagegen schon einer erheblichen Anstrengung bedarf, um die schmalen Seitenwände gegeneinander zu drängen. (Im ersteren Falle unterliegt das Papier über der freien Seite des Pappkartons einer Längsfaltung; im zweiten würden sich Querfalten bilden müssen.) Daraus ergibt sich aber ein klarer Schluss auf das Verhalten unserer Selagenella-Zellen beim Kohäsions- zuge des schwindenden Saftes oder Wassers!). Die gestreckten 1) Die beschriebenen Formveränderungen können auch am toten Organ be- liebig oft wieder hervorgerufen werden. 47* 740 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. Zellen werden durchweg einer Längsfaltung unterliegen; die lokalen Krümmungen ihres gesamten Gewebes werden dadurch bedingt sein, dass sich die Außenränder der beiden Seitenwände, die in Fig. 27 durch die längsten Linien einer jeden Zellumrandung dar- gestellt sind, emander nähern. Richtet man nunmehr den Blick auf Goebel’s Zellennetz in Fig. 27 und zwar zunächst auf den unteren zweizipfeligen Abschnitt desselben, der einer Seitenwand des „Kahns“ in Fig. 26 angehört, so wird man sofort verstehen, woher der Druck rührt, den die Fig. 27. “Kr = 7) IL III A ‘ ) (r EI EFETTNGE LT = a2 u Selaginella, Makrosporangium. Zellnetz einer Klappe. Kopie nach Goebel. Wände dieses Kahns auf die zwischen ihnen liegenden beiden Sporen ausüben. Denn da die Zellen des Kahns fast alle nach aufwärts gestreckt sind, so muss eine isolierte Seitenwand des Kahns unter dem Kohäsionszuge einer intensiven Querkrümmung nach außen (in Fig. 27 auf den Beschauer zu) unterliegen. Da aber beide Kahnwände in der Natur fest miteinander verbunden bleiben, so sind zwar ihre entgegengesetzt gerichteten (Juer- krümmungen unterdrückt; um so mehr wird aber der Kohäsionszug in ihnen dahin wirken, die außen konvexen Kahnwände mindestens flach zu strecken. Die Reibung der Sporen an der Innenwand des Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 741 Kahns verhindert aber eine Zeit lang den Ausgleich dieser Spannung, bis diese so stark angewachsen ist, um sie trotz der Reibung weg- zuschnellen. Wenden wir unser Augenmerk in Fig. 27 nunmehr auf den über dem Kahn gelegenen mittleren Teil der eigentlichen „Klappe“, so werden wir dort ein ziemlich scharf abgegrenztes Gewebe finden, dessen Zellen nicht mehr wie die des Kahnes nach oben, sondern in die Quere gestreckt sind. Hielten wir in unserer Figur den unteren Teil (den Kahnabschnitt) fest, so müsste der Kohäsionszug in den ebenerwähnten Querzellen es bewirken, dass sich der obere Teil der Klappe wie um eine Querangel auf uns zu bewegte. Hier- durch erklärt sich somit die starke Knickung der unteren Klappe der Fig. 26 bei » sehr einfach. (In der oberen Klappe ist an jener Stelle nur eine geringe Zahl von Querzellen vorhanden, daher ist sie dort viel schwächer gebogen.) — In Fig. 27 befindet sich ober- halb der Querzellen bei m ein zarteres Gewebe, dem die Spore angelagert ist. Durchmustert man nun den ganzen Randteil der Klappe, der diesen Bezirk »» und die Region der Querzellen um- gibt, so wird man finden, dass in ihm die Längsachsen der Zellen größtenteils parallel dem äußeren Klappenrande streichen. Diese Zellen bewirken also beim Schrumpfeln eine Umstülpung des Klappenrandes nach außen (bei « der Fig. 26), die sich ähnlich vollzieht, als wenn jemand, der den Rockkragen der Kälte wegen hochgeschlagen hatte, diesen wieder zurückklappt. Auch die obere Klappe zeigt, übrigens (Fig. 26) diesen umgelegten Rand. So er- scheint in Fig. 26 jede Spore der Klappe zum Wurf bereit in eine Art Schleudertasche eingebettet. Durch das Umkrempeln der Klappenränder, sowie durch die Knicke der Klappen in der Gegend von v ist zudem die Wurfbahn für die Sporen möglichst frei ge- macht. Das Ganze ist aber durch die rationelle Anordnung der schrumpfelnden Zellen erzielt worden. 2. Der Saugmechanismus der Schuppenhaare von Tillandsia-Blättern. Auf S. 675 ist ım Anschluss an Fig. 12 davon die Rede ge- wesen, dass lebende Blätter von Moosen die Elastizität der Mem- branen ihrer Assıimilationszellen benutzen, um bei Benetzung rasch Wasser aus der Umgebung aufzunehmen. A. F. W. Schimper hat nun darauf aufmerksam gemacht, dass es epiphytische Bro- meliaceen gibt, deren Wurzeln, wenn vorhanden, nur als Haft- organe dienen und deren Wasseraufnahme auf der Vermittlung eigentümlicher Haargebilde beruht, mit denen ıhre Blätter besetzt sind. In Fig. 28a ist ein Längsschnitt durch die Mitte eines solchen Haares von Tillandsia Gardneri samt dem anstoßenden lebenden Blattgewebe gezeichnet. Unter einer gemeinsamen, stark verdickten 742 Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. Außenmembran d d sehen wir die Lumina / von sechs Haarzellen. Diesen entsprechen in der Flächenansicht der Haarschuppe drei kreis- oder gürtelförmige Gruppen von Zellen, die zusammen die Scheibe des Saughaares bilden. An diese schließen sich nach außen in langer Erstreckung die Zellen f des Flügelrandes, die einen aus- gedehnten Kapillarraum zwischen ihnen und der Blattepidermis e überdecken. Unter der Haarscheibe fallen einige der Blattzellen durch ıhren reichen Protoplasmagehalt und ihre Größe oder Form 28b Tillandsia Gardneri, Saughaar, Längsschnitte. a Zellen wasserreich., b Zellen wasserärmer. — 2 Lumina der Scheibenzellen; d Außenmembran davon; f Flügel des Haares; w Wassergewebe; a Leitzellen. auf (s. Zelle « und die zwei darunterliegenden). Sie sind offenbar dazu bestimmt, das von dem Haare aufgenommene Wasser dem Wassergewebe ww ww zuzuführen, das dieses dem tiefer gelegenen Assımilationsgewebe weitergibht. Wird den wassergefüllten Lumina ! der Scheibenzellen durch die Nachbarzellen des Blattes Wasser entzogen, so schrumpfeln sie trotz des Widerstandes ihrer Membranen, wie Fig. 23b erkennen lässt, ebenso wie die Zellen des Wassergewebes ein. Dauert die Dürre sehr lange, so verschwinden ihre Lumina zwischen den Membranfalten fast vollständig. Dabei muss aber selbstverständlich / Steinbrinck, Über Schrumpfungs- u. Kohäsionsmechanismen von Pflanzen. 743 auch die dicke Außenmembran um so stärkere Verbiegungen er- leiden, je mehr die Deformation ihrer Zellen fortschreitet. Fällt nun Regen, so wird in den Raum zwischen dem lebenden Blattgewebe und den Haarflügeln f sehr schnell Wasser eingesaugt und den Scheibenzellen zugeleitet. Wie Mez gefunden hat, sind aber auf der Unterseite der äußeren Scheibenzellen in der sonst durchweg kutikularısierten Membran kutinfreie Durchlaßstellen, durch die das Wasser rasch hindurchtritt, um den Saugapparat unter dem elasti- schen Zuge seiner Membranen, und von dort aus auch das Wasser- und Assimilationsgewebe wieder prall zu füllen. So führen diese Pflanzen eine Lebensweise etwa wie unsere Moose und Flechten. Literaturübersicht. Ascherson, Hygrochasie und zwei neue Fälle dieser Erscheinung. 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Bewegungsmech. einiger Pteridophytensporangien. Ber. d. Dtsch. Bot. Ges. 1904, S 73. — 3. Über den Bewegungsmech. des Trichia-Capillitiums. Ber. d. Dtsch. Bot. Ges. 1906, S. 216. J. Verschaffelt, 1. Proeve eener Theorie der hygroskopische Bewegungen. Maand- blad voor Naturwet. 1891, Nr. 2 u. 3. -— 2. Verspreiding der zaden bij Brunella ete. Bot. Jaarbock Dedonaea, Gent 1890,.8. 148.) — 3. Verspreiding der zaden bij Iberis. Bot. Jaarbock Dodonaea, Gent 1891, S. 95. Weberbauer, 1. Beiträge z. Anat. d. Kapselfrüchte. Bot. Centralbl. 1898, Bd. 73. — 2. Uber die Fruchtanatomie der Scrophulariaceen. Beihefte z. Bot. Centralbl. 1901, Bd. X, Heft 7. A. Zimmermann, 1. Über mech. Einrichtungen zur Verbreitung von Samen und Früchten. Diss. Berlin 1885. -—- 2. Molekular-Physik. Untersuchungen. Ber. d. Dtsch. Bot. Ges. 1853, 8.533 u. 1884, S. 124. Versuche über Entwickelungserregung und Membran- bildung bei Seeigeleiern durch Molluskensperma. (Vorläufige Mitteilung.) x Von Hans Kupelwieser. (From the R. Spreckels Physiolgical Laboratory of the University of California.) 1. Gelegentlich von Versuchen, die ich an der kalifornischen Küste!) unter Anwendung von Loeb’s Methode über heterogene Hybridisation?) anstellte, zeigte es sich, dass Seeigeleier (Strongylo- centrolus purpuratus und 8. franziscanus) mit lebendem Samen von Mytilus behandelt zur Entwickelung gebracht werden können. Die Furchung kam sowohl ım normalen als ım alkalischen Seewasser 1) Herzstein Research Laboratory at New Monterey. 2) Loeb, Arch. für die ges. Physiologie Bd. 99 u. 104 und andere Mitteil. Su 4 Kupelwieser, Entwickelungserregung u. Membranbildung bei Seeigeleiern ete. 745 zustande. Die Eier bildeten hierbei keine Membranen und teilten sich anfangs unregelmäßig, nach demselben Entwickelungstypus wie bei künstlicher Parthenogenese durch hypertonisches Seewasser. Oft trennten sich die ersten Furchungskugeln voneinander und ent- wickelten sich für sich weiter. Erst mit der Erreichung des Blastula- stadiums bekam die Entwickelung ein mehr normales Aussehen. Auf diese Weise erhielt ich späte Gastrulae mit den charakteristi- schen Dreistrahlern, Mesenchymzellen und Pigment, die sich von den durch normale Befruchtung gewonnenen Larven kaum unter- schieden. Die Entwickelung wird durch Mytilus-Sperma nicht sofort an- geregt, sondern es bedarf einer Zeit der Einwirkung, die um so länger sein muss, je weniger Sperma man zugefügt hat. Während ich bei geringem Spermazusatz erst nach 24 Stunden Zweiteilung erhielt, trat dies bei gewissen höheren Konzentrationen des Spermas viel früher ein, so z. B. bei Zusatz von 0,2—0,5 ccm reinem Sperma zu 50 ccm Seewasser schon ın 5?/, Stunden. Diese Versuche gelangen höchstens bei einem Drittel der zur Verwendung gekommenen Weibchen und auch hier entwickelten sich selten mehr als 10°/, der Eier. Immerhin gelang es mehrmals, 50°/, und 70°, aller Eier auf diese Weise zur Entwickelung zu bringen. 2. Bei Verwendung noch höherer Konzentrationen des lebenden Spermas zeigte sich eine andere, nicht minder merk- würdige Erscheinung. Die Eier bildeten dann nämlich Befruch- tungsmembranen und zwar genügte hierzu schon eine Expositions- dauer von 5-15 Min. Die Eier, welche Membranen gebildet hatten, zeigten nach ca. 1 Stunde 30 Min. den Monaster!) und nach 2 Stunden 10 Min. die Spindel. Die Spindel führt aber nicht zur Zwei- teilung und nach ungefähr 6 Stunden konnten (bei Zimmer- temperatur) bereits die Anzeichen des Absterbens erkannt werden. Die Erscheinungen, die als Folge der Membranbildung hier eintreten, sind also genau dieselben, die man bei Anwendung der von Loeb?) gefundenen Methode der künstlichen Membranbildung mit Fettsäure erhält. Eine Reihe von weiteren Versuchen zeigte nun, dass die Mem- bran nicht nur mit lebendem, -sondern auch mit totem Sperma hervorgerufen werden kann, ebenso gelang es auch in einer großen Zahl von Versuchen, die Membran mit dem Filtrat von Sperma zu bilden, das vorher durch Temperaturen von 70—100° getötet worden war. 1) Dies konnte am lebenden Objekt bei den ziemlich durchsichtigen Eiern von Strongylocentrotus franziscanus nachgewiesen werden. 2) Loeb, J., On an improved Method of artificial parthenogenesis (I., II., III., Communication) University of California Publications. Physiology Vol. 2; hierher 740 Kupelwieser, Entwickelungserregung u. Membranbildung bei Seeigeleiern ete. Ich verwendete dann auf 70—100° erhitztes und filtriertes Sperma von Chiton (2 Spezies), Asterias ochracea, A. capitata, Asterina?, Strongylocentrotus franziscanus und schließlich auch der eigenen Spezies. Ich erhielt überall Membranbildung mit denselben Folgeerscheinungen, wie bei Verwendung von Mytilus-Samen. Voraus- setzung dazu war, dass die Konzentration des Spermas möglichst hoch gewählt wurde. Am besten setzte man die Eier direkt dem gar nicht oder nur wenig verdünnten lebenden Sperma, resp. dem Filtrat von höchstens mit gleichen Teilen Seewasser verdünntem und getötetem Sperma aus. Auf diese Weise erhielt ich in ein- zelnen Fällen bis zu 90°/, Membranen. Ich muss hier besonders betonen, dass diese Versuche durch- schnittlich nur bei jedem fünften Weibchen gelangen. 3. Waren schon die auf die Membranbildung folgenden Er- scheinungen genau dieselben, ob die Membranen mit heterogenem Sperma oder mit Fettsäure gebildet worden waren, so zeigten die folgenden Resultate diese Übereinstimmung in noch auffallenderer Weise: a) Brachte ich die Eier sofort nach der Membranbildung durch lebendes Sperma oder Extrakt in den Kälteschrank (ca. 8—10° C.), so zeigten sich in ungefähr 4 Stunden mehrere Zweiteilungen und es entwickelten sich eines oder das andere der Eier bis zur schwimmenden Larve, dasselbe Resultat, welches Loeb nach Membranbildung durch Fettsäure erhalten hatte!). b) Behandelte ich die Eier nach der Membranbildung durch Sperma mit hypertonischem Seewasser, wie Loeb es zur Hervor- rufung der künstlichen Parthenogenese (neuere Methode)?) ange- geben hat, 30-50 Min. lang, so entwickelten sich die Eier voll- kommen regelmäßig bis zu schwimmenden Blastulae, genau so, wie wenn die Membran mit Fettsäure gebildet worden wäre. 4. Ich versuchte nun, die beiden von mir gefundenen Methoden, nämlich Membranbildung durch konzentriertes (lebendes oder totes) Sperma und Entwickelungserregung durch lebendes Mytilus-Sperma, zu kombinieren, analog der Kombination, Fettsäuremembran und Ent- wickelungserregung durch hypertonisches Seewasser, mit welcher Loeb so ausgezeichnete Resultate erhielt. Es zeigte sich, dass ich nur dann Entwickelung mit Membranbildung erzielen konnte, wenn ich die Membranen erst hervorrief, nachdem die Eier vorher 3—5 auch: OÖ. u. R. Hertwig, Untersuchungen zur Morphologie u. Physiologie der Zelle. Heit 5, Jena 1857 (Membranbildung durch Chloroform) u. ©. Herbst: Biol. Centralbl. Bd. 13, S. 14, 1893 und Mitteilungen aus d. Zool. Stat. Neapel, Bd. 16, 1904 (Membranbildung durch Benzol, Toluol ete.). l) Nach einer bisher noch nicht veröffentlichten persönlichen Mitteilung. 2) Loeb, J., On an improved Method of artificial parthenogenesis (I., II., III. Communication) University of California Publications. Physiology Vol. 2. — Ich verwendete 50 ccm Seewasser + 8ccm 2!/,n NaCl. Kupelwieser, Entwickelungserregung u. Membranbildung bei Seeigeleiern ete. 747 Stunden lang dem lebenden, weniger konzentrierten Mytihuıs-Sperma ausgesetzt waren, während es nicht möglich war, die Entwicke- lung anzuregen, wenn die Membran zuerst gebildet war. Dasselbe ergab sich bei Membranbildung durch Fettsäure; wurde das lebende Mytilus-Sperma nach der Membranbildung zugesetzt, so gab es keine Entwickelung; wurden die Eier aber 3—5 Stunden dem Sperma exponiert und nachher dieMembranen hervorgerufen, so entwickelte sich ein hoher Prozentsatz, und zwar voll- kommen regelmäßig. 5. Bei einem meiner Versuche bildete ich Befruchtungs- membranen mit konzentriertem lebenden Mytilıs-Samen und fand dann, dass die Membranen bald nach ihrer Entstehung, offenbar durch den Andrang des diesmal besonders lebhaften Spermas, zer- rıssen wurden. In diesem Falle nun entwickelten sich die Eier mit zerrissenen Membranen (man kann sie an dem hyalınen Saum, der den Dotter begrenzt, erkennen) vollständig regelmäßig, während die Eier, deren Membranen nicht zerrissen waren, zugrunde gingen. Um dieses Resultat nachzuprüfen, wurden Membranen sowohl mit filtriertem Sperma als mit Buttersäure gebildet, die Membranen durch Schütteln zerrissen und nachträglich lebendes Mytilus-Sperma zugesetzt; auch diesmal entwickelten sich nur die Eier mit zer- rissenen Membranen. Ein Kontrollversuch zeigte, dass sich Eier mit zerrissenen Membranen ohne Zusatz von lebendem Mytilus- Samen nicht entwickeln. Daraus ergibt sich also, dass die Entwickelung durch lebendes Mytilus-Sperma nur dann angeregt werden kann, wenn dasselbe in unmittelbaren Kontakt mit der Ober- fläche des Eidotters gelangt. 6. Die letztgenannten Beobachtungen verlangten dringend nach einer histologischen Bearbeitung des Materials, um feststellen zu können, ob das Sperma nur an die Oberfläche des Eies gelangt oder ob es eindringt. Diese Untersuchung habe ich eben begonnen, leider erst Anfang Juni, zu einer Zeit, wo hier wenig Seeigel mit brauchbaren Eiern mehr erhältlich sind. Die Experimente, die mir das Material zum Konservieren hätten liefern sollen, fielen numerisch nicht günstig aus. Immerhin habe ich bisher von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen Versuche-.stammendes Material teils in toto, teils auf Schnitten untersucht. In diesem Falle hatten die Eier, wie erwähnt, mit sehr- konzentriertem lebenden Samen von Mytihus Membranen gebildet, die nachträglich durch den Samen selbst zer- rissen wurden. 4 Stunden später, früher als gewöhnlich beı Ver- suchen ohne Membranbildung, fand ich ca. 6°/, Zweizellstadien, und zu dieser Zeit wurde ein Teil der Eier konserviert und geschnitten. Von den übrigen Eiern hatten sich nach 22 Stunden ca. 6°/, zu normalen schwimmenden Blastulae entwickelt. 748 Höber, Zur Frage der elektiven Fähigkeiten der Resorptionsorgane. Ich fand nun auf den Schnitten sowohl wie auf Totopräparaten, dass in sehr vielen Fällen ein und mehr Spermatozoen in die Eier eingedrungen waren. Häufig fand ich das Spermatozoon in unmittelbarer Nähe des Eikerns, Spermakern und Eikern von einer gemeinsamen Strahlung umgeben. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass sich eben diese Eier, in welche ein Spermatozoon eingedrungen war, auch entwickelt hätten. Da der Monaster aber auch dann entsteht, wenn nur die Membran (z. B. mit Spermaextrakt) hervorgerufen worden war, so bleibt es noch fraglich, ob hier die sperma- und eikernumgebende Sphäre auf das Eindringen des Spermatozoon hin entstanden ist, resp. ob auch der Spermaster auftritt. Ferner muss untersucht werden, ob diese Erscheinungen auch bei Entwickelungserregung ohne Membranbildung eintreten. Vor allem aber wird es sich darum handeln, festzustellen, ob Ei und Spermakern miteinander verschmelzen. Ich hoffe ın nächster Zeit gleichzeitig mit der eingehenden Be- schreibung meiner Experimente auch weitere Resultate der histo- logischen Untersuchung mitteilen zu können. Zur Frage der elektiven Fähigkeiten der Resorptionsorgane. Von Rudolf Höber in Zürich. Es ıst eine durch tausendfältige Beispiele zu belegende Tatsache, dass verschiedene Zellen von Tieren oder Pflanzen demselben Nährmedium dessen Bestandteile in quantitativ stark verschiedenem Maße entreißen; ich erinnere etwa an die Eigenschaften der Meeres- algen, die die winzigen Mengen Jod, welche ım Meerwasser enthalten ı sınd, an sich zu ziehen, oder an die Zellen unserer eigenen Organe, die aus dem gleichen Blutstrom als Leberzellen den Zucker, als Schilddrüsenzellen Jod, als Nierenzellen Harnstoff zu stapeln ver- mögen. Man sıeht ın diesen elektiven Fähigkeiten wohl mit Recht den Ausdruck eines speziellen Bedarfs jeder Zelle, wenn man darunter nichts weiter versteht als den Effekt einer Verkettung der Leistungen jeder Zelle, sei es für den Gesamtorganısmus, sei es gegenüber der Umgebung, mit dem chemischen Betrieb in ıhrem Innern, welcher ihre Leistungen ermöglicht. Man muss sich aber wohl davor hüten, ın der Konstatierung dies Zusammenhanges der Elektion mit den besonderen Leistungen bereits eine befriedigende Erklärung für jene zu erblicken; vielmehr erhebt sich bei jedem einzelnen Nachweis einer Auswahl die Frage nach den Mitteln, mit welchen die Zelle sie vollzieht. Diese Frage kann aber nur in einer verschwindend kleinen Anzahl von Fällen bisher ausreichend beantwortet werden, weil wir über den Modus, durch den die meisten normalen Zellbestandteile ins Zellinnere aufgenommen werden, noch gänzlich ununterrichtet sind. Da, wo uns heute schon das Wahlvermögen genügend verständlich geworden Höber, Zur Frage der elektiven Fähigkeiten der Resorptionsorgane. 749 ıst, da handelt es sich um eine Auswahl, welche den zumeist ge- gebenen Verhältnissen nicht vollauf entspricht. Für eines der bekanntesten Paradigmen einer augenfälligen auswählenden Stapelung, für die von Pfeffer!) beschriebene An- häufung großer Mengen Methylenblau in den Wurzeln von Lemna minor, welche in eine Lösung von 1 Teil Farbstoff in 100 Millionen Teilen Wasser eintauchen ist eine zufriedenstellende Erklärung einerseits darın gelegen, dass das Methylenblau zu den lipoidlöslichen Substanzen gehört, welche die lipoide Plasmahaut der Zellen leicht zu durchdringen vermögen, andererseits darin, dass ım Zellsaft der Wurzelzellen Gerbsäure enthalten ist, welche alles eindringende Methylenblau sofort niederschlägt?). In analoger Weise ist es für uns verständlich, dass mit Vorliebe von den Bestandteilen des Nervensystems die Narkotika gestapelt werden°), weil das Nerven- system von dem vortrefflichen Lösungsmittel für die Narkotika, von den lIipoiden Substanzen, besonders reichliche Mengen enthält. Aber dies zweite Beispiel wird schon niemand als vollwertiges Analogon zu der Mehrzahl der Elektionen gelten lassen, welche die natürlichen Vorgänge an der Zelle begleiten. Nicht nur die lipoidlöslichen Narkotika, sondern überhaupt die lipoidlöslichen Stoffe gehören ja zu den seltenen Komponenten der Organismen, und deshalb darf man alle bevorzugten Aufnahmen von lipoidlöslichen Stoffen, wo sie auch konstatiert werden, nicht durchaus als typischen Ausdruck des Wahlvermögens der Zellen ansehen, höchstens als wichtigen Beweis dafür, dass diejenige Stelle, an der der Übergang der "Stoffe von der Zellumgebung ıns Zellinnere erfolgt, nämlich die Plasmahaut, bei der überwiegenden Zahl von Zellen ähnlich konstruiert ist. Immerhin ıst für das Zustandekommen mancher ganz normaler . Elektionen die lipoide Beschaffenheit der Zelloberfläche von grund- legender Bedeutung, so etwa, wenn wir die Blutkörperchen unter verschiedenen ihnen gebotenen Gasen das Kohlendioxyd und den Sauerstoff auswählen sehen; denn mindestens verdankt das erstere, vielleicht auch das zweite seiner Lipoidlöslichkeit die Fähigkeit, ohne weiteres ins Innere der Blutkörperchen vorzudngen. Dazu kommt freilich noch, gerade so wie ın dem vorher zitierten Pfeffer’schen Beispiel, als ein Faktor von viel allgemeinerer Bedeutung für die Elektion das Moment der chemischen Bindung der auszuwählenden Substanz. Denn vieles spricht dafür, dass, ganz entsprechend dem Entstehen des Gerbsäureniederschlages ın Ä den Lemnazellen und der Bindung des Kohlendioxyds an die ver- schiedenen Eiweißstoffe der Blutkörperchen, generell zu den bevor- zugten Mitteln der auswählenden Magazınierung die Bildung neuer 1) Unters. aus dem botan. Institut zu Tübingen 2, 179 (1886). — Plasmahant u. Vacuolen. 1890, 285. 2) Siehe dazu: Overton. Zeitschr. f. physik. Chem. 22, 189 (1897). 3) Siehe dazu: Pohl. Arch. f. experiment. Pathol. 28, 239 (1891). Grehant. Compt. rend. de la Soc. de Biol. 1899, 246. Archangelsky. Arch. f. experim. Pathol. 46, 347 (1901). 750 Höber, Zur Frage der elektiven Fähigkeiten der Resorptionsorgane, Verbindungen ım Innern der Zellen durch Reaktion mit spezifischen Komponenten derselben gehört. Bei meinen Untersuchungen über die den Resorptionsvorgang beherrschenden Kräfte!) bin ich nun unlängst auf einen Fall von quantiativem Wahlvermögen gestoßen, mit welchem ich mich ın letzter Zeit von neuem beschäftigt habe. Es ıst eine bekannte Tatsache, dass, wenn man dem Futter von Kaninchen oder Mäusen anorganische Eisensalze beimengt, alsbald mit Schwefelammonium oder mit Ferrocyankalıum und Salzsäure resorbiertes Eisen in den Epithelien der Duodenalzotten nachzuweisen ist. Nun ist für eme große Zahl von Zellen festgestellt worden, dass ihre Oberfläche für die anorganischen Salze undurchlässig ist; ich speziell habe für das Hauptresorptionsorgan der Wirbeltiere, für den Dünndarm, welchem viele aus teleologischen Gründen ohne weiteres ein besonders ausgeprägtes Wahlvermögen zutrauen, nachgewiesen, dass ım allge- meinen sein resorbierendes Epithel keine von der Norm abweichende Durchlässigkeiten aufweist, dass z. B. die zu den notwendigen Nahrungsstoffen gehörenden Salze und die Zucker wegen ihrer Lipoidunlöslichkeit ihren Weg ins Körperinnere zwischen den Epithel- zellen nehmen müssen, und nicht von diesen aufgenommen und weitergegeben werden, während für den Körper unbrauchbare oder schädliche Stoffe, wenn sıe nur lipoidlöslich sind, mit weit größerer Geschwindigkeit durch die Zellleiber hindurch in den Säftestrom gelangen. Deshalb erscheint das Verhalten der Eisensalze von vornherein in einem besonderen Licht und erweckt den Anschein, als ob die Aufnahme des nicht gerade reichlich in der Nahrung enthaltenen, aber doch zum Hämoglobinaufbau unbedingt notwendigen Eisens vielleicht durch besondere Mittel garantiert wird. Im dieser Meinung wurde ich durch das Resultat einer Versuchsreihe bestärkt, in welcher auf meine Veranlassung Dr. C. Fuchs das Resorptions- vermögen des Darmes für verschiedene andere Schwermetallsalze (Salze des Co, Ni, Fe, Mn, Bi, Cu, Ag, Pb) untersuchte?). Es stellte sich nämlich heraus, dass die Eisensalze eine höchst frappierende Sonderstellung einnehmen, dass die Resorptionsepithelien sich mit ihm wie mit keinem der andern Schwermetallsalze beladen, so dass der Eindruck nur verstärkt wird, dass in dem Resorptionsbild offen- bar der Ausdruck eines speziellen Bedürfnisses des Körpers bezw. einer eigenartigen Anpassung der Zelltätigkeit an die Leistungen der blutbildenden Gewebe zu erblicken ist. Natürlich erhebt sich sofort die Frage nach besonderen Ein- richtungen der Epithelien, welche sie zu der spezialisierten elektiven Funktion befähigen. Indessen muss man, scheint mir, von vorn- herein auch noch eine viel einfachere Möglichkeit für die Lösung des Problems mit ins Auge fassen: es wäre immerhin denkbar, dass die Verwertung des Eisens im Haushalt des Körpers nicht die Ur- sache für die "bevorzugte Resorption im Darm, sondern dass sie 1) Pflüger’s Archiv Bd. Be 74, 86 u. 94. 2) Pflüger’s Archiv 94, 337 (1903). Pe }; ai”, Höber, Zur Frage der elektiven Fähigkeiten der Resorptionsorgane. 751 deren Wirkung ist; mit anderen Worten: vielleicht liegt es an be- sonderen Eigenschaften der Eisensalze, physikalischen oder chemischen, dass sie leichter als andere Schwermetallsalze aufgenommen werden. Damit ergeben sich zwei Methoden, der Sonderstellung des Eisens auf den Grund zu gehen, eine physikalisch-chemische, und eine, die ich als biologische bezeichnen will. Von dieser soll zuerst die Rede sein. I. Biologische Methode: Diese Methode besteht darin, dass die elektiven Fähigkeiten der Resorptionszellen verschiedener Tiere, deren Schwermetallbedarf ein verschiedener ıst, miteinander ver- glichen werden. Bekanntlich findet man im Gefäßsystem der Wirbel- losen „respiratorische Globine“, welche nur in der Funktion, nicht in der Zusammensetzung dem Hämoglobin entsprechen. So sind gewisse Klassen der Mollusken und Krustaceen durch den Besitz eines kupferhaltigen Globins, des Hämocyanıns, andere Klassen der Mollusken durch den Besitz manganhaltiger „Achroglobine“ ausge- zeichnet!). Wenn man nun von der Ansicht ausgeht, dass die Auswahl des Eisens unter den Schwermetallen von seiten der Resorptionszellen der Säugetiere auf einer Anpassung der Zell- leistungen an die Bedürfnisse des Organısmus basiert, so darf man vermuten, dass auch für die ausreichende Bildung der anderen, weder an Wirksamkeit noch an Metallgehalt hinter dem Hämoglobin zurückstehenden Globine die Resorptionszellen mit herangezogen _ werden, dass also etwa bei Gastropoden und Gephalopoden ein Wahlvermögen für Kupfer ausgebildet ist. Zur Prüfung der Angelegenheit ließ ich durch cand. phil. Lit. schütz Fütterungsversuche an Helix pomatia und an Astacus fluviatilis, deren beider Blut Hämocyanın enthält, mit einer eisen- und einer kupferhaltigen Nahrung vornehmen. Die Metalle wurden in verschiedener Form gegeben; nach den Ergebnissen scheint darauf wenig anzukommen. Das Eisen kam als Eisenchlorid, als kolloidales Eisenoxyd (Ferrum oxydatum saccharatum) und als „Carniferrin“, d. ı. das durch Fällung der Phosphorfleischsäure mit Eisenchlorid gewonnene Produkt, zur Verwendung. Das Kupfer wurde als Kupfersulfat, als Kupferammoniumsulfat und als eine dem Ferratin analoge Verbindung von Kupfer mit Eiweiß, deren Dar- stellung wir nach den Angaben von Schwarz?) vornahmen, verfüttert. Meistens wurden die Verbindungen ın wechselnden Mengen mit Wasser und Stärke zu einem dünnen Brei verrührt. Den Krebsen, welche nıemals spontan fraßen, wurde ihr Futter mit Hilfe eines ausgezogenen Glasrohrs direkt in den Kaumagen einge- führt), die Schnecken fraßen die verschiedenen Eisennahrungen gewöhnlich in reichlichen Mengen spontan, verschmähten aber die Kupferpräparate entweder von vornherein oder nach kurzer Zeit 1) Siehe darüber: v. Fürth, Vergleichende chem. Physiologie der niederen Tiere. 1903, S. 43 ff. 2) Arch. f. experiment. Pathol. und Pharmokol. 35, 437. (1895). 3) Siehe dazu: Jordan. Pflüger’s Archiv 101, 289 (1904). 752 Höber, Zur Frage der elektiven Fähigkeiten der Resorptionsorgane. und wurden deshalb ebenfalls mehrmals mit einer Glaskapillare, allerdings mit wenig sicherem Erfolg, gefüttert. Außerdem wurden zur Kontrolle Tiere metallfrei ernährt. Nach einer Zeit von 4—14 Tagen, innerhalb deren die Nahrungszufuhr mehrmals wiederholt wurde, wurden die Tiere getötet, ıhre Mitteldarmdrüse nach der üblichen Methode in die Hall’sche Mischung von Schwefelammonium, Alkohol und Wasser gelegt!) und später geschnitten. Die Schnitte wurden dann entweder noch einmal mit Schwefelammonium oder mit Ferro- cyankalıum-Salzsäure behandelt. Das Ergebnis der Schnittunter- suchung war, dass in den Resorptionszellen der Mittel- darmdrüse sowohl beiden Krebsen wie bei den Schnecken mit Sicherheit resorbiertes Eisen, mehrmals in reich- lichen Mengen, aufzufinden war?) während der Nachweis von Kupfer in keinem einzigen Fall bestimmt gelang. Auf das Ausbleiben der Kupferreaktion an der Schneckenleber will ich nicht viel Gewicht legen, weil, wie gesagt, die Kupferfütterung beı den Schnecken meist wenig befriedigend auszuführen war. Die Krebsversuche halte ich aber für beweisend. Aus dem Ergebnis sind nun vor allem zwei Schlüsse zu ziehen: Erstens ist in dem Hauptresorptionsorgan der Versuchstiere, der Mitteldarmdrüse, trotz des Kupferbedarfs für die Blutbildung eine Begünstigung der Kupferresorption nicht nachzuweisen; natürlich ist damit nicht ausgeschlossen, wenn auch unwahrscheinlich, dass der Kupferimport von emer anderen Körperstelle in ausgiebigerem Maß vollzogen wird. Zweitens — und das ist das wichtigere — gerade so, wie bei den Wirbeltieren, findet auch hier bei den Wirbellosen eine reichliche intrazellulare Eisen- resorption statt — man kann nicht sagen: obgleich nicht das geringste Bedürfnis nach Eisen vorhanden ist; denn H. Dohrn?) hat auch im Blut vom Flusskrebs einen Eisengehalt von 0,02 Proz. neben 0,03 Proz. Kupfer festgestellt, und nach Dastre und Floresco*®) enthält das eisenreichste Organ von Helix pomatia, die Leber, in g Trockensubstanz 0,1 mg Eisen, welchem die Autoren oxydative Funktionen zuschreiben. Dennoch kann man wohl behaupten, dass der Kupferbedarf dieser Tiere mindestens nicht hinter ihrem Eisen- bedarf zurücksteht; wollte man daher ın der deutlichen Eisen- resorption den Ausdruck einer Anpassung an die Lebensbedürfnisse sehen, so könnte man nicht begreifen, warum nicht auch das Kupfer reichlich und intrazellular zur Resorption gebracht wird. Deshalb ist es die plausiblere Annahme, ın der Elektion der Eisen- salze nicht ein Zeichen einer spezialisierten Funktion der Resorptionszellen zu erblicken, sondern den Grund dafür in speziellen Eigenschaften der Eisensalze zu suchen, welche das Eindringen in die in bestimmter, aber nicht ) du Bois-Reymond’s Archiv 1896, 49,u. 142. ) Siehe auch Jordan, |. ce. ) Nach v. Fürth, Vgl. chem. Physiol. der nied. Tiere, 4) Arch. de Physiol. Serie 5, T. 10. T 2 =, {5} Höber, Zur Frage der elektiven Fähigkeiten der Resorptionsorgane. 753 durchweg bekannter Weise organisierten Zellen be- günstigen. Natürlich ist zu untersuchen, welcher Art diese prä- sumptiven, der Resorption dienlichen Eigenschaften der Eisensalze sind. Diese Frage behandelt: I. Die physikalisch-chemische Methode: Ich habe in einer früheren Abhandlung darauf hingewiesen, dass aus dem Darm von Hunden die hpoidlöslichen Stoffe weit rascher resorbiert werden als die lipoidunlöslichen; in neuerdings ausgeführten größeren Versuchs- reihen, über welche bisher noch nicht berichtet ist, habe ich mich auch davon überzeugt, dass die Resorptionsgeschwindigkeit sogar je nach dem Grade der Lipoidlöslichkeit variiert. Ich kann also behaupten, dass ein bestimmter physikochemischer Charakter den Resorptionselementen ein bestimmtes elektives Vermögen zuerteilt. Nun wird eine sehr große Zahl von Beobachtungen vortrefflich unter Zugrundelegung der Hypothese von Overton einheitlich erklärt, dass das hpoide Lösungsmittel in der Zelloberfläche als Grenzmembran angeordnet ist; der Zusammenhang der Resorptions- geschwindigkeit mit der Lipoidlöslichkeit ist alsdann so zu deuten, dass die Iipoidlöslichen Resorptionssubstanzen die Zellleiber zu durch- dringen und so ins Körperinnere einzutreten vermögen, während den Iıpoidunlöslichen Stoffen nur der interzellulare Weg offen steht. Damit ist dann aber auch die hier wesentliche Frage gestellt: Beruht die Resorptionsbegünstigung der Eisensalze vielleicht darauf, dass sıe lipoidlöslich, andere Schwermetallsalze dagegen lipoidunlöslich sınd? Es ıst nicht leicht, die Frage zu ent- scheiden. Für die Lipoidlöslichkeit des Eisenchlorids spricht von vornherein seine bekannte starke Löslichkeit in Ather, welche die meisten lipoidlöslichen Substanzen auszeichnet. Der direkte Nach- weis ist leider durch die Hydrolyse des Eisenchlorids mit Abspaltung von Salzsäure erschwert. Es bleibt nur die Möglichkeit, das Eisen- chlorid mit den zwei einzigen, bisher bekannten lipoidlöslichen Schwermetallsalzen, mit dem Quecksilberchlorid und dem Goldchlorid, zu vergleichen, deren direktes Eindringen ın die Zellen ich am Darmepithel von Froschlarven nachgewiesen habe!). Man könnte also erwarten, dass, wenn die Lipoidlöslichkeit das entscheidende Moment bei der elektiven Resorption des Eisens ıst, auch Queck- silber und Gold bei der Resorption bevorzugt werden. Zur Prüfung dieser Frage wurden weiße Mäuse mit einem Gebäck aus Nutrose, löslicher Stärke, Butter und Kochsalz mit einem Zusatz von 0,04 Proz. Quecksilberchlorid resp. 0,35 Proz. Gold- chlorid gefüttert. Die Quecksilbertiere gingen bereits nach 3—4 Tagen zugrunde. Die Goldtiere fraßen dagegen begierig 7—14 Tage lang ihr Futter ohne Zeichen einer Schädigung. In den Dünndarm- epithelien der Quecksilbertiere war mit der Hall’schen Lösung keine Spur von Quecksilbersulfid nachweisbar, während bei Tieren, welche drei Tage lang mit einem Futter ven entsprechendem Eisen- gehalt genährt sind, die Resorption höchst evident ist. Immerhin 1) Pflüger’s Archiv 86, 199 (1901). xXXVI. 48 754 Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. mögen die Versuche wegen der starken Toxizität des Quecksilber- salzes wenig beweisen. Aber auch an den Därmen der Goldtiere war bei Behandlung mit Schwefelwasserstoffwasser-Alkohol keine Metallaufnahme m die Zellen nachzuweisen. Das beweist nun nicht etwa, dass trotz Lipoidlöslichkeit Quecksilber- und Goldchlorid nicht in die Epithelien der Maus einzudringen vermögen, auch die stark färbenden lipoidlöslichen Farbbasen und ihre Salze bekommt man gewöhnlich nicht unmittelbar im Protoplasma zu sehen, sondern nur, wenn farbstapelnde Granula in der Zelle enthalten sind —; es beweist nur, dass keinesfalls die Lipoidlöslichkeit für sich allein genügt, um die elektive Aufnahme des Eisens zu erklären. Ich halte es für das Wahrscheinlichste, dass sich zur Lipoidlöslichkeit der Plasmahaut des Eisensalzes eine besondere chemische oder physiko-chemische Beziehung zu bestimmten Kompo- nenten im Protoplasma gesellt, und dass dadurch die auffällige Anhäufung des Eisens in den Zellen zustandekommt. Die Verhält- nisse lägen dann ganz ähnlich wie bei der anfangs erwähnten Lemnawurzel, bei der die Lipoidlöslichkeit zunächst über die Farb- stoffaufnahme entscheidet, und dann die zu anderen Zwecken ım Zell- saft anwesende Gerbsäure durch Niederschlagsbildung die Stapelung des einmal eingedrungenen Farbstoffes vornimmt. Das ist allerdings nur eine Vermutung. Dagegen halte ich es für einen positiven Gewinn, dass nach dem Ergebnis des ersten Teiles dieser Untersuchung die Ursache für die elektive Resorption des Eisens mindestens zu einem Teil aus dem dunklen Gebiet der Zelle in das zugänglichere der Eigen- schaften der Eisensalze herauszuverlegen ist, da ja der Zusammenhang der elektiven Resorption mit einer be- sonderen Adaptation der Zellen an das Bedürfnis des Körpers unwahrscheinlich erschien. Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. Von Oskar Schulz in Erlangen. Wer sich mit der Literatur über die Physiologie der Schild- drüse beschäftigt, gewinnt sehr bald die Überzeugung, dass unsere gegenwärtige Kenntnis von den Aufgaben und Leistungen dieses Organs ganz wesentlich der klinischen Medizin zu danken ist. Die Physiologen haben es an eingehenden Experimentaluntersuchungen sicherlich nicht fehlen lassen, sie haben vollständige und unvoll- ständige Thyreoidektomien, Transplantationen der Drüse und andere Operationen in nieht mehr zu übersehender Anzahl ausgeführt, sie haben sich die hierhergehörigen anatomischen, histologischen und chemischen Arbeiten zunutze gemacht; aber sie hätten die Lehre von der Schilddrüse in so kurzer Zeit nicht so weit zu fördern vermocht, wenn ihnen nicht die klinischen Erfahrungen über Myxödem und Basedow’sche Krankheit, über Kretinismus und über die = 75 Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. 755 Folgen der Strumektomien zustatten gekommen wären. Anderer- seits haben die Tierversuche hördhders den Chirurgen mancherlei wertvolle Aufschlüsse gebracht und die operative Therapie der Kropfgeschwäülste ac beeinflusst. So darf man ohne Über- treibung vielleicht sagen, dass in den letzten fünfundzwanzig Jahren auf keinem Spezialeebiet experimentelle Physiologie und Elze Medizin so sehr einander angeregt und gefördert haben wie auf dem Gebiet der une, Die erste auf die Lebenswichtigkeit der Schilddrüse hinweisende Beobachtung findet sich ın der ım Jahre 1859 publizierten Arbeit von Mor a Schiff „Über die Zuckerbildung in der Leber und und den Einfluss des Nervensystems auf die Erzeugung des Diabetes“ Gewiss fehlt es ın den früheren Arbeiten über die Schilddrüse nicht an zuverlässigen und wertvollen Befunden; allein die Schlüsse, die man daraus zog, und die Lehren, die man darauf gründete, erscheinen uns heute im großen und ganzen als phantastische Spekulationen. Erst die von Schiff konstatierte auffällige Tat- sache, dass die Totalexstirpation der Schilddrüse bei Hunden oft den Tod der Tiere unter seltsamen Erscheinungen nach sich ziehe, bahnte eine richtigere Würdigung dieses Organs an. Merkwürdigerweise blieb jene experimentell-physiologische Unter- suchung von Schiff eine längere Reihe von Jahren so gut wie unbeachtet, bis spätere klinische Erfahrungen die Aufmerksamkeit darauf zurücklenkten. Im Jahre 1873 beschrieb William Gull, unter schärferer Präzisierung der charakteristischen Symptome, das in der Folgezeit als Myxödem bezeichnete Leiden zum erstenmal als eine eigene Krankheit. Die Hauptkennzeichen der neuen Krankheitsform sah er in der eigenartigen, von dem gewöhnlichen Ödem verschiedenen Anschwellung der Haut und in dem höchst bemerkenswerten Ver- fall der geistigen Fähigkeiten, ın einer allmählich zunehmenden geistigen Schwäche, die sich sogar bis zu völliger Verblödung steigern konnte. Veränderungen der Schilddrüse, die bei seinen Patienten zweifellos vorgelegen haben, scheinen ihm entgangen zu sem. Einige Jahre später (1878) hat dann zuerst W. M. Ord auf die pat Kolögichen Veränderungen der Schilddrüse bei der von Gull chrichenen Krankheit en nachdem ihm bei einem zur Sektion gekommenen Fall die ausgesprochene Atrophie der Drüse aufgefallen war. Ord war es übrigens auch, der der neuen Krank- heit mit Rücksicht auf die dabei auftretende schleimige Durch- tränkung der Haut den Namen Myxödem gab. Diese Bezeichnung hat bald allgemein Eingang gefunden und den schon früher von Charcot vorgeschlagenen Krankheitsnamen Cachexie pachy- dermique verdrängt. Nach der ersten Mitteilung von Ord, der bald noch die Ver- 48* 756 Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. öffentlichung weiteren kasuistischen Materials folgte, beginnt das Interesse der Ärzte für die mit der Atrophie der Schilddrüse in Zusammenhang stehenden krankhaften Zustände zu wachsen. Aber erst die in den Jahren 1882 und 1883 publizierten Arbeiten der Chirurgen Kocher und Reverdin bringen die Schilddrüsenfrage vollends ın Fluss. Das Thema, mit dem sich bis dahin nur vereinzelte Forscher beschäftigt hatten, wird fast mit einem Schlage „aktuell“, und die Literatur darüber schwillt in kurzer Zeit derart an, dass es Mühe kostet, ıhr zu folgen. Es ist eher zu niedrig als zu hoch gegriffen, wenn man die Zahl der hier in Be- tracht kommenden Publikationen aus den Jahren 1880—1900 auf etwa 1000 veranschlagt. Unter diesen Umständen gestaltet sich gegenwärtig für jeden, der sich mit der Schilddrüsenfrage beschäftigt, die kritische Verwertung des vorliegenden literarischen Materials zu einer recht mühevollen Aufgabe, und es ist nur zu begreiflich, dass die meisten neueren Untersuchungen, auch wenn sie nur eine enger umgrenzte Detailfrage behandeln, von vornherein auf Voll- ständigkeit in den Literaturangaben verzichten. Kocher und Reverdin hatten, unabhängig voneinander, bei Menschen, denen die Schilddrüse wegen kropfiger Entartung total exstirpiert worden war, auch nach völlig ungestörter Verheilung der Operationswunde schwere allgemeine Störungen eintreten sehen. Diese Störungen stimmten so sehr mit dem Bilde des Myxödems überein, dass Reverdin die Bezeichnung postoperatives Myx- ödem dafür wählte. Für Kocher stand bei seinen Patienten der allgemeine körperliche und geistige Verfall im Vordergrund, er nannte daher den durch die Operation hervorgerufenen krankhaften Zustand strumiprive Kachexie. Beide Bezeichnungen kommen auf dasselbe hinaus, beide enthalten die gleiche Entdeckung. Was Schiff fünfundzwanzig Jahre zuvor für den Hund festgestellt hatte, galt nach Reverdin und nach Kocher auch für den Menschen. Kein Zweifel, dass die beiden Schweizer Chirurgen die ersten gewesen sind, die auch für den Menschen den ätiologischen Zusammenhang von Thyreoidektomie und den in kürzerer oder längerer Frist ıhr folgenden sehr bedrohlichen Krankheitserscheinungen mit voller Überzeugung verfochten haben. Der Wert dieser für die Patho- logie des Menschen grundlegenden Entdeckung wird weder dadurch geschmälert, dass ihre Richtigkeit erst durch weitere Forschungen ın den folgenden Jahren völlig sicher erwiesen werden musste, noch dadurch, dass gelegentlich auch schon früher von einzelnen Ärzten allerlei üble Symptome und schwere andauernde Schädigungen im Gefolge von Kropfoperationen gesehen und beschrieben worden waren. Im Bereiche der Lebensvorgänge, der normalen wie der pathologischen, ist es mit der bloßen Konstatierung einer noch nicht bekannten Tatsache nicht immer getan, mag auch die Tat- ET Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. 757 sache später einmal eine noch so große Bedeutung gewinnen. Nieht gar so selten ist die höher einzuschätzende Leistung, die wissenschaftliche Hauptarbeit vielmehr die richtige Einreihung der - neuen Beobachtung in den vorhandenen Wissensbestand, ihre logische Verknüpfung mit schon bekannten und gedeuteten Tatsachen und anerkannten Lehrsätzen, ist das, was man gewöhnlich die „Erklärung“ einer Tatsache nennt. Gerade in der gesamten Biologie und wissen- schaftlichen Medizin ist es Regel und sollte es Regel bleiben: Nicht wer etwas Neues sieht, wird dadurch schon zum Entdecker, sondern der erst, der zu seinem Funde selbst Stellung zu nehmen vermag. Für die Richtigkeit dieser Unterscheidung finden wir in der Ge- schichte der speziellen Pathologie des Menschen eine Reihe guter Beispiele. Noch immer bieten die wechselvollen Krankheitsbilder dem beobachtenden Arzt neue Züge. Sehen wird sie mancher, aber sie sehen und neue Erkenntnis daraus schöpfen wird nur der, dem aus der Wiederkehr zusammengehöriger Merkmale eine Gesetz- mäßigkeit entgegentritt. Wie bedeutungsvoll gerade in der klinischen Pathologie der Unterschied zwischen „sehen“ und „sehen“ ıst, das hat vor mehr als zehn Jahren einmal A. v. Strümpell!) in einer Sitzung der Erlanger physikalisch-medizinischen Sozietät mit voller Anschaulichkeit geschildert. In seiner Gedächtnisrede auf J. M. Charcot wurde er der eigenartigen Begabung des ausgezeichneten Pariser Klinikers und Neuropathologen dadurch gerecht, dass er ıhn als einen wahren Seher schilderte. Charcot’s Seherauge er- kannte in Symptomen, die wegen ihres auffallenden Charakters schon oft von Ärzten beobachtet und studiert worden waren, die Merkmale eines spezifischen Krankheitsprozesses.. Wo andere vor ihm nur einen verwirrenden Komplex krankhafter Störungen des Nervensystems gesehen hatten, sah Charcot synthetisch die Typen zusammengehöriger Krankheitserscheinungen. Und so wurde er, weil sein Scharfblick über die bloße Beobachtung hınaus vor anderen auch die die Erscheinungen verknüpfenden Fäden sah, zum Schöpfer neuer Krankheitsbilder, zum wirklichen Entdecker. Wie weit er sich dabei auf übernommene Erfahrungen und wie weit auf eigene Feststellungen stützte, kommt hier für uns nicht in Betracht: die Größe seiner wissenschaftlichen Entdeckungen beruht auf einer genialen Synthese des gesamten gegebenen tatsächlichen Materials, oder besser, jede seiner Entdeckungen ist nichts anderes als eine solche Synthese. Mit diesem breiter ausgeführten Beispiel aus einem anderen Forschungsgebiet wollte ich darlegen, wie meiner Meinung nach die wichtigsten Arbeiten über die Physiologie und Pathologie der Schilddrüse zu beurteilen sind. Natürlich hat es auch vor Kocher 1) Sitzungsber. der phys.-med. Sozietät in Erlangen 26 (1894), 1ff. 758 Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. und Reverdin eine Fülle sicherer und wertvoller Erfahrungen über Kropf und Kropfoperationen, über Kretinismus und Hypo- thyreoidismus gegeben, es wäre ja zu verwundern, wenn es bei der Häufigkeit der Schilddrüsenerkrankungen und -bildungsanomalien anders wäre. Allein vor Kocher und Reverdin hat doch nie- mand die fundamentale Bedeutung der Schilddrüse auch für den Menschen erkannt! Die Schaffung der neuen Krankheitstypen der strumipriven Kachexie und des postoperativen Myxödems waren zweifellos bahnbrechende Entdeckungen. Sie ermöglichten mit einem Male ein großes Gebiet ätiologisch dunkler Erscheinungen von einem Gesichtspunkte aus zu betrachten und haben fortwirkend die klinische und die experimentell-physiologische Forschung in einer geradezu erstaunlichen Weise zu weiteren Untersuchungen angeregt. Wenn wir heute so weit sind, zu sagen: Der Schild- drüsenapparat ıst auch für den Menschen schlechthin lebenswichtig, so ist diese Erkenntnis ın letzter Linie nur der Ausfluss jener Entdeckungen. Sehr bald nach der Veröffentlichung der Arbeiten von Reverdin und von Kocher setzt bei Chirurgen und Physiologen eine leb- haftere Beteiligung an der Schilddrüsenforschung ein. Ein flüchtiger Blick auf die einschlägige Literatur lässt schon vermuten, dass sich hier die Wirkung eines mächtigen Impulses geltend macht. Die Kurve der literarischen Produktion schnellt augenfällig in die Höhe. Schon das Jahr 1884 bringt eine ganze Reihe von Mit- teilungen, die meisten von Chirurgen, eine von einem Physiologen, und zwar von M. Schiff. Es erscheint fast selbstverständlich, dass gerade Schiff die neuen klinischen Erfahrungen unverzüglich aufgriff. Waren sie doch eine Bestätigung dessen, was er schon bei seinen Tierversuchen aus den fünfziger Jahren gesehen hatte. Er nahm jetzt diese früheren Versuche an Hunden und Katzen wieder auf, vervollkommnete sie, besonders auch in der Operations- technik, und dehnte sie auf Kaninchen und Ratten aus. Außer Thyreoidektomien nahm er auch Transplantationen der Schilddrüse in die Bauchhöhle vor, um zu zeigen, dass die Funktion der Drüse nicht etwa mit irgendwelchen anatomischen Beziehungen zu den übrigen Gebilden der Halsregion in Zusammenhang stände. Die sogenannte Regulationstheorie, die übrigens durch die Schiff’schen Versuche noch keineswegs abgetan wurde, behauptete ja, die Schild- drüse sei als Schutzventil in den das Gehirn versorgenden Blut- strom eingeschaltet. Im großen und ganzen konnte Schiff in seinen neuen Ver- suchsreihen nur die Ergebnisse seiner früheren Untersuchung be- stätigen. Hunde und Katzen gingen nach totaler Thyreoidektomie unter Krämpfen oder anderen schweren Symptomen von seiten des Nervensystems unfehlbar zugrunde; Kaninchen und Ratten ließen Fe Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. 759 _ dagegen meistens keine bedrohlichen Nachwirkungen der gleichen Operation erkennen. An Nagern hatte Schiff früher keine Versuche angestellt. Jetzt konstatierte er die wichtige Tatsache, dass die Thyreoidea für Nager durchaus nicht dieselbe physiologische Bedeutung be- sitze wie für Karnivoren. Die Mitteilungen der Chirurgen aus dem Jahre 1884 stimmen zum Teil mit Schiff überein, zum Teil weichen sie erheblich von ihm und voneinander ab. Besonders hervorzuheben ist, dass P. Bruns gegen die Zulässigkeit der totalen Entfernung der Schild- drüse beim Menschen Stellung nahm. Er bezeichnete diesen Ein- griff als physiologisch unzulässig, da die postoperative Kachexie sicherlich durch den Ausfall einer spezifischen Funktion der Schild- drüse bedingt sei. In den übrigen Arbeiten finden wir recht wider- spruchsvolle Angaben. Aber diese Widersprüche in den tatsäch- lichen Befunden und die Differenzen in den Schlussfolgerungen regen zu immer neuen Nachprüfungen der strittigen Punkte an. Zu den schon behandelten Einzelfragen treten neue, und mit den neuen Fragen treten wiederum neue Widersprüche in den Lösungen auf. Bei dem großen Interesse, das eine wissenschaftlich wohl be- gründete Therapie der Kropfgeschwülste und der thyreogenen Krank- heiten überhaupt beanspruchen darf, können diese Kontroversen gar nicht unfruchtbar bleiben. Von allen Seiten finden die aufgeworfenen Fragen eifrigste Bearbeitung. Klinische, experimentelle, histologische, vergleichend-anatomische Untersuchungen über die Schilddrüse und ihre physiologischen Aufgaben gewinnen in der Literatur immer breiteren Raum: so wird die Schilddrüse in kurzer Zeit ein im besten Sinne modernes, viel bearbeitetes Forschungsobjekt. Das ist, in kurzer Darstellung, der: Entwickelungsgang der Schilddrüsenforschung bis zu dem Punkt, wo sie aus ihrem engeren Rahmen heraustrat und das Interesse der Gesamtmedizin in An- spruch nahm. Die Physiologie darf sich das Verdienst zusprechen, nicht an letzter Stelle diese Entwickelung gefördert zu haben: ein Physiologe war es, der zuerst auf die Lebenswichtigkeit der Schild- drüse hinwies. Fand auch die erste Arbeit von Schiff nicht gleich die ihr gebührende Beachtung, so haben seine beiden Mit- teilungen aus dem Jahre 1884 um so nachhaltiger zu weiteren experimentell-physiologischen Untersuchungen über die Schilddrüse angeregt. Die Bevorzugung der Schilddrüsenforschung hat etwa zwanzig Jahre angehalten. Was in dieser Zeit geleistet worden ist, will ich hier nicht schildern. Alles in allem genommen, hat unsere anatomische und physiologische Kenntnis der Schilddrüse außerordentliche Fort- schritte gemacht, und diese Fortschritte sind in der praktischen Medizin segensreich zur Geltung gekommen. Die Therapie der 760 Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. Schilddrüsentumoren, der Basedow’schen Krankheit, des Myxödems und des infantilen Kretinismus kann Erfolge aufweisen, an die früher kein Arzt denken konnte, und die nur durch ausgiebige experimentelle Vorarbeit ermöglicht wurden. Wieder einmal hat sich die Vivisektion als ein unersetzlicher Wegweiser zu wahrhaft förder- licher Erkenntnis und zugleich zu rettenden Heilmethoden bewährt. Angesichts der hier vorliegenden engen Verknüpfung von wissenschaft- lichem vivisektorischem Experiment und praktischer Heilkunde drängt sich uns — ungerufen — der Gedanke an den noch immer nicht zur Ruhe kommenden blinden Ansturm gegen den Tierversuch auf. Wer hier den wahrhaft humanen Geist, der die Tierversuche diktierte, begreifen will, kann es; medizinische Fachbildung gehört nicht dazu. Eine ganze Gruppe schwerer, hoffnungsloser Krank- heiten wird durch das Tierexperiment ätiologisch aufgeklärt und damit eine Epoche neuer Heilerfolge eingeleitet: man sollte meinen, kein unbefangener Laie könne sich gegen die deutliche Sprache dieser Tatsachen verschließen. Aber freilich, die unbefangenen sınd es !ja nicht, die die physiologische Methode agitatorisch be- kämpfen. Seit einigen Jahren ist augenschemlich die Vorliebe für Ex- perimentaluntersuchungen über die Schilddrüse zurückgegangen. Ich glaube, nicht zum Schaden der Sache. Die Kritik ist mit den vorliegenden Ergebnissen experimenteller Arbeiten noch keineswegs im reinen, und mit kurzdauernden Versuchsreihen, wie sie in den achtziger und neunziger Jahren in so großer Zahl ausgeführt wurden, ließe sich jetzt nicht mehr viel erreichen. Ich habe schon früher!) darauf hingewiesen, dass die Beobachtungen an thyreoidektomierten, zunächst von Tetanie verschont bleibenden Tieren viele Monate lang fortgesetzt werden müssen. Die Lebenswichtigkeit des gesamten Schilddrüsenapparates für den Menschen und für Hund und Katze bedarf zwar keines neuen Beweises mehr, wohl aber haben wir uns noch damit zu beschäftigen, was denn die einzelnen anatomisch gesonderten Teile dieses Apparats zu leisten vermögen. Hat Erd- heim?) recht, wenn er behauptet, auch beim Menschen sei, wie bei der Ratte, die Tetanie nur durch den Verlust der Epithelkörperchen bedingt, und wenn er verlangt, die Bezeichnung Tetania strumi. priva sei durch Tetanıa parathyreopriva zu ersetzen? Kurzer- hand lassen sich solche Fragen nicht entscheiden. Nicht allein dass die Beobachtung jedes Falles möglichst lange auszudehnen ist, auch die Operationstechnik muss subtiler sein und jede Sektion muss minutiös ausgeführt werden. Bei der Operation subtile ana- tomische Abgrenzung dessen, was man exstirpieren will, bei der 1) Sitzungsber. d. phys.-med. Sozietät in Erlangen 32 (1900), 39. 2) Münch. med. Wochenschr. 1906, 1282. Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. 761 Sektion minutiöse Absuchung der Halsregion bis hinauf über das Zungenbein!) und hinunter bis zur Brustapertur, ferner in der Brusthöhle?) Absuchung des mediastinalen Bindegewebes und der großen Gefäße, besonders der Aorta bis zum Herzen und auch noch innerhalb des Herzbeutels, und Entnahme aller irgendwie verdächtig erscheinenden Knötchen zur histologischen Untersuchung: das ıst alles ganz unerlässlich bei Versuchen, aus denen man sichere Schlüsse ziehen will. Ich habe wiederholt bei den Sektionen, auf die es mir ankam, die Hilfe eines Anatomen in Anspruch genommen und habe es mehr als einmal erfahren, dass vier Augen, besonders wenn zwei „anatomische“ darunter waren, mehr sehen und finden als zwei. Dass auch bei der sorgfältigsten Sektion noch etwas übersehen werden kann, ist natürlich zuzugeben. Theoretisch ist das Verfahren von Erdheim dem makroskopischen Absuchen der zu berücksichtigenden Regionen gewiss überlegen. Erdheim hat bei seinen Versuchstieren (Ratten) die erforderliche anatomische Kontrolle über die von ihm ausgeführten Operationen in der Weise geübt, dass er nach Schluss jedes Versuches die Halsorgane ın komplette Schnittserien zerlegte. Auch beim Menschen — mehrere Fälle von partieller Strumektomie, die einer tvpischen Tetanie er- lagen, gaben Anlass zu genauer anatomischer Nachuntersuchung der Halsregion — hat er dies Verfahren angewendet; die Halsorgane lieferten in einem Fall eine komplette Serie von über 10000 Schnitten. Das ist sehr mühevoll und vielleicht nicht in jedem Fall praktisch durchführbar. Wo es aber durchführbar ist, ermöglicht es wohl die sicherste Kontrolle über die etwa noch vorhandenen bezw. bei der Operation absichtlich oder unabsichtlich zurückgelassenen Teile des Schilddrüsenapparates. Diese Zerlegung des ganzen zu prüfenden Organkomplexes in lückenlose Schnittserien erinnert an die anato- mische Kontrolle der sogenannten Totalexstirpation des Pankreas. Auch da bleibt, wie Pflüger’s strenge Kritik in seinen Untersuchungen über den Pankreasdiabetes dargelegt hat, nichts anderes übrig, als Duodenum und Mesenterium in Schnittserien zu zerlegen und durch die mikroskopische Untersuchung der Schnitte zu kon- statieren, ob das Pankreas wirklich restlos exstirpiert worden ist oder nicht. Die in dem ersten Jahrzehnt der modernen Schilddrüsen- forschung dominierende Operation, die Entfernung der leicht auf- findbaren und gut abgegrenzten Thyreoidea, hat mehr und mehr spezialisierteren Eingriffen Platz gemacht. Epithelkörperchen und 1) Über das Vorkommen von akzessorischen Schilddrüsen in der Zunge selbst habe ich keine Erfahrung, halte aber die Untersuchung der Zunge von der Basis bis zum Foramen caecum in allen zweifelhaften Fällen für geboten. 2) Erdheim hat, wie das Ref. über seine Arbeit angibt, in der Thymus des Kaninchens zahlreiche — bis 32 — akzessorische Epithelkörperchen gefunden. 762 Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. akzessorische Schilddrüsen sind es, um die es sich jetzt bei der Mehrzahl der operativen Tierversuche handelt. In der Regel steht nicht mehr die Lebenswichtigkeit der Thyreoidea in Frage, sondern die Rolle der Nebenapparate, besonders ıhre Fähigkeit, gegebenen- falls zu proliferieren und als Ersatz für die Hauptdrüse einzutreten. Aber die operativen Versuche beherrschen das ganze Gebiet über- haupt nicht mehr allein. Neben ihnen ist ein ganz anderes Unter- suchungsverfahren zur Geltung gekommen, das ist die Untersuchung derjenigen Substanzen und Präparate, mit denen die thyreogenen Krankheiten und Entwickelungsstörungen und die schlimmen Folgen mancher Kropfoperationen bekämpft werden können. Der Gedanke, für den Ausfall der Schilddrüse Ersatz zu schaffen und dadurch den bedrohlichen thyreopriven Erscheinungen vorzu- beugen, findet sich schon bei Schiff. Seine Transplantations- versuche (1884) sind die erste Ausführung dieses Gedankens. Kleineren thyreoidektomierten Hunden brachte er unter strenger Aseptik die frisch entnommene Schilddrüse größerer Hunde in die Bauchhöhle, und es gelang ıhm dadurch ın der Tat, die Tiere längere Zeit am Leben zu erhalten. Dieser Erfolg trug einige Jahre später dazu bei, dass H. Bircher (1889) das Verfahren auch beim Menschen anwendete, und zwar, indem er zu Heilzwecken bei einer Myxödemkranken eine frisch exstirpierte menschliche Schilddrüse ın die Bauchhöhle implantierte. Auch dieser Versuch hatte einen zweifellosen, freilich nur vorübergehenden Erfolg. Als dann noch V. Horsley (1890) dafür eintrat, bei Myxödemkranken nicht die Schilddrüse vom Menschen, sondern die vom Schaf oder Affen ein- zupflanzen, war dieser Art von Organtherapie der Weg gebahnt. Da die Ausführung des Verfahrens aber selbst in einer chirurgischen Klinik noch auf Schwierigkeiten und Bedenken stoßen kann, so ist seine Anwendung doch immer nur eine beschränkte geblieben. Einen wesentlichen Fortschritt bedeutete es, als von G. R. Murray der Übergang von der Organ- zur Organsafttherapie gefunden wurde. Dasselbe, was bei Myxödem die subkutan oder intraperitonäal im- plantierte Schilddrüse leistete, das leistete, wie Murray zeigte, auch die Injektion von Schilddrüsenextrakt. Kalb- oder Hammel- schilddrüsen, frisch unter allen erforderlichen Kautelen entnommen, zerquetscht, zerrieben und mit Karbolglyzerin extrahiert, lieferten ein Extrakt, das sich ın der Therapie des Myxödems ausgezeichnet wirksam erwies. Freilich, ein Übelstand war dabei, das waren die Nebenwirkungen der subkutanen Applikation. In nicht ganz wenigen Fällen wurden an den Injektionsstellen allerlei unwillkommene lokale Entzündungen hervorgerufen. Die Anwendung des Murray’- schen Extraktes war also zum mindesten doch nicht ganz einwandfrei, und da man nicht jedesmal vor dem Gebrauch erst durch Vorver- suche seine Reinheit feststellen konnte, so suchte man von neuem a Be Re . Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. 763 nach einer ganz gefahrlosen Art der Einverleibung von Schilddrüse oder Schilddrüsenextrakt. Man suchte — und fand, was scheinbar am nächsten lag, zuletzt: die Einverleibung per os, sei es nun der frischen Drüsensubstanz, sei es irgendwelcher Extrakte oder Trocken- präparate der Drüse. Im Jahre 1892 sind die ersten erfolgreichen Versuche mit frischer Schilddrüse vom Schaf, die mit der Nahrung gereicht wurde, bei Myxödemkranken gemacht worden, und seitdem hat sich sowohl beim physiologischen Experiment wie bei der klinischen Krankenbehandlung die Einführung der verschieden- artigsten Schilddrüsenpräparate vom Munde aus als ein nahezu ge- fahrloses und durchaus wirksames Verfahren je länger je mehr be- währt. Dass man nicht früher schon zu diesem bequemen Modus gegriffen hatte, lag an dem Bedenken, das die chemischen Vorgänge bei der Verdauu:g und Resorption einflößten. Mutmaßlich war das wırksame Prinzip der Schilddrüse ein recht labiler Körper, der den lebhaften Reaktionen im Magen-Darmkanal nicht ausgesetzt werden durfte. Dieses Bedenken nun hat sich als unbegründet erwiesen, die wirksamste, chemisch bedeutungsvollste Substanz der Schilddrüse ist sogar relativ beständig. Hatte schon Murray gezeigt, dass mit einem passenden Ex- traktionsmittel (Glyzerin) ein therapeutisch brauchbares Drüsen- extrakt aus dem Organ gewonnen werden kann, so wurde nunmehr, nach dem günstigen Ausfall der Fütterungsversuche, eime ganze Reihe von neuen Präparaten für die Darreichung per os dargestellt. Diese Präparate waren teils nichts anderes als getrocknete und ge- pulverte Drüsensubstanz, teils waren es flüssige Extrakte, teils aus den Extrakten niedergeschlagene und getrocknete Fällungen. . Die letzte Form, die für den praktischen Gebrauch sehr bequem ist, hat sich wohl am meisten eingebürgert, zu ıhr gehören auch die bekannten Präparate Thyraden und Thyroidin. Das Thyraden, dessen spezifische Wirkungen ich seit einigen Jahren bei thyreoid- ektomierten Hunden verwerte und verfolge, wird aus Schweine- schilddrüsen gewonnen: die Drüsen werden bei gewöhnlicher Tem- - peratur mit physiologischer Kochsalzlösung extrahiert, die in Lösung gegangenen Substanzen werden wieder abgeschieden, getrocknet und mit Hilfe eines indifferenten Zusatzes ın Tablettenform gebracht. Die Dosierung wird dabei so gewählt, dass eine Tablette 0,3 g frischer Schilddrüse entspricht. Ich habe über die Wirkung des Thyradens bei der Bekämpfung thyreopriver Erscheinungen einige Erfahrungen gesammelt, die an anderer Stelle mitgeteilt werden sollen, hier will ich nur bemerken, dass mir die Tabletten wieder- holt gute Dienste gegen die stürmischen Tetanieanfälle bei ent- drüsten Hunden geleistet haben. Alle diese mehr oder minder bewährten festen und flüssigen Schilddrüsenpräparate schienen das Feld räumen zu müssen, als 764 Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. E. Baumann das konstante Vorkommen von Jod!) in der Schild- drüse entdeckte und die Jodsubstanz in Gestalt des sogenannten Jodothyrins fast in der Reinheit eines einheitlichen chemischen Indi- viduums isolierte. Wie mit einem Schlage erschien durch diese glänzende Entdeckung die ganze Schilddrüsenfrage gelöst. Jetzt hatte man endlich das gesuchte wirksame Prinzip in Händen, jetzt brauchte man keine undefinierbaren Extrakte und kein Haschee von frischen Drüsen mehr, jetzt dosierte man einfach Jodothyrin und hatte damit die Herrschaft über Tetanie, Myxödem und Kreti- nısmus gewonnen. Leider erfüllten sich alle diese Erwartungen nur zum Teil. Baumann?) selbst hat, gestützt auf die ın Gemein- schaft mit Goldmann ausgeführten Versuche, noch geglaubt, das Jodothyrin sei imstande, die Funktion der fehlenden Schilddrüse zu ersetzen. Dem ist aber nicht so. Schon Gottlieb?) war durch experimentelle Prüfung der Frage zu dem Schluss gekommen, das Jodothyrin allem könne thyreoidektomierte Tiere nicht am Leben erhalten, wohl aber sei dies durch Schilddrüsenextrakte, z. B. durch Thyraden, das nichts anderes sei als die Trockensubstanz eines Extraktes, möglich. Dann aber hat H. Stabel*) ın lang ausge- dehnten Versuchsreihen sowohl das Jodothyrin wie das Thyraden sehr gründlich auf die Fähigkeit, thyreoidektomierte Hunde vor tödlicher Tetanie zu schützen, untersucht. Von seinen Resultaten, die auch heute noch im wesentlichen zu Recht bestehen, hebe ich die bezeichnenden Sätze heraus: Er findet, „dass die Folgeerschei- nungen nach totaler Schilddrüsenexstirpation bei Hunden auch durch große und dauernde Gaben von Jodothyrin nicht mit Sicherheit aufgehoben werden können“; ferner, im Gegensatz zu Gottlieb, „dass auch das Thyraden nicht imstande ist, schilddrüsenlose Hunde dauernd am Leben zu erhalten“. Aus den Schlussbemerkungen entnehme ich noch folgendes: „Die therapeutische Verwertbarkeit beider Mittel am Menschen wird von ihren negativen Erfolgen bei thyreoidektomierten Hunden in keiner Weise berührt.