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Bismards Erbe

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Hans Delbrüd

Verlag Ullſtein & Co, Berlin / Wien

as Erbe Bismarcks das iſt das Werk Bismarcks

unter dem Geſichtspunkt ſeiner Fortführung. Man kann ein Werk nicht fortführen, ohne es zu kennen. Ich will Bismarcks Werk alſo unterſuchen, beſchreiben und darſtellen, aber nicht wie es etwa die Aufgabe eines Biographen iſt, oder die eines Hiſto⸗ rikers der unter Bismarcks Führung ſtehenden Ge⸗ ſchichtsperiode, ſondern unter dem Geſichtspunkt, inwiefern dieſe Periode die Vorſtufe bildet für die nächſtfolgende, die unſerige. Denn die Weltge⸗ ſchichte ſteht nicht ſtill; jedes Ereignis hat ſeine Folgen, die bald früher, bald ſpäter hervortreten, und nur mit einer gewiſſen Willkür ſetzen wir an dem Ufer des ununterbrochen dahinrauſchenden Stromes Merkzeichen, mehr um uns an ihnen zu orientieren, als daß die Abſchnitte wirklich ſcharf doneinander geſchieden wären. Damit eine hiſto⸗

riſche Darſtellung befriedige, wird fie den Ab⸗ ſchnitt, den ſie behandelt, möglichſt als etwas in ſich Abgeſchloſſenes betrachten und nur mit mehr oder weniger angedeuteten Ausblicken über die ſelbſtgewählten Grenzen hinausführen. Was ich mir hier vorgenommen habe, ſoll gerade die Be⸗ ſchäftigung mit dieſen Ausblicken ſein, für die uns das Werk Bismarcks das Piedeſtal gibt, man kann auch ſagen, die Anlage, die durch ihre eigenen inneren Konſequenzen über ſich ſelbſt hinausgetrieben wird. Wir gehen zu dieſem Zweck auf die Kämpfe zurück, die Bismarck durchzufechten gehabt hat, um an den Widerſtänden, die ihm geleiſtet wurden, nicht nur die Größe ſeiner Taten zu ermeſſen, ſondern auch erkennen zu laſſen, wie dieſe Zeit mit ihren Gegen⸗ ſätzen erſt überwunden ſein mußte, ehe die neue Zeit, die unſere, das Erbe im wahren Sinne, das heißt durch Aufpfropfung neuer ſchöpferiſcher Ge⸗ danken antreten konnte.

Bismarcks Werk iſt die Erfüllung der deutſchen Sehnſucht, die Herſtellung des deutſchen National- ſtaats vermöge der militäriſch⸗politiſchen Kraft des Preußiſchen Staats, die Verſchmelzung des preußiſchen Gedankens mit dem deutſchen.

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Preußen ſelber aber ebenſo wie Deutſchland war nichts Einheitliches.

Preußen war ein aus ſehr verſchiedenen, ja ent⸗ gegengeſetzten Elementen zuſammengeſchweißtes Gebilde, während der deutſche Nationalgedanke trotz derſelben Sehnſucht doch für ſeine Verwirk⸗ lichung nach den allerverſchiedenſten Richtungen auseinanderſtrebte. Der Grundſtock des Preußi⸗ ſchen Staates iſt der Staat Friedrich Wilhelms J. und der Ruhm Friedrichs des Großen, abſolutiſtiſch mit feudalem Einſchlag, dem durch den Aufruf „An mein Volk“, die allgemeine Wehrpflicht und die Freiheitskriege Gedanken zugeführt waren, die zur Demokratie und zum freien Volksſtaat hin⸗ leiteten. Die innere Geſchichte Preußens ſeit 1807 iſt durch den Kampf zwiſchen dieſen entgegen⸗ geſetzten Elementen in mannigfachen Abſchattie⸗ rungen ausgefüllt. Der deutſche Gedanke wiederum ſuchte ſich zu geſtalten bald in republikaniſchen Idea⸗ len, bald in romantiſchen, die den Anſchluß an Oſterreich ſuchten, bald ſuchte er Zuflucht eben bei Preußen, und begegnete ſich da mit Ten⸗ denzen, die in Preußen ſelber bereits lebendig waren.

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Seit 1848 war der Gedanke, den deutſchen Na⸗ tionalſtaat unter der Führung Preußens Fleiſch werden zu laſſen, lebendig und weit verbreitet. Die Aufgabe lag in der Durchführung, dieſe aber erforderte einen Heros, nicht nur, weil die wider⸗ ſtrebenden Kräfte außerordentlich ſtark waren, ſondern auch namentlich, weil die Elemente ſelber, die berufen waren, ſich zu dem neuen Organismus zuſammenzufinden, untereinander widerſtrebten und ſich nicht zuſammenfügen laſſen wollten.

Der Verſuch, den das Frankfurter Parlament im Jahre 1849 machte, ein Deutſches Reich mit preußiſcher Spitze zu ſchaffen, mißglückte. Man hat dieſem Parlament vorgeworfen, daß es ſich von Doktrinen habe leiten laſſen und nicht realpoli⸗ tiſch gedacht habe. Soweit dieſer Vorwurf berech⸗ tigt iſt, wird er jedenfalls ſehr gemildert durch die Erſcheinung, daß auf dem entgegengeſetzten Ende, da, wo man am allermeiſten verpflichtet geweſen wäre, Realpolitik zu treiben, nämlich in Preußen, noch viel weniger davon zu finden war. Ver⸗ gleicht man, ſo iſt das Profeſſorenparlament in Frankfurt ohne Zweifel ſehr viel klarer, zielſtre⸗ biger und ſtaatsmänniſcher geweſen als König

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Friedrich Wilhelm IV. Jenes Parlament verkannte in ſeiner Majorität durchaus nicht ganz die Be⸗ deutung des Preußiſchen Staates und der Preußi⸗ ſchen Krone und ſuchte unter möglichſter Aus⸗ ſchaltung der abſtrakten Theorien über Volksſouve⸗ ränität und Legitimität den König von Preußen für die deutſche Kaiſerkrone zu gewinnen. Dieſer ſelbſt hatte zwar, was ihm niemand ſtreitig machen kann, ein deutſches oder, wie er es ſelbſt ſchrieb, ein teutſches Herz, gelangte aber nie zu einer klaren Vorſtellung von der Miſſion ſeines Königtums für Deutſchland. Kein Wunder daher, daß das Frank⸗ furter Parlament die Bedeutung des preußiſchen Königtums wohl erkannte, aber doch, wie die Folge gezeigt hat, nicht hoch genug einſchätzte. Liegt hier der eine Fehler, den man der ehrenwerten Ver⸗ ſammlung machen darf, ſo liegt der andere auf der entgegengeſetzten Seite, daß man die Macht und Berechtigung der demokratiſchen Tendenz in unſerer Zeit nur unwillig und ungenügend aner⸗ kannte. Am liebſten hätte man ein Staatsweſen geſchaffen, in dem der Mittelſtand ein parlamenta⸗ riſches Regiment führte, auf der einen Seite dem preußiſchen König zwar als Kaiſer eine gewiſſe

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Stellung gab, den Preußiſchen Staat als ſolchen aber möglichſt unterdrückte, auf der anderen die breiten Volksmaſſen möglichſt von der Teilnahme an der Regierung fernhielt. Unter dem Geſichts⸗ punkt des ſpäter Gewordenen ſcheinen dieſe beiden Fehler allerdings fundamental; trotzdem reichen ſie nicht aus, die Arbeit dieſes Parlaments im ganzen zu verdammen: die Hauptſachen, die preußiſche Spitze, das Erbkaiſertum, die Erhaltung der Einzel⸗ ſtaaten, der Ausſchluß Oſterreichs aus dem Reich, aber ein dauerndes deutſch⸗öſterreichiſches Bünd⸗ nis ſind doch ſchon damals richtig erkannt und er⸗ ſtrebt worden. Daß ſchließlich nichts erreicht wurde, daß man zu dem elenden alten Bundestag noch auf ein halbes Menſchenalter zurückkehren mußte, lag nicht an den Fehlern jener Verfaſſung, ſondern an dem Mangel eines wirklichen Staatsmannes in Berlin und noch mehr an der internationalen europäiſchen Konſtellation, der Feindſeligkeit, mit der neben Oſterreich auch Rußland, England und Frankreich die deutſchen Beſtrebungen be⸗ trachteten und einen Widerſpruch ankündigten, den zu beſtehen man vielleicht nicht ſtark genug geweſen wäre.

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Als Mann zwiſchen dreißig und vierzig hat Bis⸗ marck an dieſen Kämpfen teilgenommen und die verſchiedenen Kräfte und Beſtrebungen, mit denen er ſich auseinanderzuſetzen, mit denen er zu ar⸗ beiten hatte, kennen gelernt.

Als den feſten Punkt, an dem die Revolution von 1848 geſcheitert war, wenn es auch ſelber noch keine bewußte Politik zu machen verſtand, hat er das preußiſche Königtum erkannt. Den König, den Kriegsherrn der Armee für ſeine Ideen zu ge⸗ winnen, darauf kam es an. Nie wird man Bis⸗ marcks Politik richtig verſtehen, wenn man nicht die Orientierung nach der Perſönlichkeit und dem Charakter König Wilhelms in allererſter Linie ins Auge faßt.

Man hat mir viele gute Eigenſchaften nachge⸗ rühmt, hat Bismarck einmal mit feiner Selbſtironie von ſich geſagt, aber eine hat man ſtets vergeſſen: daß ich ein Hofmann bin.

Der König war gleich im Beginn ſeiner Regierung in einen Konflikt mit dem Abgeordnetenhaus wegen der Reorganiſation der Armee mit der dreijährigen Dienſtzeit geraten. Nachdem nunmehr der Reichs⸗ kanzler Caprivi die zweijährige Dienſtzeit zuge⸗

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ſtanden und dieſe ſich in dem jetzigen Kriege ſo glän- zend bewährt hat, könnte man meinen, daß es nichts als das Vorurteil des ganz im Soldatiſchen aufge⸗ henden Königs geweſen ſei, das den Konflikt ver⸗ ſchuldete, und daß man ſchon damals ebenſogut zu einem friedlichen Ausgleich hätte kommen können, wie dreißig Jahre ſpäter. Aber das wäre eine unrichtige Auffaſſung, wie ſchon die einfache Er⸗ innerung zeigt, daß es auch dem Reichskanzler Caprivi keineswegs leicht geworden iſt, dieſe Reform durchzuſetzen, und daß es im weſentlichen dieſelben Elemente waren, die ihm im Reichs⸗ tag dabei Oppoſition machten wie diejenigen, die ſich der Reorganiſation von 1860 widerſetzten. Caprivi mußte den Reichstag erſt auflöſen und ver⸗ mochte auch dann ſeine Vorlage nur mit ganz ge⸗ ringer Majorität mit Hilfe der polniſchen Stimmen durchzuſetzen, die er durch ſeine geſchickte Taktik zu gewinnen wußte. Die deutſch⸗freiſinnige Partei aber unter Führung Eugen Richters widerſprach, weil die zweijährige Dienſtzeit nicht, wie man ge⸗ hofft hatte, eine Erſparung, ſondern ſogar wegen der damit verbundenen verſtärkten Aushebung und des intenſiveren Dienſtbetriebes eine Erhöhung

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der Koſten brachte. Es laſſen ſich auch wohl innere Gründe dafür anführen, die es 1860 ratſam er⸗ ſcheinen ließen, daß Preußen die dreijährige Dienſt⸗ zeit beibehielt, während das Deutſche Reich ſie nach ſeiner vollſtändigen Konſolidierung fallen laſſen konnte. Aber wie dem auch ſei, ſelbſt wenn man annehmen will, daß König Wilhelm auf dieſem Punkt ſehr wohl hätte nachgeben können, um den Verfaſſungskonflikt wäre man doch nicht herum⸗ gekommen, da in dem damaligen Liberalismus noch durchaus die Vorſtellungen des engliſchen Par⸗ lamentarismus lebten, dem König Wilhelm und das ganze Altpreußentum unter keinen Umſtänden ſich zu unterwerfen entſchloſſen waren. Daß der Kampf ſich gerade um die dreijährige Dienſtzeit entzündete, war ein mehr zufälliges Moment; dem Miniſterpräſidenten von Bismarck ſelbſt lag daran wenig; er hätte ſich auch mit zwei Jahren, verſtärkt durch eine Anzahl Kapitulanten, begnügt, aber auch für eine zehnjährige Dienſtzeit, ſchrieb er ſpäter, wäre er eingetreten, wenn der König ſie gewollt hätte, denn dies war ihm das entſcheidende Mittel für die Durchſetzung ſeiner Politik. Indem er den Kampf an dieſer Stelle aufnahm, verband

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er ſich nicht nur aufs allerengſte den König ſelbſt, ſondern hatte auch die ſtärkſte Potenz in Preußen, den Geiſt der Armee, das Offizierkorps hinter ſich. Welche Wege er auch in der Politik einſchlug, auf dieſem Boden ſtand er ſo feſt, daß er nicht ſo leicht zu verdrängen oder zu ſtürzen war, ſelbſt wenn er noch ſo viel Unzufriedenheit erregte und der König ſelbſt in Zweifel und Bedenken geriet. Daß das aber geſchehen würde, darüber kann ſich Bismarck von Anfang an keiner Täuſchung hin⸗ gegeben haben. Nur ſehr ungern hatte der König ihn überhaupt berufen; die Bismarckſchen Ideen erſchienen ihm zu extravagant und gefährlich. Er berief ihn endlich auf den Rat des Kriegsminiſters von Roon, als der Verfaſſungskonflikt auf einen Punkt gediehen war, der nur noch Abdankung oder Unterwerfung übrigzulaſſen ſchien, und Roon erklärte, daß Bismarck der Mann und der einzige Mann ſei, der die Fähigkeit habe, den Kampf fort⸗ zuführen. Roon ſelber war eine ſtarke und be⸗ deutende Perſönlichkeit und hat um die preußiſche Armee und um den Preußiſchen Staat unvergeß⸗ liche Verdienſte, aber ein weitblickender Staats⸗ mann war er keineswegs. Ihm gebührt der Ruhm,

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Bismarck an die entſcheidende welthiſtoriſche Stelle gebracht zu haben, aber auch er ſah in ihm nur den Mann, der die Reorganiſation der Armee politiſch durchzukämpfen hatte. Die weiteren politiſchen Ideen des neuen Miniſters waren ihm fremd und unſympathiſch. Als Bismarck in der erſten Sitzung der Budgetkommiſſion des Abgeordnetenhauſes einige Andeutungen über ſeine politiſchen Ziele und Hoffnungen machte, da brummte auch Roon beim Nachhauſegehen ſchon etwas von „geiſtreichen Exkurſen“, „die der konſervativen Sache nur Schaden brächten“, und nun gar die Abgeordneten wußten ſchlechterdings nicht, was ſie von dem neuen Miniſterpräſidenten und ſeinen wunder⸗ ſamen Redewendungen halten ſollten. Was half es Bismarck da, daß er ihnen ſymboliſch andeutete, daß er den Frieden mit ihnen wolle, indem er ihnen einen Olzweig, den er aus Frankreich mitge⸗ bracht habe, hinlegte, und ſie mit der äußerſten Höf⸗ lichkeit behandelte ſie verſtanden ihn eben nicht, oder aber, wie der treffliche ſpätere Reichstagspräſi⸗ dent Simſon ſagte, wenn ſie ſich ſeiner Führung an⸗ vertrauen wollten, ſo würden ſie Offiziere ohne Sol⸗ daten ſein, denn das Volk würde ihnen nicht folgen.

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Nur auf den König geſtützt und mit Hilfe des Königs konnte der Miniſter ſeine Politik machen. Wie war das aber wieder möglich, da der König ſeinerſeits durchaus nicht das wollte, ja es verab⸗ ſcheute, in jeder Beziehung verabſcheute, was der Miniſter wollte? Jeder gemeine Sterbliche hätte bei dieſer Sachlage an dem Gelingen verzwei⸗ felt. Bismarck nicht; frohgemut und völlig ſicher über das Ziel wie über die Methode ging er an die Arbeit. |

Bei der erſten großen Unterredung auf dem Spaziergang im Park von Babelsberg am 22. Sep⸗ tember 1862 hatte der König den Minifter feſtlegen wollen, indem er ihm ein Programm vorlegte, auf das er ſich verpflichten ſollte. Bismarck wies das ab als unnötig. Er werde die Regierung führen nach dem Befehl des Königs; ſollte er anderer Meinung ſein als ſein Herr, ſo werde er das ſo pflichtſchuldigſt wie freimütig ausſprechen, ſich aber, wenn er den König nicht überzeugen könne, unterwerfen; denn in Preußen regiere der König.

Sich beim König feſtzuſetzen, nahm Bismarck den Kampf mit dem Abgeordnetenhaus nicht nur auf, ſondern verſchärfte ihn noch. An die Stelle

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der urſprünglichen Höflichkeit trat abſichtliche Brüskierung und Herausforderung, wie z. B. daß er auf ſeinen Platz am Regierungstiſch trat, indem er eine große Rauchwolke von der Zigarre, die er in dem hinterliegenden Miniſterzimmer geraucht hatte, vor ſich herblies. Wer waren die Männer, denen er bald in dieſer ſpöttiſchen Weiſe ſeine Mißachtung kundgab, bald mit den ſchärfſten, auch perſönlich verletzenden Worten, feindſelig entgegentrat? Es waren die Tweſten, Forckenbeck, Gneiſt, Sybel, Unruh, Simſon, dieſelben, von denen er wußte und erſehnte, daß ſie einmal ſeine Freunde und Bundesge⸗ noſſen werden ſollten. Er hatte es ihnen ja ſchon kundgetan weshalb dieſe Veränderung des Tons? Weil er wußte, daß er zunächſt mit ihnen doch noch nichts machen könnte, ſich aber auf der anderen Seite um ſo mehr ſicherte. Welche innere Sicherheit, welch ein Glaube an ſeinen Erfolg gehörte dazu, in dieſer Art ſozuſagen mit den Menſchen zu ſpielen und darauf zu vertrauen, daß ſie ſich unter den Ereigniſſen, wie er ſie herbei⸗ zuführen dachte, wandeln würden!

Nicht bloß in Preußen, auch im übrigen Deutſch⸗

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land ſchien Bismarck durch den Kampf mit dem Abgeordnetenhaus, der ſich bis zum Verfaſſungs⸗ konflikt und dem Vorwurf des Verfaſſungsbruchs ſteigerte, ſeinem Ziel direkt entgegenzuarbeiten, die Erlangung unmöglich zu machen. Was er wollte, war die Überführung der preußiſchen Poli⸗ tik in die deutſche, die Einigung Deutſchlands unter der Führung Preußens. Für dieſes Ziel gab es auch außer Preußen eine erhebliche Partei, die⸗ ſelbe, die im Frankfurter Parlament ſchließlich ſogar die Majorität erlangt und Friedrich Wil⸗ helm IV. die Kaiſerkrone angeboten hatte. Auch nach Zuſammenbruch ihrer Hoffnungen, auch in der ſchrecklichen Reaktionsperiode bis 1858 war ſie nicht erſtorben, ſondern hatte ſich 1859 im National⸗ verein unter dem Hannoveraner Rudolf v. Ben⸗ nigſen eine kräftige Organiſation gegeben und wollte nun faſt verzweifeln, daß Preußen durch ſeine innere Politik das moraliſche Anſehen, das es im übrigen Deutſchland beſaß, mutwillig zerſtörte und das Arbeiten zu ſeinen Gunſten ſelber ver⸗ hinderte und unmöglich machte.

Alles das wurde mit realpolitiſchem Blick ge⸗ opfert, um das eine Unentbehrliche in die Hand zu

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bekommen, die Gunſt des Königs und die Kraft der preußiſchen Armee. .

Denn, wie Bismarck auch ſchon in jener denk⸗ würdigen Kommiſſionsſitzung des Abgeordneten⸗ hauſes hatte fallen laſſen, die deutſche Frage war nur zu löſen durch Blut und Eiſen, durch einen Krieg. Zwar in der Sehnſucht nach einem Deutſchen Reich, an Stelle des Deutſchen Bundestages, darin war ſich das deutſche Volk ſo ziemlich einig, ſoweit es überhaupt politiſch dachte und ſich ein poli⸗ tiſches Ziel ſetzte, aber in welcher Art und auf welchem Wege dieſes Ziel zu erreichen ſei, darüber ſtanden ſich die Auffaſſungen und Wünſche dia⸗ metral gegenüber. Der Brennpunkt aller gegen⸗ einander ſtrebenden Willeleien aber war das Ver⸗ hältnis zu Oſterreich: ſollte dieſer Staat, der mit ſeiner deutſchſlawiſchen Hälfte dem deutſchen Bunde angehörte, auch dem zukünftigen deutſchen Reichsorganismus angehören oder nicht? Schon das Frankfurter Parlament hatte darauf die theoretiſch richtige Antwort gegeben, die da hieß: Ausſcheiden aus dem Reich, aber internationales, dauerndes Bündnis aber Oſterreich ſelber wider⸗ ſprach, und zur Löſung konnte man daher nur

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gelangen, wenn man entſchloſſen war, es auch auf einen Krieg deshalb ankommen zu laſſen.

Bismarck faßt ihn von Anfang an ins Auge, nicht gerade als ein unmittelbares Ziel denn was mochte an unberechenbaren Zwiſchenfällen ſich noch dazwiſchen legen? Was konnten ſich noch für Übergangsſtufen auf dem Wege zeigen, auf denen ausgeruht werden mußte? Gerade der praktiſche Staatsmann iſt am wenigſten ein Pro⸗ phet. Aber indem er vorwärts ging, rechnete er fortwährend mit der Möglichkeit des Krieges und ſcheute ſie nicht. Nur allmählich, Schritt für Schritt kam er vorwärts. Der Zufall, daß König Fried⸗ rich VII. von Dänemark ſtarb (15. November 1863) und damit die Schleswig⸗Holſteinſche Erbfrage auf⸗ ging, hielt ihn auf, ſchaffte ihm aber mittelbar ge⸗ rade das, was er wünſchte, den poſitiven Streit⸗ gegenſtand mit Habsburg. Wie er die Liberalen in Deutſchland vor den Kopf ſtieß, die er doch als die zukünftigen Freunde in Ausſicht nahm, ſo ſchloß er umgekehrt mit Oſterreich das Bündnis gegen Dänemark, um daraus die Gegnerſchaft zu entwickeln.

Aber je näher man dem Punkt kam, wo es Biegen

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oder Brechen galt, deſto ſchwerer bewegte fich der Wagen, deſto ungeheuerlicher erſchien das Unter⸗ nehmen. |

Preußen mit ſeinen 18 Millionen Einwohnern ſollte es mit Oſterreich aufnehmen, das allein doppelt ſoviel Seelen zählte, und dem die ſämt⸗ lichen deutſchen Mittelſtaaten, die ſich nicht unter die preußiſche Hegemonie beugen wollten, bei⸗ traten. Dabei war in Preußen ſelbſt tiefer Zwie⸗ ſpalt zwiſchen König und Volk wegen des Ver⸗ faſſungskonflikts. Der Landtag konnte um eine An⸗ leihe für dieſen Krieg nicht einmal angegangen werden. Zur Seite aber ſtand das lauernde Frankreich unter Napoleon III., der Erbfeind, der die Gelegenheit, daß die deutſchen Mächte ſich untereinander zerfleiſchten, ſich zunutze zu machen beſtrebt ſein mußte. Das ganze deutſche Volk wollte von dem Bruderkrieg nichts wiſſen; ſelbſt die preußiſche Armee ging nicht gern in ihn hinein. Der natürliche Feind war ihr doch der Franzoſe. Kaiſer Franz Joſeph ſchrieb an König Wilhelm einen Brief, worin er ihn an den Bund ſeines Vaters mit Kaiſer Franz und das treue Zuſammenhalten von 1813 erinnerte. Die Gemahlin des Königs,

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die Königin Auguſta ebenſo wie jein einziger Sohn und Erbe, der Kronprinz, beſtürmten ihn, von dem unſeligen Menſchen, dem Bismarck, und der Politik, die notwendig ins Verderben führen müſſe, zu laſſen. Die Bundesgenoſſen, die Bismarck für ſeine Politik zu gewinnen verſuchte, verſagten. Er bot Bayern als dem zweitgrößten Staat in dem zukünftigen Bunde eine ſehr bevorzugte Stellung Bayern ließ ſich auf nichts ein, ſondern blieb bei Oſterreich. Er zeigte dem deutſchen Volk, wo⸗ hin er es führen werde, indem er ein Bundes parla⸗ ment mit allgemeinem Wahlrecht vorſchlug (April 1866). Die Antwort gab ihm der Kladderadatſch, indem er ankündigte, er werde ſein Geſchäft als Witzblatt aufgeben; dieſer Konkurenz ſei er nicht gewachſen; das Miniſterium Bismarck appelliere an die deutſche Nation und wolle ſich aufs Volk ſtützen! Ebenſo tönte es aus Süddeutſchland: wenn der Teufel ins Weihwaſſer falle, mache er wunder⸗ liche Sprünge, aber poſſierlicher als dieſer Ver⸗ zweiflungsſprung des edlen Grafen Bismarck ſei nie etwas geweſen. Sogar Rudolf v. Bennigſen hatte kein Vertrauen und wies das Angebot, das ein Abgeſandter Bismarcks ihm machte, zurück:

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man glaube weder an den Ernſt ſeiner Vor⸗ ſchläge noch an ſeinen Ernſt zum Kriege; er könne den Krieg gar nicht führen, da er die öffentliche Meinung zu ſehr gegen ſich habe.

Es gelang Bismarck zwar, in dem Bündnis mit Italien die Ergänzung der phyſiſchen Kraft, ohne die Preußen den Kampf nicht beſtehen konnte, zu ſchaffen, aber Italien ſtand ganz unter dem Ein⸗ fluß Napoleons, war ſelbſt voller Mißtrauen, und es war ſehr fraglich, wie weit ihm zu trauen ſei. Wenn es nun im letzten Augenblick ſich von Oſter⸗ reich mit Venetien abfinden und Preußen allein ließ? Wie konnte Bismarck unter ſolchen Gefahren, gegen ſolche moraliſche Widerſtände hoffen, dem König den Entſchluß zum Kriege zu entreißen? Die ganze Politik beruhte ſchließlich auf Bismarcks Perſon, und gegen ihn hatte der Volkshaß einen ſolchen Grad erreicht, daß mitten in der Kriſis (7. Mai 1866) in Berlin Unter den Linden ein Attentat gegen ihn verſucht wurde, von dem ſchwer zu begreifen iſt, wie es mißglücken konnte; das Volk aber bedauerte nur, daß der große Böſewicht das Leben behalten habe.

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Nur ganz allmählich wurde die Mobilmachung und dann der Aufmarſch ins Werk geſetzt; mehr als ͤ Monate dauerte es von den erſten Maß⸗ regeln bis zum Kriegsbeginn, und mittlerweile wurden immer wieder neue Verhandlungen an⸗ geknüpft und neue Verſuche gemacht, den Soeben zu erhalten.

Wie es endlich zum Kriegsentſchluß gekommen iſt, darüber will ich hier eine Erzählung einfügen, von der ich glaube, daß ſie bisher nicht in die Offentlichkeit gekommen iſt. Graf Lehndorff, der damals als Rittmeiſter der Garde du Corps Flügel⸗ adjutant des Königs war, hat ſie einem Herrn erzählt, aus deſſen Munde wiederum ich ſie gehört habe. An einem Tage, erzählte Lehndorff, habe er den Dienſt gehabt und nacheinander Roon, Moltke und Bismarck beim König zu melden ge⸗ habt zum Vortrag über die zur Entſcheidung drän⸗ gende ſtrategiſche Lage. Zuerſt kam Roon (der ja der eigentliche Vertrauensmann des Königs war) und kam unverrichteter Dinge heraus. Dann kam Moltke und trug dem König vor, jetzt habe Preußen noch im Verhältnis von innerer und äußerer Linie den Vorteil, der aber in Nachteil umſchlagen müſſe,

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wenn man den Oſterreichern noch Zeit Yajje*). Der König antwortete, das habe alles keine Be⸗ deutung, da er den Krieg nicht wolle und Friede bleiben werde. |

Nun kam als dritter Bismarck. Nach einiger Zeit hörte Lehndorff, daß das Geſpräch ſo heftig und laut wurde, daß er Vorſorge traf, daß niemand weiter ins Vorzimmer käme und auch die Lakaien entfernte. Endlich kam Bismarck heraus, blieb eine ganze Zeitlang wie verſtört ſtehen und ſagte endlich: ‚Sehen Sie hinein und melden Sie mich noch einmal.“ Lehndorff ging hinein, kam aber wieder heraus mit dem Beſcheid, die Sache ſei ent⸗ ſchieden und der König wolle nicht weiter darüber ſprechen. Da packte Bismarck Lehndorff, der ſelber ein über ſechs Fuß großer, ſtarker Mann war, warf ihn beiſeite, riß die Tür auf und ging hinein. Von neuen erhob ſich drinnen die immer heftiger und lauter werdende Diskuſſion. In einer Art von Verzweiflung, was er tun ſolle, ſtand Lehn⸗

*) Ich gebe dieſen Satz ſo wieder, wie ich ihn gehört und gleich nach dem Geſpräch niedergeſchrieben habe. Ob er ganz dem entſpricht, was Moltke wirklich geſagt hat, und wie er dann zu interpretieren iſt, bleibe dahingeſtellt.

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dorff vor der Tür. Bismarck hatte ihm beim Herauskommen durch ſein verſtörtes Weſen den Eindruck gemacht, als ſei er verrückt geworden. Jetzt malte er ſich aus, wie der Wahnſinnige drin gegen den Herrn gewalttätig werde. Sollte er als getreuer Flügeladjutant, der doch den Lärm hörte, draußen untätig bleiben?

Plötzlich wurde die Tür aufgeriſſen, Bismarck ſtürzte heraus, warf ſich halbtot auf die im Vor⸗ zimmer ſtehende Couchette und ſagte: „Laſſen Sie mich möglichſt lebendig nach Hauſe RN: der Krieg iſt erklärt.“

Ehre dem König, der ſich dem deutſchen Bru⸗ derkrieg, dem Krieg gegen den Freund und Verbündeten, bis aufs äußerſte widerſetzte. Ehre aber auch dem Staatsmann, der die bittere Not⸗ wendigkeit als ſolche erkannt hatte und endlich durchriß.

Die Schlacht bei Königgrätz wurde geſchlagen, und am Abend ſagte Roon zu ſeinem Freunde: „Na Bismarck, diesmal hat der brave pommerſche Musketier Sie noch einmal herausgehauen.“

Die politiſche Arbeit aber fing für ihn darum erſt recht an.

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Der brave Musketier und die geniale Strategie

Moltkes hatten den Krieg gewonnen, aber ſie hätten ihn nicht gewinnen können, ohne die Reorganiſation der Armee von 1860, die der König mit Recht als ſein eigenſtes Werk anſah. Die Armee alſo und ihr Haupt, der König, wollte jetzt auch das Ziel des Krieges beſtimmen. In die feindliche Hauptſtadt einziehen und ſich Grenz⸗ länder abtreten zu laſſen, ſchien das natür⸗ liche Ergebnis des herrlichen Sieges ſein zu müſſen.

Ganz anderes wollte der Miniſter: er wollte Oſterreich ſchonen, ihm außer Venetien keine Ab⸗ tretung auferlegen, verlangte nichts, als daß es aus dem deutſchen Bunde ausſcheide, und wollte Norddeutſchland unter Preußens Führung zu einem reformierten Bunde vereinigen. Dieſer Bund aber ſollte nicht bloß ein Bund der Re⸗ gierungen ſein, ſondern durch einen aus allge⸗ meinem gleichen Stimmrecht hervorgehenden Reichstag zuſammengehalten und der Verfaſſungs⸗ konflikt in Preußen gleichzeitig beigelegt werden, indem die Regierung um Indemnität für die ver⸗ faſſungswidrig ausgegebenen Gelder einkam.

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Der König war außer ſich über dieſe Zumutungen, die eine nach der andern an ihn herantraten. Dem neuen Bunde maß er wenig Wert bei; die „Indemnität“ erſchien ihm eine Demütigung; der Hauptkampf aber entbrannte gleich zuerſt um den Frieden mit Oſterreich vor dem Einzug in Wien und ohne Landabtretung. “|

Der König dachte an die Erwerbung von Oſter⸗ reichiſch⸗Schleſien und einem Teil von Böhmen; Prinz Friedrich Karl empfahl dazu das Deutſch⸗ Böhmiſche, das ſich am Erzgebirge entlangzieht. Der König wollte außerdem einen Teil von Sachſen und von Bayern die hohenzollernſchen Stamm⸗ lande Ansbach⸗Bayreuth.