“ Gegen diese Sätze ist nichts einzuwenden. Vom Thyraden kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass es trotz auffallend günstiger Beeinflussung der akuten Anfälle bei keinem einzigen Hund den Ausgang der Tetanie abwenden konnte. Soweit ich die einschlägigen Untersuchungen aus den letzten acht Jahren übersehe, kommen sie alle darin überein, dass Jodothyrin und Thyraden den Verlust der Schilddrüse nicht zu ersetzen vermögen, dass aber beide Präparate den Stoffwechsel recht erheblich zu beeinflussen imstande sind. Die Mehrzahl dieser Untersuchungen beschäftigt sich mit dem Jodothyrin, was bei dem 1) Zeitschr. f. physiolog. Chemie 21, 319. 1895/96. 2) Münch. med. Wochenschr. 1896, Nr. 47, S. 1157. 3) Deutsch. med. Wochenschr. 1896, Nr. 17, S. 271. 4) Berlin. klin. Wochenschr. 1897, S. 747 ff. Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. 765 großen Interesse, das gerade diesem Präparat gebührt, selbstver- ständlich ist. Die guten Erfahrungen, die ich so oft mit dem Thyraden bei der therapeutischen Verwendung der Tabletten machen konnte, haben mir schon wiederholt den Gedanken nahegelegt, die Ein- wirkung des Präparates auf den Stoffwechsel analytisch zu verfolgen. Dabei sollten, wenn möglich, seine Wirkungen auf den normalen und auf den thyreoidektomierten Hund miteinander verglichen werden. Solange es mir aber nicht gelang, entdrüste Hunde einige Monate wenigstens ın nahezu normaler Verfassung zu erhalten, hatte ich keine Garantie für die ungestörte Durchführung eines längeren Stoffwechselversuches. Es ıst mir nun endlich geglückt, unter den von mir operierten Hunden einige anzutreffen, die der akuten Tetanie und chronischen Kachexie widerstanden. Ob bei diesem Erfolg das Alter der Tiere zur Zeit der Operation und ferner die Pflege nach der Operation eine Rolle spielen, will ich hier nicht erörtern. Ich könnte mir leicht einreden, den so gewollten Erfolg auch wirklich planmäßig erreicht zu haben, während doch vielleicht nur ein günstiger oder sogar irreleitender Zufall im Spiel ist. Erst wenn es gelungen sein wird, in einer größeren Anzahl von Fällen immer wieder oder mindestens mit einiger Sicherheit das gleiche Resultat zu erzielen, wird von einem planmäßigen Verfahren zu sprechen sein. Für jetzt begnüge ich mich mit der tatsächlichen Angabe, dass ich über vier thyreoidektomierte Hunde verfüge, von denen drei so munter sind wıe normale Hunde, während einer ein Kretin leichten Grades ist. Die Hunde stammen von einem ım Erlanger physiologischen Institut gehaltenen Elternpaar, und zwar von einem Dachshund und einer Spitzhündin, sind ım Juli 1904 geboren und im Oktober 1904 von mir operiert. Typische: sogenannnte Totalexstir- pation der Schilddrüse. Wundheilung ohne jede Störung. Operiert wurden in kurzen Intervallen sechs Hunde von einem Wurf, davon sınd zwei den Folgen der Operation erlegen. Von den übrigen haben drei wohl hier und da thyreoprive Erscheinungen gezeigt, sind aber immer, unterstützt durch Thyraden, darüber hinweg- gekommen. Einer, wie schon erwähnt, ıst ein Kretin, jedoch ohne die geringsten Zeichen chronischer thyreopriver Kachexie (struppiges Fell, Haarausfall u. a.); die vegetativren Funktionen lassen keine gröberen Störungen erkennen; er ıst auch begattet worden, wurde aber nicht trächtig. Sein Kretinismus ist nicht etwa kongenital; der Hund war zur Zeit der Operation elf Wochen alt und unter- schied sich von den übrigen fünf durchaus nicht durch Mangel an Munterkeit und Intelligenz... Diese vier entdrüsten Hunde, bei denen die Thyreoidektomie vor 1!/, Jahren ausgeführt worden war, und die jetzt seit Monaten frei von post- operativen Anfällen geblieben waren, sollten zu ihrem Futter 766 Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. eine Beigabe von Thyraden erhalten, und es sollte in einer acht-: bis zehntägigen Thyradenperiode die Stickstoff- und Phosphorsäure- ausscheidung genau ermittelt und mit der entsprechenden Aus- scheidung während einer thyradenfreien Periode verglichen werden. Die Methodik der ganzen Untersuchung war gegeben, es war die- selbe wie die eines länger ausgedehnten quantitativen Stoffwechsel- versuchs. Jeder Hund musste mit einem Futter, das er voraus- sichtlich 3—4 Wochen immer gleichmäßig und vollständig nehmen würde, auf Stoffwechselgleichgewicht gebracht werden. Dann war in einer abgegrenzten Vorperiode fortlaufend die Stickstoff- und Phosphorsäureausscheidung festzustellen und in der anschließenden abgegrenzten Thyradenperiode wie in der hierauf folgenden Nach- periode ebenso zu verfahren. Da ein Teil der Versuche während des Winters ausgeführt wurde, so war noch darauf zu achten, dass größere 'Temperaturschwankungen in dem Raum, wo die Käfige standen, nicht vorkamen. Die Versuche sind im der Zeit von Mitte Februar bis Mitte Mai dieses Jahres durchgeführt worden, und zwar an sechs Hunden. Um eimen Vergleich zu gewinnen, nahm ich zu den vier thyreoid- ektomierten noch zwei normale Hunde hinzu. Es standen immer zwei Hunde gleichzeitig unter Stoffwechselkontrolle; nur für wenige Tage habe ich es einmal mit dreien versucht, war aber dann nicht mehr imstande, die notwendigen Analysen zu bewältigen. Da jeder Hund schon vor der Vorperiode einige Tage im Isolierkäfig ge- halten wurde und bei jedem die drei Perioden zusammen rund drei Wochen dauerten, so konnte ich in einem Monat zwei Versuche abschließen. Das Futter war entweder nur Milch oder ein Brei von Hunde- kuchen und Milch. Die reine Milchnahrung hat, wenn sie längere Zeit beibehalten werden soll, etwas Missliches; der Kot wird oft piarrhoisch, was natürlich allerlei Störungen für die Analysen mit sich bringt. Ich musste diese Futterform trotzdem in dem einen Fall, wo sie solche Störungen verursachte, beibehalten, weil der Hund bei gemischtem Futter seine Ration nicht immer vollständig ver- zehrte. Auf die Details der Analysen gehe ich nicht näher ein. Der Stickstoff wurde nach Kjeldahl, die Phosphorsäure durch Titration mit Uranlösung bestimmt. Alle Analysen sind doppelt oder, wenn die gefundenen Werte stärker differierten, dreifach ausgeführt. Bis auf die angedeuteten, aus der Milchnahrung resultierenden Störungen bei einem Hunde verliefen alle sechs Versuche glatt. Die Hunde waren immer munter und ließen keinerlei Abweichung von ihrem sonstigen Verhalten erkennen. Es ıst ja daran zu denken, dass ein Schilddrüsenpräparat, dem zweifellos eine nicht unter- geordnete Wirkung auf den Gesamtorganismus zukommt, auch einen ur Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. 767 sichtbar zutage tretenden Einfluss auf das Nervensystem ausüben könnte. Ich habe aber vorläufig nichts davon gesehen. Das Thyraden, das beı allen Versuchen zur Verwendung kam, ist das bekannte, in Tablettenform gebrachte Extractum thyreoideae Haaf. Die chemische Fabrik von Knoll & Co. in Ludwigshafen hat mir eine größere Quantität davon zur Verfügung gestellt, und ich kann nicht unterlassen, auch an dieser Stelle der Firma für die bereitwillige Überlassung des Präparats verbindlichst zu danken. — Die Tabletten, 6—9 Stück auf jede Futterration während der Thyradenperiode, wurden ım Mörser zerrieben und als Pulver mit dem Futter verrührt. Die täglıche Dosis entsprach also (1 Tablette = 0,3 g frischer Drüsensubstanz) einer Einverleibung von 1,8—2,7 g frischer Schilddrüse. 1. Dachshund, normal, schied aus täglich bei einem durch- schnittlichen Körper- in der gewicht von Stickstoff Phosphorsäure 12600 g Itägig. Vorperiode 8,076 8 2,474 g 11870 „, Itägig. Thyradenperiode 7,260 ,, 2,003 „ 11778055 Ttägig. Nachperiode 6,944 ‚, 2,068 ‚, 2. Spitzbastard, thyreoidektomiert, schied aus täglich bei einem durch- schnittlichen Körper- in der gewicht von Stickstoff Phosphorsäure 4790 & Itägig. Vorperiode 2,851 g 0,752 g 4840 „, l1tägig. Thyradenperiode 30885 0,900 ,, 5145, Stägig. Nachperiode 2,716 ‚, 0,828 „ 3. Spitzbastard, thyreoidektomiert, Kretin, schied aus bei einem durch- täglich schnittlichen Körper- in der gewicht von Stickstoff Phosphorsäure 4730 8 Itägig. Vorperiode 2,080 g 0,478 g 4360 „ Stägig. Thyradenperiode DATEN Ola 4040 „, Ttägig. Nachperiode 2,548 „ 0,628 „, Von einer Darlegung des Verlaufes der einzelnen Versuche an der Hand des analytischen Materials muss hier abgesehen werden. Ich habe nur, um das Endresultat zu kennzeichnen, von drei Ver- suchen die Durchschnittswerte für die tägliche Stickstoff- und Phos- 7168 Schulz, Neuere und neueste Schilddrüsenforschung. phorsäureausscheidung zusammengestellt. Aus den wenigen Zahlen in den drei vorhergehenden kleinen Tabellen lässt sich ohne Mühe ersehen, welcher Art die Wirkung des Thyradens gewesen ist. In diesen Zahlen tritt unzweideutig die Erhöhung der Stick- stoffausscheidung bei den beiden thyreoidektomierten Hunden während der Thyradenperiode zutage. Die Phosphorsäureausscheidung zeigt ein ähnliches Verhalten, jedoch nicht so, dass sie der Stick- stoffausscheidung vollkommen parallel ginge. Bei dem Kretin kommt es, in Übereinstimmung mit der starken Erhöhung der Stickstoffausfuhr, zu einer beträchtlichen Abnahme des Körpergewichts. Auffallend sind sowohl die Stickstoff- wie die Phosphorsäure- werte bei dem normalen Hund: bei beiden ist während der Thyraden- periode ein Rückgang zu konstatieren. Man könnte von einem paradoxen Verhalten reden, wenn die am häufigsten beobachtete Wirkungsweise der Schilddrüsenpräparate, d.h. die Erhöhung der Stickstoff- und der Phosphorsäureausscheidung schon eine sicher festgestellte physiologische Regel wäre. Aber so weit sind wir noch nicht. Liegt auch schon eine größere Reihe von Unter- suchungen vor, die den Einfluss der frischen Schilddrüse, des Jodothyrins, der Thyreoideatabletten auf den Stoffwechsel aufzu- klären suchen, so bilden sie doch noch keine genügende Unterlage für die Ableitung einigermaßen zuverlässiger Gesetzmäßigkeiten. Es ist noch keine strengere Gruppierung der Resultate durchführbar. So bleiben einstweilen solche Werte, wie ich sie bei dem normalen Hund erhielt, unvermittelt stehen. Von einer Theorie der Schild- drüsenwirkung auf den Stoffwechsel sind wir noch ziemlich weit entfernt, wir werden aber auf dem Wege dahin um so eher voran- kommen, je mehr wir uns auf den exakten Tierversuch stützen. Vorläufig tritt gegenüber den klinischen . Untersuchungen — ich erinnere hier nur an die kürzlich erschienene breit angelegte und eingehende Arbeit!) von W. Scholz „Uber den Stoffwechsel der Cretinen“ — der physiologische Stoffwechselversuch noch zurück. Ja, man kann sagen, es besteht zurzeit in der experimentell-physio- logischen Bearbeitung der Beziehungen zwischen Schilddrüse und Stoffwechsel eine Lücke. Zur Ausfüllung dieser Lücke sollen auch die hier im Auszug mitgeteilten Versuche an den vier thyreoid- ektomierten Hunden beitragen. 1) Zeitschr. f. exper. Pathol. u. Ther. 2, 271ff. Berichtigung. S. 637 (Nr. 19), Z. 19 v.o. muss es „hatte“ statt „hatten“ heißen; ferner dieselbe Seite Z. 9 v. u. „29“, statt „l 9“. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. XXYI. Bd. 15. Oktober 1906. NE RR. Inhalt: Über Ursprung und Bedeutung der Ahnen — Lloyd, The Desert Botanieal Laboratory of the Carnegie Institution of Washington. — Escherich, Die Ameise, Schilderung ihrer Lebensweise. — Du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung und Binnendruck in elastischen Hohlgebilden. — Abderhalden, Lehrbuch der physiologischen Chemie in dreifsig Vorlesungen. — Rosenthal, Beiträge zur Bekämpfung des Typhus im Deutschen Reiche. — Zacharjas, Rivista mensile di Pesca (lacustre, fluviale, marina). Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. Ein Beitrag zur Lehre von der geschlechtlichen Zeugung!). Von €. v. Janicki. Wenn ich es unternehme, das Problem der geschlechtlichen Fortpflanzung von einem allgemeinen Standpunkt aus theoretisch zu behandeln, so drängt es mich zu einer Rechtfertigung den For- schern gegenüber, die in mühevoller empirischer Arbeit unsere Kenntnisse ın der Befruchtungsfrage nach morphologischer und physiologischer Seite hin Schritt für Schritt fördern, auf einen zusammenfassenden, den Kern der großen Frage betreffenden Aus- blick hingegen sei es gänzlich verzichten, sei es einen solchen nur als schwache Vermutung gelten lassen wollen. Indes kann ich mich nicht durch anderes sen. als durch den Ausdruck bloßer Überzeugung, dass der Fortschritt nur in stetem Entgegenhalten induktiven und deduktiven Vordringens möglich ist, dus der Be- reicherung an gesicherten Tatsachen spekulative Deutung dieser letzteren auf dem Fuße folgen muss und darf. Und an dieser Ar- 1) Die nachfolgend entwickelte Auffassung der Amphimixis ist in wenigen zusammenfassenden Sätzen zum erstenmal bei Gelegenheit meiner Promotionsrede „Über die Bedeutung der Amphimixis“ in der Aula der Universität Basel am 8. Juni 1906 öffentlich ausgesprochen worden. XXVI. 49 170 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. beit der Deutung mag sich auch der versuchen, dem kein Verdienst auf dem Gebiet der Beobachtung und Entdeckung zukommt; hatte nicht Fr. A. Lange dem Recht der freien Auslegung ein über- eifriges Wort gesprochen ?!). Aus dem Widerstreit der Meinungen werden neue Gesichtspunkte geboren, die ihrerseits auch dem streng induktiven Arbeiter sich nützlich erweisen können. In diesem Sinne mögen die folgenden Zeilen dem engeren und weiteren Kreis der Fachgenossen vorgelegt werden. Die Erklärungsversuche der neueren Zeit für die Bedeutung der Amphimixis im Reich der Lebewesen lassen sich zurzeit, so weit ich die Sachlage übersehe, in sechs selbständige Hauptrichtungen zu- sammenfassen. Sie mögen ın Kürze charakterisiert werden. Im Anschluss an Ch. Darwin, nach dessen Auffassung die Kreuzung „die Individuen derselben Spezies oder Varietät getreu und gleichförmig in ıhrem Charakter erhält“?), haben Spencer, Hatschek, ©. Hertwig und Strasburger die Frage in einer nicht prinzipiell voneinander abweichenden Weise beantwortet. Für Spencer neutralisiert die Amphimixis die gegensätzlichen Abweichungen vom Mittelzustand und weist unzulässige Speziali- sierungen zurück?). Hatschek deutet die Amphimixis „als Korrektur gegen die erbliche Wirkung einseitiger Lebensbedingungen“ *). Nach OÖ. Hertwig gleicht sie „die Unterschiede, welche durch Einwirkung äußerer Faktoren ın den Individuen einer Art hervorgerufen werden, beständig aus, indem sie Mittelformen schafft; sie drängt geradezu dahin, die Art homogen zu machen und in ıhrer Besonderheit zu erhalten“). Strasburger legt den Schwerpunkt der Befruchtung auf „Übertragung der vereinigten Eigenschaften der Erzeuger auf die Nachkommen“ und erblickt den Nutzen des Vorgangs im „Aus- gleich individueller Abweichungen, wie ein solcher für das Fort- bestehen der Spezies erforderlich ist“ ®)”). „Wir erfahren jetzt mit steigender Bestimmtheit, dass die fluktuierende Variation nicht den Ausgangspunkt für Speziesbildung abgibt, ihr Ausgleich damit zu einer Notwendigkeit wird ®).“ — Einen verwandten l) Fr. A. Lange, Geschichte des Materialismus. II. Buch, 1875, p. 141. 2) Ch. Darwin, Über die Entstehung der Arten. 1884, p. 124. ) H. Spencer, Die Prinzipien der Biologie. Stuttgart 1876, Bd. I, p. 309 4) B. Hatschek, Über die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung. Prager Medizinische Wochenschrift, 1857, p. 337. Vgl. auch: Hypothese der orga- nischen Vererbung. Leipzig 1905, p. 38. 5) O. Hertwig, Die Zelle und die Gewebe. Jena 1893, p. 255. 6) E. Strasburger, Einige Bemerkungen zur Frage nach der „doppelten Befruehtung“ bei den Angiospermen. Bot. Zeit. 1900, p. 304, 305. 7) E. Strasburger, Die stofflichen Grundlagen der Vererbung im orga- nischen Reich. Jena 1905, p. 66. 8) E. Strasburger. Über Befruchtung. Bot. Zeit. 1901, p. 352. - ip Ban Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. Fire Standpunkt nimmt Nägeli ein!). Dieser Autor weist in scharf- sinniger Weise auf die Störungen hin, welche im Lauf des indi- viduellen Lebens das innere Gleichgewicht des Organismus, oder die Zusammenpassung (Konkordanz) seiner ÖOrganisations- und Funktionsverhältnisse betreffen. In verschiedenen Individuen ge- schehen diese Störungen in verschiedener Weise. Sie steigern sich auch im individuellen Leben. Eine Reihe von Generationen, welche nur durch geschlechtslose Vermehrung oder durch Samenbildung vermittelst Selbstbefruchtung auseinander hervorgehen, setzt Nägeli einem Individuum von derselben Dauer gleich, — darin erblicke ich einen wertvollen Gedanken. Wenn nun eine Störung der Zu- sammenpassung unaufhörlich gesteigert wird, so gelangt sie einmal dahin, dass sie mit der Fortdauer des Lebens unverträglich wird. Daher muss das Individuum und die durch Selbstbefruchtung bezw. agam fortgesetzte Generationsreihe endlich aussterben. Wenn da- gegen verschiedene Individuen sich untereinander paaren, so ist die größte Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass sich die Störung der Konkordanz vermindert. — Ähnlich erblickte schon Rud. Leuckart die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung darin, dass sie der Ausartung, welche bei ungeschlechtlicher Vermehrung, bei Selbstbefruchtung und bei Verbindung nahe Verwandter auf- tritt, durch Vereinigung zweier fremder Individualitäten vorzu- beugen hat?). Die zweite zu besprechende Richtung der Deutungen umfasst die sogen. Verjüngungstheorie. Ihre Vertreter sind: Bütschli?), Engel- mann®), Ed. van Beneden°’) und Maupas‘), auch darf wohl V. Hensen’) in diesem Zusammenhang genannt werden. Durch die Amphimixis wird das sonst der senilen Degeneration verfallende Leben „verjüngt“, und V. Hensen verteidigt, im Anschluss an eine Definition des Lebens von Bichat, den Satz: „Durch die normale Befruchtung wird der Tod vom Keim und dessen Produkten fern- gehalten“ ®). Die Befruchtung ist somit ein belebender Vorgang. — Als 1) C. Nägeli, Die Theorie der Bastardbefruchtung. Sitzungsber. der kgl. bayer. Akad. der Wissensch. zu München. Jahrg. 1866, Bd. I, p. 100—110. 2) Rud. Leuckart, Zeugung. In Rud. Wagners Handwörterbuch der Physiologie, Bd. IV, 1853, p. 961, 962. 3) O. Bütschli, Studien über die ersten Entwickelungsvorgänge der Eizelle, die Zellteilung und die Konjugation der Infusorien. Abhandl. der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellsch., Bd. X, 1876, p. 420, 431. 4) Morphologisches Jahrbuch, Bd. I, 1876, p. 628 u. f. 5) Archives de biologie, T. IV, 1883, p: 621. 6) E. Maupas, Le rajeunissement Karyogamique chez les Cilies. Archives de Zoologie experimentale, ser. II, 1889, p. 496. 7) V. Hensen, Physiologie der Zeugung. In Hermann’s Handbuch der Physiologie, 1881. 8). V.-Hensen,L-c., p. 236. 49* WE Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. Versuche, eine Verjüngungstheorie exakt auszubauen, sind die Spekulationen Spencer’s, Bernstein’s und Bühler’s aufzufassen. Nach Spencer!) tritt bei den Organismen periodisch. eine An- näherung an ein molekulares Gleichgewicht, woraus der Stillstand des Lebens resultieren würde, wenn nicht durch Befruchtung dieses Gleichgewicht wieder zerstört und von neuem lebhafte molekulare Veränderungen in den abgelösten Keimen hervorgerufen wären. Bernstein?) unterscheidet ın der organischen Materie die das Wachstum bedingenden und von außen stammenden treibenden Kräfte, und die den Molekülen der Materie zukommenden hemmenden Kräfte. Diese arbeiten gegen die ersteren und nehmen ım Laufe des Lebens überhand. Erst durch die Befruchtung findet eine gegenseitige Aufhebung der hemmenden Kräfte statt, so dass die treibenden Kräfte von neuem ihre volle Wirksamkeit entfalten. Bühler?) geht von den chemischen Affinitäten aus, welche das Protoplasma den zugeführten Nährstoffen darbietet. Mit dem Leben werden diese Affinitäten durch Sättigung erschöpft, und dies ist das Altern. Für die Erhaltung der Art müssen ın der lebendigen Substanz des Organismus, oder ın einem Teil desselben neue elektro- chemische Differenzen gesetzt werden, welche weitere Assımilation und Dissimilation ermöglichen. Durch das Zusammentreten zweier Molekülgruppen in der Befruchtung wird eine Stärkung der Affinität für die Elemente der Nahrung erreicht. Durchaus selbständige Wege geht seit zwei Jahrzehnten August Weismann und bietet eine in allen Einzelheiten mit bewunderns- werter Konsequenz entwickelte Theorie. Es war das Verdienst Weismann’s, ım Anschluss an die bahnbrechenden Untersuchungen OÖ. Hertwig’s und Strasburger’s, gezeigt zu haben, dass der Zweck der Befruchtung nicht in der „Belebung des Keimes“ oder „Verjüngung des Lebensprozesses“, sondern ın der Vermischung zweier individuell verschiedener Vererbungstendenzen zu suchen ist). Weismann legte Nachdruck darauf, dass hier ein Vorgang sui generis vorliegt, der zwar mit der Fortpflanzung verbunden sein kann und meistens auch verbunden ist, aber nicht notwendig mit derselben verbunden zu sein braucht, und nannte ihn Amphıi- mixis®). Die allgemeine Bedeutung der Amphimixis liegt nach Weismann in einer Erhöhung der Anpassungsfähigkeit der Orga- nismen an ihre Lebensbedingungen®). Im einzelnen ist die Wirkung 1). Spencer, .L- e., p: 297. 2) J. Bernstein, Zur Theorie des Wachstums und der Befruchtung. Archiv für Entwickelungsmechanik, Bd. VII, 1898, p. 518. 3) A. Bühler, Alter und Tod. Eine Theorie der Befruchtung. Biolog. Centralbl., Bd. XXITV, 1904, p. 86. 4) A. Weismann, Aufsätze über Vererbung. Jena 1892, Aufsatz V u. XII. 5).A. Weismann,l..c., p. 773. 3) A. Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie. Jena 1902, Bd. II, p. 297. Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 213 der Amphimixis recht mannigfaltig, und wird durch zwei Prozesse erreicht. Erstens, durch die zweite Richtungsteilung, welche nicht nur quantitativ die Hälfte der Ide!) entfernt, sondern zugleich die Möglichkeit außerordentlich zahlreicher Umkombinierungen des Id- bestandes an individuell verschiedenen Iden bildet (Neotaxis); zweitens, durch das Hinzutreten neuer individueller Ide bei der Befruchtung. Durch das Zusammenspielen dieser zwei Prozesse und gleichzeitiges Eingreifen der Naturzüchtung wird die Notwendig- keit der Koadaptation, d. h. gleichzeitiger harmonischer Anpassung vieler Teile des Organismus bedingt. Denn, „indem ... bei jeder Reduktionsteilung die Keimzellen auf die Hälfte ıhrer Ide herab- gesetzt werden, bietet sich die Möglichkeit, die ungünstig varlieren- den Ide aus dem Keimplasma der Art allmählich zu entfernen, in- dem jedesmal die Nachkommen aus den ungünstigsten Idkombi- nationen unterliegen, und indem so von Generation zu Generation das Keimplasma von ungünstig variierenden Iden gesäubert, und die günstigsten Kombinationen, welche Amphimixis bietet, erhalten werden, bleiben schließlich nur die richtig variierenden Kombı- nationen übrig, oder doch solche, in denen die richtig varıierenden Determinanten in der Überzahl sind, also bestimmend wirken“?). — Die zweite Wirkung der Amphimixis ist zunehmende Einengung der Variationsbreite, Konstantwerden des Formenkreises oder Ver- dichtung zu einer Art. Sie beruht auf der gleichen Ausmerzung von lIdkombinationen mit exzessiven Determinanten?). — Die letzte und wohl bedeutendste Wirkung der Amphimixis, die Weismann früher als die einzige gelten ließ, besteht ın steter Neuerzeugung der Individualität. Die Amphimixis schafft das Ma- terial an individuellen Unterschieden, mittelst deren die Selektion neue Arten hervorbringt®). Sie ıst aber nicht die letzte Ursache der Variation. — Diese drei Arten der Betätigung der Amphimixis bilden nach Weismann ihre indirekte Wirkung. Diese letztere kann nicht zugleich der Grund ihrer Einführung in die Lebewelt gewesen sein. Vielmehr muss die Amphimixis einen unmittelbaren Vorteil geboten haben, und dieser bestand in einer Steigerung und Er- weiterung der Assimilationsfähigkeit. — Weismann ist Gegner einer jeden Auslegung der Amphimixis als physiologische Not- wendigkeit, als einer primären Eigenschaft des Lebendigen. Die Amphimixis bietet die schon genannten Vorteile, und kraft dieser Vor- teile musste ihre Beibehaltung durch Naturzüchtung bewirkt werden. 1) Das Id ist nach Weismann ein Komplex der zu einem ganzen Individuum erforderlichen Anlagen. 2) A. Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie, Bd. II, p. 222. 3) A. Weismann, Ebenda, p. 224, 235. 4) A. Weismann, Aufsätze etc. Aufsatz V, VI und XII, ferner Vorträge über Deszendenztheorie, Bd. II, p. 256. 74 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. In der Einschätzung der Bedeutung, welche die Individuen- mischung für die Phylogenese hat, stimmt auch Boveri mit Weis- mann überein!), Die ältere Befruchtungstheorie Boveri’s: „Be- fruchtung ist Einführung eines Uentrosoma in das nur mit Archo- plasma ausgestattete Ei,“ kann hier nicht in Betracht kommen, weil sie sich bloß auf die Entwickelungserregung bezieht, und zu- dem, da bei den meisten Pflanzen ein Uentrosoma fehlt, nicht all- gemeingültig ist ?). Einen im wesentlichen dem Weismann’schen verwandten Standpunkt nimmt G. Klebs ein. Die direkten Vorteile der Sexualität liegen nach diesem Autor darin, „dass durch die Ver- einigung zweier Zellen in jedem Falle eine größere Kraftsumme zur Verfügung steht“?). Die wichtigste Wirkung der Befruchtung erblickt Klebs in der Förderung der Artbildung; es „kommen eigenartige Mischungen der elterlichen Eigenschaften in den Nach- kommen zur Entfaltung, und damit sind die ersten Schritte zur Varietätenbildung gegeben“*). Auch ist für Klebs die geschlecht- liche Fortpflanzung keine ursprüngliche notwendige Funktion jedes Organismus, und sie leitet sich von der unsre her°)°). Mit Weisman n übereinstimmend bich auch W. Waldeyer in der Befruchtung ein wirksames Moment der Variabilität. Wal- deyer vertritt die Meinung, „dass der Befruchtungsvorgang eine Einrichtung der Natur ist, welche die Variabilität der Lebewesen und damit ihre Anpassungsfähigkeit an die stetig fortlaufenden Ver- änderungen des Erdballes vermehrt, und hierdurch dazu beiträgt, dass sich das Leben auf unserem Planeten möglichst ausbreitet, möglichst lange erhält und möglichst vervollkommnet“ ’). Von einer neuen Seite — es wäre die vierte Gruppe von Theorien — sucht R. Hertwig das Befruchtungsproblem zu beleuchten, und zwar ausgehend von dem durch ausgedehnte Studien an Protozoen gewonnenen Begriff der Kernplasma- 1) Th. Boveri, Das Problem der Befruchtung. Jena 1902, p. 38. 2) Boveri, l.c., p.24. — Auch in der durch Experimente über Merogonie veranlassten Theorie von Delage büßt Amphimixis gegenüber der Substitution des weiblichen Kerns durch den männlichen ihre dominierende Bedeutung ein. Vgl. Y. Delage. Sur l’interpretation de la f&condation m6rogonique et sur une theorie nouvelle de la f&condation normale. Archives de zoologie experimentale. Serie 3eme, T. VII, 1899, p. 526, 527. 3) G. Klebs, Über einige Probleme aus der Physiologie der Fortpflanzung. Verhandl. der Gesellsch. Deutsch. Naturforscher u. Ärzte 1895 (Separat), p. 15. 4)G. ‚Klebs, le, p: 13: 5): G..Klebs,.l.c, pi: 6) Vgl. auch G. Klebs, Zur Physiologie der Fortpflanzung einiger Pilze. Pringsheim’s Jahrb. f. wissensch. Botanik, Bd. XXXV, 1900, p. 183 u. 188. 7) W. Waldeyer, Befruchtung und Vererbung. Verhandl. d. Gesellsch. Deutsch. Naturforscher und Ärzte. 69. Versammlung zu Braunschweig. Leipzig 1898. p. 81. Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 775 relation. Befruchtung ist für R. Hertwig physiologische Not- wendigkeit und bildet im wesentlichen einen regulatorischen Vorgang!)?). Mit dem Leben nützt sich der Organismus ab und der Tod ist notwendige Konsequenz des Lebensprozesses. Ver- mieden kann der Tod nur dadurch werden, dass zeitweilig eine Reorganisation der lebenden Substanz stattfindet. Die bei der Be- fruchtung zustande kommende Vereinigung Zweier verschieden ge- arteten Kerne wirkt in dem Sinne regulatorisch, dass sie Störungen im Wechselverhältnis zwischen Kern und Protoplasma verhindert. Diese bei rein autogener Zellvermehrung von R. Hertwig und seinen Schülern erfahrungsgemäß festgestellten Störungen doku- mentieren sich in eimem überwiegenden Anwachsen der Kern- substanz auf Kosten des Protoplasmas. Und so liegt nach R. Hert- wig ın der Befruchtung eın Mittel, der für den Organismus schäd- lichen funktionellen Kernhyperttophie entgegenzuwirken. Die Befruchtung ist die wirksamste Einrichtung in dieser Hinsicht, sie kann aber auch ausnahmsweise durch anderweitige Einrichtungen ersetzt werden; solche vikarıerende Regulationen sind spontane Zellreorganısation und Cystenruhe bei Protozoen, sowie etwa die Winterruhe beı den Pflanzen. — Plate (1886) erblickte die Not- wendigkeit der Konjugation bei Infusorien im allmählichen Auf- treten eines quantitativen Missverhältnisses zwischen dem Makro- nukleus und dem Plasma; der Kern wird nicht genügend er- nährt und sinkt unter die normale Quantität herab. Durch die Konjugation wird das Missverhältnis wieder ausgeglichen?). — Bütschli sieht in der Amphimixis, außer der verjüngenden Wir- kung, gleichfalls einen regulatorischen Prozess innerhalb der Zelle. Die Mitose hat nach Roux die Bedeutung, möglichst gleichhälftige Teilung aller Kernbestandteile zu bewirken. Wie jeder natürliche Vorgang ist diese Teilung dennoch unvollkommen, nicht gleich- hälftig. Anfangs ist die Ungleichheit nur gering, allmählıch steigert sie sich. Sie betrifft das quantitative Verhältnis von Chromatın und Achromatin. Durch Verschmelzung von zwei Individuen mit sich gegenseitig ergänzenden Defekten wird der normale Zustand wieder erreicht*). Eine fünfte Kategorie von Erklärungsversuchen wäre durch den originellen Gedanken von W. H. Rolph gegeben, einen Ge- 1) R. Hertwig, Über Wesen und Bedeutung der Befruchtung. Sitzungs- berichte der mathematisch-physikalischen Klasse der k. b. Akademie der Wissen- schaften zu München, 1902. 2) R. Hertwig, Über das Problem der sexuellen Differenzierung. Verhandl. der Deutschen Zoologischen Gesellschaft zu Breslau. Leipzig 1905. 3) Entnommen aus O. Bütschli, Protozoa. In: Bronn’s Klassen und Ord- nungen des Tierreichs, Bd. I, Abt. 3, 1559, p. 1641. 4) O. Bütschli, 1. c., p. 1642. — Vgl. auch W. Schimkewitsch, Biolog. Centralbl., Bd. XVI, 1896. 776 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. danken, der in neuester Zeit von P. A. Dangeard wieder auf- genommen worden ist. Indes dürfte die zu besprechende Auf- fassung heute kaum schwer ins Gewicht fallen. — Ausgehend von der Beobachtung, dass im Dunkeln gehaltene Algenschwärmsporen abmagern und zugrunde gehen bis auf die geschlechtlich differen- zierten Sporen, welche konjugieren, zieht Rolph den Schluss, dass die Bedeutung der Befruchtung „eine sowohl schnell, als qualitativ und quantitativ massenhaft nährende“ ist und dass das Motiv für die Konjugation im Hunger gegeben ist!). „Es ist das Sättigungs- bedürfnis, der nagende Hunger, welcher die Tiere zur Verschlingung ihresgleichen, zur Isophagie treibt. Der Konjugationsvorgang ist nur eine besondere Form der Nahrungsaufnahme, welche bei sınkendem Angebot von Nahrung, oder bei gesteigertem Nahrungs- bedürfnis, infolge der oben angegebenen Ursachen eintritt; es ist eine lsophagie, welche an Stelle der Heterophagie tritt. Das weniger gut genährte, daher kleinere, hungrigere und beweglichere (seschöpf bezeichnen wir als Männchen, das besser genährte und gewöhnlich, jedenfalls relativ, ruhende als Weibchen. Daher ist es denn auch das kleine hungernde Männchen, welches das große wohlgenährte Weibchen behufs der Konjugation aufsucht“. Ist aber Männchen und Weibchen gleich schlecht genährt, so haben beide gleich energisches Bestreben nach Konjugation?). — Das gilt zunächst für Protozoen und Protophyten. Bei den Metazoen kon- jugieren nur die Zeugungsstoffe der Tiere, nicht die Tiere selbst ?). Das Tier ıst ein Individuum der ungeschlechtlichen Generation, das Ei und das Spermatozoon sind Individuen einer zweiten, auf ungeschlechtlichem Wege erzeugten geschlechtlichen Generation ®). Ei und Spermatozoon konjugieren wie die Protozoen — „ein Ver- jüngungs- oder Reorganisationsprozess, den ich als einen Prozess der Aufnahme kongenialer Nahrung als Isophagie bezeichne® °). Die Arbeit Dangeard’s war mir nicht ne und ich zitiere daher die Dar lernte von G.Klebs®): „Dangeard geht davon aus, ‚que la ine. sexuelle n’est qui une te de autos phagie primitive’ ... Der Grund für sexuelle Vereinigung liegt nach Dangeard in einer Schwächung der sexuellen Elemente oder in einer Art von Hunger. Zwei Möglichkeiten bieten sich dar, die geschwächten Geschlechtszellen zur Entwickelung zu bringen; sie vereinigen sich zu zweien, ‚elles se mangent reciproquement’, oder sie erhalten von außen Energie in Form von Nahrung, Wärme etc. 1) W. H. Rolph, Biologische Probleme. 1889, p. 135. 2) 1.'C,pdab, 107: 3) l.c., p. 140. 4) 1. e.,.p. 143; 5) 1.c., p. 144. 6) G. Klebs, Zur Physiologie der Fortpflanzung einiger Pilze, p. 194, 195. Be T $ Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. UL und entwickeln sich parthenogenetisch.“ — Es sei hier auf die Kritik der vorstehenden Theorie durch Klebs hingewiesen!). Einen abweichenden und originellen Standpunkt vertritt neuer- dings Schaudinn, und zwar veranlasst durch äußerst interessante Befunde bei seinen subtilen Trypanosomen-Studien. Gestützt auf die Existenz eines männlichen und eines weiblichen Kernes in den Gameten der Trypanosomen, wobei aber im Mikro- gamet nur der männliche, im Makrogamet nur der weibliche Kern zur kräftigen Entwickelung gelangt, nimmt Schaudinn als Postulat das Bestehen eines primären physiologischen Dualismus der organischen Substanz, eines männlichen und weiblichen Extrems. „Da aber derselbe Dualismus, der das Wesen der Lebensmaschine ausmacht, gerade durch die Differenzierungsmöglichkeit oder sagen wir Sıegesmöglichkeit einer seiner beiden Einheiten den Kern des Unterganges in sich trägt, so halte ich auch die Ausgleichsmöglich- keit, d. h. die Befruchtung für einen allen Lebewesen zukommenden Vorgang?).* Ich möchte nicht unterlassen, den angeführten biologischen Erklärungsversuchen des Sexualitätsproblems einen metaphy- sischen zur Seite zu stellen, nämlich A. Schopenhauer’s An- sicht über die Geschlechtsliebe, in ıhrer vollen Bedeutung natur- gemäß nur auf den Menschen passend. Schopenhauer erblickt die Aufgabe der Geschlechtsliebe in der „genauen Bestimmung der Individualitäten der nächsten Generation“?). „Die dramatis per- sonae, welche auftreten werden, wenn wir abgetreten sind, werden hier, ihrem Dasein und ihrer Beschaffenheit nach, bestimmt durch diese so frivolen Liebeshändel. Wie das Sein, die Existentia, jener künftigen Personen durch unseren Geschlechtstrieb überhaupt, so ist das Wesen, die Essentia, derselben durch die individuelle Aus- wahl bei seiner Befriedigung, d. ı. die Geschlechtsliebe durchweg bedingt, und wird dadurch, in jeder Rücksicht, unwiderruflich fest- gestellt“*). Die geschlechtliche Zeugung bedingt eine stete Mannig- faltıgkeit der geistigen Individualitäten: da nach Schopenhauer der Vater den Willen auf die Nachkommen überträgt, die Mutter aber den Intellekt?), so „wird die aus der Notwendigkeit zweier Geschlechter zur Zeugung entspringende Naturanstalt der immer wechselnden Verbindung eines Willens mit einem Intellekt zur Basıs einer Heilsordnung. Denn vermöge derselben kehrt das Dr6xKleps,.!e, pr19: 2) Fr. Schaudinn, Neuere Forschungen über die Befruchtung der Protozoen. Verhandl. der Deutschen Zoolog. Gesellschaft zu Breslau, Leipzig 1905, p. 33, 34. 3) A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. II, 4. Aufl., 1873. Metaphysik der Geschlechtsliebe. p. 613. 4) A. Schopenhauer, l.c., p. 611. 5) A. Schopenhauer, l.c. Erblichkeit der Eigenschaften. p. 592. 778 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. Leben dem Willen (dessen Abbild und Spiegel es ist) unaufhör- lich neue Seiten zu, dreht sich gleichsam ohne Unterlass vor seinem Blicke herum, lässt andere und immer andere Anschauungsweisen sich an ıhm versuchen ...*'). Darum kommen auch Geschwister- ehen nicht vor, es sei denn als naturwidrige Perversität. „Denn aus einer Geschwisterehe könnte nichts anderes hervorgehen, als stets nur derselbe Wille mit demselben Intellekt, wie beide schon vereint in beiden Eltern existieren, also die hoffnungslose Wieder- holung der schon vorhandenen Erscheinung ?).* Bevor ıch weitergehe, mag mir eine Bemerkung erlaubt werden. Im folgenden bin ich genötigt, in bezug auf einige Punkte den Anschauungen Weismann’s entgegenzutreten, und hie und da, um in mancher verwandter Auffassung die Unterschiede deutlicher hervortreten zu lassen, ein Akzent auf dieselben zu legen. Es wird wohl darin niemand etwas anderes als sachliche Divergenz erblicken! Ich hätte das für selbstverständlich gehalten und einer besonderen Erwähnung nicht wert erachtet, wenn nicht unerfreu- liche Beispiele vom Gegenteil in der zoologischen Literatur mir dazu Anlass gegeben hätten. Die gewaltige theoretische Konstruktion Weismann’s, meines hochverehrten früheren Lehrers, wird bleibende Bedeutung auch dann behalten, wenn einzelne seiner Ge- dankenkombinationen in einer abweichenden Richtung, als der von ihm gewählten, ihrer endgültigen Lösung sich nähern sollten. Und diese Genugtuung hat der Freiburger Meister selbst geahnt, als er auf eines seiner Werke schrieb: „... auch der Irrtum, sofern er nur auf richtigen Schlüssen beruht, muss zur Wahrheit führen.“ In der folgenden Darstellung mache ich den Versuch, eine physiologische Erklärung der Amphimixis abzuleiten. Die Ablei- tung muss sich naturgemäß im Rahmen einer Hypothese bewegen und soll hier nur in ihren Grundlinien festgelegt werden. Wenn ich von Keimsubstanzen rede, so stelle ich mir dabei das gleiche vor, was Weismann mit Keimplasma bezeichnet, d. h. materielle Träger von Vererbungspotenzen. Da ich indessen zu der Zusammen- setzung des Keimplasmas aus Determinanten, dieser wiederum aus Biophoren, überhaupt zu der gesamten W eismann’schen Architek- tonık des Keimplasmas vorderhand keine Stellung einnehme — und durch diese Reserve wird die nachfolgende Betrachtung in keiner Weise beeinträchtigt — so wähle ich auch für den im wesentlichen glei- chen Begriff einen anderen Namen. Des weiteren mag vorausgeschickt werden, dass ich mich enthalte, die Keimsubstanzen auf sichtbare Elemente ım Kern zu beziehen, wie ich denn überhaupt die Frage, 1) A. Schopenhauer, |.c., p. 606. 2) Ebenda. - Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 779 ı ob dem Kern allein Erbteile zukommen, unberührt lasse!). Im all- gemeinen nehme ich den Standpunkt ein, welchen Emery in seiner Studie über den Atavismus vertritt?). Emery sagt: „Es mag das Schema Weismann’s von der Gliederung des Keimplasmas in Ide, Determinanten und Biophoren richtig sein oder nicht; das ıst für meine These gleichgültig. Was ich als den Kern einer Vererbungs- theorie betrachte, wenn sie die Erschemungen des Atavismus er- klären soll, ist die Annahme, dass das Keimplasma aus heterogenen Elementen besteht, welche von den einzelnen Vorfahren herkommen und bei der Bestimmung der Eigenschaften des werdenden Orga- niısmus oder besonderer Bestandteile desselben wirksam sind ?).* Solche heterogenen Keimplasmaelemente sind meine Keimsub- stanzen. Die Wirkung der Befruchtung betrachte ich als mit der Kon- stituierung des aus dem befruchteten Eı sich entwickelnden Orga- nismus nicht erschöpft, vielmehr glaube ich — gestützt auf die Erscheinungen des Rückschlags, der diskontinuierlichen Vererbung und der Merkmalspaltung in den Mendel’schen Versuchen —, dass der durch Befruchtung erreichte Zustand bei allen Deszendenten des Eies beim jeweiligen Reifungs- bezw. Befruchtungsakt ungeschwächt nachklingt. Die durch jedesmalige Vereinigung der potentiell unsterb- lichen Keimsubstanzen bewirkte Mischung erhält sich gleichsam ın Form einer kontinuierlichen, sich vielleicht dichotomisch verzweigen- den Kette in allen nachfolgenden Generationen. Darum kann ich mich nicht entschließen, die von Weismann postulierte, im übrigen so plausible Bedeutung der Richtungsteilung anzunehmen !). Somit müssen sich die Wirkungen der Befruchtung, allgemein ge- sagt, beständig summieren, d. h. die Komplikation der Keimzelle an Erbteilen verschiedener Individuen nimmt stetig zu. Auf diese progressive Summierung von Keimsubstanzen und deren unmittel- bare Berührung in der Keimzelle lege ich das Hauptgewicht. ‚Dieses Ergebnis stimmt im wesentlichen, bis auf die Deutung der Reduktionsteilung, mit der Weismann’schen Auffassung überein, wie übrigens auch mit derjenigen von de Vries?®) und wohl noch vielen anderen. Das ist kein Zufall, sondern ist dadurch bedingt, dass alle die Vorstellungen in den Tatsachen wurzeln. Das Be- sondere in meiner Auffassung, namentlich Weismann gegenüber, 1) Vgl. hierzu: W. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, Bd. I, 1897, p. 46 und 48, Bd. II, 1901, p. 236 u. 337. Ferner: O. Bütschli, 1. c., p. 1642, W. Wald- eyer, Befruchtung und Vererbung. |]. c., p. 85, M. Verworn, Allgemeine Phy- siologie. Jena 1895, p. 486—499, u. A. m. 2) C. Emery, Was ist Atavismus? Verhandl. d. V. Internat. Zoologen- . Kongresses zu Berlin 1901. Jena 1902. 3) C. Emery, l.c., p. 303, Fußnote. 4) Vgl. weiter unten. 5) H. de Vries, Die Mutationstheorie. Leipzig 1903, Bd. II, p. 695 u. 493. 780 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. tritt erst in ihrer weiteren Entwickelung auf, und diese gründet sich auf eigenartige Auslegung von Tatsachen. Die allgemeine Verbreitung der Amphimixis im Reich der Lebewesen und die tiefeingreifende Rolle, welche sie ın jedem Einzelleben spielt, führt mich zu der Vorstellung, dass Amphi- mixis mit den elementaren Lebenserscheinungen irgendwie verkettet ist, dass sie eine primäre physiologische Notwendigkeit bildet. Um aber unter diesen Umständen die Bedeutung und Tragweite der zweiseitigen Mischung zu enträtseln, müssen wir eben danach trachten, das Leben in seiner elementaren Form festzuhalten, und alles sekundär entstandene, nicht zum Wesen des Lebens gehörige, auszuschließen. Und sekundär erworben ist, meiner Ansicht nach, die Indi- vidualisation. Dies mag selbstbewusst klingen, ich habe nun aber einmal davon eine tiefe Überzeugung. Freilich, nicht etwa in dem Sinn, dass ich dächte, es wäre heute oder jemals ın der Zukunft möglich, diesen integrierenden Faktor ım Begriff „Organismus“ zu eliminieren, und das Leben ohne Individualisation zu beobachten. Nein! Aber das Leben von heute ist historisch entwickelt und entstanden, es ıst ein überaus zusammengesetztes Produkt, das sich jetzt nun in festgelegten, gewordenen Bahnen bewegt, — einmal waren diese doch ım Werden begriffen. Von diesem Werden des Lebens möchte ich einiges sagen. Ich glaube, dass für die Beurteilung der Amphi- mixis sich wertvolle Gesichtspunkte ergeben werden. Gestützt auf die Kant-Laplace’sche Hypothese, und mit Nägelit), wenn auch aus anderen Gründen, die Helmholtz’- sche Auffassung von der Möglichkeit eines meteorischen Ur- sprungs des Lebens verwerfend, nehme ich an, dass das Leben bei einem bestimmten Grad der Abkühlung unseres Erdballs, innerhalb eines komplizierten Systems von Stoffen der Erd- rınde und der umgebenden Atmosphäre, als Ausdruck von os- cillatorischen Bewegungen zwischen zwei Grenzzuständen, wofür wir heute die nächste Parallele in den Erscheinungen des che- mischen Gleichgewichts finden, seinen Anfang nehmen musste. Diese Bewegungen denke ich mir als Massenprozesse in einem räumlich sehr ausgedehnten, zusammenhängenden stofflichen System im Wasser, im wesentlichen schon aus einer Assimilations- und Dissimilationsumwandlung im Sinne E. Hering’s bestehend. Wie in einer wässerigen Lösung die chemischen Prozesse sich auf das ganze einheitliche energetische System beziehen, und unabhängiges, ich möchte sagen individuelles Nebeneinanderwirken von selb- ständigen Aktionen ausschließen, so ungefähr, wenn auch nicht in 1) ©. v. Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre. 1854, p. 83 u. 84. Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 781 vollkommener Analogie, denke ich mir die Einheit der ersten Lebenspulse, an keine Individualität gebunden, in sehr ausgedehnten Systemen. Auf diesem Stadium existiert noch keine Differenzierung zwischen „Nahrung“ und der „zu ernährenden“ lebendigen Sub- stanz. Doch musste diese letztere früher oder später, ebenfalls im Wasser, zur Sonderung gelangen, und zwar in Form von auf weite Strecken zusammenhängenden, in dünner Schicht verteilten etwa plasmodienartigen Massen. Auf diese räumliche Kontinuität des Urplasmas, die eine unmittelbare Folge der Kontinuität inner- halb eines stofflichen Systems ist, möchte ich einen besonderen Nachdruck legen. Den Zusammenhang denke ich mir nicht alleın als Ausdruck von der Wirkung gleicher äußerer Bedingungen in allen Punkten; wenn auch diese Wirkung wohl eine notwendige Voraussetzung des Zusammenhanges ist. Vielmehr sind es, außer der Kohäsion, spezifische, im Lebensprozess selbst begründete Affini- täten, welche alle Teile, auch die entferntesten, in fortwährender Spannung und inniger Fühlung erhalten. Eine wie große absolute Ausdehnung ein zusammenhängendes Urplasma erreichen konnte, vermag ich zunächst nicht anzudeuten. Ich möchte aber mit allem Nachdruck auf den Gegensatz hinweisen, der zwischen meinem hypo- thetischen Urplasma und etwa einem Moner besteht, das doch ein Individuum ist, wie wır sie heute sehen. In diesem Sinne finde ich nichts im Wege, warum ein Urplasma in zusammenhängender Form sıch nicht über Quadratmeilen und mehr erstrecken sollte, und ein solches kontinuierliches Plasma bezeichne ich als ein Ur- plasmasystem. Dieser hat es naturgemäß sehr viele gegeben. Ich glaube bestimmt, dass ein wahrer Kern in den obigen Deduktionen steckt. Denn die Funktion des Lebens auf unserer Erde, man mag sie deuten, wie man will, diese Funktion besteht in einer Massenwirkung alles Lebendigen insgesamt, und zwar heute so gut, wie zu allen Zeiten, wo es Leben gegeben hat. Nur dass die heutige organische Welt aus einer wunderbar entwickelten Mannigfaltigkeit sich aufbaut und erst durch harmonisches In- einandergreifen vieler Faktoren die Gesamtwirkung auf Umwegen erreicht wird. So fällt den Nitrit- und Nitratbakterien nur eine Teilrolle in dem großen Massenumsatz zu, sie haben die ammoniak- artigen Zersetzungsprodukte des tierischen und pflanzlichen Lebens durch ihre anspruchslose Lebenstätigkeit wieder für den Stoff. wechsel der grünen Pflanze zugänglich zu machen. Und aus ähn- lichen Teilfunktionen summiert sich erst das heutige Leben. Aber das bunte Bild, das wir heute vor Augen haben, ist langsam ent- standen; nicht nur Gestalten haben sich im Lauf der Zeiten Schritt für Schritt entwickelt und kompliziert, sondern auch Funktionen. Und so habe ich die feste Überzeugung, dass die einfachste Lebens- funktion an ein in weiten Grenzen zusammenhängendes Urplasma 182 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. gebunden war. Denn, ein Masseneffekt kann nur dann, oder wenigstens dann am leichtesten, ın allen Teilen harmonisch aus- fallen, wenn die Teile unmittelbar miteinander zusammenhängen. Dass distinkte Teile, wie prästabiliert, gleichsinnig auf die Dauer zu einem einheitlichen Effekt arbeiten, darin liegt etwas Sekundäres, etwas, was erst in der Folge entstehen kann. — Überdies glaube ich, dass der postulierte Zusammenhang durch das Bild, aber auch nur Bild, der Vorgänge in einer wässerigen Lösung, wie die physikalische Chemie sie lehrt, in genügendem Grade wahr- scheinlich gemacht worden ist. — Dass ich unter diesen Um- ständen die Haeckel’sche ‘Analogie zwischen Entstehung eines Kristalls aus der Mutterlauge und Auftreten des ersten Moners!) nicht teilen kann, bedarf keiner weiteren Erwähnung, und dies auch ganz abgesehen davon, dass bei der Bildung des Kristalls die Teilchen den Zustand statischen Gleichgewichts erreichen, der, bei gleichbleibenden Bedingungen, auch nicht verlassen wird, während die Teilchen der lebendigen Substanz gerade unter gleichbleibenden Bedingungen sich im dynamischen Gleichgewicht befinden. Um so mehr befriedigt es mich, den meinigen ver- wandte Gedanken beı Nägeli zu finden. Die durch Urzeugung entstandenen „primordialen Plasmamassen erlangen eine beträcht- liche, aber ganz unbestimmte Größe“, so lese ich bei Nägeli, wenn auch freilich das Zusammenhalten der Massen lediglich auf Kohäsion bezogen wird?). Und weiter heisst es von den primordialen Plasmamassen: „Ihre Abkömmlinge werden mit der beginnenden und zunehmenden Organisation, weıl dieselbe immer mehr die Tei- lung zu beherrschen und dıe Kohäsion zu überwinden vermag, nach und nach kleiner bis zu einem Minimum. Von hier an nımmt die Größe der Individuen wieder stetig zu etc... °).* Es ist mir hohe (Genugtuung, zu wissen, dass ein Physiologe vom Range Nägelr’'s die Möglichkeit, ja Notwendigkeit einer früheren Existenz des leben- digen Protoplasmas unabhängig von der uns gewohnten Individuali- sierung angenommen hat. Nach dem Vorausgegangenen glaube ich somit, dass dauernde Kontinuität der Teile des lebendigen Plasmas innerhalb sehr weiter Grenzen eine primäre und notwendige Eigenschaft des Urplasmas war. Nur auf diese Weise ist eine einheitliche Funktion des Ganzen denkbar, und namentlich auch eine harmonische Änderung des 1) E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. Bd. I, 1866, p. 150—182. — Einen Fortschritt Haeckel gegenüber bedeutet die Auffassung von W. Roux betreffs sukzessiver Züchtung der Grundfunktionen des Lebens. Vgl. W. Roux, Gesammelte Abhandlungen zur Entwicklungsmechanik der Organismen, Leipzig 1895, Bd. I, 409—416. 2) C. v. Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie, p. 92. 3) C. v. Nägeli, ebenda. Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 183 Plasmas ım Lauf der Zeit, oder die Anpassung. Denn gewiss steht die Entwickelung und Weiterdifferenzierung des Urplasmas ın keinem Zeitabschnitt still. In einem räumlich sehr ausgedehnten Bezirk mögen zu jener Zeit die wesentlichen äußeren Bedingungen überall gleich gewesen sein; trotzdem wird es lokale, temporäre Unregel- mäßigkeiten gegeben haben und diese sınd nicht ohne Einfluss auf unser hypothetisches Urplasma. Eine lokale, sagen wir zufällig auftretende Änderung in den äußeren Bedingungen beginnt zunächst auf den betreffenden Teil des Urplasmas umgestaltend zu wirken. Da derselbe aber ın beständiger Fühlung mit anderen Teilen steht, die normalen, durchschnittlichen Bedingungen ausgesetzt sind, so ver- mag der fremde Reiz nicht lokal eine „exzessive Variante“ zu er- zeugen, er wird gleichsam von dem einen Teil des Plasmas als vorübergehend oder zufällig „erkannt“. Dieses „Erkennen“ nun, wenn ich mich so ausdrücken darf, ıst eben nur und ausschließlich durch die Kontinuität des Ganzen bedingt. Auf diese Weise, so denke ich mir, wird es erreicht, dass kein Hin- und Herflackern von Variationen stattfindet, die ja Erzeugnisse des Augenblicks wären, sondern dass die langsamen Veränderungen oder Anpassungen des Urplasmas ım breiten Strom einheitlich und ın strengster Ab- hängigkeit von dem wesentlichen Zustand der äußeren Be- dingungen, gleichsam die Zukunft vorahnend, sich abspielen. Indem so alle Teile ın einem dureh irgend welche äußere Schranken abgesteckten Urplasmasystem untereinander im ständigen innigsten Kontakt verbleiben und gleichsam sich miteinander all- seitig mischen können, will ich den geschilderten hypothetischen Zustand als denjenigen der Panmixis bezeichnen !). Wenn ich nun aber die dauernde Kontinuität der Urplasma- teile als eine elementare Eigenschaft des Lebendigen anspreche, wie kommt es dann, dass, soweit Beobachtung lehrt, heute die lebendige Substanz immer und immer in selbständigen, voneinander unabhängigen Individuen, den Organismen auftritt? Wo bleibt da der postulierte notwendige Zusammenhang? Darauf gebe ich folgende Antwort. Der Zustand der Panmixis konnte ım Laufe der Ent- wickelung nicht beibehalten werden. Im Dienste einer gesteigerten vegetativen Tätigkeit musste das einheitliche Urplasma in Indi- viduen zerfallen — in erster Linie kam es wohl auf eine Änderung des Verhältnisses zwischen Masse und Fläche des lebendigen Plasmas 1) Leider ist dieser Name, dessen geeignete Wahl aus der weiteren Darstellung erhellt, mit einer unbedeutenden Änderung schon vor Jahren von Weismann für einen ganz anderen Begriff vergeben worden, nämlich — als Panmixie — für das Nachlassen der Selektionswirkung bei Organen, deren bessere oder schlechtere Entwickelung für den Kampf ums Dasein gleichgültig wird, und dieses Prinzip war lange Zeit hindurch die einzige Erklärung Weismann’s für Verkümmerung nicht gebrauchter Teile. Da nun die beiden Namen in formaler Hinsicht doch nicht identisch sind, so glaube ich mit der obigen Wahl nicht unrecht zu handeln. 7184 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. an (H. Spencer, Rud. Leuckart) —, die dauernde und allseitige Kontinuität der Plasmateile wurde aufgegeben, — als notwendiger Ersatz für dieselbe trat aber gleichzeitig mit der Individualisation eine periodische und zweiseitige Kontinuitätsherstellung auf, und dies ıst die Amphimixis. Tatsächlich! Denken wır uns einen Schwarm von etwa cıliaten Infusorien, alle angenommen zu einer Art gehörig, und beurteilen, was eigentlich durch den periodischen Konjugationsprozess für jedes einzelne Individuum erreicht wird. Wenn das Infusorium A mit B kopuliert, so enthalten alle von diesem Pärchen durch spätere Tei- lung erzeugten Nachkommen sämtlich die Keimsubstanzen A und B als ererbtes Gut beieinander. Dies gründet sich auf die am Anfang meiner Betrachtungen gemachte Annahme. Da nun jedes von diesen Nachkommen die Gelegenheit hat, ja physiologischerweise muss, mit einem Infusorium C, oder D, oder E u. s. w. zu kon- jugieren, und unter den so entstandenen späteren Generationen. immer weitere, noch nicht ausgenützte Kombinationen gegeben sind, so ist es klar, dass mit der Zeit in einem jeden der Nach- kommen die Komplikation der Keimsubstanz ins Ungetieure wachsen muss, und zwar besteht diese letztere aus den summierten Keim- substanzen A, B,C, D...u. s. w. bis ins Unabsehbare, aus Keim- substanzen, die alle im innigsten ‘Kontakt nebeneinander aufge- speichert werden. — Auf diese Weise wird der materielle Kontakt aller individuellen Keimsubstanzen angestrebt und erreicht. Denn, wenn wir zunächst von der Zeit abstrahieren wollten und, inner- halb ausgedehnter räumlichen Grenzen, alle Konjugationen (die Ausnützung sämtlicher möglichen Paarungskombinationen voraus- gesetzt), die sonst in bunter Mamnigfaltigkeit die eine jetzt hier, die andere dann dort etc. sukzessive ablaufen, auf eimmal und zugleich, im Nune stans sich vergegenwärtigen könnten, so würden wir nicht entfernt daran zweifeln, dass die Summe unserer infu- sorienartigen Tierchen in dem gegebenen Zeitdifferential eine ein- heitliche zusammenhängende plasmatische Masse bildet. Da nun aber die Keimsubstanzen unsterblich sind und in der Zeit unver- ändert!) verharren, so wird im wirklichen zeitlichen Geschehen — ich gehe hier vom empirischen Standpunkt aus — ungeachtet dessen, dass in keinem Augenblick alle Individuen miteinander zusammen- hängen, dennoch allmählich in jedem einzelnen von ihnen der ma- terielle Zusammenhang sämtlicher Keimsubstanzen in periodischen Schritten aufgebaut. Was bedeutet das aber? Der allgemeine Zustand der Panmixis musste zugunsten eines 1) Unveränderlich sind hier die Keimsubstanzen nur in sehr weiten Grenzen gedacht; über ihre Veränderlichkeit vergleiche weiter unten. Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 185 intensiveren vegetativen Lebens — dies ist der treibende Faktor aller Entwickelung — aufgegeben werden, mit der Individualısation wurde eine höhere Organisationsstufe und was sonst noch erreicht. Aber mit dem Aufhören der Panmixis ist der einheitliche lebendige Makrokosmos, wenn ich so sagen darf, nicht in eine Masse unab- hängiger Bruchstücke zerfallen, die dann auf immer voneinander isoliert, auf immer nur Teile des Ganzen, in geradliniger, sich nur dichotomisch verzweigenden Deszendenz ihre eigenen Bahnen in der Welt des Lebens einzuschlagen hätten, — nein, durch Amphimixis wird periodisch aber unaufhörlich in einem jeden Teil das Bild des Makrokosmos als ein Mikrokosmos aufge- baut, der Makrokosmos löst sich ın tausend Mikrokosmen auf! Es ist, als hätte die Natur durch die Einführung der Amphi- mixis einen Kompromiss geschlossen zwischen Individualisierung und dem hypothetischen Zustand der Panmixis. Die Individuen sollen möglichst selbständig sein, sie sollen sich frei und un- abhängig voneinander bewegen können etc.; aber andererseits sollen sie untereinander eine materielle Kontinuität bilden, sie sollen, gleichsam wie die Pflänzchen der Erdbeere durch Aus- läufer verbunden, ım beständigen Zusammenhang bleiben. Ein Ausweg bietet sich nur in der periodischen Mischung von Keim- substanzen, wodurch die geforderte materielle Kontinuität in jedes einzelne Individuum hineinverlegt wird — so paradox das auch zunächst klingen mag -—-, die Kontinuität ist dann zwar nur in einem Miniaturbild vorhanden, aber sie ist da. Ein jedes Indivi- duum entwickelt sich gleichsam auf einem unsichtbaren System von Rhizomen, welche die Keimsubstanzen von unzähligen Indi- vidualitäten miteinander vereinigen. Das bedeutet Verneinung der zu vegetativen. Zwecken unentbehrlichen Individualisation, und wenn wir ein Paramaecium unter dem Mikroskop betrachten, würden wir auf den ersten Blick gar nicht ahnen, wie in diesem einen Teilstück des lebendigen Plasmas eine unendlich kom- plizierte Vielheit, ein Ganzes steckt, das durch unsichtbare Fäden mit der Summe von Individuen, welche die Art ausmachen, und welche unter verschiedensten Bedingungen verstreut leben oder gelebt haben, auf das innigste verkettet ist. Die vorstehenden Betrachtungen erscheinen, auf die Proto- zoen angewandt, ganz besonders durchsichtig und klar. Kompli- zierter, wenn auch nicht im Prinzip, sondern durch Nebensäch- liches verschleiert, gestalten sich die Verhältnisse bei den Metazoen. Ich sehe mich darum veranlasst, einige an das Hauptthema sich anschließenden Fragen zu berühren. Die Notwendigkeit des natürlichen Todes bei Vielzelligen denke ich mir m folgender, mit Weismann’s Auslegung verwandter, XXVI. 50 786 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. aber nicht identischer Weise. Wie für einen jeden Organısmus, so besteht auch für die Metazoen die physiologische Notwendigkeit der Amphimixis, um den von mir postulierten materiellen Zu- sammenhang der Artvertreter ım Miniaturbild in einem jeden Indi- viduum aufzubauen, und zwar durch Summierung von Keimsubstanzen möglichst verschiedener Individuen. Zwei Lebewesen können sich aber nur ım Zustand der Zelle miteinander mischen, sonst nicht, und auf diese Tatsache hat, ım folgenden Zusammenhang, zuerst Weismannt), später Boveri u. a. hingewiesen. Damit ist die Trennung zwischen Soma und Keimzellen, ein periodisches Zurück- gehen des Organismus auf den Zustand der Zelle, damit ist die Notwendigkeit der Ontogenese gegeben (Weismann). Wenn nun aber Weismann sagt, „dass für das Soma, nachdem es seine Keimzellen entlassen und damit seine Pflicht gegen die Art erfüllt hat, sein unbegrenztes Weiterleben überflüssig wurde und deshalb in Wegfall kam“, und weiter, dass „falls das Weiterleben, die Un- sterblichkeit des Soma notwendig für die Erhaltung der Arten ge- wesen wäre, sie durch Naturzüchtung auch erhalten worden wäre“ ?), so kann ich dem nicht beistimmen. Für mich hegt ın der dauern- den Unmöglichkeit einer Amphimixis zwischen den Somata ver- schiedener Individuen der zwingende physiologische Grund für den Tod des Somas. Es ıst eine wunderbare Erscheinung in der orga- nischen Natur, entwickelt auf Grund des Prinzips der Arbeits- teilung, wonach die Gestalt des Individuums zum Zweck eines intensiveren und vielseitigen Stoffwechsels sich zu einem Metazoon aufschwingt, mit dieser Komplikation, durch den Ausschluss der Amphimixis, notwendig den Keim des Todes erwirbt und so zur Fortpflanzung mittelst Keimzellen, welche eben die Möglichkeit einer Mischung gewähren, als Folge führt. Ein unsterbliches Soma wäre für die Art nicht nur „gleichgültig* und würde nicht nur „einen ganz unzweckmäßigen Luxus“?) bedeuten, sondern, ein ersprießliches Gedeihen des Ganzen auf die Dauer als Bedingung vorausgesetzt, wäre es physiologisch unmöglich. — Bei dieser Ge- legenheit bemerke ich anhangsweise, dass Cholodkowsky, meiner Ansicht nach, ganz richtig die Ursache des Todes der Metazoen in ihrer Vielzelligkeit allein gesucht hat; allerdings, die speziellere Deutung dieses Autors, es handle sich dabei um Zerstörung des Or- ganismus im Kampf der Teile, ist sicher ırrig®). Wenn ich das Vorhandensein eines natürlichen Todes bei Viel- zelligen besonders zu begründen suchte, so setzte ich damit still- 1) Weismann, Aufsätze über Vererbung. Aufsatz III, p. 181, 182, 2) Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie. Bd. I, p. 286. 3) Weismann, Aufsätze ete. Aufsatz I, p. 29, 34. 4) N. Cholodkowsky, Tod und Unsterblichkeit in der Tierwelt. Zoolog. Anzeiger, 1882, p. 265. Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 187 schweigend die Unsterblichkeit der Einzelligen voraus. In der Tat schließe ich mich der Weismann’schen Lehre von der poten- ziellen Unsterblichkeit der Monoplastiden an, allerdings mit einer Einschränkung, die aus dem folgenden ersichtlich ist. Ich glaube, dass der W eismann'’sche Satz nur für allereinfachste einzellige Lebe- wesen gilt, die sich ausschließlich durch Zweiteilung fortpflanzen, ohne Bildung eines Restkörpers. Dies mag für viele Amöben und wohl auch Infusorien gelten. Indes schon bei den Bakterien lässt sich vom Erscheinen des natürlichen Todes des Individuums reden, und dies bei der Sporenbildung. So charakterisiert sich ein besonders fort- geschrittener Typus der Sporenbildung, der übrigens nicht ohne Vorläufer ıst, nach A. Fischer dadurch, „dass nur eın Teil des Inhaltes zum Sporenkörper sich zusammenzieht. Es bleibt ein äußerst zarter, durch Plasmolyse nachweisbarer Wandbelag übrig, auf dessen Gegenwart wohl die Fortdauer der Schwimmbewegung während der Sporenbildung zurückzuführen ist. Die Geißeln werden nicht eingezogen und schwingen noch eine Zeitlang munter weiter, bis auch hier die reifen Sporen ganz aus den absterbenden Stäh- chen befreit werden“ !). Das gilt z. B. für Clostridium butyricum (Prazm.). Die neugebildete Spore setzt als Keim das Leben fort; der plasmatische Wandbelag mit Geißeln und Zellmembran bleibt als sterbliche Hülle des Individuums zurück. Hier bietet sich auf die Frage Weismann’s: „Wo ist denn die Leiche? was stirbt denn ab?“ von selbst eine Antwort dar?). Und ähnlich ıst es beı vielen Gregarinen, z. B. nach den Untersuchungen Schaudinn’s bei Coceidium schubergi, während der Bildung von Mikrogameten ım Antheridium. Es wird nicht die ganze Plasmamasse des Antheridiums für die Bildung der Gameten verbraucht; diese schwärmen aus, um die Kontinuität des Lebens fortzusetzen, hingegen bleibt die Hauptmasse des Plasmaleibes des Antheridiums als großer, kugeliger Restkörper zurück und geht mitsamt den eingeschlossenen Resten des Karyosoma zugrunde°). Solcher Vorgänge ließen sich noch mehrere nennen. Ich glaube, in den herangezogenen Beispielen liegt lediglich ein gradueller Unterschied gegenüber dem. natür- lichen Tod der Vielzelligen: bei diesen ist die Leiche ım Ver- hältnis zu den Keimprodukten groß, aus komplizierten Organen zu- sammengesetzt und darum ohne weiteres in die Augen fallend; bei jenen reduzieren sich die absterbenden Teile auf größere oder geringere Plasmamassen. Unsterblich sind nur die allereinfachsten Lebewesen und die Keimzellen. Sobald innerhalb der Einzelligen 1) A. Fischer, Vorlesungen über Bakterien. Jena 1903, p. 35 und 39, wg. 22,c,d. 2) A. Weismann, Aufsätze ete. Aufsatz I, p. 30. 3) Ich entnehme diese Darstellung A. Lang, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Wirbellosen. Jena 1901, p. 220 und 223, Fig. 220. 50* 788 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. eine Differenzierung von besonderen Keimprodukten, sei es Sporen, sei es Gameten u. s. w. anfängt, da setzt auch, zunächst unmerklich, der natürliche Tod des Individuums ein, um allmählich, in auf- steigender Reihe, die für uns so grausam unverkennbare Gestalt anzunehmen. So gilt, denke ich, der Weismann’sche Satz in weniger schroffer Fassung, und auch hier würde der alte Spruch: „natura non facit saltus* seine Bestätigung finden können. Und wie ich mir die hervorgehobene Unsterblichkeit des näheren vor- stelle, mag ın Anlehnung an W. Pfeffer klargelegt werden: „Mit Wachsen und Neubilden wird aber dauernd innerhalb des lebendigen Gefüges tote Nahrungsmasse in die Struktur der lebendigen Sub- stanz übergeführt. Nur die Struktur und Konstellation erhält sich in ewigem Wechsel und so kann es kommen, dass ein Nachkomme kein einziges derselben Atome aufzuweisen hat, die dereinst am Aufbau eines Ahnen beteiligt waren!).“ 1) W. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, Bd. I, 1897, p. 30. — Der Weis- mann’schen Unsterblichkeitslehre schließt sich Th. Boveri an (vgl. Th. Boveri, Die Organismen als historische Wesen. Festrede. Würzburg 1906, p. 13). — Dass es in der berührten Frage auf quantitatives Verhältnis zwischen überlebender und sterbender Substanz ankommt, hatte vor mehreren Jahren schon Verworn gezeigt, indem er sich auf Resorption der Kerne resp. Kernteile während der Ken- jugation der Infusorien, und, was mehr besagt, auf das Absterben des extrakapsulären Protoplasmakörpers während der Sporenbildung bei Thalassicolla bezog. Vel. M. Verworn, Allgemeine Physiologie, Jena 1895, p. 342, 343. Wenn indessen Verworn so weit geht, dass er sogar im Fall eines Protisten, der sich nur durch Wachstum und einfache Teilung erhalten würde, die Unsterblichkeit im Weis- mann’schen Sinne leugnet, so kann ich ihm darin nicht beistimmen. Verworn argumentiert: es ist ja charakteristische Eigentümlichkeit der lebenden Substanz, dass sie fortwährend zerfällt, d. h. sich in tote Substanz verwandelt; nur Leben als Bewegungskomplex stirbt nicht aus, unsterbliche Wesen im Sinne Weismann’s kann es hingegen nicht geben (Verworn, 1. c., p. 343, 344). Nun hat aber Weis- mann selbst im Jahre 1890 in einer nachträglichen Besprechung seiner Lehre darauf hingewiesen — Verworn ist dies offenbar entgangen —, dass der Körper der Ein- zelligen, wie alle lebende Substanz, dem steten Wechsel der Materie unterworfen bleibt (Weismann, Aufsätze ete. Aufsatz XI, p. 643). Und er sagt weiter: „Was ist also hier unsterblich? Offenbar nicht eine Substanz, sondern nur eine gewisse Form der Bewegung“ (l.e., p. 643). „Eine unveränderte, unsterbliche Lebens- substanz gibt es hier nicht, es gibt nur unsterbliche Bewegungsform organischer Materie“ (l. e.p. 647). Damit wird aber der von Weismann erkannte Unterschied zwischen Einzelligen und Vielzelligen, für meine Auffassung in der oben ent- wickelten Form, nicht aus der Welt geschafft, wie das Verworn meint. Sollte auch ein Greis durch stetigen Stoffumsatz kein einziges der Atome beherbergen, die einst den Körper des Jünglings aufgebaut ‚hatten, so ist doch darum der Greis während seines Lebens gewiss niemals „gestorben“! Und in diesem Sinne können und müssen einfache Protisten, die sich nur durch Teilung, etwa mit primitiven Kopu- lationsakt, vermehren, als unsterblich bezeichnet werden. — Über Auffassungen des Metazoentodes, die von der im Text vertretenen Ansicht abweichen, vgl. auch: A. Goette, Über den Ursprung des Todes. Hamburg und Leipzig 1883 (die Fortpflanzung ist der ausschließliche und letzte Grund des Todes), und E. Schultz, Über Verjüngung. Biol. Centralbl. Bd. XXV, 1905. — Nachträglich erst bin ich Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 7s9 Doch zurück zur Amphimixis! Wie bei Einzelligen so ist auch bei den Vielzelligen periodisch auftretende Amphimixis physio- logische Notwendigkeit. In beiden Fällen wird durch dieselbe für jedes Individiuum ein immer sich erneuernder materieller Zusammen- hang mit der Summe des Lebens, welche die Art ausmacht, be- werkstelligt. In diesem innigen Zusammenhang mit dem Ganzen verändert sich periodisch dem Lauf der Zeit entsprechend die einfachste Monoplastide, ohne jemals, trotz vielfacher Teilung, den natürlichen Tod und damit vollständige Neubildung, außer Wachstum, zu erleiden; der Körper wird nur, wie bei einer plastı- schen Substanz, umgestaltet. In dem gleichen Zusammenhang mit dem Ganzen, gleichsam in einem kondensierten Urplasma, wurzelt das Leben der Polyplastiden. Die Kontinuität des Lebens wird aber durch die Keimsubstanzen allein gesichert. Die Somata er- scheinen als eine Reihe diskontinuierlicher Kurven, die nach- einander aus einer kontinuierlichen Kurve, derjenigen der sich summierenden Keimsubstanzen entspringen. Die Körper haben ihre Plastizität verloren und werden nach jedesmaliger Amphimixis in der Ontogenese neugestaltet. Die Welt der Keimsubstanzen innerhalb einer Art ist das physiologische Korrelat des metaphysischen Begriffs der platonischen Idee. Hatte nicht Schopenhauer einen dem oben entwickelten im wesentlichen gleichen Gedankengang verfolgt, als er schrieb: auf die Schrift M. Hartmann’s, Tod und Fortpflanzung, München 1906, auf- merksam geworden. Hartmann bekämpft die Unsterblichkeitslehre Weismann’s, ohne sie indes zu widerlegen. Gezeigt hat Hartmann in seinen an sich inter- essanten Ausführungen nur so viel, dass, wenn man einen anderen Ausgangs- punkt in der Beweisführung einnimmt, als den Weismann’schen, man auch zu einem vom Weismann’schen abweichenden Schlussresultat gelangt. Dass aber zwingende Gründe vorliegen würden, den Ausgangspunkt Hartmann’s einzunehmen (der Tod ist Stillstand der individuellen Entwickelung), das nachzuweisen hatte der Verf. nicht vermocht. Im übrigen ergibt es sich aus meiner Darstellung im Text, worin ich mit Hartmann übereinstimme; so die Deutung des während der Zerfall- teilung bei vielen Protozoen auftretenden Restkörpers als Leiche, und diese Über- einstimmung habe ich mit Genugtuung begrüßt. — Vgl. auch Boveri’s Äußerung über Hartmann’s Standpunkt (Festrede 1906, p. 53, Anm. 6). Bei diesem Anlass möchte ich nicht unterlassen zu betonen, dass die Ein- schränkung, welche Weismann’s Lehre durch neuere Befunde auf dem Gebiet der Protozoenfortpflanzung erfährt — und auf welche im genannten Zusammenhang Verworn, Hartmann und ich hingewiesen haben — keineswegs den logischen Inhalt des Weismann’schen Postulats, sondern lediglich den Umfang dieses letzteren berührt. Der Weismann’sche Satz ist logisch unanfechtbar — man wollte denn die Häutung einer Schlange als natürlichen Tod derselben auslegen! „Es ist kaum glaublich“, schließt Weismann seine letzte Darstellung des Problems, „dass eine so einfache und klare Wahrheit so lange verborgen bleiben musste, aber noch un- glaublicher, dass, seitdem sie ausgesprochen wurde, sie als falsch, als Afterweisheit, als wertlos bis in die neueste Zeit hinein verhöhnt wurde“ (Weismann, Vor- träge etc. Bd. I, p. 285). 790 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. „Wie die zerstäubenden Tropfen des tobenden Wasserfalls mit Blitzesschnelle wechseln, während der Regenbogen, dessen Träger sie sind, in unbeweglicher Ruhe feststeht, ganz unberührt von jenem rastlosen Wechsel; so bleibt jede Idee, d. ı. jede Gattung lebender Wesen, ganz unberührt vom fortwährenden Wechsel ihrer Individuen. Die Idee aber, oder die Gattung, ist es, darin der Wille zum Leben eigentlich wurzelt und sich manifestiert: daher auch ist an ihrem Bestand allein ıhm wahrhaft gelegen!“). Nur dass das in allem Wechsel Bestehende erst durch periodische Amphimixis zu dem wird, was wir an ihm bewundern, nur durch Amphimixis wird es möglich, dass ım Einzelnen das Allgemeine und Vielfältige, unsichtbar und doch herrschend, zur Betätigung gelangt. Betreffend die Summierung von Keimsubstanzen möchte ich noch wenige Worte nachtragen. Die Amphimixis erstrebt ma- terielle Kontinuität zwischen Keimsubstanzen der Art, entsprechend dem dauernden Zusammenhang der einzelnen, auch noch so ent- legenen Teile im ausgedehnten hypothetischen Urplasma. Diese Kontinuität, die in ein jedes Individuum gleichsam hineingelegt wird, kann nur dadurch zustande kommen, dass die durch perio- dische Amphimixis zusammenkommenden Keimsubstanzen, sie sind ja unsterblich, immer und immer wieder nebeneinander aufge- speichert werden, bis zu einer für uns unübersehbaren Komplı- kation. Das muss so sein, und wird, außer durch theoretische Forderungen, durch die mannigfaltigen Erscheinungen des Rück- schlags — ich erinnere nur an das dreizehige Pferd Julius Cäsars — erhärtet. Wie aus dem Ausdruck „Kontinuität“ folgt und wie ich das schon im Lauf der Darstellung angedeutet hatte, liegen die zahllosen Keimsubstanzen nicht etwa passiv, voneinander unab- hängig, beisammen. Nein! Sie bilden eine Einheit, deren Teile in innigster Fühlung miteinander stehen, und die nach jedesmaliger Befruchtung neu konstituiert wird. In diesem Mikrokosmos schlagen fortwährend Lebenspulse von einer Feinheit, von der wir uns keine Vorstellung machen können, denn unsere Sinnesorgane sind einmal qualitativ auf die groben Vorgänge des vegetativen Lebens einge- richtet, und sie bleiben es auf immer, möge das Auge, mit dem Mikroskop bewaffnet, auch noch so gut der Quantität trotzen. — Aber die sich summierenden Keimsubstanzen denke ich mir nicht starr und unveränderlich. Ich glaube, dass hier zum mindesten zwei Faktoren zu berücksichtigen sind. Erstens hat ja jeder Kom- plex von Keimsubstanzen seinen vegetativen Träger, und dieser, resp. seine Deszendenten, leben naturgemäß unter etwas anderen I) A. Schopenhauer, |. c., Bd. II, Uber den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich. p. 552. Lloyd, The Desert Botan. Laboratory of the Carnegie Instit. of Washington. 791 äußeren Bedingungen als die übrigen Vertreter der Art. Dieses individuelle Leben ist es nun, welches dem Keimkomplex — von Befruchtung zu Befruchtung — eine besondere Färbung aufdrückt, und, ich möchte so sagen, den Ausgangspunkt der Kombinationen immer wieder von neuem verändert und verschiebt, so dass der noch nicht ausgenutzten Kombinationen kein Ende ist. In der wechselnden Stärke dieser individuellen Färbung sehe ich übrigens die Möglichkeit der Erklärung, warum ein Individuum, trotzdem es einer Vielheit entstammt, doch überwiegend die Züge eines der Ahnen tragen kann. In zweiter Linie denke ich mir, dass ım Lauf der großen Zeiträume die ältesten Keimsubstanzen teils elimi- niert werden, teils, wenn sie einen gesicherten Bestand für die eingeschlagene Entwickelungsrichtung bilden, Viele zu Einer, viel- leicht vom höheren Rang, kondensiert werden. Im einzelnen kann ich das Gesagte nicht ausmalen und konsequent durchführen, ich wollte nur einigen Missverständnissen vorbeugen und ich glaube, dass folgender Ausspruch von Weismann den allgemeinen Sinn dessen, was ich im Auge habe, illustriert: „Die Ide eines Wurmes der Vorwelt können nicht unverändert heute das Keimplasma eines Elephanten zusammensetzen, auch wenn es ganz richtig ist, dass die Säugetiere von Würmern abstammen. Die Ide müssen sich seither unzählige Male umgestaltet haben durch Umbildung, Ver- kümmerung und Neubildung von Determinanten!).“ — Außer den genannten, relativ geringfügigen Änderungen im Keimbestand muss es notwendig langsam, aber andauernd wirkende, aus inneren, gleichsam zielbewussten Entwickelungsrichtungen entspringende Änderungen geben, und auf diese letzteren gründet sich die mannig- faltige Gestaltung der Lebewelt; Selektion legt, meiner Ansicht nach, nur die letzte ausgleichende und regulierende Hand. —. Doch diese schwierigen Fragen würden mich zu weit vom Thema ableiten. (Schluss folgt.) The Desert Botanical Laboratory of the Carnegie Institution of Washington. By F. E. Llöyd, Member of the Staff. The foundation of the Carnegie Institution of Washington by the generous endowment of Mr. Andrew Carnegie marked the beginning of the new era of scientific research in America. This was of course foreshadowed by the terms of the gift to science, and the results which have been attaıned ın all fields of scientific activity since the latter part of 1902 have given grounds for the belief that, marked as the reward to knowledge has been, the 1) A. Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie. Bd. II, p. 219. 792 Lloyd, The Desert Botan. Laboratory of the Carnegie Instit. of Washington. future will see a normal but yet more rapid development of the Institution. This ıs assured by the appointment of Professor R. S. Woodward, formerly of Columbia University, a man of high scientific attaınments and a keen appreciation of the function of science added to a remarkable gift of executive ability, as Presi- dent, in the early part of 1905. It is the purpose of this sketch to give an account of the work of the Carnegie Institution in the field of botany, aside, however, from that of the special Grantees, whose individual work, which has become known to botanists through the pages of the botanical magazınes, has been carried on independently. I refer, in parti- cular, to the Desert Botanical Laboratory. It will be of interest to trace briefly the historical development of the idea which culmi- nated in the foundation and equipment of this particular branch of the Institution. Among other advisory committees appointed during the first year of the existence of the Carnegie Institution, was one, naturally, on Botany. This Committee, consisting of Professor N. L. Britton, Professor John M. Macfarlane and Mr. Gifford Pinchot, with Mr. Frederick V. Coville as Chairman, presented a report em- bodying an extensive plan for the development of botanical research and containing a number of propositions of which one, which here interests us, was the following. “There should be established at some point ın the desert region of the Southwestern United States a laboratory for the study of the life history of plants under desert conditions, with especial reference to the absorption, storage and transpiration of water.” The report went on to poimt out that there existed up to that time nowhere in the world such a labora- tory, although, as is well known, there were many laboratories ın the humid regions of the earth. The economie importance ın the long run, of such work, carried on under the freedom of the me- thods of pure science, were also pointed out!). This idea immediately bore fruit in the appointment ofa second committee which was requested *to go to the arıd lands of the west and make such further recommendations as might seem to them best” The gentlemen thus appointed were Mr. Frederick V. Co- ville and Dr. D. T. MacDougal, two persons eminently fitted to undertake the task assigned to them. Mr. Coville had, in 1891, been a member of the now famous Death Valley Expedition, and this, together with his other desert experience, gave him the basıs for a ripe judgement. Dr. MacDougal was also in the position of an expert, having carried out a number of extensive excursions into the markedly desert regions of the Southwest United States. 1) Car. Inst. Wash. Year Book, No. 1, 1902. Lloyd, The Desert Botan. Laboratory of the Carnegie Instit. of Washington. 795 In order to the carrying out of the work, these two gentlemen travelled together through all the typical desert areas which pro- mised suitable conditions, and the results of their study of the problem were embodied in a Report published under the title of “The Desert Botanical Laboratory of the Carnegie Institution”). This is a volume of 58 pages, illustrated by 29 full pages plates reprodueing typical illustrations of the deserts visited, and five figures. This paper included, besides the final conclusions of the _ Committee as to the most suitable position for the laboratory, a large amount of scientific information pertaining to the character of the soils and meteorological conditions of the areas treated of. An extensive bibliography, compiled by Dr. W. A. Cannon, was also an important feature of this publication, and has served as a guide in laying the foundations of a special library of the Iiterature pertinent to the work of the laboratory. During the excursion made by the Committee, the deserts of Texas, northern Chihuahua and Sonora in Mexico, New Mexico and Arizona were examined, and the conclusion arrıved at was in favor of the region about the city of Tucson, in Pıma County, in the Southern part of Arizona. The later developments have, it would seem, ampWy justified the choice, one which involved a number of considerations. There should be a typical and abundant vege- tation of a drought resistant character to constitute the materials for research. A too severe climate had to be avoided, and the laboratory must be near enough to a centre of population for social and practical reasons, and these the city of Tucson and the sur- rounding deserts offered. The appreciation of the people of the city was expressed in the practical form of subsidies of land for the site of the building and to serve as a.preserve for desert vege- tation, the installation and construction of a water system, tele- phone, light and power connections, and of a road to the site of the laboratory, about two miles distant. The same committee was continued as a Directorate of the Laboratory, and the plans for the building were drawn up under their supervision. Upon completion, Dr. W. A. Cannon then at the New York Botaniecal Garden, was appointed Resident Investi- gator, and took immediate charge. During the first year investi- gations were carried on at the Laboratory by Dr. W. A. Cannon, Dr. D. T. MacDougal, Professor V. M. Spalding, E.S.Spalding, Dr. B. E. Livingston and Professor F. E. Lloyd, and these, with the exception of Dr. Livingston continued their work during the whole or a part of the following year. These two years have to be considered as a period of testing 1) Car. Inst. Wash. Publication 6, 1903. 794 Lloyd, The Desert Botan. Laboratory of the Carnegie Instit. of Washington. the various methods of promoting research by the Board of the Carnegie Institution, and at its close, a plan was proposed by the President, Professor Woodward, by which the resources of the Institution are henceforth to be used chiefly in forwarding the investigations in progress at the various special stations and labo- ratories which have been founded under ıts auspices, in contra- distinetion to the making of a large number of small special grants. Thus the Desert Botanical Laboratory becomes now the centre of a Department of Botanical Research, and the Directorship has been given to Dr. D. T. MacDougal, recently Assistant Director of the New York Botanical Garden, and a member of the original advisory committee. The city of Tueson, near which the Laboratory stands, with a population.of 15000 is siıtuated ın the valley of the Rio Santa Cruz, its position being central with respect to the deserts of Oali- fornıa, Mexico, Texas, New Mexico and Northern Arızona, an area embracing 12° of latitude and 16° of longitude roughly speaking. With an elevation of 2,390 feet above sea level, it has a dry and braciıng clımate, and thought hot in the summer, still on account of the low relative humidity, not uncomfortable. The soil ıs a fine clay or “adobe” underlaid in most of the area by a hard pan of white material derived by the leaching out of the soil, and known locally a “caliche”. Without doubt, wherever this caliche occurs it is a prominent factor ın the determination of the character of the vegetation. Two miles to the westward are to be seen the out posts of the Tueson Mountains, rugged hills of volcanie origin. On the more gradual northerly face of one of these stands the laboratory, a building appropriately constructed of volcanie boulders. The style in simple and well adapted to the climate. The thick stone walls heat slowly, particularly as they are for the most part protected from the direct rays of the sum by a widely overhanging roof. This latter is so constructed as to form a large ventilatel air chamber, thus affording a protection against the intense inso- lation as well as affording comfort to the occupants by modifying the intense lıght. The original building was in the form of the letter L with the longer extension facing the north. At the present time an addition is approaching completion which doubles the capacity of the buil- ding. The main portion, facıng the north is 126 feet long, two lateral wings extending southward from either end to a length of 36 feet. The new wing will be in part a glass house 20 feet long for experimental purposes. The breadth of the main portion of the building is 23 feet, of the wings 19 feed. The interior is sui- tably broken up into rooms, including a main general laboratory, oflices, stock-room, photographic dark room, constant temperature Lloyd, The Desert Botan. Laboratory of the Carnegie Instit. of Washington. 795 chamber, cut into the rock below the level of the floor, and spe- cial laboratories. A deck for the mounting of meteorological in- struments surmounts the roof. The interior finishing ıs in Calı- fornia Redwood. Fire places and lavatory render the whole a commodious and well equipped building large enough for some years to. come. The surrounding country presents features of rare beauty. To the northeast stands the range of the Santa Catalına Mountains, its rugged topography standing out in bold relief when the sun lies low in the heavens. Between, lies a low, level or gently un- dulating mesa for a distance of fifteen miles, covered chiefly with a uniform growth of Cowellea (Larrea) Mexicana. In the water courses are a few cottonwoods (Populus sp.) giving way to mesquibe (Prosopis velutina) on the adjacent flats and better watered rising ground. Here too is found a species of Palo verde (P urkinsonia Torreyana) another species (P. microphylla) of which ıs found affeeting the rocky foot-hills. Interspersed with the greasewood or creosote-bush (Cowillea) of the mesa are several species of Opunta, among which a “Cholla” ıs the most conspicuous. This plant, and other closely recated species were formerly used by the Apache Indians as a means of torture, and ıt appears that they did not underestimate the effectiveness of these plants for this purpose. The penetration of the spines causes exquisite pain, and few bota- nists escape the experience at some time or other. The mountains themselves, on account of their elevation, offer a wider vertical range of vegetation, the higher rıdges being the home of the pines and cedars. The main ridge, of which Mount Lemmon is the highest peak, ıs heavıly ee with yellow pine (Pinus ponderosa) ® Douglas Spruce (Pseudotsuga). Thus we may pass ın a few hours journey on horseback from the vegetation of the desert mesa to the dense forest, where snow, on northerly ‚slopes at least, stands the whole year round. To the east may be seen the Rincon Mountains, the most pro- minent feature being the bold rounded height of the Tanque verde. Further to the southward stand the Santa Rıta Mountains, while at still greater dıstances rise to other ranges, all wıth great stretches of mesa lyıng between. In the more immediate vicinity of Tucson the vegetation may be divided for the purposes of this deseription into two formations, that of the mesa, and that of the rocky foothills. I have already mentioned the leading plants of the former. The foothills bear a more varied flora, and perhaps the most characteristic of the region. It ıs here that we find the great cactus, Cereus giganteus, or saguaro. The columnar stems of thıs great plants stand in numbers overtop- ping the rest of the vegetation. The commonest shrub, or rather 796 Lloyd, The Desert Botan. Laboratory of the Carnegie Instit. of Washington. small tree is the palo verde (Parkinsonia microphylla) but we find intermingled with it a Celtis, a Lycium, and more notably, the Veotillo (Fouguwieria splendens). In the spring the whip like branches each bears a mass of scarlet flowers, and make a gorgeous show. Of the still smaller shrubby growths are, more prominently, the Franseria and an Encelia, both furnished with woolly leaves. The latter makes ın the month of April a splendid mass of yellow flowers. These are of course supplemented by very numerous annuals and smaller perennials. Several species of cactı, in addıtion to the above are present. Two species of flat-stemmed Opuntia, and an arborescent type, Opuntia versicolor, a small Mamillaria, a small Cereus (©. Fendleri), with fine magenta flowers, and a barrel Uactus, Echinocactus Wislexeni, are the chief. Other localities afford numerous other species, but I have mentioned these few merely to suggest the richness and general character of the flora. The distributional relations of this vegetation may be indicated in a general way by the following data, kindly supplied to me by Professor V. M. Spalding. Within the boundaries of the Labo- ratory reservation there are 146 genera and 195 species of these genera, 70 are world wide ın their distribution, while 34 are com- mon to N. and S. America, 19 of these following the Cordillera north and south. Of the lot, 28 are himited to Arızona and adja- cent territory, or extend along the mountains of western N. A. Of the species, 163 are restricted to their speculiar area im Arizona and adjacent territory. 13 ware ıidely distributed in n. A., 7 are common to N. and S. America, while only three, asıde from intro- duced weeds, are found in the eastern and western hemispheres. The whole area of ground which pertains to the Laboratory covers 860 acres, all of which is now fenced in and thus protected from damage by anımals. The area includes a stretch of mesa cut by a *wash” that ıs a small stream bed usually dry, excepting during heavy rains, and, for the major portion, of the volcanie foothills on which the building stands. I append a summary of the work which has thus far been carried on at the Desert Botanical Laboratory by those who have been officially connected with it during the period up till the present time. Dr. MacDougal has been engaged in field work and explo- rations in the American deserts for the U.S. Government and for the New York Botanical Garden since 1891. Since, his connection with the Desert Laboratory he has cooperated wıth Mr. F. V.Co- ville in a general geographical study of the North American Deserts, and has devoted special attention to the arıd regions about the head of the Gulf of California in which opportunity has been taken to make some general comparısons betwen the mesophytic vegetation of the delta of the Rio Colorado, and the adjacent deserts. One EEE Lloyd, The Desert Botan. Laboratory of the Carnegie Instit. of Washington. 797 of the most interesting generalizations obtained set forth the fact that plants with storage organs for water were given highly cha- racteristic of arıd regions in which the total precipitation occurs within a very short period each year, these structures being noti- ceably absent from plants of regions which receive a scant rainfall redistributed in small quantities throughout the year. Dr. W. A. Cannon came to the Desert Laboratory as Resi- dent Investigator in the autumn of 1903 and since then has been engaged on studies on the transpiration and the structure of the desert plants in the vicinity of the Laboratory. Some of the re- sults of the studies on transpiration may be briefly presented. By a method perfected at the Laboratory!) the transpiration of plants was observed at different seasons while they were growing undisturbed in their habitats. Among other things it was learned, other things being equal, that a marked acceleration of rate took place with an increase in the available. water supply. This was noted in leafless as well as in leafy forms, and in the latter with or without an increase in the area of the transpiration surface. The variation in rate between seasons of extreme drought and seasons of rain was very marked particularıly in leafy forms. In Fouguieria splendens, for instance, the ratio was 1:32. But ın the leafless plants it was much less. The highest rate noted for the leafy condition of the leafy forms of typical desert perennials was quite as high as the rate of the desert annuals or of such mesophytie plant as the sugar beet. The minimum of the former, however, is probably much more than that of the latter class. In addition to work on independent plants some observations were made on the transpiration of the parasitic Phoradendron and its hosts. The rate of transpiration of the mistletoe ıs frequently greater than that of the host. The studies show, however, that the rate may be a variable one, being higher near the main stem of the host than more remote from it. That is, the varıation may be associated, as is the case in the independent plants, with the variatıon in the water supply. Under a grant from the Carnegie Institution Dr. B. E. Living- ston spent the major portion of the summer of 1904 at the La- boratory, studying the moisture conditions of the soil and atmo- sphere, under which desert plants are obliged to exist during the summer season. A summary of this work may be given as follows. 1. The deeper soil layers of the hill on which the Laboratory stands contain at the end of the dry season, and thus probably at all times, a water content adequate to the needs of those desert plants which are active through the months of drought. This con- 1) Bull. Torr. Bot. Club, 32 : 515. 1905. 798 Lloyd, The Desert Botan. Laboratory of the Carnegie Instit. of Washington. servation of soil moisture is largely due to the high rate of evapo- ration and the consequent formation of a dust mulch. It is partly due to the presence of rock fragments and of a hard pan called caliche. Desert forms show an adaptatıon to existence in dry soil, being able to exist in soils somewhat dryer than those needed by plants of the humid regions. This adaptation- is however comparatıvely slight, and cannot be considered of prime importance. The downward penetration of the water of precipitation is slow through the adobe soil itself, but comparativlely rapıd on the whole, on account of the presence of numerous oblique rock surfaces along which the flow ıs not markedly impeded. By the middle of the summer rainy season all of the soil ex- cepting the first few centimeters ıs sufficiently moıst to allow ger- mination and of growth most plants. The surface itself ıs often wet for several days at a time during the period of summer rains. The seeds of Fougwieria splendens and of Cereus giganteus Tail to show any special adaptation to germination in soils dryer than those needeed by seeds of such mesophytes as Triticum and Phaseolus. Im- mediately following germination the seedlings of desert plants exhibit a slow aerial growth but an excedingly rapıd downward elongation of the primany roots so that these should soon attain to depths where moisture ıs always present in adequate amount for growth. The high moisture retaıming power possessed by the soil of the laboratory hill holds near the surface much of the water received from single showers, and offers excellent opportunity for the rapid absorption of this by such shallow rooted forms as the cactı. The saps of Cereus, Echinocactus and Opuntia exhibit osmotie pressure no higher than those commonly found ın plants of the humid regions. The effeet of air currents in Increasing evaporation and tran- spiration rates is so great that reliable measurements of transpiration cannot be made ın closed chambers. By means of a new method, involving a newly devised eva- porimeter, a physiological regulation of the rate of transpiration was shown unquestionably to exist in the forms studied. This regulation appears to be most probably due to stomatal action responses. The regulation of transpiration seems to be controlled by air temperature, the checking of water loss beginning to be effective between 79° and 90° F., and the check being removed between 75° and 80° F. The ratio of transpiration rate per unit of leaf surface to eva- poration rate per unit of water surface is termed relative transpi- ration. Relative transpiration ıs reduced by the regulatory response HE Lloyd, The Desert Botan. Laboratory of the Carnegie Instit. of Washington. 799 from unity in the high periods to from !/,, to !/,, in the low periods. Professor V. M. Spalding began his work at the Desert La- boratory in the autumn of 1903, having received leave of absence from the University of Michigan for this purpose. He undertook an investigation of the biological relations of certain desert shrubs which exhibit a wide range of adaptıbılity, retainıng more or less pronounced mesophytic habits, but capable of surviving extreme drouth and usually classed as typical xerophytes. The success of these plants in resisting infavorable conditions, though manifestly due in large measure to the perfection of their arrangements for preventing excessive transpiration, is also to be attributed to a remarkable combination of favorable structures and habits. The close relation existing between rate of transpiration and available soil moisture was demonstrated in the case of various species ın accordance with results previously obtained by Aloı and Feruzza, and experiments to determine the relation relative efficiency of several methods of supplying water to the roots of the same plants have been carried out with definite results. In 1904—1905 Pro- fessor Spalding, under a grant from the Carnegie Institution, conducted an investigation regardıng the absorption of water and water vapor by the leaves and shoots of desert plants. It was found that different species differ widely ın their capacity for sub- aerıal absorption. It does not appear that this is of direct physio- logical importance, though it may become an advantage indirectly by preventing excessive transpiration, and may even result in leaf formation, as was shown by Lloyd in the case of Fougwieria. This work has been continued through the early part of the 'pre- sent year during which a more comprehensive study, including certain habitat relations of plants growing in the vicinity of the Desert Laboratory, had been ın progress. F. E. Lloyd spent two summers at the Laboratory which were occupied in a study of the physiology of stomata, and this work is now being continued ın residence. The plants examined in particular are the Ocotillo (Fougwieria splendens) and a verbena (W. eiliata). It has, in the first place, been found possible to pre- serve stomata in their natural form so that the size of the openings may be studied with great exactitude. The result of the work may be summarized as follows, all statements applying to both plants except when otherwise mentioned. The rate of transpiration ıs not controlled, except perhaps with in broad limits, by the size of the stomatal openings. Very marked changes in the rate either increasing or decreasing it, may ‚occur without any a preciable change in the stomata. It ıs there- fore to be concluded that in these plants the stomatal mechanism 800 Lloyd, The Desert Botan. Laboratory of the Carnegie Instit. of Washington. hardly be regarded as regulatory of transpiration in the sense of certain previous students. This conelusion is strengthened by the results of experiments on wilting, which ın Verbena, show that, not only does an opening of the stomata previous to wilting, as held by Leitgeb and Fr. Darwin, fail to occur, but the celosure actually lags behind. Thus the teleoligical significance of stomata on this score may very seriously be called into question. Numerous experiments have shown that, under constant conditions and ın the total absence of light, the curve of transpiration shows at about 6 A. M. a maximum which apparently must be interpreted in terms of habit, that ıs as „eine von äußeren Einflüssen unab- hängige Periodizität“, thus giving support to Unger, Sachs and Sorauer. This periodiecity may not be interpreted as supposed by Fr. Darwin and ©. C. Curtis, to be dependent upon stomatal movements. The stomata of the plants studied are found to be devoid of chlorophyll, and this has been found true of a very considerable number of others. Contrary to the general supposition, these sto- mata are quite as active, or indeed more so than ın some instances, as those possessing chlorophyll. This fact, led the writer to examine with great care the daily course of stomatal activity, with respect not only to the movements, but also to the conditions of the contents of the guard cells. It was found that the maximum opening occurs in the summer at nine A. M. and continues till twelveM. The stomata then close slowly during one to three hours, and remain almost closed till sunrise on the following day. Further light is thrown upon this procedure by the behavior of the con- tents of the guard cells in Verbena, in which the amount of starch ıs observably variable. The maximum starch content is to be found during the night and till sunrise. At this time the starch begins to undergo depletion, until it is reduced to a minimum at from nine till 11. 30 A. M. according to the time of the year, the higher temperatures hastening the depletion. Very soon the reverse takes place, and the amount of starch again increases. This occurs in the dark, and at both ends of the spectrum separately, and also in the absence of Carbon dioxid. The stimulus of light seems however to be necessary to the opening of the stomata. We are thus able to differentiate two distinet processes, mechanical and nutritive, and to follow these separately. In addition to the starch content there is present a certain times an oil!) presenting, in some re- gards an inverse action to that of the starch. It is present ın 1) Oil has of course been observed by various students in the guard cells of stomata. Escherich, Die Ameise, Schilderung ihrer Lebensweise. s01 minimum amounts in the early morning, but increases materially during the period in which the starch is being depleted. After the maximum amount is reached, it again disappears, and at night none is present. Its behavior ın the dark and in the absence of CO, is not yet fully understood, and there is collateral evidence that this substance is not concerned in the intimate physiology of the stoma, at any rate as regards the movements. The evi- dence thus afforded indicates that the physiology of the guard cell is distinetly different from that of the chlorenchyma cells?). The guard cell plastids are secretory but not a carbon-assi- milative (photosynthetic) and the movements result from enzy- matic activity stimulated by light and controlled by tempera- ture, a view outlined, but hardly supported by convincing evidence, by F. G. Kohl, and finding collateral evidence in the work of Green upon the relation of enzymes to the various lights. The evidence may not here be enlarged upon, but ıt may be asaid that it throws considerable new light upon the old and vexed question of stomatal physiology. It may be added in conclusion that the research, the bare outlines of which have been given above, indicate in general the trend which the work to be carried out at the Desert Laboratory will be made to take in the future. K. Escherich, Die Ameise, Schilderung ihrer Lebensweise. Mit 68 in den Text gedruckten Abbildungen. 8%, XX und 232 8. Braunschweig, 1906. Verlag von Fr. Vieweg und Sohn. Unsere Kenntnis der Lebensweise der Ameisen ıst ın den letzten Jahrzehnten durch zahlreiche ın- und ausländische For- schungen so erheblich vermehrt worden und das allgemeine Inter- esse für dieselben hat sich zugleich so sehr gesteigert, dass eine knappe, übersichtliche Zusammenfassung derselben dringend er- wünscht war. Sowohl dem Naturforscher, der, ohne selbst Ameisen- biologe zu sein, doch die Ergebnisse dieser Wissenschaft kennen lernen will, als auch dem gebildeten Laien wird daher die vor- liegende Schrift Escherich’s über die Ameise sehr willkommen sein. Sie hat die Aufgabe, die einer solchen Schrift gestellt werden muss, die Forschungsresultate gründlich, allseitig und in übersicht- licher Kürze zusammenzustellen, in wirklich vortrefflicher Weise gelöst. Dass ın manchen Punkten noch Ergänzungen oder Ver- besserungen für eine neue Auflage angebracht werden können, ist bei einer so umfassenden Arbeit selbstverständlich. Auch die Aus- stattung der Schrift Escherich’s ıst durchaus zweckentsprechend. 1) The chloroplasts offer a constant and close check upon the conditions of the starch content of the guard cell plastids. xXXVI. al 302 Escherich, Die Ameise, Schilderung ihrer Lebensweise, Die zahlreichen Textfiguren sind gut ausgewählt und gut wieder- gegeben. Hier kann nur eine kurze Uebersicht über den Inhalt der Schrift gegeben werden; die Literaturverzeichnisse am Schlusse der ein- zelnen Kapitel bieten jedem Gelegenheit, sich eingehender über die betreffenden Publikationen zu orientieren. Die Einleitung behandelt kurz die Systematik, die geographische Verbreitung, die Grundrisse des sogen. Staatenlebens der Ameisen, ferner die verschiedenen Einrichtungsmethoden künstlicher Nester und endlich die Geschichte der Ameisenkunde Peter Huber’s Verdienste, dessen klassische „Recherches sur les moeurs des fourmis indigenes“ (1810) die moderne Ameisenbiologie inauguriert haben und auch heute noch in manchen Punkten unübertroffen sind, hätten wohl mehr hervorgehoben werden müssen. Bezüglich der Lubbocknester hält Referent die Watte zwischen Glas- und Holz- rahmen, die Escherich empfiehlt, nach seinen zwanzigjährigen Erfahrungen für vollkommen entbehrlich und auch für hinderlich für den sicheren Verschluss und die Reinlichkeit der Nester, da viele Ameisen die Watte allmählich ins Nest hineinzupfen. Das erste Kapitel, vielleicht das gediegenste im ganzen Buche, bildet die Morphologie und Anatomie der Ameisen. Die äußere und innere Organisation des Ameisenkörpers wird nach den neuesten Ergebnissen kurz und zutreffend dargelegt. Das zweite Kapitel handelt über den Polymorphismus im Ameisenstaate. Die verschiedenen typischen und atypischen Formen in der Ameisen- kolonie, die Funktionen dieser verschiedenen Formen und ihre Arbeitsteilung werden übersichtlich geschildert und auch die mut- maßliche Entstehung des Polymorphismus kritisch geprüft. Nach Escherich waren die ältesten Ameisenahnen auch im weiblichen Geschlechte geflügelt. In ontogenetischer Beziehung neigt er zur trophogenen Erklärung der verschiedenen Kasten (mit Emery und Wasmann). Zur experimentellen Bestätigung der Pseudogynen- theorie Wasmann’s!) wären außer Viehmeyer’s Versuchen (S. 52) auch die von Wasmann 1905 ın den Mitteil. d. Schweiz. Entom. Gesellsch. (XI. Heft 2, S. 69-—70) kurz erwähnten Experimente von 1900-1904 anzuführen, die dasselbe Resultat ergaben. Be- züglich der Arbeitsteilung in den gemischten Kolonien (S. 47 u. 127) finden sich bereits ältere Beobachtungen Wasmann’s über das Verhalten der einzelnen Arten und Individuen (in den „Ver- gleichenden Studien über das Seelenleben der Ameisen* 2. Aufl. 1900, S. 17#., 22 #.). | Im dritten Kapitel wird die Fortpflanzung der Ameisen, die Befruchtung, die Gründung neuer Kolonien, die Weiterentwicke- lung und der Verfall der Kolonien, die Metamorphose und Brut- pflege kurz und übersichtlich besprochen, was bei der großen Mannigfaltigkeit der einschlägigen Fälle keine leichte Aufgabe war, die dem Verf. jedoch gut gelungen ist. Zu S. 58 wäre zu be- 1) Das Zitat S. 52 Z. 10 muss heißen 1895 statt 1885. a a Escherich, Die Ameise, Schilderung ihrer Lebensweise. 803 merken, dass Adlerz (Myrmekologiska studier II. 1886, p. 117) bei Formica rufa häufig die Paarung im Neste beobachtete und geneigt ist, dies auch auf andere Formica-Arten auszudehnen. Die manch- mal sehr beträchtliche Zahl von Königinnen in einem Formica- Neste!) würde sich dadurch nach der Ansicht des Referenten am leichtesten erklären lassen, obwohl Inzucht bei Formica trotzdem nicht die Regel bilden dürfte. Auf S. 59 ‚ließen sich die etwas unbestimmten Angaben durch die Beobachtungen von Adlerz und Wasmann über Formicoxenus und Anergates fester gestalten (vgl. Wasmann, Die zusammengesetzten Nester 1891, S. 33 u. 134). Die Paarung von Formicoxenus erfolgt auf der Oberfläche der rufa- Haufen, jene von Anergates ım Tetramorium-Neste. Bezüglich der Koloniegründung von Formica rufa (5. 69) möchte Referent hier beifügen, dass er im April und Mai 1906 bei Luxemburg zwei junge rufa-fusca-Kolonien (den Stadien 1 und 3 der truncicola-fusca- Kolonien entsprechend) fand. Zur Parthenogenesis der Ameisen (S. 70) sei auch auf die Beobachtungen im Biolog. Uentralbl. XI. 1901, Nr. 1) verwiesen. Neuerdings hat Referent festgestellt, dass in freier Natur eine Kolonie von Formica pratensis nach Verlust ihrer Königin noch mehrere Jahre lang Millionen von Eiern pro- duzierte, aus denen Tausende von Männchen sich entwickelten (Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiologie 1906, 1. Heft). Eine der- artige Parthenogenesis der Arbeiterinnen ist ohne Zweifel auch von Bedeutung für die Vererbung von Arbeitereigenschaften durch Vermittlung der Männchen, welche sich mit den Weibchen aus anderen Kolonien kreuzen. Unter den Autoren, welche über un- bedeckte (kokonlose) Puppen von Formica bezw. Lasius berichten (S. 77), wären auch Meyer (1854), Schenk, Adlerz und Wasmann zu erwähnen. Den Nestbau der Ameisen, der eine große Mannigfaltigkeit der Formen umschließt, behandelt das vierte Kapitel. Escherich unterscheidet Dauernester, Wandernester und Nebenbauten. Die ersteren teilt er mit Forel ın acht verschiedene Gruppen ein, ın Erdnester, Holznester, Marknester, kombinierte Nester (eigentliche „Ameisenhaufen“*), Nester in schon vorhandenen Höhlungen, Karton- nester und gesponnene Nester, zusammengesetzte Nester und Nester der gemischten Kolonien. Die beiden letzten Abteilungen sind jedoch den vorigen nicht koordiniert. Reine Erdnester ohne Ober- bau sind viel häufiger als der Verf. (S. 85) glaubt, besonders bei Myrmica, Tetramorium und Lasius. Es hängt ganz von der Boden- beschaffenheit ab, ob sie mit einem Oberbau aus Erde verbunden werden oder nicht. Die Maximalgröße der raufa-Nester (S. 92) ıst nicht bloß nach der Höhe, sondern hauptsächlich nach dem Umfange der Haufen zu beurteilen. Ref. hat (Biol. Ctlbl. 1905, S. 196 u. 197) solche von 15 und 16 m Umfang gemessen. Die Angabe S. 97 über riesige Kartonnester von Oremastogaster Schenki auf Madagaskar 1) Selbst bei F. fucsa, die kleine Kolonien hat, traf ich im Frühling 1906 bei Luxemburg häufig mehrere, sogar 6--10 Königinnen in einem Neste. 35 504 Escherich, Die Ameise, Schilderung ihrer Lebensweise. stammt aus Sıkora’s Beobachtungen!). Bezüglich der Nester der Dorylinen herrscht, wie der Verf. mit Recht bemerkt (5. 102) noch manches Dunkel. Einige Eciton Brasiliens (praedator, coecum) haben außer den Wandernestern auch noch Dauernester (nach den Be- obachtungen von Rengger, v. Ihering, Badariotti).. Luja hat neuerdings am unteren Kongo (bei Sankuru) sogar ein Nest von Anomma Wilverthi gefunden, dessen Gäste von den Begleitern der Anommazüge völlıg abweichen; vielleicht ıst jenes Nest als ein Dauernest zu deuten. Das fünfte Kapitel fasst die Erscheinungen der Ernährung bei den Ameisen zusammen. Zuerst werden die allgemeineren Ver- hältnısse der Aufnahme, Verteilung und Beschaffung der Nahrung dargelegt; dann folgen dıe besonderen Ernährungszweige der blatt- lauszüchtenden Ameisen, der Honigameisen, der körnersammelnden und der pilzzüchtenden Ameisen. Es ist hier ein reiches Beobach- tungsmaterial gut zusammengestellt und gesichtet. Die psycho- logische Beurteilung (instinktives Rechnen der Ameisen mit der Zukunft) ist eine recht maßvolle. Über verschiedene Lebens- gewohnheiten der Ameisen berichtet das sechste Kapitel. Hier werden die Reinigungsinstinkte der Ameisen, ihre Schutz- und Ver- teidigungsmaßregeln, ihre Kämpfe, Wanderungen, Krankenpflege, Spiele u. s. w. besprochen. Die sogen. Begräbnisse und intelligenten Brückenbauten der Ameisen werden von Escherich (mit Was- mann) auf den Reinlichkeitssinn dieser Tiere zurückgeführt (S. 126). Bezüglich der ebendort erwähnten „lebenden Brücken“, welche Wanderameisen über kleinere Wasserläufe bauen sollen, liegt eben- falls eine sehr einfache Erklärung nahe, auf welche Referent hier aufmerksam machen möchte. Greift man aus einem Glase mit Spiritus, das einige Tausend toter Anomma enthält, mit der Pin- zette einige Ameisen heraus, so reiht sich an dieselben oft eine lange Kette von vielen hundert Ameisen, die alle mit ihren Klauen aneinander hängen. Eeiton und Anomma haben nämlıch sehr lange Beine mit stark entwickelten Klauen. Hierdurch dürfte auch den lebenden Ameisen das Ueberschreiten eines Wasserlaufs bedeutend erleichtert werden; sobald das vordere Ende der ım Wasser flot- tierenden Kette irgendwo festen Fuß gefasst hat, können die übrigen über diese „lebende Brücke* hinüberziehen. Zu S. 130 wäre zu bemerken, dass auch bei einigen unserer einheimischen Ameisen, welche ın kleinen Kolonien unterirdisch leben, das „sich totstellen*“ die Regel ıst, besonders bei Myrmecina Latreillei (graminieola). Die S. 151 (nach Wasmann) erwähnten kämpfenden Ameisenknäuel beziehen sich auf Tetramorium, nicht auf Tapinoma. Im siebten Kapitel folgt die soziale Symbiose der Ameisen, d. h. die Beziehungen der Ameisengesellschaften zueinander und zu anderen sozialen Insekten (Termiten). Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen werden hier ın ihren mannigfaltigen Formen übersichtlich geordnet vorgeführt. Die 1) S. 99 u. 105 muss es Edw. Jacobson heißen. Escherich, Die Ameise, Schilderung ihrer Lebensweise. 805 phylogenetischen Stufen der Entwickelung und Degeneration des Sklavereunstinktes sind besonders ber ücksichtigt (S. 146—15} 5). .Da es sich hierbei ohnehin nicht um eine einzige reale Entwie kelungs- reihe handelt, sondern um mehrere, die von verschiedenen Gat- tungen zweier Unterfamilien der Ameisen ihren Ausgangspunkt nahmen ! ), könnte auch Tomognathus sublaevis, der S. 155 am Schlusse angeführt wird, vielleicht besser seinen Platz innerhalb jener Reihe finden, etwa zwischen der. 5. und 6. Stufe. Es seı noch bemerkt, dass Wheeler in einer neuen Arbeit?) den von ıhm selbst 1905 angenommenen, von Wasmann gleichzeitig (Biolog. Centralbl. 1905) näher ausgeführten, auch von Escherich hier akzeptierten, phylogenetischen Zusammenhang der temporär ge- mischten Kolonien mit den dauernd gemischten (Sklavenhalter) nicht mehr gelten lassen will. Dem Referenten scheinen aller- dings Wheeler’s neue Einwendungen keineswegs überzeugend zu sein. Die individuelle Symbiose der Ameisen mit anderen, nicht- sozialen Tieren (Myrmekophilie) bildet den Gegenstand des achten Kapitels. Escherich behandelt auch hier das ungeheuer reich- year Beobachtungsmaterial in übersichtlicher Gruppierung, wobei hauptsächlich an Wasmann (1902) sich anschließt. Er stellt doch die Trophobiose als „aktive Beziehungen“ der Ameisen zu ihren Gesellschaftern der Myrmekophilie im engeren Sinne gegenüber, welche die „passiven Beziehungen“ der Ameisen zu ihren fremden Nestgenossen umfassen sollen. Die letzteren teilt er dann in Synechthrie, Synoekie, Symphilie und Parasitismus. Dem Referenten scheint allerdings die obige Scheidung in aktive und passive Beziehungen nicht durchführ bar, da die Ameisen auch zu vielen echten Gästen (Symphilen) in aktiven Beziehungen stehen. Ferner steht die Symphilie nicht in so enger Beziehung zum Parasitismus (sensu strieto) wie Escherich will, der sie (S. 171) schlechthin als eine „soziale Krankheit“ hinstellt. Das echte Gastverhältnis ıst ın sich selber keine soziale Krankheit der Ameisenkolonien; denn sie beruht auf demselben Naschhaftigkeitstriebe, der auch der Trophobiose zugrunde legt, und auf demselben Adoptionsinstinkte (Ausdehnung des Geselligkeits- und Brutpflegeinstinktes auf fremde Wesen), der auch zur Gründung der gemischten Ameisenkolonien führt. Ihrem Wesen nach ist die Symphilie somit keine a heitserscheinung“, obwohl sie in ihren extremsten Äußerungen (z. B Lomechusa-Zucht) einen pathologischen Charakter annimmt, wie Referent bereits früher wiederhoit gezeigt hat. Im übrigen sind aber Escherich’s Ausführungen auch ın diesem Kapitel recht zu- treffend und inhaltsreich und geben ein gutes Bild von unserer 1) Vgl. Wasmann, Zur Geschichte der Sklaverei beim Volke der Ameisen (Stimmen aus Maria-Laach, 1906. Heft 4 u. 5). 2) On the founding of Colonies by queen ants, with special reference to the parasitic and slavemaking species (Bull. Am. Mus. Nat Hist, XXII. May 15, 1906, Ss. 33—105). S06 du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. Myrmekophilenkunde!). Der von ihm S. 171 gezogene Vergleich zwischen der „Symphilie und dem Alkoholinstinkte* (sic) der Menschheit ist allerdings ohne jede Beweiskraft zugunsten der Selektionslehre, da bei bestimmten Ameisenarten ım Laufe der Stammesgeschichte besondere erbliche Instinkte zur Pflege be- stimmter echter Gäste sich herausgebildet haben, die ıhren Besitzern niemals einen Vorteil im Kampfe ums Dasein geboten haben können, auch bevor sie direkt nachteilig sich äußerten (Zur näheren Kenntnis des echten Gastverhältnisses, Biolog. Uentralbl. 1903). Das neunte Kapitel behandelt die Beziehungen der Ameisen zu den Pflanzen. Die Ameisen als Pflanzenschädlinge und als - Verteidiger der Pflanzenwelt sowie als Züchter und Verbreiter der Pflanzen werden hier kurz geschildert und endlich auch die Pflanzen als Feinde von Ameisen. Ueber die Anpassung der Pflanzen an die Ameisen bei den sogen. myrmekophilen Pflanzen äußert sich der Verf. (S. 186) in recht vorsichtiger Weise. Für gewisse süd- amerikanische Gewächse hält er die myrmekophilen Anpassungen für sehr wahrscheinlich bewiesen, ın den übrigen Fällen für größten- teils noch problematisch. Die auf Ameisen schmarotzenden Pilze (z. B. Rickia Wasmanni) wären hier auch zu erwähnen gewesen. Die Psychologie. der Ameisen ist der Gegenstand des letzten Kapitels. Escherich hält hier den richtigen Mittelweg ein zwischen der populären Vermenschlichung des Ameisenlebens und der bloßen Maschinenerklärung desselben. Die Sinne der Ameisen und ihr Großhirn werden kurz besprochen und dann die Fragen erörtert: wie erkennen sich die Ameisen? wie finden sie ihren Weg? besitzen sie Mitteilungsvermögen? dürfen wır ihnen ein formelles Schluss- vermögen zuschreiben? Die Antwort auf diese Fragen stimmt wesentlich überein mit den Anschauungen des Referenten ın seiner gegen Bethe 1899 gerichteten Schrift „Die psychischen Fähig- keiten der Ameisen“. Durch Escherich’s Büchlein über die Ameise wird hoffentlich auch in weiteren Kreisen ein gesundes Urteil über die Ameisenpsychologie sich einbürgern. E. Wasmann S. J. (Luxemburg). Über die Beziehungen zwischen Wandspannung und Binnendruck in elastischen Hohlgebilden. Von Prof. Dr. Rene du Bois-Reymond in Berlin. Für viele physiologische Fragen kommt ein physikalisches Pro- blem in Betracht, dessen Bedingungen auf anderen Gebieten seltener verwirklicht sind, und für dessen Behandlung deshalb die gang- baren physikalischen Lehrbücher wenig Anhalt geben. Überall nämlich, wo ein membranöses Hohlorgan Flüssigkeiten einschließt, und insbesondere da, wo die Flüssigkeit durch Zusammenziehung 1) Als kleinere Berichtigungen wären zu nennen: S. 164 Notothecta statt Notonecta. Der in Fig. 57 S. 169 abgebildete Atemeles ist emarginatus, nicht paradoxus, wie es im Index (S. 227) zu S. 168 heisst. du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. 807 des Hohlorgans ausgetrieben werden kann, entsteht die Frage nach . dem Verhältnis zwischen der Größe der "Wandspannung und der Größe des Druckes, der durch sie auf die Flüssigkeit ausgeübt wird. Es liegt auf der Hand, dass ohne die bösens dieser Trage zahlreiche Funktionen des Körpers nicht in befriöripander Weise beschrieben werden können, von denen nur die Horztätickeit, die Zusammenziehung der Harnblase, die Peristaltik von Magen und Darm genannt werden mögen. Bei der großen Bene der genannten Vorgänge verdient der angedeutete Gegenstand a eine ausführliche Erörterung, um so ee da er, soweit mir bekannt, nur an wenigen, zum Teil schwer zugänglichen Stellen der Litexatur behandelt, ist, während an sehr vielen Stellen falsche Anschauungen darüber zutage kommen. Besser als an den genannten aalehen Holldrsaacn lassen sich die in Rede stehenden Vorgänge an einem Modell neuen, | etwa an einer dünnen Gummiblase, die man mit Luft oder Wasser auftreibt. Auch hierbei stellen sich aber sogleich Umstände ein, die die wesentlichen Züge der betreffenden Erscheinungen ver- wischen. So muss bei Füllung der Blase mit Luft in Bewacht ge- zogen werden, dass die Luft. im Innern der Blase je nach ar Höhe des auf sie lastenden Druckes mehr oder weniger verdichtet wird, so dass sich z. B. ein vollkommen gleichförmiges Einströmen nicht wohl erreichen lässt. Nimmt man dagegen, als einen un- elastischen Füllungsstoff, Wasser, so treten Störungen dadurch ein, dass die Masse, wenn sie een in Bewegung gekommen ist, in Strömung zu beharren strebt, u. a. m. Eu die Ungleich. mäßigkeiten bei ee Dehnung von Gurenblascn, die Naohdehnane und den Dehnungsrückstand rasche hier nur a... zu en Es mag deshalb zunächst von allen praktischen Fällen, auch bei Modellen, abgesehen werden, um die wesentlichen Bedingungen der vorliegenden Frage, von allen Nebenumständen beker, a stellen zu können. r Man denke sich eine Blase mit vollkommen elastischer Wand, die von einer gewichtlosen inkompressibeln Flüssigkeit erfüllt wird, deren Menge beliebig vermehrt werden kann. Es ist bekannt, dass. eine Solche Blase unter dem Einfluss der Wandspannung Kugelform annimmt. Unter „vollkommen elastisch“ soll verstanden werden, dass die Wand der Blase in jeder Richtung einer Deh- nung um beliebige Beträge proportional anwachsenden Widerstand entgegensetzt, und sich beim Nachlassen ‘der dehnenden Kräfte wieder nach genau demselben Maß zusammenzieht. Ferner soll die en der Blasenwand ın jeder Richtung von Dehnungen, die gleichzeitig in anderer Richtung ausgeübt werden, in keiner Weise verändert werden. Um die Betrachtung zu vereinfachen, SOS du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. soll endlich die Dehnung der Blase nicht, wie dies bei einem Modell notwendig der Fall ist, von einer endlichen Anfangsgröße beginnen, sondern die Blase soll die Fähigkeit besitzen, sich bis auf eine unendlich kleine Größe zusammenzuziehen. Dies gewährt für die Betrachtung den Vorteil, dass, wo von einer endlichen Größe der Blase die Rede ist, diese Größe zugleich den Betrag der Dehnung der Blasenwand angibt. Von diesen nur in der Theorie möglichen Voraussetzungen aus- gehend, sollen nun die Beziehungen zwischen Wandspannung und Binnendruck untersucht werden. Denkt man sich den Inhalt der Blase stetig bis zu unend- licher Größe vermehrt, so liegt es nahe, anzunehmen, dass mit der wachsenden Wandspannung auch der Binnendruck stetig bis ins Unendliche wachsen würde. Diese Annahme erweist sich bei näherer Betrachtung als grundfalsch. Mit der zunehmenden Ausdehnung der Blase steigt zwar die Wandspannung, da aber nach dem Grundgesetz der Hydromechanik der auf eine Flüssigkeit ausgeübte Druck sich auf die gesamte Oberfläche der Flüssigkeit gleichmäßig verteilt, und mit der zu- nehmenden Ausdehnung der Blase diese Oberfläche ebenfalls zu- nimmt, so hängt es von dem gegenseitigen Verhältnis dieser beiden veränderlichen Größen ab, ob bei der Ausdehnung der Blase der Innendruck zunimmt, konstant bleibt, oder abnimmt. Für den Fall der oben’angenommenen vollkommen elastischen Blase wächst die Wandspannung für gleichen Dehnungszuwachs um gleiche Beträge. Dehnung ist gleichbedeutend mit Oberflächen- vergrößerung. Es wächst also die Wandspannung im gleichen Maße wie die Oberfläche. Da die Wand nur durch den Inhalt ge- spannt wird, wird allerdings der gesamte von ihr auf den Inhalt geübte Druck proportional der Spannung zunehmen. Da aber die Oberfläche in demselben Maße zunimmt, so wird auf die Flächen- einheit der Oberfläche ein immer kleinerer Bruchteil des Gesamt- druckes entfallen, und weil die ganzen Anderungen einander pro- portional sind, wird der absolute Betrag des Druckes auf die Flächeneinheit für jeden Dehnungsgrad derselbe bleiben. Obiger Betrachtung wird man ohne Schwierigkeit bis auf zwei Punkte folgen können. Es ist klar, dass bei Vermehrung des In- halts die Oberfläche der kugelförmigen Blase zunehmen muss, und dass dadurch die Wandspannung wächst. Es lässt sich auch ver- stehen, dass bei Zunahme der Wandspannung der von ıhr aus- geübte Gesamtdruck wachsen muss. Der Begriff der Wandspan- nung selbst und die Beziehung zwischen einer gegebenen Größe der Wandspannung und dem dadurch erzeugten Binnendruck be- darf aber der Erklärung. du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. 