Die Schlacht, die hier geſchlagen wurde, Er einer Entſcheidung nicht weniger groß und wichtig als die Schlacht bei Königgrätz ſelber. Es han⸗ delte ſich darum, ob Preußen nichts weiter bleiben ſollte als Preußen, oder ob Preußen mit neuem Lebensblut erfüllt, verjüngt, erneuert und er⸗ weitert zugleich werden ſollte durch den deutſchen Gedanken, die Idee des zukünftigen Deutſchen Reichs.

Landabtretungen, damals Oſterreich auferlegt, hätten jede zukünftige Ausſöhnung mit dem habs⸗

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burgiſchen Kaiſerſtaat unmöglich gemacht; auch die Integrität Sachſens machte Oſterreich zur unerläßlichen Bedingung, und die Abtretung von Ansbach und Bayreuth hätte in Bayern eine ſolche Feindſeligkeit erweckt, daß jeder deutſch⸗ nationalen Politik die Bahn verſperrt geweſen wäre. |

Der König beſtand darauf, daß Oſterreich als der Hauptſchuldige an dem Kriege beſtraft werde. Bismarck erwiderte ihm: Wir hätten nicht eines Richteramts zu walten, ſondern deutſche Politik zu treiben. Oſterreichs Rivalitätskampf ſei nicht ſtraf⸗ barer als der unfrige gegen Oſterreich; unſere Auf- gabe ſei Herſtellung oder Anbahnung der deutſch⸗ nationalen Einheit unter Leitung des Königs von Preußen. Aber dieſe Argumente machten auf den König keinen Eindruck, und ſeine Auf⸗ faſſung war nicht nur ſeine perſönliche, ſondern auch die ſeiner militäriſchen Umgebung und der Generalität überhaupt, als deren Sprecher haupt⸗ ſächlich ſein Bruder, Prinz Karl, auftrat. Es wurde ein Kriegsrat zuſammenberufen, in dem Bismarck, nach ſeiner eigenen Erzählung, der einzige Ziviliſt in Uniform war, und er blieb mit ſeinem Friedens⸗

2 Delbrück, Bismarcks Erbe 33

vorſchlag allein. Alſo auch Moltke und Roon müſſen ſich gegen ihn gewandt oder ihn wenigſtens nicht unterſtützt haben. Schließlich verſagten ſeine Nerven; er ſtand ſchweigend auf, ging in das an⸗ ſtoßende Zimmer und wurde von einem heftigen Weinkrampf befallen. Er ſetzte eine Denkſchrift auf zur Verteidigung ſeiner Auffaſſung, aber er richtete nichts aus; namentlich die Unterbrechung des Siegeslaufs der Armee erſchien dem König unerträglich. Als der Miniſter in ſein Zimmer zurückgekehrt war, erzählt er uns, ſei ihm der Gedanke nahegetreten, ob es nicht am beſten ſei, ſich aus dem vier Stock hohen Fenſter hinaus⸗ zuſtürzen. Jeden Augenblick konnte die Nachricht eintreffen, daß die Franzoſen mobilgemacht hätten und an den Rhein marſchierten. Dabei wütete im preußiſchen Heer in Böhmen und Mähren die Cholera.

Wenn aber die deutſche Idee, deren ſolange verborgene Fahne er jetzt aufziehen wollte, wirk⸗ lich die innere Kraft hatte, die Bismarck ihr zu⸗ traute, und eine Weſenheit war, mußte ſie jetzt nicht ihrerſeits ihm entgegenkommen und ihm helfen?

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Eine Idee muß, um wirkſam zu werden, Ritter finden, die ſie vertreten, und dieſer Ritter kam in der Perſon des preußiſchen Kronprinzen.

Was jetzt folgt, weiß man aus den „Gedanken und Erinnerungen“, aber ich bin in der Lage, dieſe Erzählung durch Mitteilung von der anderen Seite zu ergänzen.

Kaiſer Friedrich hat es mir als Kronprinz ſelbſt erzählt. „Als ich in Nikolsburg einmal den ſteilen Schloßberg hinaufging,“ lauteten ſeine Worte, „begegnete mir auf der halben Höhe der General von Moltke, der mir ſagte: ‚Sie finden oben alles in der ſchlimmſten Bagarre, der König und Bis⸗ marck ſehen ſich nicht. Der Kaiſer von Oſterreich hat durch die Vermittlung des Kaiſers Napoleon Frieden angeboten, aber die Integrität Sachſens zur Bedingung geſtellt, das will der König nicht zugeben.“ Als ich hinaufkam, fand ich es wirklich ſo; der König und Bismarck hatten ſich eingeſchloſſen und keiner wollte zum anderen. Ich machte nun den Vermittler.“

Als Bismarck noch in ſeiner Verzweiflung beim offenen Fenſter ſtand, hörte er, wie jemand ein⸗ trat, er ahnte, daß es der Kronprinz war, drehte

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ſich aber nicht um. Da legte ihm diejer die Hand auf die Schulter und ſagte: „Sie wiſſen, daß ich gegen den Krieg geweſen bin; Sie haben ihn für notwendig gehalten, nun tragen Sie die Verant⸗ wortlichkeit dafür. Wenn Sie überzeugt find, daß der Zweck erreicht iſt und der Friede geſchloſſen werden muß, ſo bin ich bereit, Ihnen beizuſtehen und Ihre Meinung bei meinem Vater zu ver⸗ treten.“

Nach Bismarcks Erzählung iſt der Kronprinz zum König hinübergegangen und nach einer kleinen halben Stunde zurückgekehrt. „Es hat ſehr ſchwer gehalten, aber mein Vater hat zugeſtimmt.“ Nach des Kronprinzen Erzählung iſt das nicht in einer Unterredung unter vier Augen geſchehen, ſondern der König hat von neuem einen Kriegsrat berufen und da zu ſeinem Sohn geſagt: „Sprich du im Namen der Zukunft,“ und damit war die Schlacht gewonnen.

Ich will nicht ſagen, daß der Vorgang ſich genau ſo abgeſpielt hat, wie ich ihn hier eben unter Zuſammenziehung der beiden Erzählungen der Beteiligten gegeben habe. Es ſcheint ſicher, daß ſich ſowohl bei Bismarck wie beim Kronprinzen

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Ereigniſſe, die ſich auf mehrere Tage verteilten, in der Erinnerung vermiſcht haben. Da ziehen ſich leicht länger ausgeſponnene Vorgänge, wo mancherlei Punkte einzeln zu behandeln ſind und einer nach dem andern durchgekämpft wird, zu einer dramatiſchen Szene zuſammen. Das Entſcheidende, von beiden Seiten gleichmäßig Be⸗ zeugte iſt, daß auch Bismarck dem Vorwurf, die Feder des Diplomaten wolle wieder verderben, was das Schwert des Soldaten gewonnen, nicht entgangen iſt. Man verſpottete ihn als den „Queſtenberg“ im Lager, zürnte über den „faulen“ oder gar „ſchmachvollen Frieden“, die Generale ſpuckten vor ihm aus, um ihm ihre Verachtung zu bezeigen, wie er ſelber ſpäter erzählt hat, und er ſiegte endlich dennoch, indem der Erbe der Krone auf ſeine Seite trat.“)

*) Aus der umfangreichen Literatur über den Nikols⸗ burger Frieden nenne ich den Aufſatz von W. Buſch, Hiſtor. Zeitſchr. Bd. 92 (1904). Wenn ich oben ſeinen Feſtſtellungen nicht genau gefolgt bin, ſo geſchah es nicht, weil ich ſie verwerfe, ſondern nur um der Kürze, der ge⸗ drängten Darſtellung willen. Nur in einem weſentlichen Punkte weiche ich wirklich ab. Buſch meint, Roon und Moltke könnten unmöglich zu den Widerſachern Bismarcks gehört haben. Aber hätte Bismarck wirklich ſo verzweifelt

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Die Annexion von Schleswig⸗Holſtein, Hanno⸗ ver, Kurheſſen, Naſſau und Frankfurt verletzte zwar den Legitimitätsgedanken, befriedigte aber das ſpezifiſche Preußentum; die Einbringung der Indemnität beim Preußiſchen Landtag und die Schaffung des Norddeutſchen Bundes mit einer Verfaſſung, die hervorging aus der Verein⸗ barung mit einer Volksvertretung, gewählt nach dem allgemeinen Stimmrecht, bedeutete die Ver⸗ ſöhnung mit den Liberalen und die Aufnahme des Grundgedankens der Demokratie in das werdende neue Staatsweſen.

Elemente, die ſich bisher aufs tödlichſte gehaßt, Gegenſätze, die ſich bisher wie Gut und Böſe, Himmel und Hölle einander gegenüber geſtanden hatten, ſollten ſich jetzt zu einer organiſchen Ein⸗ heit verſchmelzen. Aber nicht im Frieden voll⸗ ziehen ſich ſolche geſchichtlichen Verſchmelzungen.

Bismarck wünſchte den Liberalen entgegen⸗ zukommen, ſeine konſervativen Miniſterkollegen

kämpfen müſſen, wenn er Roon und Moltke auf ſeiner Seite gehabt hätte? Mir ſcheint, ein Grund, ſeine Er⸗ zählung gerade in dem Punkt, daß er alle in geblieben ſei, zu verwerfen, liegt nicht vor.

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aber taten das Gegenteil, und der König wollte ſich von dieſen, die ihm in der ſchweren Konflikts⸗ zeit treu zur Seite geſtanden hätten, nicht trennen.

Einer der bedeutendſten Träger des Gedankens der Aussöhnung mit Bismarck und Begründung der nationalliberalen Partei, der Abgeordnete Tweſten, war im Jahre 1865 wegen eines heftigen Angriffs auf den Juſtizminiſter im Ab⸗ geordnetenhauſe in Anklage verſetzt. Der Prozeß war von um ſo größerer Wichtigkeit, als es ſich nicht bloß um die Perſon Tweſtens, ſondern um das Prinzip der parlamentariſchen Redefreiheit handelte. Man ſollte meinen, daß mit dem Ein⸗ ſetzen der neuen Politik ein ſolcher Zwiſchenfall ohne weiteres ins Meer der Vergeſſenheit verſenkt worden wäre. Statt deſſen legte die Staats⸗ anwaltſchaft noch im Februar 1867 wegen eines freiſprechenden Urteils Nichtigkeitsbeſchwerde ein, und im November 1867 wurde Tweſten zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Gleich darauf hatte er ſelbſt in der Budgetkommiſſion einen überaus heftigen Zuſammenſtoß mit Bismarck, dem er Vertrauensbruch vorwarf, was dieſer als perſön⸗ liche Beleidigung aufnahm, ſo daß er ſich weigerte,

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weiter zu verhandeln. Durch die Vermittlung von Bennigſen und Forckenbeck wurde dieſer Zwiſt noch beigelegt, und endlich gelang es auch jetzt, den ſehr üblen Juſtizminiſter Grafen Lippe zu beſeitigen und den Hannoveraner Leonhard an

deſſen Stelle zu bringen, der ſich nicht nur als |

Juriſt glänzend bewährte, ſondern auch die neuen Provinzen im Staatsminiſterium vertrat.

Der Miniſter des Innern aber, Graf Fritz Eulenburg, der freilich ein ſehr begabter und auch politiſch aufgeklärter Mann war, und der Kultus⸗ miniſter v. Mühler blieben, und namentlich der letztere verwaltete ſein Reſſort in ſcharfreaktio⸗ närem Geiſte. So gingen in derſelben Regierung die entgegengeſetzten Richtungen nebeneinander her. Alle Waſſer wirbelten trübe durcheinander. Alle die alten Parteien gerieten in Verwirrung und löſten ſich auf. Aus Teilen der alten Fort⸗ ſchrittspartei und den gemäßigten Liberalen bildete ſich die neue nationalliberale Partei, die immer noch Oppoſitionspartei blieb, aber den Prinzipien⸗ kampf zurückſtellte und durch Kompromiß von Fall zu Fall erſt die neue Verfaſſung ſchaffen half und dann in einem Geſetz nach dem anderen für ihre

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Anſchauungen Raum gewann. Wieder war es hier der Kronprinz, der durch perſönliche Ein⸗ wirkung, beſonders auf den Abgeordneten Tweſten, verſöhnend und vermittelnd forthalf. Ein erheb⸗ licher Teil der Fortſchrittspartei aber blieb grollend beiſeite ſtehen und konnte ſich nicht genugtun in Verdammung der Charakterloſigkeit der „National⸗ miſerablen“, die ihre Grundſätze verleugneten und zwiſchen der zweiten und dritten Leſung ihre An⸗ ſichten änderten. Umgekehrt, je mehr die National⸗ liberalen auf dieſem Wege erreichten, deſto ſtärker erhob ſich der Groll der Konſervativen gegen den Miniſterpräſidenten, der ſich von den altkonſer⸗ vativen Anſichten mehr und mehr entfernte. Eine Gruppe von hochſtehenden, aufgeklärten Kon⸗ ſervativen kamen ihm zwar ſo weit entgegen, daß ſie eine neue parlamentariſche Partei, die freikonſervative, gründeten, die alten Freunde aber, mit denen er vom Vereinigten Landtag 1847 bis 1866 Schulter an Schulter gefochten, die Kleiſt⸗ Retzow, Blankenburg, Gerlach, wandten ſich von ihm ab.

Auch die Vollendung des nationalen Einigungs⸗ werkes ſchritt nicht in der Weiſe fort, wie die

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nationalen Kreiſe und Bismarck ſelbſt erhofften. Die ſüddeutſchen Staaten waren mit dem Nord⸗ deutſchen Bunde zuſammengeſchloſſen durch den Zollverein und durch die militäriſchen Schutz⸗ und Trutzbündniſſe, die Bismarck insgeheim den Frie⸗ densſchlüſſen von 1866 beigefügt hatte. Für den Zollverein wurde ein eigenes Zollparlament ge⸗ ſchaffen, in dem in Süddeutſchland gewählte Ab⸗ geordnete dem Norddeutſchen Reichstage beitraten. Man hätte meinen ſollen, daß auf dieſem Wege ganz von ſelbſt durch die innere Logik der Dinge und die Kraft des nationalen Gedankens ein deutſcher Reichstag und ein deutſches Reich hätten entſtehen müſſen. Aber ſo war es keineswegs; die große Mehrheit der Süddeutſchen, die Demo⸗ kraten auf der einen, die Klerikalen auf der anderen Seite, waren einig darin, dem Deutſchen Bunde, der unter Führung des abſolutiſtiſch⸗ reaktionären Preußen ſtand, nicht beitreten zu wollen, und die Ergebniſſe des Zollparlaments waren dürftig. Nun brach der franzöſiſche Krieg herein. Ein Hauptgrund, weshalb die beſten Preußen und Deutſchen den Krieg gegen Oſterreich 1866 nicht gewollt hatten, war die Beſorgnis, daß Frank⸗

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reich die Gelegenheit benutzen und ſich deutſche Gebiete aneignen könnte. Die Schnelligkeit, mit der Bismarck den Nikolsburger Frieden abſchloß, zuſammen mit der mangelnden Bereitſchaft Frank⸗ reichs und der Unentſchloſſenheit des Kaiſers, hatten damals den Ausbruch des Krieges verhindert. Als Napoleon dazu kam, ſeine Forderung eines Stückes des linken Rheinufers zu ſtellen, war der Friede mit Oſterreich bereits geſchloſſen und Bismarck konnte die franzöſiſche Forderung ſchroff zurück⸗ weiſen.