809 Was zuerst die Wandspannung betrifft, so lässt sie sich ihre Beziehung zur einfachen Längsdehnung folgendermaßen beschreiben : Denkt man sich auf einer vollkommen elastischen Blase vom Durch- messer d zwei Punkte bezeichnet, die 1 cm weit auseinander liegen, und denkt sich dann den Inhalt so weit vermehrt, dass der Durchmesser doppelt so groß geworden ist, so wird die zwischen den beiden Punkten liegende Strecke ebenfalls auf das Doppelte zugenommen haben. Es hat also auf der betreffenden Strecke eine Dehnung um 1 cm stattgefunden. Ganz dasselbe würde natürlich von einer Strecke gelten, die man sich quer oder in beliebigem Winkel über die erstbetrachtete Strecke hinlaufend dächte. Es findet also bei der Vergrößerung der Kugel eine Dehnung gleichzeitig und in gleichem Maße nach allen Richtungen statt. Daaber fürdie vollkommen elastische Wand die Voraussetzung gemacht worden ist, dass ihre Dehnbarkeit in einer Richtung durch zugleich eintretende Dehnung in anderer Richtung nicht verändert wird, kommt dieser Umstand hier nicht in Rechnung, sondern als Wand- spannung gilt einfach die Längsspannung der Wand in einer be- liebigen Richtung. Um die Größe dieser Spannung zahlenmäßig angeben zu können, muss sie noch auf einen Streifen der Blasen- wand von bestimmter Breite bezogen werden. Als Maß dieser Breite werde 1 cm gewählt und als Einheit der Spannung das- jenige Gewicht P, das einen 1 cm breiten Streifen der Blasenwand um 1 cm dehnt. Da die Blasenwand vollkommen elastisch ist, sich also bei hinreichend verminderten Inhalt auf einen unendlich kleinen Raum zusammenziehen kann, so dehnt das Gewicht Pg offenbar einen unendlich kurzen Streifen von 1 cm Breite auf 1 cm Länge aus, und da sich die vollkommene Elastizität nicht ändert, bringt jedes dieser Belastung hinzugefügte Gewicht von Pg abermals eine Verlängerung um 1 cm hervor. Auf diese Weise ist für die absolut elastische Blase diejenige Zentimeterzahl, die den Umfang der Blase angibt, zugleich die Zahl, mit mit Pg multi- pliziert, die Größe der Spannung angibt, die in jedem Streifen der Blasenwand von 1 cm Breite herrscht. Da für den Radius r em der Umfang = 2 x r, so hat man für die Spannung in jeden Streifen von 1 cm Breite die Spannung 2 = r-Pg. Zwischen der Längsspannung eines Streifens der Blasenwand und der Größe des Binnendrucks den Zusammenhang zu finden, ist nicht ganz einfach, weil der Binnendruck überall senkrecht gegen die Innenfläche zu wirken und nirgends eigentlich in der Richtung der Blasenwand zu ziehen scheint. Über diese Schwierigkeit hilft indessen einer der elementaren Sätze der Hydromechanik fort, der besagt, dass auf jede wie auch immer gestaltete Fläche der Wasser- druck eine Gesamtwirkung ausübt, die der des gleichen Druckes auf die ebene Projektion der betreffenden Fläche gleich ist. 810 du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. Mithin ist die Gesamtwirkung des Binnendrucks auf jede Hälfte der Blase gleich der Wirkung derselben Druckhöhe auf den größten (Juerschnitt der Kugel, und da je zwei Halbkugeln durch die Span- nung der gemeinsamen Wandung längs des Umfanges zusammen- gehalten werden, muss dieser Druck gleich der Spannung eines Streifens der Blasenwand sein, dessen Breite gleich dem Umfang der Blase ist. Ohne den angeführten Satz aus der Hydromechanik als bekannt vorauszusetzen, lässt sich dasselbe Ergebnis folgendermaßen ge- winnen. Die Flüssigkeit ın der gespannten Blase sowie die Blasen- wand selbst befindet sich bei jeder einmal angenommenen Deh- nungsgröße in vollkommen ruhigen Gleichgewicht des Druckes und der Spannung. Hieran wird offenbar nichts geändert, wenn man sich mitten durch die Kugel eine unendlich dünne, vollkommen starre Scheidewand gezogen denkt. Ebensowenig wird sich ändern, Figur 1. In der vollkommen elastischen Blase AMBN herrscht in dem Streifen AB von 1 em Breite, der die Länge des Um- fanges = 2zr em hat, in der Richtung der kleinen Pfeile üx cs ä RL für jeden Zentimeter die Spannung dıxr-P g. Der Streifen a ee EN AR 8 kann also auch angesehen werden als ein Streifen von 2770 em Breite und 1 cm Länge, dessen Gesamtspannung 2zr'2rr P dem Binnendruck d, der auf der Querschnittskreisläche AB lastet, das Gleichgewicht hält, Die Gesamtspannung der Blasenwand längs des Umfanges AB ist so grofs wie der Zug desjenigen Gewichtes, das einen Kolben von der Gröfse AB, der in dem Zylinder abed durch den Binnendruck bewegt würde, an seiner Stelle hielte. wenn man nun die eine Hälfte der Blase dicht an der Scheidewand abgeschnitten denkt. Es fällt dann offenbar der Druck, den die eine Hälfte der Blase durch Vermittlung des Inhalts auf die Scheidewand ausübte, fort, und es lastet der Gesamtdruck, den die andere Hälfte der Blase ausübte, von der einen Seite her auf der Scheidewand. Dieser einseitige Druck, der senkrecht auf die Scheidewand wirkt, würde sie natürlich nach der anderen Seite zu fortschieben, wenn sie nicht längs ihres ganzen Umfanges von der Blasenwand festgehalten würde. Unmittelbar längs des Umfanges der Scheidewand steht aber die Blasenwand senkrecht auf der Scheidewand. Es ist also durch die vorgestellte Halbierung der Kugel anschaulich gemacht worden, dass der Binnendruck, der auf der gesamten Scheidewand lastet, längs des Umfanges der Scheide- wand in der Richtung der Blasenwand zieht. Die Breite des Streifens, auf den der Zug der Scheidewand wirkt, entspricht der Länge des Umfanges, beträgt also für einen Radius der Kugel von rem 2rzrcm. Jedes Stück dieses Streifens das 1 cm breit ist, hat nach der obigen Berechnung beim Radius du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung ete. $11 r die Wandspannung S=2rrg. Folglich hat der ganze Streifen die Spannung 2rr-S oder 2rr-2nr-Pg. Dieser Spannung hält der Binnendruck auf die Scheidewand oder die Projektion der Halbkugel das Gleichgewicht. Die Flächen- größe der Scheidewand für den Radius rem beträgt zr? gem. Die Wirkung des Binnendrucks, auf den Quadratzentimeter dieser Fläche in Grammen berechnet, sei d. Dann muss, wenn diese Wirkung der (Gresamtspannung längs des Umfanges gleich ist, die Gleichung be- stehen: durE2—2Hr 2 oder dAsHR. Man sieht, ‚dass der Radıus aus der Rechnung herausfällt, und dass sıch also für jeden beliebigen Radius stets der gleiche Binnen- druck ergeben muss. Für die vollkommen elastische Blase ıst also der Binnendruck bei jedem Dehnungsgrade derselbe, und beträgt ın Grammen auf den Quadratzentimeter gemessen das 4nrfache desjenigen Gewichts, das einen Streifen der Blasenwand von 1 cm Breite um 1 cm ausdehnt. Vorstehende Berechnung mag noch durch ein Zahlenbeispiel erläutert werden: Es sei eine vollkommen elastische Blase von der Dehnbarkeit, dass ein Streifen von 1 cm Breite durch 1 g um 1 cm gedehnt wird, auf einen Umfang von 100 cm gedehnt. Dann hat, da die Anfangsgröße der vollkommen elastischen Blase gleich Null ist, jeder Streifen der Wand eine Dehnung von 100 em erfahren, und muss also eine Spannung von 100 g haben. Solche Streifen von 1 cm Breite liegen aber um den Umfang 100 nebeneinander. Mit- hin ist die Summe der Wandspannungen längs des Umfanges 10000 g. Der größte Querschnitt der Kugel beträgt für den Um- fang 100 cm etwas über 800 gem. Nach der obigen Gleichung muss der Druck d in Grammen auf 800 qem wirkend der Span- nung 10000 g das Gleichgewicht halten, es ıst also d gleich etwas über 12 g. Da P oben gleich 1 g angenommmen war, entspricht dies der Formel d—=4nr-P. Die Formel d=4r P erlaubt es also den Binnendruck aus der Wandspannung zu berechnen und umgekehrt. Da eine Wasser- säule von 1 gem Querschnitt fürjeden Zentimenter Höhe 1g wiegt, kann man d auch als die Höhe des Binnendrucks in Zentimetern Wasser gemessen bezeichnen. Ein Hauptunterschied zwischen dem bisher betrachteten nur theoretisch möglichen Fall der vollkommen elastischen Blase und allen wirklichen Fällen ist der, dass eine wirkliche Blasenwand niemals von unendlich kleiner Anfangsgröße an bis auf beliebige Größe gedehnt werden kann. Jede materiell vorhandene Blase wird vielmehr eine gegebene endliche Größe haben, und bei stetig 812 du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. zunehmendem Inhalt wird erst von dieser Größe an Wandspannung und Binnendruck auftreten. Es soll deshalb nun der Fall einer vollkommen elastischen Blase betrachtet werden, die eine gegebene Anfangsgröße hat. Für diesen Fall muss eine etwas veränderte Betrachtung eingeführt werden, weil das Gewicht P, das einen unendlich kurzen Streifen Blasenwand um 1 cm dehnt, für den Fall einer Blase von endlicher Anfangsgröße gleich eine unendliche Ausdehnung hervorrufen müsste. Es soll statt dessen im folgenden der Buchstabe @ dasjenige Ge- wicht bezeichnen, das einen Streifen der vollkommen elastischen Blasenwand von 1 cm Breite und der Länge des Umfanges der ungedehnten Blase um 1 cm dehnt. Es sei der Radius der ge- gegebenen Anfangsgröße — o cm, dann ist also @ dasjenige Ge- C 12 cm Wasserdruck. Figur 2. Berechnete Kurve des Druckes in einer vollkommen elastischen Blase vom Anfangsradius 0 =2 em, von deren Wandung ein Streifen von 270 em Länge und 1 cm Umfang durch 1 g um 1 cm gedehnt wird, bei zunehmender Füllung. Die Höhe der Kurve gibt den Wasserdruck an, der mit wachsendem Radius der gedehnten Blase, vom Anfangs- radius 2 em bis zu 22 em sich der konstanten Grölse 12 em nähert. SOME ADD Ra LI 15 20 cm Radius. wicht, das einen Streifen der Blasenwand von 2rzo Länge und 1 cm Breite um 1 em dehnt. Die ursprüngliche Formel + d.mie?.- = Brr’ZarB muss nun für die Blase von gegebener Anfangsgröße folgender- maßen umgeändert werden: Die linke Seite der Gleichung ändert sich nicht, denn offenbar wirkt der Binnendruck auf die ganze (Juerschnittsfläche, gleichviel ob dıe Blase eine endliche Anfangs- größe gehabt hat oder nicht. Die rechte Seite, die die Wand- spannung ausdrückt, hieß oben 2rr-2rr-P, wo der erste Faktor den Umfang in Zentimetern, der zweite die Spannung jedes Zenti- meterstreifens in Gramm bedeutete. Offenbar ist der erste Faktor nicht zu ändern, denn soviel Zentimeter der Umfang misst, soviel Zentimeterstreifen werden gespannt, gleichviel ob die Blase eine endliche Anfangsgröße hatte oder nicht. Dagegen wird offenbar die Spannung erheblich geringer sein, wenn die Blase den Umfang 2zr von der Anfangsgröße 270 auserreicht hat, als wenn sie ihn vom Umfang 0 aus erreicht hätte. Die Blasenwand ist eben nur gedehnt worden um den Betrag 2rr— 2 re, und für die voll- kommen elastische Blase von der oben betrachteten Elastizität ist A u he en ne du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. 813 also das Maß der Wandspannung eines Streifens von 1 em Breite (271-2 70)-Q oder 27 (ro). Setzt man nun die Gleichung wie oben an, so ergibt sich für die Blase mit dem Anfangsradius die Formel 4 d-zr? = 2rr-2n (ro) Q d = 4n. —.Q Man sieht, dass füro —0, das heißt für die Anfangsgröße 0, diese Formel in die erste Formel d — 4r Pübergeht. Man sieht ferner, dass für alle Größen von r bis zur Größe o der Druck von nega- tiven Größen bis Null anwächst. Sobald r größer wird als o, so- bald also die Blase über die gegebene Anfangsgröße gedehnt wird, tritt positiver Binnendruck auf, der schnell wächst, solange der Wert r—o von r erheblich verschieden ıst. Wenn aber r stetig weiter zunimmt, kommt die Subtraktion von o schließlich nicht mehr in Betracht, und der Ausdruck —_° nähert sich immer mehr = dem Werte 1. Das heißt, je mehr die Blase über die gegebene An- fangsgröße hinaus gedehnt wird, desto mehr nähert sich der Binnen- druck einer konstanten Größe. Das Verhalten des Druckes ın einer vollkommen elastischen Blase von endlicher Anfangsgröße bei zunehmender Vermehrung des Inhalts veranschaulicht nebenstehende Kurve. ie Fragt man nun, wie weit sich diese theoretischen Ergebnisse auf praktisch vorkommende Fälle übertragen lassen, so zeigen schon gewisse Beispiele aus dem täglichen Leben, dass der Hauptsache nach zwischen den angenommenen theoretischen Bedingungen und den tatsächlich vorkommenden kein Unterschied ıst. Jeder, der Glasblasen lernt, wird die Erfahrung machen, dass wenn eine nicht hinreichend erhitzte Röhre aufgeblasen werden soll, die Dehnung der Wand, sobald sie einmal begonnen hat, nicht wieder zum Stehen komınt. Es entsteht eine Blase, deren Inhalt das anfäng- liche Volum der Röhre um das Hundertfache übertrifft, und so sehr dadurch der anfängliche Druck herabgesetzt sein muss, schwillt sie mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit weiter, bis sie zu schillern- den Flittern zerplatzt. \ Jeder, der mit Fahrrädern umgeht, hat gesehen, wıe ein probe- weise aufgepumpter Gummischlauch, wenn ein gewisser Druck über- schritten ıst, sich mit einem Male zu blähen anfängt, und trotzdem sich sein Volum dadurch beträchtlich vermehrt, immer weiter schwillt, bis er platzt. In diesen beiden Fällen könnte zwar die Wandspannung mit zunehmender Dehnung geringer geworden sein, dafür wird jedoch 814 du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. auch der Binnendruck geringer, und dass es tatsächlich zum Zer- platzen kommt, kann deshalb zur Bestätigung des Obigen dienen. Eingehendere praktische Prüfung der theoretisch betrachteten Verhältnisse lässt sich am besten an solchen Modellen vornehmen, die den theoretischen Annahmen verhältnismäßig nahekommen. Dies dürfte nur für dünne Blasen aus möglichst gutem Gummi an- nähernd zutreffen. Schon der erste einfachste Versuch lehrt, dass der Hauptsache nach die obigen Erörterungen auch für Gummiblasen vollauf gültig sind. Man binde in eine elastische Gummiblase ein Steigrohr ein, und fülle diese mit Wasser. Unter dem Einfluss der Schwere des Inhalts wird dann die Blase Birnenform annehmen, und sich bei weiterer Füllung mehr oder minder in die Länge ziehen. Um diese Wirkung der Schwere auf die Form der Blase auszuschalten, braucht man sie nur in ein Gefäß mit Wasser einzuhängen. Das innere Grundversuch über die Be- ziehung zwischen Binnendruck und Wandspannung elastischer Blasen. A stellt die birnförmige Gestalt einer in der Luft mit Wasser gefüllten. Gummiblase dar. In Bist die Blase in ein Wassergefäfs getaucht u. mäfsig gefüllt, das Wasser steht in der druckmessenden Steigröhre bis zur punktierten Linie. In © ist mehr Wasser nachgegossen, die Blase ist viel stärker gedehnt, aber wie der Stand des Wassers in der Steigöhre zeigt, hat der = Binnendruck abgenommen. A B c Füllungswasser ist dann bis zur Höhe des äußeren Wasserspiegels mit dem äußeren Wasser im Gleichgewicht und zieht die Blase nicht mehr nach unten. Füllt man nun die Blase weiter an, so entfaltet sie sich, und infolge des Widerstandes, den die Wand- spannung der weiteren Füllung entgegensetzt, bleibt das Wasser in der Steigröhre stehen. Der Druck der ım Innern der Blase herrscht, lässt sich dann an dem Unterschied der Standhöhe des Wassers ın der Steigröhre und der des umgebenden Wasserspiegels messen. Gießt man nun weiter auf, so stellt es sich ın der Steigröhre immer höher ein, bis eine gewisse Höhe erreicht ist. Von diesem Augen- blick an kann man noch sehr viel mehr Wasser einfüllen und wird immer finden, dass es aus der Steigröhre ın die Blase absınkt, so dass die Blase bis zum Doppelten ihres anfänglichen Durchmessers und weiter anschwillt, ohne dass die Steighöhe, die den Binnen- druck misst, zunimmt. Ja man findet, dass sich das Wasser ım Steigrohr bei zunehmender Füllung nicht einmal auf der zuerst ARE: du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. 815 erreichten Höhe hält, sondern mehrere Zentimeter absinkt. Bei- spielsweise wurden nach Eingießen von je 250 ccm in einen Beutel aus schwarzem Gummi folgende Höhen des Binnendrucks an der Steigröhre abgelesen: 34, 37, 35, 33-5, 32-5, 31-5, 30-5, 30-5 cm. Es ist also der Stand nach Vergrößerung des Blaseninhalts um 2000 cm trotz der mit der Dehnung offenbar wachsenden Wandspannung um volle 6,5 em Wasserhöhe niedriger. Dies ist, wie unten ausführlicher gezeigt werden soll, nicht durch eine „Nachdehnung“ der Blase zu erklären, denn wenn man die weitere Füllung bei irgendeiner Stufe des Versuchs unterbricht, bleibt das Wasser ın der Steigröhre fast genau auf seinem Stand und sınkt nur ganz langsam ab. Gießt man aber innerhalb des- selben oder eines kleineren Zeitraumes, als der ın dem der Stand sich vielleicht um 1 cm gesenkt haben würde, eine beträchtliche Wassermasse ein, so erhält man eine viel größere Senkung. Fährt man mit dem Nachfüllen immer weiter fort, so kommt es schließlich zum Zerspringen der Blase, ohne dass der Druck die anfängliche Höhe wieder erreicht. Wenn man dagegen, auch nach- dem man die Füllung so weit getrieben hat, dass eine deutliche Abnahme des Druckes zu bemerken war, die Blase entleert, so kann man den Versuch beliebig oft wiederholen, und wird jedesmal zıemlich genau die gleiche Steighöhe für den gleichen Füllungsgrad wiederfinden. Dies ıst ein Beweis, dass die Blase ihre Eigenschaften während des Versuchs nicht geändert hat. Dieser höchst einfache Versuch zeigt also, dass sich eine Gummiblase sehr annähernd so verhält, wie nach der theoretischen Betrachtung zu erwarten war. Der Hauptunterschied besteht darin, dass der Druck beı zunehmender Füllung abnımmt statt gleich zu bleiben. Beruhte dies einfach auf Nachdehnung, so wäre weiter nichts zu sagen. Die eben angeführten Umstände zeigen aber, dass die Nachdehnung an der Abnahme des Druckes nur einen ganz geringen Anteil haben kann. Um dies genauer zu untersuchen, ge- nügt die beschriebene Versuchsanordnung nicht, weil offenbar das Eingießen des Wassers von oben durch Anprall auf die Spannung der Blase wirken könnte. Wenn man nun außer der Steigröhre noch eine Zuleitungsröhre anbringt, durch die das Füllungswasser einläuft, so sieht man noch deutlicher wie vorher denselben Vor- gang: Mit zunehmender Füllung steigt der Druck erst schnell, dann immer langsamer bis zu einer gewissen Höhe, um dann bei weiterer Füllung gleichzubleiben, oder, in den meisten Fällen, etwas abzusiken. Diese Anordnung hat den großen Vorzug, dass man nun auch die Umkehrung des Vorganges beobachten kann. Dabei kommt es zu einer höchst auffallenden Erscheinung, die der Vorstellung, dass der Binnendruck der Wandspannung proportional sei, geradezu ins 816 du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung ete. Gesicht schlägt, im Lichte der oben entwickelten Theorie aber voll- kommen verständlich ıst. Diese Erscheinung eignet sich daher ganz besonders, als Korollar der obigen Erörterungen hervorgehoben zu werden. Lässt man nämlich, nachdem die Blase so weit gefüllt worden ist, dass der Druck schon, wie oben geschildert, um ein gutes Stück abgesunken ıst, das Füllungswasser ablaufen, so sieht man den Druck statt abzunehmen, bei geringer werdenden Inhalt der Blase, also bei abnehmender Wandspannung, deutlich ansteigen. Erst wenn die Blase eben ım Begriff ıst zusammenzufallen, fällt auch ganz plötzlich das Wasser ın der Steigröhre auf den Stand des Umgebungswassers ab. Um Störungen durch Wasserdruck und Strömungsverhältnisse auszuschalten, ging ich endlich zur Aufblähung mit Luft über. Da 11 Figur 4. 10 Korollarversuch über die Beziehung der Wandspannung zum Binnendruck in elastischen Blasen. A. Kurve : des Durchmessers einer aufgeblasenen und sich entleerenden Gummiblase. 8 B. Kurve des den Binnendruck an- zeigenden Quecksilbermanometers. 7 Von links nach rechts zu lesen. Beim Durchmesser 11 cm beträgt der Rn Druck 21 mm Hg; während der Durch- a messer auf 6,5 cm sinkt, steigt der oe Druck auf 23mm Hg und fällt dann plötzlich auf Null. B Druck in mm Hg. Dauer °/, Min. größere Änderungen des Druckes nur eintreten, während das Volum der Blase noch klein ıst, kann die Kompressibität der Luft kaum störend in Betracht kommen. Es wurde eine ganz dünne Gummi- blase, wıe sie mit Wasserstoffgas gefüllt als Kinderspielzeug käuf- lich sınd, mit einer Luftflasche verbunden und aus dieser die Luft durch Wasserdruck ın die Blase eingetrieben. Durchmesser der Blase und Druck wurden unverändert oder durch Hebelübertragung in geeignetem Größenverhältnis auf der Schreibtrommel verzeichnet. Es zeigte sich ın allen Fällen bei der Füllung das zuerst be- schriebene Verhalten des Druckes: Erst rasches Ansteigen bis zu einer gewissen Höhe, dann etwas langsameres Fallen das allmählich in gleichmäßigen Stand übergeht. Wurde dann die Luftleitung geöffnet, so fiel die Blase fast augenblicklich zusammen, was als re du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannuug ete. 817 Beweis angesehen werden kann, dass die Reibungswiderstände der Luft ın den Röhren keinen merklichen Einfluss haben konnten. Um die Veränderungen von Druck und Volum auch bei der Ent- leerung beabachten zu können, musste daher der Luftschlauch nur ein klein wenig geöffnet werden, so dass die Luft langsam entwich. (Vgl. Fig. 4.) Dabei zeigte sich, dass der Druck mit abnehmendem Volum bis fast zum letzten Augenblick auf der gleichen Höhe blieb und in allen den Fällen, in denen die Blase sich nicht allzu langsam entleerte, mit abnehmender Füllung ein wenig anstieg. Die Zahlenverhältnisse waren beispielsweise bei schnellem Auf- treiben der Blase mit dem Munde, und möglichst genau ent- sprechender Entleerung, bei der die Weite des Ausflussschlauchs durch Fingerdruck geregelt wurde. Füllung. Zeit Durchmesser Barometerstand 0 Sek. 55 mm 0 mm 30,5; Me Min. 1Min. 20 „ LanErn 12R7,; Entleerung. Zeit Durchmesser Barometerstand 0 Sek. 127 mm 12 mm SO) FEr 100 5; One 1 Min. Ro Ir 1 RE Na 3 Dre 05% Ein anderer Versuch stellte sich folgendermaßen dar: Die Ver- größerung des Durchmessers wurde durch Hebelübertragung im Verhältnis 19:26 verkleinert aufgetragen, der Stand des Queck- silbermanometers im Verhältnis 24:5 vergrößert. 16 Sek. nach dem Beginn der Füllung hatte der Durchmesser von 7 cm auf 8 cm zugenommen, zugleich hatte der Druck mit 9,5 mm Hg sein Maximum erreicht. Nach 2 Min. 25 Sek. war der Durchmesser auf 11 cm angewachsen, der Druck hatte sich inzwischen um etwa 1 mm gesenkt und dann wieder um 0,5 mm gehoben, war aber im wesentlichen gleich geblieben. ; Das Ergebnis der praktischen Beobachtungen ist also, dass sich dünne Gummiblasen so annähernd verhalten, wie die theoretisch angenommene vollkommen elastische Blase. Der Hauptunterschied liegt darin, dass mit zunehmender Dehnung der Druck nicht gleichbleibt, sondern abnimmt. Da der Druck von der Spannung der Wand abhängt, so deutet dies darauf hin, dass die Spannung der Wand nicht proportional der Dehnung, sondern in geringerem Grade zunimmt. Das heißt für gleiche Zunahme der Längsdehnung muss die Gummimembran nicht gleiche, sondern immer kleinere Zunahme der Spannung aufweisen. Oder, umgekehrt XXVL 52 S1S du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung ete. gesprochen, bei gleichen Zunahmen der dehnenden Kraft wird die Membran in zunehmendem Grade ausgedehnt werden. Dies bestätigt sich beim Versuch. Schneidet man aus den Gummiblasen Streifen aus und misst ihre Dehnung bei verschiedenen Belastungen, so findet man stets für die größeren Belastungen un- verhältnismäßig größere Verlängerungen. Durch diese Eigenschaft der Gummihaut, zusammen mit dem, was oben über die Beziehungen zwischen Wandspannung und Binnen- druck gesagt worden ist, ist das Absinken der Druckkurve erklärt. Wenn, wie für die vollkommen elastische Blase gezeigt worden ist, bei einer Blase, deren Spannung genau proportional zur Aus- dehnung wächst, der Binnendruck bei zunehmender Ausdehnung BARS Figur 5A. 13 m Verkleinerung auf '/,. Oben Kurve der Zu- 320mY20 nahme des Durch- messers, von 8 cm bis auf 13 em, unten Kurve des den Binnendruck anzeigenden Queck- silbermanometers. En Dauer des Versuchs oe 1 Min. 45 Sek. Figur 5B. Kurven des Durchmessers und —_——) Druckes unter denselben Bedingungen wie in A während der Entleerung der Gummiblase aufgenommen. Dauer 1Min, eleich bleibt, so muss er für eine Blase, deren Spannung in ge- ringerem Maße zunimmt wie ihre Ausdehnung, mit zunehmender Füllung abnehmen. Man kann nun für eine gegebene Blase, für die man die Kurve des Druckes bei zunehmender Füllung festgestellt hat, auch die Kurve der Spannung bei zunehmender Dehnung messen, und auf diese Weise prüfen, wie weit die theoretisch entwickelte Beziehung zwischen Längsspannung der Wand und Größe des Binnendrucks mit dem wirklichen Befund übereinstimmt. In dem oben mitgeteilten Versuch stieg das Manometer, während der Durchmesser der Blase vom Anfangswert 7 cm auf 8cm zunahm, von O0 auf 9,5 mm Quecksilber. Dies würde einer Druckhöhe von du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung ete. 819 126,6 em Wasser gleichkommen. Der Druck blieb dann fast genau derselbe, während der Durchmesser bis auf 13 em zunahm. Nach diesen Angaben lässt sich dieWandspannung aus der oben entwickelten Formel wie folgt berechnen. Die Formel lautet: 1r—0 wo d der Binnendruck in Zentimetern Wasserhöhe, g der An- fangsradius, r der Radius der gedehnten Blase in Zentimetern, @ dasjenige Gewicht in Grammen, das einen Streifen der Blase von 2 ro cm Länge und 1 cm Breite um 1 cm dehnt. Setzt man die obigen Werte, da es sich nur um einen Überschlag handelt, in abgerun- deter Form ein, so hat man d=Anr Fig. 6. 0 50 100 150 200g 250 27 —=4-.3. N 27-8 12 Da nun die Dehnung jedes Streifens von 1 cm Breite und 2x o Länge nicht 1 cm, sondern 2a r—2 ro betrug, muss, um die Wandspannung zu finden, Q mit 2 ar—2 no —2n (4-35) —=nr multipliziert werden, und es ergibt sich eine Wandspannung von 54 g auf jeden Streifen von 1 cm Breite. Führt man dieselbe Rechnung für die stärker ausgedehnte Blase aus, so gelangt man zu d.h. — Q) oder W) li leR 6.5 5,5 N 2 EN Sad 4 B) 6,9 Q, 27.65 176 aa, 736 Da die Dehnung wiederum 2 x (r—o) cm ausmacht, also in diesem Falle 2 r N Dehnungskurven von Gummi- (6,5—3,5) oder 6 cm, ist @ mit 67 ZU streifen, die aus der Wand der Ver- nultıplzieren, .'s0.,dass sich"'.eine ;\Wand-., "uchehlasen geschnitten waren, De} zunehmender Belastung. spannung von 92 g ergibt. Bei dieser Rechnung muss auffallen, dass sich zwei so durchaus verschiedene Werte für Q ergeben. Wenn man den ersten Wert, Q=18, in die zweite Rechnung als gegeben einsetzt und den Wert des Binnendrucks danach berechnet, so wird d = 100. Setzt man den zweiten, Q = 4,9, in die erste Rechnung ein, so erhält man d—= 1. Diese Verschiedenheit der Werte von @ entspricht also der 52* 890 du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen W andspannung etc. Eigentümlichkeit der Gummiblase, bei zunehmender Ausdehnung leichter dehnbar zu werden. Um eine vollkommen elastische Blase mit der Versuchsblase vergleichen zu können, müsste man für diese einen mittleren Dehnbarkeitswert Q, etwa Q@ = 10 annehmen, und würde dann, fürrr =4d=15,für r—= 6,5,.d—=55 finden. Dass man in Wirklichkeit d für beide Größen nahezu gleich findet, ist ein Zufall, der davon abhängt, in welchem Grade die allmähliche Druckzunahme, die in einer vollkommen elastische Blase mit end- licher Anfangsgröße stattfinden würde, dureh die zunehmende Dehn- barkeit des Gummis ausgeglichen wird. Man findet denn auch mitunter Gummiblasen, deren Druck- kurve innerhalb der Grenzen des Versuchs dauernd, aber immer langsamer steigt, ganz wie die theoretisch. für die vollkommen elastische Blase mit endlicher Anfangsgröße angegebene Kurve. Es bleibt noch zu untersuchen, wie weit die ın obiger Rechnung gefundenen Werte mit den beobachteten Elastizitätsverhältnissen der Gummihäute übereinstimmen. Dehnungsversuche an ausge- schnittenen Streifen der Versuchsblase sind allerdings wenig zuver- lässig, weil es fast unmöglich ist, die Breite eines Streifens genau anzugeben, und weil das Material erhebliche Ungleichmäßigkeiten zeigt. Aus einer größeren Anzahl von Messungen lässt sich schließen, dass für Streifen von 1 cm Breite schon eine Last von 10 g genügt, um eine Verlängerung um 4°/, hervorzubringen. Das entspräche einer Dehnung von !/,, der Länge, während oben für die Dehnung eines Streifens von 22 cm Länge um 1 cm Q=185g gefunden wurde. Dies entspricht für eine Dehnung von 4°/, einer Last von 16 g, statt deren beim Versuch am Streifen nur 10 g gefunden wurden. Für Dehnungen von über 100°/, sind die am ausgeschnittenen Streifen gefundenen Werte umgekehrt höher, als sie in der Rechnung gefunden werden. Ein ausgeschnittener Streifen von 1 cm Breite verlängert sich erst bei 125 g Belastung um 100°/,. Der Streifen von 22 cm würde also bei 125 g um 22 cm länger geworden sein, und um 1cm bei 125:22g—=5,7g. Es ıst also gegenüber Q = 4,9 in der Rechnung beim Versuch @ = 5,7 8. Diese Unterschiede führen zur Betrachtung eines Umstandes, der im Vorhergehenden vernachlässigt worden ıst. Während der ganzen Berechnung ist an der Voraussetzung festgehalten, dass die Dehnung in der Längsrichtung eines Streifens durch die gleichzeitig auftretende Querdehnung nicht beeinflusst würde. Diese Voraus- setzung trifft in Wirklichkeit nicht zu. Im Gegenteil kann man sich leicht überzeugen, dass durch gleichzeitige Querspannung der Widerstand gegen die Dehnung erhöht wird. Genauere Versuche an ausgeschnittenen Stücken Gummiblase anzustellen ist nicht ganz einfach. Ich habe mir daher vorläufig mit emigen gröberen Proben genügen lassen müssen. Ein Quadrat von 4 cm Seitenlänge, aus ee r du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung ete. 821 einer etwas gröberen Membran geschnitten als die, aus der die Versuchsblasen bestanden, wurde an allen vier Ecken mit Leim zwischen gefaltete Papierstücken gefasst und in Klammern befestigt. Es wurden dann die Verlängerungen in der Richtung der einen Diagonale bei bestimmten Belastungen gemessen und mit den Ver- längerungen verglichen, die sich bei denselben Belastungen ergaben, wenn gleichzeitig in der 2 anderen Diagonale eine starke Querspannung 3 ausgeübt wurde. DieVerlängerungen im zweiten | Falle zeigten sich im ganzen vermindert. Die verhältnismäßige Zunahme der Dehnungen mit steigender Last war aber bei gleichzeitiger 0 so 100 150 200 { @Querspannung vergrößert. ‘Figur 7. Dehnungskurve Bei der Aufblähung einer Gummiblase einen quadratischen Stlickes aus N Br: k E #" er Wand einer Gummiblase in findet nun natürlich zugleich mit der Längs- aer Richtung der Diagonale bei dehnung jedes Streifens Querdehnung statt. en Male Es ist also klar, dass für die Beurteilung des aingungen. AA, Dehnung bei Versuches diejenigen Dehnungswiderstände a ” in Betracht gezogen werden müssten, die sich bei gleichzeitiger Längs- und Querdehnung ergeben würden. Es ist nun verständlich, warum sich aus der beobachteten Druck- höhe beim Auftreiben der Blase eine größere Wandspannung gefunden hat, als beim Versuch am ausgeschnittenen Streifen. Und es ist ferner zu erklären, dass der gefundene Unterschied bei den höheren Graden der Dehnung kleiner sein wird, als bei dem geringeren. Freilich bleibt der Widerspruch bestehen, dass bei der größeren Dehnung die Wandspannung beim Aufblasen sogar kleiner gefunden wird, als beim Versuch am Streifen. Man muss also, was auch wohl zu verstehen ist, annehmen, dass dieser Unterschied in die Fehler- grenzen der Beobachtungen fällt. 111. Es ist im ersten Abschnitt gezeigt worden, dass eine unendlich kleine Blase, deren Wand bei gleichförmiger Ausdehnung in immer gleichem Maße an Spannung zunimmt, bei jedem Grade der Dehnung genau den gleichen Binnendruck hat. Eine Blase von der gleichen Art, die eine gewisse Anfangsgröße'hat, zeigt dasselbe Verhalten, sobald die in Betracht gezogene Dehnung so groß ist, dass die Anfangsgröße gegenüber der Größe der gedehnten Blase vernachlässigt werden kann. Alsdann verhält sich die vollkommen elastische Blase von endlicher Anfangsgröße wie die von unendlich kleiner Anfangsgröße, d. h. der Druck steigt bei zunehmender Dehnung nicht weiter. Für Gummiblasen von endlicher Anfangsgröße ist gezeigt worden, dass sie sich annähernd so verhalten wie vollkommen elastische —>Belastfun g 892 du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. Blasen. Der Druck steigt bei zunehmender Dehnung zuerst an, wie es für die vollkommen elastische Blase von endlicher Anfangsgröße zutrifft, die Dehnung läßt sich aber so weit treiben, dass die Anfangs- größe gegenüber der Größe der gedehnten Blase verschwindend klein ist; der Druck nimmt dann bei weiterer Dehnung nicht mehr zu. Bei Gummiblasen findet man ferner im den meisten Fällen Abnahme des Druckes mit wachsender Dehnung, weil die Wand der Gummiblasen mit zunehmender Dehnung leichter dehnbar wird. Für die organischen Hohlgebilde ist aus diesen Angaben Fol- gendes abzuleiten: 1. Die Beziehung zwischen Druck und Wandspannung im all- gemeinen muss dieselbe sein, wie sie für die vollkommen elastische Blase theoretisch entwickelt worden ist. Wenn zunächst kugel- förmige organische Hohlgebilde in Betracht gezogen werden, so muss die Wandspannung längs des Umfanges dem Binnendruck auf den Flächeninhalt des Umfanges gleich sein. Schon gegen diesen Grundsatz wird an vielen Stellen der phy- siologischen Literatur verstoßen, indem angegeben wird, der Druck sei der Wandspannung proportional. So sagt Kelling!), indem er Druck und Wandspannung einfach identifiziert, „von der Nullkapizität [so nennt Verfasser das, was im obigen als „Anfangsgröße“ bezeichnet ist] an steigt der Druck inner- halb einer bestimmten Dehnungsgrenze proportional der Ausdehnung der Wand (Hooke’sches Gesetz 1679).* Hierzu ist zu bemerken, dass es allerdings auf die Grenze an- kommt, innerhalb deren man den Vorgang betrachten will, denn für ganz minimale Dehnungen fallen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Proportionalverhältnissen in die Fehlergrenzen, und man kann dann eben nur sagen, dass mit der Dehnung auch der Druck steigt. Aus den weiteren Angaben Kelling’s geht indessen hervor, dass er diese Grenzen gar nicht im Sinne hat, und dass vielmehr seine eigenen Beobachtungen an Gummiblasen seinem oben angeführten Satze aufs deutlichste widersprechen. Das Hooke’sche Gesetz sagt übrigens über Binnendruck in Blasen gar nichts aus. Dagegen gibt Kelling in emigen anderen Sätzen wenigstens eine Andeutung richtigerer Auffassung, indem er sagt: „Der Druck ist ferner proportional der Oberfläche, wächst also quadratisch — und: „Die Spannung der Oberfläche ist nur das Multiplum (#. Con- stans) der linearen Dehnung.“ „Es kann sich infolgedessen ereignen, dass der Druck bei steigender Ausdehnung sogar sinkt.“ Weiter unten lässt aber Verfasser diese ganz richtige Betrachtung beiseite, und nımmt, um die Abnahme des Druckes bei wachsender Dehnung zu erklären, seine Zuflucht zu angeblichen Zustandsänderungen im Gummi. 2. Bei der Beurteilung der Dehnung organischer Blasen muss 1) Zeitschr. f. Biol. 44, 8. 161. du Bois-Reymond, Über die Beziehungen zwischen Wandspannung etc. 893 ebenso wie bei theoretischer Betrachtung vollkommen elastischer Blasen unterschieden werden zwischen denjenigen Fällen, in denen die Dehnung soweit geht, dass die Anfangsgröße gegen die Größe der gedehnten Blase verschwindet, und denjenigen Fällen, in denen die Anfangsgröße durch die Dehnung nicht wesentlich vermehrt wird. a) Das erste trifft beispielsweise für die Dehnung der Blase oder des Magens zu, die bis auf das vielfache ihres Anfangsdurch- messers gebracht werden können. Diese können für alle größeren Dehnungsgrade mit der unendlich kleinen vollkommen elastischen Blase verglichen werden und sie werden bei jedem Füllungsgrade denselben Binnendruck aufweisen, vorausgesetzt, dass die Elastizität der Wand sich mit der Dehnung nicht zu sehr ändert. b) Beispiele der zweiten Art sind das Herz, soweit seine elastische Spannung in Betracht kommt, ferner die Fälle der ersten Art bei geringeren Dehnungsgraden, endlich Hydrocelen und ähnliche Gebilde. Hier wird bei zunehmender Füllung der Druck - stark ansteigen, so dass er der Annahme, er sei proportional der Wand- spannung annähernd entspricht. 3. Bei solchen Hohlorganen, die in hohem Grade dehnbar sind, bei denen aber der Einfluss der Anfangsgröße keine wesentliche Rolle spielt, ist der Druck nur dann wirklich konstant, wenn die Spannung der Wand für gleiche Dehnungen um gleiche Beträge zunimmt. Dies ist wie Soßen berchrieben für ai (Grummiblasen nicht der Fall, da sie für größere Spannung immer leichter dehnbar werden; des- halb sınkt en in Gummiblasen der Druck mit zunehmender F vl Für die organischen Gewebe, insbesondere für die Mule gilt nun gerade das Gegenteil wie für die Gummiblasen. Ihre Spannung nimmt mit wachsender Verlängerung immer stärker zu. Infolgedessen werden Hohlorgane aus solchen Gebilden auch unter den Bedingungen, wo bei vollkommener Elastizität der konstante Druck herrschen würde, mit zunehmender Füllung wachsenden Druck zeigen. Man wird also bei der Auftreibung eines solchen Organs ch zu einem konstanten Druck me sondern der zur Aue dehnung erforderliche Druck wird dauernd. immer weiter wachsen. Dieser Fall würde also scheinbar der Annahme entsprechen, dass der Binnendruck direkt von der Wandspannung abhänge und des- halb mit steigender Wandspannung dauernd steige. Da, wie oben’ge- zeigt, bei gleichmäßiger Dehnbarkeit der Wand trotz beliebigen a steigens der Dehnung und Spannung keine Druckerhöhung eintritt, ist in diesem Falle A Drucksteigerung nur ein Ausdruck der Tnsläch. mäßıgkeit der Dehnbarkeit. Ihe Sn. des Druckes, ebenso wie das einken im Fall der Gummiblase, wird daher, im Vergleich zum Anwachsen der Wandspannung selbst, nur ganz geringfügig sein. 4. Außer den Blastizitätsverhältnissen der Wandung oder ihrer Bestandteile kommt bei der Beurteilung der organischen Hohl- 824 Abderhalden, Lehrbuch der physiologischen Chemie in dreißig Vorlesungen. gebilde endlich noch ein Umstand sehr wesentlich in Betracht, der in der theoretischen Erörterung nicht berücksichtigt worden ist, und auch bei den Versuchen an Gummiblasen keine wesentliche Rolle zu spielen scheint. Die Zahl der Muskelfasern, z. B. die die Wand der Harnblase bilden, bleibt dieselbe, gleichviel ob die Blase kon- trahiert oder erschlafft ıst. Es müssen sich also die Fasern über einen viel größeren Raum verteilen, wenn die Blase ausgedehnt wird, und es werden auf den gleichen Raum viel weniger Fasern kommen als zuvor. Aus diesem Grunde ist anzunehmen, dass bei- spielsweise die Blasenwand, obschon die einzelnen Fasern mit zu- nehmender Dehnung immer weniger nachgeben, im ganzen eine zunehmende Dehnbarkeit zeigt. v. Grützner!) hat anatomisch nach- gewiesen, in welch erstaunlichem Grade sich die Muskelfasern in der Wandung gedehnter Hohlorgane verschieben. Auf diesen Beobach- tungen fußend, darf man voraussetzen, dass sich alle organischen Hohlgebilde, die stärkerer Dehnungsgrade fähig sind, wie Gummi- blasen verhalten, das heißt, dass die Wandspannung mit zunehmender Dehnung immer weniger zunimmt, und dass der Binnendruck mithin bei stärkerer Füllung sinken muss. Diese Betrachtung, die ohne weiteres erklärt, warum der Druck ın der Harnblase selbst bei dem höchsten Füllungsgrad den Druck bei mittlerer Füllung nicht übersteigt, müsste allerdings erst durch genauere Untersuchung der Spannungsverhältnisse bestätigt werden. Wenn es der Entschuldigung bedarf, dass ich an dieser Stelle eine Untersuchung veröffentliche, die keine eigentlich biologische Tatsachen, vielmehr rein physikalische Dinge betrifft, so kann ich mich darauf berufen, dass Roy und Adamı in ihrer Arbeit über die Herztätigkeit?) den Wunsch ausgesprochen haben, es möchte die Beziehung der Wandspannung zum Binnendruck Gegenstand genauerer Untersuchung werden. Emil Abderhalden. Lehrbuch der physiologischen Chemie in dreifsig Vorlesungen. Berlin-Wien 1906. Verlag von Urban u. Schwarzenberg. Seit langem wohl hat die physiologische Literatur keine ähn- liche Bereicherung erfahren, wie durch das vorliegende Werk. In 30 Vorlesungen hat Abderhalden den gewaltigen Stoff der physio- logischen Chemie niedergelegt. Es hält schwer, angesichts der Fülle des hier zusammengefassten Materials auch nur annähernd in Kürze über den Inhalt dieses Buches zu berichten. Dem Referenten er- scheint es wichtiger, hier zunächst über das Wesen und die Art 1) Ergebnisse der Physiologie Bd. 2,1. 2) Transact. Royal. Soc. 1892, Vol. 183B, p. 211 Abderhalden, Lehrbuch der physiologischen Chemie in dreißig Vorlesungen. 825 dieser umfassenden Arbeit zu sprechen. Denn es handelt sich hier um ein Buch, das in seinem Gesamtaufbau durchaus eine literarische Neuerscheinung ist. Die Form der Vorlesungen bringt bei einem „Lehrbuch“ für den Autor wie für den Leser viel Dankenswertes. Auf der anderen Seite aber birgt sie die Gefahr in sich, dass dem behandelten Stoff nur allzuleicht die organische Architektur verloren geht. In meisterhafter, man kann sagen künstlerischer Weise hat der Verf. diese Gefahr vermieden, ohne dem Anschaulichen, das diese Form bietet, irgendwie zu entsagen. Die gewaltige Fülle des Tatsachenmaterials ist mit einer er- staunlichen Beherrschung des Stoffes bewältigt. Trotz dieser in- haltlichen Fülle aber wird das Werk nicht die Aufeinanderfolge zahlloser Einzelthemen und Tatsachen. A. ist in der Wahl des rein deskriptiven Materials nicht von dem Gebot des „Erschöpfen- den“ oder des „Verständlichen“ geleitet worden, sondern von dem (Gebot der universellen Bedeutung des zu verwertenden Themas, als dem Glied eines organischen Ganzen. Dieses große Ganze aber ist für den Verf. nicht die von der Physiologie abgetrennte Spezial- wissenschaft der physiologischen Chemie, sondern die über die Physiologie hinaus auf die Erkenntnis der gesamten belebten Welt ausgedehnte, wissenschaftliche Forschung, soweit sie auf chemischer Grundlage ruht. Auf der Basis einer solchen Anschauung ist das Werk aus- gebaut zu einer allgemeinen biologischen Chemie, die Verf. in den letzten Kapiteln in ihren weitesten Konsequenzen verfolgt. Von diesem höheren Gesichtspunkt aus konnte A. das Material sichten und auswählend kritisch beleuchten. Dieser Standpunkt ist zugleich die Quelle für eine Fülle neuer Ideen von allgemeinster Bedeutung. Aber nicht nur in der Wahl des Materials, das durch seine Viel- seitigkeit imponierend wirkt, sondern auch in der dispositionellen Verteilung des Stoffes hat A. seinen kritischen Standpunkt einge- halten. Allgemein gesagt behandeln die Vorlesungen: die Grundsub- stanzen der belebten Welt, die Natur der umgesetzten Stoffe in ihren verschiedenen Durchgangsstadien, und schließlich die Mittel und Wege der Stoffwechselprozesse, d. h. den Mechanismus der Lebenserscheinungen. In einer Einleitung, die an sich ein Meisterwerk plastischen naturwissenschaftlichen Denkens ist, wird das Thema umgrenzt. Schon hier weist Verf. auf die zahllosen Lücken unseres Wissens hin und warnt, die Hypothese an Stelle der Tatsachen treten zu lassen. In allen späteren Kapiteln begegnen wir immer wieder der erstaunlichen Objektivität und Kritik des Verf. Das Fehlen weiterer Spekulation in der Beurteilung dieses vielbearbeiteten Gebiets ist in der physiologisch-ehemischen Literatur der letzten Jahre keine häufige Erscheinung. In den Kapiteln der Grundsubstanzen (Kohlehydrate Vorles. II—-V, Fette etc. Vorles. VI, Eiweißstoffe etc. Vorles. VIL--IX) be- spricht Verf. in übersichtlicher Weise die chemische Natur und das 8265 Abderhalden, Lehrbuch der physiologischen Chemie in dreißig Vorlesungen. Wesen der Substanzen, nicht ohne zahlreiche belehrende Aus- einandersetzungen aus der allgemeinen oder speziellen Chemie (Stereoisomerie, Asymetrie, Konstitution u. s. f.). Die Bedeutung und physiologische Dignität wird im einzelnen erläutert, indem A. die Beispiele nicht nur der Welt der höher organisierten Lebe- wesen entnimmt, sondern vielfach an niederen Organismen oder an der Pflanzenwelt durchführt. Der mehr oder weniger deskriptiven Darstellung der drei Hauptnahrungsstoffe folgt jeweils ein Kapitel, das den Abbau und Aufbau im tierischen und pflanzlichen Organismus behandelt (Kap. IV, XXI). A. löst also die Fragen des Gesamtstoffwechsels in die drei Einzelfragen nach dem Stoffwechsel der Zucker, Fette und Proteine. Durch diese getrennte Darstellung der gleichzeitig ver- laufenden Prozesse gewinnt das Verständnis des Lesers ungeheuer. Wir begleiten so jede einzelne Gruppe „auf ihren Resorptions- wegen bis zu ıhren Assımilationsstätten und lernen ihre Beziehungen zu den einzelnen Organen“ kennen. So wird eine exakte Grund- lage geschaffen, die die bereits ın diesen Kapiteln behandelten Stoffwechselstörungen: Diabetes, Adipositas, Alkaptonurie, Zystinurie ın klareren Umrissen erkennen lässt. Denn die Erkenntnis der patho- logischen Beziehung wird nur durch die physiologische Grundlage ermöglicht, nicht umgekehrt. Sıcher aber sınd es nicht nur didaktische Rücksichten, die den Verf. zu der Angliederung dieser Stoffwechselkapitel an die Besprechung der Einzelstoffe geführt haben. Jener oben geschilderte (esichtspunkt emer Verallgemeinerung der ım Einzelfall gemachten Erfahrungen tritt hier klar zutage und vermittelt uns die Schulung eines richtigen physiologischen Denkens. So benützt Verf. das Kapitel des Kohlehydratstoffwechsels zu einer meisterhaften Schilde- rung über den Kreislauf des Kohlenstoffes in der belebten orga- nischen Natur, das Kapitel des Proteinstoffwechsels im gleichen Sinn für das Studium der Stickstoffquellen und Kreisprozesse. Hier wie dort wird auf die wunderbare Symbiose der Tier- und Pflanzen- welt in der Synthese und Assımilation hingewiesen. Von den ein- facheren Verhältnissen ausgehend gewinnt das Verständnis und Interesse an dem normalen (Glyeogen) und pathologischen Zucker- stoffwechsel (Glycosurie) sowie an den Stoffwechselendprodukten der Proteine (Kap. XII). Das 14. Kapitel, zu dem den Verf. nicht nur die subjektive kritische Sichtung und sein eminentes Wissen, sondern seine reichen experi- mentellen Erfahrungen befähigen, behandelt die Eiweißkörper. Hier dürfte das Beste und Kritischste über die Proteinchemie der Lite- ratur gegeben sein. A. verlässt das bisher übliche System der Ein- teilung der bekannten Proteine, die er im einzelnen nur nach ihrer Gruppenreaktion beschreibt, wohl mehr ın Konzession an die historische oder sprachlich notwendige Klassifikation. In den Vorder- grund rückt er die einzelnen Bausteine und die Bindungsformen der Bausteine miteinander. Das Kapitel der Eiweißsynthese, das in dieser Zeitschrift bereits referiert ist, die Summe der bedeutungs- vollen Arbeiten E. Fischer’s über die Klasse der Polypeptide, ıhr Abderhalden, Lehrbuch der physiologischen Chemie in dreißig Vorlesungen. 897 Verhalten zu den Fermenten, im Organismus u. s. w. findet von berufenster Stelle eine lichtvolle Darstellung. In den Kapiteln des Eiweißstoffwechsels findet der Leser wohl die größte Fülle neuer Ideen. A. verteidigt auch hier seine mehrfach vertretene Ansicht von dem weitgehenden Abbau im Verdauungskanal und hebt die Bedeutung der Verdauung für die Umwandlung körperfremden Eiweißes zu körpereigenem hervor. Kap. XV behandelt die Nukleoproteide und deren Spaltungs- produkte, die besonders für den Kliniker beim Studium der Gicht mancherlei Unbekanntes enthalten. Die im einzelnen dargestellten Nahrungsstoffe, Fette, Kohlehydrate und Eiweiß werden im folgenden Kapitel in ihren Wechselbeziehungen zusammengefasst, das Gesetz der Isodynamie kritisch besprochen und die wichtige Frage nach dem Uebergang eines dieser drei Stoffe in einen anderen diskutiert und durchaus im positiven Sinn beantwortet. So bildet diese Zu- sammenfassung die Brücke zu den späteren Kapiteln des Gesamt- stotfwechsels. Es folgt die Besprechung der anorganischen Nahrungsstoffe, indem besonders die lichtvolle und energisch-kritische Darstellung der Bedeutung des Eisens im Haushalt des gesunden oder kranken Körpers erwähnt sei. Verf. weist hier scharf auf die Beziehungen des Hämoglobins zum Chlorophyll der Pflanze hin. Mit dankens- werter Offenheit deckt hier A. die Lücken unseres Wissens in der Eisentherapie der anämischen Chlorose auf, indem er z. B. darauf hinweist, dass in dem kohlenstoffreichen, großen Hämatinmolekül das Eisen nur einen locker gebundenen Bruchteil ausmacht, d. h. der kohlenstoffreichen Komponente bis jetzt keine Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde. In engerem Zusammenhang stehen die folgenden Vorlesungen (Kap. XVIII—XX), indem bei den Prozessen der tierischen Oxy- dation die für dieselbe postulierten Sauerstoffüberträger und die ihnen verwandten Oxydasen und Katalasen zu der Frage der Fer- mente (Kap. XX) führen. Gerade diese beiden Kapitel müssen dem Biologen reiches und chemisches Material für neue Frage- stellungen liefern, nachdem durch den Verf. mit Hilfe der Peptide ein Mittel an die Hand gegeben ist, z. B. die proteolytischen Fer- mente in ihren Funktionen und Intensitäten feiner zu differenzieren. Die weitere dispositionelle Anordnung des Werkes entspricht durch- aus dem physiologischen Ablauf der Stoffumsetzungen. Kennen wir bis jetzt die Nahrungsstoffe und die Umwandlungen, die sie erfahren, so folgen die Agentien, welche diese Umsetzungen voll- ziehen. Im weiteren lernen wir die Organe kennen (Kap. XXI—- XXI), an die diese Vorgänge lokal gebunden sind. Nach einer klaren Schilderung der sekretorischen Darmfunktion, speziell der Pawlow’- schen Experimentalergebnisse wendet sich Verf. der wichtigen Frage ‘der Resorption und Assimilation zu. Hier begegnen wir wieder einer ganz neuen subjektiven Darstellung. Verf. stellt sich durchaus auf den Standpunkt einer an der Resorption aktiv in ganz bestimmter Richtung beteiligten Zell- funktion. Die Resorption der Zelle vergleicht er mit der Sekretion, S2S Rosenthal, Beiträge zur Bekämpfung des Typhus im Deutschen Reiche. wobei im letzten Fall die Zelle ein Material dem Blut, im ersteren dem Darminhalt entnimmt. Dieser Gedanke wird in geistvoller Weise ausgeführt. Für diesen Vorgang werden aber keine unbekannten Kräfte in Anspruch genommen, sondern A. vermutet in den Zellen eine der Fermentwirkung ähnliche Konfiguration, die auf die ihr zuge- führten Substanzen spezifisch eingestellt ist. In Konsequenz der Anschauung, dass eine fortschreitende Resorption mit einer sofort einsetzenden Synthese verknüpft ist, verlegt A. die wesentlichen Pro- zesse der Eiweißsynthese i ın dıe Dar Inwand. Auch die Bedeutung der Verdauung wird in ein neues Licht gerückt, da ihr nach den "Aus- führungen A.’s ein wesentlicher Anteil an der Assimilation körper- fremden zu körpereigenem Eiweiß zukommt. Aus dem sehr originellen Kapitel XXVI (die Beziehungen der einzelnen Organe zienänder): ın dem auch die Fragen der inneren Sekretion kritisch beleuchtet werden, erhellt wiederum das ver- dienstliche Bestreben des Verf., die Tatsachen unter gemeinsame biologische Gesichtspunkte zu bringen. Kap. XXVII—-XXVIII enthält das Bild des Gesamtstoffwechsels in klarer und prägnanter Darstellung. Zum Schluss folgen zwei Kapitel „Ausblicke“, ım denen A. unter Erklärung der modernen biologischen Forschung und der Ehrlich’schen Lehre die Konsequenzen seiner Lehre zieht und ın geistvoller Weise über die Fragen der Erhaltung der Art und der Vererbung spricht. Auch diese Begriffe werden dargestellt als einer chemischen Erklärung zugänglich. Auch hier verlässt A. den Boden des experimentell Erhärteten nicht und führt uns mit diesen Aus- blicken nicht in das Land der Bau u gellen Hypothese oder Speku- latıon. Dieses Werk, das vorzügliche Literaturangaben enthält, wird inhaltlich sicher jedem, der an naturwissenschaftlichen Fortschritt aktıv oder passiv teilnimmt, eine Fülle von Neuem und Unbekanntem bringen. Es wird aber auch durch seine scharfe Kritik der Anlass mancher Nachprüfung und neuen Fragestellungen werden und durch diese Wirkung den Wert eines „Lehrbuches* weit übersteigen. F. Samuely. Br zur Bekämpfung des Typhus im Deutschen Reiche. Arbeiten aus dem kais. Gesundheitsamte, 24. Bd., 1. H., Berlin 1906. Die in vorliegendem Hefte vereinigten Arbeiten sind natur- gemäß im wesentlichen nur für Hygieniker und Aerzte wichtig. Aber einige Punkte ın der modernen Lehre von der Verbreitung des Typhus, die in Aufsätzen dieses Heftes behandelt werden, werden auch die Biologen im allgemeinen interessieren Die Arbeiten sind fast alle hervorgegangen aus den mit Mitteln des Reiches ausgestatteten „Typhusstationen“ m den links- rheinischen Gebieten des Reiches. Nach dem Plane von Robert Koch ist in diesen Provinzen, die seit langer Zeit vom Unterleibs- Rosenthal, Beiträge zur Bekämpfung des Typhus im Deutschen Reiche. 899 typhus durchseucht sind, eine planmäßige Bekämpfung desselben von Reichs wegen unternommen worden, die es sich zum Ziele setzt, in jedem einzelnen zur Kenntnis der Behörden kommenden Fall den Wegen der Infektion nachzugehen und sie abzugraben. Bekanntlich hat bis in die letzte Zeit ein lebhafter Streit geherrscht zwischen der Pettenkofer’schen und der Koch’schen Schule über die Verbreitungsweise des Typhus. Ersterer hatte aus der zeit- lichen und örtlichen Verbreitung des Unterleibstyphus den Schluss gezogen, dass dem Erdboden bei der Verbreitung desselben die allerwichtigste Rolle zukomme. Daraus folgerte er, dass in erster Linie der Baugrund der Städte durch zweckmäßige F ortschaffung des Abfalls und der Exkremente vor Verunreinigung geschützt und, da dies doch nicht vollkommen möglich sei, in zweiter Linie für reines, aus unbewohnten Gegenden stammendes Trinkwasser ge- sorgt werden müsse. Der große Erfolg der hierauf gerichteten hygienischen Maßregeln schien die Berechtigung der Anschauungen Pettenkofer’s zu erweisen. Demgegenüber vertrat Robert Koch, seitdem das Typhusbakterium bekannt war, die Anschauung, dass das wesentliche die Uebertragung dieses Bakteriums auf allen mög- lichen Wegen, auch direkt vom Menschen auf den Menschen, sei und dass mit der Sanierung des Bodens allein der Typhus nicht ausgerottet werden könnte. Aus diesen Anschauungen entsprang auch sein Plan zur Typhusbekämpfung, wobei er zugleich voraus- setzte, dass, ähnlich wie er und seine Schüler für die Cholera und die Malaria nachgewiesen hatten, es die leicht und nicht unter den typischen Erscheinungen erkrankten Menschen seien, die in vielen Fällen die Infektionskeime weiter verbreiteten. Diese Ansicht ist durch die Arbeit der Typhusstationen, die auch ein glänzendes Zeugnis für den Wert einheitlich, fast militärisch organisierter wissenschaftlicher Forschung darstellt, in vollstem Maße bestätigt worden. Aber die Verhältnisse sind doch bei dem Typhus noch etwas andere als bei Cholera und Malaria: hier sind ‘es nämlich nicht nur die leicht aber frisch erkrankten Personen, besonders Kinder, die die Krankheit verbreiten, sondern ein kleiner Teil der Genesenen. Es hat sich herausgestellt, dass manche von diesen Monate, ja Jahre lang Typhusbakterien mit ihren Abgängen aus- scheiden können, während sie selbst durchaus gesund sind. In manchen dieser Fälle finden sich die Krankheitserreger in so großer und vorherrschender Zahl in den Darmentleerungen, dass sie die in der Norm dort vorherrschenden, ihnen systematisch sehr nahe stehenden Kolibakterien verdrängt und gewissermaßen ersetzt haben. In anderen Fällen, in denen sie in verhältnismäßig ge- ringer Zahl neben jenen, aber ebenso andauernd sich finden, ıst es nach den Untersuchungen von Forster und Kayser in Straß- burg höchst wahrscheinlich, dass sie dauernde, und zwar häufig gar nicht lästige Bewohner der Gallenblase geworden sind und von hier aus mit der Galle in den Darm und die Exkremente gelangen. Kayser veröffentlicht in dem vorliegenden Heft eine Reihe von Beobachtungen, die beweisen, dass solche Personen, die als Bazillen- träger oder Bazillenausscheider bezeichnet werden, tatsächlich im 830 Rosenthal, Beiträge zur Bekämpfung des Typhus im Deutschen Reiche. Verlauf längerer Zeiträume wiederholt auf Hausgenossen oder, durch Vermittlung von Milch, die durch ihre Hände gegangen ist, auch auf andere Personen den Typhus übertragen können. Durch solche Erfahrungen werden die älteren Erkenntnisse, dass große Epidemien durch verunreinigtes Trinkwasser hervor- gerufen und dieses zuweilen vom verseuchten Boden her infiziert wird, natürlich nicht umgestoßen. Aber da nach allen experimen- tellen Erfahrungen die Typhusbakterien in Wasser und Erde zu- letzt immer von den unschädlichen Bakterien überwuchert und unterdrückt werden, blieb das immer wiederholte Auftreten der Krankheit in einmal durchseuchten Bezirken rätselhaft; nun wissen wir, dass die Krankheitskeime ım Menschen selbst ihren dauernden Sıtz haben, von dem aus sıe auf den verschiedensten Wegen sich weiter ausbreiten können. In biologischer Hinsicht aber scheint dies Ergebnis auch höchst bedeutungsvoll: wır kennen die Typhusbakterien als Erreger einer höchst heftigen, in ıhrem Verlauf sehr charakteristischen Krankheit. Nicht ohne Grund hat man eine solche Krankheit als einen Kriegs- zustand des Organısmus gegen die in ıhn eingedrungenen Krank- heitskeime aufgefasst; wır beginnen eben jetzt die zahlreichen Waffen, mit denen ın diesem Kampf die Bakterien die Körper- zellen und diese jene zu schädigen und sich selbst zu verteidigen suchen, kennen zu lernen: die Toxine, Hämolysine und Endotoxine der Bakterien, die Antitoxine und Bakteriolysine des Körpers, die Rolle der Phagozyten als Schutztruppen des Metazoon und die be- sondere Widerstandskraft der Bakterien, die wır als ihre Virulenz bezeichnen und wie alle die speziellen Definitionen und Bezeich- nungen auf diesem vielbeackerten Gebiet noch heißen. Bei dem Typhus als einer akuten Krankheit kannten wir bisher nur zweierlei Ausgänge: entweder unterlag der Organısmus den Bakterien und ging zugrunde, oder er siegte und entledigte sich dann seiner Feinde: der Ausgang in einen chronischen Krankheitszustand, wie er bei vielen anderen Bakterieninfektionen häufig eintritt, kommt beim Typhus nicht vor. Und nun lernen wir einen vierten mög- lichen Ausgang kennen: es wird gewissermaßen ein ehrlicher Friede geschlossen zwischen Mensch und Typhusbakterien, beide existieren miteinander, ohne sich zu beeinträchtigen. Ja, man könnte in ge- wissem Sinne von einer Symbiose reden: denn für die gesunden Bazillenträger sind die von ihnen beherbergten Typhusbakterien augenscheinlich nicht schädlich, diese aber haben große Vorteile; außer geeigneter Temperatur und Nahrung zu unbegrenzter Ver- mehrung wird ıhnen Gelegenheit zur Weiterverbreitung auf andere empfängliche Wirte geboten. Dass dabei die Bakterien ıhre krank- heitserregenden Eigenschaften nicht eingebüßt haben, das beweisen uns eben die Beobachtungen Kayser’s. Die betreffenden Menschen sind jedenfalls immun gegen Typhusbakterien geworden. Warum aber bei dieser, mit der Heilung einhergehenden Immunisierung in der Mehrzahl der Fälle dıe Bakterien ganz aus dem Körper ver- _ drängt werden, in diesen Fällen aber im Darmkanal und seinen Annexen einen günstigen Nährboden finden, das ist uns noch Zacharias, Rivista mensile di Pesca (lacustre, fluviale, marina). s31 durchaus unbekannt. Wir können aber hoffen, gerade durch das genaue Studium dieser Unterschiede einen Einblick zu erlangen ın die Bedingungen der Immunität des Wirtsorganismus und der Virulenz der Kr ankheitserreger. Durch die neueren Untersuchungen ist auch die Erkenntnis erst gefestigt worden, dass es eine durch das Ueberstehen der Krank- heit erworbene Immunität gegen Typhus gibt, die wohl zu ver- gleichen ist mit der altbekannten Pockenimmunität. Seltene schein- bare Ausnahmen, dass nämlich derselbe Mensch wiederholt an ganz voneinander unabhängigen Typhusinfektionen erkrankt, haben auch durch die Forschungen des letzten Jahrzehnts und zum guten Teil ebenfalls in den Typhusstationen, ihre Aufklärung gefunden, ‚weil wir nun wissen, dass es mehrere, klinisch nicht unterscheidbare Formen des Unterleibstyphus gibt, die aber durch verschiedene, wenn auch sehr ähnliche Bakterienarten hervorgerufen werden. Auf die Ergebnisse der erworbenen Immunität bezieht sich ein Aufsatz Conradi’s in dem vorliegenden Heft: über den Zusammen- hang zwischen Endemien und Kriegsseuchen in Lothringen; aus der Statistik der letzten Jahrzehnte zeigt er, dass ın der Stadt Metz fast ausschließlich Eingewanderte und Kinder am Typhus erkranken. Daraus zieht er den Schluss, dass die erwachsene eingeborene Be- völkerung „durchseucht“ ıst, dass sie die Erkrankung in irgend einer, wenn auch leichtesten Form schon ın der Kindheit über- standen hat. Und indem er dann weiter zeigt, dass schon seit Jahrhunderten bei jedem Heere, das nach Lothringen einrückte, der Typhus seuchenartig auftrat, ergibt sich der Schluss, dass diese Durchseuchung der Bevölkerung schon seit Jahrhunderten bestehe. Es ist den Bakteriologen und insbesondere den Schülern Robert Koch’s öfters der Vorwurf gemacht worden, dass sie „die Krankheit und das Bakterium identifizierten, während doch jene ein Zustand des Organısmus sei, zu dem die Anwesenheit des be- treffenden Bakteriums allein nicht genüge*. Falls dieser Vorwurf je berechtigt gewesen sein sollte, so zeigen doch die vorstehenden Ausführungen, dass die Lehre und Methode Koch’s zum mindesten die Korrektur ın sich selbst tragen: denn sie haben uns nun den zunächst paradox erscheinenden Begriff der „gesunden Krankheits- träger“ gebracht, für den der Typhus nicht das einzige Beispiel ist. Die weitere planmäßige Erforschung der Lebensbedingungen und Verbreitungswege jedes einzelnen Krankheitserregers, wie sie Robert Koch als Vorbedingung für die Bekämpfung der Infektionskrank- heiten zur Anerkennung gebracht hat, wird auch für die Biologie des -Parasitismus und der Symbiose fruchtbar sein. Werner Rosenthal. Rivista mensile di Pesca (lacustre, fluviale, marina). Organo della Societä Lombarda per la Pesca e Il’ Acquicoltura. Redazione: Prof. Dr. S. Mazzarelli, 1906. Milano. Seit Jahren schon befindet sich ım dritten Stock des Museo civico zu Mailand ein süßwasserbiologisches Laboratorium, welches unter Leitung des Professors Mazzarellı steht und mit dem auch 832 Zacharias, Rivista mensile di Pesca (lacustre, fluviale, marina). eine bakteriologische Abteilung verbunden ist, die Prof. Terni zu verwalten hat. Im Souterrain des mächtigen Palastes, welcher die prächtigen Schausammlungen des eigentlichen Museums enthält, sind zahlreiche Aquarien aufgestellt, welche zu Versuchszwecken — namentlich zum Studium der Fischkrankheiten — dienen. Die Arbeiten dieses Laboratorıums wurden bisher in einer Zeit- schrift veröffentlicht, deren Titel „L’Acquicoltura Lombarda“ war. Nun ist an deren Stelle das oben angezeigte größere Organ getreten, dessen erstes Heft ‚soeben erschienen ist Ich möchte namentlich die deutschen Zoologen auf diese periodische Publikation auf- merksam machen, weil darın eine große Anzahl interessanter Tat- sachen verzeichnet werden, welche wirksam zur Bereicherung der Wissenschaft dienen können. So enthält z. B. das vorliegende Heft u. a. eine dankenswerte Abhandlung über das Genus Bran- chiobdella von Dr. Umberto Pıerantoni (mit Tafel), in Anschluss an welche auch die Verwandtschaftsverhältnisse dieser schma- rotzenden Würmer diskutiert werden. Dem folgt ein Aufsatz über Psorospermosis oder Myxoboliasis der Barben. Diese Krankheit ist unter dem Namen Barbenseuche (Beulenpest) genugsam in Deutsch- land bekannt und seinerzeit auch von B. Hofer ın München stu- diert worden. Dr. Pietro Stazzı, der sie neuerdings beobachtet hat, berichtet darüber mancherlei Neues. Ferner bringt Prof. Terni eine kritische Uebersicht über die Forschungen betreffend die Er- krankungen der Auster und der Miesmuschel und deren Zusammen- hang mit dem Typhus. Weiter folgt ein Referat von Prof. Vinci- guerra über die Ergebnisse des Internationalen Fischereikongresses zu Wien (1905), und den Schluss des Heftes bilden bibliographische Notizen in großer Fülle. Der Umfang der ganzen Publikation be- trägt nahezu 100 Druckseiten. Mit Bezug auf den Umstand, dass auch Mailand nach Schluss der Simplonausstellung auf dem jetzigen Ausstellungsterrain eine wohl- eingerichtete biol. Süßwasserstation erhalten wird, welche fortan an die Stelle der räumlich beschränkten Veranstaltung ım Museo civico treten soll, möchten wır nochmals hervorheben, dass die hydr obiologischen Forschungen neuerdings einen großen Aufschwung in allen Kulturländern nehmen, nachdem sie Jahrzehnte hindurch hochgradig vernachlässigt und als unfruchtbar betrachtet worden sind. Was Italien anbelangt, so ıst die Begründung einer Forschungs- anstalt für das Studium der Süßwassertiere und insbesondere auch für die nähere Erforschung der Fischkrankheiten auf die unaus- gesetzten Bestrebungen des Prof. Mazzarellı zurückzuführen, der sich namentlich auf letzterem Gebiete mit anerkanntem Erfolg be- tätigt hat und der für sein Vaterland das bedeutet, was Prof. Bruno Hofer in München für die Ichthyopathologie ın Deutschland ist. Ich habe mir das Gebäude der künftigen lombardischenSüßwasserstation in Mailand unlängst angesehen und kann wohl sagen, dass es der geschmackvollste Tempel der jungen Wissenschaft der Hydrobiologie ist, der ‚bis jetzt existiert. Dr. Otto Zacharias (Plön). Verlag von "Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. R XX'YI.DBd. 1. November 1906. Ne 23. Inhalt: Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis (Schluss). — Koltzofl, Über das Skelett des tierischen Spermiums. — Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. — Nagel, Handbuch der Physiologie des Menschen. — Warren Triennial Prize. Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. Ein Beitrag zur Lehre von der geschlechtlichen Zeugung. Von C. v. Janicki. (Schluss.) Mit der Summierung von Keimsubstanzen drängt sich ‚ohne weiteres das Problem der Reduktionsteilung auf. Indessen sche ich mich genötigt, auf dem in neuerer Zeit so eifrig bearbeiteten Gebiet mit Deutungen zurückzuhalten, so wenig auch eine solche Reserve der Überzeugungskraft der entwickelten Anschauungen förderlich sein kann. Doch will ich im negativen Sinne vorgehen und angeben, was anzuerkennen ich nicht imstande bin, obwohl dies — ich weiß es wohl — eine leichtere Arbeit ist als das Aufbauen. Ich meine die Weismann’sche Auslegung der Reduktionsteilung und namentlich der zweiten Richtungsteilung als einer qualitativen Re- duktionsteilung, durch welche allein ein reiches Feld für Herstellung un- zähliger Idkombinationen sich eröffnet. Diese Auslegung folgt als not- wendige Konsequenz, sobald man mit W eismann die Idanten (= Chro- mosomen) aus individuell verschiedenen Iden zusammengesetzt sein lässt!'). Darum müsste jede Kritik, da die Chromosomenreduktion 1) In neuester Zeit schließt sich auch E. Strasburger im wesentlichen der Weismann’schen Annahme an. Vgl. E. Strasburger, Die stofflichen Grund- lagen der Vererbung ete. p. 25 u. f. XXVI. 5: ww. 834 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. eine unbestreitbare Tatsache ıst, an der W eismann’schen Archi- tektonik der Chromosomen ansetzen. Doch ıch tue es nicht, weil ich meinerseits auf jede Bezugnahme der Keimsubstanzen auf sichtbare Teile des Kernes, wie der Zelle überhaupt, von vornherein verzichte. Darum will ich nur allgemein andeuten, was mir an der Weismann’- schen Reduktionsidee unannehmbar vorkommt, ganz abgesehen von der tatsächlichen Chromosomenreduktion, wobei ich die vorher ge- wonnenen Anschauungen als Vergleichsmaßstab benütze. Die Hal- bierung der Idzahl des Keimplasmas ist nach Weismann mit einer Neukombinierung (Neotaxis) der Ide verbunden, denn es gibt eine große Zahl von Kombmationen, welche Ide ausgeschaltet und welche im Eikern verbleiben sollen, so gut wie beim Abheben eines Karten- spiels auf die Hälfte, je nach vorheriger Mischung, eime Menge von Kombinationen in beiden Hälften sich ergibt. Die Ide liegen also starr und unabhängig voneinander — wie die Karten — da, und es ist dem Zufall anheimgestellt, welche Ide zusammen ausgestoßen und welche zurückbleiben werden. Gerade an dieser Möglichkeit so zahlreicher Kombinierung der gleichsam passiv beieinandergehäuften Ide, welche Möglichkeit, ich wiederhole es, für sichtbare Elemente ja unbestreitbar ist, gerade daran muss ich mich stoßen, so plau- sihle Konsequenzen sie auch nach sich führt. Für meine Vor- stellung müssen die Keimsubstanzen jedesmal zu einer organischen Einheit von wunderbarer Korrelation der Teile zusammentreten, und wenn einzelne Keimsubstanzen im Lauf der Zeit zugrunde gehen sollten, so ist das nicht eine passive Ausschaltung, sondern ein Untergehen im Lebensprozess des Ganzen, ein Kampf im Mikro- kosmos unter beständiger Fühlung zwischen den Teilen, wenn auch keine Germinalselektion. Die Leitung der Ontogenese übernehmen ja nach Weismann alle vorhandenen Ide zusammen, da wirken sie vereint‘), aber eben darum gewinne ich den Eindruck, als ob die Ide, je nach Bedürfnis der Theorie, einmal unabhängig voneinander zusammengewürfelt wären, das anderemal hingegen sich innig die Hand gereicht hätten. Für Weismann ist, außer der Germinal- selektion, vor allem die Personalselektion, welche den eigentlichen schaffenden, vitalen Faktor im organischen Geschehen abgibt, darum kann auch der Prozess, durch welchen der Naturzüchtung ein über- reiches Material an individuellen Variationen zur Auswahl geboten wird, rein mechanisch, passiv und zufällig zustande kommen. Für mich fällt der Faktor der Naturzüchtung in seiner dominierenden Gestalt so gut wie ganz weg und die eigentliche aktive Vitalität muss in die kleine Welt der Keimsubstanzen verlegt werden. Die Erbteile sollen auch gar nicht reduziert werden. Die Natur will die Zahl der Chromosomen konstant erhalten, daran ist kein Zweifel. 1) A. Weismann, Vorträge ete. Bd. II, S. 43. a A Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 335 Aber die Keimsubstanzen streben durch Amphimixis möglichst voll- kommen einer Mikropanmixis als Grenzwerte zu. Sie bilden eine einheitliche Welt für sich, die immer wächst, und was beim Re- duktionsprozess geteilt wird, das kann — die Richtungskörper sind ja abortive Eier — nur Teilung einer Einheit, unter Wachstum, in gleichwertige Einheiten sein!). Verschwendet werden die Keim- substanzen von der Natur ja doch, das lehrt jede Samenentleerung. Was mir aber undenkbar bleibt, das ist die Annahme, dass in dieser Einheit von Keimsubstanzen bald diese, bald jene Gruppen von Erbteilen, unter Spiel des Zufalls, im Reduktionsprozess heraus- gestoßen werden sollten, wie die Karten beim Abheben eines Kartenspiels voneinander gesondert werden. Die Summe von Keim- substanzen ist eben ein organisches Ganzes, und nicht mit einem Haufen loser Blätter zu vergleichen. — Doch ich breche hier ab und hoffe nicht missverstanden zu werden. - Die von Haecker und Rückert festgestellte Selbständigkeit väterlicher und mütterlicher Kernanteile in der Keimbahn von Oyelops, welche Erscheinung neuerdings durch Haecker eine um- fassende kritische Darstellung auf Grund ausgedehnten Vergleichs- materials erfahren hat?), kann gegen die Summierung von Keimsub- stanzen, deren Verteilung in den Chromosomen vorläufig vorausgesetzt, nicht verwertet werden. Denn es findet ja nach Haecker hei der Eireifung von Cyelops eine gleichmäßige Mischung großväterlicher und großmütterlicher Elemente und eine Paarung je eines groß- väterlichen und großmütterlichen Einzelehromosoms auf Grund beson- derer Affinitäten statt. Die Sättigung der „sexuellen Chromotaxis“ (Haecker) ist hier auffallenderweise bis an Schluss der Kindergene- ration verschoben ?). — Im übrigen aber können hier wie überhaupt meine Deutungen nicht Schritt für Schritt mit morphologischen Be- funden der Befruchtungslehre parallelisiert werden, es wäre das in Anbetracht des rein allgemeinen und theoretischen Charakters der Prämissen unmöglich. Darin mag, ich gebe es zu, die schwache Seite meiner Argumentation liegen. Eine Schwierigkeit bietet sich meiner Vorstellung vom Ur- sprung der Amphimixis, wie übrigens einer jeden Deutung dieser 1) Es sei hier auf die übereinstimmenden Züge mit O. Hertwig’s Auffassung hingewiesen, ohne dass die Differenzen weiter erörtert werden können. Vel. O. Hert- wig, Allgemeine Biologie. Jena 1906, p. 361. 2) V. Haecker, Über das Schicksal der elterlichen und großelterlichen Kern- anteile. Jen. Zeitschr. f. Naturwissensch. 1903. 3) V. Haecker, 1. c,, p. 341—345, 379, 380. — Dieses eigentümliche Ver- halten rückt jetzt aus seiner isolierten Lage heraus, nachdem durch die Schule Strasburger’s analoges Getrenntbleiben von Sperma- und Eikern durch die ganze döppeltchromosomige Generation bis zum Zeitpunkt der Reduktionsteilung bei ge- wissen Pilzen festgestellt worden ist. Vgl. E. Strasburger, Die stofflichen Grund- lagen der Vererbung ete. p. 34--39. Sy Do S36 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. letzteren als physiologischer Notwendigkeit, und dies ist das Vor- kommen asexueller Vermehrung als ausschließliche Form der Fort- pflanzung. Allerdings ist diese primäre und gänzliche Asexualität ım Reich der Lebewesen sehr selten; meines Wissens beschränkt sich dieselbe auf Bakterien, Cyanophyceen, Myxomyceten Basidiomyceten, Amoebinen und wohl auch Laminaria- ceen. Eine positive Lösung der genannten Schwierigkeit bietet sich nicht. In Anbetracht der ungeheuren Verbreitung der Se- xualıtät indessen wäre ich geneigt, anzunehmen, dass mit. der Zeit der Kreis der asexuellen Formen noch mehr schrumpfen wird; handelt es sich doch um kleine und kleinste Vertreter der lebewelt und es kann noch manches Verborgene in ihrer Lebens- weise stecken. So ıst auch z. B. bei den Sproßpilzen (Saccharo- myceten), einer Gruppe der Kryptogamen, die nach A. Fischer eine tiefere phylogenetische Stellung einnimmt als die Bakterien'), in neuester Zeit primitive Sexualität entdeckt worden?). Haben nicht Klebs (1892) und Senn (1900) für die Flagellaten die Ab- wesenheit geschlechtlicher Fortpflanzung konstatiert ?®). Und bald darauf hat die Entdeckung der Sexualität in dieser Gruppe Einkehr gehalten*). So sagt auch R. Hertwig von den Befruchtungs- erscheinungen: „Ich zweifle nicht mehr, dass sie, bei allen Proto- zoen vorkommen und dass nur ihre Seltenheit und die Schwierig- keit des Nachweises Ursache sınd, warum sie bei so vielen Arten bisher noch nicht beobachtet worden sind®).“ — Es bleiben dann wohl solche Fälle von Asexualıtät übrig, die auf sekun- därer Verkümmerung der Geschlechtstätigkeit beruhen, und zwar entweder ın Form von ausschließlicher Parthenogenesis (manche Oypris-Arten, Rhodites rosae) und rein vegetativer Fortpflanzung (kultivierte Bananen, Weinrebe, Kartoffel ete.) oder in Form von Heterogonie (Daphniden, Gallwespen, Blattläuse, viele Würmer etec.). Indem ich die Heterogonie außer acht lasse — denn hier ist ja die Amphimixis nur selten geworden, um die Vorteile der Partheno- genese zu erkaufen (Weismann) — betrachte ich die zwei erst- 1).A. Fischer, l.‘c., p: 244 2) A. Fischer, l. c., p. 248. 3) Zitiert nach Prowazek. Vgl. S.Prowazek, Untersuchungen über einige parasitische Flagellaten. Arbeiten aus dem kais. Gesundheitsamte, Bd. 21, 1904, p.1. 4) Prowazek, l. c., p. 12--19, 28—32, 34—38. 5) R. Hertwig. Mit welchem Recht unterscheidet man geschlechtliche und ungeschlechtliche Fortpflanzung? Sitzungsber. der Gesellsch. f. Morphologie und Physiologie in München, 1899, Heft II (Separat), p. 3. — Die Deutung der eigen- tümlichen von Schaudinn beobachteten Vorgänge am Baeillus bütschlii während der Sporenbildung als „primitive Art der Selbstbefruchtung“, dürfte noch der Dis- kussion unterliegen. Vgl. Fr. Schaudinn, Beiträge zur Kenntnis der Bakterien und verwandter Organismen. Archiv für Protistenkunde, Bd. I, 1902, p. 307, 308, 319— 329. syulkze a Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 337 genannten Erscheinungsgruppen. Ich glaube, dass durch den Aus- fall der Amphimixis diesen Organismen tatsächlich in ihren wesent- lichen Lebensverrichtungen etwas fehlt. Allerdings, diesen Mangel vermögen wir ihnen nicht anzusehen, auch in den 80 Cypris-Gene- rationen der Weismann’schen Kulturen nicht!). Denn es handelt sich nicht um dieses oder jenes Merkmal, das die Degeneration verriete, es handelt sich um die Art und Weise, wie die Spezies im Lauf der Jahrhunderte sich in das Ganze des Naturhaushalts hineinzupassen versteht, und in diesem Sinne, denke ich, sind die erwähnten Lebewesen mit Preisgabe der Amphimixis unrettbar in eine phylogenetische Sackgasse geraten. Die Amphimixis ist eine physiologische Notwendigkeit, aber ihre Nichtbefriedigung ver- nichtet das Leben nicht so unmittelbar und nicht so deutlich für unsere Augen, wie etwa das Entziehen des Sauerstoffs bei einem a6roben Wesen. Ihr Fehlen wird sich nicht im Augenblick rächen, sondern nur in großen Zeiträumen, darum bleibt aber das, was fehlt, eben etwas Wesentliches. Indes, dies brauche ich nicht weiter zu begründen; kommt doch Weismann selbst, der Gegner einer jeden Deutung der Amphimixis als physiologischer Notwendigkeit, zu folgendem Schluss: „Wenn dieselbe (= Amphimixis) im Laufe der Phylogenese von einzelnen Gruppen von Lebensformen aufge- geben worden ist, so geschah dies, weil ihnen dadurch andere Vor- teile erwuchsen, die sie im Kampf um die Existenz augenblicklich besser sicherten; es ist aber anzunehmen, dass sie dadurch ihre volle Anpassungsfähigkeit eingebüßt, also ihre Zukunft gegen die momentane Sicherung ihrer Existenz hingegeben haben“?). Und mehr behaupte ich ja auch nicht. — Beweisen lässt sich meine Auf- fassung nicht, sie bleibt eben eine Überzeugung, aber das Gegen- teil ist, trotz vielfacher Bemühungen gleichfalls nicht bewiesen’). Ich denke, dass Nägeli mit weitem Blick ausschauend die folgenden Worte schrieb: „Bei der geschlechtslosen Vermehrung ist eine Ver- einigung verschiedener Individuen nicht möglich. Die Störung der Zusammenpassung®), die in einem Individuum in einer bestimmten Richtung begonnen hat, wird daher in den folgenden Generationen sich zwar langsam aber unaufhörlich steigern und zuletzt zu einem sicheren Untergang führen, wenn nicht etwa die Bewegung durch innere und äußere Ursachen abgelenkt wird. Daraus folgt mit Notwendigkeit, dass die Kulturrassen, welche durch Stecklinge, Knollen, Propfreiser etc. konserviert werden, wie die Obstsorten, 1) A. Weismann, Vorträge ete. Bd. II, p. 259, 260. 2) A. Weismann, Ebenda. p. 297. 3) Vgl. z.B. Möbius, Beiträge zur Lehre von der Fortpflanzung der Ge- wächse. Jena 1897, Kap. II. 4) Vgl. die oben gegebene Darstellung von Nägeli’s Ansichten über das Wesen der Sexualität. 838 Janicki, Uber Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. Weinsorten, die Kartoffeln, viele Zierpflanzen mit der Zeit eine krankhafte Degeneration eingehen und endlich aussterben')*. Dass ich nach alledem die Meinung R. Hertwig’s, wonach die Ruhezustände der Pflanzen, z. B. die Winterruhe, und etwa auch Cystenruhe der Protozoen einen Ersatz für die Wirkung der Be- fruchtung zu liefern imstande wären und die Befruchtung somit entbehrlich machen könnten?), nicht zu teilen vermag, ist ohne weiteres klar. Die in neuerer Zeit so zahlreich angestellten und zuletzt nament- lich von J. Loeb mit Erfolg durchgeführten Experimente der künstlichen Parthenogenese berühren meine Auffassung von der physiologischen Notwendigkeit der Amphimixis in keiner Weise. Um dies darzutun, muss ich allerdings eine Analyse des Befruch- tungsprozesses durchführen, die ich mir bis jetzt erspart habe. — Das periodische Zurückgehen des Metazoons auf den Zustand der Zelle hat ja nur den Zweck, die Amphimixis zu ermöglichen, denn Organismen können sich nur als Zellen mischen (Weismann, Boveri, vgl. oben). Naeh der vollendeten Mischung ist das Wieder- heraufgehen der Eizelle auf den Zustand des Metazoons — die Onto- genese — eine Notwendigkeit, aber das Wesen der Befruchtung liegt doch darum nicht in der Veranlassung der Entwickelung! Oder, mit Boveri’s Worten: „Nicht die Verschmelzung zweier Keimzellen ist eine essentielle Vorbedingung für die Entstehung eines neuen Indi- viduums, sondern umgekehrt, die Entstehung des neuen Individuums aus einer Zelle ist die notwendige Voraussetzung für die Mischung“ °). Nun wäre es aber ein Unsinn, wenn auch die unbefruchtete Eizelle die Fähigkeit der Entwickelung besäße — ich rede jetzt von der Regel, und nieht von Ausnahmen —, denn dann würde ja jener Vorgang, um dessen Willen allein die Natur das Metazoon auf die Zelle zurückgehen und diese sich mühsam entwickeln lässt, die Amphimixis, wieder leichtfertig preisgegeben!*). Darum muss Amphimixis und Entwickelungserregung notwendig zusammenfallen, und im Befruchtungsvorgang steckt neben dem wesentlichen Prozess der Keimsubstanzensummierung zugleich der unwesentliche — derjenige der Entwickelungsauslösung°). Nun ist es gewiss ein im höchsten 1) ©. Nägeli, Die Theorie der Bastardbefruchtung. p. 111. ... 2) R. Hertwig, Über Wesen und Bedeutung der Befruchtung. p. 34; sowie: Uber das Problem der sexuellen Differenzierung. p. 208. 3) Th. Boveri, l. c., Das Problem der Befruchtung. p. 32. 4) A. Weismann, Aufsätze ete. Aufsatz XII, p. 798. 5) R. Hertwig, Eireife und Befruchtung. In: OÖ. Hertwig’s Handbuch d. vergl. u. exper. Entwickelungslehre der Wirbeltiere. Jena 1903, p. 497.— E Stras- burger hat die beiden Faktoren im Befruchtungsvorgang als „generative‘ resp. „vegetative“ Befruchtung unterschieden. Vgl. E. Strasburger, Einige Bemer- kungen zur Frage etc. p. 304. Die generative Befruchtung deckt sich mit dem Weismann’schen Begriff der Amphimixis. Dieser letztere bezieht sich in scharfer f Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 839 Grade überraschendes Ergebnis, zuerst durch R. Hertwig herbei- geführt, dass die Entwickelungsauslösung auch mit Hilfe von che- mischen Agentien erreicht werden kann, und damit eröffnet sich ein weites Feld, um den Charakter des Auslösungsvorgangs bei der Befruchtung weiter zu erkennen. Loeb mag wohl Recht haben, wenn er die auslösende Wirkung des Spermatozoons als eine kata- lytische bezeichnet, und die Lösung dieses Problems auf rein che- misch-physikalischem Wege erwartet. Aber, und damit soll die Hauptsache ausgedrückt werden, all diese Erkenntnis würde sich nur auf den einen Faktor, den unwesentlichen, der Amphimixis beziehen. Das Wesentliche der Amphimixis bleibt in allen Experi- menten über künstliche Parthenogenese von vornherein ausge- schlossen, und darum glaube ich, dass Boveri nur zu bescheiden seiner Meinung in folgenden Worten Ausdruck gegeben hat: „Einst- weilen scheint es mir, dass die rein biologische Behandlung des Problems weit mehr leistet als chemisch-physikalische Betrach- tungen“). ©. Hertwig schließt seine treffliche Kritik der „che- mischen Theorie“ der Befruchtung mit den Worten: „Die Be- fruchtung ist ein biologischer Vorgang, von dem sich zurzeit nicht erwarten lässt, dass er mit den Denkmitteln und der Experimentier- kunst des Chemikers und Physikers sich in einen chemisch-physi- kalischen Prozess wird auflösen lassen. Sie beruht auf der Ver- schmelzung zweier Organismen zu einem dritten Organismus?).“ Da aber die Erscheinungen der künstlichen Parthenogenese das Wesen der Befruchtung ganz beiseite lassen, -so sehe ich nicht ein, in welchem Sinne die experimentellen Ergebnisse gegen eine Deutung der Amphimixis als physiologischer Notwendigkeit ins Feld geführt werden könnten). — Und mit der Forderung, die Amphi- mixis unter elementare Lebenserscheinungen einzureihen, stehe ich nicht alleın da. Es hatte namentlich R. Hertwig die Befruchtung in gleichem Sinne bewertet: „Wenn die Befruchtung ihrem innersten Wesen nach nicht den Zweck hat, die Bildung eines neuen Orga- nismus einzuleiten, wenn diese Entwickelungserregung nur etwas Akzessorisches ist, welches sich sekundär ihr beigesellt hat, worın ist dann die Aufgabe der Befruchtung zu suchen? Ihre Aufgabe muss von fundamentaler Bedeutung sein. Denn seitdem wir aus allen Klassen der Protozoen Befruchtungsvorgänge kennen gelernt Abgrenzung lediglich auf den einen Faktor der Befruchtung, den wesentlichen, ist somit nicht ein bloßes Fremdwort für „Befruchtung“, wie das manche Forscher irrtümlich meinen. Lv Ich. Bovert,.!..c,.M 42. 2) ©. Hertwig, Kritische Betrachtungen über neuere Erklärungsversuche auf dem Gebiete der Befruchtungslehre. Sitzungsber. der kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften 1905, p. 375. Vgl. auch O. Hertwig, Allgemeine Biologie. p- 343, 344. 3) A. Weismann, Vorträge ete., Bd. I, p. 366. 840 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. haben, gewinnt die Anschauung immer mehr an Sicherheit, dass die Befruchtung eine mit dem Wesen der lebenden organischen Substanz notwendig verbundene Erscheinung ist!).“ Mehr zu denken geben mir höchst eigentümliche und unerwar- tete Befunde der neuesten Zeit auf dem Gebiete der Konjugation bei niederen Organismen, die Erscheinungen der Autogamie(S.v.Pro- wazek). Die Autogamie ist, wenn auch nicht zum erstenmal, so doch am genauesten durch R. Hertwig bei Actinosphaerium Eichhorni be- obachtet worden?). Hier sind es, im enzystierten Zustande, zwei Schwesterzellen, direkte Abkömmlinge einer und derselben Mutterzelle, welche, nachdem sıe unabhängig voneinander gereift sind, miteinander kopulieren. R. Hertwig bezeichnet diesen Vorgang als extremste Inzucht, denn, es wird ja hier, allen unseren altgewohnten Erfahrungen zum Trotz, die für die Befruchtung notwendige Zweizahl der Indi- viduen erst innerhalb eines einzigen Individuums geschaffen. Vor Hertwig sprach De Bary in seinen Desmidiaceenstudien die Wahr- scheinlichkeit aus, dass zur Konjugation entweder Schwesterzellen oder nahe verwandte Zellen zusammentreten®). Karsten hatte während der Auxosporenbildung bei Achnanthes subsessilis beobachtet, dass ein einzelnes Mutterindividuum zwei untereinander kopulierende Tochterzellen liefert, und bei der Gattung Synedra kommt es nicht einmal zu einer Teilung der Zelle, nur der Kern teilt sich und die beiden Teilungsprodukte verschmelzen wieder miteinander ®). Seit Hertwig haben über Autogamie berichtet: Schaudinn bei Entamoeba coli, W. Löwenthal bei Basidiobolus, Prowazek bei Plasmodiophora und einigen parasitischen Flagellaten’). Ich gebe unumwunden zu, dass, falls die Vorgänge der Auto- gamie sich als normal und physiologisch erweisen sollten, daraus meinen theoretischen Deutungen die größten Schwierigkeiten er- wachsen. Und zwar nicht nur meine Auffassung wäre damit be- troffen, sondern auch die althergebrachten Vorstellungen anderer Autoren. Die angeführten Beobachtungen neueren Datums sind an sich nicht zu bezweifeln; die Frage kann nur sein, ob die Autogamie ausschließliche Form der Amphimixis bei den genannten niederen 1) R. Hertwig, Über Wesen und Bedeutung der Befruchtung. p.61 u. 62. 2) R. Hertwig, Über Kernteilung, Richtungskörperbildung und Befruchtung von Actinosphaerium Hichhorni. Abhandl. der math.-phys. Klasse der kgl. bayer. Akademie der Wissenschaften, Bd. 19, 1899. 3) A. De Bary, Untersuchungen über die Familie der Konjugaten. Leipzig 1558, p. 48. 4) G. Karsten, Untersuchungen über Diatomeen, II. Flora, Bd. 83, 1897, DIO0. EHE 5) Zitiert nach S. Prowazek, l.c., p.15, 16. Die Autogamie bei Bacillus bütschlii Schaudinn dürfte noch nicht über jeden Zweifel erhaben sein. Analoges Verhalten wie Bacillus bütschlii sollen nach Bozzi einige Arten der Gattung Anabaena (Cyanophyceen) zeigen (zitiert nach Möbius, ].c., p. 169). ” Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis, Ss4l Lebewesen ist. — Im Entwickelungszyklus von Bodo lacertae Grassi, eines parasitischen Flagellaten, kommt nach Prowazek Autogamıe neben der normalen Konjugation nicht verwandter Individuen, oder Heterogamie, vor!). Bei Plasmodiophora brassicae treten nach dem- selben Autor Plasmodienverschmelzungen auf?). R. Hertwig weist auf die Möglichkeit hin, dass „Aktinosphärien, welche sich en- zystieren, vielleicht schon Wochen vorher mit anderen Aktinosphärien in Plastogamie gestanden haben und dass dabei eine Vermengung der Kerne eingetreten ist?). In einem Referat über Hertwig's Arbeit spricht Schaudinn folgende Vermutung aus: da Plastogamie sich bei Actinosphaerium häufig findet und da höchstwahrscheinlich bei Beginn der. Enzystierung Kernverschmelzungen vorkommen, so wäre es möglich, dass die verschmolzenen Kerne von verschiedenen Individuen stammen, und dann wäre die Trennung und Wieder- vereinigung der Kerne nach Abstoßung der Richtungskörper als nachträgliche Reduktion der vorher gleichsam nur provisorisch ver- einigten Idioplasmen aufzufassen sein*). R. Hertwig hält diesen Einwurf für beachtenswert. Eine Stütze für die Vermutung Schau- dinn’s sieht Hertwig in der Beobachtung Chmielewski's, wo- nach bei der Konjugation von Spirogyra die Kerne der beiden kopulierenden Zellen zu einem Kern verschmelzen, der sich darauf zweimal teilt; von den vier so gebildeten Kernen verschmelzen zwei dauernd, die zwei anderen gehen zugrunde und werden von Chmielewski als Richtungskerne aufgefasst’). „Für uns würde nur wichtig sein, dass im Lauf der Befruchtung eine zweimalige Kernverschmelzung vorkommen kann, von denen die eine vor, die andere nach der Richtungskörperbildung eintreten würde. Genau so würde die Befruchtung bei Actinosphaerium verlaufen, wenn die Vermutung Schaudinn’s richtig wäre®).“ Somit ist wohl über die Autogamie bei Achnosphaerium noch nicht das letzte Wort gefallen. — Es ist gewiss bezeichnend, wenn einer der besten Kenner der nie- deren Algen, H. Klebahn, die von De Bary beschriebene Auto- gamie der Desmidiaceen in Zweifel zieht und eine gründliche Nachuntersuchung als nötig hinstellt”). An einen speziellen Fall anknüpfend bemerkt Klebahn: es wäre „durch nichts bewiesen, dass die sich zuerst zusammenlegenden Closterien Schwesterzellen 1) S. Prowazek, Il. c., p. 25—32. 2) 8. Prowazek, Über den Erreger der Kohlhernie Plasmodiophora bras- sicae etc. Arbeiten aus dem kais. Gesundheitsamte, Bd. 22, 1905, p. 403. 3) R. Hertwig, l. c., p. 725. 4) Fr. Schaudinn, Referat im Zoolog. Centralblatt, Jahrg. V, 1898, p. 395, Fußnote. 5) Angeführt nach R. Hertwig,l.c. p. 725. 6) Ebenda. 7) H. Klebahn, Studien über Zygoten, I. Pringsheim’s Jahrb. f. wissensch. Botanik, Bd. 22, 1891, p. 440. 842 Janicki, Uber Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 0) sind*'). Auch Oltmann’s gelangt zum folgenden Schluss: „somit wäre De Bary’s Annahme nicht notwendig, nach welcher sehr häufig Schwesterzellen miteinander kopulieren?).“ Es dürfte kaum als gesichert betrachtet werden, dass es niedere Organismen geben sollte, in deren Entwickelungszyklus ausschließ- lich Autogamie vorkäme. Vielleicht wird auch in der Autogamie ein Prozess wesentlich vegetativen Charakters erkannt werden, der mit Amphimixis nichts zu tun hat. Ich erinnere an die Erschäinung der Autosynthesis des Karyosoms (S. v. Prowazek), eines Bestand: teiles des Kernes der Trypanosomen. Die Autosynthesis des Karyosoms ım Kern entspricht vollkommen der Autogamie des Kernes in der Zelle: das Karyosom teilt sich in zwei, jedes der Teilstücke erleidet noch eine Teilung, woraus im ganzen vier Teil- produkte resultieren; zwei davon verschmelzen miteinander, die beiden anderen unterliegen offenbar einer Resorption®). Der eigen- tümliche Vorgang wird von Prowazek als eine Korrektur aufge- fasst. Prowazek fügt hinzu:- „Der ganze Prozess hat wohl die Bedeutung einer physiologischen Regulation und dürfte mit ge- schlechtlichen Vorgängen, wie ich anfangs meinte, nichts zu tun haben*).“ Und dazu wird ja das Karyosom von Schaudinn und Prowazek als ein „gleichsam eingeschachtelter Kern“ aufgefasst, so wie der zweite Kern der Trypanosomenzelle, der Blepharoblast, ein abgespaltener Kern ist’). — Ist denn unter solchen Umständen von der Deutung der Autosynthesis des Karyosoms als vegetativen Vorgang zur analogen Auslegung der Autogamie ein weiter Schritt zu machen? Nicht unterlassen möchte ich, auch auf die vegetativen Kern- verschmelzungen bei den Pflanzen hinzuweisen: so auf die Ver- einigung der beiden primären Endospermkerne des Embryosackes zu einem sekundären Embryosackkern, auf die Kopulation der zwei Kerne ın den Basidien der Basidiomyceten, namentlich auf eine solche der „konjugaten“ Kerne der Uredineen‘), die alle nicht als Befruchtung aufgefasst werden. In bezug auf den letztgenannten Fall bemerkt Strasburger: „man kann daher geneigt sein, den Schwerpunkt der Verschmelzung hier ın die Stärkung der ernährungs- physiologischen Funktionen dieser Kerne zu verlegen ’).“ So muss noch die Zukunft lehren, ob die extreme Inzucht, die bei 1) Ebenda, Fußnote. 2) Fr. Oltmanns, Morphologie und Biologie der Algen, Bd. I, Jena 1904, p. 86. S. Prowazek, Studien über Säugetiertrypanosomen, I. Arbeiten aus dem kaiserl. Gesundheitsamte, Bd. 22, 1904, p: 361, 362, 3S4, 385. 4) Ebenda, p. 362. 5) Ebenda, p. 302. > 6) G. Poirault und M. Raciborski, Uber konjugate Kerne und die kon- jugate Kernteilung. Biol. Centralbl. Bd. 16, 1896. Zitiert nach Poirault und Raciborski, l.c., p. 29. Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 845 höheren Organismen mit allen erdenklichen Mitteln von der Natur verhindert wird, bei manchen niederen Lebewesen als Regel zu gelten hätte. Nun komme ich zu einer Schlussbetrachtung, die sich auf dem Vorausgegangenen aufbaut. Ich war bestrebt, die Amphimixis als eine primäre, notwendige Lebenserscheinung abzuleiten und habe nur flüchtig ihre Nützlichkeit gestreift. Diese Frage mag jetzt nach- geholt werden. Denn so gut wie wir etwa beim Atmungsprozess die oxydative Zersetzung als primäre Lebenserscheinung erkennen, zu- gleich aber den Effekt derselben für die Ökonomie des Organismus, das Freiwerden von Spannkräften, in Erwägung ziehen, gerade so können und müssen wir nach der Bedeutung der Amphimixis im Haushalt des Gesamtlebens fragen. Die Lebewesen haben auf unserer Erde eine allgemeine Funktion zu verrichten. Dieser Satz soll hier unter Ausschließung der geistigen Vorgänge, somit nur innerhalb des naturwissenschaftlich erkennbaren Gebiets seine Geltung haben. Für die nachfolgende Darstellung wäre es prinzipiell gleichgültig, wıe man sich diese Funktion des näheren vorzustellen hätte und es ließen sich, unbeschadet für die weitere De- duktion, recht verschiedene Erscheinungskomplexe als allgemeine Funktion deuten. Darum erwähne ich, gleichsam nur ın Paranthesen, was meine Auffassung in dieser Beziehung ist: die Organismen haben durch ihre Stoffwechseltätigkeit die energetischen Gleichgewichts- zustände innerhalb eines äußerst komplizierten Systems von Stoffen, im wesentlichen nach den Gesetzen des dynamischen Gleichgewichts, zu regulieren!). Doch das nur nebenbei! Eine Funktion ist da und sie muss da sein. Nun fällt die Lebensfunktion innerhalb eines hypothetischen Urplasmasystems von selbst ın allen, auch noch so entlegenen Teilen einheitlich aus, da die Teile ja miteinander in unmittelbarer und dauernder Kontinuität stehen. Die Einheit der Funktion ist conditio sine qua non jeder weiteren gedeihlichen Ent- wickelung des Lebens. Aber ım Interesse der Intensität des Stoff- wechsels ' tritt die Individualisation auf, — denken wir uns etwa eine primitive Welt von Einzelligen, ohne Scheidung in Arten. Es ist nicht ohne weiteres selbstverständlich, dass eine Summe von Individuen als Resultante ihrer Funktionen eine einheitliche Funktion hervorbringen. Im Gegenteil! Sofern die Individuen getrennt bleiben, und das ist ja ihr Charakteristikum, bietet sich immer und immer die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, dass durch kleine lokale Abweichungen in den äußeren Bedingungen „exzessive Varianten“ entstehen, die allein Ausdruck der Rückwirkung der 1) Vgl. dazu auch W. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. Leipzig 1902, p. 314; ferner W. Nernst, Theoretische Chemie. Stuttgart 1893, p. 344, 345. 844 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. nächsten Umgebungssphäre sind und die von den Forderungen einer auf die Dauer einheitlichen Funktion abweichen. Da nun weiter die Nachkommenschaft in Form von immer getrennt bleibenden, wenn auch sich dichotomisch verzweigenden Linien wächst, die Asexualıtät wäre ja bis jetzt Voraussetzung, so bleiben die exzessiven Varianten nicht nur erhalten, sondern sie steigern sich ım Lauf . der Generationen. Die Individuen stehen jedesmal lediglich mit einer beschränkten Sphäre der Außenwelt in Fühlung, gleichviel, ob sie mehr oder weniger beweglich sind, und nicht mit dem aus- gedehnten Bezirk, innerhalb dessen die Summe des Lebens eine einheitliche Funktion zu verrichten hat. Wie kann die Funktion des Einzelnen ın das Ganze hineinpassen, wenn sie eben Aus- fluss von speziellen Bedingungen ist, wenn jedes Individuum gleich- sam auf eigene Hand arbeitet, ohne Fühlung mit dem Ganzen. Hier liegt nun die Bedeutung der Amphimixis. Nur dadurch, dass die Keimsubstanzen verschiedenster Individuen aus nah und fern summiert werden, vermag aus dem so entstandenen Urplasma im Miniaturbild ein Individuum herauszuwachsen, das gleichsam von den zufälligen lokalen Beeinflussungen abstrahiert und die Interessen der Allgemeinheit vertritt. Nur dadurch, dass jedes Individuum im Ganzen wurzelt, passt es wiederum funktionell in das Ganze hinein. Und in diesem Sinne bezweckt die Amphimixis aus einer Summe von zerstreuten Partialfunktionen der Indi- viduen eine einheitliche Gesamtfunktion der Art zu ge- winnent). — So würde auch durch beliebiges Zusammenspielen aller Orchesterstimmen unmöglich eine Symphonie erklingen; erst da- durch, dass jede Stimme ım Ganzen — ın der Partitur — ihren Ur- sprung hat, fließt sie geordnet zu einer einheitlichen Harmonien- folge, zum Ganzen zusammen. Ich bin überzeugt, dass die lokalen Bedingungen nicht allein für das Erscheinen exzessiver Varianten verantwortlich zu machen sind. Sonst könnten vielleicht durch eine intensive und unum- schränkte Migrationsfähigkeit, die wir freilich aus der Natur nicht 1) Ich verweise auf die Verwandtschaft der obigen Auffassung mit Nägeli’s Ansicht (angeführt oben). Auch kann ich mir nicht versagen, aus Spencer folgende Stelle zu zitieren: „Wenn eine Spezies komplizierte und wechselnde Lebensbedingungen besitzt, so müssen auch ihre einzelnen Glieder jeweils etwas verschiedenen Gruppen von Bedingungen ausgesetzt sein: die Aggregate von einwirkenden Kräften können unmöglich für alle über einen großen Raum zerstreuten Individuen die gleichen sein. Da nun funktionelle Abweichung stets irgendeine Strukturabweichung im Gefolge haben muss, so strebt jedes Individuum innerhalb des von der Spezies eingenommenen Raumes sich den besonderen Gewohnheiten anzupassen, welche seine besonderen Bedingungen nötig machen, und in gewisser Weise zugleich ungeeignet zu werden für die große Menge der durchschnittlichen Gewohnheiten, welche der Spezies eigen- tümlich sind. Allein diese unzulässigen Spezialisierungen werden beständig durch die Gamogenesis wieder zurückgewiesen“ (H. Spencer, l. c., p. 309). Vgl. ferner M: Kassowitz, Allgem. Biologie, Bd. II, Wien 1899, p. 247. N t Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. S45 kennen, die Individuen den Wirkungen lokaler Machtsphären ent- rissen werden. Für mich ist eben das Getrenntsein, das Individuum- sein etwas Sekundäres, und ein Individuum trägt schon dadurch allein, dass es auf sich selbst angewiesen ist, Keime einer exzessiven Entwickelung in sich. Diese allgemeine Bedeutung musste die Amphimixis schon für die ersten Individualitäten —- etwa monerenartige Wesen — haben, und die gleiche hohe Bedeutung kommt ihr heute innerhalb der Grenzen einer Ärt zu. Und zwar wirkt sie nicht nur im konser- vierenden Sinne, die Konstanz der Art erhaltend, sondern es werden auch Variationen, welche dauernd die Art umprägen sollen, einheit- lich, falls nicht in allen, so doch in überwiegender Mehrzahl der Artvertreter wachgerufen. — Hier drängen sich viele Fragen von großer Tragweite auf, indes muss ich mich mit der obigen An- deutung begnügen. Klar ergeben sich übrigens nach den entwickelten Anschauungen die schädlichen Folgen der Inzucht. Denn durch Amphimixis soll ja das Ganze im Miniaturbild geschaffen werden und dies ist un- erreichbar, sofern die Mischung längere Zeit hindurch innerhalb von Blutsverwandten, also im Teil des Ganzen sich abspielt. Was ich mit dem Nutzen der Amphimixis für die Art meine, wird in seiner Vielseitigkeit am besten durch Vergleich mit einem Staatswesen des Menschen verdeutlicht, und zwar namentlich mit einem solchen vor mehreren Jahrhunderten, wo die Ver- hältnisse einfacher als heute waren. Ich erlaube mir darum den Vergleich genauer durchzuführen. Die gedeihliche Entwickelung einer ausgedehnten Talschaft, z. B. des Landes Uri in der alten schweizerischen Eidgenossenschaft vergleiche ich mit dem Leben einer Art. Die Talschaft besteht wie die Art aus Individuen, und zwar aus solchen, die unter den verschiedensten Bedingungen leben: an unwirtlicher Berghöhe, im üppigen Tal, am fischreichen See und dazwischen alle möglichen Übergänge. Nun könnte das Land als Ganzes unmöglich gedeihen, wenn jeder nur seine nächsten Interessensphären im Auge gehabt hätte und lediglich danach han- delte: ein mutwillig abgeholzter Bergwald würde die Weiler des Tales den Lawinen preisgeben, ein eigensinnig abgelenkter Bach Verheerungen einrichten, die Alpenweiden würden in wilder Wirt- schaft an Ertragsfähigkeit abnehmen, das Durchführen einheitlicher Straßen wäre unmöglich u. s. w. und nicht anders würde es sich mit Beziehungen des Landes in politischer und kirchlicher Hinsicht verhalten. Das Wohl der Talschaft liegt den Landleuten am Herz, und so strömen sie jährlich einmal, alle Männer in Ehr und Wehr, vom vierzehnjährigen bis zum Greis, von Berg und Tal in Tausenden zu einer Landsgemeinde zusammen. Hier, in engster gegenseitiger Fühlung, werden die Interessen des Landes erwogen und erkannt, 846 Janicki, Über Ursprung. und Bedeutung der Amphimixis. und daraus Gesetze für das Verhalten des Einzelnen abgeleitet. Und nur dadurch eben, dass ım weiteren täglichen Leben das Walten und Schaffen des Einzelnen aus den Interessen der Gesamt- heit entspringt, nur dadurch kann sich das emsige Treiben des Volkes zu einem harmonischen Ganzen summieren und so das ruhige Gedeihen der Talschaft bedingen. — Wie steht es nun mit unserer biologischen Art? Hier können die Individuen nicht alle auf ein- mal sich aneinanderlegen, gleichsam eine Landsgemeinde bilden, es liegt ja im Begriff des Individuums, dass es selbständig seine Wege gehen soll, und das bietet ihm bedeutende Vorteile; ein solches allgemeines Zusammentreten wäre ein Ding der Unmög- lichkeit. Die Natur muss nach einem anderen, komplizierteren Ausweg suchen, und dieser bietet sich allein in der Amphimixis. Es besitzt ein jedes Individuum seine eigene Landesgemeinde im Miniatur- bild und diese wird nach jeder Befruchtung m Aktivität versetzt. Und so entspringt die Funktion des einzelnen Individuums jedesmal aus den Interessen der Gesamtheit und fügt sich auch darum in die Gesamtheit ein. — Ich denke, jetzt kann ich wohl nicht miss- verstanden werden. Es mag mir hier eingewendet werden, ein Aufbau des Ganzen im Miniaturbild durch Amphimixis kann erst in der Folge vieler Generationen geschehen und darum könnte das erste Auftreten der Amphimixis nicht die von mir geforderten Vorteile bieten. Allein, je näher die Individuen dem Zustand des Urplasmas waren, desto geringer war, ich möchte so sagen, die exzessive Speziali- sierung, welche eben die Folge langdauernder Individualisation ist. Eben durch Teilung aus einem Ganzen entstanden, war jedes Indi- viduum beinahe ein Abbild des Ganzen, und schon durch Vermischung nur weniger Keimsubstanzen war das Angestrebte erreicht. Erst mit der Zeit wächst in steter Progression das Bedürfnis nach einer mög- lichst allseitigen Kontinuität und dieses Bedürfnis wird auch befriedigt. Ich möchte einen besonderen Vorzug meiner Deutungen darin erblicken, dass der Nutzen, welchen die Amphimixis den Lebe- wesen von heute bietet, auch zugleich der Grund war, warum sie überhaupt zum erstenmal eingegriffen hat, dass die Tätigkeit der Amphimixis in der gesamten Phylogenese eine kontinuierliche und unabänderliche bleibt. Und in diesem Sinne, muss ich ge- stehen, finde ich wenig Befriedigung. wenn bei Weismann und Boveri die Möglichkeit eines gegenteiligen Verhaltens betont wird. So sagt Weismann von der ursprünglichen Bedeutung der Amphi- mixis: „es wäre ja a priori wohl möglich, dass diese eine andere ge- wesen, als sie es bei den relatıy höheren Organismen heute ist, dass also ein Funktionswechsel allmählich eingetreten ist?),* und bei Boveri 1) A. Weismann, Vorträge ete. Bd. II, p. 239. Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 847 lese ich: „Auch ist zu beachten, dass das urspr üngliche Motiv, welches zwei einzellige Wesen zu einer Verschmelzung. ihrer Proto- plasmaleiber Beach hat, wohl kaum das gleiche war, wie das- jenige, nn zur Beibehaltung und weiteren Ausbildung dieser periodischen Zellenvereinigung bis herauf zu den höchsten Orga- nismen geführt hat!).“ Im gewissen Sinne deckt sich die hier entwickelte Bedeutung der ae mit den Anschauungen Darwin’s, Nägeli's, Spencer’s, Hatschek’s, Strasburger's, o. Hertwig’s und Kassowitz im gleichen Gegenstand. Boch glaube ich, dass die Auslegung des a a Amphimixis bei mir eine allgemeinere Form ange- nommen hat und zudem scheint mir die zugehörige Bepründung originell zu sein. Weiter habe ich den Eindruck, dass die neueren, empirisch begründeten Theorien R. Hertwig’s über das Wesen der Befruchtung den von mir eingenommenen allgemeinen Stand- punkt durchaus nicht ausschließen. Dass ich den neuerdings von Schaudinn aufgenommenen Dualismus — das Vorhandensein eines primären männlichen und weiblichen Extrems, welche durch Befruchtung ausgeglichen wer- den?) — nicht annehme und in dieser Frage den von Wei smann, R. Hertwig und Boveri entwickelten Sandhuckt vertrete, ersibt sich von Selbe aus den vorhergehenden Betrachtungen. Als das wesentliche Resultat obiger Auseinandersetzung bietet sich die Erkenntnis, dass dem yin als solchem kein völlig selbständiges Ken zukommt, dass vielmehr nur unter nie auf- hörender Rennanat aller ı der Art das Leben auf die Dauer möglich ist. War auch indessen diese Kontinuität auf den niedrigsten Stufen des Lebens in direktem Zusammenhang der Plasmateile innerhalb weiter Grenzen, als auf dem ud der Panmixis, von selbst gegeben, so konnte die Natur nach der Sonde- rung von selbständigen vegetativen Einheiten, der Individuen, ihr ver ende Bon nur durch periodische aan erreichen, indem jedes Individuum auf der sich stetig erneuernden und aus- dehnenden Kontinuität der Keimsubstanzen, d.h. materieller Träger von . Vererbungspotenzen aufgebaut wird. Auf diese Weise, für unser Auge unsichtbar, wird der notwendige Zusammenhang be- wahrt. — So gewinnt das Individuum einen Bekdaren Chuskier primär Rn eröntlich ist das allen Individuen gemeinsame, das, was sie alle verbindet, gleichsam ein Urplasma der Art. Ist diese Brkenininiz neu? Ich glaube nicht, obschon der ent- wickelte Gedankengang von mir durchaus selbständig konzipiert 1) Th. Boveri, 1. c, p. 36. 2) Schaudinn, Neuere Forschungen etc. p. 33, 34. S48 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. worden ist, und zwar, was ich betont wissen möchte, in seiner Grundlage zunächst gänzlich unabhängig vom Sexualitätsproblem. Wenn ich aber das Erreichte als nicht neu bezeichne, so meine ich damit nur die allgemeine Basis des deduzierten theoretischen Aufbaus. Die konsequente Durchführung des Grundgedankens und seine Anwendung auf das Problem der geschlechtlichen Zeugung scheint mir keine Vorgänger zu besitzen. Verwandte Gedanken- gänge finde ich bei Plato, Schopenhauer und Liebmann. Da- mit erhebe ich aber keineswegs den Anspruch, die Geschichte der Biologie und Philosophie auch nur im entfernten Grade erschöpfend zu überblicken. Eine Verwandtschaft mit Platon’s Ideenlehre lässt sich nicht leugnen, und namentlich hatte Schopenhauer die platonischen Ideen auf die Fragen des Gattungslebens und der Geschlechtsliebe anzuwenden gewusst. Bekanntlich besteht die Ideenlehre „in einem transzendenten Realismus der reinen Form, welcher nur ın dem bleibenden oder stets wiederkehrenden Gattungstypus der Dinge, nicht in dem flüchtigen ephemeren Dasein der im Strome des Ge- schehens zeitlich entstehenden und wieder verschwindenden Indi- viduen ein wahrhaft Seiendes zu erkennen vermag“!). Die pla- tonischen Ideen sind „Arten oder Gattungen, kurz Allgemeinheiten“ (J. E. Erdmann), sie sind dasjenige, was verbleibt, wenn man in einer Mannigfaltigkeit von Individuen die individuellen Unterschiede abzieht. Ist nicht für mich die Kontinuität der Individuen, das Gemeinsame an ihnen das „wahrhaft Seiende“, ım Gegensatz zum Einzelindividuum, weil nur ın der Kontinuität der Einzelnen die Selbständigkeit des Lebens gegeben ist? Wird nicht in meinen Deduktionen das Erblicken des Allgemeinen ım Einzelnen gelehrt? Freilich Platon’s Gattungsidee hat nur transzendente Realität, der Kontinuität der Individuen hingegen kommt empirische Realıtät zu, darin hiegt der Hauptunterschied Plato gegenüber, und der Unter- schied wird noch dadurch vergrößert, dass Platon’s Ideen sich auch auf anorganische Körper erstrecken, ja sogar auf Artefakte wie Tisch, Bett ete. Es bedarf wohl ferner keines Hinweises darauf, dass für meine Auffassung die in der Kontinuität der Individuen sich ausdrückende Idee den Gesetzen der Evolution unterliegt. Indes verliert bei Schopenhauer die platonische Idee in Be- ziehung auf den Gattungs- bezw. Speziesbegriff ihren transzendenten Charakter und nähert sich der positiven Wirklichkeit. Schopen- hauer wiederholt oftmals, dass das Individuum nur von sekun- därer Natur sei, das Primäre ist einzig in der Spezies (er sagt dafür auch „Gattung“) zu suchen. „Für die individuelle Erkenntnis, also 1) Zitiert aus OÖ. Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit. III. Auflage. Straßburg 1900. Kapitel: Platonismus und Darwinismus. p. 320. Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 849 in der Zeit, stellt die Idee sich dar unter der Form der Spezies, welches are durch Eingehen in die Zeit auseinandergezogene Idee ‘ist. Daher ist also die Spezies die unmittelbarste Objektivation des Dinges an sich, d. i. des Willens zum Leben. Das innerste Wesen jedes Tieres, und auch des Menschen, liegt demgemäß in der Spezies: ın dieser also wurzelt der sich so mäßktie regende Wille zum Leben, nieht eigentlich im Individuo“t). Und vollends weiß Schopenhauer mit dieser Auffassung die Geschlechtsliebe in Zusammenhang zu bringen; sie ist ihm euer des Geistes der (Grattung“ im en „Die Gattung allein hat unendliches Leben und ist daher unendlicher Wünsche, nendliche, Befriedigung und unendlicher Schmerzen fähig. Dios aber sind hier in den engen Brust eines Sterblichen eingekerkert: kein Wunder daher, wenn eine solche bersten zu wollen scheint und keinen Ausdruck finden kann für die sie erfüllende Ahndung unendlicher Wonne oder un- endlichen Wehes“?). Diesen schönen Satz Schopenhauer’s be- trachte ıch als dichterischen, vorausahnenden Ausdruck meiner oben entwickelten Gedanken. Zur Zeit Schopenhauer’s wäre biologische Begründung derselben nicht möglich gewesen. Zuletzt mag ein Philosoph unserer Zeit, Otto Liebmann, zu Worte Be Er fußt zwar stark auf den halden vorausg nannten, indes neben Abhängigkeit erblicke ich darin Kon. Beı der Besprechung der Permanenz oder Identität des Typus, der. Gattungs- form (— ee in seinem geistreichen Aufsatz: Piaiaienne und Darwinismus“ schließt der Ya wie folgt: „Denkt man sich daher den zusammenfassenden Überblick eines Zuschauers, dessen Horizont nicht auf die Gegenwart beschränkt, sondern über Ver- gangenheit und Zukunft des Weltprozesses ausgedehnt ist, so wird ihm der Stammbaum und die Generationsreihe ‚einer homogenen Klasse von Organismen sich darstellen wie eine einzige, enlich distrahierte enuns sıdee, zu der die einzelnen individuellen Glieder des Stammbaums sieh: verhalten, wie vergängliche Kopien zu einem konstanten Urbild... — Da wären wir denn glücklich wieder beim Platonismus angelangt! Und weil nun der Kitt, der die räumlich-zeitliche Vielheit eines Stammbaums gleichförmiger Organismen zusammenhält, nichts anderes ist als der Prozess der ‚Zeugung, in welchem die Gattungsidee sich zu konzentrieren und mit aller ihrer Kraft zu wirken scheint, so beweist es tiefen Ein- blick, dass Platon die geschlechtliche Liebe als etwas Göttliches, Erzeugung und Bioplmenis als das Unsterbliche im sterblichen Leben bezeichnet?).“ — Passt nicht meine Vorstellung in dieses, für den Biologen freilich etwas unbestimmt gezeichnetes Bild, wenn l) A. Schopenhauer, ].c., Bd. II, p. 554. 2) A. Schopenhauer, 1. c., Bd. II, p. 632. 3) ©. Liebmann, |. e,, p. 332, 333. xXXVI. 54 850 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. auch die Übereinstimmung nur eine entfernte und nicht in jeder Hinsicht streng durchzuführende ist. Aus dem Lager der Biologen möchte ich mich auf K. Fr. Burdach berufen. : Freilich fasst er die „Liebe“ in sehr weitem Sinne auf, so dass auch chemische Verwandtschaft der anorganischen Stoffe darın Berücksichtigung findet. Dessen ungeachtet bleibt den Ausführungen Burdach's ein hoher Wert erhalten. „Die Liebe ist das Gefühl der Einheit in dem Getrennten!).“ „Das Einzel- wesen muss die Schranken seiner Besonderheit schmerzlich fühlen und eine Befriedigung suchen, die es nicht in sich selbst findet, sondern nur im Unendlichen ... Die Unvollkommenheit besteht darin, dass jede Einzelheit bloß eine bestimmte Richtung des all- gemeinen Seins ausdrückt und nicht umfassend ist; dass sie nur bestimmte Kräfte besitzt und der übrigen ermangelt. Da nun aber das allgemeine Sein nur allseitig in die Mannigfaltigkeit der ver- schiedenen Einzelheiten sich entwickeln kann, so muss die Richtung oder die Kraft, welche der einen Individualität abgeht, ın der anderen sich finden. Beide verhalten sich demnach als die einander ergänzenden Bruchstücke einer und derselben Wesenheit, als die verschiedenen, getrennten Richtungen eines ursprünglich ungeteilten Seins: indem jedes, für sich unvollständig, dasjenige besitzt, was dem anderen mangelt, wird ihre Vereinigung ein Abbild des Ganzen, Einigen, Vollendeten. So entsteht die Liebe zu anderen Indivi- duen*“ ...2). „Die Liebe überhaupt beruht also auf dem ursprünglichen Einssein des Mannigfaltigen°®).“ „Aus einem Urquell dringt alles Leben hervor; es erfreut sich der Mannigfaltigkeit und strömt in tausend und abermal tausend verschiedenen Richtungen daher. Doch was ursprünglich eins war, soll auch wieder eins werden, trotz der Getrenntheit in der äußeren Erscheinung; und die Liebe ist dies vereinende Band, welches ım niederen Leben herrscht, ohne erkannt zu werden, und noch mit dem Triebe der Selbsterhaltung verschmolzen ist, um in der Menschenseele erst seinen wahren Sinn völlig zu offenbaren *).“ — Sind nicht ın den obigen Zitaten 1) K. Fr. Burdach, Die Physiologie als Erfahrungswissenschaft. Bd. I, Leipzig 1835, p. 434. 2) Ebenda, p. 432, 433. 3) Ebenda, p. 432, 438. 4) Ebenda, p. 442. — Der zuletzt zitierte Satz findet sich freilich bei Burdach in einem anderen Zusammenhang, als das der Leser vielleicht aus meiner Zusammen- stellung der Zitate entnehmen könnte; er ist nämlich in eine Betrachtung über Be- fruchtung der Pflanzen durch Insekten eingeflochten, und unmittelbar somit durch die „Liebe“ zwischen Pflanze und Insekt veranlasst. Es ist aber bezeichnend für Burdach’s Schreibweise, dass vielfach mitten in einer speziellen Darstellung, gleich- sam im übersprudelnden Gedenkenflug, ein Satz hervorleuchtet, der sich nicht an das unmittelbar Diskutierte bezieht, sondern, für den Leser unerwartet, das ganze Problem von einem oberen Gesichtspunkt aus umfasst. Und so kann mir nicht . Ka te a Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. 851 Gedanken von bleibender Bedeutung eingestreut, Gedanken, die von tiefgehendem Geist erzeugt, in der Zukunft fortwirken werden ? Beiläufig sei darauf hingewiesen, dass der sich etwa aufdrängende Vergleich mit der bekannten Vorstellung, welche Arıstophanes in Platon’s Gastmahl vom Wesen des Eros entwickelt, nicht auf den Kernpunkt des von mir vertretenen Standpunktes passt, wie das weiter nicht ausgeführt zu werden braucht. Und wenn auch Burdach die platonische Allegorie eingehender bespricht!), so ist aus den übrigen Äußerungen dieses Physiologen sicher zu ent- nehmen, dass ıhn die Vorstellung von dem bloßen sich Suchen und Finden zweier Spalthälften des Menschen nicht zu befriedigen vermag. Es ergibt sich von selbst, dass mit dem gewonnenen Gesichts- punkt eine von der hergebrachten abweichende physiologische Be- wertung des Individuums auf der einen, des Lebensvorgangs auf der anderen Seite verknüpft ist. „Unter pflanzlichem und tierischem Indi- viduum versteht man in physiologischer Hinsicht eine Lebenseinheit, die nach außen abgegrenzt, sich selbst zu erhalten imstande ist, weil sie mit den Grundfunktionen des Lebens ausgerüstet ist, mit der Funktion, sich zu ernähren und zu wachsen, sich fortzupflanzen, gegen Reize der Außenwelt ırrıtabel zu sein und auf sie ın ver- schiedener Art zu reagieren?).“ In diesen Worten O. Hertwig’s dürfte eine objektive Darstellung der heute verbreiteten Bewertung des Individuums gegeben sein. .So wäre das Leben an selbständige Träger, die Individuen, gebunden, diese sind „Naturkörper, welche sich aus in ihnen liegenden Ursachen verändern“ oder auch sich unverändert zu erhalten vermögen’), in einem Individuum steckt potentia schon das ganze Lebensrätsel, und eine Vielheit der Indi- viduen, eine Gemeinschaft, wäre lediglich ein Multiplum des Ein- zelnen®). Dass ein Individuum sich „geschlechtlich fortpflanze“, das ändere ja die Sachlage nicht: „die Fortpflanzung ist weiter nichts als ein Ersetzen des alten Individuums durch neue°);* „für die Beschaffenheit des neuen Individuums ist es ebenso gleichgültig, ob es aus einer einzelnen Schwärmspore oder aus einer Zygospore entstanden ist, wie es für die Mutterpflanze gleichgültig ist, ob die x etwa der Vorwurf erhoben werden, durch unzusammenhängende Zitate beim Lesen einen anderen Eindruck als den, welchen der zitierte Autor beabsichtigt hatte, her- rufen zu wollen. 1) Ebenda, p. 433, 434. 2) O. Hertwig, Allgemeine Biologie. Jena 1906, p. 371. 3) W. Roux, Die Entwickelungsmechanik, ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft. Vorträge und Aufsätze ete. Heft I, Leipzig 1905, p. 107. 4) In diesem Sinne arbeitet z. B. tatsächlich die Selektionstheorie. 3):M.»Möbius, 1]: €; sp. 7. 54* 852 Janicki, Über Ursprung und Bedeutung der Amphimixis. von ıhr erzeugten Schwärmer kopulieren oder nicht“!). Gerade nun gegen diese Gleichstellung der „geschlechtlichen Fortpflanzung“ unter anderen Lebensfunktionen möchte ich meine Stimme nach- drücklich erheben. Die Ernährung, Bewegung, Reizreaktionen können und müssen am Individuum studiert werden. Die Gesamtheit des Lebensvorgangs kann aber an einem Einzelnen nicht erkannt werden, weil Leben untrennbar an die Kontinuität der Individuen verkettet ist. Darum werden wir auch niemals imstande sein, das Wesent- liche des Lebensprozesses ın die starre Form des Experiments zu bringen. Wie sollten wir es fassen? Was uns in den Händen bleibt, ıst Fragment, und dieses Fragment steht eben nicht im ein- fachen quantitativen Verhältnis zum Ganzen. Dem Strom des Lebens stehen wir gegenüber wie eine Ameise etwa dem mächtigen Toben und Brausen des Schaffhauser Rheinfalls gegenübersteht; ein einziges Wasserteilchen kann sıe vielleicht erhaschen, was bleibt aber ın dem Tröpfehen von dem grandiosen Wasserfall übrig? Das qualitative Verhältnis des Fragments zum Ganzen wird durch Amphimixis bewerkstelligt, sie ist es, die erhält und erneuert den Zusammen- hang des scheinbar Getrennten, wenn sie auch zwar nur auf wenige Augenblicke im langen vegetativen Leben beschränkt bleibt; daher ihre potenzierte, von den übrigen Funktionen her unbekannte grenzen- lose Macht — daher übrigens auch das Verkennen des wirklichen Sachverhalts. Befruchtung ist als „mietische* Funktion allen übrigen Funktionen, als „vegetativen“* entgegenzusetzen. Unter die letztgenannte Kategorie fallen demgemäß auch die Erscheinungen der vegetativen Fortpflanzung, gleichviel ob dieselbe durch Einzel- zellen (Sporen), oder durch Knospen etc. bewerkstelligt wird (aus- genommen die sekundäre Rückbildung der Sexualität — Partheno- genese)?). Wenn auch die scharfe Trennung der gekennzeichneten 1) Möbius, I. c., p. 8 u. 9, vgl. auch p. 21, 22. 2) Über gegenteilige Systematisierung der verschiedenen Fortpflanzungsarten vgl. M. Möbius, G. Klebs und M. Hartmann. Möbius unterscheidet die Fort- pflanzung durch Knospen und Keime; ob die Vermehrung durch Keime geschlecht- lich oder ungeschlechtlich erfolgt, ist diesem Autor Nebensache (M. Möbius, l. e., p. 8, 9). Auch Klebs schließt sich Möbius an, indem der Gegensatz zwischen sexueller und asexueller Fortpflanzung bei ihm in den Hintergrund tritt. Hauptsache liegt in dem „Nachweis des physiologischen Gegensatzes, der zwischen Wachstum und typischer Fortpflanzung besteht; von ihm muss man für alles weitere ausgehen“ (G. Klebs, Zur Physiologie der Fortpflanzung einiger Pilze, p. 183). Hartmann stellt die Zytogonie der vegetativen Propagation entgegen; die Zyto- gonie tritt in zwei Formen auf: als Agamo- und Gamogonie (M. Hartmann, Die Fortpflanzungsweisen der Organismen etc., Biol. Centralbl., Bd. XXIV, 1904, p. 27). R. Hertwig betont, in seiner eingehenden Besprechung des Gegenstandes, die isolierte Stellung der Sexualität, die „ihrem Wesen nach nichts mit der Fortpflan- zung zu tun“ hat; indes vermeidet dieser Autor aus dem genannten Satze die letzte Konsequenz zu ziehen (R. Hertwig, Mit welchem Recht unterscheidet man ge- schlechtliche und ungeschlechtliche Fortpflanzung? p. 10). ne ne nn a a na nn Janicki, Über Ursprung und Bedeutnng der Amphimixis. s55 Funktionen bei den Infusorien etwa deutlich zum Vorschein kommt, so wird sie verwischt bei höheren Pflanzen und Tieren dadurch, dass Amphimixis mit der Fortpflanzung notwendig kombiniert bleiben muss. Es ist nur von sekundärem Charakter an der Befruchtung, dass sie gleichsam durch die enge Pforte der Keimzelle hindurch muss. Darum ist das Wesen der Befruchtung kein zytologisches Problem, sondern ein Problem der Lebensgemeinschaft. Wenn die Physiologie die Erkenntnis des Lebens anstrebt, so muss sie die Funktion der Amphimixis immer ım Auge behalten: ein Indivi- duum — ist kein volles Leben. — Nach alledem bleibt es mir unbe- greiflich, wie in einem modernen Lehrbuch der Physiologie folgendes verkündet werden kann: „Ein letzter Abschnitt, die Lehre von der Fortpflanzung und zeitlichen Veränderung des Körpers vom Anfang bis zum Tode, ıst rein morphologischer Natur und könnte wegen seines ganz heterogenen Inhaltes füglich auch von der Phy- sıiologie abgetrennt und den deskriptiven Fächern, besonders der Anatomie, zugewiesen werdent).“ Oder soll das vielleicht ein Fort- schritt den feinsinnigen Ausführungen Burdach’s gegenüber sein? — Wenn W.Roux die Aufgabe der Probiologie dahin definiert: „Sie muss also suchen, Isoplasson, Autokineon und Automerizon ım Laboratorium herzustellen?),* so folgt aus dem oben Begründeten allein, in durchaus prinzipieller Hinsicht, dass die Bestrebungen der neuen Wissenschaft nur negative Ergebnisse liefern können. Denn, mag ein Isoplasson etc. noch so klein und noch so einfach sein, es ist eben als Person gedacht, und personifiziertes Leben ist für sich nicht existenzfähig. Mit der besten Kenntnis der che- mischen Konstitution des Protoplasmas werden mir nicht imstande sein, einen Lebensprozess zu wecken. Nur im Zusammenhang: ist Lebendiges denkbar, und was wir Leben nennen, das geht weit, weit über das Fassungsvermögen unserer Retorten hinaus! Darum glaube ich, dass — trotz Wöhler’s großer Tat — die vorge- zeichnete Aufgabe der Probiologie nur graduell und nicht im Prinzip von dem geheimnisvollen Treiben des Famulus Wagner sich unterscheidet: „Schon in der innersten Phiole erglüht es wie lebendige Kohle... Es wird ein Mensch gemacht.“ Ich bin mir sehr wohl bewusst, worin die Schwäche meiner ganzen Ableitung liegt, es ist dies die Verlegung des Ursprungs der Amphimixis in einen hypothetischen Zustand des Urplasmas, und dieser Zustand entzieht sich ja auf immer jeder Beobachtung. Allein, ich glaube, es ist das Schicksal der Biologie, dass sie ihre Hauptfragen niemals mit dem Grad von Exaktheit zu beantworten ) L. Hermann, Lehrbuch der Physiologie. XI. Aufl., Berlin 1896, p- 8. 