Aber der Anſpruch Frankreichs auf eine Kom⸗ penſation war geblieben; kein Zweifel, daß Bis⸗ marck in ſeinen vielfältigen Verhandlungen mit Napoleon, zu denen er wiederholt hingereiſt war, ihm vor dem Kriege allerhand Ausſichten gemacht hatte. Es brauchte ja nicht deutſches Gebiet zu ſein, was ihn abfand; aber auf Belgien und Luxem⸗ burg hatte er ſein Auge geworfen und wollte zu⸗ nächſt Luxemburg ſeinem damaligen Souverän, dem König von Holland, abkaufen. Luxemburg zu opfern, wäre Bismarck im Jahre 1867 bereit geweſen, und nahm es nicht in den Norddeutſchen Bund auf. Aber als die öffentliche Meinung in

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Deutſchland heftig aufwallte, und Bennigſen im Reichstag eine machtvolle, mit Beifallſtürmen be⸗ gleitete Rede gegen die Auslieferung dieſes deutſch⸗ ſprechenden Landes an Frankreich hielt, da mußte ſich Napoleon mit dem Kompromiß begnügen, daß das Land ſelbſtändig blieb und nur der neue Deutſche Bund auf das Beſatzungsrecht, das der alte in Luxemburg beſeſſen hatte, verzichtete. Dem franzöſiſchen Nationalſtolz genügte das nicht, und er blieb aufs tiefſte gekränkt, daß ſich hier an ſeiner Grenze eine neue nationale Groß⸗ macht erhob, die den Franzoſen den Rang, die „Große Nation“ zu ſein, ſtreitig machte. Der preußiſche Geſandte, Graf Goltz, berichtete ſchon im Herbſt 1866 aus Paris, Napoleon rechne dar⸗ auf, daß Bismarck die Verſprechungen, die er ihm gemacht habe, erfülle. Er könne ſonſt vor ſeiner Nation nicht beſtehen und ſeinen Thron nicht behaupten; er müſſe jetzt entweder ein Bündnis mit Preußen ſchließen oder eine Koalition gegen Preußen zuſtandezubringen ſuchen, wozu die Elemente weder in Petersburg noch in Wien fehlen würden. Mit anderen Worten, Napoleon verlangte, daß Preußen ihm helfe, Belgien zu

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erwerben. Hätte Bismarck Belgien preisgegeben, jo hätte er den Krieg mit Frankreich vermeiden können.

Merkwürdig genug klingt es heute, daß um der Erhaltung Belgiens willen im letzten Grunde Deutſchland damals gegen Frankreich in den Krieg gegangen iſt. Freilich kann man dazu ſagen, und das mag man ſich auch damals geſagt haben, daß trotz der Opferung Belgiens der Krieg nicht der⸗ mieden worden wäre. Die Eiferſucht der Fran⸗ zoſen war viel zu ſtark; die Einverleibung Bel⸗ giens wäre nur der Auftakt geweſen für das Auf⸗ leben des alten Begehrens des ganzen linken Rheinufers. Wie dem auch ſei, Bismarck bewies den Franzoſen von jetzt an kein weiteres Ent⸗ gegenkommen, und Napoleon knüpfte ſtatt deſſen mit Oſterreich und Italien an. Allem Anſchein nach hat er aber den großen Krieg gegen Deutſch⸗ land, deſſen militäriſche Kraft er kannte, zu ver⸗ meiden gewünſcht; er brachte das öſterreichiſch⸗ italieniſche Bündnis deshalb formell nicht zum Abſchluß, ſondern wünſchte es nur ſo weit zu be⸗ nutzen, um Preußen einzuſchüchtern, um im letzten Augenblick, nachdem ſchon mobil gemacht ſei, oder sogar noch nach der erſten Schlacht, ſich mit ihm

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zu vertragen, unter der Bedingung, daß Preußen mit Süddeutſchland tue, was ihm gut ſcheine, und ihm dafür Belgien überlaſſe. Als die preußiſchen Diplomaten Paris verließen, reichte der Miniſter des Auswärtigen, Herzog d. Gramont, einem von ihnen die Hand mit den Worten: „Ich hoffe, daß nach einigen ritterlichen Schlachten unſere Sou⸗ veräne ſich die Hand reichen werden, ſo wie wir es jetzt tun.“ Als der Marſchall Mac Mahon, der bis dahin Gouverneur von Algier geweſen war, ſich bei Napoleon meldete, um ſein Armeekommando zu übernehmen, ſprach dieſer kaum mit ihm über den Feldzugsplan, ſondern ſagte ihm, daß er ſehr bald nach Algier zurückkehren werde und nur einen zeitweiligen Stellvertreter brauche.

Endlich als die franzöſiſche Armee an der Grenze aufmarſchierte, wurde ſie in Hinblick auf dieſen Plan nicht vollſtändig verſammelt, ſondern ein Armeekorps (CCanrobert) blieb bei Chalons zurück, von wo es ſich nötigenfalls ſofort nach Belgien hätte wenden können.“)

*) Vgl. hierüber meine Unterſuchung „Das Geheimnis der Napoleoniſchen Politik i. J. 1870“ in meinen „Erinnerungen, Aufſätzen und Reden“ mit dem Zuſatz in der 3. Auflage.

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Die ſpaniſche Thronkandidatur ift in dieſem größeren Zuſammenhang nur ein Zwiſchenſpiel. Sie war nicht der Grund des Krieges, ſondern gab nur die Veranlaſſung zum Ausbruch des Krieges. So intereſſant ſie an ſich und im beſonderen auch für uns in einer Bismard-Biographie iſt, hier können wir ſie übergehen.

Der Plan Napoleons ſcheiterte im Grunde ganz auf dieſelbe Weiſe, wie er 1866 geſcheitert war. Damals hatte Napoleon den Krieg geſchürt und Italien dem preußiſchen Bündnis zugeführt, m der Berechnung, daß der Kampf ihm Gelegenheit geben werde, ſeinen Vorteil wahrzunehmen. Aber die Schnelligkeit des preußiſchen Sieges und des darauf folgenden Friedensſchluſſes beraubte ihn dieſer Gelegenheit. 1870 rechnete er, daß wenn die Preußen ſich auf das Geſchäft mit Belgien nicht einließen, er Oſterreich und Italien für ſich in Bewegung ſetzen könne, aber gleich beim erſten Zuſammenprall wurden die Franzoſen ſo vollſtändig über den Haufen geworfen, daß Oſter⸗ reich und Italien die Luſt zur Einmiſchung derging.

Daß der Krieg dem deutſchen Volke die Einheit, das Reich und den Kaiſer bringen mußte, ſcheint

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uns Nachlebenden heute ſelbſtverſtändlich. Um jo nötiger iſt es für uns, wieder zu prüfen, welche Schwierigkeiten Bismarck dabei zu überwinden hatte. Wenn die Leidenſchaften auch nicht mit ſo elementarer Wucht aufeinanderprallten wie 1866 in Nikolsburg, ſo fehlt doch nicht ſo gar viel daran, zugleich aber war das Werk jetzt ſehr viel komplizierter. Damals war der Gegenſatz im Grunde einfach: hier preußiſch⸗militäriſch, dort deutſch⸗politiſch. 1870 aber bei der Erweiterung und Erhöhung des Norddeutſchen Bundes zum Deutſchen Reiche galt es eine ganze Reihe ſich kreuzender und gegeneinander ſtrebender Kräfte ſchließlich zu einem Werk zuſammenzubringen, und wenn dort vor allem die Charakterkraft Bis⸗ marcks imponiert, ſo iſt es hier die diplomatiſche Geſchicklichkeit, mit der er immer einen gegen den andern ausſpielte, um ſchließlich alle zum richtigen Ziele hinter ſich herzuziehen.

Vor dem Kriege war die große Mehrheit der ſüddeutſchen Bevölkerung im Einklang mit den Monarchen in München, Stuttgart und Darm⸗ ſtadt gegen den Eintritt in den Norddeutſchen Bund. Der Krieg brachte den Umſchwung, und

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man möchte vielleicht erwarten, daß Bismarck die günſtige Stimmung nun benützt und mit ſanfter Gewalt die ſüddeutſchen Regierungen zum Eintritt genötigt hätte. Er tat das gerade Gegen⸗ teil: er hielt ſich völlig zurück, ſo daß der treffliche badiſche Miniſter Jolly, der mit ſeinem Groß⸗ herzog zuſammen mit aller Kraft für die nationale Einheit wirkte, ſchon fürchtete, Bismarck wünſche wirklich nicht den Anſchluß der Süddeutſchen. Ganz ebenſo war auch der Kronprinz mit der an⸗ ſcheinenden Lauheit des Bundeskanzlers im höch⸗ ſten Grade unzufrieden. Bismarck aber wartete ab und ſagte ſich, daß er in viel vorteilhafterer Lage ſein werde, wenn die anderen ihm, wie er ſagte, kommen müßten. Es exiſtierte eine Stelle, die von der Natur berufen war, den Stein ins Rollen zu bringen, nämlich Sachſen, das ſich als einzige Mittelmacht im Norddeutſchen Bunde vereinſamt fühlte und von dem Eintritt der ſüd⸗ deutſchen Königreiche eine Stärkung des födera⸗ tiven Elementes im Bunde erhoffen durfte. Schon drei Tage nach der Schlacht bei Grave⸗ lotte hatte der Kronprinz Albert von Sachſen mit Bismarck eine Unterredung, worin dieſer den

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Gedanken ausſprach, daß das im Frieden von Frankreich zu fordernde Elſaß⸗Lothringen nicht einem einzelnen Staate angegliedert, ſondern im Beſitz von Geſamtdeutſchland verbleiben und da⸗ durch eine Verbindung zwiſchen Nord⸗ und Süd⸗ deutſchland herſtellen werde: eine meiſterhafte diplomatiſche Wendung, die von vornherein das Werk der Einigung ſelbſt mit ihrem Lohn verknüpfte. Am liebſten hätte Bismarck eine Zuſammenkunft aller deutſchen Fürſten, vielleicht ſogar zugleich mit dem Reichstag, in Frankreich veranſtaltet, um die neue Reichsverfaſſung feſtzuſtellen. Aber die ſüddeutſchen Fürſten ſahen voraus, daß ſie ſich dann dem einfachen Eintritt in den Norddeutſchen Bund nicht hätten entziehen können, und entſchieden ſich für Einzelverhandlungen. Hierbei gab es nun noch ſehr merkwürdige Phaſen zu überwinden. Daß etwas geſchehen müſſe, ſahen alle, aber „ob dieſe Not⸗ wendigkeit eine traurige, eine erträgliche oder eine erfreuliche ſei“, darüber gingen ſie, wie der Unter⸗ händler Bismarcks, Rudolph Delbrück, ſchalkhaft bemerkte, auseinander. Eigentlich hätten die Bayern gewünſcht, daß ſie nicht in den Bund einträten, ſondern nur mit dem Bunde einen Bund

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ſchlöſſen, oder ſie ſtellten ſich vor, daß das Kaiſer⸗ tum zwiſchen Preußen und Bayern alterniere, oder ſie verlangten einen beſonderen Territorialgewinn für Bayern, oder ſie wollten zur deutſchen Flotte keinen Beitrag leiſten. Mehrfach kam es ſo weit, daß man ſchon glaubte, den Bund ohne Bayern abſchließen zu müſſen, oder man ſchon gar beſorgte, daß die bayeriſchen Truppen aus dem Kriege ab⸗ berufen werden könnten.

Auf der anderen Seite verlangte der Nord⸗ deutſche Reichstag immer noch ſchärfere Zentrali⸗ ſation; die Fortſchrittspartei ganz doktrinär ſogar einen neuen konſtituierenden Reichstag. Auf der unitariſchen Seite aber, und inſofern gegen Bis⸗ marck, ſtand diesmal gefährlicherweiſe der Kron⸗ prinz, der ſogar vor Gewalt gegen die Süddeut⸗ ſchen nicht zurückſcheuen wollte, um dem anzu⸗ ſtrebenden Kaiſertum einen wirklichen Inhalt zu geben. König Wilhelm aber, der die neue Kaiſer⸗ krone tragen ſollte, wollte von ihr überhaupt nichts wiſſen und wäre am liebſten bei ſeinem preußi⸗ ſchen Königtum geblieben. „Ich habe die größte Angſt,“ ſagte Bismarck unter dieſem Druck von allen Seiten, „wir balancieren auf der Spitze

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eines Blitzableiters; verlieren wir das Gleich⸗ gewicht, das ich mit Mühe herausgebracht habe, jo liegen wir unten.“

Er drückte nun immer mit einem auf den andern. Die Anſprüche Bayerns reizten den zornigen Widerſpruch von Württemberg und Baden, und um nicht iſoliert zu werden, mußte wieder Bayern endlich entgegenkommen. Trat es einmal in den Bund, ſo mußte es auch für die Kaiſerwürde ein⸗ treten, ja ſie ſelber beantragen, da Bismarck dar⸗ auf hinwies, daß ſonſt der Reichstag dem König von Preußen dieſe Würde antragen werde. So kam man nicht eigentlich Schritt für Schritt, ſondern ſtoßweiſe vorwärts, indem Bismarck immer an dem Grundſatz feſthielt, nicht zu zwin⸗ gen, ſondern die Natur der Dinge wirken zu laſſen, und zugleich da, wo er es konnte, mit Konzeſſionen entgegenzukommen. Er ließ den Mittelſtaaten das Recht, eigene Geſandte zu halten, denn wenn man Sonderbeziehungen zum Auslande ſuche, ſo gäbe es dagegen ohnehin „keinen waſſerdichten Verſchluß“; man ſchone aber mit dem Zugeſtänd⸗ nis die dynaſtiſche Empfindlichkeit. Ein eigener „Ausſchuß für auswärtige Angelegenheiten“ im

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Bundesrat wurde geſchaffen, vermöge deſſen die Mittelſtaaten die auswärtige Politik des Reichs⸗ kanzlers glaubten kontrollieren zu können, der aber, wie Bismarck vorausſah, nie praktiſch wer⸗ den konnte. Vor allem wurde die Armee nicht einheitlich kaiſerlich, ſondern die verjchiedenen Kon⸗ tingente wurden nebeneinander gruppiert oder durch Einzelkonventionen mit der preußiſchen ver⸗ ſchmolzen. Noch heute iſt nur die Marine, aber nicht die Armee kaiſerlich. Bayern erhielt eine Reihe von beſonderen Reſervatrechten.

Trotz alledem mußte die württembergiſche Kam⸗ mer erſt aufgelöſt werden, um die nötige Zwei⸗ drittel⸗Majorität für die Annahme der Verträge zu ſchaffen, und in Bayern gelang es nur gerade mit einer Majorität von zwei Stimmen über die zwei Drittel, das Werk zum Abſchluß zu bringen. „Das kunſtvoll gefertigte Chaos,“ nannte ſchließlich der Kronprinz die neue Reichsverfaſſung, aber als, nachdem König Ludwig von Bayern endlich den Kaiſerantrag geſtellt hatte, er mit Bis⸗ marck zuſammen das Zimmer König Wilhelms verließ, da reichten ſie ſich beide die Hand, „mit dem heutigen Tage ſind Kaiſer und Reich un⸗

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widerruflich hergeſtellt,“ und der Kronprinz ſetzte dann ſeinen ganzen Einfluß bei den national⸗ liberalen Abgeordneten ein, damit der Nord⸗ deutſche Reichstag die neue Verfaſſung trotz aller bayeriſchen Reſervatrechte annehme.

Bismarck ſelbſt aber ſagte am Abend zu ſeiner Umgebung: „Die Zeitungen werden nicht zu⸗ frieden ſein, und wer einmal in der gewöhnlichen Art Geſchichte ſchreibt, kann unſer Abkommen tadeln. Er kann ſagen, der dumme Kerl hätte mehr fordern ſollen; er hätte es erlangt, ſie hätten gemußt, und er kann recht haben mit dem Müſſen. Mir aber lag mehr daran, daß die Leute mit der Sache innerlich zufrieden waren was ſind Verträge, wenn man muß? und ich weiß, daß ſie vergnügt fortgegangen ſind. Ich wollte ſie nicht preſſen, die Situation nicht ausnutzen. Der Vertrag hat ſeine Mängel, aber er iſt ſo feſter. Was fehlt, mag die Zukunft ſchaffen. Auch der König war mit der Sache nicht zufrieden; er meinte, ein ſolcher Vertrag ſei nicht viel wert. Ich aber bin anderer Anſicht. Ich rechne ihn zu dem Wichtigſten, was wir in dieſen Jahren erreicht haben.“

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Noch im letzten Augenblick vor der feierlichen Kaiſerproklamation am 18. Januar 1871 im Schloſſe von Verſailles kam es zu einem ſo hef⸗ tigen Zuſammenſtoß zwiſchen dem König und dem Kanzler, daß dieſer kein Wort des Dankes erhielt, ja der neuproklamierte Kaiſer ſogar ver⸗ mied, den Kanzler anzusprechen.