2) AN: -BRoux lic. p.149. Vo D 854 Koltzoff, Über das Skelett des tierischen Spermiums. imstande sein wird, wie dies die Chemie und Physik tun können. Denn mehr als im Reich des Anorganischen tritt in den Erschei- nungen des Lebens das Gewordene, das sekundär Verschobene in den Vordergrund und verschleiert uns den primären Zusammenhang des Geschehens. Dem Biologen bietet sich die Lebewelt, um an einen irgendwo von Ostwald in ähnlichem Zusammenhang ge- brauchten Vergleich anzuknüpfen, lediglich in einem Querschnitt von heute dar. In das Dunkel der räumlichen Verkettung von Er- scheinungen einzudringen — mag dem einen als vermessenes Beginnen vorkommen, auf den anderen übt es unwiderstehlichen Reiz der Anziehung aus. Basel, Zoolog. Institut der Universität, Anfang Mai 1906. Über das Skelett des tierischen Spermiums. Von N. K. Koltzoff. (Aus dem vergleichend-anatomischen Institute der Moskauer Universität.) I. Vor drei Jahren habe ich ın dieser Zeitschrift!) zum ersten Male meine Betrachtungen über das Problem der Zellengestalt veröffentlicht und einen Versuch gemacht, zu beweisen, dass jede Zelle, welche eine konstante äußere Form besitzt, aus einem flüssigen Plasmatropfen und einigen festen elastischen Skelettgebilden be- steht: durch dieses feste Skelett ist die spezifische von der Kugel- form abweichende Gestalt der Zelle verursacht. Ebenso sınd feste Skelettgebilde in allen bewegungsfähigen Zellen, ausgenommen die amöboiden, zu entdecken: hier spielt das Skelett die Rolle eines Mechanismus, welcher aus einer ungeordneten amöboiden Bewegung eine geordnete (Flimmer- oder Muskel- u. s. w.) Bewegung macht. Demselben Problem der Zellengestalt habe ich meine „Unter- suchungen über die Spermien der Decapoden“ gewidmet, welche als I. Teil der „Studien über die Gestalt der Zelle“ im Archiv f. mikr. Anatomie, Bd. 67, erschienen sind. Seitdem lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die Spermien .anderer Tierklassen, sowohl auf die typischen — flagellatenförmigen — als auch auf die atypischen. Freilich ist die Struktur dieser Spermien meistens von mehreren erfahrenen Cytologen schon oft untersucht worden. Ich habe mir aber eine ganz spezielle Aufgabe gestellt: das Skelett der Spermien und namentlich das Skelett des Spermiumkopfes festzustellen und die Gestalt der Spermien zu erklären. Eine genaue Beschreibung meiner Untersuchungsmethoden und aller meiner Beobachtungen über die Struktur der verschiedenen 1) N. Koltzoff, Über formbestimmende elastische Gebilde in Zellen. Biolog, Centralbl., Bd. XXIII, 1903. - Koltzoff, Über das Skelett des tierischen Spermiums. s55 Spermien (ich habe mehr als 100 Arten untersucht) beabsichtige ich bald, ım II. Teile meiner „Studien über die Gestalt der Z elle“ zu veröffentlichen. Da aber einige von mir gewonnene Resultate vielleicht auch außerhalb des engen Kreises meiner Fachgenossen Interesse finden könnten, so will ich diese hier kurz zusammen- stellen. Bei einer neuen Bearbeitung eines Objektes, welches schon vielfach untersucht worden ist, spielen die Untersuchungsmethoden die wichtigste Rolle. Außer Beobachtung der lebenden Spermien und Spermatiden und gewöhnlichen Macerations- und Färbemethoden, habe ich bei meinen Spermienstudien die drei folgenden Untersuchungs- methoden angewandt, nämlich Experimente mit 1. Plasmolyse des Spermiums, 2. Quellung desselben und 3. der Löslichkeit der verschie- denen Spermiumbestandteile in manchen Reagentien. Die Experimente mit Plasmolyse und Quellung der Zelle geben uns das Mittel, das Volumen bezw. die Gestalt der lebenden oder toten Zelle künstlich zu verändern und auf diese Weise den Zusammenhang der flüssigen und festen Teile der Zelle festzustellen. Was aber die dritte Me- thode betrifft, so gelang es mir ın vielen Fällen, mit starken Reagentien — Alkalien und Säuren — die verschiedenen Bestand- teile des Spermiums einen nach dem anderen aufzulösen und so reine Spermiumskelette zu erhalten. Ich will meine Erörterungen nach der Reihenfolge dieser drei Untersuchungsmethoden vorführen. Il In meinen oben zitierten Arbeiten brauchte ich den Namen „Plasmolyse“ in dem weiteren Sinne des Wortes, als Veränderung der Zellengestalt unter verschiedenen osmotischen Bedingungen. Beim Steigen des äußeren osmotischen. Druckes zieht sich der plasmatische Zellkörper zusammen, bei seiner Verminderung strebt das Volumen des Plasmakörpers sich zu vergrößern. Bei den pflanz- lichen Zellen, welche ein äußeres Skelett — die Cellulosemembran — besitzen, bemerken wir in hypertonischen Lösungen eine typische Plasmolyse, indem der flüssige Plasmakörper sich zu einer Kugel zusammenzieht und von der festen Membran sich ablöst. Dagegen besitzen die tierischen Zellen meistens ein inneres Skelett, welches in hypertonischen Lösungen samt dem Plasmakörper sich zusammen- zieht und zwar in solcher Weise, dass die äußere Gestalt der Zelle noch ausgeprägter wird; in hypotonischen Lösungen aber bläht sich die Zelle auf, mehr und mehr die Kugelgestalt annehmend, und dabei löst sich oft die äußere Plasmaschicht vom inneren Skelette ab (das entspricht der Plasmolyse in eigentlichem Sinne des Wortes). Dementsprechend ist bei der Untersuchung der tierischen Zellen die Wirkung hypertonischer Lösungen deswegen interessant, weil hier oft die festen Gebilde, wie Rippen auf einem s56 Koltzoff, Über das Skelett des tierischen Spermiums. abgemagerten Wirbeltierkörper deutlich werden; die Wirkung hypo- tonischer Lösungen dagegen wird uns aus der Fig. 1 klar, welche die Plasmolyse des Anodonta-Spermiums darstellt. In dieser Figur links (a) ist ein reifes lebendes Spermium, wie es in der Flüssigkeit der Mantelhöhle (4 = c. —0,5°) beobachtet wird, gezeichnet. Wir sehen einen ovalen zusammengepressten Kopf, hinter ihm 4—-5 Schwanz- oder Halskügelchen und eine Geißel mit ihrem Endstück. Wenn wir unter das Deckgläschen einige Tropfen destilliertes Wasser zufließen lassen, so verändert sich die Gestalt aller Spermien, indem ihr Volumen sich vergrößert. Vier solche Spermien sind auf der Fig. 1 b—d dargestellt. Fig. 1. 1. Die erste Tatsache, welche durch dieses Experiment be- wiesen wird, ist das Vorhandensein einer Plasmahaut, welche, als eine dünne ununterbrochene Schicht die Oberfläche des Spermiums bedeckt. In hypotonischer Lösung bildet sich zwischen dieser Plasmahaut und dem festen Skelette eine Vakuole, indem die Plasma- haut, vom inneren Skelette sich ablösend, zu einer Kugel sich auf- bläht. Gewöhnlich bildet sich eine solche Kugel zuerst um den Kopf herum und dann wird sie allmählich größer, indem das feste Skelett des Schwanzes sich auf ihrer inneren Oberfläche in mehreren Windungen zusammenrollt. Das Endresultat ist, dass das ganze Spermium kugelig wird. In dem destillierten Wasser kann der innere Turgor des Spermiums so hoch steigen, dass die äußere Koltzoff, Über das Skelett des tierischen Spermiums. 857 Plasmahaut platzt; die Deformation des festen Skelettes, welche durch Ausdehnung der Plasmahaut bedingt war, wird jetzt beseitigt und das Spermium, von seiner semipermeablen Plasmahaut befreit, kehrt wieder zur Normalgestalt zurück. Ebenso kann das kugelig gewordene Spermium auch seine normale Gestalt wieder annehmen, wenn es vor dem Platzen der semipermeablen Membran in die isotonische Lösung wieder zurückgebracht wird. Freilich ist hier die Reversibilität der plasmolytischen Reaktion nicht so vollkommen, wie ich bei Inachus-Spermien (eines Decapoden) beschrieben habe; denn bei den Anodonta-Spermien, ebenso wie bei den meisten von mir untersuchten flagellatenförmigen Spermien, wird das Skelett durch Plasmolyse mehr oder weniger beschädigt und kann des- wegen in der isosmotischen Lösung seine normale Gestalt nicht wiedergewinnen. Die Plasmolyseversuche mit den Anodonta-Spermien erlauben uns, noch drei weitere Tatsachen festzustellen: 2. Die semipermeable Plasmahaut bedeckt hier die ganze Ober- fläche des Spermiums sowohl im Kopfteile als auch im Schwanze bis zu dessen Endstück. Zuweilen entstehen gleichzeitig zwei un- abhängige Vakuolen, wie auf Fig. 1b. 3. Diese semipermeable Plasmahaut ist flüssig und entbehrt jeglichen eigenen festen Skelettes. Es kommt ralieh oft vor, dass zwei en von zwei verschiedenen Spermien während des Experimentes zusammenstoßen; in diesem Falle können sie zu- sammenfließen und so entsteht eine große kugelige Vakuole mit einer gemeinsamen Plasmahaut (Fig. 1d). 4. Der Kern bildet ein besonderes osmotisches System mit einem festen, im Leben unsichtbaren, äußeren Skelette. Die Elastizität dieses Skelettes ist so groß, dass der Kern bei der Plasmolyse seine Gestalt nur wenig ändert. Es kann aber auch vorkommen, dass unter starker Volumenzunahme der Kern selbst kugelig wird; wahrscheinlich wird in diesem Falle das Skelett ganz oder teil- weise zerstört (Fig. 1c). Die oben beschriebenen plasmolytischen Erscheinungen sind mehr oder weniger in allen tierischen Spermien zu beobachten. Es ist mir gelungen, fast alle von mir untersuchten flagellaten- förmigen Spermien in die Kugelgestalt überzuführen. Man braucht nur zu diesem Zweck mehr oder weniger stark verdünnte Lösungen eventuell destilliertes Wasser, einwirken zu lassen: sofort werden alle vorher sich rasch bewegenden Spermien kugelig und be- wegungslos. Diese Reaktion ist so beständig und so leicht aus- zuführen, und das Material für dieses Experiment so leicht zu- gänglich, dass sein Gebrauch bei verschiedenen Untersuchungen nicht warm genug zu empfehlen ist. Es genügt, nur zwei Bei- spiele, wo dasselbe angewandt werden könnte, zu nennen. s58 Kolzoff, Über das Skelett des tierischen Spermiums. 1. Wenn man die Wirkung der Zellgifte untersuchen will, so ist es notwendig, den Moment des Todes der Zelle genau zu be- stimmen. Die Plasmolyse der Spermien gibt uns ein Mittel dazu: so lange diese im destillierten Wasser kugelig zu werden imstande sind, sind sie noch lebend, denn ihre Plasmahaut ist noch semi- permeabel. Die Beweglichkeit der Spermien erlischt viel eher, als die Semipermeabilität der Plasmahaut; nach ihrem Erlöschen kann die Beweglichkeit durch Wirkung gewisser Reizmittel aber wieder erweckt werden, so lange nur die Plasmahaut noch lebt und semi- permeabel bleibt. Ebenso ist es leicht zu ersehen, dass auf dem oben beschriebenen plasmolytischen Wege leicht zu bestimmen ist, ob dieser oder jener Farbstoff intra vitam oder post mortem in die Zelle eindringt. 2. Viele Vorteile hat das Objekt auch bei Untersuchungen über Permeabilität der Plasmahaut für verschiedene Stoffe. So ist es leicht zu beweisen, dass, z. B., für den Harnstoff die Spermien permeabel sind: in einer isotonischen Harnstofflösung werden sie allmählich kugelig. Die Frage über den Stoffwechsel in den Sper- mien ist bis jetzt kaum berührt. Ich bin überzeugt, dass bei der Lösung dieser Frage die plasmolytische Methode eine wichtige Rolle spielen wird, II. Die Plasmolyse der Anodonta-Spermien legt uns klares Zeugnis dafür ab, dass hier der Kopf, wie der Schwanz, ein festes Skelett besitzen. Das Skelett des Kopfes sehen wir bei plasmolytischen Erscheinungen nur in seltenen Fällen. So ist bei Spermien von Helix, von Opilio, von Turbellarien ete. das Kopfskelett nm (restalt von einer oder mehreren Spiralfäden, welche den ver- längerten Kopf mit engen Spiralwindungen umschlingen, sogar in ısotonischer und noch besser in hypertonischer Lösung zu sehen. Meistens aber ist es nötig, die Spermien zu färben, indem man für das Chromatin einen basischen Anilinfarbstoff und für die Skelett- fasern einen sauren anwenden muss. Glänzende Färbungen habe ich mit Biondigemisch bekommen, welches das Chromatin grün, das Skelett aber rot färbt. Auf diese Weise habe ich das Kopf- skelett fast ın allen von mir untersuchten Spermien gesehen. Es besteht gewöhnlich: 1. aus einem Längsfaden, welcher vom Per- foratorıum beginnt und unter der Oberfläche des Kopfes geradlinig oder in weiteren Spiralwindungen zum Halsstück absteigt, und 2. aus einer oder mehreren parallelen Spiralfasern mjt engen Spiral- windungen. Diese letzte Spirale gibt dem Chromatintropfen die Gestalt einer Säule, der Längsfaden aber bestimmt die zylinder- artige oder event. schraubenförmige Gestalt der Säule. — Das ist sozusagen ein Schema des Kopfskelettes, welches verschiedenartigen Variationen unterliegt. Was aber das Hals- und Schwanzskelett Koltzoff, Über das Skelett des tierischen Spermiums. 859 betrifft, so waren hier schon längst verschiedene faserige Strukturen bekannt, von welchen die meisten die Rolle von Skelettgebilden spielen. Dem Leser kann es scheinen, dass ich ganz willkürlich alle diese Fasern als feste formbestimmende Skelettgebilde betrachte; man wird einen Beweis fordern, dass es nicht kontraktile event. nervöse Strukturen seien. Diesen Beweis geben, wie mir es scheint, einige Experimente mit der Wirkung von Quellung. Die Spermien- ' köpfe quellen unter Einwirkung von verschiedenartigen Reagentien; als Beispiel können fast alle Säuren und Alkalien, starke Lösungen von Anilinfarbstoffen, verschiedene Fixierungsflüssigkeiten u. s. w. ge- nannt werden. Beim Quellungsprozess wird der Turgor des Chromatin- tropfens so stark, dass einige Skelettfasern, wie Reifen auf einem . überfüllten Fass, springen und der Spermiumkopf jetzt bloß durch in- takt gebliebene Skelettgebilde zurückgehalten wird, eine vollkommen kugelige Form anzunehmen. Von den verschiedenen Reagentien, welche das Quellen verursachen, benutzt man am bequemsten ohne irgendwelche vorherige ianerune der Spermien das starke unver- dünnte Biondigemisch, da dieses zugleich die gequollenen Spermien färbt. ! Auf der Fig. 2a—d sind Spermien von einer Schlange (Coronella austriaca) in verschiedenen Quellungsgraden abgebildet. Fig. 2a stellt den Spermiumkopf ım normalen Zustande dar. Man sieht, dass der Kopf nicht zylindrisch ist, sondern in einer leichten schrau- bigen Windung von etwa °/, Umgängen gewunden ist. Dement- sprechend macht auch der Längsfaden eine ebensolche Windung; die Spirale mit mehreren engen Umgängen, das Perforatorıum und zwei Zentralkörperringe sind auch vorhanden. Im Anfangsstadıum der Quellung (Fig. 2b) bricht gewöhnlich die enggewundene Spirale teilweise auseinander, und an der Stelle, wo die Spirale geplatzt ist, dehnt sich der flüssige Chromatıninhalt zu einer Blase aus; der intakt gebliebene feste Längsfaden aber erlaubt nicht dem Chromatin- s60 Koltzoff, Über das Skelett des tierischen Spermiums. tropfen kugelige Gestalt anzunehmen. In dem Falle dagegen, dass auch der Längsfaden teilweise zerstört wird, sehen wir einen schönen kugeligen Chromatintropfen (Fig. 2ec). Noch lehrreicher ist Fig. 2d: durch den höchsten Grad der Quellung ist die ganze enggewundene Spirale vernichtet, der Längsfaden aber bleibt intakt. Jeder, wer diese Figur sieht, kann ihr keine andere Erklärung geben als die, dass hier nur eine feste Faser den flüssigen Tropfen die Kugel- gestalt anzunehmen verhindert. Aus der Sammlung meiner Zeichnungen will ich hier nur noch eine Abbildung veröffentlichen. Fig. 3 a—c stellt ein normales und zwei, durch Quellung in starker Biondilösung veränderte Geißel- stücke von Planorbis-Spermien dar. Die Geißel des normalen Sper- miums (a) besteht aus einem axialen Strang, welcher von drei parallelen Spiralfasern umwickelt ist. Von diesen drei ist eine Faser dicker als die zwei anderen, der Länge nach aber sind sie alle gleich. Die Spiralfasern wie der axiale Strang sind quellungsfähig. Die Quellung äußert sich hier darin, dass die Fasern dicker und kürzer werden. Das Resultat der Quellung kann verschiedenartig ausfallen: entweder bleibt die Konfiguration der Spiralfasern dieselbe wie am lebenden Spermium, oder es nähern sich die Fasern, auf der Ober- fläche des axialen Stranges gleitend, ein- ander (Fig. 3c). Es kann auch geschehen, dass die dünneren Fasern bei der Quellung sich mehr verkürzen als die dickere; ın diesem Falle, wie leicht zu verstehen ist, kann der axiale Strang nicht seine frühere zylindrische Gestalt bei- behalten und wird schraubenförmig, was wir ın der Tat in manchen Fällen beobachten (Fig. 3 b). Aus den oben beschriebenen Quellungsveränderungen der Planorbis-Spermien können wir außer der Grundtatsache, dass die Spiralfasern hier wirklich fest und formbestimmend sind, noch die drei folgenden Schlussfolgerungen ziehen. 1. Die quellungsfähigen Fasern müssen eine besondere innere Struktur haben und ihrerseits aus einem festen Skelett und aus inneren, von einer Flüssigkeit gefüllten, Zwischenräumen bestehen. Die Hypothese, dass die Fasern eine wabige Struktur besitzen, macht ihre Quellungsfähigkeit vielleicht am meisten verständlich. Bekanntlich zerfallen ın mehreren Fällen die Fasern des Spermien- geißels in Fibrillen; auch diese Tatsache beweist, dass sie eine feinere Struktur haben, widerspricht aber der Hypothese ihrer Wabenstruktur nicht. Doch kann aber in diesem Falle auch die Koltzoff, Über das Skelett des tierischen Spermiums. 561 Anschauung von F. Meves!) gelten, nach welcher der von ihm in den roten Blutkörperchen beschriebene, formbestimmende und ebenso, wie es scheint, quellungsfähige Randreifen aus einem Bündel durch Querverbindungen (Quermembranen) zusammengehaltener Fasern besteht. 2. Die Spiralfasern gleiten auf der Oberfläche des axialen Stranges frei, d.h., sie sind durch keine feste Membran miteinander verbunden; denn sonst würden wir auf den Stadien der Fig. 3 b und 3c irgendwelche Falten und zerrissene Stellen in dieser Mem- bran sehen, wenn sie vorhanden wäre. 3. Eine schraubenförmige Gestalt kann das Resultat einer ver- schiedenen Länge von zwei oder mehr spiraligen Skelettfasern sein. Und in der Tat ıst das oft die Ursache der oft vorkommenden schraubigen Gestalt des normalen Spermiumkopfes (z. B. bei Palu- dina vivipara). Der Längsfaden des Spermiumkopfes von Coronella ist ebenfalls doppelt und besteht aus einem dickeren und einem dünneren Faden. IV. Da das Skelett des Spermiums fest ist, so liegt der Gedanke nahe, dass es auch der chemischen Wirkung verschiedener Reagenten gegenüber widerstandsfähiger als andere Bestandteile des Spermiums sein muss. Dass dem so ist, beweisen die Resultate sogen. Macera- tionen (besonders die Arbeiten von E. und K. Ballowitz); wenn man die Spermien irgendwelcher Art in isotonischen oder hyper- tonischen Salzlösungen längere Zeit liegen lässt, so bekommt man feine fibrilläre Strukturen (Spermiumskelette): alle anderen Bestand- teile lösen sich auf. Nachdem ich mehrere Versuche mit der dauernden Wirkung von verschiedenen Salzlösungen angestellt habe, kam mir der Gedanke, die Wirkung einiger stärkerer Reagentien — Säuren und Alkalien — zu probieren. Die Resultate dieses Versuchs waren sehr günstig: es gelang mir in vielen Fällen, auf diese Weise sehr feine Spermienskelette rasch herauszupräparieren. Eines von solchen Experimenten will ich hier beschreiben. Auf der Fig. 4a ıst ein mit dem verdünnten Biondigemisch gefärbtes Spermium von Siredon piseiformis abgebildet. Man sieht den Kopf mit dem Perforatorıum, den Hals, welcher hier von dem riesigen proximalen Zentralkörper gebildet ist, und den vorderen Schwanzteil mit dem Achsenfaden und dem Nebenfaden. Fig. 4b zeigt uns ein anderes Axolotlspermium, welches ın starkem Biondi- gemisch gefärbt ist. Hier sind zwei Skelettfaden des Kopfes, welche denen von Coronella entsprechen, zu sehen. Die von dem Spiral- faden umwickelte Chromatinmasse ist stark gequollen, indem sie nicht nur viel dicker, sondern auch länger geworden ist. Sie hat 1) Anatomischer Anzeiger, 1906. 362 Koltzoff, Über das Skelett des tierischen Spermiums. sich von dem Längsfaden teilweise abgelöst; diese Tatsache deutet auf die selbständige formbestimmende Bedeutung der Fäden beider Arten hin. Wenn man frische Spermien ın Alkoholäther kocht, ıst Fig. 4. a b keine Grestaltsverände- rung zu merken; das bedeutet, dass Lecithin und Fette, welche dabei gelöst werden, in der Ge- staltsbestimmung keine Rolle spielen. In ver- dünnten KOH-Lösungen geschieht sofort starke (Juellung, und allmäh- lich löst sich das Chro- matın auf; dagegen blei- ben der Spiralfaden, ebenso wıe der Längs- faden, der Hals und beide Geißelfäden be- stehen. Keine weitere Veränderung des Sper- miumskelettes bemer- ken wir nach der Wir- kung der 5°%/,-, 10°%],-, 20°/,- und 50°/,iger Ätz- kalılösung. Ebensowenig können das Spermium- skelett verdünnte Mine- ralsäuren (HCl, H,SO,, HNO,) zerstören. Erst konzentrierte Säuren lö- sen die ın KOÖH ge- quollene spiralige Kopf- membran auf. Andere Teile des Spermium- skelettes bleiben aber sogar ın den rauchenden Mineralsäuren unverän- dert bestehen und kön- nen nach solcher Be- handlung mehrere Male aus der konzentrierten H,SO, in 50°/,ige KOH-Lösung und um- gekehrt, ohne merklich verändert zu sein, übergeführt werden (Fig. 4c). Beim Kochen in Säuren und Alkalien werden auch diese resistenten Teile in wenigen Minuten gelöst. ”. a ln U nn an Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 563 Die Resistenz des Spermiumskelettes der Wirkung so starker Reagentien gegenüber hat gewiss nichts überraschendes. Diese Eigenschaft ist für alle Gerüstsubstanzen bekannt und unter den Eiweißstoffen charakterisiert dieselbe eine sehr interessante Gruppe der Albuminoide (Glutin, Elastin, Keratin, Cornein etc.) und der Albumoide von Mörner und Hammarsten, welche nach der Meinung einiger Chemiker (M. Siegfried) von allen komplizierten Eiweißstoffen vielleicht am meisten komplizierte Verbindungen enthält. Dem Umfang und vielleicht dem Gewichte nach nimmt die erste Stelle im Spermiumskelette der Fig. 4e wahrscheinlich der proximale Zentralkörper ein. Es ist zu bemerken, dass der Achsen- faden und vielleicht auch der Nebenfaden des Schwanzes aller Wahrscheinlichkeit nach sich aus den Zentralkörpern entwickeln. Wie der Längsfaden des Kopfes entsteht, weiß man nicht sicher, das Perforatorium aber entwickelt sich wenigstens teilweise aus der Centrotheke. An den anderen Objekten gelingt es, auch das Kopf- skelett von dem echten Zentralkörperskelette auf chemischem Wege zu trennen. In diesem Falle wäre es möglich, reines Centralin für makrochemische Untersuchung zu bekommen. Bis jetzt hat man nur einen Bestandteil der Zelle — Chro- matin — auf chemischem Wege untersucht. In der angegebenen Methode, glaube ich, haben wir die Möglichkeit, auch den anderen, nicht weniger wichtigen Bestandteil der Zelle — den Zentral- körper — makrochemisch genau zu untersuchen. Zur Physiologie der Pigmentzellen. Von R. F. Fuchs'). (Aus dem physiologischen Institute der Universität Erlangen.) Die reiche Literatur über den Farbenwechsel der Amphibien und anderer Tiere zeigt wohl am deutlichsten, welches Interesse diese Erscheinung den Biologen abgewonnen hat; aber diese große Zahl von Arbeiten lehrt nicht minder deutlich, wie viele strittige Anschauungen auf diesem Forschungsgebiete sich noch gegenüber stehen und wie vieler Arbeit es noch bedürfen wird, um zu be- friedigenden Anschauungen über die schwierigen Fragen des Farben- wechsels zu gelangen. Es kann nicht meine Aufgabe sein, an dieser Stelle eine Literaturübersicht über die ganze Pigment- forschung zu geben, welche mit den klassischen Untersuchungen Brücke’s?) beginnt, dann durch die hervorragenden Arbeiten 1) Erweiterter Abdruck aus der Festschrift für J. Rosenthal. Leipzig, G. Thieme 1906. 2) Brücke, Ernst, Untersuchungen über den Farbenwechsel des afrikanischen Chamäleons. Denkschriften der kaiserl. Akademie der Wissenschaften zu Wien. Math. naturw. Klasse, IV. Bd. 1852. 864 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. Leydig’s!) und von Wittich’s?) weiter ausgebaut wurde, um nicht mehr von der wissenschaftlichen Tagesordnung zurückgestellt zu werden, so dass sie bis in die neueste Literatur hineinreicht. Eine solche Literaturübersicht ist um so entbehrlicher, als E.Gaupp in dem Kapitel Haut, Bd. Il der Anatomie des Frosches von Ecker-Gaupp IN. Aufl. 1904, (S. 454—546) eine ausgezeichnete Darstellung des ganzen Gebietes gegeben hat, welche nicht nur die Anatomie, sondern auch die Physiologie der Pigmentzellen in einer geradezu mustergültigen Weise, mit seltener Gründlichkeit behandelt. Sehr treffend sagt Gaupp am Schlusse seiner histo- rischen Übersicht zur Lehre von der Färbung und dem Farben- wechsel der Frösche (S. 546): „Zu gleicher Zeit wie die ....... Arbeit Ehrmann'’s (1892)°), erschien auch die große Abhandlung von Biedermann‘), die das ganze Problem der Färbung und des Farbenwechsels bei den Fröschen mit allen seinen (anatomischen und physiologischen) Einzelfragen kritisch behandelt, die bisher vorliegenden Beobachtungen und Anschauungen auf ihre Richtig- keit geprüft und das Tatsachenmaterial in wesentlichen Punkten erweitert und ergänzt hat. Sie muss als die Grundlage aller ferneren Untersuchungen auf diesem Gebiete gelten... Die in den Versuchen der verschiedenen Autoren zutage getretenen Differenzen veranlassten mich, die Frage nach der Inner- vation der Pigmentzellen von neuem in Angriff zu nehmen, ms- besondere jene Bahnen näher zu studieren, in denen die kolora- torischen Nervenfasern verlaufen. Ferner mussten neue Versuche über die Wirkung des Lichtes auf die Pigmentzellen angestellt werden, da Biedermann den Einfluss des Lichtes auf die allgemeine Körperfärbung viel geringer bewertet als Steinach’). Als ich mich mit eigenen Versuchen über den Einfluss des Lichtes be- 1) Leydig, F. Die zahlreichen einschlägigen Arbeiten siehe in der Literatur- übersicht bei Ecker-Gaupp, Anatomie des Frosches, II. Aufl., Bd. III, 1904, S. 907. 2) von Wittich, Die grüne Farbe der Haut unserer Frösche; ihre physio- logischen und pathologischen Veränderungen. Müller’s Archiv 1854. 3) Ehrmann, $., Zur Kenntnis von der Entwickelung und Wanderung des Pigments bei den Amphibien. Archiv f. Dermatologie u. Syphilis 24. Jhrg. 1892. Derselbe, Beitrag zur Physiologie der Pigmentzellen nach Versuchen am Farben- wechsel or Amphibien. Ebenda. — Derselbe, Über die Nervenendigungen in den Pigmentzellen der Froschhaut. Sitzber. d. kaiserl. Akad. d. Wissensch. zu Wien. Malhein. naturw. Klasse, Bd. S4, III. Abt., Jhrg. 1881. — Derselbe, Untersuchungen über die Physiologie und Pathologie des Hautpigmentes. Vierteljahrschrift f. Dermatologie u. Syphilis, XII. Jhrg. 1885; XIII. Jhrg. 1886. 4) Biederm ann, W., Über den Farbenwechsel der Frösche. Pflüger’s Archiv Bd. 51. 1892. 5) Steinach, Eugen, Über Farbenwechsel bei niederen Wirbeltieren, bedingt durch direkte Wirkung des Lichtes auf die Pigmentzellen. Zentralblatt f. Physio- logie Bd. V. 1891. — Derselbe, Studien über die Hautfärbung und über den Farbenwechsel der Cephalopoden. Pflüger’s Archiv Bd. 87. 1901. ME a u he Ta ua is Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 65 schäftigte, welche auch die Einwirkung des ultravioletten Lichtes, sowie der Röntgen- und Radiumstrahlen auf den Pigmentapparat umfassen, erschien, noch bevor ich zu einem eindeutigen ab- schließenden Resultat gekommen war, die außerordentlich sorgfältige Untersuchung Hertel’s!), der den Einfluss des Lichtes einschließ- lich der ultravioletten Strahlen auf die Pigmentzellen eingehend studiert hat. Obzwar durch Hertel’s Versuche die meinen, soweit sie sich mit dem ultravioletten Lichte beschäftigt haben, bereits überholt sind, so werde ich doch meine Versuche über die Wirkung der strahlenden Energie auf die Pigmentzellen fortsetzen und später darüber berichten. Als ich an die Ausführung der erwähnten Versuche ging, war vor allem eine Immobilisierung des Versuchstieres nötig, da ich die Veränderungen der Chromatophoren während des Versuches direkt mikroskopisch beobachten wollte, wozu die Schwimmhaut ein geeignetes Objekt abgibt. Eine einfache Fesselung des Tieres erwies sich aber als vollkommen unbrauchbar, da alle Beobachter seit von Wittich die übereinstimmende Erfahrung gemacht hatten, dass alle stärkeren Hautreize eine starke Aufhellung des Frosches herbeiführen. Die üblichen Narkotika, wie Äther und Choroform erwiesen sich nicht brauchbar, denn ich beobachtete in Über- einstimmung mit Biedermann bei Äthernarkosen ein starkes Dunkeln der Frösche, das zu einer Lähmung der Pigment- zellen führte, weil alle Mittel, die sonst eine starke Aufhellung herbeiführen, wie z. B. 30—35° warmes Wasser, Bedecken mit trockenem Filterpapier hier erfolglos blieben. Erst nach dem voll- ständigen Verschwinden der Äthernarkose kehrte die Reaktions- fähigkeit der Pigmentzellen zurück. Es lag deshalb nahe, die Ver- suche am kurarisierten Tier anzustellen, zumal Biedermann hervorhebt, dass kleine Dosen Kurare für den koloratorischen Apparat belanglos sind. Zwar gibt Biedermann an, dass größere Kuraredosen die Wirkung der Ischiadikusreizung zu verzögern vermögen. Ferner fand Lister?), dass nach größeren Kuraredosen eine nicht ganz regelmäßig auftretende, manchmal nur vorüber- gehende Verdunkelung der hellen Haut eintritt. Biedermann konnte die Lister’schen Versuche an Rana fusca und Hyla arborea bestätigen, außerdem beobachtete er bei Verwendung großer Kurare- dosen lokale Wirkungen, die m einer Pigmentballung bestanden, soweit die Haut von dem betreffenden Lymphraum her mit dem 1) Hertel, E., Einiges über die Bedeutung des Pigmentes für die physio- logische Wirkung der Lichtstrahlen. Zeitschrift für allgemeine Physiologie Bd. 6, H:-1. 1906. 2) Lister, Jos., On the cutaneous pigmentary system of the frog. (Commun. by Dr. Sharpey). Philosophical Transactions of the royal Society of London. Vol. 148. For the year 1858. London 1859 XXVI. 55 866 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. Gifte in Berührung gekommen ist. Biedermann kommt zu dem Ergebnis, dass das Kurare in großen Dosen die Melanophoren in einen langandauernden Erregungszustand versetzt. Da weder Lister noch Biedermann systematische Unter- suchungen über die koloratorische Wirkung des Kurares angestellt hatten, so füllte ich zunächst diese Lücke aus, weil vor der weiteren Verwendung des Kurares erst darüber eine Klarheit bestehen musste, um nicht eine unbekannte Fehlerquelle in die ohnehin schwierig zu analysierenden Versuche über Lichtwirkung einzuführen. Meine systematischen Versuche mit Kurare zeigten typische Farbenveränderungen an Fröschen, die mich veranlassten, auch noch eine Reihe anderer Alkaloide auf ihre koloratorısche Wirkung hin zu prüfen, zumal in der Literatur keine Angaben darüber auf- zufinden waren. Nur vom Strychnin ist seit den Untersuchungen von Wittich’s bekannt, dass es während des Krampfstadiums eine intensive Aufhellung bewirkt. Ferner machte von Wittich auch die Beobachtung, dass die elektrische Reizung der Haut noch mehrere Stunden nach Aufhören der Strychninkrämpfe sich sehr wirksam aufhellend erweist. Auch Bimmermannt) hat die auf- hellende Wirkung des Strychninsbeobachtet, ohneaber ebensowenig wie von Wittich systematische Versuche darüber angestellt zu haben. Wohl wird in der Literatur häufig von chemischen Reizungen der Pigmentzellen gesprochen, aber die Versuche sind, wenigstens nach ihrer Beschreibung zu urteilen, vielfach nicht so angestellt, dass eine chemische Reizung der Chromatophoren einwandfrei durch sie erwiesen erscheint. Es handelt sich meistens um lokale Einwirkungen chemischer Agentien. So bewirken nach Lister’s Angaben Senföl, Krotonöl und Kantharıdın eine lang anhaltende Ausbreitung der dunklen Pigmentzellen, welche auch nach der Entfernung des Reizes noch lange anhält. Lister nimmt eine Lähmung der nervösen Apparate an, während Biedermann eine direkte Lähmung der Pigmentzellen für wahrscheinlich hält. Ferner wird von Ehrmann das Kochsalz als chemisch wirksamer Reiz angewendet. Ehrmann sah nach Behandlung der Haut mit Koch- salz bei Hyla ein kurzdauerndes Dunkeln. Da ich diese Versuche nicht wiederholt habe, so kann ıch mir ein Urteil darüber nicht erlauben, jedenfalls sınd sıe einer sehr komplizierten Deutung zu- gänglich, und eine physikalische, osmotische Wirkung erscheint mir wahrscheimlicher als eme chemische Wirkung des Kochsalzes. Ferner müssen zu den chemischen Beeinflussungen des koloratorischen Apparates Lister’s und Biedermann’s Versuche über die Ein- wirkung der Kohlensäure gerechnet werden, wonach der Kohlen- 1) Blmmermann, E. H., Über den Einfluss der Nerven auf die Pigment- zellen des Frosches. Inaug.-Dissertation. Strassburg 1878. a u - Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 867 säure eine direkt lähmende Wirkung auf die Pigmentzellen zu- kommt. Schließlich gehören zu den chemischen Beeinflussungen der Färbung auch noch von Wittich’s Versuche an hungernden Fröschen, welche zeigten, dass grüne Eskulenten durch das Hungern einen braunen, bronzefarbigen Ton annahmen. Damit habe ich alle Angaben der mir bekannten Literatur über Beeinflussung der Farbe durch chemische Substanzen aufgezählt. Ich unterlasse es zunächst zu untersuchen wie der Mechanismus der Farbenänderung abläuft, ob das Agens direkt auf die Pigmentzellen einwirkt, oder ob die Farbenveränderung erst aufdem Umwege des Nervensystemes zustande gekommen ist. Da diese Frage durchaus nicht immer leicht zu beantworten ist, muss ich ihre Beantwortung einer ge- sonderten Mitteilung vorbehalten, welche sich mit der Innervation der Pigmentzellen im Besonderen beschäftigen wird. In dieser Mitteilung will ich mich bloß auf meine Versuche über den Farbenwechsel der Frösche, welcher durch einige Alkaloide hervorgerufen werden kann, beschränken. Bei allen Versuchen über die Physiologie der Pigmentzellen ist eine genaue Beschreibung der angewandten Untersuchungsmethode ganz unerlässlich, weil bei den Versuchen so viele Nebenfaktoren in Betracht kommen, wie Biedermann gezeigt hat. Leider lassen die Angaben vieler Autoren gerade darin sehr viel zu wünschen übrig, so dass späteren Experimentatoren die Wiederholung und Beurteilung dieser Versuche oft unmöglich gemacht wird. Da ein im Experiment beobachteter Farbenwechsel ganz spontan, oder sogar trotz unseres Eingriffes eingetreten sein kann, so- ist die ständige Beobachtung eines Kontrolltieres unerlässlich, das immer unter den genau gleichen Bedingungen gehalten werden muss. Die Auswahl des Kontrolltieres bietet schon die Gefahr großer Fehlerquellen, welche leicht zu unrichtigen Versuchs- ergebnissen führen können. Meine Versuche haben gezeigt, dass immer nur Tiere des gleichen Geschlechtes als Kontroll- tiere verwendet werden dürfen, weil die Farbenveränderungen bei den beiden Geschlechtern in sehr verschiedener Intensität erfolgen. Im allgemeinen kann gesagt werden, dass Männchen aufalle kolo- ratorischen Reize, wie z. B- Feuchtigkeit, Wärme, Licht, inten- siver reagieren als Weibchen. Häufig zeigten die Männchen auf einen Wechsel der Versuchsbedingungen einen ausgesprochenen Farbenwechsel, welcher bei den unter genau gleichen Bedingungen befindlichen Weibchen vollständig fehlte. Damit soll aber keines- wegs gesagt sein, dass den Weibchen ein Farbenwechsel überhaupt fehlt, sondern er ist nur weniger sicher experimentell zu erzeugen. Vielfach konnte ich in Übereinstimmung mit Biedermann auch A, 868 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. beobachten, dass es Tiere gibt, die gegen alle experimentellen koloratorischen Reize sich vollkommen reaktionslos verhalten; unter ihnen finden sich sowohl Männchen, wie Weibchen, wenngleich die letzteren überwiegen. Die Berücksichtigung des Geschlechtes allein genügt noch nicht bei der Auswahl eines Kontrolltieres, da man bei der Entnahme der Tiere aus dem Froschbassin niemals wissen kann, durch welchen augenblicklichen Erregungszustand des koloratorischen Apparates eine gerade vorhandene Färbung bedingt ist. Deshalb müssen die Versuchs- und Kontrolltiere vor Anstellung des eigentlichen Ver- suches erst einer Untersuchung unterworfen werden, wie bei ihnen unter den verschiedenen experimentell gewählten äußeren Bedin- gungen der Farbenwechsel verläuft. Nur dann, wenn die Tiere einen gleichsinnigen und gleichstarken Farbenwechsel bei den Vorversuchen zeigen, sind sie zu dem eigentlichen Versuch brauchbar. Ich verfuhr deshalb so, dass zunächst je zwei gleichgefärbte und gleichgeschlechtliche Tiere derselben Art in ein und demselben weiten Glasgefäß durch mindestens 24 Stunden beobachtet wurden; meist erstreckten sich die Vorversuche über 36—48 Stunden. Die Tiere wurden zunächst mehrere Stunden, z. B. fünf, trocken gehalten, dann fünf Stunden im seichten Wasser, hierauf fünf Stunden im Dunkeln und endlich eine gleiche Zeit im Hellen. Auch wurde die Farbenveränderung dieser Tiere bei verschiedenen Temperaturen untersucht. Erst wenn sich bei diesen Vorversuchen eine gute Übereinstimmung ‘der Farbenveränderungen ergab, wurden sie zu dem eigentlichen Versuche verwendet. Auch die Geschwindigkeit, mit der die Farbenveränderung erfolgte, wurde berücksichtigt, indem niemals Tiere mit einem raschen Farbenwechsel mit solchen, die eine träge koloratorische Veränderung zeigten, zu einem gemeinsamen Versuche herangezogen wurden. Eine Gleichheit der Farbentöne ist namentlich bei Rana fusca meist sehr schwer zu erreichen, denn dunkle Tiere, welche gleich gefärbt erschemen, zeigen oft ganz verschiedene Farbentöne, wenn sie sich aufhellen; so kann z. B. das eine Tier hell graugrün werden, während das andere hell ockergelbbraun wird. Bei Rana esculenta ist diese Schwierigkeit weitaus geringer. Man muss aber stets damit rechnen, weil die Helligkeiten verschiedener Farbentöne sehr schwer zu vergleichen sind, wenn die Helligkeitsunterschiede nicht sehr große sind. Es ist sehr schwer, die Farbenunterschiede und Veränderungen so zu beschreiben, dass der Leser eine richtige Vorstellung von dem Umfange der statt- gehabten Veränderung bekommt. Ich habe deshalb für die Ver- dunkelung mehrere Zwischenstufen unterschieden z. B. die Ab- stufungen für grün: als hellste Stufe ein sehr helles Grün, das meist als zitronengelbgrün zu bezeichnen ist; dann hellgrün, em Grün ın Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 869 dem die gelbe Valenz nur sehr schwach, oder nicht mehr hervortritt; mittelhellgrün, ein remes Grün etwa mittel blattgrün; als nächste Stufe folgt dann ein mittleres Dunkelgrün, entsprechend dem sma- ragdgrün; dann dunkelgrün der Färbung eines Tannenwaldes ent- sprechend und endlich ein schwarzgrün, in welchem das Grün nur sehr wenig hervortritt. In analoger Weise wurden auch die übrigen Farbentöne abgestuft, z. B. braun oder ocker. Mit der Beobachtung der Hautfarbe allein habe ich mich nicht begnügt, sondern jedesmal wurde auch der Ballungszustand der Schwimmhautmelanophoren mikroskopisch untersucht. Diese Untersuchung am nicht narkotisierten Tier könnte leicht eine Fehlerquelle in sich schließen, weil man dabei eine stärkere Haut- reizung hervorrufen kann, welche nach den Erfahrungen aller Autoren zu einer Aufhellung führt. Aber man lernt es sehr bald, das Tier in der einen Hohlhand zu halten und die Schwimmhaut des einen Hinterbeines zwischen Zeigefinger und Daumen derselben Hand auszubreiten, ohne das Tier dabei unnötig zu malträtieren. Da bei der nötigen Übung diese ganze Untersuchung kaum eine halbe Minute dauert, so wird der dadurch bedingte Fehler besonders deshalb nicht sehr groß sein, weil die Veränderungen der Schwimmhaut- melanophoren erst relativ spät erfolgen. Für die all- gemeine Hautfärbung kommt ein so entstandener Fehler überhaupt nicht in Betracht, da die mikroskopische Untersuchung der Schwimm- haut immer erst am Schlusse der jeweiligen Beobachtung angestellt wurde. Die mikroskopische Untersuchung der Schwimmhaut zeigte, dass die Schwimmhautmelanophoren ım großen und ganzen eine der Färbungsänderung der Haut entsprechende Veränderung auf- weisen. Aber es ıst nicht zu verkennen, dass häufig keine voll- kommene Kongruenz der beiden Veränderungen besteht, indem verhältnismäßig häufig einer starken Verdunkelung der ganzen Haut eine nur mäßige Expansion der Schwimmhautmelanophoren ent- spricht, und andererseits sehr starke Aufhellungen der Haut von nur geringfügigen Ballungszuständen der Schwimmhautmelanophoren begleitet sein können. Überhaupt habe ich bei meinen Versuchen an mehr als 500 Fröschen, wobei jedes Tier durchschnittlich fünfmal untersucht wurde, die Erfahrung gemacht, dass die Verände- rungen der Schwimmhautmelanophoren bedeutend langsamer ablaufen, als die der Melanophoren der übrıgen Haut. Ferner zeigt sich, dass nicht alle Melanophoren den gleichen Ballungszustand zeigen, sondern es können da sehr weitgehende Differenzen zwischen einzelnen Zellgruppen oder einzelnen Zellen bestehen. Besonders auffallend war es mir, dass ganz oberflächlich in der Epidermis gelegene, reich verzweigte, dunkle Pigmentzellen sich an den Reaktionen der übrigen Zellen überhaupt nicht beteiligen und durch keines der angewandten Mittel zur s70 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. Ballung zu bringen waren. Diese dunkel gefärbten Pigmentzellen sind wahrscheinlich gar nicht mit den übrigen dunklen Pigment- zellen, den echten Melanophoren, auf eine Stufe zu stellen. Wahr- scheinlich handelt es sich um eine den Leukophoren ent- sprechende Gattung von Pıgmentzellen, die aber ein braunes Pigment enthalten. Ähnliche Zellen hat auch Ehr- mann beschrieben. Bei genauerem Zusehen kann man immer mehrere mir charakteristisch erscheinende Unterschiede zwischen diesen Zellen und den echten Melanophoren auffinden. Vor allem ist das Pigment der in Rede stehenden Zellen braun, während die eigentlichen Melanophoren ein schwärzeres Pigment enthalten; auch sind die Körnelungen der beiden Pigmente verschieden, indem das braune Pigment mehr homogen, fast ungekörnelt erscheint. Ferner zeigt auch die Form dieser oberflächlich gelegenen, braunen Pigment- zellen sehr viel Ähnlichkeit mit den Leukophoren. Sie sind ge- wöhnlich flechtenartig gelappt und erinnern in ihrem ganzen Aus- sehen an das isländische Moos (Cetraria islandica). Sie haben verhältnismäßig breite, kurze verzweigte Fortsätze, die nie die Feinheit und Schlankheit der Fortsätze der eigentlichen Melano- phoren aufweisen. An den Xantholeukophoren und Ery- throphoren habe ich niemals eine Reaktion gesehen, so dass ich in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der Autoren die Farbenveränderung als nur durch die Melanophoren bedingt ansehen muss. Die mikroskopische Untersuchung der Schwimmhaut bot auch noch den Vorteil, dass ich immer über den jeweiligen Zustand des Blutkreislaufes unterrichtet war, welcher den Ballungszustand der Pigmentzellen sehr wesentlich beeinflusst, wie aus den Versuchen von Lister, Hering und Hoyer!), Biedermann, Steinach hervorgeht. Diese Fehlerquelle konnte für meine Versuche umso bedeutungsvoller werden, weil ja manche der angewandten Alkaloide, wie z. B. Atropin, Veratrin, die Herztätigkeit beeinflussen. Ferner wurde der Einfluss der Feuchtigkeit, Temperatur und Belichtung in meinen Versuchen immer genau berücksichtigt, so dass diese Faktoren als Fehlerquellen nicht in Betracht kommen, und die beobachteten Farbenveränderungen nur auf die Wirkungen der verwendeten Alkaloide zu beziehen sind. Die Tiere wurden tagsüber fortlaufend beobachtet, aber nur in größeren Zwischenräumen wurde eine genauere mikroskopische Untersuchung vorgenommen, namentlich dann, wenn eine Farben- veränderung deutlich war. Eine Beobachtungspause findet sich nur 1) Hoyer, Über die Bewegungen der sternförmigen Pigmentzellen und die dadurch erzeugten Veränderungen in der Hautfarbe der Frösche. Nach Unter- suchungen von Th. Hering mitgeteilt. Zentralblatt f. d. medizinischen Wissen- schaften. 7. Jahrg. 1869. Pe Wan Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 871 in der Zeit zwischen acht Uhr abends bıs acht Uhr morgens. Da es sich bei den vorliegenden Untersuchungen nicht darum handelt, die genauen Zeiträume des Eintrittes und Ablaufes der Farben- veränderungen, sowie der sonstigen Wirkungen der einzelnen Alka- loide, wie Lähmungen und Krämpfe, zu bestimmen, so genügt es von Zeit zu Zeit, in wechselnden Intervallen die mikroskopische Untersuchung auszuführen. Eine genaue Bestimmung der Zeitpunkte wäre auch gar nicht möglich gewesen, weil manchmal der Beginn oder das Ende der Krämpfe oder Lähmungen in die Zeit der Beobachtungs- pause fällt. Die von mir diesbezüglich gemachten Angaben stellen einfach den Befund zur angegebenen Zeit dar, der zur Beurteilung des Versuches möglichst vollkommen geschildert werden muss. Sämtliche Versuche wurden an frısch gefangenen Tieren, sowohl vor, wie nach der Laichzeit angestellt. Die einzelnen Agenzien wurden in Lösungen vermittels Pravaz’scher Spritze ın den Rückenlymphsack injiziert. Von den meisten Alkaloiden wurde eine einprozentige Lösung verwendet und zwar von Atropin, Cocain, Coniin, Eserin, Morphrum, Nikotin; dagegen wurde verwendet: das Brucin in einer halbprozentigen, Kurare in einer einpromilligen und zehntelpromilligen, Nikotin auch in einer einpromilligen, Strychnin in einer halb- und zehntelpromilligen und endlich das Veratrin in einer viertelprozentigen und einpromilligen Lösung. Mehr als ein cm? der Lösung wurde den Tieren nie injiziert, um eine Nebenwirkung durch die Flüssigkeitsansammlung im Rückenlymphsack zu vermeiden. Für die Mengen von 0,5—1 cm? wurden stets große Tiere ausgesucht, damit die injizierte Flüssigkeitsmenge keine lokale starke Haut- anspannung hervorrufe. Man könnte gegen diese Injektionsversuche den Einwand geltend machen, dass die Substanzen, da sie nicht in isotonischen Lösungen injiziert worden sind, eigentlich nur osmotische Wirkungen entfaltet haben könnten. Es wäre zwar richtiger gewesen, die Lösungen durch einen entsprechenden Koch- salzzusatz ısotonisch zu machen, aber ich glaube nicht, dass ın meinen Versuchen durch osmotische Wirkungen Versuchsfehler bedingt worden seien. Vor allem ist die injizierte Flüssigkeits- menge, die ja ın den meisten Fällen nur Bruchteile eines cm? be- trägt zu klein, um osmotische Wirkungen von längerer Dauer aus- zuüben. Solche osmotische Wirkungen hätten sich dann nur ganz lokal an der Injektionsstelle bemerkbar machen müssen. Ferner hätten dann alle hypertonischen Lösungen die gleichen Wirkungen entfalten müssen und ebenso wäre bei allen hypotonischen Lösungen eine gleiche Wirkung eingetreten, die der Wirkung der hyper- tonıschen Lösungen vielleicht entgegengesetzt gewesen wäre. Da meine Versuche aber keine derartigen Beobachtungen ergaben, so darf ıch eine Beeinflussung der Versuchsergebnisse durch rein osmotische Wirkungen der angewandten Lösungen mit Sicherheit 872 « Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. ausschließen. Deshalb habe ich auch eigens anzustellende Kontroll- versuche nach dieser Richtung hin unterlassen. Im folgenden seien nun die Versuche mit den einzelnen Alka- loiden ausführlicher beschrieben, wobei ich von einer Publikation der einzelnen Versuchsprotokolle Umgang nehme. Atropin. Die an Rana fusca angestellten sechs Versuche hatten folgenden Verlauf. Nach einer Injektion von 1 Milligramm (mg) Atropin tritt beim Männchen nach einer ganz kurz vorübergehenden, unwesentlichen Aufhellung eine noch nach 24 Stunden bemerkbare Verdunkelung ein, die zwar deutlich, aber nicht sehr hochgradig ist. Die Schwimm- hautmelanophoren zeigen analoge Veränderungen wie die Hautfarbe, während das Kontrolltier seine helle Hautfarbe und den kugeligen Ballungszustand der Schwimmhautmelanophoren unverändert bei- behält. Die Unterschiede sind sogar noch 41 Stunden nach der In- jektion (= p. i.) zu sehen. Nachdem die Verdunkelung bei dem Ver- suchstier zurückgegangen war, wurden die Tiere in ganz seichtes Wasser gesetzt und im 17° warmen, halbhellen Zimmer gehalten. Nur bei dem Atropintier trat eine stärkere Verdunkelung ein, während das Kontrolltier ziemlich hell blieb. Ein Versuch mit 2 mg Atropin, der an einem Weibchen angestellt wurde, verlief unsicher. Wohl konnte die der Injektion folgende Aufhellung nach drei Stunden noch gesehen werden, auch folgte dann ein Dunkeln des Atropintieres, aber ein deutlich ausgeprägter Unterschied gegenüber dem Kontroll- tier konnte zu keiner Zeit beobachtet werden. Dagegen waren bei einem anderen Weibchen, dem 3 mg Atropin injiziert worden waren, die Erfolge sehr deutlich. Drei Stunden nach der Injektion war die Aufhellung vorhanden. Bei den späteren Untersuchungen war das Atropintier stets dunkler als das Kontrolltier; auch ein 10stündiger Aufenthalt der beiden Tiere im seichten Wasser hatte den Unterschied nicht verschwinden lassen. Erst nach 41 Stunden (p-i.) beginnt er zu schwinden. Die analogen Veränderungen, nur viel stärker ausgeprägt, zeigte ein Männchen, dem 4 mg Atropin in- jiziert worden waren. Hier war nach 42 Stunden (p. 1.) der Farben- unterschied noch sehr deutlich. Dagegen verlief ein Versuch mit 5 mg an einem Männchen vollständig resultatlos, ohne dass ein Grund dafür aufgefunden werden konnte. Von den sechs an Rana fusca angestellten Versuchen verliefen vier deutlich positiv, d. h. es erfolgte nach einer bald vorübergehenden, nicht sehr bedeuten- den Aufhellung eine Verdunkelung des Versuchstieres; ein Versuch verlief unsicher und einer vollständig negatıv. Die 11an Rana esculenta angestellten Versuche hatten folgendes Ergebnis: Nach Injektion von 1 mg Atropin bei einem Weibchen wurde bei der nach 2 Stunden 20 Minuten vorgenommenen Unter- ne ee u Me ee se res Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 873 suchung eine Lähmung und Aufhellung konstatiert, die auch noch nach 18 Stunden 39 Minuten (p. 1.) vorhanden waren. Dann dunkelte das hellgrüne Tier bis mitteldunkelgrün nach und zeigte 48 Stunden 34 Minuten nach der Injektion keine wesentlich stärkere Verdunkelung als das unter gleichen Bedingungen (im seichten Wasser, in der 12° warmen photographischen, vollständig verdunkelten Kammer) gehaltene Kontrolltier. Ein Versuch mit 2 mg Atropin an einem Männchen zeigte mit Ausnahme der nach 2 Stunden 12 Minuten (p. 1.) beobachteten Lähmung und Aufhellung, die nach 18 Stunden 36 Minuten einer neuen mäßigen Verdunkelung Platz gemacht hatte, keine besonderen Erscheinungen. Bis 48 Stunden 40 Minuten (p. i.) waren Versuchs- und Kontrolltier stets gleich gefärbt. Bei den mittleren Atropindosen von 3—6 mg waren die Veränderungen sehr deutlich, mit Ausnahme eines Versuches mit 5 mg an einem Männchen. Bei der nach durchschnittlich 2 Stunden (p. 1.) vorgenommenen Untersuchung waren die Atropintiere gelähmt und ziemlich aufgehellt. Dabei war aber zu konstatieren, dass zu dieser Zeit die Aufhellung entsprechend der größeren Alkaloiddosis immer geringer wurde. Nach 18 Stunden (p. i.) waren die Versuchstiere bereits wesentlich dunkler als die Kontrolltiere. Der Unterschied war sogar 45 Stunden nach der Injektion noch deutlich, nachdem die Tiere 15 Stunden in der 12° warmen Dunkelkammer im seichten Wasser gehalten worden waren. Wurden die Tiere dann in das 17° warme, helle Zimmer gebracht und trocken gesetzt, so hellten sich die Kontrolltiere rascher und stärker auf als die Versuchstiere. Selbst nach 48 Stunden (p.ı.), also nach dreistündiger Einwirkung des Lichtes, der Wärme und der Trockenheit war der Unterschied in der Farbe noch bemerkbar, begann aber dann zu verschwinden. Bei den höheren Dosen von 7—10 mg Atropin war nach 1 Stunde (p. ı.) zwar die Lähmung vorhanden, aber die Aufhellung war bereits sehr gering und fehlte bei den Versuchen von 9 und 10 mgr bereits vollständig, wo sofort ein Dunkeln des atropinisierten Tieres beobachtet werden konnte. Im übrigen sind die Erscheinungen dieselben wie bei den mittleren Dosen; auch hier sind die Unter- schiede nach 48 Stunden (p. ı.) nicht mehr besonders hervortretend und verlieren sich dann allmählich. Es muss besonders hervorgehoben werden, dass das Atropin keine sehr starken Farbenveränderungen bedingt, sie werden bei den höheren Dosen wohl deutlicher als bei den kleinen, aber niemals ist eine starke Verdunkelung vorhanden, sie hält sich vielmehr immer ın mittleren Grenzen; bei schwachen Dosen tritt sie wenig hervor, immerhin ist sie sicher zu erkennen. Werden die Atropintiere ganz trocken gehalten, dann kann die Verdunkelung vollkommen fehlen. Es ist dieses Verhalten leicht zu verstehen, weil Trockenheit nach den Versuchen von Biedermann und 574 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. anderen Autoren ein starker Reiz zur Ballung des Pigmentes ist. Bedenkt man aber noch, dass das Atropin die Drüsensekretion lähmt, so wird die Haut dann ganz besonders stark trocken und diese Trockenheit vermehrt die Wirkung der ballenden Reize, so dass nur diese allein zur Geltung kommen. Von den elf Versuchen an Rana esculenta ‚sind acht positiv (Verdunkelung), zwei mit schwachen Dosen schwach positiv und einer negativ verlaufen. Bruein. An en fusca wurden 19 Versuche mit cn angestellt. Bei der niedrigsten angewandten Dosis, 0,25 mg, konnten keine Krämpfe beobachtet werden. 2 Stunden 30 Minuten nach der In- jektion zeigte das Versuchstier eine deutliche Aufhellung der Hautfarbe, mit der eine entsprechende Ballung der Schwimmhaut- melanophoren Hand in Hand geht, indem diese aus dem netzförmigen Expansionszustand in den sternförmigen übergegangen sind und zahlreiche feine spitze Fortsätze aufweisen, die keinen Zusammenhang untereinander mehr erkennen lassen. Das unter den gleichen Be- dingungen (im seichten Wasser, im hellen, 14° warmen Zimmer) gehaltene Kontrolltier hat weder seine dunkele, schwarzgrüne Haut- farbe, noch die netzförmige Expansion der Schwimmhautmelano- phoren geändert. Ein darauffolgendes 20stündiges Verweilen in der 12° warmen Dunkelkammer hat den vorherbestandenen Unter- schied nicht verschwinden lassen, obgleich beide Tiere etwas nach- gedunkelt sind. Der Unterschied ist nach 24 Stunden (p. 1.) noch immer deutlich, wenn auch etwas schwächer als früher; selbst nach 46 Stunden (p. i.) ist er noch vorhanden und beginnt um die 53. Stunde (p. ı.) zu verschwinden. Ganz analoge Erscheinungen sind bei Brucindosen bis zu 0,75 mg zu beobachten. Bei diesen etwas höheren Dosen sind die Unterschiede zwischen Versuchs- und Kontroll- tier noch deutlicher. Bei Dosen von 1—1,5 mg sind die Ergebnisse wohl auch noch im wesentlichen mit den vorhergeschilderten ım Ein- klange. Nach 3 Stunden (p. ı.) war bei dem mit 1,5 mg behandelten Tier ein deutlicher Strecktetanus eingetreten, der ne einer Aufhellung der Haut und Ballung der Schwimmhautmelanophoren einherging. Die Aufhellung war noch nach 26 Stunden (p. 1.) zu konstatieren, ob- zwar der Unterschied zu dieser Zeit nicht mehr bedeutend war; die Tiere hatten die vorhergehenden letzten 21 Stunden in der 12° warmen Dunkelkammer im seichten Wasser zugebracht. Gegen die 53. Stunde (p. ı.) ist der Unterschied nur schwach an- gedeutet, eventuell nicht mehr zu sehen. Ein Versuch mit 1 mgr Brucin an einem Männchen fiel fast vollkommen negativ aus. Drei Stunden nach der Injektion wurde zwar eine geringfügige Ballung der Schwimmhautmelanophoren beobachtet, sonst zeigte aber das Brucintier keinen Unterschied gegenüber dem Kontrolltier. Da- Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 375 gegen zeigte ein anderes mit 1 mgr behandeltes Männchen, welches die beschriebene Aufhellung bis zur 23. Stunde (p. 1.) gezeigt hat, 46 Stunden nach der Injektion eine deutliche Verdunkelung gegenüber dem Kontrolltier. Sie tritt bei höheren Dosen noch stärker hervor. Das Gleiche konnte nach .der Injektion von 1,25 mg Brucin be- obachtet werden, nachdem die Tiere die letzten 20 Stunden trocken ım hellen, 10° warmen Zimmer gehalten worden waren und nach dieser Frist wieder 1 Stunde ım seichten Wasser sich befanden. Das Kontrolltier hatte sich dabei nur wenig, oder fast nicht, das Brucintier aber viel stärker verdunkelt. Diese stärkere Verdunkelung istals einegesteigerte Erregbarkeit gegenüber dem Feuchtigkeits- reiz zu deuten, welche infolge der Brucinwirkung eingetreten ist. Bei den höheren Dosen von 2—5 mg gestalten sich die Er- scheinungen insofern etwas verschieden, als bei diesen Brucingaben die Streckkrämpfe, je nach der Höhe der angewandten Dosis von mehr oder weniger ausgesprochenen Lähmungen von verschieden langer Dauer gefolgt sind, die wohl als Erschöpfungszustände angesehen werden können. Beobachtet man das Tier während des Krampf- stadiums, das bei Dosen von 2—3 mg etwa 3 Stunden nach der Injektion stark ausgeprägt ıst, dann kann man meist eine Auf- hellung der Haut und entsprechende Ballung der Schwimmhaut- melanophoren konstatieren, trotzdem sich Versuchs- und Kontroll- tier in ganz seichtem Wasser im 17° warmen Zimmer befinden. Ist dagegen das Versuchstier nach 7 Stunden (p. ı.) bereits gelähmt, was bei Dosen von 3,5—4 mg oder mehr der Fall ıst, dann sind die Brucintiere dunkler als die Kontrolltiere. Die Schwimmhaut- melanophoren zeigen entsprechende, gleichsinnige Unterschiede ihres Ballungszustandes. Bei großen Tieren kann aber selbst ‘nach 4,5—5 mgr Brucin um diese Zeit die Lähmung noch fehlen und das Krampfstadium noch ausgesprochen sein. Unter diesen Ver- hältnissen zeigen dann die Versuchstiere eine mehr oder weniger ausgesprochene Aufhellung gegenüber den Kontrolltieren. Diese wechselnden Verhältnisse sind auch noch 24 Stunden nach der Injektion zu finden, trotzdem die Tiere die letzten 21 Stunden in der 12° warmen Dunkelkammer im seichten Wasser sich befunden haben. Haben die Versuchstiere die Lähmung zu dieser Zeit über- wunden und befinden sich wieder im Krampfstadium, oder dem Stadium deutlich erhöhter Reflexerregbarkeit (gespreizte Haltung), dann sind die Versuchstiere dunkler als die Kontrolltiere, und dieser Zustand ist auch noch nach 29 Stunden (p. ı.) zu konstatieren, trotzdem die Tiere die letzten 5 Stunden wieder im hellen, 17° warmen Zimmer, aber im seichten Wasser sich befunden haben. Nach 53 Stunden (p. ı.) sind die beiden Tiere meist wieder gleich hell, wenngleich auch noch zu dieser Zeit gelegentlich Zeichen einer ge- steigerten Reaktion auf koloratorische Reize bemerkbar sein können. ' s76 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. Besondere Beachtung verdient die beschriebene Verdunke- lung der Brucintiere während der Lähmung und der späteren Stadien nach der vorhergegangenen Aufhellung im Kramfstadium. Ich will zwar in dieser Mitteilung auf den Angriffspunkt der einzelnen Alkaloide nicht eingehen, sondern muss die Beantwortung dieser Frage einer späteren Mitteilung vorbehalten, aber ich möchte doch schon an dieser Stelle hervorheben, dass die eben erwähnte Verdunkelung in zweifacher Weise beurteilt werden kann: einmal als Lähmungs- bezw. Erschöpfungserscheinung der Pigment- zellen oder deren nervösen Apparate, oder zweitens, was wahrschein- licher ist und durch die Versuche an Eskulenten bestätigt wird, als ge- steigerte Reaktion, da sich die Tiere während des Versuches in ganz seichtem Wasser befanden, so dass der Reiz der geringen Feuchtig, keit beim Brueintier bereits hinreichte, um eine Verdunkelung herbeizu- führen, während er bei den Kontrolltieren dazu nicht stark genug war. Von den neunzehn angestellten Versuchen ist nur ein einziger vollständig resultatlos verlaufen. An Rana esculenta. wurden 18 Versuche angestellt, welche eine komplizierte Wirkung des Brucins auf den koloratorischen Apparat erkennen ließen. Nach Injektion von 0,5 mg Brucin trat innerhalb von 5 Minuten eine vollständige motorische Lähmung ein, ohne dass vorher auch nur der geringste Aufregungszustand zu beobachten gewesen wäre. Krämpfe wurden niemals beobachtet, auch nicht während des Abklingens der Lähmung. Im Anfang des Lähmungsstadiums konnte eine bald vorübergehende geringfügige Verdunkelung des Versuchstieres gegenüber dem Kontrolltier beobachtet werden, während die Tiere fast trocken, ım hellen, 12° warmen Zimmer gehalten wurden. Die Lähmung war nach 48 Stunden (p. i.) verschwunden; während der ganzen 76 Stunden währenden Beobachtungszeit konnte kein sicherer Farbenunterschied, außer der erwähnten Verdunkelung, beobachtet werden. Nach Injektion von 1,0--2,5 mg Brucin zeigten sämtliche Ver- suchstiere schon nach wenigen Minuten eine vollständige motorische Lähmung wiederum ohne jeden vorangegangehen Erregungszustand. Bei der Mehrzahl der Versuchstiere trat eine Verdunkelung gegenüber den Kontrolltieren ein, die manchmal sehr bedeutende Grade erreichte, manchmal wohl deutlich, aber nicht sehr stark war. Diese Verdunkelung der in ganz seichtem Wasser, fast trocken im hellen, 12,5° warmen Zimmer gehaltenen Tiere war bis zu 5—6 Stunden (p. i.) zu beobachten. Nur in einem Falle nach Injektion von 2? mg bei einem Weibchen fehlte sie vollständig; dieses Tier war während der ganzen Versuchsdauer heller als das Kontrolltier. Zwischen 7. und 8. Stunde (p. i.) waren alle Versuchstiere, bis auf eine Ausnahme (9 mit 1,5 mg) heller als die Kontrolltiere und diese Aufhellung, die nicht sehr hochgradig, aber wohl deutlich er- Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 877 kennbar war, blieb bis 24 Stunden (p. 1.) bestehen, nachdem die Tiere die letzten 18 Stunden ım hellen, 13° warmen Zimmer, fast trocken gelialten worden waren. Nach einem folgenden zwei- stündigen Aufenthalt im seichtem Wasser, im hellen, 13° warmen Zimmer, waren alle Versuchstiere mit Ausnahme eines einzigen (2 mit 2 mg) dunkler als die Kontrolltiere. Die Lähmung war bei diesen Brucindosen nach 54 Stunden (p. 1.) noch voll ausgeprägt und erst nach 78—85 Stunden (p. 1.) im Abklingen bezw. verschwunden. Nach Injektion von 3—5 mg Brucin trat fast unmittelbar nach der Injektion die Lähmung ein, welche mit einer Verdunkelung der Versuchstiere einherging, die um so intensiver ist, je höher die injizierte Alkaloiddosis war. Nach 8 Stunden (p. ı.) war die Ver- dunkelung der Versuchstiere noch deutlich vorhanden, wenngleich auch schon ım Rückgange begriffen. Bei der nach 23—24 Stunden (p. 1.) vorgenommenen Untersuchung waren die Versuchstiere stets heller als die Kontrolltiere, nachdem die Tiere die letzten 17 Stunden fast trocken, im hellen, 13° warmen Zimmer gehalten worden waren. Ein zweistündiges Verweilen im seichten Wasser zwischen 24. bis 26. Versuchsstunde bewirkte bei den mit 3 mg injizierten Tieren wie bei den vorher geschilderten Versuchen ein stärkeres Dunkeln des Versuchstieres als des Kontrolltieres. Dagegen waren die mit 3,5—5,0 mg Brucin behandelten Tiere selbst im seichten Wasser stets heller als die Kontrolltiere. Ein 22stündiger Aufenthalt der Tiere ım seichten Wasser ın der 15° warmen Dunkelkammer (26. bis 48. Stunde p. ı.) hatte bei den niederen Dosen von 0,%—-2,0 mg keinen sicheren Erfolg, da- gegen war bei Dosen von 2,5—3,0 mg das Versuchstier dunkler als das Kontrolltier, hingegen war bei Dosen von 3,5—5,0 mg das Versuchstier stets bedeutend heller als das Kontrolltier. Die nach der Lähmung des Versuchstieres eingetretene Ver- dunkelung kann unmöglich mit der motorischen Lähmung und der durch diese hervorgerufenen Dyspnoe in direkte Beziehung ge- bracht werden. Ich möchte sie vielmehr als eine direkte Alkaloıd- wirkung auf den koloratorischen Apparat ansehen. Die während des späteren Lähmungsstadiums beobachtete stärkere Aufhellung des Versuchstieres ist ebenso wie die stärkere Verdunkelung der Brucintiere nach dem Einbringen in seichtes Wasser nur als eine gesteigerte Reaktionsfähigkeit des koloratorischen Apparates auf den Trocken- bezw. Feuchtigkeitsreiz anzusehen. Das gleiche gilt für das Verhalten der Brucintiere in der Dunkelkammer, so dass wir dem Brucin auch eine Steigerung der photischen Reizbarkeit des koloratorıschen Apparates zuerkennen müssen. In höheren Dosen (von 3,5 mıg an) übt aber das Brucin eine direkte Aufhellungswirkung aus, denn hier waren die Brucintiere stets heller als die Kontrolltiere und zwar unter Versuchsbedingungen, 878 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. die bei normaler oder gesteigerter Erregbarkeit des koloratorischen Apparates eine starke Verdunkelung der Versuchstiere hätten herbei- führen müssen. In den Versuchsergebnissen treten zwischen den beiden Rana- Arten besonders merkwürdige Reaktionsverschiedenheiten hervor. Als auffallendste Erscheinung muss hervorgehoben werden die bei Rana esculenta sofort eintretende Lähmung, während fusca- Exemplare eine sich steigernde Reflexerregbarkeit aufweisen, die nach 2—3 Stunden zu allgemeinen Reflexkrämpfen führt. Aber auch der koloratorische Apparat zeigt bemerkenswerte Reaktions- verschiedenheiten bei den beiden Froscharten. Bei fusca trıtt nur eine Aufhellungswirkung auf, welcher eine Erregbarkeits- steigerung des koloratorischen Apparates nachfolgt. Bei Rana esculenta ist anfänglich eine Verdunkelungswirkung des Alkaloides zu konstatieren, und nur die höchsten Dosen haben später eine direkte aufhellende Wirkung. Diese hervorgehobenen Unter- schiede sind gewiss interessante Beispiele physiologischer Art- verschiedenheiten und Artmerkmale. Da es sich in meinen Versuchen um ein älteres Brueinpräparat handelt, so möchte ich nicht behaupten wollen, dass rein darge- stelltes Brucin die beschriebenen Wirkungen hat, zumal die käuf- lichen Alkaloide immer Mischungen verschiedener Alkaloide sind. Worauf es mir vielmehr ankommt, ist, dass die beiden Rana-Arten nach Injektion ein und derselben Lösung verschieden reagieren, also mindestens eine elektive Reaktionsfähigkeit gegenüber ein und demselben Substanzgemisch besitzen. Coecain. Die 7 an Rana fusca angestellten Versuche zeigten nachstehen- den Verlauf. Nach der Injektion von 1 mg Cocain konnte bei der nach 1—1!/, Stunden (p. i.) vorgenommenen Untersuchung eine Lähmung des Versuchstieres konstatiert werden, die einer vor- angegangenen kurzdauernden Erregungsperiode folgte, welche von einer deutlichen Aufhellung der Haut und entsprechenden Ballung der Schwimmhautmelanophoren begleitet ist. Sobald die Lähmung vorübergegangen ist, was nach ungefähr 3 Stunden (p. i.) der Fall war, bleibt eine geringfügige Aufhellung noch bestehen, die aber sehr bald verschwindet und nur eine mäßig gesteigerte Reak- tionsfähigkeit gegen Feuchtigkeit und Temperatur zurücklässt, welche allerdings noch bis 70 Stunden, ja sogar bis 100.Stunden nach der Injektion erhalten sein kann. Ganz analog verhalten sich die Tiere bei steigenden Dosen bis zu 5 mg, wo die Lähmung und die sie beglei- tende Aufhellung einmal sogar bis zur 24. Stunde (p. i.) nachweisbar war. In diesem Falle war sogar nach 114 Stunden die gesteigerte Empfindlichkeit gegen koloratorische Reize noch vorhanden. Nagel, Handbuch der Physiologie des Menschen. 879 An Rana esculenta wurden 10 Versuche angestellt. Im großen und ganzen sind die Versuchsergebnisse die gleichen wie bei Rana fusca, doch habe ich den Eindruck gewonnen, als ob Rüuna escu- lenta in etwas geringerem Grade gegen Cocain empfindlich wäre. Ich möchte aber diese Frage noch nicht für definitiv entschieden erklären, da das untersuchte Material mir nicht zahlreich genug er- scheint. Bei allen Versuchen an Rana esculenta wurde bei der nach 1'/,—2.Stunden (p. 1.) stattgehabten Untersuchung eine Läh- mung des Versuchstieres konstatiert, welche von einer deutlichen Aufhellung der Hautfarbe und entsprechender Ballung der Schwimm- hautmelanophoren begleitet wird. Die Tiere befanden sich seit der Injektion im ganz seichten Wasser ım hellen, 15° warmen Zimmer. Je nach der Größe der injizierten Cocaindosis ıst die Lähmung nach 4 Stunden (p. ı.) verschwunden wie z. B. bei Dosen bis zu 4 mg, während sie bei Dosen von 5—10 mg um diese Zeit noch vorhanden war. Nach 7 Stunden (p. 1.) ist aber auch bei diesen Dosen die Lähmung bereits verschwunden, die Aufhellung der Ver- suchstiere gegenüber den Kontrolltieren ist dann nur mehr oder weniger angedeutet, oder sie kann bereits ganz fehlen. Jedoch habe ich sie auch noch bis zu 20 Stunden (p. 1.) beobachtet. Eine ge- steigerte Empfindlichkeit gegen alle koloratorischen Reize war bei den Cocaintieren sogar noch bis 72 Stunden nach der Injektion nachweisbar. Besonders hervorgehoben muss aber werden, dass die nach Oocaininjektion eintretenden Farbenveränderungen zwar nicht sehr stark, aber doch deutlich sind, :so dass sie mit Sicherheit beobachtet werden können. Das gilt nicht nur für Rana esculenta sondern auch für Rana fusca. (Schluss folgt.) W. Nagel. Handbuch der Physiologie des Menschen. Bd. I. 2. Hälfte. — Bd. II. 1. Hälfte. — Bd. III. 2. Hälfte. — Bd. IV. 1. Hälfte. Braunschweig. F. Vieweg u. Sohn. 1905 u. 1906. Von dem von W. Nagel herausgegebenen Handbuch, dessen zuerst ausgegebener Bd. III im Centralbl. XXV, 557 angezeigt worden ist, sind inzwischen wiederum drei Halbbände ausgegeben worden. Entsprechend der Aufgabe, welches sich dieses Handbuch stellt, in erster Linie dem Physiologen von Fach zu dienen, in zweiter Linie allen denen, deren Fachwissenschaft der physiologischen Einzel- kenntnis bedarf, ist der Hauptnachdruck auf die Darstellung vieler speziellen Einzelheiten gelegt, hinter welche die großen Züge der wissenschaftlichen Gesamtdarstellung zuweilen zurücktreten. Her- vorheben möchte ich aus diesem Bande außer dem schon früher gewürdigten Abschnitt des Herrn v. Kries noch den Abschnitt des Herrn Zoth, welcher der schwierigen Aufgabe, meist auf Grund eigener Forschungen, in vollem Maße gerecht wird. Die 2. Hälfte des I. Bandes bringt aus der Feder des Herrn Tigerstedt in Helsingfors die Physiologie des Stoffwechsels und S30 Warren Triennial Prize. die Wärmeökonomie des Körpers. Die 1. Hälfte des IV. Bandes enthält die Physiologie des Gehirns von A. Tschermak (jetzt) in Wien, des Rücken- und Kopfmarkes von O. Langendorff in Rostock, das sympathische Nervensystem von dem (inzwischen verstorbenen) P. Schultz in Berlin. Auch von diesen Abschnitten ist das gleiche zu sagen wie von den anderen. Am meisten unterscheidet sich von den bisherigen Hand- und Lehrbüchern der Inhalt der 1. Hälfte des II. Bandes. Was hier geboten wird, ist entweder Ergebnis der Forschungen der letzten beiden Jahrzehnte oder es wurde in den Handbüchern der Physio- logie nur kurz und nebenher behandelt und die breitere Ausführung den Lehr- und Handbüchern der Sondergebiete überlassen. Hier bietet H. Boruttau, jetzt in Berlin, eine fleißige und sorgfältige Zusammenstellung unserer Kenntnisse von der „inneren Sekretion“ der Schilddrüse, Hypophysis, Nebenniere, Thymus, Milz und Pan- kreas, Nieren und Keimdrüsen. Nagel bearbeitete die Physiologie der männlichen, H. Sellheim in Freiburg die der weiblichen Ge- schlechtsorgane, R. Metzner in Basel die Absonderung und Heraus- beförderung des Harns, OÖ. Weiß im Königsberg die Beschaffenheit und Zusammensetzung des Harns. Die Heranziehung von Mit- arbeitern aus Spezialgebieten hat hier, wie schon im ersten Bande, die breitere Ausführung veranlasst. Somit ıst in diesem Handbuch allen denen, welche sich über den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse auf verschiedenen (sebieten der Physiologie unterrichten wollen, ein sicherer Führer und ein wertvolles und nützliches Hilfsmittel geboten. IR. Warren Trienniat Prize. Massachusetts General Hospital. The Warren Triennial Prize was founded by the late Dr. J. Mason Warren in memory of his father, and his will provides that the accumulated interest of the fund shall be awarded every three years to the best dissertation, considered worthy of a preminm, on some subject in Physiology, Surgery, or Pathological Anatomy ; the arbitrators being the Physicians and Surgeons of the Massachusetts General Hospital. The subject for competition for the year 1907 is on Some Special Subject in Physiology, Surgery, or Pathology. Dissertations must be legibly written, and must be suitably bound, so as to be easily handled. The name of the writer must be enclosed in a sealed envelope, on which must be written a motto corresponding with one on the accompanying dissertation. Any elew given by the dissertation, or any action on the part of the writer which reveals his name before the award of the prize, will disqualify him from receiwwing the same. The amount of the prize for the year 1907 will be 8 500. In case no dissertation is considered sufficiently meritorious, no award will be made. Dissertations will be received until April 14, 1907. A high value will be placed on original work. Herbert B. Howard, Resident Physician. Boston, February, 1906. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kel. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. j Biolosisches Gentralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vergl. Anatomie und Entwiekelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. ; R XXYVI. Bd. 1. Dezember 1906. Ne RA. Inhalt: Tschermak, Über die Bedeutung des Hybridismus für die Deszendenzlehre. — Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen (Schluss). — Lueiani, Physiologie des Menschen, Bd. II. — Register. — Über die Bedeutung des Hybridismus für die Deszendenzlehre. Von Professor Dr. Erich Tschermak. (Vortrag gehalten bei der International Conference on Hybridisation and Plant Breeding der Royal Horticultural Society in London. August 1906.) Bis vor wenigen Jahren ging die Meinung der Vertreter der Wissenschaft dahin, dass dem Hybridismus oder der Bastardierung keine sonderliche Bedeutung für die Erzeugung neuer Formen bezw. für die Deszendenzlehre zukomme. Die praktischen Züchter hın- gegen hatten schon seit langer Zeit die künstliche Kreuzung als ein Mittel kennen gelernt, welches in gewissen Fällen anscheinend neue Formen hervorzubringen vermag. Allerdings schien hier keinerlei Gesetzmäßigkeit zu obwalten. Schon um sich die ge- schäftliche Verwertung der zufällig erreichten Glücksfälle zu sichern, wurde seitens vieler’ Züchter der Schleier des Geheimnisses über die Herkunft ihrer neuen Produkte gebreitet. Infolgedessen wird noch heute gewiss so manche Form zu Unrecht aus Reklamezwecken als Hybrid oder Bastard bezeichnet; andererseits sind manche Neu- heiten, deren Provenienz nicht angegeben wurde, mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit auf eine absichtliche oder eine ungewollte Fremdbestäubung zurückzuführen. Die Erfahrung, dass Artbastarde in der Regel keine oder nur sehr geringe Fruchtbarkeit besitzen, und dass ihre event. Nachkommen nicht selten Rückschläge zu der Mutterform oder Vaterform aufweisen, hatte wohl zu der früher XXVl. 56 889 Tschermak, Über die Bedeutung des Hybridismus für die Deszendenzlehre. gekennzeichneten Geringschätzung des Hybridismus geführt. Aller- dings beschrieben Sache anne Charles Darwın und Focke an Bastar den das Auftreten anscheinend neuer Eigenschaften, welche sie jedoch ausschließlich als Rückschläge auf eine der ti. men, als Atavismen betrachteten. Neben dieser historischen oder reproduktiven Seite ist gegenwärtig jedoch auch eine direkt produktive Rolle des Hybridis- mus in der Erzeugung neuer Formen und Kombinationen festgestellt. So resultieren nel nach dem Mendel’schen Gesetze, welche sich heute ja als bereits allgemein bekannt voraussetzen darf, bei Er- zeugung Von en alle möglichen Kombinationen der Sn rliehen Merkmale!). Von diesen Pradudcn der Spaltung mögen einzelne beim ersten Anblicke als Neuheiten imponieren: sie sind es jedoch nur nach der Kombination, nicht nach der Qualität der Merkmale. Selbst diese Beschränkung erscheint — allerdings nur für das Auge des Laien — ee in jenen interessanten Fällen, ın a sich an den Bean scheinbar einfache Merk- male der Eltern in mehrere Komponenten aufgelöst und diese haben Komponenten wieder nach der Mendel’schen Regel in Kombination getreten sind. Diese Erscheinung, welche Bateson als „analy- tical variation of compound char aclers or allelomorphs“ bezeichnet, findet sich besonders an Farbenmerkmalen (de Vries, Tscher a Bateson, Corrensu.a.). Auch der umgekehrte Fall: Zusammen- fügung oder Synthese bisher verteilter Komponenten zu einer scheinbar neuen Einheit ist möglich: die synthetical varıation of unit-characters nach en In Parenthese sei hier die Frage gestreift, ob die Mendel’sche Wertigkeit eines Merkmals — ich meine sein Verhalten als dominant oder als rezessiv — einen Schluss auf das phylogenetische Alter eestattet. Gegenüber der öfters anzutreffenden Neigung, den domi- nierenden Charkır ohne weiteres als den älteren anzusehen, habe ich schon mehrfach?) betont, dass eine solche Beziehung zwar ge- wöhnlich, aber keineswegs ausnahmslos zutrifft. Nicht bloß kann die Wertigkeit mit der jeweiligen Rassenkombination wechseln, es können Sch sicher „junge“ Merkmale dominieren, beispielsweise die von Rimpau als Kreuzungsnovum erhaltene Grannenlosigkeit?) der Gerste über den Besitz von Granne oder Kapuze, oder die Caly- 1) Dafür, dass auch monströse Bildungen „mendeln‘“, gibt es bereits manche Beispiele auf botanischem wie auf zoologischem Gebiete. Nach meinen Versuchen zeiet z. B. die Fasziation bei Pisum als rezessiv gegenüber der normalen Stengel- entwickelung typisch Mendel’sches Verhalten, ebenso die zusammengesetzte Ähren- form bei Weizen und Gerste (Tritieum compositum, Hordeum compositum — bei Roggen nicht erblich!) gegenüber der einfachen Ährenform. 9) Zeitschrift für das landw. Versuchsw. in Öst. 1901, S. 1037. — Beih. z. Bot. @:'Bl," Bar 16,27, 419037801017 3) Mit derselben ist der kryptomere Besitz von Granne verknüpft. Tschermak, Über die Bedeutung des Hybridismus für die Deszendenzlehre. 885 canthemie über die normale Blütenbildung bei Primeln und Cam- panulaceen (vgl. Bateson’s Resultate an Hühnerhybriden, 1902). Schon durch die Möglichkeit einer Produktion neuer Mendel'- scher Kombinationen von Merkmalen und Merkmalskomponenten besitzt der Hybridismus gewiss eine erhebliche Bedeutung für die Bildung neuer Rassen. Vor allem vermag er aus zwei vielfach verschiedenen Eltern eine Menge sogen. Zwischenformen zu ent- wickeln — ein Moment, welches sowohl für die züchterische Praxis als für die Deszendenztheorie sehr wichtig ist. Hybridogene Zwischen- formen sind augenscheinlich in großer Anzahl in der Kultur durch unbeabsichtigte Kreuzung entstanden, von den künstlich erzogenen Bastarden ganz abgesehen. Aber auch von denjenigen Arten, welche in der freien Natur unter gleichen äußeren Bedingungen eine ganze Anzahl konstanter Rassen aufweisen, dürften so manche ihren Formenreichtum zum Teile w enigstens einer einstigen Kreuzung weitabstehender Rassen und einer Mendel’schen Aufspaltung ver- danken. Bei rein Mendel’schem Verhalten erweist sich eine hybridogene Reihe von Zwischenformen, sobald man auf die einzelnen Merkmale achtet und nicht bloß den Gesamteindruck ins Auge fasst, als eine diskontinuierliche — im Gegensatze zu einer solchen, wie wir sie aus Individuen zusammenstellen können, welche durch spontane kontinuierliche Variation voneinander verschieden sind. Aller- dings liefert die Spaltung in gewissen Kreuzungsfällen, welche nicht genau dem Mendel’schen Schema folgen, sondern ‚sich dem Zea- typus nach Correns anschließen, eine ganze Reihe kontinuierlicher Zwischenformen, welche gleichzeitig beide elterlichen Merkmale ın verschiedenem Verhältnisse gemischt an sich tragen. Ich habe solche Übergangsreihen speziell erhalten bei Kreuzung von grannen- und kapuzentragenden Gerstenrassen mit grannenlosen, ferner bei Kreuzung von Gersten mit verschiedener en speziell bezüg- lich des Grades der Fertilität der seitlichen Ährehen, sowie ber Roggen und Weizen bezüglich Ährentypus und Samenform. Allerdings scheinen die Zwischenformen alle weiter zu spalten, aber nicht alle ım gleichen Sinne. Es scheint also unter den Pro- dukten einer unreinen oder abgestuften Spaltung, wenigstens in gewissen Fällen, wieder Gruppen von verschiedener Vererbungsweise zu geben. Und zwar erscheint in jeder Gruppe das vorw en aus- Bemägte Merkmal an Vererbungskraft bevorzugt: die Mischlinge mit nur schwach entwickelter bezw. Be liefern nur mehr wenig Deszendenten mit vollausgebildeter Kapuze bezw. Granne. Tch habe bisher nur von ee Übergangsreihen ge- sprochen, wie sie bei unreiner Spaltung von der zweiten Generation ab — von dem einfachen Mendel’schen Schema abweichend — resultieren. Ich habe aber auch anscheinend ähnliche Abstufungen 56* SS4 Tschermak, Über die Bedeutung des Hybridismus für die Deszendenzlehre. unter Primel-, Verbenen- und Rübenhybriden erster Generation be- obachtet, doch erscheinen mir diese Fälle noch nicht hinlänglich klar, um weitere Details hier vorzubringen. Mehrgestaltigkeit (Pleiotypie) schon in der ersten Generation und Konstanz jeder einzelnen Form bildet das Charakteristikum der Hieracienbastarde nach Mendel, sowie der sogen. Macfarlane’schen Hybriden über- haupt, unter anderen auch der Hybriden zwischen den Oenothera- Mutanten von de Vriest). De Vries betrachtet bekanntlich ein solehes Verhalten als Hinweis auf eime spezifische Verschieden- heit der betreffenden Formen oder Merkmale, ein.Mendel’sches Ver- halten hingegen als Ausdruck einer bloßen Rassenverschiedenheit. Hier seien auch solche Kreuzungsfälle (z. B. Triticum vulgare X Tr. polonicum) erwähnt, ın denen die Spaltung der zweiten Gene- ration das eine Elternmerkmal, z. B. den Spelzencharakter der einen Elternform, zwar in einer ganzen Reihe von Ausbildungsstufen hervortreten lässt, nach meinen bisherigen Erfahrungen jedoch keinen oder fast keinen absolut reinen Vertreter des anderen Merkmales, z. B. des Spelzencharakters von Pritieum vulgare hervorbringt. Ähn- liches gilt für die diehte Ährehenstellung bei Kreuzungen von ge- wissen Squarehead-W eizenformen mit ganz bestimmten schmalährigen Formen; ebenso resultiert aus der Verbindung Tritieum vulgare X Tr. dieoccum mie wieder reines Tr. dicoccum?). Auch ın den folgenden Generationen wurde das eine Elternmerkmal nie mehr ganz rein, d.h. von der Beimengung einer mehr oder minder deutlichen Spur des anderen frei?); die spurweise „verunreinigten“ Deszendenten erwiesen sich als sofort konstant (die Prüfung derselben auf Krypto- merie ıst bereits in Angriff genommen). Am sinnfälligsten äußert sich die produktive Bedeutung des Hybridismus in der sprungweisen Hervorbringung wirklich neuer Formen durch Kreuzung, welche nicht einfach als Kombinationen solcher Merkmale aufgefasst werden können, wie sie die beiden Eltern zur Schau tragen. Man darf diese Fälle als Hybrid- mutationen bezeichnen. Schon vor Jahren konnte ich mitteilen, dass sich ım nicht wenigen Fällen solche Kreuzungsnova gesetzmäßig und zwar ın Mendel’schen Zahlenverhältnissen hervorbringen lassen. Nur neben- bei sei bemerkt, dass in anderen Fällen irregulär Kreuzungsnova 1) Extreme Fälle (Monotypie-Konstanz, Monolapsis) dieser Art stellen die Faux- Hybrides von Millardet dar. 2) Nach Mitteilung Biffen’s (bei der International Conference 1906) hinzugefügt. 3) Dieser Fall ist wohl zu unterscheiden von allgemeiner Dominanz oder Halb- dominanz und sofortiger Konstanz eines Merkmales (Maefarlane’scher Grenzfall, Monolepsis, vgl. die Fauxhybrides Millardet’s). Ich beabsichtige diesem Ver- erbungstypus, welcher gewiss geeignet ist, Zweifel an einer Reinheit der Gameten in diesem Falle zu erwecken, eine gesonderte Darstellung zu widmen. un Tsehermak, Uber die Bedeutung des Hybridismus für die Deszendenzlehre. 855 zum Vorschein kamen. Es gibt nämlich, wie meine Versuche und die damit völlig übereimstimmenden Beobachtungen von Bateson und Saunders zeigten, gewisse Rassen von Erbsen (Pisum arvense), Bohnen, Levkojen und Gerste, welche bei Inzucht völlig konstant bleiben, bei Kreuzung mit einer oft ganz beliebigen fremden Rasse jedoch neue Merkmale hervortreten lassen. Für solche Formen habe ich die Bezeichnung kryptomer vorgeschlagen. In den von mir studierten Fällen erscheinen nicht beide Eltern gleichmäßig an dem Novum beteiligt; vielfach verrät sich bei der einen Elternform der latente Besitz schon gelegentlich und an- deutungsweise durch spontane Variation. Der andere Elter spielt dabei die Rolle eines auslösenden Aktivators oder Komplements. Die Mendel’schen Zahlenverhältnisse legen den zuerst vou Üor- rens ausgesprochenen Schluss nahe, dass ın diesen Fällen zwei Merkmalspaare: nämlich Besitz und Mangel der Merkmalsanlage bezw. des Aktivators zu unterscheiden sind. Diese regulären Hybrid- mutationen sind als degressiv oder als retrogressiv im Sinne von de Vries zu bezeichnen, da dabei. ein einseitiger Verlust oder Gewinn eintritt, nicht eine vielseitige Veränderung, wie bei den progressiven Spontanmutationen von Oenothera Lamarckiana. Wenn Merkmale des von Grundtypus anzunehmenden Pisum arvense, — beispielsweise Rotblüte, Blattmakel, dunkelbraune Samenschale Runzelform der Samen — bei Kreuzung von atypischen Defekt- rassen des Pisum arvense (mit Rosablüte, Makellosigkeit, gezeichneter oder heller Samenschale, glatten Samen) und beliebigen Satıvum- rassen plötzlich und unerwartet hervortreten, so liegt zweifellos ein Hybridatavismus vor. In anderen Fällen jedoch handelt es sich mit Sicherheit um eigentliche Neuheiten, speziell um hybridogene Defektmutationen, z. B. Albinismus. Es ist demnach recht wohl annehmbar, dass in der Geschichte der organischen Formenwelt der Hybridismus nicht selten die Bildung neuer Rassen, vielleicht sogar den Eintritt progressiver Mutationen ausgelöst hat. — Nebenbei bemerkt berechtigen meine, Saunder’s und Bateson’s Erfahrungen an Matthiolahybriden (ebenso an Gerstenhybriden) zu dem Zweifel, ob die Produktion absolut reiner Gameten ım Sinne Mendel’s allgemein zutrifft und ob nicht vielmehr — wenigstens in gewissen, als Kryptohybridismus bezeichneten Fällen — eine Doppel- veranlagung mit wesentlicher Prävalenz des einen oder des anderen Charakters — so speziell eine Latenz, nicht ein völliges Fehlen des dominierenden Merkmals an rezessivmerkmaligen, bei Inzucht konstanten Mischlingsdeszendenten!) — vorkommt. Doch wird man 1) Auch in diesen Fällen scheint eine neuerliche Fremdkreuzung das latente stammelterliche Merkmal — mit regulärer Mendel’scher Wertigkeit (als domi- nierend, mitdominierend, rezessiv, mitrezessiv) oder unter Pleiotypie in der ersten S86 Tschermak, Über die Bedeutung des Hybridismus für die Deszendenzlehre. einerseits mit einer solchen weittragenden Konsequenz vorsichtig sein müssen; andererseits aber wäre es gewiss schädlich, wollte man die Reinheit der Gameten zu einem Satze stempeln, an dem kein Zweifel erlaubt wäre). Soweit die eben geschilderten hybridogenen Nova oder Mu- tationen als Atavısmen aufzufassen sınd, haben sie deszendenz- theoretische Bedeutung. Die Kreuzung erweist sich ja in diesen Fällen als ein Mittel, gewisse scheinbar verschwundene stammelter- liche Merkmale zu reaktivieren und dadurch über die Abstammung der gegenwärtigen Form Aufschluss zu geben. Andererseits lässt sich durch die Hybridmutationen, speziell durch dıe ganz. regulär auslösbaren — ähnlich wie durch die spontanen Variationen und Mutationen —, das Produktionsvermögen der einzelnen Art über- haupt ermessen, ıhr sogen. äußerer Formenkreis (Goebel, Gela- kowsky, Heinricher, de Vries) abgrenzen. Die Kreuzung ist ja heute als ein Mittel erkannt, experimentell den Zustand einzelner Merkmale sowohl in aufsteigender Richtung von Latenz zu Voll- aktıvität als auch umgekehrt in absteigender Richtung zu verändern’). Auch über die phylogenetische Beziehung zweier gegebener Formen verspricht die Kreuzung auf Grund der Vererbungsweise der Unterscheidungsmerkmale Aufschlüsse zu geben. Die Bemühung der älteren Experimentatoren, auf diesem Wege die spezifische Gemeimschaft oder Verschiedenheit festzustellen, sind ja allgemein Generation —- reaktivieren zu können. Beispiele: Behaarung oder Pigmentierung an glatten oder weißen oder anders pigmentierten Deszendenten aus glatt X behaart bezw. weiß X bunt bei Matthiola: Tschermak, Bateson. Vgl. auch die Be- obachtungen von Cu&@not, Haake, Guaita, Castle (1903), Castle und Allen (1903), Bateson (1903) an Maushybriden, wie jene von Darbeshire und Hurst. — T. H. Morgan (Science XXII, 1905 und Biol. Centralbl. XX VI, 1906, S. 289) vertritt ganz allgemein die Hypothese von der Unreinheit der Gameten bei Hybriden (d.h. Doppelveranlagung mit Prävalenz oder Dominanz der einen Anlage gegenüber der anderen — Produktion beider Gametenarten im allgemeinen in gleicher Anzahl). Er betrachtet die bei Inzucht bereits konstanten manifest-dominantmerkmaligen Mischlingsdeszendenten („extracted dominants‘“) allgemein als latent rezessivmerkmalig, die manifest-rezessivmerkmaligen („extracted recessives‘“) als latent-dominantmerkmalig, somit alle diese Spaltungsprodukte als Kryptohybriden in dem zuerst von mir (1905, Oktober) aufgestelltem Sinne. Man vergleiche ferner die bezüglichen Anschauungen von de Vries (dargestellt in meiner Abhandlung 1903, l.c., 8. 23), sowie die Theorie von J. Groß (Über einige Beziehungen zwischen Vererbung und Variation. Biol. Centralbl. 1906, Bd. XXVI, Nr. 13—-18), derzufolge in den mendelnden Fällen bei der Rekonstituierung der Chromosomen vor der Reifungsteilung der Sexualzellen reine, in den Fällen intermediärer Hybriden unreine, d. h. aus einem väterlichen und einem mütterlichen Antheren zusammengesetzte Kernschleifen gebildet werden. 1) Diesen Standpunkt habe ich bereits 1903 vertreten. Beih. z. Bot. ©. Bl., Bd. 16, H. 1, 1903, Okt., S. 20 u. 25. — Vgl. auch Zeitschr. f. das landw. Versw. in Öst., 1904, 8. 23; Archiv f. Rassen u. Ges. Biol, 2. Jahrg., 5. u. 6. H., 1905. 2) Vgl. meine Mitteilungen in der Zeitschr. f. d. landw. Versuchsw. in Öster- reich 1904. Tscehermak, Über die Bedeutung des Hybridismus für die Deszendenzlehre. 887 bekannt. Ebenso die Unterscheidung von rassialen oder mendelnden Merkmalen (mit sogen. bisexueller Kreuzungs- oder Vererbungs- weise) und von spezifischen Merkmalen (mit sogen. unisexueller Kreuzungs- oder Vererbungsweise nach Macfarlane), wie sie de Vries in seinem Werke durchgeführt hat. Ich will hier aus meinen Beobachtungen nur folgende Sätze hinzufügen: Nicht bloß die Hybriden verschiedener Kulturformen, sondern auch die Hybriden von Kulturformen und Wildformen bezw. mut- maßlichen Stammformen, wie ich sie im großen Maßstabe beim Getreide erzeugt habe — beispielsweise Secale cercale X Secale montanum (und reziprok), Hordeum spontaneum X Kulturformen der Gerste, Weizen X Aegilops (und reziprok) folgen dem Mendel'- schen Gesetze, wahrscheinlich ein Beweis dafür, dass diese Kultur- formen!) durch diskontinuierliche, nicht aber durch kontinuierliche Variation und Selektion aus der Wildform hervorgegangen sind?). Das Mendel’sche Verhalten hat sich ferner nicht allein als gültig erwiesen für sogen. Organisationsmerkmale, sondern auch für sogen. adaptive Charaktere, z. B. für die Länge der Vegetations- periode. So ergab die Kreuzung von Winterroggen und Sommer- roggen eine gleichförmige intermediäre erste Generation mit Prä- valenz des Sommertypus. Wurde die erste Generation und zweite Generation im Sommer gebaut, so resultierte das Spaltungsverhältnis Sommertypus (schossend) : Wintertypus (sitzend), beim Ausschossen gezählt 2,5:1, bei der Ernte gezählt 4,5:1, ım Durchschnitt 3,1:1. Bei Winteranbau der ersten und Sommeranbau der zweiten Gene- ration nahmen die Vertreter des Wintertypus zu, das Spaltungs- verhältnis änderte sich auf 1,98: 1. Von noch größerem Einflusse 1) Im Vergleich zum Mendel’schen Verhalten der Kulturrassen gleicher Spezies habe ich nicht bloß Kreuzungen zwischen Wildrassen und Kulturrassen, sondern auch zwischen verschiedenen Wildformen von gleicher Spezies begonnen, z. B. Anagallis arvensis X. coerulea. 2) Auch meine Kreuzungen unter der zu Bastardierung besonders geeigneten Familie der Hordecae verfolgen neben anderem das Ziel über die Frage der syste- matischen Verwandtschaft Aufschluss zu erlangen. — Kreuzung kontinuierlicher Varianten, z. B. verschiedener Grade von Purpurpigmentierung der Fruchthüllen zeigen nach meinen Erfahrungen kein Mendel’sches Verhalten. — Ich habe zu wiederholten Malen (Weitere Beiträge. Zeitschr. f. d. Jandw. Versuchsw. in Österreich 1901, 8. 652-654; Über die gesetzmäßige Gestaltungsweise der Mischlinge. Ebenda 1902, S. 795, S17; Der gegenwärtige Stand der Mendel’schen Lehre. Ebenda 1902, S.23, D.S.A.; Beih. z. Bot. Centralbl. 1903, S. 17) das Nichtmendeln kontinuierlich- variativer Merkmale, das Mendeln diskontinuierlich-mutativer Merkmale ausdrücklich hervorgehoben. Allerdings muss heute bei dieser These der Vorbehalt gemacht werden, dass die Anwendung des Johannsen’schen Linsenprinzipes auf diese Frage unter genauer Feststellung der Variationsweise der einzelnen, zur Kreuzung ver- wendeten Linsen noch aussteht. Ich muss daher für mich wie für Bateson (vgl. Report I. Roy. Soc. 1902) die Behauptung von J. Groß (l. c. S. 424): Es ist schwer zu fassen, wie alle Forscher an dieser Lösung des Rätsels vorübergehen konnten — entschieden ablehnen. 885 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. war es, ob die zweite Generation im Sommer oder im Winter ge- baut wurde. Im Falle Winter, Winter, Sommer ergaben die en Spalter!) der dritten Generation die Relation Schossend: Sitzend — 1:10,5, im Falle Sommer, Winter, Sommer die ähnliche Relation 1: 9,49; im Falle Sommer, Sommer, Sommer 3,4 :1. Das adaptıve Merkmal „Länge der Vegetationsperiode* lässt also bei seiner Mendel’schen Vererbungsweise die fortdauernde Beeinflussbarkeit durch die besonderen äußeren Faktoren deutlich erkennen. Ich glaube, dass das Wenige, was ich hier anführen konnte, zu dem Schlusse genügt: der Hybridismus ıst für die exakte Des- zendenzlehre von nicht unerheblicher Bedeutung insoferne, als durch Kreuzung — ähnlich wie durch Anpassung, durch diskontinuierliche Variation oder Mutation, nach der älteren, neuerdings von Weis- mann, Plate, J. Groß vertretenen Anschauung auch durch kon- tinuierliche Variation und Selektion — neue Formen entstehen, aber auch stammelterliche Merkmale wieder auftreten können. Der Hybridismus stellt somit eine reiche Quelle von Formen dar und gestattet zudem nicht selten eine experimentelle Ahnenprobe?). Zur Physiologie der Pigmentzellen. Von R. F. Fuchs. (Aus dem physiologtschen Institut der Universität Erlangen.) (Schluss. ) Coniin. An Rana fuseca wurden 14 Versuche angestellt, die zu nach- stehendem Ergebnis führten. Bei sämtlichen Versuchen mit Aus- nahme dreier konnte 1—1!/, Stunden nach der Injektion eine deut- liche Verdunkelungder Versuchstiere gege enüber den Kontrolltieren "beobachtet werden. Dir Tiere wurden in ganz seichtem Wasser, das gerade nur die abhängigsten Partien des Gefißbodens bedeckt, also trocken, ım 19° warmen hellen Zimmer gehalten. Die drei nega- tiven euch rühren wohl davon her, da die Tiere erst ın der zwanzigsten Stunde nach der Injektion untersucht werden konnten, 1) D. h. die Deszendenten von Vertretern des „rezessiven“ Wintertypus in der zweiten Generation; die sekundär angepassten bei Winteranbau der zweiten Gene- ration durchgekommenen oder bei Sommeranbau der zweiten Generation nachträglich ausgeschossten Individuen zeigen ein anderes Spaltungsverhältnis (Sommer, Winter, Sommer 1:1,06; Winter, Sommer, Sommer 4,47 : 1), welches aber auch den Ein- fluss der Anbauweise deutlich erkennen lässt. Bezüglich der Details vergleiche meine Arbeit „Über Züchtung neuer Getreiderassen“. II. Mitt. Zeitschr. f. d. landw. Versuchsw. in Öst. 1906. 2) Vgl. meine Aufsätze: Die Lehre von den formbildenden Faktoren. Jahrb. für Pflanzen- u. Tierzüchtung 1903. — Über Bildung neuer Formen durch Kreuzung. Verh. d. internat. Bot. Kongresses in Wien 1905. Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 850 also zu einer Zeit, in welcher die Verdunkelung schon wieder ab- geklungen ist, wenn es sich nicht um Versuche mit sehr großen Dosen handelt, was bei den drei Tieren aber nicht der Fall war, da es sich um Dosen von 2—4 mg handelte. Bei 1—2 mg Coniin ist die Verdunkelung nicht groß, immer- hin aber deutlich sichtbar. Nach 2 Stunden 30 Minuten (p. 1.) 1st sie aber bereits wieder im Abklingen, oder schon ganz verschwun- den. Die Schwimmhautmelanophoren zeigen nur ganz geringfügige Expansionserscheinungen;; sie scheinen auf Coniin etwas weniger zu reagieren als die des übrigen Körpers. Nach Injektion von 1 mg Coniin sind Nachwirkungen auf die Reaktion der Pigmentzellen be- reits in der 3. Stunde nach der Injektion nicht mehr zu finden, die Tiere hellen sich im Trockenen genau so stark auf wie die Kontroll- tiere, ferner ist die Verdunkelung im seichten Wasser bei den Ver- suchstieren die gleiche wie bei den Kontrolltieren. Bei Applikation von 3—7 mg Conün ist die Verdunkelung der Versuchstiere eine entsprechend stärkere, sie ist nach 2 Stunden (p. i.) noch deutlich ausgesprochen. Die Expansion der Schwimm- hautmelanophoren erreicht etwas stärkere Grade, sie können aus dem unregelmäßig kugeligen Ballungszustand in sternförmig ver- zweigte Zellen mit zahlreichen verzweigten Fortsätzen sich _um- wandeln. Ferner ist nach Anwendung dieser Dosen die Verdunke- lung des Versuchstieres noch bis zur 19. Stunde (p. 1.) beobachtet worden, obwohl die Versuchs- und Kontrolltiere während der letzten 13 Stunden vollkommen trocken im 19° warmen, hellen Zimmer gehalten wurden. Trotz dieses lange andauernden, intensiven Auf- hellungsreizes haben sich die Versuchstiere nicht so stark aufgehellt wie die Kontrolltiere. Oft ist wohl eine ganz geringfügige Auf- hellung im Trockenen zu beobachten, aber sie fehlt eben so oft vollkommen. Eine Nachwirkung des Coniins in Form einer ge- steigerten Erregbarkeit der Versuchstiere auf koloratorische Reize konnte ich nach diesen Dosen nicht beobachten. Denn als die Tiere nach 5stündigem Aufenthalt im seichten Wasser 24 Stunden nach der Injektion untersucht wurden, zeigten die Versuchstiere keinen Farbenunterschied gegenüber den Köntrollkeren. Ich möchte ferner erwähnen, "dass a der Injektion von 7 mgr. Ooniin be- reits nach 2 Stunden (p. 1) geringfügige Paresen der Skelettmuskeln beobachtet wurden. Eine .. Lähmung war zu dieser Zeit noch nicht vorhanden, sondern es waren die Bewegungen des Tieres nur erschwert und außerordentlich träge. Ob später noch eine vollständige Lähmung zustande gekommen sein mag, kann ich nicht angeben, weil ich die Tiere erst wieder in der 19. Stunde (p. 1.) untersuchen konnte, zu welcher Zeit auch von den früher beobachteten Paresen nichts mehr zu sehen war. Bei Verwendung höherer Dosen, von 8—-10 mg waren alle 890 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. bisher erwähnten Erscheinungen in wesentlich verstärktem Maße zu beobachten. Schon nach 1 Stunde 30 Minuten bis 1 Stunde 40 Minuten trat eine vollständige Lähmung des Versuchstieres ein, die mit einer entsprechenden Verdunkelung der Haut und Expansion der Schwimmhautmelanophoren verknüpft war, bei der höchsten verwendeten Dosis von 10 mg war die Expansion der Schwimm- hautmelanophoren so stark, dass die vor der Injektion kugelig ge- ballten Zellen nach 1 Stunde 47 Minuten (p. i.) sternförmige Ge- stalt angenommen hatten und dicht verzweigte zahlreiche lange Fort- sätze aufwiesen, die sich berührten und Netze zu bilden begannen. 18S—19 Stunden nach der ‘Injektion waren die Unterschiede noch in voller Schärfe ausgebildet, trotzdem die Tiere die der Unter- suchung unmittelbar vorangegangenen 16 Stunden im hellen, 19° warmen Zimmer trocken gehalten wurden. Auch ein nach- folgender Östündiger Aufenthalt im seichten Wasser ließ den Unter- schied nicht verschwinden, so dass nach 24 Stunden (p. ı.) die Ver- suchstiere noch immer deutlich, wenn auch in etwas geringerem Grade als früher, dunkler sind als die unter gleichen Bedingungen gehaltenen Kontrolltiere. Nach 48 Stunden (p.ı.) sind die Farben- unterschiede zwischen Versuchs- und Kontrolltier meist verschwun- den, oder es sind nur noch geringe Reste einer Farbendifferenz auffindbar. Die Versuchsergebnisse der 11 an Rana esculenta angestellten Versuche stimmen ım wesentlichen mit den an Rana fusca ge- wonnenen überein. Bei CGoniindosen von 1-—-4 mg konnte bereits nach 1 Stunde 30 Minuten eine Verdunkelung der Versuchstiere mit entsprechender Expansion der Schwimmhautmelanophoren be- obachtet werden. Die Verdunkelung war nach 18, ja sogar noch nach 42 Stunden (p. ı.) nachweisbar, trotzdem die Tiere die letzten 24—25 Stunden ım hellen, 17° warmen Zimmer trocken gehalten wurden. Um diese Zeit beginnen aber die Färbungsunterschiede zu verschwinden. Bei einer neuerlichen Untersuchung 67 Stunden nach der Injektion, nachdem die Tiere die vorangehenden 24 Stun- den im seichten Wasser zugebracht hatten, konnte ich keine ge- setzmäßigen Unterschiede zwischen Versuchs- und Kontrolltieren auffinden. Zweimal konnte ich zu dieser Zeit eine gesteigerte Verdunkelung des Coniintieres im seichten Wasser beobachten. Ein mit 3 mgr. behandeltes Weibchen versagte vollständig, es zeigte keine Verdunkelung nach der Injektion. Intensiver als bei den vorherbeschriebenen Versuchen waren die Erscheinungen nach Injektion von 5—10 mg Coniin. Hier trat von 6 mg an je nach der Größe des Tieres bereits nach 1 Stunde 30 Minuten bis 2 Stunden 30 Minuten (p. ı.) eine Läh- mungein, dieaber beider 17 Stunden nach der Injektion vorgenommenen Untersuchung bereits wieder verschwunden war. Die Verdunke- EEE En u A Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. sg1 lung bestand aber nicht nur während des Lähmungsstadiums, sondern war nach 42 Stunden (p.i.) noch nachweisbar; ja bei einem großen Frosch (Weibchen) mit 9 mg Coniin trat die ann erst sehr spät, zwischen 30-40 Stunden ein. Dieses Tier zeigte auch keine sehr deutliche Verdunkelung. Ein großes mit 10 mg behandeltes Weibchen ließ während der ganzen, 67 Stunden währenden Beob- achtungszeit keine Lähmung. erkennen, sie müsste denn gerade Bohren 51--60 Stunden eingetreten und wieder vollständig ab- gelaufen sein, wo eine Beobachtungspause stattfand. Trotzdem zeigte dieses Mer bis zur 42. Stunde nach der Injektion eine deut- liche Verdunkelung gegenüber dem Versuchstier. Da die er auch bei Dosen eintritt, die keine moto- rische Lähmung verursachen, so kann die Verdunkelung nicht auf diemotorische Lähmung oder auf die infolge der gelähmten Lungenatmung eingetretene Dyspn oe bezogen ch Ob es sich bei Er Coniinwirkung um eine direkte Se des Alkaloides auf die Piıgmentzellen, oder um eine Wirkung auf ihren nervösen Appa- rat Bandelk, muss einer späteren Mitteilung vorbehalten bleiben. Nur auf einen Punkt möchte ich hier a hinweisen. Die Ver- suche mit niederen Dosen zeigten bei Rana esculenta deutlichere Ergebnisse als bei Rana fusca, ferner war die Coniinwirkung bei Rana esculenta stets von längerer Dauer als bei Rana fusca. Es reagiert mithin Eseulenta intensiver auf Coniim als Fusca. Diese Unprchiene sind biologisch sehr bemerkenswert, weil sie wiederum darauf hinweisen, dass den morphologischen Unterschieden der beiden einander so nahe stehenden Arten auch physiologische ÖOrganisationsverschiedenheiten entsprechen, worauf noch öfter hingewiesen werden wird. Eserin. Die 12 an Rana fusca angestellten Versuche ergaben nur sehr geringfügige Farbenveränderungen, welche aber nicht regelmäßig auftraten, sodass ich wenigstens auf Grund der bisher angestellten che einen an an Farbenwechsel als Folge der Eserin- wirkung zu beobachten nicht in der Lage war. Zwar konnte nach Injektion von 3—7 mg Eserin bei de: nach 22 Stunden (p. 1.) vorgenommenen Unter en eine mäßige Verdunkelung der Ver- cher gegenüber den Kontrolltieren beobachtet serdek: nach- dem die Tiere die letzten 21 Stunden im ganz seichten Wasser, fast trocken, im dunklen 14° warmen Zimmer gehalten mörden waren. Diese geringfügige Verdunkelung war auch noch nach 42 Stunden (p. i.) vorhanden, nachdem die Tiere die letzten 20 Stunden im 12° warmen Zimmer, im seichten Wasser zugebracht hatten; sie verschwand erst 66 Stunden nach der Injektion. Da aber der Farbenunterschied niemals sehr ausgesprochen war und 892 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. bei höheren Eserindosen, zwischen 8—10 mg nicht mehr regel- mäßig eintrat, sondern nur einmal schwach angedeutet war, so halte ich mich nicht für berechtigt, ihn als gesetzmäßig anzuerkennen. Von den 12 angestellten Versuchen waren 4 vollständig negativ, einer nur andeutungsweise positiv (Verdunkelung) verlaufen, die übrigen 7 zeigten die beschriebene mäßige Verdunkelung, welche vielleicht nur als gesteigerte Erregbarkeit auf äußere koloratorische Reize zu deuten wäre, da sich die Tiere in seichtem Wasser bei Temperaturen von 12° und 14° befanden, es sich also hier um Ein- wirkung zweier verdunkelnder Reize handelt. Durch äußere Um- stände war es mir unmöglich gewesen die Tiere zwischen 8.—20. Versuchsstunde zu beobachten. Es müsste denn sein, dass in diesem Zeitintervall die hauptsächlichsten Veränderungen gerade vor sich gegangen wären, eine Möglichkeit, die nicht von der Hand zu weisen ist. Ich muss deshalb die Versuche mit Eserin in diesem Punkte als unvollständig betrachten 'und sie bei der weiteren Fort- führung der Arbeit ergänzen, was bis jetzt mir nicht möglich war. An Rana esculenta wurden 10 Versuche angestellt. Davon ver- liefen 4 vollständig ergebnislos, während bei 6 eine geringfügige Verdunkelung der Versuchstiere gegenüber den Kontrolltieren be- obachtet wurde, als ich die Tiere nach 43 Stunden (p. ı.) unter- suchte, nachdem sie die unmittelbar der Untersuchung voran- gegangenen 23 Stunden in der 13° warmen Dunkelkammer im seichten Wasser gehalten worden waren. Bei der 3 und 18 Stunden nach der Injektion vorgenommenen Untersuchung konnte nur einmal nach 18 Stunden (p. 1.) eine geringfügige Verdunkelung des Versuchstieres gegenüber dem Kontrolltier beobachtet wer- den. Es sind demnach die Versuche an Rana esculenta noch un- sicherer als die an Rana fusca verlaufen, so dass ich vorläufig meine Ergebnisse wohl dahin zusammenfassen muss, dass nach Eserininjektionen eine gesetzmäßige Beeinflussung des Farbenwechsels nicht sicher nachgewiesen wurde. Kurare. Die 11 an Rana fusca angestellten Versuche ließen folgendes Verhalten erkennen: Nach der Injektion von 0,02—0,04 mg Kurare zeigten die im ganz seichten Wasser, fast trocken im hellen, 13° warmen Zimmer gehaltenen Versuchstiere nach 1 Stunde 20 Minuten (p- 1.) eine stärkere Verdunkelung als die unter den gleichen Be- dingungen befindlichen Kontrolltiere. Die Verdunkelung war zwar absolut genommen nicht sehr groß, aber immerhin deutlich. Bei einer Dosis von 0,02 mg war zu der genannten Zeit noch keine Lähmung eingetreten, während sie bei 0,04 mg bereits vorhanden war. Bei dem mit 0,04 mg behandelten Versuchstier war nach 4 Stunden 53 Minuten (p. ı.) noch immer. die vollständige Lähmung ln nl ln m Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 895 vorhanden, aber es hatte sich trotzdem etwasaufgehellt. Diese Tatsache verdient deswegen ein besonderes Interesse, weil sie zeigt, dass die Verdunkelung keine Folge der Lähmung der Atem- muskeln und der dadurch bedingten Dispnoe der Tiere ist, welch’ letztere ja nach Lister und Biedermann als ein Verdunkelungs- reiz angesehen werden muss. In der 28. Stunde nach der Injektion waren die Verdunkelungserscheinungen vollkommen verschwunden; von da ab zeigte das Versuchstier genau die gleichen Farben- veränderungen wie das Kontrolltier. Ebenso war nach Injektion von 0,06 mg Kurare bei einem Weibchen nach I Stunde 14 Minuten eine, wenn auch nicht bedeutende Verdunkelung des Versuchstieres gegenüber dem Kontrolltier eingetreten. Das Versuchstier war vollständig gelähmt. Nach 24 Stunden 42 Minuten (p. ı.) war das Versuchstier noch immer mitteldunkel, obwohl die Lähmung be- reits nach 4 Stunden 53 Minuten (p. ı.) nicht mehr beobachtet wurde. Die Tiere befanden sich die ganze Zeit über ım ganz seichten Wasser, fast trocken ım hellen, 13° warmen Zimmer. Nach 72 Stunden 43 Minuten (p. ı.) war erst die ursprünglich mittel hell- graue Färbung des Versuchstieres zurückgekehrt. Bei einem Ver- such mit 0,05 mg an einem Männchen war die Lähmung und Ver- dunkelung bereits nach 1 Stunde 10 Minuten (p. 1.) beobachtet worden. Nach 27 Stunden 37 Minuten (p. ı.) war die Lähmung bis auf geringfügige Paresen gewichen, aber die Yerdunkelung war noch vollständig ausgeprägt. Erst bei der Untersuchung nach 47 Stunden 13 Minuten (p. 1.) hatte sich das Tier wieder aufgehellt, nachdem die Tiere die letzten 19 Stunden im 19° warmen Zimmer trocken gehalten worden waren. Aber das Versuchstier war selbst dann noch viel dunkler als das Kontrolltier. Dieser Farbenunter- schied bestand sogar noch nach 72 Stunden 37 Minuten (p. ı.), nachdem die Tiere die letzten 24 Stunden im seichten Wasser im hellen Zimmer zugebracht hatten. Das Gleiche gilt für Tiere, die mit Dosen von 0,1—0,2 mg Kurare behandelt worden waren. Nach der Injektion von 0,1 mg wich die Lähmung nach 27 Stunden (p. ı.), die Verdunkelung aber erst nach 72 Stunden 57 Minuten. Bei Verwendung von 0,15— 0,2 mg Kurare wurden die ersten, allerdings noch stark paretischen Be- wegungen nach der vorausgegangenen vollständigen Lähmung erst nach 47 Stunden 17 Minuten (p. 1.) beobachtet; die Verdunkelung verlor sich aber erst nach 72 Stunden 30 Minuten (p. ı.) allmählich und konnte zu dieser Zeit, wenn auch nur noch in geringer Intensität, nachgewiesen werden. Ein 19stündiges Trockenhalten im 19° warmen Zimmer, sowie der darauffolgende 24stündige Aufenthalt der Tiere im seichten Wasser hatten also die Farbenunter- schiede zwischen Versuchs- und Kontrolltier nicht zu verwischen vermocht. 894 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. Die Versuche mit noch höheren Kuraredosen von 0,3—0,5 mg unterscheiden sich nur durch die Intensität und Dauer der Ver- änderungen von den vorher beschriebenen Versuchen. Bei An- wendung dieser Dosen erreicht man die stärksten Farbenunter- schiede, indem z. B. ein hellgraues Tier (Männchen), dessen Schwimm- hautmelanophoren eckig, oder eckig mit Spitzen sind und nur ver- einzelte sternförmige Zellen mit ganz kurzen, unverzweigten Fortsätzen aufweisen, nach der Injektion ganz schwarzbraun wird, wobei die Schwimmhautmelanophoren dichte, engmaschige Netze bilden, in denen von zentralen Pigmentansammlungen nichts mehr zu sehen ist, so dass eine zellige Anordnung der Pigmentmassen nicht mehr erkannt wird. Bei den letztgenannten großen Kuraredosen war die Lähmung auch noch nach 73 Stunden (p. 1.) vollständig ausgebildet; sie begann erst zwischen der 85. und 90. Stunde (p. i.) zu ver- schwinden, während die Verdunkelung des Versuchstieres meist sogar al nach mehr als 100 Stunden (p. ı.) nachweisbar war. Bei allen gelähmten Tieren war der Kreislauf stets gut im Gange, außer einer Erweiterung der Schwimmhautgefäße konnte keine Abweichung von der Ne erkannt werden. Die elf an Rana fusca angestellten Versuche verliefen alle positiv in dem beschriebenen Sinne, d.h, dass das Kurare eine mit der Dosis steigende und länger dauernde Verdunke- lung der Haut herbeiführt, welche von einer entsprechen- den Expansion der Schwimmhautmelanophoren begleitet wird. Diese Veränderungen des koloratischen Apparates stehen in keiner direkten Beziehung zur Lähmung der querge- streiften Muskulatur. Ganz anders verliefen die 16 an Rana esculenta angestellten Versuche, indem bei diesen Tieren das Kurare eine der Dosis entsprechende Aufhellung von entsprechender Dauer be- wirkt: Bei der kleinsten angewandten Dosis, von 0,02 mg Kurare, habe ich an Rana esculenta (Männchen) keinen Erfolg gesehen, trotzdem die Versuchstiere bedeutend kleiner waren, als die mit der gleichen Dosis behandelten Exemplare von Rana fusca. Bei Injektion von 0,04 mg trat eine deutliche Aufhellung ein, die bei der Unter- nn nach 22 Stunden 58 Minuten (p. ı.) konstatiert wurde, Tode die Tiere seit Beginn des Versuches im seichten we ım 17° warmen, halbdinnklen Zimmer gehalten worden waren. Das vor der Injektion dunkelbraune Tier, dessen Schwimmhautmelano- phoren engmaschige Netze bildeten, hatte eine hellbraune Farbe angenommen, die Schwimmhautmelanophoren waren eckig geworden, nur vereinzelte hatten noch ganz kurze Spitzen. Das vor der In- jektion des Versuchstieres dunkelbraun gefärbte Kontrolltier hatte seine Farbe, sowie den sternförmigen, netzebildenden Expansions- zustand seiner Schwimmhautmelanophoren nicht geändert. Dass Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 895 der Versuch nicht bloß an der braunen Varietät von Rana esculenta gelingt, zeigt ein Versuch mit der gleichen Dosis an einer mittel hellgrün gefärbten Rana eseulenta, welche sternförmig verzweigte Schwimmhautmelanophoren hatte. 23 Stunden 58 Minuten nach der Injektion war das Versuchstier hellgrün geworden, die Schwimm- hautmelanophoren waren eckig geworden und nur ganz wenige hatten kurze Spitzen, trotzdem das Tier die letzten 7 Stunden vor der Untersuchung im halbdunklen, 14° warmen Zimmer in seichtem Wasser gehalten worden war. Das vor Beginn des Versuches gleichfalls mittel hellgrün gefärbte Kontrolltier hatte zu Beginn des Versuches sternförmige Schwimmhautmelanophoren mit wenigen, meist unverzweigten Fortsätzen; viele Schwimmhautmelanophoren waren sogar eckig, oder unregelmäßig kugelig geballt. Nach 23 Stunden 58 Minuten war das Tier etwas dunkler als vorher, fast mittel dunkelgrün, die Schwimmhautmelanophoren hatten stern- förmige Gestalt angenommen mit kurzen verzweigten Fortsätzen. Das Kontrolltier hatte also unter den gleichen äußeren Versuchs- bedingungen, diesen entsprechend (Kälte, Feuchtigkeit, Halbdunkel), seine Farbe ein wenig verdunkelt. Die Aufhellung des Versuchs- tieres hatte in der 42. Stunde (p. 1.) noch bedeutend zugenommen, die Schwimmhautmelanophoren waren kugelig geballt, während das Kontrolltier sich stark verdunkelt hatte und jetzt dunkelgrün gefärbt ist, seine Schwimmhautmelanophoren haben sich noch weiter expandiert. Von der 24. bis zur 42. Stunde (p. ı.) befanden sich die Tiere durch 16 Stunden ım dunklen, 13° warmen Zimmer im seichten Wasser, also unter Bedingungen, die bei einem normalen Tier, wie dem Kontrolltier ein Dunkeln bedingen. Nach 66 Stunden (p- 1.) waren beide Tiere gleich hellgrün, nachdem sie die : letzten 24 Stunden im hellen, 10° warmen Zimmer trocken gehalten worden waren. | Auch bei Dosen von 0,06—0,08 mg waren die Versuchstiere, analog den bisher beschriebenen Versuchen zwischen der 23. bis 50. Stunde (p. i.) stets heller, als die unter den gleichen Bedingungen gehaltenen Kontrolltiere. Nur einmal trat bei einem Versuch mit 0,06 mg an einem Weibchen eine geringfügige Aufhellung erst nach 48 Stunden (p. ı.) ein. Nach 70 Stunden (p. ı.) war bei allen Tieren die Aufhellung verschwunden. Die aufhellende Wirkung des Kurares ist bei den bisher erwähnten Dosen keine derartige, dass sie jede Verdunkelung des Versuchstieres vollkommen un- möglich macht. Wenn man die Tiere, wie es in einer anderen Versuchsreihe geschehen ist, nach der Injektion 17 Stunden lang trocken hält und dann nach 7stündigem Aufenthalt in seichtem Wasser untersucht, so kann man häufig, aber nicht immer, auch beim Kuraretier eine Verdunkelung beobachten; aber diese ist nur sehr gering im Vergleich zu der beim Kontrolltier ein- Ss96 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. getretenen. Es wird das Kuraretier nur um eine Spur dunkler, aber diese Verdunkelung ist nach 42 Stunden (p. ı.) bereits voll- ständig zurückgegangen, trotzdem an den Versuchsbedingungen nur insoweit eine Änderung stattgefunden hatte, dass das bisher halb- dunkle Zimmer vollständig verdunkelt wurde und die Temperatur von 14° auf 13° zurückgegangen war; es, waren demnach nur Ver- änderungen eingetreten, die, wenn sie “überhaupt wirksam sind, nur eine Verdunkelung der Tiere, aber niemals eine Aufhellung herbeizuführen imstande sind. Endlich möchte ich erwähnen, dass bei Dosen von 0,02-—-0,08 mg Kurare Lähmungen nicht beobachtet wurden, während die größeren fusca-Exemplare solche gezeigt hatten. Es reagieren demnach die motorischen Nervenendigungen der Skelett- muskulatur bei Rana fusca intensiver auf das Kurare als bei Rana esceulenta. Bei den höheren Dosen - von 0,1—0,5 mg verlaufen die Ver- suche ganz analog den bisher beschriebenen, nur ist die Aufhellung eine entsprechend intensivere, sie tritt früher ein und hält länger an. Außerdem kommen noch motorische Lähmungen hinzu, die für die Aufhellung ohne Bedeutung sind. Da während der Lähmung auch die stärkste Aufhellung besteht, so bietet diese Tatsache einen neuen Beweis dafür, dass die bei Rana fusca beobachtete Verdunkelung nicht von der durch die Lähmung bedingten Dyspnoe herrühren kann. Bei einer Dosis von 0,1 mg ist die Lähmung nach 6 Stunden (p. 1.) noch vollständig ausgebildet, nach 21 Stunden (p. 1.) ist sie aber entweder ganz oder bis auf geringe Reste ge- schwunden. Die Aufhellung des Versuchstieres gegenüber dem Kontrolltier ist dagegen noch nach 66 Stunden (p. 1.) deut- lich ausgeprägt, trotzdem die Tiere 24 Stunden im seichten Wasser und dann 24 Stunden trocken gehalten worden sind. Bei Dosen von 0,2—0,3 mg hält die Lähmung bis nach der 22. Stunde (p. i.) an, sie ist nach 46 Stunden nicht mehr zu finden, während die Aufhellung des Versuchstieres nach 70—-80 Stunden (p. 1.) noch zu beobachten ist. Bei Dosen von 0,4—0,5 ist die Lähmung noch nach 46 Stunden (p. i.) vorhanden; sie verschwindet zwischen 66. und 70. Stunde (p. i.), während die Aufhellung sogar bis 90 Stunden (p. 1.) und darüber ausgesprochen ist. Sämtliche 16 an Rana esculenta angestellten Versuche haben eine aufhellende Wirkung des Kurares ergeben. Diese ent- gegengesetzte Wirkung des Agens bei den beiden einander so nahe stehenden Froscharten ist ein neuer, interessanter Be- weis dafür, dass die Artverschiedenheiten nicht nur morpho- logische, sondern auch physiologische sind. Die verschiedene Empfindlichkeit der beiden Froscharten gegenüber dem lähmenden Prinzip des Kurares deutet gleichfalls darauf hin. Da nun das käufliche Kurare eine große Menge verschiedener Alkaloide enthält, unter Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 897 denen auch erregende vorkommen, so kann eigentlich aus den ange- stellten Versuchen noch nicht geschlossen werden, dass ein und die- selbe Substanz bei der eimen Art aufhellend, bei der anderen ver- dunkelnd wirkt. Man kann bloß sagen, dass daseinemal eine Aufhellung, das anderemal eine Verdunkelung zustande gekommen ist, wobei es unentschieden bleibt, ob vielleicht -der Organısmus der Art Rana esculenta für ein im Kurare enthaltenes aufhellendes Prinzip besonders empfindlich ist, während Rana fusca auf das in dem Alkaloıd enthaltene verdunkelnde Prinzip stark reagiert. Es könnte sich also um eine elektive Reaktion auf ein Gemisch von wirk- samen Agenzien handeln. Wie diese Frage zu entscheiden sein wird, kann nur durch neue Versuche mit Kurarın entschieden werden, das ich mir bisher aber nicht verschaffen konnte, weshalb diese Lücke später ausgefüllt werden wird. Morphin. Die 10 an Rana fusca angestellten Versuche ergaben trotz der Verwendung von Dosen von 1— 10 mg während einer 29stündigen Beobachtungszeit keine sicheren Resultate, so dass ich von einer Beschreibung dieser Versuche ganz absehe. Wenn überhaupt Veränderungen eingetreten sein sollten, dann müssten sie während der Beobachtungspause, welche die Zeit zwischen 5. bis 17. Be- ‘obachtungsstunde umfasst, eingetreten und vollständig abge- klungen sein. Nicht so resultatlos verliefen die 10 an Raua esculenta ange- stellten Versuche. Nach Injektion von 0,5--1 mg war keine merk- liche Abweichung gegenüber den Kontrolltieren zu beobachten. Bei Dosen von 1,5—3 mg zeigten die im 13° warmen, hellen Zimmer trocken gehaltenen Versuchstiere nach 2 Stunden durchwegs eine dunklere Färbung als die unter den genau gleichen Bedingungen gehaltenen Kontrolltiere. Während die Kontrolltiere sich stark aufgehellt hatten, blieben die Versuchstiere dunkel, ja bei 3 mg konnte sogar beobachtet werden, dass das vor der Injektion mittel- hellgrüne Versuchstier nach der Injektion mitteldunkelgrün ge- worden war, während das mittelhellgrüne Kontrolltier zur selben Zeit stark hellgrün geworden war. Hier handelt es sich also nicht mehr um ein bloßes Ausbleiben der Aufhellung ım Trockenen, sondern es tritt sogar trotz der Trockenheit eine Verdunkelung auf. Nach 18stündigem Trockenhalten im dunklen Zimmer, also 20 Stunden nach der Injektion sind dıe Farbenunterschiede zwischen Versuchs- und Kontrolltier verschwunden. Sie traten auch nicht mehr hervor, wenn die Tiere in den folgenden 25 Stunden ım seichten Wasser und dann wiederum 2 Stunden trocken gehalten werden. Bei der Untersuchung nach 47 Stunden (p.ı.) waren beide Tiere gleichgefärbt, oder zeigten nur geringfügige Färbungsunter- xXXVI. 57 398 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. schiede. Nach Injektion von 3,5—5 mg waren die Färbungsunter- schiede zwischen Versuchs- und Kontrolltier bereits nach 1 Stunde 45 Minuten deutlich zu konstatieren. 20 Stunden nach der Injektion war die Verdunkelung des Versuchstieres gegenüber dem Kontroll- tier noch immer nachweisbar, trotzdem beide Tiere die ganze Zeit seit dem Beginn des Versuches trocken gehalten worden waren. Ja sogar nach 47 Stunden (p. ı.) war das Versuchstier noch immer deutlich dunkler als das Kontrolltier, obwohl die Tiere die letzten 25 Stunden im seichten Wasser zugebracht hatten. Nach dieser Zeit verschwand aber der Färbungsunterschied allmählich. Die durch das Morphin hervorgerufenen Farbendifferenzen können recht bedeutend sein, wenngleich sie sich meist ın mittleren In- tensıtätsstufen halten. Nicht unerwähnt will ich lassen, dass ein Versuch mit 5 mg vollständig negativ verlaufen ist, ohne dass hierfür ein Grund ausfindig gemacht werden konnte. Nach meinen bisherigen Versuchen besteht also auch für das Morphin ein Unter- schied ın der Reaktion der beiden Froscharten, indem sich Rana fusca dagegen ganz indifferent zu verhalten scheint, während Rana esculenta auf Morphin mit einer deutlichen Verdunkelung reagiert. Ich möchte nur noch erwähnen, dass bei Dosen bis zu 5 mg Morphin Lähmungserscheinungen nicht beobachtet worden sind. Wenn sie überhaupt vorhanden gewesen waren, dann müssen sie während der Beobachtungspause, welche die 3. bis 15. Ver- suchsstunde umfasst, eingetreten und wieder vollständig zurück- gegangen sein. Nikotin. An Rana fusca wurden 11 Versuche angestellt. Nach Injektion von 0,1 mg zeigte das Versuchstier sehr bald die charakteristische Haltung (stark gebeugte, auf den Rücken geschlagene Hinter- extremitäten, mittlere Beugestellung der Vorderextremitäten bei wenig gebeugtem Ellbogengelenk) und Dauerkontraktion. Ein eigentlicher Aufregungszustand wurde nach der Injektion nicht be- obachtet. Bereits nach 27 Minuten (p. ı.) fing das Versuchstier zu dunkeln an, und 1 Stunde 17 Minuten (p. ı.) war das vor der In- jektion hellgraue Tier schon dunkelbraun geworden. Seine Schwimm- hautmelanophoren, welche vor der Injektion sternförmig mit kurzen unverzweigten Fortsätzen waren, hatten sich netzförmig ausgebreitet. Zu dieser Zeit war auch eine motorische Lähmung eingetreten. Da die Tiere im 13° warmen, hellen Zimmer gehalten wurden, hatte sich das vor dem Versuche hellgraue Kontrolltier entsprechend diesen Versuchsbedimgungen aufgehellt und seme Schwimmhaut- melanophoren etwas stärker geballt, indem die vorher vorhandenen, langen, reichverzweigten Fortsätze in kurze, wenig verzweigte sich umgewandelt hatten. Nach 3 Stunden 30 Minuten (p.ı.) war die Lähmung des Versuchstieres zwar verschwunden, die dunkle Färbung “ Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 399 war aber noch immer vorhanden, obgleich bereits eine Tendenz zur Aufhellung sich bemerkbar machte. Nach 5 Stunden 42 Minuten (p- 1.) waren beide Tiere nahezu gleich hellgrau, und von da ab konnte bei beiden Tieren ein nennenswerter Färbungsunterschied während einer 52stündigen Beobachtungszeit nicht mehr aufgefunden werden. Weder ein 16stündiges Verweilen der beiden Tiere im seichten Wasser im hellen, 14° warmen Zimmer, noch ein 19stündiger Aufenthalt der Tiere in der 15° warmen Dunkelkammer im seichten Wasser ließ einen Färbungsunterschied zwischen beiden Tieren zur Beobachtung gelangen. Ganz analog verliefen die Versuche mit höheren Nikotindosen (0,2—0,6 mg). Nur trat dabei, entsprechend den höheren Dosen, die Verdunkelung sehr viel früher und intensiver ein. Immerhin wurde die der Dauerkontraktion folgende Lähmung erst nach 1 Stunde (p. i.) beobachtet. Die stark dunkle Färbung war bis zur 6. Stunde (p. 1.) beobachtet worden, zu welcher Zeit Reflex- und Spontanbewegungen des Versuchstieres wieder konstatiert wurden. Von der 21. Stunde (p. 1.) ab war auch hier kein sicherer Färbungs- unterschied des Versuchs- und Kontrolltieres mehr zu beobachten. Die Versuche mit noch höheren Nikotindosen (0,7—-1,0 mg) unter- scheiden sich insofern von den vorangehend beschriebenen, als bei ihnen unmittelbar nach der Injektion ein kurzdauernder Auf- regungszustand des Versuchstieres eintritt, der sofort in die charakteristische Haltung übergeht. Während der Aufregungsperiode konnte eine Aufhellung des Versuchstieres nicht mit Sicherheit be- obachtet werden, vielmehr begann sofort mit Eintritt der charakte- ristischen Haltung ein intensives Dunkeln der fast trocken ge- haltenen Versuchstiere. Die Lähmung war schon nach 40—50 Minuten (p- 1.) eingetreten, aber auch hier nach 5 Stunden 40 Minuten (p. i.) verschwunden, während die Verdunkelung noch anhielt und bei den Versuchen mit 0,9 und 1,0 mg Nikotin noch nach 27 Stunden (p. 1.) konstatiert werden konnte, obwohl die Tiere die letzten 21 Stunden im seichten Wasser, im hellen, 13° warmen Zimmer gehalten worden waren. Nach 46 Stunden (p.i.) waren keine cha- rakterischen Färbungsunterschiede zwischen beiden Tieren mehr zu beobachten. Endlich sei noch ein Versuch mit 2 mg kurz beschrieben. Nach der Injektion zeigte das Versuchstier einen Augenblick eine sehr starke Erregung, um dann sofort in den charakte- ristischen Dauerkontraktionszustand überzugehen, der von einer Lähmung gefolgt ist. Während des Erregungszustandes und im Beginn der Dauerkontraktion zeigt das Tier eine rasch vorüber- gehende deutliche Aufhellung seiner Farbe; dann beginnt das Versuchstier rasch zu dunkeln. Die dunklere Färbung, mit der auch eine Expansion der Schwimmhautmelanophoren Hand in Dune YOO Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. Hand geht, ist noch nach 24 Stunden (p. ı.) nachweisbar, während welcher Zeit das Versuchs- und Kontrolltier in ganz seichtem Wasser, fast trocken, teilweise im dunklen, teilweise im hellen Zimmer gehalten worden sind. Die Lähmung war bei der nach 16 Stunden (p. 1.) vorgenommenen Untersuchung nicht mehr vor- handen. Nach 40 Stunden (p. ı.) ist der Färbungsunterschied wieder verschwunden, beide Tiere sind gleich hellgraugrün. Die 16 an Rana esculenta angestellten Versuche lieferten folgende Ergebnisse. Nach der Injektion von 0,1 mg hatte sich das vor der Injek- tion hellgrüne Versuchstier ım Verlaufe von 1 Stunde 20 Minuten stark verdunkelt, trotzdem es im hellen, 15° warmen Zimmer trocken gehalten worden war, während das gleichfalls hellgrüne Kontrolltier seine Farbe nicht verändert hat. Ein besonderer Aufregungszustand mit folgender Dauerkontraktion und Lähmung war während der ganzen 69 Stunden währenden Versuchsdauer nicht beobachtet worden. Nach 19stündigem Verweilen im Trockenen hatte sich das Versuchstier ziemlich stark aufgehellt, aber es war noch immer deutlich dunkler als das Kontrolltier. Während der 19. bis 24. Versuchsstunde befanden sich die Tiere im seichten Wasser ım hellen, 13° warmen Zimmer. Das Nikotintier wurde rasch dunkel- grün, während das Kontrolltier nur eine mittelhellgrüne Färbung annahm, sich also nur mäßig verdunkelte. Nach 25 Stunden 15 Minuten (p.