Während das deutſche Volk mit hoher nationaler Begeiſterung die Kaiſerproklamation von Ver⸗ ſailles und das neue Deutſche Reich begrüßte und den alten Barbaroſſa auferſtanden ſah, herrſchte unter den Werkmeiſtern ſelbſt beim Abſchluß eine mürriſche, unbefriedigte Stimmung hüben wie drüben. Ich hebe das ſo ſehr hervor, weil dieſer Gegenſatz nach vielen Seiten ſo unendlich lehr⸗ reich iſt. Erſt in einem gewiſſen Abſtand gewinnt man den richtigen Maßſtab für die großen hiſto⸗ riſchen Ereigniſſe, der deshalb den Teilnehmern ſelbſt häufig fehlt. Noch vieles Beſondere iſt aus dieſer Erzählung zu lernen: wo das wahre Weſen der Staatskunſt zu ſuchen iſt, oder daß die Summe der verſchiedenen Parteien und Richtungen keines⸗ wegs gleichzuſetzen iſt mit dem Volk als Ganzem. Die Parteien waren mit dem geſchaffenen Werk

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ſamt und ſonders unzufrieden: die Demokraten verſchrien die neue Verfaſſung mit ihrem all⸗ gemeinen, gleichen, geheimen Wahlrecht als das bloße Feigenblatt des nackten Abſolutismus; die Nationalliberalen vermißten die rechte nationale Einheit; die Klerikalen betrauerten das Aus⸗ ſcheiden Oſterreichs und die Unterdrückung der Selbſtändigkeit der deutſchen Stämme; die Kon⸗ ſervativen ſahen das wahre, alte Preußen, den Hort der Legitimität und der Welt gegen die Re⸗ volution, dahinſchwinden, und faſt am aller⸗ unzufriedenſten war der neue Kaiſer ſelbſt und wie glänzend hat das Werk ſich bewährt!

Die gereizte Stimmung, in der dieſe Verhand⸗ lungen ſich abſpielten, und die ſich vom November bis zum 18. Januar hinzog, ſteigerte ſich nun gegenſeitig mit einem neuen Zwieſpalt im Haupt- quartier, der dieſen Wochen trotz des ſo überaus glücklichen Ausganges einen tragiſchen Zug ver⸗ leiht, und den wir hier nicht übergehen dürfen. Bis zu dieſem Augenblick iſt uns Bismarck als der Mann erſchienen, der mit unfehlbarer Sicherheit des Urteils erkennt, was die Zeit verlangt und erlaubt und was für die Zukunft heilſam iſt, und der dies

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richtig Erkannte mit einer ungeheuren Kraft des Willens, geſchmeidigen Wendungen und immer neuen Gedanken und Auskünften endlich zum Ziel führt. Wenn nun aber ein ſolcher Mann ſich auch einmal irrt und nun dieſelbe Kraft und Klugheit daran ſetzt, das Falſche durchzuſetzen? Auch das muß ertragen werden; man hat einen Heros nicht umſonſt, aber man darf es nicht verſchweigen, um ſo weniger, als es noch bis auf den heutigen Tag unheilvoll nachwirkt.

In dem Bewußtſein ſeiner ungeheuren geiſtigen Überlegenheit und ſeines ſicheren praktiſchen Blickes hat Bismarck ſich verleiten laſſen, auch auf ein Gebiet überzugreifen, das er nicht beherrſchte, nämlich auf die Strategie. Nun iſt die Strategie keine Geheimlehre, in die ſich nicht auch ein Mann von ſo klarem und ſicherem Verſtande wie Bis⸗ marck, auch ohne ſpezielle Detailkenntniſſe, hätte hineinarbeiten können. Wenn er ſich was zugute darauf tat, daß er 1866 vor Wien den Linksabmarſch auf Preßburg angeraten habe, ſo war dabei freilich etwas Illuſion, da Moltke dieſe Bewegung auch ohne ſeinen Rat ausgeführt haben würde immer⸗ hin hat er hier einen richtigen Blick gezeigt. Aber

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an anderen Stellen hat er vorbeigegriffen in einer Weiſe, die auch dem Außenſtehenden zeigt, daß er hier nicht zu Hauſe war. Schon bei der Mobilmachung und beim Aufmarſch 1866 hatte er deshalb gewiſſe Reibungen mit Moltke. Nach den Geſetzen der neueren Strategie ſeit Napoleon kommt alles darauf an, auf dem entſcheidenden Punkt das

Übergewicht zu gewinnen und die Hauptmacht

des Feindes zu zerſtören, auf alle Nebenzwecke und Nebenkriegsſchauplätze aber nur das Aller⸗ unentbehrlichſte zu verwenden. Gemäß dieſem Grundſatz hatte Moltke beſchloſſen, für die Ent⸗ ſcheidung in Böhmen alle neun preußiſchen Armee⸗ korps zuſammenzuziehen, gegen die anderen deut⸗ ſchen Staaten nur drei Diviſionen zu beſtimmen und auch die Rheinlande gegen etwaige Gelüſte Frankreichs nicht beſonders zu decken, ſondern ſich darauf zu verlaſſen, daß nach dem Siege in Böh⸗ men die deutſchen Eiſenbahnen ſchnell genug Truppen wieder an den Rhein transportieren würden. Moltke hat deshalb auch das rheiniſche Armeekorps ſelber nach Böhmen gezogen und auf dieſe Weiſe den unbedingt ſicheren Sieg, der end⸗ lich bei Königgrätz erfochten wurde, ermöglicht.

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Nachdem ſchon der Aufmarſch in dieſer Weile geordnet war, erfuhr er aber, daß auf Betrieb des Miniſterpräſidenten das rheiniſche Armeekorps be⸗ ſtimmt worden ſei, zur Deckung der weſtlichen Grenze zurückzubleiben. Moltke ſetzte durch, daß ſeine urſprüngliche Anordnung wieder hergeſtellt wurde.

Für den Feldzug in Weſtdeutſchland hatte Moltke auch ins Auge gefaßt, daß zunächſt das ſtärkſte Element in der gegneriſchen Koalition, nämlich die bayeriſche Armee, geſchlagen werden müſſe. Bismarck aber gab direkt an Falckenſtein eine Art von Direktive, die dieſen in die Richtung auf Frankfurt verwies, was für Falckenſtein gleich im Beginn Veranlaſſung zu einem Fehler in bezug auf die hannöverſche Armee wurde. Erſt das direkte Eingreifen Moltkes brachte auch hier die Sache wieder in Ordnung.

Als man in Frankreich eingerückt war, bei Metz geſiegt hatte und von dem Marſch auf Paris plötzlich die große Schwenkung nach Norden machte, die ſchließlich nach Sedan führte, ſtieß dieſe Wendung vielfach auf geringes Verſtändnis. Nach der Erzählung von Louis Schneider, der

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es wiſſen konnte, ſoll auch Bismarck ſich dagegen ausgeſprochen haben.

Mag dieſes Zeugnis vielleicht nicht völlig durch⸗ ſchlagend ſein, ſo iſt doch ſicher, daß nach dem Siege von Sedan ſich Bismarck wiederholt dahin geäußert hat, man ſolle nunmehr ſtehenbleiben, nicht auf Paris vorgehen, ſondern nur die öſtlichen Departements Frankreichs beſetzen, ſich dort häus⸗ lich einrichten, ſie mit Kontributionen belegen und das Weitere abwarten. Man ſieht nicht, wie man bei einer derartigen Strategie Frankreich jemals hätte bezwingen können, da die Bildung der neuen Gambettaſchen Armeen um den Kern der Pariſer Beſatzung herum ſich viel leichter, beſſer und ſtärker hätte vollziehen müſſen, als es nachher ge⸗ ſchehen iſt. Aber ſelbſt als wir ſchon vor Paris ſtanden, iſt Bismarck noch öfter auf jenen Gedanken zurückgekommen und hat den Generalen einen Vorwurf daraus gemacht, daß ſie die Armee nach Paris geführt hätten. In der Tat beruhte ja die Einſchließung von Paris auf einer Vorſtellung, die ſich nachher als unzutreffend erwies. Moltke glaubte, daß die franzöſiſche Hauptſtadt im aller⸗ höchſten Fall ſich etwa zehn Wochen lang halten

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würde und dann aus Mangel an Lebensmitteln würde kapitulieren müſſen. Eigentlich hoffte er, ſchon Ende Oktober wieder „in Creiſau Haſen ſchießen“ zu können. Dieſer Schätzungsfehler iſt um jo mehr verzeihlich, da, wie wir jetzt wiſſen, der Kom⸗ mandant von Paris ſelbſt, General Trochu, glaubte, daß in Paris nur für 60 Tage Lebensmittel vor⸗ handen ſeien. In Wirklichkeit aber haben die Lebensmittel für faſt viereinhalb Monate aus⸗ gereicht. Gerade in dieſem Augenblick, wo Eng⸗ land den Plan betreibt, uns aushungern zu wollen, wird man ſich nicht ungern daran erinnern, wie ſehr die ſtatiſtiſchen Aufſtellungen über Lebens⸗ mittelvorräte hinter der Wirklichkeit zurückbleiben können. Die Folge damals aber war, daß die Belagerungsarmee vor Paris von einer ſteigenden, nervöſen Ungeduld ergriffen wurde, weil die Ein⸗ ſchließung nicht zum Ziele zu führen ſchien. Mit der Armee wurde auch Bismarck unruhig, weil er fürch⸗ tete, daß die längere Dauer des Krieges eine Ein⸗ miſchung der Neutralen herbeiführen könne. Er forderte alſo ſtärkere Mittel, um die Kraft der Pari⸗ ſer zu brechen, und hier entwickelte ſich nun zwiſchen ihm und dem leitenden Strategen der Konflikt.

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Was ich vorher von verfehlten militäriſchen Auf⸗ faſſungen Bismarcks geſagt habe, hat keine weſent⸗ lichen Folgen gehabt und dient nur als Beweis, daß er wirklich auf dieſem Gebiet nicht beſchlagen war. Jetzt aber ſetzte er die ganze Gewalt ſeines Willens dahinter, um Moltke zu zwingen, ſich ſeinen An⸗ ſichten zu unterwerfen.“)

Auch Moltke hat zuweilen daran gedacht, daß, wenn die Aushungerung nicht zum Ziele führte, man zur Belagerung ſchreiten könne und ſchon auf dem Marſche von Sedan nach Paris Anordnungen erlaſſen, um ſchwere Geſchütze herbeizuführen. Aber allmählich war ihm klar geworden, daß er damit in einen inneren Widerſpruch geraten jei. Wenn man überhaupt belagern und bombardieren wollte, ſo mußte man es von Anfang an tun, ſobald es irgend erreichbar war. Je länger aber die Einſchließung dauerte, deſto näher mußte man naturgemäß dem Termine kommen, wo die Aushungerung ihr Ziel erreichte, deſto überflüſſiger alſo wurde das Schie⸗

*) Die letzte abſchließende Arbeit über dieſe Frage dürfte ſein: „Roon und Moltke vor Paris“ von Emil Da⸗ niels, Preuß. Jahrb. Bd. 121 (1905) auf Grund des Buches von Guſtaf Lehmann „Die Mobilmachung von 1870“.

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Ben. Es war aber nicht nur überflüſſig, ſondern auch in hohem Grade ſchädlich. Nicht nur, weil es uns eine Menge braver Offiziere und Soldaten koſtete, den Artilleriſten furchtbare Strapazen in den mit Eiswaſſer gefüllten Gräben auferlegte, ſondern namentlich auch die Verbindungsbahn mit Deutſchland und die Transportmittel ſo in Anſpruch nahm, daß der allgemeine Kriegszweck darunter litt. Moltke befeſtigte ſich alſo immer mehr in dem Gedanken, ſich vor Paris auf die reine Ein⸗ ſchließung zu beſchränken, um gegen die franzöſiſchen Feldarmeen, die Gambetta mittlerweile auf die Beine gebracht hatte, um ſo kräftigere Schläge führen zu können. Wenn er zuweilen auch wieder entgegengeſetzte Außerungen gemacht hat, ſo braucht das noch keine innere Unſicherheit zu be⸗ deuten, ſondern iſt eine Art Abwehr überflüſſiger Diskuſſionen in der beſtimmten Erwartung, daß der Fortgang der Ereigniſſe ſchneller ſein und Paris bald genug fallen würde. Er war hierin mit allen an der Leitung beteiligten Militärs im Großen Hauptquartier durchaus einig. Die drei Quartier⸗ meiſter Bronſart, Verdy, Brandenſtein, nicht anders als der Chef der Artillerie Hinderſin und der Chef

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des Ingenieurweſens Kleiſt, beſonders aber Blu⸗ menthal, der Chef des Generalſtabes des Kron⸗ prinzen, ſtimmten ihm durchaus zu. Dieſer hat ſogar den kühnen Gedanken gehabt, den übrigens auch, was nicht unerwähnt bleiben ſoll, als Zeug⸗ nis ſeines ideenreichen Genius, Bismarck ſelbſt einmal ausgeſprochen hat, daß die Einſchlie⸗ ßungsarmee noch um zwei weitere Korps ge⸗ ſchwächt werden ſolle, um ſofort (noch vor dem Fall von Metz) eine ſtarke Feldarmee zu bilden, die die franzöſiſchen Neuformationen nicht bloß abge⸗ wehrt, ſondern ſie zerſtreut hätte, ehe ſie fertig waren. In einer vorzüglichen Denkſchrift ent⸗ wickelte Blumenthal, daß theoretiſch das einzig Mögliche neben der Aushungerung die förmliche Belagerung ſei, daß zu dieſer aber, nachdem nicht gleich von Anfang an dafür geſorgt war, die Mittel fehlten, und daß ein Bombardement des Stadt⸗ inneren, das überhaupt nur kleinere Teile von Paris erreichen könne, völlig wirkungslos bleiben müſſe. Er wies auf Grund ſeiner eigenen Erfah⸗ rungen und der Kriegsgeſchichte nach, daß was den „Schießern“ als eine beſonders ſchneidige Maßregel erſchiene, in Wirklichkeit eine klägliche

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Halbheit war eine Verwechſelung übrigens, die in Politik und Kriegführung ungemein häufig auftritt.

Roon hatte, ſoweit als möglich, in der Heimat rechtzeitig für die Bereitſtellung von Geſchütz, Munition und Transportmitteln geſorgt. Moltke aber iſt es geweſen, der die Heranführung verhin⸗ derte, weil er eben den artilleriſtiſchen Angriff ebenſo wie das Bombardement für unnötig hielt, die poſitive Aktion allein bei den Feldarmeen ſuchte und deshalb auch die Eiſenbahnen für dieſe und ihre Bedürfniſſe reſervierte. Vor allem aber war ihm die Belagerungsaktion aus dem höheren ſtrategiſchen Geſichtspunkt ungelegen, weil ſie die Einſchließungsarmee feſtlegte und die Freiheit ihrer Bewegungen aufhob. Es war doch nicht unmöglich, daß eine der Gambettaſchen Armeen einmal bis nahe vor Paris herankam; in dieſem Fall hatte der deutſche Feldherr ſich vorgenommen, die Einſchließung auf einige Tage zu unterbrechen, um die feindliche Feldarmee mit geſammelter Kraft anzufallen und möglichſt vernichtend zu ſchlagen. Hatte man nun vor Paris ſchon Hun⸗ derte von ſchweren Geſchützen aufgefahren, ſo

B Delbrück, Bismarcks Erbe 65

war das nicht mehr ausführbar, oder man hätte

dieſe Geſchütze alle opfern müſſen.