ı.), nachdem die Tiere 6 Stunden im seichten Wasser gehalten worden waren, waren beide Tiere sehr dunkel, schwarz- grün geworden, aber auch dann war das Nikotintier dunkler als das Kontrolltier. Dieser Farbenunterschied war auch nach 40 Stunden (p- 1.) noch ausgesprochen, nachdem sich die Tiere die letzten 15 Stunden im seichten Wasser im dunklen, 13° warmen Zimmer befunden hatten. Das Versuchstier hatte sich nur wenig aufgehellt, es war noch immer dunkelgrün, während das Kontrolltier eine mitteldunkelgrüne Färbung aufwies. Nach einer neuen 24stündigen Trockenperiode im 10° warmen, hellen Zimmer, also 65 Stunden nach der Injektion, war das Versuchstier noch immer dunkelgrün, während das Kontrolltier hellgrün war. Nach der 69. Stunde (p. i.) verloren sich die Färbungsunterschiede zwischen Versuchs- und Kontrolltier. Die Schwimmhautmelanophoren zeigten ganz analoge Unterschiede ihres Expansions- bezw. Ballungszustandes wie die der übrigen Haut, wenngleich auch die Unterschiede und Veränderungen der Schwimmhautmelanophoren weniger prompt und intensiv er- folgten. Die Versuche mit Dosen von 0,2—0,4 mg verliefen ganz analog den bisher beschriebenen. Nur sei hervorgehoben, dass bei zwei an Weibchen angestellten Versuchen mit 0,2 und 0,4 mg Nikotin ein Erfolg nicht zu beobachten war, während nach Injektion der gleichen Dosen an Männchen eine deutliche, langdauernde Ver- Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 901 dunkelung eintrat. Nach Injektion von 0,3 mg war die Verdunkelung des Versuchstieres zwischen 43-67 Stunden (p. i.) verschwunden. Schon bei 0,2 mg zeigte sich bei dem am Männchen angestellten Versuch eine den kurzdauernden Erregungszustand begleitende und kurz überdauernde Aufhellung, die aber nach 1 Stunde 15 Minuten (p. i.) einer energischen Verdunkelung gewichen ist, indem das in ganz seichtem Wasser, fast trocken gehaltene Versuchstier seine mittelhellgrüne Färbung in ein dunkles schwarzgrün umgewandelt hat, während das Kontrolltier noch immer mittelhellgrün ıst. Um die Verdunkelung recht stark zum Ausdruck zu bringen, wurden die Tiere vor Beginn des Versuches 24 Stunden trocken gehalten und nach der Injektion in ein Glas gebracht, dessen Boden gerade nur in den abhängigsten Partien ganz wenig Wasser enthielt. Erst nach 3stündigem Aufenthalt in dem ganz seichten Wasser hatte das Kontrolltier eine mitteldunkelgrüne Färbung angenommen, während das Versuchstier noch immer dunkelschwarzgrün war. Erst ein 24stündiges Trockenhalten zwischen 18. und 42. Versuchs- stunde war imstande, den Farbenunterschied zum Verschwinden zu bringen. Auch bei den Dosen von 0,2—0,4 mg konnte keine aus- gesprochene Dauerkontraktion und daran sich anschließende Lähmung beobachtet werden. Die Versuche mit 0,5 mg zeigten in einem Falle bereits die Dauerkontraktion mit nachfolgender Lähmung, während diese Er- scheinungen in einem zweiten Falle vollständig fehlten. Im übrigen verliefen die Versuche ganz analog den schon beschriebenen. Die Lähmung war nach 2 Stunden (p. i.) eingetreten und nach, 18 Stunden (p- 1.) verschwunden, in welche Zeit allerdings die 12stündige Unter- suchungspause fällt. Im übrigen war der Farbenunterschied zwischen Versuchs- und Kontrolltier selbst nach 43 Stunden (p. ı.) noch vor- handen, wenn auch in geringerer Intensität. Die Tiere waren die der letzten Untersuchung vorangehenden 24 Stunden im hellen, 10° warmen Zimmer trocken gehalten worden. Nach 67 Stunden (p. i.) war der Farbenunterschied verschwunden. Bei Dosen von 0,6—0,8 mg sind die Erscheinungen noch intensiver. Schon 25 Mi- nuten nach der Injektion war nach einer kurz vorübergegangenen Aufhellung während des Erregungszustandes eine starke Ver- dunkelung eingetreten, die Lähmung wurde bei der Untersuchung nach 2 Stunden (p. i.) bereits konstatiert und war nach 17 Stunden (p-i.) nicht mehr vorhanden. Die Verdunkelung des Versuchtieres war aber bis 42 Stunden nach der Injektion zu beobachten, trotz- dem die Tiere die letzten 24 Stunden im hellen, 10° warmen Zimmer trocken gehalten worden waren. Ganz das Gleiche gilt für die höchsten untersuchten Nikotindosen von 1—3 mg. Die nach Nikotininjektionen beobachtete Verdunkelung ist unabhängig von der motorischen Lähmung, bezw. der 902 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. durch sie bedingten Dyspnoe. Ebensowenig kann die Ver- dunkelung nur als eine intensivere Reaktion des koloratorischen Apparates auf verdunkelnde Reize angesehen werden, weil sie trotz Trockenhaltens der Tiere eintritt, bezw. durch eine 24stündige Trockenperiode nicht zum Verschwinden gebracht wird. Auf Grund ‘der angestellten 27 Versuche, von denen nur 2 mit niederen Dosen an Esculenta-Weibchen angestellte erfolglos verliefen, muss dem Nikotin eine direkte starke Verdunkelungswirkung auf den koloratorischen Apparat: zuerkannt werden, wobei zunächst die Frage nach dem eigentlichen Angriffspunkte des Alkaloids unbe- antwortet bleibt. Strychnin. Die 11 an Rana fusca angestellten Versuche lieferten die nach- stehenden Ergebnisse. Beiden geringsten verwendeten Dosen, von 0,02-—-0,05 mg, traten in der Regel keine Krämpfe ein; nur einmal wurden sie bei einem Weibchen nach Injektion von 0,03 mg 1 Stunde post injectionem beobachtet. In die Zeit zwischen 4. bis 12. Ver- suchsstunde fällt allerdings die Beobachtungspause. Bei einer Dosis von 0,2 mg konnte keine merkliche Aufhellung des Versuchstieres gegenüber dem Kontrolltier beobachtet werden. Nach 22 Stunden 55 Minuten (p. 1.) hatte sich das im seichten Wasser im 19° warmen, dunklen Zimmer gehaltene Versuchstier stark verdunkelt, wäh- rend das unter genau den gleichen Bedingungen gehaltene Kontroll- tier sich ein wenig aufgehellt hatte. Die Veränderungen der Schwimmhautmelanophoren waren ganz entsprechende. Beim Strychnintier war eine deutliche Expansion eingetreten, indem die vorher eckigen Melanophoren eine sternförmige Gestalt mit kurzen verzweigten Fortsätzen angenommen hatten, während beim Kontroll- tier die vorher eckigen mit Spitzen versehenen Melanophoren nach derselben Zeit in den kugeligen Ballungszustand übergegangen waren. Da eine Veränderung der Versuchsbedingungen nur inso- weit stattgefunden hatte, dass die Tiere 19 Stunden im dunklen Zimmer gehalten worden waren, so glaube ich die stärkere Ver- dunkelung des Versuchstieres auf die Verdunkelung des Zimmers beziehen zu müssen, zumal ich bei einem anderen Versuche etwas Analoges zu beobachten in der Lage war, nämlich eine stärkere Aufhellung bei Belichtung. Es würde demnach das Strychnin in ganz geringen Dosen, die selbst eine Farbenveränderung noch nicht hervorzubringen vermögen, insofern einen Ein- fluss auf die Färbung ausüben, als es die Erregbarkeit des kolora- torıschen Apparates gegen koloratorische Reize steigert. Es gilt dies nicht nur für den Lichtreiz, sondern auch für Feuchtig- keit, bezw. Trockenheit und Temperatur, wie meine Versuche mit Dosen von 0,02—0,05 mg Strychnin deutlich gezeigt haben. So Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 903 war z. B. bei dem Versuche mit 0,04 mg nach 43 Stunden (p. 1.) das Versuchstier heller geworden wie das Kontrolltier, als die Tiere die letzten 20 Stunden im hellen, 12° warmen Zimmer trocken gehalten worden waren, nachdem sie in der Vorperiode im seichten Wasser sich befunden hatten. Nach Einbringung von 0,06—-0,75 mg Strychnin (höhere Dosen wurden nicht untersucht) stellten sich in kurzer Zeit Krämpfe ein, die verschieden lange Zeit anhielten. Damit ändert sich der Ver- suchsverlauf insofern, als während des Krampfstadiums regelmäßig eine starke Aufhellung des Versuchstieres zu beobachten war, die verschieden lange anhält. Bei Dosen von 0,06—-0,1 mg war die Aufhellung des Strychnintieres auch noch nach 22—23 Stunden (p.i.) zu beobachten, obgleich zu dieser Zeit weder Krämpfe noch Lähmungen vorhanden waren. Ja die Tiere waren sogar die letzten 19 Stunden im dunklen, 14° warmen Zimmer im seichten Wasser gehalten worden, wosie eigentlich sich hätten verdunkeln sollen. Da sie aber heller waren als die Kontrolltiere, ja manchmal heller als vor der Strychnininjektion, so kommt dem Strycehnin in diesen Dosen eine direkte aufhellende Wirkung auf den koloratorischen Apparat zu. Denn wenn das Strychnin nur die Erregbarkeit gesteigert hätte, dann wären unter den obwaltenden Versuchsbedingungen die Strychnintiere dunkler, aber niemals heller gewesen als die Kontrolltiere. Nach 43 Stunden (p. 1.) zeigten Versuchs- und Kontrolltier keinen Farbenunterschied mehr, nach- dem die Tiere die letzten 20 Stunden trocken im hellen, 12° warmen Zimmer gehalten worden waren. Die Versuche mit Dosen von 0,125-—-0,175 mg unterscheiden sich von den unmittelbar vorhergehenden nur dadurch, dass die Strychnintiere auch noch nach 42 Stunden (p. 1.) heller sind als die Kontrolltiere. Da die Tiere die letzten 20 Stunden trocken im hellen, 12° warmen Zimmer gehalten wurden, so handelt es sich bei dieser Farbendifferenz offenbar nur um eime gesteigerte Reaktion des koloratorischen Apparates auf den Trockenreiz. Diese Annahme scheint um so begründeter, als Eskulenten zur selben Zeit dunkler als die Kontrolltiere waren, wenn sie sich unter Versuchsbedingungen befanden, welche einen Dunkelungsreiz dar- stellen. — Ich will gleich hier bemerken, dass Rana esculenta genau gleich wie Rana fusca auf Strychnininjektionen reagiert. — Es kommt deshalb dem Strychnin außer der eigentlichen aufhellenden Wirkung auch noch eine lang- andauernde Erregbarkeitssteigerung des koloratorischen Apparates zu. Lähmungen habe ich bei den Versuchen nicht beobachtet, sie werden vielleicht vorhanden gewesen und während der Beobachtungspause zwischen 8. bis 20. Versuchsstunde ein- getreten und wieder vollständig verschwunden sein. Bei Dosen 904 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. von 0,125--0,175 mg habe ich um die 22. Stunde (p. i.) nur noch Krämpfe beobachtet. Die 10 an Rana esculenta angestellten Versuche hatten folgenden Verlauf. Bei den niedrigsten angewandten Dosen von 0,02—0,04 mg konnte nur eine ganz geringfügige Aufhellung des Strychnintieres gegenüber dem Kontrolltier beobachtet werden, wenn sich die Tiere im fast tockenen Glase im 15° warmen, hellen Zimmer befanden. Nach einem 24stündigen Aufenthalt im seichten Wasser in der 13° warmen Dunkelkammer zeigten die Strychnintiere in der 43. Ver- suchsstunde eine etwas dunklere Färbung als die Kontrolltiere. Es handelt sich bei diesen Dosen also um eine gesteigerte Empfind- lichkeit des koloratorischen Apparates. Krämpfe wurden bei diesen Dosen nicht beobachtet. Bei Dosen von 0,05—0,75 mg traten innerhalb der 1. Stunde nach der Injektion bei den Versuchstieren Krämpfe mit einer darauffolgenden Lähmung ein. Während dieser Zeit zeigten die Versuchstiere eine starke Aufhellung, die bis 18 Stunden (p. i.) anhielt, aber zu dieser Zeit nicht mehr sehr aus- gesprochen war. Binmal trat aber schon zu dieser Zeit eine Ver- dunkelung des Versuchstieres ein, trotzdem es seit 17 Stunden fast trocken im hellen, 15° warmen Zimmer gehalten wurde. Die darauf- folgende 24stündige Versuchsperiode, während welcher sich die Tiere im seichten Wasser in der 13° warmen Dunkelkammer be- fanden, führte eine starke Verdunkelung der Strychnintiere gegen- über den Kontrolltieren herbei ; denn nach 42 Stunden (p. i.) waren die Strychnintiere dunkler als die Kontrolltiere. Eine schwache Erreg- barkeitssteigerung für koloratorische Reize bestand sogar noch nach 62 Stunden (p.i.). Bei Dosen von 0,1—0,25 mg waren die Er- scheinungen ganz analoge. Innerhalb der ersten 25 Minuten nach der Injektion war bereits die den Kräinpfen folgende Lähmung eingetreten, welche von einer starken Aufhellung begleitet war. Bei der Untersuchung nach 18 Stunden (Beobachtungspause von der 6. bis 17. Stunde) war die Lähmung verschwunden, die Auf- hellung bestand weiter, während welcher Zeit die Tiere in ganz seichtem Wasser im hellen, 13° warmen Zimmer gehalten wurden. Nach 42 Stunden (p. i.) waren die Strychnintiere dunkler als die Kontrolltiere, nachdem die Tiere die letzten 24 Stunden im seichten Wasser in der 13° warmen Dunkelkammer zugebracht hatten. Nach 64 Stunden (p. i.) waren die Strychnintiere wieder heller als die Kontrolltiere. Sie waren die letzten 22 Stunden ım 13° warmen, hellen Zimmer in seichtem Wasser gehalten worden. Da sich in der letzten Versuchsperiode nur die Belichtung geändert hatte, während die Temperatur und Feuchtigkeit genau die gleichen wie in der vorhergegangenen Versuchsperiode waren, so zeigen diese Versuche sehr deutlich, dass das Strychnin auch die photische Reizbarkeit des koloratorischen Apparates steigert. Nach 70—75 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 905 Stunden (p. i.) verschwinden auch diese Nachwirkungen des Strychnins. Veratrin. Es wurden 15 Versuche an Rana fusca angestellt, von denen nur einer negativ und ein zweiter etwas unsicher verlief. Bei den übrigen 13 Versuchen wurden übereinstimmende Resultate er- halten, welche zeigten, dass das Veratrin eine energische Ver- dunkelung des Versuchstieres herbeiführt. Die injizierten Dosen betragen 0,25——2,5 mg. Leider gingen sämtliche Tiere, bis auf 2, schon nach 16 Stunden zugrunde, offenbar infolge der Herzlähmung. Nur 2 Tiere, davon eines mit einer Dosis von 0,75 mg Veratrin (ein älteres Präparat), konnten 180 Stunden beobachtet werden. Wenn ich zunächst von diesen beiden Versuchen absehe, so verliefen die Veratrinversuche folgendermaßen: Fast augenblicklich nach der Injektion trat beim Versuchstier ein starker Opistotonus ein, die Vorderpfoten wurden gebeugt zu beiden Seiten des Kopfes angelegt wie zum militärischen Gruße, die Hinterbeine wurden in extremer Beugestellung angezogen. Während dieses Zustandes tritt eine ganz kurz vorübergehende Aufhellung ein, die einer rasch einsetzenden intensiven Ver- dunkelung Platz macht. Nach ungefähr 10 Minuten sind die Tiere bereits gelähmt, nachdem sie zuvor die typischen langgezogenen Veratrinkontraktionen gezeigt haben. Zu dieser Zeit sind die Ver- suchstiere ganz dunkel geworden. Bei der Verdunkelung fällt zu- nächst auf, dass die Extremitäten, die Gegend des Mundes und die Seitenränder des Schädels meist ein ganz tiefes Dunkel, bezw. Schwarz zeigen, während die Flanken etwas weniger dunkel er- scheinen. Der Rücken hat sich aber weit weniger verdunkelt als die Extremitäten, so dass die relativ helle Rückenfärbung direkt auffällt. Dieser Unterschied der Rücken- und Extremitätenfärbung bleibt ziemlich lange erhalten Ich konnte ihn bei dem lange über- lebenden Tier sogar noch nach 41 Stunden (p. i.) beobachten. Wieso diese hellere Rückenfärbung zustande kommt, bedarf erst noch einer genaueren Untersuchung, vielleicht rührt sie von einer lokalen Reizwirkung der injizierten Flüssigkeit her. Bei Dosen von 1—2,5 mg war der Kreislauf nach 1 Stunde (p. i.) bereits zum Stillstand gekommen. Dementsprechend war in- folge der Kreislaufstörung und der damit verbundenen Dyspnoe eine Lähmung der Melanophoren eingetreten, die aber später in eine Aufhellung überging, indem ich deutlich beobachten kannte, dass bei solchen Tieren später namentlich die Hinterextremitäten sich stark aufzuhellen begannen. Die Pigmentballung nach Kreislaufs- unterbrechungen haben schon Lister, Biedermann, Steinach, sowie die anderen Autoren beobachtet. Aus dem Versuche mit dem lange überlebenden Tier, das 0,75 mg 906 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. Veratrin erhalten hatte, sei vor allem erwähnt, dass die Schwimm- hautzirkulation stets ausgezeichnet im Gange war. Das Tier zeigte selbst nach 24stündigem Trockenhalten noch immer die voll aus- geprägte Verdunkelung, welche selbst nach 163 Stunden (p. 1.) noch deutlich, wenn auch viel schwächer, erkennbar war, um von da an langsam zu verschwinden. Zwischen der 120. bis 140. Versuchsstunde wurden wieder die ersten spontanen Bewegungen des Versuchs- tieres nach der vorhergegangenen Lähmung beobachtet, aber selbst nach 140 Stunden (p. ı.) waren die Paresen noch sehr stark ausge- prägt, sie verloren sich erst nach 163 Stunden (p. ı.), Dagegen zeigte das Versuchstier auch noch nach 180 Stunden (p. 1.) typische Veratrinkontraktionen. Zu dieser Zeit war die Verdunkelung des Versuchstieres noch nicht vollständig verschwunden. Die Schwimm- hautmelanophoren zeigten eine der Verdunkelung entsprechende starke Expansion, indem sie engmaschige Netze bildeten, in denen eine jede zentrale Pigmentansammlung vollständig fehlte. Sobald die Tiere starben, oder auch schon kurz vorher, trat eine Auf- hellung der ganzen Haut ein; die Farbe war aber nach dem Tode, ja sogar während der Totenstarre, noch immer dunkler als vor Beginn des Versuches. Von den 10 an Rana esceulenta angestellten Versuchen lieferte der mit 0,1 mg Veratrin insofern ein besonders günstiges Ergebnis, als es gelang, das Versuchstier 117 Stunden zu beobachten, nach welcher Zeit der Versuch abgebrochen wurde. Schon nach 15 Mi- nuten (p. 1.) zeigte das in seichtem Wasser, im 16° warmen, hellen Zimmer befindliche Versuchstier deutliche Veratrinkontraktionen, die von einer geringen Aufhellung gegenüber dem Kontrolltier begleitet sind. 1 Stunde 10 Minuten nach der Injektion ist das vor Beginn des Versuches mittelhellgrüne Versuchstier bereits mitteldunkelgrün gefärbt, wobei namentlich die Extremitäten und Schnauze sich stark verdunkelt haben, während die Rückenhaut weniger nachgedunkelt ist. Die vor der Injektion sternförmigen dicht verzweigten Schwimmhautmelanophoren haben jetzt dichte, engmaschige Netze gebildet. Das Kontrolltier hat seine mittelhell- grüne Farbe, sowie den Ballungszustand seiner Schwimmhaut- melanophoren nicht geändert. Nach 3 Stunden (p. i.) ist das Ver- suchstier schwarz, das Kontrolltier noch immer unverändert. Selbst ein ldstündiges Trockenhalten der Tiere führte keine Aufhellung des Versuchstieres herbei. Die Veratrinkontraktionen wurden bis zur 22. Stunde (p. i.) beobachtet, dann trat eine vollkommene Läh- mung ein. Selbst nach 21stündigem Trockenhalten, also 26 Stunden nach der Injektion ist das Versuchstier noch immer schwarzgrün, während das Kontrolltier zu dieser Zeit ganz hellgrüne Färbung aufweist. Erst nach 41 Stunden (p. i.) ist auch das Versuchstier hellgrün geworden, und zwar nach einer 37stündigen Trockenperiode, Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen, 907 aber es ist selbst zu dieser Zeit noch etwas dunkler als das Kontroll- tier. In der 42. Stunde (p.ı.) werden wieder gedehnte spontane Veratrinkontraktionen beobachtet. Ein folgender 19stündiger Aufent- halt der Tiere in der 15° warmen Dunkelkammer im seichten Wasser führt eine starke Verdunkelung des Versuchstieres herbei, während jene des Kontrolltieres nur mäßige Grade erreicht hat. Auch nach 95 Stunden 31 Minuten (p.i.) ist das Veratrintier noch immer dunkler als das Kontrolltier, es zeigt zu dieser Zeit eine stärkere Reaktion auf Feuchtigkeit und Licht gegen- über dem Kontrolltier. Erst nach dieser Zeit beginnt die Veratrin-, wirkung langsam zu verschwinden. Die übrigen Versuchstiere, denen Dosen von 0,2—1,0 mg Vera- trin injiziert worden waren, konnten nur bis 3 Stunden nach der Injektion beobachtet werden. Während der dann folgenden 12stün- digen Beobachtungspause sind sämtliche Versuchstiere gestorben. Auch bei diesen Tieren konnten schon nach 10 Minuten (p. 1.) die typischen Veratrinkontraktionen beobachtet werden, ferner zeigten sämtliche Versuchstiere die charakteristische intensive Ver- dunkelung, wie sie voranstehend beschrieben worden ist. Zwischen 1. und 2. Stunde (p. ı.) war die vollständige Lähmung eingetreten. Bei Dosen von 0,8-—-1,0 mg Veratrin war schon nach 1 Stunde 40 Minuten (p. i.) Stillstand des Blutkreislaufes eingetreten. Nach 15—18 Stunden (p. i.) war bei einzelnen Tieren (Versuche mit 0,2--0,4 mg) sogar schon die Totenstarre vorhanden und trotz- dem waren die Versuchstiere dunkler als die lebenden Kontroll- tiere und dunkler als vor Beginn des Versuches. In diesen Fällen handelt es sich um ein Ausbleiben der post mortem con- centration Lister’s (postmortale Pigmentballung, Biedermann's). Bei Dosen von 0,7—-1,0 mg waren die Versuchstiere alle heller als vor der Injektion, weil die Totenstarre in diesen Fällen schon sehr weit vorgeschritten war. Sämtliche Veratrinversuche ergaben bei Rana esculenta eine intensive Verdunkelungswirkung des Alkaloids. Die Tatsache, dass es gelingt, durch geringe Mengen che- mischer Substanzen, welche dem organischen Leben entstammen, gesetzmäßige Farbenveränderungen an Tieren hervorzurufen, bean- sprucht allgemein biologisches Interesse, zumal der Farben- wechsel der Tiere in der Darwin’schen Hypothese von der ge- schlechtlichen Zuchtwahl einen großen Raum einnimmt; spricht doch diese Hypothese direkt von einem „Hochzeitskleid“. Aber auch sonst hat die Selektionshypothese viel Wert auf die Farben- erscheinungen des Tierkörpers gelegt, wie die Lehre von den Schutz- und Schreckfarben zur Genüge zeigt. . Ich hatte bereits 908 Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. früher!) einmal die Gelegenheit ergriffen, gegen diese durchaus anthropomorphistischen Anschauungen und Übertragungen auf das Tierleben Stellung zu nehmen, und die Entstehung, sowie den Wechsel der Tierfärbung als ein rein physikalisch-chemisches, also mechanistisch zu erklärendes Problem hinzustellen. Wenn wir den Farbenwechsel im Sinne der Sexualselektion, oder der Selektionstheorie betrachten, dann verlassen wir den Boden der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise überhaupt, denn nach der ausgezeichneten Definition des bekannten Freiburger Philo- sophen Rickert ist die Naturwissenschaft die wertfreie Betrach- tung der Dinge. Wenn wir aber, wie es die Selektionstheorie tut, wertende Betrachtungen an einen Naturvorgang anlegen, dann haben wir die strenge Naturwissenschaft verlassen und haben uns der Naturgeschichte, also einer historischen Disziplin, zugewandt. Diese kann uns aber über das ganze Problem des Farbenwechsels keinen vom Standpunkt des Naturforschers befriedigenden Auf- schluss geben. Vor allem ist eine Erklärung des sogen. Hochzeits- kleides auf Grund der Sexualselektionshypothese schon deshalh eine naturwissenschaftliche Unmöglichkeit, weil sie bei den Tieren nicht nur logische Denkprozesse voraussetzt, sondern ein direktes ästhetisches Empfinden unbedingt fordern muss. Wer wollte aber über so komplizierte und hochstehende psychische Vorgänge, wie sie eine Ästhetik der Farbe darstellt, bei Tieren etwas Binden- des auszusagen wagen? Die einzig naturwissenschaftlich befriedigende Erklärung des ganzen Problems des Farbenwechsels kann deshalb nur auf Grund einer mechanistischen Betrachtung gewonnen werden. Eine solche erscheint nun auch für das sogen. Hochzeitskleid der Tiere möglich. Was im speziellen die Farbenveränderungen der Frösche während der Sexualperiode anlangt, so ist vor allem an die Unter- suchungen von Wittich’s zu erinnern, die gezeigt haben, dass eine längere Hungerperiode die ursprünglich schön grün gefärbten Tiere missfarben braun erscheinen lässt, dass aber das ursprüng- lich schöne Grün bei entsprechender Nahrungsaufnahme der Tiere wieder zurückkehrt. Derartige Bedingungen liegen nun auch bei den in der freien Natur lebenden Fröschen vor. Nach dem Nahrungsmangel des Winters beginnt mit dem Frühling kurz vor der Geschlechtsperiode wieder die Zeit der reichlichen Ernährung, die zur reicheren Färbung Verursachung abgibt. Aber dieses Mo- ment allein ist noch nicht imstande, das Zustandekommen eines besonderen Hochzeitskleides ausreichend zu erklären, es bietet nur eine kleine Vorstufe zu einer mechanistischen Erklärung. Hier l) Fuchs, R. F., E. Fischer’s (Zürich) experimentelle Untersuchungen über die Vererbung erworbener Eigenschaften. Archiv für Entwickelungsmechanik der Organismen. 16. Bd. 1903. Fuchs, Zur Physiologie der Pigmentzellen. 909 müssen wir vielmehr mit besonderem Nachdruck auf die Unter- suchungen von Rörig!) über die Beeinflussung der Geweihbildung bei den Cerviden durch die Geschlechtsdrüsen hinweisen. Diese Beobachtungen können dadurch erklärt werden, dass den Ge- schlechtsdrüsen außer der Produktion der Geschlechtsprodukte noch eine besondere innere Sekretion zukommt, durch welche ver- schiedenartige trophische Einflüsse ausgeübt werden, welche nament- lich die Bildung der sekundären Geschlechtscharaktere verursachen. Diese trophischen Einflüsse der Geschlechtsdrüsen sind nieht eine haltlose Hypothese, sondern eine ‚durch zahlreiche Kastrationsver- suche experimentell gut fundierte Annahme. Wenn wir nun die Annahme machen, dass zur Zeit der Ge- schlechtsperiode der Frösche mit der starken Entwickelung und Sekretion der Geschlechtsprodukte auch die innere Sekretion der Geschlechtsdrüsen eine erhebliche Steigerung er- fahren muss, dann haben wir eine Quelle zur reichlichen Ent- stehung chemischer Stoffe gefunden, welche wie die in den Pflanzen erzeugten Alkaloide einen energischen Einfluss auf den Farben- wechsel ausüben könnten. Meine Untersuchungen lassen diese Mög- lichkeit um so wahrscheinlicher erscheinen, als sie gezeigt haben, dass selbst durch sehr kleine Mengen, Bruchteile von Milli- grammen, tagelang anhaltende Farbenveränderungen erzeugt werden können. Um meiner Annahme, der ım Hochzeitskleid der Frösche zum Ausdruck kommende Farbenwechsel sei durch Produkte der inneren Sekretion der Geschlechtsdrüsen bedingt, besser zu stützen oder zu prüfen, werde ich Versuche mit Organextrakten aus den Geschlechtsdrüsen der Frösche anstellen; und zwar müssen Extrakte von beiden Geschlechtsdrüsen (Hoden und Ovarien) sowohl vor, als während, sowie nach der Sexualperiode hergestellt werden, und diese Extrakte dann bei beiden Geschlechtern zu verschiedenen Zeiten auf ihre koloratorischen Wirkungen geprüft werden. Auch die Tatsache, dass die Farbenveränderungen des Hochzeitskleides bei den Männchen stärker hervortritt als bei den Weibchen, wird durch nıeine Versuche insoweit verständlicher, als diese gezeigt haben, dass denMännchenüberhaupteinegrößereErregbarkeitdeskolo- ratorischen Apparates zukommt. Freilich ist damit die Frage nach den Faktoren, durch welche sie bedingt wird, noch nicht gelöst. Wohl aber zeigt es sich, dass es sich dabei nicht um vitalistische Zweckmäßigkeiten, sondern gewiss um mechanistisch bedingte Notwendigkeiten handeln muss. Die zweite Tatsache von allgemeinem biologischem Interesse, welche die vorliegende Untersuchung ergeben haben, ist der ex- 1) Rörig, A., Über Geweihentwickelung und Geweihbildung I—-IV. Archiv f. Entwickelungsmech. der Organismen, 10. u. 11. Bd. 1900. 910 Luciani, Physiologie des Menschen. perimentelle Nachweis funktioneller, also physiologischer Verschiedenheiten bei nahe verwandten Arten. Solche Tatsachen müssen noch weiter durch vergleichend physiologische Studien gesammelt werden, denn sie sind vielleicht imstande, uns zu einer mechanistischen Analyse der Artentstehung zu führen. Wenn wir die Artentstehung zunächst auf zufällige Varia- tionen zurückführen, welche durch die Selektion befestigt worden sind, so müssen wir uns ehrlich eingestehen, dass eine solche auf dem Boden der Selektionstheorie fußende Erklärung eigentlich keine natur- wissenschaftlich befriedigende ist, weil wir bei jeder selektionistischen Erklärung immer mit wertenden Urteilen operieren, also eine historische, aber keine naturwissenschaftliche Betrachtung anstellen. Erst wenn wir für die Artentstehung eine mechanistische Erklärung gefunden haben werden, können wir zufriedener sein. Für eine solche bietet aber die Erkenntnis, dass die Artmerkmale nicht nur morphologische, sondern auch physiologische sind, einen ersten Hinweis, da wir uns die Formdifferenzen der Arten nur durch allerdings noch unbekannte physikalisch-chemische, also mecha- nistische Faktoren hervorgebracht denken müssen. Je mehr physiologische Artunterschiede aufgedeckt werden, um so eher werden wir Aussicht haben, die die morphologischen Artunterschiede bewirkenden Faktoren zu erkennen, weil die Form und Funktion organisierter Materie in einem untrennbaren Kausal- verhältnis stehen. Eine mechanistische Analyse der Artentstehung kann natürlich niemals die Entstehung der Arten ım Sinne der Darwin’schen Deszendenztheorie erschüttern, sie ist aber ein notwendiges Ziel der naturwissenschaftlichen Forschung, um jene Lücke auszufüllen, welche die im Wesen historische Betrachtungsweise der Selektionstheorie offen lassen muss, wenn wir eine rein naturwissenschaftliche Er- klärung ‚für die Entstehungsbedingungen der Variationen und damit auch der Arten anstreben. Selbst eine solche rein mechanistische Analyse wird den Wert der Selektionstheorie nicht verkennen, sie wird uns aber dazu führen, die oft allzu anthropomorphistischen Erklärungen der Selektionisten mit kritischen Augen zu besehen und des prinzipiellen Unterschiedes zwischen naturwissenschaftlicher und historischer Betrachtungsweise stets bewusst zu werden und zu bleiben. Luigi Luciani. Physiologie des Menschen. Deutsch von $. Baglioni und H. Winterstein. — Zweiter Band: Gr. 8, 526 Seiten. Jena, Gustav Fischer, 1902. Von dem im Centralbl. Bd. XXV, S. 556 angezeigten Lehr- buche des römischen Physiologen Luciani liegt jetzt der zweite Band vor, welcher den Stoffwechsel behandelt. Der Band zerfällt Lueiani, Physiologie des Menschen. 911 in neun Kapitel. Das erste behandelt die innere Sekretion von Schutzstoffen und bringt eine sorgfältig gearbeitete Übersicht unserer jetzigen Kenntnisse von den Funktionen der „Drüsen ohne Aus- führungsgänge“: Schilddrüse, Glandula pituitaria und Nebennieren. Das zweite Kapitel behandelt die Verdauungsdrüsen, das dritte die Verdauungsvorgänge im Mund und Magen, das vierte diejenigen im Darm. Im fünften werden die Resorptionsvo rgänge ın Magen und Darm abgehandelt, im sechsten die Ausscheidungen im Darm. Das siebente und achte Kapitel behandeln die Bildung und die Ausscheidung des Harns; das letzte Kapitel handelt von der Haut und ihren Drüsen, Schweiß-, Talg- und Milchdrüsen, sowie von der Resorption durch die Haut. Alles, was wir a. a. O. vom ersten Bande gerühmt hatten, gilt auch von diesem zweiten. Die breit angelegte und mit Sorgfalt durchgeführte Darstellung ist geeignet, auch dem Fachmann wert- volle Belehrung zu gewähren. Seltener noch als ım ersten Bande wird er auf Bedenken über die Auffassung und Deutung der Tat- sachen durch den Verfasser stoßen; dem Nichtphysiologen aber bietet der Band reiche Belehrung über ältere wie neueste Ergebnisse der Forschung ın klarer und ansprechender Darstellung, so dass ihm das Studium des Buches auf das wärmste empfohlen werden kann. R. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2, — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Alphabetisches Namenregister. A. Abbe 698. 701. 702. Abderhalden, E. 372. 378. 381. 382. 430. 431. 432. 433. 435. 436. 441. 442. 447. 824. Abegg 228. Abromeit, J. 174. Adami 824. Adlerz 803. Adloff 66. Albrecht, E. 713. Alexander, G. 423. Allen 886. Almagia 442. Alsberg, ©. 447. Ambronn 184. Ammon 100. 101. Anikin 110. Anutschin 75. Archangelsky 749. Aristophanes 851. Aritoles 221. Arndt 411. Arnim, Graf 387. Arnold, J. 700. 710. 712. Artom, ©. 26. 204. Ascherson, P. 133. 134. 169. 661. 179. 194. 196. 318. Askenasy 240. Asper, G. 490. Austen 116. Avenarius 79. 81. 82. 9. Azara 41. B. Babuchin, A. 640. 641. 650. 652. 653. DD: 383. 384. 434. 437. 438. 440. 444. 445. 446. Badariotti S04. Baer, K. E. v. 300. Baglioni, S. 910. Balbiani 67. 358. 450. Ballowitz, E. 643. 644. 646. 647. 655. 861. Ballowitz, K. 861. Bardeleben 74. 97. Barfurth, D. 354. 356. 359. 361. 366. 368. Barker, L. F. 445. Barnhart, J. 168. Bary, De A. 840. 841. 842. Basedow 754. 760. Bataillon 357. Batalin 133. 136. Bateson, W. 37. 292. 333. 410. 423. 425. 547. 883. SS6. 887. Baumann, E. 379. 764. Beal, L. S. 162. 708. Beaum& 28. 206. 41. Beck von Mannagetta 743. Beddinghaus 612. Behrens 487. Beijerinck 64. 137. Bell, Ch. 288. Beneden, van E. 427. 428. ADS Bennett, A. W. 134. 179. Bergell, P. 376. 380. 382. 430. 434. 445. Bergmann, G. v. 441. 447. Berkeley 80. 94. Bernhard 468. 475. 479. Bernouilli 169. Bernstein, J. 344. 772. Bethe, A. 125. 806. Bezold 601. 607, Biedermann, W. 184. 246. 421. 422. 560. 882. 180. 181. 185. 190. 864. S65. 866. 867. 905. 907. Biffen 884. Bimmermann, E. H. 866. Bircher, H. 762. Bittner 464. Blaauw, F. E. 415. Blackmann, F. 228. 232. 23321 234.7239: 242. Blanc 74. Blasius, J. H. 515. 554. 555. Boas, F. 317. Boas, J. E. V. 43. 316. Boys-Reymond, E. du 319. Bois-Reymond, R. du 806. Boll, F. 645. 655. 656. Bolle, J. 450. 452. 542. Bonaparte 515. Bond 73. Bondzynski, St. 439. 444. Bonnet, R. 650. Born, G. 355. Boruttau, H. 159. 880. Böttger, O. 419. Bougainville 284. Boveri, Th. 23. 47. 49. 50. 57. 59. 358. 365. 400. 403. 404. 412. 413. 427. 429. 774. 786. 788. 789. 838. 839. 846. 847. Bozzi 840. Branco 97. 100. Brandes 427. Brauer 490. 491. 496. Braun, A. 481. 482. Braus 355. Bredig, G. 88. Brehm, A. E. 335. 416. 417. 419. 420. 515. 516. 560. Brehm, V. 224. 466. 468. 479. 480. 870. 873. 893. 230: 241. Alphabetisches Namenregister. Breuer, J. S. 678. Britton, N. L. 792. Brodtmann 725. Brown 701, 706. Brown-Sequard 111. Brücke, E. 181. 863. Bruns, P. 759. Bryant 320. Buchenau, Fr. 194. Buchner, E. 239. 255. Buchner, H. 239. 624. “ Buffon 39. Bühler, A. 772. Burbank, L. 609. 610. 611. 612. 613. 614. 615. 616. 617. 618. 619. 620. 621. Burck, W. 129.130.131.133. 134.135, 1362132..138: 139. 140. 141. 142. 143. 161. 162. 163. 164. 165. 166.167. 168.71.70:, 171. 17317 2175. 176.177. 178..193.7194.196.197. 198. 199. Burckhardt, H. 469. 510. Burdach, K. Fr. 850. 851. 853. Burri 461. Butschinsky 110. Bütschli, OÖ. 47. 51. 303. 344. 660. 718. 771. 775. 103: Buttel-Reepen, H. v. 217. 624. ©. Calkins, G. 504. Candolle De, A. P. 225. 258. Cannon, W. A. 793. 797. Car, L. 320. Caradja, A, 119.120. Carnegie, A. 791. Carpenter 115. Carriere 482. 483. Castle, W. E. 294, 886. Celakowsky, L. 886. Chareot 755. 757. Chichkoff 44. Child, ©. M. 35. Chmielewski 320. 841. Cholodkowsky, N. 786. Chudiakow 238. Chun 479. Chwolson, O. D. 159. Cienkowsky 51. Claus, ©. 66. Clausen, H. 227. 228. 233. Clifford 223. Oloetta 444. Cohen 228. XXVI. Cohn, R. 378. Cohnheim, ©. 431. 432. Cole, S. W. 374. Colling 721. 722. Cori, J. 224. 479. Colueei 361. Conradi 831. Cope 246. Carnalia, E. 449. 450. 452! Cornevin 41. 76. Correns, ©. 141. Baar 3dn, 176. Corti,, Marchese Coville, Fr. V. 792. 796. Cramer, E. 376. Crampton 354. Quenot, L. 47. 290. 291. 296. 410. 421. 294. 295. 886. Cunningham, D. 75. 162. Curtis, ©. C. 800. Cortius) Th. 372: 877. Cuvier 514. Cyon, E. v. 423. Czapek, F. 160. D. Dahl; F, 2. Dakin, H. D. 439. Dallinger, W. H. 51. Dangeard, P. A. 776. Darbeshire 292.,293. 886. Dareste 300. Darwin, Ch. 3. 8. 10.16. 22. 38. 97. 104. 133. 134. 135.136.11348,. 1382166. 167. 175. 244. 246. 248. 249. 273. 412. 422. 423. 488.:511.851220513- 517; 527. 528. 531. 546. 548, 556. 558. 559. 560. 562. 578. 611. 770. 847. 882. 907.. 909. Darwin, Fr. 800. Dastre 752. Davenport 292. 357. Dean, A. L. 438. Dehler, A. 714. Delafield 604. Delage, Y. 24. 357. 358. 492. 774. Denker, Alfr. 600. Detlefsen 262. Detmer 227. Dihm 743. Döderlein, L. 14. 15. Doflein, F. 48. 50. 60. 450. Dohrn, H. 752. Dollo 246. 628. 396. 398. 417. 424. 479. 882. 883. 885. 600. 602. 380. 915 Dombrowowsky, St. 444. Donisthorpe 566. Dorpinghaus, Th. 434. Dorrer 537. Dougal, Mac 792. 793. 794. 796. Downing, E. R. 490. 491. 497. 498. 500. 502. 508. Dragendorff 361. Drechsel 371. Drieschy. EL. 23.035222 341. 347. 354. 362. 363. 364. 365. 366. 368. Drygalski, v. 174. Drysdale, J. 51. Du-Chaillu 284. Dubois 99. Duclaux 236. 238. Düsing 137. Duval-Jouve 136. Dyar 122. E. Ecker, Al. 492. 493. 496. 498. 864. Eckstam 196. Ehrenberg 492. 493. 496. Ehrenreich 285. Ehrlich, F. 374. 375. Ehrlich, P. 368. Ehrmann, S. 864. 866, Eichholz 658. Eidam 234. Eigennamen 42. Eimer 44, 335. 596. Ekman, S. 480. Ellinger, A. 448, Embden, G. 441. 444. 446. Emery, ©. 37. 74. 111. 547. 579. 624. 628. 802. Endres 354. 362. Engelmann, Th. W. 641. 642. 644. 652, Zol. Engler 134. 197. Erdheim 760. 761. Erdmann, J. E. 848. Ernst, Chr. 210. Errera, L. 226. 228. Escalera 573. 574. Escherich, K. 801. 802. 804. 805. 806. Escherich, Th. 220. 442, 443. Evart 511. Ewart, J. ©. 73. 239. 240. 426. 513. 517. 560. 644. 652. 653. B)>) 914 F. Farabee 418. Fauvel 571. 573. 574. Favre, F. 320. Fechner, Th. 83. Federly 598. 599. Felkins 284. Fick, R. 413. 414. Fischel, A. 354. 356. 361. 365. Fischer 97. Fischer, A. Fischer, E. 533. 534. 624. 908. 787. 836. Fischer, Emil 371. 372. 373. 3742315. 3102300. 1378: 379. 380. 381. 382. 383. 384. 431. 432. 435. 436. 440. 826. Fischer, Hugo 160. 190.221. Fischer, J. v. 418. 420. 421. 426. 515. Fleischmann, A. 577. 578 604. Flinders, Petri 287. Floresco 752. Flower 99. Focke 882. Folin, Marquis de 273, Folin, OÖ. 447. Forbes 133. 163. Forel, A. 77. 275. 320. 579. 625. 626. 627. 803. Forssner, G. 446. Forster 829. Forstmann 362. Fourneau, F. 378. Fraipont 199. Fraisse 362. Francois 284. Freihold, v. 170. Friedmann, E. 374. 447, Fries, R. E. 163. Fritsch, G. 318. 644. 645. 646. 653. Fromm, v. 537. 538. Frosch 719. Fuchs, C. 750. Fuchs, R. F. 255. 287. 288. 296. 340. 863. 888. 908. Fühner, H. 24. Fuhrmann 67. Fürth, ©. v. 439. & Gabnay 259. 263. Gad, J. 340. Gaede 192. 109. 358. 448. Alphabetisches Namenregister. Galton 247. 532. Gamble, F. W. 24. 25. Garrey, W. E. 685. Garten, S. 654. 655. Gärtner 882. Gaule, J. 707. 708. Gaupp, E. 864. Geddes, P. 24. Gegenbaur, ©. 70. 74 644. Geoffroy - Saint-Hilaire, E. 37. 71. 548. Gerassimow 358. Gerlach, L. 300. 348. Giard 634. 635. Girschner, E. 633. 640. Gisenius, P. 386. Godron 194. Goebel, F. 377. Goebel, K. 130. 131. 134. 168. 169. 171. 177. 179. 198. 658. 738. 739. 138. 141. re krds) 481. 486. 740. 886. Goette, A. 300. 788. Goldmann 764. Goldschmidt, R. 51. 53 69. 397. Goldstein 361. Goltz, F. 154. Gossler, v. 319. Gottlieb, R. 764. Götzinger 464. 479. Gould 314. Graebner 133. 136. 180. Graf, A. 44. Graff, v. 24. Granata, G. 27. Greenough 475. Greenwood, M. 492, Greil 72. Grey, Asa 162. Gross, J. 395. 508. 886. 887. 888. Grosser, W. 169. 180. Gruber, A. 358. Grützner, P. v. 824. Guaita 73. 886. Gulik, I. T.13. Gull, W. 755. Gutwinski, K. 320. Guyer, M. F. 556. H. Haacke,W.73.423.490.886. Haberlandt, G. 24. 257. 270. 450. 657. Häcker, V. 181. 397. 398 399. 400. 622. 835. 412. 555. 556. Haeckel, E. 97. 180. 302. 340. 342. 503. 577. 580. 782. Hagens, v. 566. Hahnel 690. 691. Hales, St. 220. Hall 752. 753. Haller 44. Hamann 42. Hamburger, K. 47. 56. 57. Hammarsten, O. 863. Hansgirg, A. 175. 176. 178. 179. 180. 193. 194. 196. Hari, P. 444. Harrison, R. G. 355. Hartig, R. 257. 259. 260. 263. 264. 265. 266. 270. Hartmann, E. v. 77. 78. 9. Hartmann, M. «89. 852. Hartwig, W. 422, Hatschek, B. 479. 524. 525. 526. 527. 528. 529. 530. 531. 532. 533.934 770. 847. Hausen, ©. 438. Hauser, G. 709. Hayduck, F. 255. Heckel 281. Hedin 371. Hedley 628. Hedlund 743. Heidenhain, M. 358. 359. IA ALS“ Heider 362. Heincke 648. Heinricher 886. Heinz, R. 249. Heller, H. 169. Heller, J. F. 64. Helmholtz, H. v. 600. 601. 603. 607. 608. 698. 702. 780. Henderson, J. 438. Henriksen, M. E. 18. 33, 37. 256. Henriques, V. 438. Henschel 537. Hensen, V. 224. 601. 607. Zul: Herbst, C. 35. 350. 356. 357. 746. Hering, E. 780. Hering, Th. 870. Hermann, L. 853. Hertel, E. 865. Hertwig, O. 228. 252. 298. 357. 527. 746. 770. 772. 835. 838. 839. 847. 851. Hertwig, R. 46. 54. 56. 357. 358. 359. 362. 489. 746. 411. 415. ee A Alphabetisches Namenregister. 774. 775. 836. 838. 839. 840. 841. 847. 852. Hertz 223. Herxheimer, K. 710. Herzstein 744. Hesse, E. 633. Heymons, R. 205. Hildebrand 133. 137. Hirsch, 725. 726. Hirsch, R. 444. His, W. 300. 350. 353. 359. Höber, R. 207. 228. 249. 288. 748. Hofer 358. Hofer, B. 832. Hoff, van t’. 228. 229, 230. 233: 2S4 340). Hoffmann, A. 177. 483. 484. Hofmeister, F. 370. 381. Holck, P. 256. Holmgren 196. Hooke 822. Hopf 309. Hopkins, G. 374. Horsley, V. 762. Howard, H. B. SS0. Hoyer 870. Hubbard, H. G. 161. Huber, G. 223. Huber, P. 802. Hudson, G. V. 118. Hurst 292. 886. Huxley 22. 97. I. Ignatowsky 446. Ihering, v. 804. Ingen-Housz, J. 220. Ischikawa, CO. 47. 48. 57. Iver, Mac D. R. 287. J. Jacobson, Edw. 804. Jacoby, M. 434. Jagor 284. Janczewski 615. Janicki, ©. v. 43. 769. Jickeli, ©. 508. Johannsen 887. Joly, N. 27. Jordan, H. 124. 143. 751. 192. Jost, L. 225. 238. Judd 45. 833. K. Kahane, M. 701. Kamerling 659. Kanitz, A. 228. 229. 230 234. Kant, J. 77. 80. 780. Karsten, G. 224. 840. Kaserer, H. 190. Kassowitz, M. 844. 847. Katzenstein, A. 444. Kayser 829. 830. Keeble, Fr. 24. 25. Keissler, K. v. 466. 467. Kelling 822. Kennel, J. 41. 512. 559. Kent 51. Kerner von Marilaun 136. 179. 193. 615. Kettelhoit 580. Keulemans 334. Kienitz-Gerloff 221. Kirchhoff 223. 298. 299. Kirchner 170. 179. 193. Kishi, K. 423. Kjeldahl 766. Klaatsch 97. Klebahn, H. 841, Klebs, G. 344. 350. 70% .7.1.08302.859: Kleinenberg, N. 491. Kleinpeter, H. 223. Kleinschmidt 516. Klemm, P. 662. Klunzinger, ©. B. 633. 636. 639. Knight 257. 264. 265. Knipowitsch, N. M. 39, Knoll 479. Knoop, F. 374. 441. Knuth 136. 161. 162. 164. 169, 120.179. . Kny 257. 258. 262. 263. 266. Koch, CL LE Koch, R. 828. 829. 831. Kocher 756. 757. 758. Koehne 197. Kohl, F. G. 801. Kohl, P. 575. Kohlbrugge 284. Kohlwey 540. Koken 246 579. Kölliker, A. 37. 547. 649. 655. Kollmann, J. 286. 304. 305. 306. 307. 308. 309. & 311.314,°316. Koltzoff, N. K. 854. Korschinsky, S. 37. 385. 547. 550. Kossel, A. 371. 373. 432. 439. 440. Kossmann, R. 15. 244. 245 246. 247. Kowalevsky, W. 40. 634. . Kowalewsky, K. 442. Krabbe 259. 262. 263. Kranichfeld, H. 15. 16. Krapfenbauer 489. 497. 502. 506. Kraus, F. 433: Kraus, G. 259. 260. Kreidl, A. 423. Kreusler, U. 227. 242. Kries, J. v. 879. Kronfeld 743. Krüger, H. 446. Krupp, F. A. 319. Kuckuck 479. Kühne, W. 81. 370. 435. Kükenthal, W. 66. Kupelwieser, H. 463. 744. Kupelwieser, K. 463. Kusnezov, N. J. 116. Kutscher, Fr. 273. 436. 439. 442, L. „ Laloy 116. Lamarck 335. Lambert 423. Lang, A. 47. 48. 411. 415. 422. 426. 549. 560. 787. Lange, Fr. A. 770. Langendorff, ©. 880. Langkavel, B. 514. Langstein, L. 440. 441. Lankester 42. Laplace 780. Lars 115. Lataste 74. Laurent 492. 494. '499. Lavoisier 221. Leclere du Sablon 658. Le Conteur 390. Lebert 450. Leech, J. H. 121, Leger 47. 429, Leisewitz, W. 630. Leitgeb 800. Jemmermann, E. 224. Lemoine 615. . Lenz 284. Leod, Mac 134. 196. 743. Lerat, P. 397. . Lesbre 76. Lesser 438. Leuchs, H. 440. . Leuckart, R. 633. 771. 783. Leydig, F. 864. ' Liebe, Th. 515. 553. 555. Liebmann, O. 848. 849. . Liemberger 479. Lifschütz 751. Lilljeborg 469. 58* Y16 Linden, M. Gräfin von 44. 190. 210. 580. Lindman 138. 179. Linne, K. 97. 490. Lipstein, A. 446. Lister, J. 865. 893. 905. 907. Livingston, B. E. Ss66. 793.038, Lloyd, F. E. 791. 793. 79. Lock 242. Locke 79. Loeb, J. 25. 34. 36. 151. 205. 206. 207. 256. 357. 361. 744, 745. 746. 838. Loew, E. 129. 161. 193. 462. Löffler 698. Lönnberg, E. 419. 516. ! DDB. Loppens, K. 320. Lotze 221. 300. Löw, O. 374. 440. Löwenthal, W. 840. Löwi, O. 438.442. Löwis, ©. v. 416. 554. Löwy, A. 447. Lubbock 215. Luciani, L. 910. Ludwig 137. 743. Lühe, M. 47. 49. 50. 59. Luschan, v. 309. Luja 573. 574. 804. M. Maas, O. 362. Macfarlane, J. M. 792. 884. 8837. Mach, E. 79.81. 94.220.223. Magnus, P. 178. 195. Maillot 453. 535. 536. Malme 163. Malpighi 257. Malsen, v. 503. Man 512. 519. Manasse 376. Mandoul 274. 282. Mantia 286. Mareus, H2 427: Marshall, W. 492. 493. 495. 496. Martens, E. v. 515. Martensen 634. Matthaei 228. 230. 232. 234. 242. Maupas, E. 46. 54. 56. 59. 358. Til. Mayer, P. 374. Mazzarelli, S. 62. 831. 832. Mehring 336. Meissner 427. Mendel, Gr. 73. 290. 292. 294. 324. 325. 326. 3299307 331% 395. 396. 397. 400. 401. 402. 406. 408. 409. 414.415, "417. Aal, ER 4262511: 513. 520. 521. 545. 550. 557. 559. 621! 622. 624. 883 884. 885. 588. Mendelsohn 101. 165. 321. 327. 333. 398. 403. 410. 418. 424. 514. 546. 560. TU. 886. . Menzbier 517. 559. Merian 480. Metschnikoff 364. Metzner, R. 880. Meves, Fr. 711. 714.717. Meyer 803. Mez 743. Miclucho-Macley 284. Middendorf, A. v. 516. Millardet 884. Millon 375. Miyoshi 463. Möbius, M. 39. 837. 851. 852. Mohl, H. v. 257. 258. Mohr, L. 441. 446. Molisch, H. 64. 479. Moniez 635. 640. Montgomery 24. 40. Monti, R. 320. 361. Morgan, T. H. 23. 38. 354. 361. 362. 364. 856. Mortensen 639, Morton 99. Mosso, A. 700. 710. Mräzek 44. Müller 192. Müller, Fr. 440. Müller, Fritz 142. 143. 198. 720. Müller, H. 137. Müller, Joh. 125. Muschenbroeck 263. Muskens 653. Musset 264. N. Alphabetisches Namenregister. 289. 323: 328. 334. 399. 404. 412. 419. ‘429. 518. 549. 561. 882. 887. 861. 840. 289. 368. Mörner, K. A. 373. 863. 169. Müller, H. F. 701. 704. Murray, G. R. 762. 763. Nagel, W. 601. 879. 880. Nägeli, ©. 7. 253. 450. 527. 530. 660. 665: 525. Zar 780. 782. 837. 838. 847. Naumann, J. H. 517. Nehring 336. Nemec, B. 686. Nencki 442, Nernst, W. 843. Neuberg, ©. 374. 376 446. 447. Neumann, L. 356. Neumeister, R. 441. Newton, A. 334. Niceforo 286. 314. Nieuwenhuis 284. Nill 419. Nilsson, N. H. 388. 390. 394.392. Noll 419. 560. Noorden, ©. v. 443. Nördlingen 264. 339. Nuesch 99. 286. 310..311. Nussbaum, M. 358. 368. 489, 491. 492. 493. 500. Nüsslin 479. ®. Obersteiner 624. Ogneff, J. 647. 653. 654. Oltmann, Fr. 842. Oppenheimer, ©. 441. Orbigny, d’ 285. Ord, W. M. 755. Ostwald, W. 77. 85. 88. 89. 223. 529. 843. 854. Otto 379. Overton 749. 732. P. Pacini 646. Pagenstecher 181. Pallas 508. Pander 300. 350. Paneck, K. 444. Pantanelli 234. 236.241.243. Pascher, A. 224. Pascuceci, ©. 720. Pasteur, L. 449. 450. Pauly 374. Pawlow, J. 384. 827. Pearson 223. Pedaschenko 67. Penck 479. Penzig, O. 481. 484. Perez, Ch. 60. Pertz, Doroth. 743. Peter 228. Pettenkofer, M. v. 829. Pfaundler, L. 192, Pfaundler, M. 381. 446. Pfeffer, W. 227. 359. 749. 779. Pflüger, E. 91. 349. 761. Pick, E. P. 370. Pick, F. 381. Piepers 208. 209. 210. Pierantoni, U. 832. Pinchot, Gifford 792. Blate;:L. 13. 547.779. 888. Plato 848. 849. 851. Plaut, M. 444. Pluskal 481. Pohl, J. 749. Poirault, G. 842. Poirier 320. Pollak, L. 439. Popoff, M. 272. Porsild, M. P. 256. Portschinsky 634. Pouchet 273. Pouillet 192. Poulton 117. Poutales, de 275. Prandtl, H. 51. 397. 743. Pravaz 871. Pregl, F. 444. Prince 273. Profe 66. Prowazek, S.v. 788. Pızibram, H. 366. 645. ®. (uatrefages 513. Quetelet 245. 247. Quimos 284. Quincke 303. Quinton, R. 26. 314. R. Rabl, ©. 298. 358. 412. 532. Raciborski, M. 842. Rädl, Em. 677. Raehlmann, E. 699. 704. 710. Rahon 315. Ranke, J. 285. 304. 314. Ranvier 655. Rathoy 743. Rauber, A. 300. 366. Rawitz, B. 110. 423. Ray 42. Rayleigh, Lord 702, Reach, P. 381. Rebel 122. Reed, M. 362. Reese, H. 444. 446. 240. 241. 302. 347. 14. 69. 524. 50.51. ‚53. 58. 836. 840. 841. 842. Alphabetisches Namenregister. Regnell 163. Reiche 169. Reichelt, H. 224. 608. Reichenbach 217. Reichert 469. 472. 475 608. Reichert, Alex. 640. Reichert, ©. 704. Reid 69. 101. Reimbold, B. 436. 438. Reinke, F. 358. 361. Reinke, 17202213 24% Remer 743. Rengger 804. Retzius, G. 606. 607. 643. 644. Reverdin 756. 758. Rhumbler, L. 51. 303. 344. 358. 359. Ribbert 368. Ribot, Th. 513. Richet 103. Richter, P. 445. Rickert 908. Rimpau, W. 387. 390. 391. 392. 393. 394. -395. 882. Ritter 420. Ritthausen, H. 378. Robertson, Ch. 162. Robin, Ch. 644. Roerig, A. 356. 418. 419. 556. 909. Roger, J. 625. Rohde, F. 375. Rollet, A. 642. 647. 648. 650. Rolph, W. H. 775. 776. Romanes, G. 13. Romanow 624. Rena, P. 43]. 438. 442. Rosa 40. 69. Rösel v. Rosenhof, A. J. 491. 493. Rosenthal, J. 3. 76. Rosenthal, W. 697. 831. Rössler 138. 179. Rossogonoff 181. Rousseau, E. 62. 318. 320. Roux, W. 296.. 297. 298. 299. 300. 302. 303. 340. 341. 342. 343. 344. 345. 346. 347. 348. 349. 350. 351. 352. 353. 357. 358. 359. 360. 361. 362.. 363 364. 365. 366 367. 368. 369. 782. 851. 853. Rowntree 72. Roy 824. Rubin 361. Rückert 835. Ruepprecht 474. . 479. 100. 601. 604. 7.005., 221. 223. 254. 297. 863. alt Rümker, K. v. 391. Ruttner 470. 479. S. Sabanjeeff 281. Sace 558. Sachs, J. 221. 225. 226. 264. 649. S00. Sala 364. Salaskin, S. 442. Salensky, W. 199. Salkowski, F. 442. Salomon, H. 441. Samter, M. 205. 224. Samuely, Fr. 370. 430. 434. 444. 441. 442. 444. 446. 828. Sansou 73. Sarasin 70. 284. 318. Sartorius 475. Saunders 333. 884. 855. Schäfer 239. Schäfer, K. L. 601. Schaper, A. 351. 355. 357. Schaposchnikow, Ch. 116. 1190123. Schaudinn, Fr. 47. 48. 49. HIN (53.98. 712.197. 980. 840. 841. 842. 847. Scheben 429. Schenck, Fr. 439. Schenk 803. Schiff, M. 755. 759. 762. Schiller 540. Schimkewitsch, M. 37. 65. BR I 03. Schimper, A.F. W.271.741. Schinz 658. 756. 758. Schittenhelm, A. 442. 444. 446. 447. Schively, A. 134. 138. 139. IL. Schlosser 30. Schmankewitsch, W. J. 30. 110. 204. 205. 206. Schmidt, Alex. 536. 537. Schmidt, E. 99. 310. 311. Schmidt. J. 446. Schmidt, M. 512. 515. Schneider 580. 581. 582. Schneider, Ant. 427. Schneider, G. 320. Schneider, K. ©. 76. 95. Scholz, W. 768. Schopenhauer, A. 77. 7S. 777. 778. 789. 790. 848. 49. Schotten 379. Schouteden, H. 320. Schreber 337. 918 Schribaux 394. Schröder, Chr. 547. Schrodt 658. 659. 722. Schultz, Eug. 359. 788. Schultze, 646. 708. Schultze, Osk. 500. 640. Schulz, A. 172. 179. 196. Schulz, Osk. 287. 754. Schulze 371. Schulze, F. E. 319 Schulzen 442. Schuppe 79. Schütt 284. 116. Schwalbe, G. 46. 68. 75. 97. 31173122 Schwangart, F. 632. Schwarz 257. 258. 260. 265. Schwarz, L. 751. Schwarzschild 380. Schweinfurth 283. 284. : 318. Schwendener 657. 658. BI R233N9: Seott, 21, 134.138: Scudder. S. H. 209. Secchi 275. Seemann, J. 436. 439. Seibert 606. Selenka, E. 43. Sellheim, H. 880. Senebier 221. Senn 836. Sergi, G. 285. 286. 314, 316. Serpa Pinto 284. Sheriff 390. Shibata 242. Siebold, ©. V. 26. 27. 30. 31. Siedentopf, H. 698. 699. 701. 702. 704 Siedlecki 47. 60. Siegel, J. 699. 702. Siegfried, M. 370. 377.381. 382. 435. 863. Sikora 804. Simon, Ch. E. 447. Simroth, H. 334. 338 Skraup, Kd. St 375. Smith, J. J. 133. Snyder, K. 252. Solms-Laubach, Graf 136. Sommer 111. 624. Sorauer S00 Sonntag 267. Sörensen 375. Spalding, E. S. 793. Spalding, V. M. 799. Spemann 356. 362. 364. 270. 122. Max 362. 645. 669. 246. 442, 310. 793. 796. Alphabetisches Namenregister. Spencer, H. 117. 253. 770. 772. 783. 844, 847. Spuler, A. 188. 690. 691. Staats von Wacquant-Geo- zelles 550. Stabel, H. 764. Stallo 223. Standfuß 73. 109. 358. 416. 508.509>-510I9337 93% 539..548..b51.. 552, 553. 559. 624. Stanley, H. 284. Staudinger, O. 120. 122. 690. 695. Stauffacher, H 678. Stazzi, P. 832. Steinach, E. 864. 870. 905. Steinbrinck, €. 657. 721. Steinert 552. Steinmann 579. Stricker 649. - Stephen 109. Stockmayer 466. 467. 479. Stolte, K. 442. Stookey, L B. 370. Strasburger, E. 138. 770. 772. 833. 835. 842. 847. Strassen, zur 358. 359. Strasser 300. Strümpell, A. v. 757. Studer 317. Stutzer, A. 386. Sutton, W. S. 24. 400. Suzuki, U. 374. 463. 407. 838. 364. 404. 542. m: Tangl 359. Taubert 134. Tayer 274. Ten-Kate 285. 304. Terni 832. Ternuchi, J. 431. 444. Thayer 45. Thesing, ©. 710. Thiebaud 320. Thiele 241. 444. Thiem 334. 335. Thienemann, J. 517. Thilenius 286. 309. Thomson, G. M. 169. Thornburg, J. M. 618. Thumm, J. 474. Tiemann, Fr. 514. 559. Tietz 540. Tigerstedt, R. 879. Topinard 99 Töply, R. v. 220. Tornier 74. Toyama, K. 321. Trembley, A. 491. 493 494. 499. Trendelenburg 633. Tschermak, A. 880. Tschermak, E. 199. 323. 333. 336. 410. 412. 881. 882. 886. Tschudi 419, Turner 99. U. Uexküll, J. v. 147. 158. Ule 142. 143. 162. 163. 198. Ulmer, G. 320. Umber, F. 433. Unger 800. Urban, I 19% Ursprung, A. 257. 744. V. Valaskin, S. 378. Vanhöffen 174. Velenovsky 482. Velten 239. Verschaffelt, J. 662. Versluys, J. 46. Verson 450. 542. Verworn, M. 49. 297. 303. 7.19.1788, 18% Viehmeyer 802. Vigener 44. Vinciguerra, D. 63. 832. Virchow, R. 285. 319. Vöchting 168. 175. 238. Vogler, P. 224. 252. Vogt, C. 97. 508. Vries, de H. 37. 38. 59.1362 138243 141. 173. 199. 246. 308.323. 333. 837. 344. 385. 396. 400. 406. 407. 408. 409. 424. 483. 484. 488. 519. 520. 521. 522. 527. 528. 530. 545. 547. 548. 549. 550. . 560. 561. 609. . 779. 882. 884. . 887. 40. 140. 248. 340. 401. 412, 518. 523. 546. 557. 621. 885. Wagner, R. 314. 517. Waldeyer, W. 427. 774.779. Wallace 98. 181. 245. 273. Walsingham, Lord 116. 119. Walter, B. 181. 188. 190. 280. Warburg, O. 372. Warming, E. 174. 196. Warnstorf, ©. 179. 193. Warren, J, M. 880. Wasmann, E. 104. 105. 212. 215. 565. 802. 803. 804. 805. 806. Webb, R. J. 162. Weberbauer 658. Wegscheider, R. 220. Weichard 110. Weidenreich, F. 700. 713. aa earaksberale) Weigert, CO. 367. 710. * Weinberg, R. 282. 304. Weinland, D. 511. 516. 558. Weismann, A. 38. 42. 45. 109. 245. 246. 247. 248. 249. 253. 340. 358. 367. 396. 404. 463. 521. 525. 527. 528. 530. 546. 547. 962: 522.625 6242772. 273. 774. 778. 779. 783. 785. 786. 787. 788. 790. 833. 834. 836. 838. 839. 846. 847. Weiß, OÖ. 880. Weldon 333. Wendelstadt 362. Wesenberg-Lund 479. 480. 789. 837. 888. Westphal 624. Wetzel 362. Weule, K. 284. 309. Weyl, Th. 376. Wheeler, W. M. 628. 805. Whitman, ©. O. 256. Wiechowsky, W. 443. Wiesner, J. 220. 257. 267. 271. 261. 262 Wild, v. 192. Wilhelm 263. Willemoes-Suhm, R. v, Willis 138. Wilser 314. Wilson, E. B. 23. 34. : 294. 365. Wimmer 338. Windaus, A. 374. Winterstein, H. 910. Wittich, von 864. 865. 867. 908. Wöhler 853. Wohlgemuth, F. 445. Wohlgemuth, J. 375. 443. 447. Wohlgemuth, 'M. 446. Wolf 284. Wolff, G. 15. 361. Woltereck, R. 463. 608. Wolters, M. 47. Alphabetisches Namenregister. 629. S66. 434. 480. 919 Wolterstorff, W. 414. Woods, A. F. 462. Woodward, R. 8. 792. 794. Wundt, W. 83. Y. - Yung, E. 508. 2. Zacharias, O. 62. 63. 223 224. 249. 250. 251. 252 320. 428. 832. Zederbauer, E. 50. 466. 468. 480. Zeiß, C. 475. Zeller 510. Ziegenbein 227. Ziegler, H. E. 47. 56. 58. 59. 358. 402. 403. 412. 621. 622. 623. 624. Ziehen 79. 81. 94. Zimmermann, A. 658. 665. Zoja, R. 362. 439. 491. 493. 494. Zoth, O. 879. Zsigmondy, R. 720. Zuckerkändl 43. Zunz, E. 381. Alphabetisches Sachregister. A. Absterben 671. Actinophrys sol 47. Afrika 283. Akustik 192. 600. Albinismus 417. 511. Alkaloide 870. 888. Ameisen 210. 565. 624. 801. Ameisengäste 562. Ameisennester 210. Amerika 285. 791. Aminosäuren 371. 430. Amphimixis 769. 833. Anergates 627. Anisotropie 662. Anneliden 199. Anodonta 856. Anonaceen 132. Anpassung 6. 366. Anthropogenese 282. 304. Anthropologie 97. 282. 304. Araneiden 4. Archianneliden 199. Artemia salina Lin. 26. 204. Artentstehung 3. 15. 38. 65. 97. 244, 385. 395. 508. 545. 565. 881. 910. Ascaris 427. Asien 284. Assimilationskurve 230. Astaeus flwviatilis 751. Atavismus 73. 402. Atmung 227. Atropin 872. Austrocknen 671. Autogamie 194. 840, B. Bakteriologie 828. Bastarde 289. 321. 395. 508. 545. 609. 881. Bauprinzip, dynamisches der Schrum- pfungsmechanismen 660. Befruchtung 46. 129. 161. 623. 744. 769. 833 Beleuchtung, Wirkung auf das Dicken- wachstum 260. 262. . Berberis vulgaris 725. Binnendruck in elastischen Hohlgebilden S0ß. Biochemie 160. 190. 255. 370. 430. 748. 324. Biologie allgemeine 3. 15. 18 33. 37. 69. 97 116: 129.161. 221. 224. 225.252. 296. 340. 385. 395. 508. 524. 545. 565. 621. 769. 833. 881.. 907. Blütenbiologie 129 161. 193. 481. Bohrmechanismus 732. Blut 697. Blutkörperchen 697. Blutstäubehen 701. Bogengangsapparat 678. Branchipus 204. i Brachythecium velutinum 730. Bradypodicole hahneli Spuler 690. Bruein 874. Bufo vulgaris 633. ©: Cachexie pachydermique 755. strumipriva ID). Campanula uniflora 174. Cardamine pratensis 481. Cardiocondyla 627. Carnegie-Institution 791. Catalogue international of seientifie Lite- rature 254. Catocala 116. Ceratodon purpureus 728. Chasmogamie 130. 164. Chemie, physikalische 753. Chemie physiologische 824. Chitin 630. ‘ Chromosomen 402. 622. 834. Circetus 334. Cocain 878. Coleopteren 180. Coniin 888. Alphabetisches Sachregister. Contrastfärbung 116. Convoluta roscoffensis Graff 24. Coronella austriaca 859. Craniologie 98. D. Darm 199. Darmkatarrh 449. Defektrassen 422. Degeneration 317. Deszendenzlehre 3. 97. 282. 304. 576 881. Determination 347. Determinationsfaktoren 343. Deutsches Reich 828. Dianthus prolifer 667. Dickenwachstum, exzentrisches 257. Digitalis purpurea 672. 725. Dihybride 327. Dinarda 565. Disposition 448. 534. Doppelbildungen 364. Dorylinengäste 571. © E. Ei 744. Eiablage 218. Eibildung 495. Eisenresorption 75l. Eiweiss 255. 370. 430. Elattocephalie 285. Elektion 748. Elektrizität 159. Elektrophysiologie 641. Energie, vitale 88. Entamoeba coli 48. Entwickelungserregung, 744. Entwickelungshemmung 69. Entwickelungsmechanik 18. 26. 33. 225. 257. 296. 340. 489.580. 744. 769. 838. Epinastie 263. 268. Epoecus 628. Eiquisetum arvense 624. Ergatül 525. Erkenntnistheorie 76. 95. 223. Ernährung. Wirkung auf das Dicken- wachstum 265. Ernährungsdifferenzen, Wirkung auf das Dickenwachstum 262. Erodium gruinale 732. \ Erregung 146. Eryobotrya japonica 614. Erythrozyten 705. Eserin 891. F. Fadenbildung im Hühnerblut 705, im Säugetierblut 712. Fähigkeiten, elektive der Resorptions- organe 748. 921 Faltung der Zellwände 725. Farbenwechsel 863. 888. Färbung der Fische 272. Färbung der Kokons von Seidenraupen 321. Färbung der Schmetterlinge 116. 180. 580. Faunistik 466. Federn der Vögel 189. Fermentverdauung 434. Fettsucht 450. Feuchtigkeit, Wirkung auf das Dicken- wachstum 261. Fibrin 709. Finalität 7. Fische 272. 640. 831. Fischerei 831. Fixieren 680. Flacherie 451. Flexuation 38. 65. 97. Fliegen 633. 683. Floristik 466. Flügel, Bedeutung der, bei den Ameisen- weibcehen 628. Fluktuation 557. Formica rufa 219. Formica sanguinea 210. Formieidae 210. 565. 624. 801. Formicoxenus nitidulus 627. Fortbewegungsapparate, chitinöse bei In- sektenlarven 630. Fortpflanzung 27. 46. 427. 489. Fritillaria imperialis 623. Frosch 685. 863. 888. f Frühsymptome der Raupenkrankheiten 448. 534. Füllung von Blüten 481. Funktionswechsel 9. &. Gährung 238. Gastropoden 124. 143. 751. 858. Gattina 450. Gelbsucht 450. Generatül 525. Geotaxis 24. Gerinnung des Blutes 709. Geschlechtsentwickelung 489. Getreidearten 386. Gleichgewichtszustand des Organismus 18. 33 Granula freie im Blut 701. Grasserie 450. Grönland 256. Gymnophiona TV. Gymnotus 646. H. Hanıster 334. Hämocyanin 751. 922 Harnstoff 708. Hartford Trinity College 63. Halbbildungen 351. Helix pomatia 751. 858. Hefe 255. Helianthus anmuus 673. Hermaphroditismus_ 66. Himmelsrichtung, Wirkung auf das Dickenwachstum 263. Histogenese 641. Histologie 640. Hochzeitskleid 907. Hodenbläschen 497. Hohlgebilde 806. Hühnerblut 697. Hybride 289. 321. 395. Hydra fusca 489. Hydrobiologie 62. 63. 223. 249. 318. 463. 831. Hydromechanik 806. Hygiene 828. Hygrochasie 736. Hyponastie 258. 267. 508. 545. 609 8831. I. Ich S0. Ideenlehre Platos 848. Infantilismus 317. Infusorien 46. Ingen-Housz 220. Insekten 180. 630. 683. Isomakrogamie 50. J. Johannisbeere 614. K. Käfer 180. Kalksucht 449. Karyogamie 46. Keimsubstanz 778. 833. Keimzellen 289. Kernteilung 46. Kleistanthie 163. Kleistogamie 129. 161. 193. Kleistopetalie 163. Knospung 489. Kohäsionsmechanismen 657. 671. 721. Kohäsionszug 671. 723. Kohlehydrate 440. Kokon 321. 33 Konjugation 46. 194. 840. Kontinuität günstiger Varianten 244. Kopulation 47. 427. Kopulationsorgan 5. 427. Körperchenkrankheit 450. Kreuzungen 289 321. 414. 545. 609. 884. Kropf 754. Alphabetisches Sachregister. Krümmungen 258, hygroskopische 661. Kryptomerie 410. Kultureinfluss 109. Kulturpflanzen 356. 609. 882. Kurare 892. 4 RL. Laboratorium, botanisches 791. Labyrinth 678 Längsdruck, Wirkung auf das Dicken- wachstum 259. 265. Laphria 683. Larven Bewegungsapparat 630. Larvenzeichnung 326. Lasius niger 216. Laubmoose 727. Leben, Entstehung der Lebewesen 302. 340. 780. Lepidopteren 116. 184. 208. 580. 690. Leukophoren 870. Lichteinfluss auf die Assimilation 234. Lichtentwickelung. bei Pflanzen 64. Lilium candidum 723. Limnobiologie 62. 223. 249. 318. 463. 831. Linaria vulgaris 666. Lipoide 753. Literatur, wissenschaftliche 254. Lokomotion 126. 630. Lomechusini 568. Loquat 614. Lueilia 633. Lunz 463. Lycosa pullata Ol. 5. Lycosa riparia ©. L. Koch 5. Lyeosidae 4. M. Makrosporangien 737. Malopterurus 645. Mechanik 192.. Melanophoren 865. 888. Membrana basilaris 600. Membranbildung 744. Mensch, Phototropismus 687. Menschheit, Zukunft der 37. 65. 97; Deszendenz des Menschen 282. 304. Merogonie 358. Metaphysik 76. 9. Metereologie 192. Methan, Oxydation 190. Metopismus 75. Mikrobiologie 190. 255. Mikrocephalie 285. a Mikroorganismen 190. 255. Mimikry 116. 272. | Mittersee 470. Mnium punctatum 675. | Molluskensperma 744. | Mörmyriden 646. Alphabetisches Sachregister. Morphin 897. ' Muscardine 449. Muskelfasern 641. Muskelphysiologie, allgemeine 126. Mutationstheorie 7. 37. 65. 97. 129. 161. 193. 244. 334. 385. 518. 545. 881. Mytilus 744. Myxödem 755. N. Nachkommenschaft von Mischrassen 325. Nanocephalie 285. Naturwissenschaft, allgemeine 252. Neu Guinea 284. Nikotin 898. Noctiluca 48. Obersee 470. Ohr 600. Ophidier 859. Opilio 858. Optimumkurve 226. Organ, cortisches 600. Organ elektrisches 640. Orthotrichum diaphanum 727. P. Panmixis 783. 833. Papagei 600. Papilio podalirius 580. Papilionaceenhülsen 734. Parasitismus 633. 690. Parthenogenesis 26. 357. 838. Pathologie 448. 534. 754. Pathologie, experimentelle 249. 754. Pebrine 450. Pedalganglion 126. 143. Pelargonium 667. Peptide 378. 430. Peristom 727. Pflanzenanatomie 257. 657. 72}. Pflanzenphysiologie 64. 129. 160. 193, 225. 257. 385. 481. 657. 721. 881. Pharmakologie 249. Phototaxis 24. Phototropismus der Tiere 677. Phylogenese 304. Plankton 62. 63. 223. 249. 467. Planorbis S60. Platonismus 848. Plasmolyse 855. Physik 159. 192. 806. Physiologie, Praktikum für Mediziner 287; Handbuch der, des Menschen 879; Lehrbuch der, des Menschen 910. Pigmentzellen S63. 888. Polygordius 199. Polymorphismus 624. Polypeptide 378. 430. 923 Polypodium vulgare 673. Ponera 625. Porenlage 667. Postgeneration 361. Prävalenzregel 398. Prinzipialkoordination 81. Probiologie 303. 340. 780. Proteine 370. 430. Protoplasmabewegung 239. Pseudokleistogamie 178. 193. Psychologie 76. 9. Psychophysik 70. 95. Puppenentwickelung 580. Pygmäen 282. 304. Pygostenini 571. Q@. Quellen 677. Quellungsfähigkeit 661. Quitte, japanische 614. R. Raja 641. Rana 685. 863. 888. Raupenkrankheiten 448. 534. Reaktionsgeschwindigkeit im Organismus 225. Realisationsfaktoren 343. Reduktion von Organen 41. Regeneration 361. 367. Resonanztheorie, Helmholtzsche 600. Resorptionsorgane 748. Rheotropismus 679. Ribes sangwineum 614. Rindendruck, Wirkung auf das Dicken- wachstum 262. 263. 264. S. Saccoeirrus 199. Samenkapsel 661. Säugetierblut 703. Saugmechanismus 741. Schädellehre 98. 285. Schichtlinien 666. Schilddrüse 754. Schillerfarben 180. Schlaffsucht 451. Schlangen 859. Schleudermechanismus 734. Schlundtasche 201. Schmarotzer 633. Schmetterlinge 116. 184. 208. 580. 690. Schnecken 124. 143. 751. 858. Schrumpfungsachsen 662. Schrumpfungsmechanismen 657. 721. Schuppen der Käfer 184. Schuppen der Schmetterlinge 184. 580. Schuppenformen, Veränderung b. Schmet- terlingen 580. 924 Schuppenhaare 741. Schutzfärbung 116. 272. Schwänze der Lepidopteren 208. Schwerkraft, Wirkung auf das Dicken- wachstum 258. Schwermetalle 751. Seeigeleier 744. Seidenraupe 321. 448. Sekretion, innere 754. 909. Selaginella 737. Selbstdifferenzierung 349. Selbstregulation 360. Selektion 3. 15. 37. 65. 97. 244, 272. 385. 545. 609. 833. 907. Sinn, statischer 678. Siredon pisciformis 861. Skelett des tierischen Spermiums S54. Soziologie 102. Solenopsis fugax 218. Spaltungsregel 398. 882. Sperma 744. Spermien 427. 854. Spinnen 4. Stationen, Biologische 62. 63. 463. 831; botanische 791.. Stellaria 172. Stipa capillata 732. Stirnbein 75. Stoffwechsel 441. 765. Streifenlage 667. Streifenzüge 666. Strongylocentrotus purpuratus 744. Struma 754. Strychnin 902. 256. 318. Süßwasserforschungsstation 62. 318. 463. Symmixis 397. T. Taraxacum offeinale 725. Teleologie 7. 267. 366. Temperatureinfluss aufdas Wachstum 225. Termitengäste 565. Tetania strumipriva 60. Thyraden 763. Thyreoidea 754. Tillandsia 741. Tod 785. Tonus 126. 143. Torpedo 641. Tragopogon pratense 726. Tropismen 679. Turbellarien 24. 858. Typhus 828. U. Ultramikroskop 697. Unterricht 249. Untersee 466. Alphabetisches Sachregister. V. Variation 15. 37. 65. 97. 129. 244. 334. 395. 508. 545. 609. 769. 833. 881. Veratrin 905. Verdauung 434. Vererbung 109. 289. 321. 358. 395. 508. 524. 545. 621. 769. 833. Vergnügung 771. Vermes 199. Veronica serpyllifolia 736. Vieia 167. Vitalismus 88. 221. 366. Vögel 180. 600. Vorderdarm des Polygordius und des Saccocirrus 199. Ww. Wachstum 225. 350. 504. Wandspannung 806. Warren Triennial Prize 880. Washington 791. Wasserabgabe 671. Wasserstoff, Oxydation 190. Wasserzufuhr 674. Weltbild der modernen Naturwissenschaft 252. Wind, Wirkung auf das Dickenwachstum 264. Würmer 199. Wüstenlaboratorium, botanisches 791. X. Xerochasie 736. 2. Zähmung einer Formica rufa 219. Zelle 252. Zellenwachstum, zytotypisches 504; orga- notypisches 504. Zellwand 725. Zentralnervensystem 124. 143. Zentrifugalkraft, Wirkungen auf das Dickenwachstum 264. Zerknitterung 673. Zeugung, geschlechtliche 769. 833. Zielstrebigkeit 7. 267. 366. Zuchtwahl 3. 15. 37. 65. 97. 244. 272. 385. 545. 609. 769. 833. 907; physio- logische 3. Zweckmäßigkeit 7. 267. 366. Zwergvölker 283. 304. Zwergwuchs 282. 304. ‘ ; « A ‘ er f ee PT a r ” » f Ho Ba SE ur ’ 5 [ \ x j A [ PR m f Ne Re , d ren, + ! B { r e h \ . ” 4 [ ir “ f . .- zu f ie h } [2 5 M - + {u y “ Drahhs = . { N I & I j Li . » ' i bar 4 P ” Y i w f f u ‘ 1 } sr f Kal u ’ ir, \ \ nn f h 5 5 nn Auf =; > 2 ar “ I ı L h ® a r ‚ j “ h H u Y h ; A j Y h a, 5 Le ” » Se T N nr f j \ 4 s ' N 2 e N ' ’ v | # ı - ‚ t i IR a J ! 1 ‚ P h L % Y " i * ' \ \ e \ nn 4 e; F - \ * ‘ A ? 4 ı ' [4 * x B h a ’ » {1 f ir ' { % ‘ = . a r . . PL = > bu i 4” = : nd ae x » ’ ee - E = r x 2 - . . e = > ER. > = % “ - - I ir Pe . = 5 Ei ä E, - A 1 2 E - =" k = Be >. - nn ®. = = - > > E “ h E EI er n 23 A 5 : “ en 5 nr 5 > £ r - Au Es er & En . . z j -_ % Rn. = . en 2 - = R. j j > 2 2 ae 3 u gi h j ni Tr > : ö B ö E ’ - . rn = 4 w > - e e_ 3 . FR 3 2 * z ü 5 = Pa - zer . # A \ j R i = S = . Meer TE { N ee ren nee et RTBUEES-SORAEREE-DERSAEER SER; j j u n - wi te a eb ce ware nn ee ee nn Sure u a en Die ra ne van nl en Re. r - , 3 i - nn nn ne na TR 2 72 rt a ” a