Als der Hauptſchuldige an dem Ausbruch des

Konflikts iſt inſofern Roon zu betrachten, als er, als ein hervorragender General, die Einſicht hätte haben müſſen, daß Moltke im Recht war, und wenn er dann in dieſem Sinne auf Bismarck eingewirkt hätte, ſo würde dieſer ſich wohl be⸗

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ruhigt haben. Statt deſſen finden wir, daß ge⸗ rade Roon es iſt, der Bismarck aufgereizt und ſich

mit ihm ſozuſagen wechſelſeitig in die äußerſte Leidenſchaft geſteigert hat. Von militäriſcher Seite hat man zu ſeiner Entſchuldigung anführen wollen, daß er damals krank und körperlich ſehr herunter geweſen ſei. Ohne das beſtreiten zu wollen, glaube ich doch, daß die Erklärung pfychologiſch an einer anderen Stelle zu ſuchen iſt. Roon war ſeit der Konfliktszeit der eigentliche militäriſche Ver⸗ traute des Königs. Noch beim Aufmarſch 1866 waren die Dispoſitionen Moltkes nur durch Ver⸗ mittlung Roons vor den König gebracht und in Befehle verwandelt worden. Erſt in dieſer Zeit

erhielt Moltke den unmittelbaren Vortrag beim

König und gewann durch den Erfolg von 1866 die

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unerſchütterliche Autorität. Damit aber war Roon im Hauptquartier ſozuſagen funktionslos. Der Kriegsminiſter, hat Moltke ſpäter einmal geſchrie⸗ ben, gehöre überhaupt nicht ins Hauptquartier, ſondern müſſe von ſeinem Miniſterium aus in Berlin das Adminiſtrative der Armee dirigieren. Ein hervorragender Mann aber im Hauptquartier, der ſelber keine Verantwortung hat, wird natur⸗ gemäß zum Kritiker, um ſo mehr, als die Kritik ja wohl auch nicht ſelten recht behalten wird. Roon aber war, ſo genial er ſich als militäriſcher Organi⸗ ſator und parlamentariſcher Vertreter bewährte, überhaupt kein Stratege. Er hat noch gegen Ende des Krieges 1870, als Moltke für einen letzten Druck weitere Verſtärkungen verlangte, ihm den Grund⸗ ſatz entgegengehalten, die Strategie müſſe beſchei⸗ dener ſein und ſich nach den vorhandenen Mitteln richten. Er ſpottete darüber, daß man wohl gar bis an die Pyrenäen wolle, und erklärte ſich außer⸗ ſtande, weitere Truppenteile aufzuſtellen, ſo daß der Generalſtab ihm entgegenhalten mußte, wie doch Gambetta ganze Armeen aus der Erde ſtampfe. Dabei verlangte Moltke nichts, als daß die Landwehrbataillone, die in Deutſchland zur

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Bewachung der Gefangenen gebraucht wurden, nach Frankreich gezogen und durch Landſturm⸗ formationen erſetzt würden. Moltkes Idee, die Einſchließung von Paris auf den geringſtmög⸗

lichen Kraftaufwand zu beſchränken, um die fran⸗

zöſiſche Feldarmee um ſo ſtärker zu treffen, ver⸗ ſtand Roon ſo wenig, daß er ſich mit Bismarck zu⸗

ſammen in den Verdacht verbohrte, es müßten hier

irgendwelche unlautere Motive dahinterſtecken. |

Dieſer Verdacht verdichtet ſich endlich zu der Vorſtellung, daß der König ſich durch eine falſch angebrachte Humanität beſtimmen laſſe, für die er wieder die Königin Auguſta verantwortlich machte, und wenn der Kronprinz in dieſem Punkt mit ſeinem Vater übereinſtimmte, ſo ſollte die

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Kronprinzeſſin Viktoria daran ſchuld fein. Da nun mit ſachlichen Gründen gegen die Autorität Moltkes beim König nichts auszurichten war, jo ſcheute ſich Bismarck nicht, ſeinen Verdacht als poſitive Behauptung in die deutſche Preſſe bringen zu laſſen, und erregte damit natürlich im Volk wie in der Armee einen ungeheuren Sturm gegen die

weiblichen Einflüſſe, die das „Mekka der Zivili⸗

ſation“ auf Koſten des Blutes deutſcher Soldaten

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ſchonen wollten. Freilich Moltkes Autorität war damals ſchon ſo groß, daß ſie mit ſolchen Mitteln nicht wohl zu untergraben war, und Bis⸗ marck war deshalb klug genug, den Namen Molt⸗ kes nicht direkt hineinzuziehen, ſondern lenkte den Volkshaß zunächſt auf den General Blumenthal, der zufällig auch mit einer Engländerin verheiratet war, und Worte Bismarcks haben naturgemäß eine ſolche Kraft, daß noch heute in weiten Kreiſen unſeres Volkes das Andenken Kaiſer Wilhelms und Kaiſer Friedrichs, ebenſo wie das der beiden großen Strategen Moltke und Blumenthal mit dem Vorwurf einer unmännlichen Weiberknecht⸗ ſchaft und eines charakterloſen Byzantinismus be⸗ fleckt iſt. Hat ſich doch ſogar ein Hiſtoriker gefunden, der den Schluß gemacht hat, daß, da Männer wie Bismarck und Roon einen derartigen Verdacht gehabt, bewahrt und ausgeſprochen, es ausge⸗ ſchloſſen ſei, daß er rein aus der Luft gegriffen worden. Von Moltke und Blumenthal aber meint derſelbe Hiſtoriker, man könne es kaum glauben, daß man hier dieſelben Männer vor ſich habe, deren Geiſt und Kühnheit ſich 1866 und 1870 ſonſt ſo glänzend bewährte. Noch am Schluß des Feld⸗

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zuges hat, wie man weiß, Moltke in den unerhört kühnen Anweiſungen an Werder und Manteuffel ſeinen ſtrategiſchen Genius ſo großartig wie je offenbart: derſelbe Hiſtoriker weiß ſich ſeine Stra⸗ tegie vor Paris nicht anders als durch eine „Ebbe im Wollen“ zu erklären. Erholen wir uns von einer ſolchen Degradierung unſeres Feld⸗ herrn mit ſeinem eigenen kräftigen Wort, das uns der Kabinettsrat v. Wilmowski in ſeinen Brie⸗ fen berichtet (22./11.), „es jei der dümmſte Streich in dieſem Kriege, daß man überhaupt Belagerungs⸗ geſchütze nach Paris habe transportieren laſſen“.

Bismarck und Roon haben ſchließlich ihren Willen beim König durchgeſetzt, Moltke hat nachgeben müſſen, hat es getan, weil man, wie er ſagte, vor Europa engagiert ſei, und wohl auch in der Vor⸗ ſtellung, daß ſchließlich der innere Friede im Haupt⸗ quartier auch eine ſehr wichtige Rückſicht jei. Aber Blutvergießen und Anſtrengungen ſind vergeblich geweſen. Die franzöſiſchen Außenforts hat man niedergekämpft, aber die eigentliche Befeſtigung, die Stadtumwallung hatte man kaum berührt, das Bombardement hat fo gut wie keine Wirkung ge⸗ habt, und nicht um eine Stunde früher hat Paris

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deshalb kapituliert, ſondern iſt ausſchließlich dem Hunger erlegen.

Eine unerhörte Gunſt des Schickſals hat Preußen damals gleichzeitig den genialen Staatsmann und den genialen Strategen beſchieden und dazu den König, der ſich ſtets über dieſen ſeinen beiden Dienern in ſeiner königlichen Würde zu behaup⸗ ten wußte. Man verdunkelt nicht nur die Wahrheit, ſondern nimmt der Epoche auch ein Stück ihrer Größe, wenn man die Grenzen zwiſchen den drei Perſönlichkeiten verwiſcht und möglichſt alle Eigen⸗ ſchaften allen dreien zuteilt. Es genügt deshalb nicht zu ſagen, Bismarck war der Staatsmann, Moltke war der Stratege, ſondern man vertieft die Umriſſe der hiſtoriſchen Geſtalten, indem man hinzufügt: Bismarck war kein Stratege und Moltke war kein Politiker“); König Wilhelm brauchte keins von beidem zu ſein, er war und blieb der König. Freilich ergibt ſich nun daraus, daß ſie nicht nur nebeneinander, ſondern auch häufig gegen⸗ einander kämpften. Das iſt die Tragik der Welt⸗

) Vgl. den ſchönen Aufſatz von Rudolf Peſchke, „Moltke als Politiker“, Preuß. Jahrb. Bd. 158, S. 16 (Okt. 1914).

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geſchichte. Mit der preußiſchen Armee hat Bis- marck ſeine großen idealen Ziele erreicht, und ohne ſie hätte er ſie nicht erreichen können. Die ganzen „Gedanken und Erinnerungen“ aber ſind erfüllt von unfreundlichen, zuweilen geradezu feindſeligen Außerungen über „die Militärs“. Umgekehrt finden wir z. B. auch von Manteuffel aus dem Jahre 1870 eine Außerung zu Stoſch über Bismarck, „es ſei eine Schande, daß ein ſolcher Politiker mehr Einfluß habe als die Heerführer und Generale“, und auch zwiſchen Bismarck und Moltke iſt ein freundſchaftliches Verhältnis nie wiederhergeſtellt worden. Wie könnte es auch anders ſein? Noch in feinen „Gedanken und Erinnerungen“ hat Bis⸗ marck geſchrieben: „Es iſt nicht anzunehmen, daß die übrigen Generale von rein militäriſchem Stand⸗ punkt anderer Meinung als Roon ſein konnten“ Wie könnte man jemandem, den man ſolcher Sünde anklagt, jemals wieder freundlich geſinnt ſein, und wie könnte jemand, dem ein ſolcher Vorwurf ge⸗ macht iſt, ihn jemals verzeihen?

Als Bismarck im Reichstag die ſchmerzbewegte Anſprache über das Ableben Kaiſer Wilhelms ge⸗ halten hatte, reichte ihm Moltke die Hand, aber

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irgendein freundlich anerkennendes Wort aus feinem Munde über den großen Genoſſen iſt nicht erhalten, und in der Geſchichte des franzöſiſchen Krieges aus Moltkes Feder kommt der Name Bismarcknicht vor“).

*) Ich freue mich, daß auch Erich Marcks in ſeinem Lebensbild „Otto v. Bismarck“, S. 127 den Verdacht der unſachlichen weiblich⸗engliſchen Einflüſſe mit Entſchieden⸗ heit abweiſt. Wenn er trotzdem Bismarck in der mili⸗ täriſchen Frage recht geben will, ſo kann er ſich darauf berufen, daß auch viele Militärs heute noch ſo urteilen. Wenn er aber den Grund für das Verſagen Moltkes und Blumenthals in dieſer Frage darin findet, daß ſie keine Artilleriſten geweſen ſeien, jo hat er ſich wohl nicht klarge⸗ macht, daß das techniſche Moment bei dem Streit kaum eine Rolle ſpielte, und daß es heißt, unſere Feldherren ſehr ge⸗ ring einſchätzen, wenn ſie nicht imſtande geweſen ſein ſollten, ſich über die artilleriſtiſchen Fragen bei ihren Fach⸗ beratern genügend zu orientieren. Das wird nicht nur von jedem Diviſionskommandeur, ſondern ſchon von jedem Fähnrich auf der Kriegsſchule verlangt. Zu dem allen dachte der erſte Artilleriſt der Zeit, General v. Hinderſin, ganz ähnlich wie Moltke, meinte ſchon am 9. November, „der Hunger werde wohl mit den erſten Schüſſen zuſammenfallen“, und bekämpfte in dem großen Kriegsrat am 17. Dezember „die Anſicht des Kriegsminiſters, ſchon aus den jetzigen Batterien auf ſo weite Entfernungen Paris zu bombardieren und nannte dies einen bloßen Bombardementskitzel, mit dem man ſich der Lächerlichkeit ausſetze“. Auch der Chef der Artillerie der III. Armee, Generalleutnant Herkt, war gegen das Bombardement. Die Leitung des artilleriſtiſchen Angriffs übernahm ſchließlich ein junger Generalmajor, Prinz Kraft Hohenlohe.

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Die Kanzlerſchaft Bismarcks nach dem Kriege zerfällt in zwei ſehr verſchiedene Abſchnitte. Der eine wird beſtimmt durch den Kulturkampf, der andere durch den Schutzzoll, das Sozialiſtengeſetz und die Sozialreform. f

Den Anlaß zum Kulturkampf gab die Bildung | der Zentrumspartei im Jahre 1870. Es war die ö Fortſetzung der alten katholiſchen Partei, die ſchon in der Konfliktszeit eine weſentliche Rolle geſpielt hatte, und auch wieder nicht. Zwar bildete der Katholizismus und die Maſſe des katholiſchen Teils der Staatsbürger das Gros der neuen Partei; nichtsdeſtoweniger lehnte ſie es ab, eine prinzipiell katholiſche Partei zu ſein, und ſtellte als ihr eigent⸗ liches Weſen die Verteidigung des Föderalismus gegen die unitariſchen Tendenzen des neuen Reichs hin. Das hätte nun Bismarck an ſich nicht zuwider zu ſein brauchen, denn auch er war ja keineswegs ein Unitarier. Dennoch ſah er in der neuen Grün⸗ dung einen Akt der Reichsfeindlichkeit, denn in der neuen Partei fand ſich alles zuſammen, was der Reichgründung widerſtrebt hatte, die Parti⸗ kulariſten, die die Wiederherſtellung Hannovers forderten, die Großdeutſchen, die den Ausſchluß

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Oſterreichs nicht wollten, die Katholiken, die in Preußen den Proteſtantismus bekämpften, Reak⸗ tionäre, Demokraten, Altliberale und Ariſtokraten.

Das Verhältnis der katholiſchen Kirche zum Preu⸗ ßiſchen Staat hat alle möglichen Wandlungen durchgemacht: Feindſeligkeit, gegenſeitige Dul⸗ dung, Freundlichkeit, letztere namentlich unter König Friedrich Wilhelm IV. Bismarck aber ſah es ſchon früh unter dem Geſichtspunkt der prinzi⸗ piellen Feindſeligkeit. Schon als Bundestags⸗ geſandter in Frankfurt ſchrieb er an ſeinen Freund Gerlach: „Ich betrachte dieſe ecclesia militans als unzweifelhaften Feind, der Preußen bis auf die Exiſtenz ſelbſt als ketzeriſchen Mißbrauch bekämpft“, und in einem weiteren Brief (20. Januar 1854): „Es iſt nicht ein chriſtliches Bekenntnis, ſondern ein heuchleriſcher, götzendieneriſcher Papismus, voll Haß und Hinterliſt, der hier im praktiſchen Le⸗ ben von den Kabinetten der Fürſten und ihrer Miniſter bis in die bettfederigen Myſterien des Eheſtandes hinab einen unverſöhnlichen, mit den infamſten Waffen geführten Kampf gegen die proteſtantiſchen Regierungen und beſonders Preu⸗ ßen als die weltlichen Bollwerke des Evangeliums

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unterhält.“ „Wir betrachten mit Recht die ultra⸗ montane Partei als unſeren unverſöhnlichſten und als einen unſerer gefährlichſten Gegner.“

In die Verhandlungen des Konzils einzugreifen, das 1870 in Rom tagte, um die Infallibilität des Papſtes zu beſchließen, lehnte er nichtsdeſtoweniger ab, ſpielte, als die Italiener Rom beſetzt hatten, ſogar mit dem Gedanken, dem Papſt eine Zuflucht in Deutſchland anzubieten, und verhandelte in Verſailles mit dem Erzbiſchof Ledochowski. Aber als nun in demſelben Augenblick, wo das Deutſche Reich geſchaffen wurde, die Zentrumspartei ſich bildete, erkannte Bismarck in ihr den alten Gegner, nur noch durch andere reichsfeindliche Elemente verſtärkt, und ging ſeiner Art nach ſchnell zum An⸗ griff über.

An die Stelle des reaktionären Kultusminiſters von Mühler trat der liberale Falk, und es erfolgte eine Reihe von Geſetzen, die den katholiſchen Klerus und die katholiſche Erziehung in ſtrengere Abhängigkeit von der Staatsregierung bringen und mit deutſchnationaler Bildung erfüllen ſollten. Die Katholiken erblickten darin, und wie wir jetzt nicht mehr anſtehen dürfen zu ſagen, mit Recht

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eine Vergewaltigung. Bismarck hat ſpäter die Verantwortung für dieſe Art den Kampf zu führen von ſich abzuwälzen und auf die Räte des Kultus⸗ miniſteriums zu ſchieben geſucht. Aber ohne jede Berechtigung; gewiß hat er ſich nicht um jede Einzelheit der Geſetzgebung gekümmert, aber der Geiſt, der ſie erfüllte, ging von ihm aus, wie der Oberhofprediger Kögel es ausdrückte, „Bismarck ſoufflierte und Falk deklamierte, Bismarck ver⸗ ſchrieb die Pulver und Falk drehte die Pillen.“ Wo er einmal kämpfte, kämpfte er ſcharf, ganz wie in der Konfliktszeit, und gerade er iſt es geweſen, der im Kultusminiſterium immer von neuem zu den äußerſten Maßnahmen drängte und ſie for⸗ derte.“

Trotzdem iſt es ſehr wohl möglich, daß er von Anfang an die Kampfgeſetzgebung nicht als etwas Dauerndes, ſondern eben nur als ein Kampfmittel angeſehen hat, beſtimmt, irgendwie und irgendwann einmal einen annehmbaren Frieden herbeizu⸗ führen. Schon im Jahre 1874 beauftragte er den

*) Das iſt bekannt bei denen, die noch eine Erinnerung an dieſe Zeit haben und ausdrücklich bezeugt bei Tiedemann, „Sechs Jahre“, S. 477.

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ſächſiſchen Geſandten v. Frieſen, feinem, wie man

weiß, katholiſchen König zu ſagen, er ſei ganz un⸗ ſchuldig an den Maigeſetzen; er habe die Entwürfe unterzeichnet, ohne ſie geleſen zu haben. Wir haben denſelben Mann und dieſelbe Methode, wie

er einſt den Liberalismus bekämpft. Bei dieſen

wußte er, daß er nicht nur einmal mit ihnen Frie⸗ den ſchließen werde, ſondern daß ſie ſogar ſeine Freunde werden ſollten. Trotzdem ſchlug er ſich mit ihnen bis aufs Blut. Gegen das Zentrum hatte er einen wirklichen innerlichen Haß. Wenn er an einen zukünftigen Friedensſchluß dachte, ſo ſtellte er ſich dieſen doch nur als einen Waffenſtillſtand vor. Nicht nur die Politik, ſondern auch den evan⸗ geliſchen Glauben rief er auf zum Kampf, und es ſchien nicht anders, als ob ein Religionskrieg das ſchließliche Ende ſein werde.

Die deutſchen Katholiken, meiſterhaft ka

von dem ehemaligen hannoverſchen Miniſter

Windthorſt und einer ganzen Reihe ſehr bedeuten⸗ der Perſönlichkeiten, wehrten ſich auf das ſtand⸗ hafteſte. Die Gemeinden beſteuerten ſich ſelbſt, um die Geiſtlichen, denen die Einkünfte geſperrt

waren, zu erhalten. Zahlreiche Geistliche wurden

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abgeſetzt, mußten ihre Gemeinden verlaſſen, die nun verwaiſten. Gegen viele andere wurde mit Geld⸗ und Gefängnisſtrafen vorgegangen, ebenſo gegen die Zeitungsredakteure. Auch die Biſchöfe wurden für abgeſetzt erklärt und mit Gefängnis⸗ ſtrafen belegt: der Biſchof Brinkmann von Münſter hat 40 Tage, Erzbiſchof Melchers von Köln über 6 Monate, Eberhard von Trier faſt 7 Monate, Martin von Paderborn 8 Monate, Erzbiſchof Ledochowski von Poſen volle 2 Jahre im Ge⸗ fängnis zubringen müſſen. An vielen Orten konn⸗ ten den Katholiken nicht mehr die Sakramente ge⸗ ſpendet werden; ſie konnten ihre Toten nicht mehr kirchlich begraben.

Der Zuſtand wurde allmählich unerträglich. Bis⸗ marck hatte im Beginn des Kampfes nicht nur die⸗ jenigen Liberalen als Bundesgenoſſen gehabt, die in jeder Kirche und im beſonderen in der katho⸗ liſchen nichts als ein großes Syſtem des Aber⸗ glaubens ſahen, ſondern auch ſehr ernſthaft reli⸗ giöſe Kreiſe, die in der 1870 erfolgten Proklamation der päpſtlichen Infallibilität einen Angriff ſowohl auf die Souveränität des Staates wie auf den innerlichen chriſtlichen Charakter des Katholizis⸗

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mus ſelber erblickten und den deutſchen Katholiken dagegen zu Hilfe zu kommen meinten; daneben auch umgekehrt eifrige Proteſtanten, die das Auflodern des alten Papſthaſſes in ſich ſpürten. Aber es gab doch auch ſeit den Zeiten der Romantik evangeliſch⸗gläubige Kreiſe, die mehr die chriſtliche

Gemeinſchaft mit den Katholiken als die Gegner⸗ ſchaft empfanden, ſich jedenfalls ihnen viel näher verwandt fühlten als den gottloſen Liberalen und den Juden, die ſich eifrig am Kampfe beteiligten. Je länger der Kulturkampf dauerte, deſto mehr wandten ſich die Konſervativen, die ſich ja ſchon ſeit 1866 durch Bismarcks Konzeſſionen nach links beunruhigt fühlten, von ihm ab. Selbſt Roon hatte ſchon bei Abſchluß des Friedens mit Frankreich ge⸗ ſchrieben (6. Februar 1871), er könne ſich in dem auf⸗ aber noch nicht ausgebauten kaiſerlichen Schau⸗ ſpielhauſe nicht zurechtfinden; die alten Heilig⸗ tümer würden zerſtört und ein neuer Tempel ge⸗ baut, deſſen Oberprieſter ſelbſt den alten Kultus aufzuopfern trachte; er vermiſſe den Boden, auf dem eine konſervative Partei der Zukunft ſich auf⸗ bauen lönne; die alte patriarchaliſch⸗konſervative Staatsidee gehe zugrunde. Roon zog ſich endlich

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zurück und nahm den Abſchied. Von der äußerſten Rechten ging man vor zu den gehäſſigſten perſönlichen Angriffen gegen den Reichskanzler, und Ludwig v. Gerlach ſprach gegen die Umwandlung des Zeughauſes in eine Ruhmeshalle, weil man nicht in einer Zeit des Ruhmes, ſondern der „nationalen Trauer und Buße“ lebe.

Bismarck wurde dadurch nur noch mehr nach links gedrängt und wünſchte, nachdem er die Nationalliberalen gewonnen, ſich auch mit der Fort⸗ ſchrittspartei auszuſöhnen (1874). Mehrfach ſetzte er ſich im Reichstag demonſtrativ zu ihnen auf ihre Bänke und begann freundliche Unterhaltungen, beſonders mit Franz Duncker. Er klagte über die Friktionen bei Hofe; das Reich müſſe beſſer kon⸗ ſolidiert werden; ohne ſie ſei eine verſtändige Mehr⸗ heit nicht zu erzielen. Aber das Liebeswerben war umſonſt. Der Abgeordnete Freiherr v. Hoverbeck warnte ſeine jüngeren Fraktionsgenoſſen ausdrück⸗ lich, jemals etwas auf die Schmeichelreden des Meiſters in jeder Verſtellungskunſt zu geben.

Nichtsdeſtoweniger trat Bismarck im Jahre 1877 noch näher an die Liberalen heran und bot Bennig⸗ ſen einen Sitz im Miniſterium an. Aber ſofort zeigte

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ſich, daß ſoweit der Reichskanzler ſich auch von den Konſervativen entfernt hatte, ihn von den Liberalen doch immer noch ein breiter Graben trennte. Auf der einen Seite verlangte Bennigſen, daß mit ihm die beiden anderen Führer der Nationalliberalen, Forckenbeck und Stauffenberg, in die Regierung berufen würden, auf der anderen ging der Miniſter Graf Eulenburg direkt an den Kaiſer, um ihn vor einer derartigen völligen Liberaliſierung der Re⸗ gierung zu warnen und zu behüten. Es wäre ſo etwas wie der Übergang in das parlamentariſche Regierungsſyſtem geworden, und wie lange hätte Bismarck ſelber das ertragen? Preußen vor der parlamentariſchen Regierung zu bewahren, hatte er ja 1862 in allen Wettern und Wirbeln das Staatsruder ergriffen. Denn die Nationallibe⸗ ralen, obgleich ſie ſeit 1866 um des Vaterlandes willen Kompromiß auf Kompromiß mit ihm ge⸗ ſchloſſen hatten, grundſätzlich hielten ſie doch noch an den Idealen des parlamentariſchen Majoritäts⸗ regimentes feſt und ſuchten vermöge des Geld⸗ und Steuerbewilligungsrechts die Macht in die Hand zu bekommen. Nach liberaler Tradition war die Haupttugend eines Volksvertreters, zu ſparen

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und an dem von der Regierung vorgelegten Etat, beſonders an dem Militäretat, zu ſtreichen. Steuern wollte man nicht bewilligen, nicht nur, um es mit den Wählern nicht zu verderben, ſondern auch um die Regierung in Abhängigkeit zu erhalten. Bennigſen brachte einmal einen Antrag, einen Kaffeezoll zwar zu bewilligen, ihn aber beweglich zu machen, ſo daß es jedes Jahr in der Hand der Reichstagsmajorität gelegen hätte, die Höhe zu beſtimmen.

Obgleich die Geſetzgebungsarbeit im Reich rüſtig fortſchritt, z. B. die großen Juſtizgeſetze jetzt zur Verabſchiedung gelangten, ſo fühlte ſich Bis⸗ marck doch in einer großen Bedrängnis zwiſchen den Liberalen mit ihren unerfüllbaren Anſprüchen auf der einen und dem Zentrum mit ſeiner Todfeindſchaft auf der anderen. Die Wirkung zeigte ſich beſonders an den Finanzen des Reiches, die ohne neue Steuern nicht in Ordnung zu halten waren. Etwa zwei Jahre lang ſuchte und taſtete der Kanzler, wie er ſich und ſeine Politik vor dem Reichstag retten könne. Schon im Herbſt 1876 meldete Blankenburg an Roon: Bismarck will los von den Liberalen, aber bis in das Jahr 1878

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hinein zogen ſich ſeine wiederholt aufgenommenen Verhandlungen mit Bennigſen. Endlich zeigten ſich dem weitausſchauendem Blicke des Staats⸗ manns in den Verſchiebungen der Weltverhält⸗ niſſe wie des Volkslebens die Möglichkeiten neuer Kombinationen.

Seit dem Jahre 1874 laſtete ziemlich auf der ganzen Kulturwelt eine Wirtſchaftskriſis, über deren Urſachen die Wirtſchaftsforſcher auch heute noch nicht einig ſind. Man wird wohl annehmen dürfen, daß mehrere Umſtände zuſammengewirkt haben, die Kriſis ſo außerordentlich langwierig und hartnäckig zu machen. In erſter Linie dürfte es eine Währungskriſis geweſen ſein. Die fran⸗ zöſiſche Regierung hatte den Krieg von 1870 zum großen Teil mit Papierzeichen bezahlt und da⸗ durch die Umlaufsmittel ſehr vermehrt, die nun allmählich wieder eingezogen wurden. Gleichzeitig gingen unter dem Vorantritt Deutſchlands die Staaten allmählich von der Doppelwährung oder Silberwährung zur reinen Goldwährung über, demonetiſierten das Silber und ſchränkten dadurch die Umlaufsmittel noch weiter ein. Schließlich nahm die Goldproduktion fortwährend ab und

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ſank bis auf etwa 400 Millionen Mark jährlich (jetzt nach Entdeckung der neuen Goldbergwerke beträgt ſie etwa zwei Milliarden). Durch die ver⸗ ſchiedenſten Arten von Kreditmitteln und Geld⸗ ſurrogaten kann man nun freilich den Gebrauch des baren Geldes ſehr einſchränken, aber die Ein⸗ führung ſolcher Hilfsmittel muß ſich immer erſt den Volksgewohnheiten anpaſſen und erfordert eine gewiſſe Zeit. Der Mangel an genügenden Umlaufsmitteln dürfte daher den erſten Anſtoß zur Kriſis von 1874 gegeben haben. Es kam aber hinzu, daß gleichzeitig im Laufe der ſiebziger Jahre in Amerika immer neue, ungeheure Gebiete der Landwirtſchaft erſchloſſen wurden und der fort⸗ ſchreitende Handel und die fortſchreitende Tech⸗ nik die Frachtkoſten ſehr verbilligten, ſo daß die europäiſchen Landwirte die Preiſe, die allen Gutskäufen, Übernahmen und Pachtungen zu⸗ grundegelegt zu werden pflegten, nicht mehr zu erzielen vermochten. Ein allgemeiner Preis⸗ druck ſetzte ein, ſo groß, daß ſchließlich auch die Konſumenten darunter litten, weil eine allgemeine Stockung die Arbeitsmöglichkeiten unterband.

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Indem Bismarck in feiner Varziner Einſamkeit erwog, wie das deutſche Wirtſchaftsleben wieder zu heben und künftighin vor ſolchen Schädigungen zu bewahren ſei, gelangte er zu dem ehedem ſo viel angewandten Mittel des Schutzzolles. Die preu⸗ ßiſchen Konſervativen waren bis dahin durchaus freihändleriſch geſinnt, da Preußen noch vor⸗ wiegend Agrarſtaat und auf den Export ſeines über⸗ ſchüſſigen Getreides angewieſen war. Etwa um die Mitte der ſiebziger Jahre hörte das auf. Es war alſo möglich, auch der Landwirtſchaft mit einem Schutzzoll beizuſpringen.

Hier fand die ſchöpferiſche Kraft des Bismarck⸗ ſchen Geiſtes ihr Feld. Eine aus Agrariern und Induſtriellen formierte ſchutzzöllneriſche Bewegung mußte das ganze bisherige Parteiweſen erſchüttern und umwerfen.

Hätte es ſich freilich darum gehandelt, den Grund⸗ beſitzern durch Verteuerung des Brotes auf Koſten der großen Maſſen einen Vorteil zuzuwenden, ſo hätte dieſe Politik ſchwerlich Erfolg haben können, aber was zu erzielen war, war ja nur die Bewah⸗ rung des Standes der Grundbeſitzer vor einem Schaden, den ihnen eine Weltkonjunktur zuzu⸗

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fügen drohte, und dafür ließen ſich nicht nur die Induſtriellen auf Grund der Gegenleiſtung, ſondern auch die Menge der Nichtintereſſierten gewinnen“). Hier ergab ſich auch die Möglichkeit eines prak⸗ tiſchen Zuſammenwirkens und damit eine Annähe⸗ rung an das Zentrum, das ſeine Wählermaſſen bei weitem zum größten Teile in agrariſchen Kreiſen hat. Der Zufall wollte, daß eben um dieſe Zeit (8. Februar 1878) Pius IX. ſtarb, und ſein Nach⸗ folger, Leo XIII. ſofort bemerkbar machte, daß er bereit ſei, über die Beilegung des Kulturkampfs in Deutſchland mit ſich verhandeln zu laſſen. Langſam, langſam unter fortwährendem Drängen, Kämpfen, Zanken und Feilſchen gingen die Ver⸗

*) In den Jahren 1851 bis 1880 war der Durchſchnitt des Weizenpreiſes 209,6 für die Tonne. Dieſer Preis iſt trotz der Zölle nur 1891 (mit 224,2) und 1909 (mit 233,09) überſchritten worden; im Jahre 1913 war der Jahresdurch⸗ ſchnittspreis 199; im Juli 1914 209. Der Roggen koſtete im Durchſchnitt 1851 bis 1880 163,7, hat dieſen Durchſchnitt bis 1909 ſechsmal überſchritten, iſt aber auch 1896 trotz Zoll bis auf 118,8 geſunken. 1913 betrug der Jahresdurchſchnitts⸗ preis 164,3; 1914 im Juli 174. Der Konſum von Roggen iſt ſeit 1878 pro Kopf der Bevölkerung etwa derſelbe ge⸗ blieben; gleichzeitig aber der Verbrauch von Weizen ganz gewaltig geſtiegen, die Geſamternährung durch Brotfrüchte alſo ungeheuer verbeſſert.

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handlungen voran; bald ſpielte Bismarck den Papſt gegen das Zentrum, bald das Zentrum gegen den Papſt aus. Bald verſicherte er, daß er zu dem Papſt und ſeiner Perſönlichkeit volles Vertrauen habe; oder erklärte, daß das Papſttum als eine univerſale Inſtitution doch inſofern auch zu den deutſchen Inſtitutionen gehöre, als ſo viele Deutſche ſich zu Angehörigen der katholiſchen Kirche bekennten; bald ſprach er den Wunſch aus: „das Gefühl, daß wir alle Deutſche und Lands⸗ leute ſind, höher und ſtärker in uns lebendig zu machen, als das Gefühl, daß wir verſchiedenen Konfeſſionen angehören,“ und unterſchied die ein⸗ zelnen, beſſer geſinnten Mitglieder des Zentrums von den Tendenzen der Fraktion. Der König wünſche mit ſeinen katholiſchen Untertanen in Frieden zu leben und ſie zufriedenzuſtellen.

Zu einer Verſöhnung kam man nicht, aber die für die katholiſche Kirche unannehmbaren Beſtim⸗ mungen der Kulturkampf⸗Geſetze wurden all⸗ mählich aufgegeben und abgebrochen, und indem das Zentrum für die Schutzzölle eintrat, verſah es auch das Reich mit neuen Mitteln, freilich unter Bedingungen, über die noch zu reden ſein wird.

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Neben Schutzzoll und Kompromiß mit dem Zen⸗ trum erſchien nun aber noch ein drittes Moment, die Parteiverhältniſſe umzuwandeln. Die Sozial⸗ demokratie, die ſeit Anfang der ſechziger Jahre angefangen hatte, ſich parteipolitiſch zu organiſieren, nahm einen ganz ungeahnten Aufſchwung, und in pſychologiſchem oder, wenn man will, pfycho⸗ pathiſchem Zuſammenhang mit ihrer wilden Agi⸗ tation erfolgten dicht hintereinander zwei Atten⸗ tate auf den ehrwürdigen Kaiſer Wilhelm. Schon nach dem erſten Attentat legte Bismarck dem Reichs⸗ tag ein Geſetz vor, das die ſozialdemokratiſche Be⸗ wegung mit ſcharfem polizeilichen Zugriff feſſeln ſollte. Die Nationalliberalen und die erdrückende Mehrheit des Reichstags lehnten es ab. Nach dem zweiten Attentat, bei dem der Kaiſer ſchwer verwundet wurde und das das ganze Volk mit einer ungeheuren Erbitterung erfüllte, löſte Bismarck den Reichstag auf. Die Auflöſung wäre nicht nötig geweſen, denn die Nationalliberalen waren jetzt ohnehin bereit, ſich auf ein Ausnahme⸗ geſetz einzulaſſen, und auch nach den Neuwahlen, die ihnen etwa 50 Sitze koſteten, die den Konſer⸗ vativen und Freikonſervativen zufielen, blieb die

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Entſcheidung bei ihnen, aber für die allgemeine Lage des Reichstags war die Verſchiebung zu⸗ gunſten der Rechten von höchſter Bedeutung. Denn während es bisher ohne die Nationallibe⸗ ralen (faſt 150 Stimmen) überhaupt keine Majori⸗ tät für die Regierung gegeben hatte, ſo konnte jetzt auch eine Majorität aus den beiden konſer⸗ vativen Parteien und dem Zentrum gebildet werden. Damit war allen Gelüſten nach einem parlamentariſchen Regiment vorläufig ein Ende gemacht. Die Regierung blieb der führende, maß⸗ gebende Faktor im Reichsregiment, indem ſie ſich bald auf dieſem, bald auf jenem Wege vermöge eines entſprechenden Entgegenkommens eine Ma⸗ jorität verſchaffte. | Zunächſt wurde nun ein Ausnahmegeſetz ge⸗ ſchaffen, das der Polizei gegenüber den Sozial⸗ demokraten weitgehende Vollmachten gewährte. Vereine, Verſammlungen und Zeitungen, in welchen ſozialdemokratiſche, ſozialiſtiſche oder kom⸗ muniſtiſche, auf den Umſturz der beſtehenden Staats⸗ oder Geſellſchaftsordnung gerichtete Be⸗ ſtrebungen in einer den öffentlichen Frieden ge⸗ fährdenden Weiſe zutage traten, konnten danach

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verboten und unterdrückt werden; für gemiffe Orte und Gegenden konnte ferner der ſog. kleine Belagerungszuſtand erklärt werden, der u. a. die Möglichkeit gewährte, Agitatoren auszuweiſen. Als Bürgſchaft gegen den Mißbrauch ſolcher Voll⸗ machten wurde das Geſetz zunächſt auf Jahre beſchränkt und dann periodiſch bis zum 30. Sep⸗ tember 1890 verlängett.

Während Deutſchland bis dahin den Eindruck eines in wilden Wogen aufſchäumenden Meeres geboten hatte, trat mit einem Schlage Ruhe ein, und das erregte Meer wurde glatt und ſtill.

Aber dieſer vorteilhafte Zuſtand währte nur kurze Zeit. Die Vorſtellung, daß der Schutzzoll eine ungerechte Bevorzugung gewiſſer Gewerbe und eine Benachteiligung der Konſumenten, der Freihandel das allein gerechte und zugleich wirt⸗ ſchaftlich produktivſte Wirtſchaftsſyſtem darſtelle, war in Deutſchland zu tief eingewurzelt und zu⸗ gleich von zu ſtarken Intereſſen getragen, als daß ſie ſo ſchnell hätte überwunden werden können. Die nationalliberale Partei ſpaltete ſich darüber. Etwa die Hälfte und darunter, mit Ausnahme von Bennigſen und Miquel, gerade die hervorragende⸗

ren und bedeutenderen Perſönlichkeiten, ſchie⸗ den aus und gründeten eine neue liberale Vereini⸗ gung, und die nächſten Wahlen (1881) brachten der Fortſchrittspartei auf Koſten der Konſervativen und Freikonſervativen einen ſo großen Stimmen⸗ zuwachs, daß jetzt ohne das Zentrum überhaupt keine Majorität mehr zu beſchaffen war. Auch die nächſten Wahlen (1884) änderten daran nur wenig, obgleich ſie den Konſervativen einigen Zuwachs verſchafften.

Bismarck war alſo 6 Jahre lang, von 1881 bis 1887, darauf angewieſen, durch fortwährendes Paktieren mit dem Zentrum die Reichsmaſchine, ſozuſagen, in Gang zu halten. Die Situation iſt keineswegs etwa gleichzuſtellen ſeinem Paktieren mit den Nationalliberalen in dem Jahrzehnt von 1866 bis 1876, denn ſo ſehr auch hier das Zuſam⸗ menwirken auf Kompromiß und gegenſeitiger Nach⸗ giebigkeit beruhte, ſo entſprang es doch aus einer tiefen gemeinſamen Idee, der Herſtellung eines Deutſchen Reichs unter preußiſcher Führung. Das Zuſammenwirken mit dem Zentrum aber war ein rein äußerliches, durch die parlamentariſchen Macht⸗ verhältniſſe erzwungenes. Die Nationalliberalen

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hatte es ſeinerzeit mit tiefſter fachlicher Befriedi⸗ gung erfüllt, wenn ſie mit dem leitenden Staats⸗ mann zu einer Einigung gelangten. Das Zentrum unter der klugen und zähen Führung des ehe⸗ maligen hannoverſchen Miniſters Windthorſt hatte ſeine Befriedigung in dem Gefühl, den gewaltigen Gegner zu bezwingen und ihn ſeinem Willen zu unterwerfen, und alles wurde unter dieſen tak⸗ tiſchen Geſichtspunkt geſtellt. Neben der ſachlichen Prüfung der Forderungen in den von der Regie⸗ rung vorgelegten Etats blieb immer der taktiſche Grundſatz, der Regierung zu zeigen, daß man die Macht habe, und Streichungen vorzunehmen, bloß um wieder daran zu erinnern, daß das Zentrum in der Lage ſei ſich zu rächen, wenn die Verwaltung ihr nicht genügend entgegenkomme. Man arbeitete nicht ohne Erfolg mit an der Geſetzgebung die erſten ſozialen Geſetze, das Krankenkaſſengeſetz und das Unfallverſicherungsgeſetz wurden in dieſer Periode geſchaffen —, ſah aber jedes Geſetz darauf an, ob nicht die Reichs⸗ und Staatsgewalt dadurch geſtärkt würde, was man verhindern wollte. Eine Zulage von, ſage und ſchreibe, 2700 Mk. für die überlaſteten Subalternbeamten des Auswär⸗

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tigen Amtes durchzuſetzen, mußte der Reichskanzler perſönlich erſcheinen, reden, kämpfen und zerren. Die geſteigerten Geſchäfte des Auswärtigen Amtes verlangten einen neuen Miniſterialdirektor: der Reichstag lehnte ihn glatt ab, bis ein Sturm in der öffentlichen Meinung ſich erhob und 19 Mitglieder der Freiſinnigen Partei bewog, ihre Haltung zu ändern und der Regierung eine kleine Majorität zu verſchaffen (4. März 1885).

Sehr ſchwere Schädigungen aber erfuhr das Deutſche Reich in der zwar nicht ganz verſagenden, aber doch immer ungenügend bleibenden Fürſorge auf dem Gebiet ſeiner Finanzen. Die Majorität des Reichstages, das Zentrum mit ſeinen Annexen an Welfen, Elſäſſern und Polen, die Freiſinnigen und die Sozialdemokraten bildeten eine geſchloſſene Majorität, die zu keiner Steuerbewilligung zu be⸗ wegen war, und es begann der unerhörte Zuſtand, der ſich progreſſiv bis zum Jahre 1913 fortgeſetzt und geſteigert hat, daß mitten im Frieden Anleihen aufgenommen wurden, um laufende Ausgaben zu decken. Im Jahre 1876 noch war das Reich ſchul⸗ denfrei; bis zum Abgang Bismarcks 1890 waren ſie ſchon auf über eine Milliarde, bis zum Ausbruch

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des jetzigen Krieges auf faſt 5 Milliarden geſtiegen. Der Nationalökonom Schanz berechnete im Jahre 1909, daß wenn der Reichstag im Jahre 1877 nur 70 Millionen Mark bewilligt hätte (etwa die Bier⸗ ſteuer, wie ſie ſeit dem Jahre 1909 ohne Nachteil eingeführt worden iſt), das Reich ſchuldenfrei ſein würde. Nun ſchien ein Zufall Hilfe zu bringen. Bei dem erſten Schutzzolltarif von 1879 war das Brotgetreide mit einer Mark für den Doppel⸗ zentner belaſtet worden; da nun aber der Welt⸗ marktspreis immer weiter ſank, wurde der Zoll im Jahre 1885 auf drei Mark erhöht, was bei der großen Einfuhr auch der Reichskaſſe aufgeholfen hätte. Das Zentrum wollte den Schutzzoll, aber nicht die finanzielle Stärkung des Reiches. Schon bei dem erſten Schutzzolltarif war die eigentüm⸗ liche Franckenſteinſche Klauſel zugefügt worden, wonach das Reich von den neuen Einnahmen nur 130 Millionen Mark behalten, ben Überſchuß aber an die Einzelſtaaten verteilen mußte. Das war aber mehr eine ſtaatsrechtliche, als eine finanzielle Beſtimmung, denn in der Form der Matrikular⸗ beiträge konnte das Reich jene Verteilung wieder zurücknehmen. Die Franckenſteinſche Klauſel be⸗

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deutete aljo nur die Wahrung des Budgetrechts des Reichstages, und die Nationalliberalen hatten darin ſogar noch weitergehen wollen als das Zen⸗ trum. Dieſes Budgetrecht des Reichstages aber wurde allmählich mehr und mehr als eine bloße Doktrin erkannt, eine Waffe, die in dem Macht⸗ ſtreit zwiſchen Regierung und Parlament, wie er ſich in Deutſchland geſtaltet hatte, praktiſch keine Anwendung mehr finden konnte. Das Entſchei⸗ dende war, ob tatſächlich Geld in den Kaſſen war oder nicht. Wenn nicht, ſo blieb die Regierung unter dem ſteten Druck des Reichstages, d. h. in unſerem Falle des Zentrums. Das Zentrum be⸗ ſchloß alſo die Bewilligung, die es mit der einen Hand machte, mit der anderen wieder zu nehmen, indem es das Reich zwang, nicht nur die neuen Überſchüſſe an die Einzelſtaaten zu verteilen, ſon⸗ dern auch durch ein beſonderes Geſetz in Preußen (lex Huene) den Staat zwang, ſeinen Anteil an die Kreiſe weiterzuverteilen. Durch eine groteske Multiplikation von Einwohnern und Quadrat⸗ meilen wurde für dieſe Verteilung ein Maßſtab geſchaffen. Die Kreiſe brauchten zum Teil dieſe Zuſchüſſe gar nicht, ſondern bauten luxuriöſe

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Amtswohnungen für ihre Landräte davon der

Zweck des Zentrums aber, das Reich arm zu er⸗ halten, damit es der Fraktion dienſtbar ſei, war erfüllt. Dabei gibt es Leute, die behaupten, daß in Deutſchland der Reichstag nichts zu ſagen habe eher dürfte man es als eine Schmach empfinden, daß ſelbſt ein Bismarck ſich ſolchen Bedingungen des Reichstags hat unterwerfen müſſen.

Wenn ſelbſt das Geld aus den Zöllen, das ſchon in den Reichskaſſen war, ihnen wieder entzogen wurde, ſo war es nur natürlich, daß andere Mittel erſt recht nicht bewilligt wurden. Bismarck hielt Monopole für eine beſonders geeignete Methode, die Staatseinnahmen zu erhöhen, ohne die Volks⸗ wirtſchaft empfindlich zu belaſten. Aber ſowohl das Tabaksmonopol, wie nachher das Branntwein⸗ monopol lehnte der Reichstag, weſentlich unter dem Geſichtspunkt, daß die Macht der Regierung vermöge des großen neuen Beamtenapparats geſtärkt werde, ab.

Schon erwies ſich auch das Sozialiſtengeſetz als nicht ſo wirkſam, wie man erwartet hatte. Nur den erſten Augenblick hat der Schlag eine betäubende _ Wirkung gehabt, und die Agitation ſetzte in neuen,

4 Delbrück, Bismarcks Erbe 97

borjichtigeren Formen bald wieder ein. Die Mandate, die von 12 auf 9 im Jahre 1878 zurück⸗ gegangen waren, ſtiegen im Jahre 1884 wieder auf 24, und die Zahl der Stimmen von 312 000 (im Jahre 1881) auf 550 000.

Schon im Jahre 1878 hatte Bismarck Bedenken gehabt, ob mit dem beſtehenden Reichstagswahl⸗ recht auf die Dauer auszukommen ſei.“) Jetzt finden wir die erſte Spur einer praktiſchen Vor⸗ bereitung für eine gewaltſame Anderung. Die preußiſche Regierung erließ eine Erklärung (4. April 1884), die dann vom Bundesrat gutgeheißen wurde, daß das Reich auf einem Vertrage der Einzelſtaaten beruhe woraus ſich alſo folgern ließ, daß es auf demſelben Wege wieder aufgelöſt und mit einer anderen Verfaſſung von neuem errichtet werden könne.

Das Schickſal aller Vorlagen, erklärte der Kanzler im Reichstag gleich nach den Neuwahlen von 1884, ſei ja ganz klar vorauszuſehen. Aus taktiſchen, nicht aus ſachlichen Gründen, um der Macht willen, lehnten Zentrum und Deutſchfreiſinnige die Vor⸗

„) Brief an Tiedemann vom 15. Aug. 1878. Ged. u. Erinn. II, S. 190.

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lagen der Regierung ab, und indem die fremd⸗ ländiſchen Elemente, die Polen, die franzoſen⸗ freundlichen Elſäſſer und die Welfen ihnen beiträten, die alle das Reich überhaupt nicht wollten, ſei ſtets eine Majorität gegen die Regierung gegeben. „Aber“, fügte er hinzu, „ich laſſe mir von der Majo⸗ rität des Reichstages nicht imponieren. Nein, meine Herren, in keiner Weiſe, dazu ſind Sie gar nicht die Männer. Ich habe mir ja von ganz Europa nicht imponieren laſſen. Sie werden nicht die erſten ſein.“ „Sie wollen uns mürbe machen, indem Sie Oppoſition machen; Sie kriegen uns nicht mürbe, es wird etwas anderes mürbe, das iſt: der gemeinſame Boden, auf dem wir uns begegnen“ (das heißt alſo: die Verfaſſung). „Ich halte den Papſt“, rief er dem Zentrum zu (12. April 1886), „für deutſchfreundlicher als das Zentrum. Der Bapit iſt eben ein weiſer, gemäßig⸗ ter und friedliebender Herr. Ob man das von allen Mitgliedern der Reichstagsmajorität ſagen kann, laſſe ich dahingeſtellt ſein. Der Papſt iſt außerdem kein Welfe, er iſt nicht Pole und er iſt auch nicht deutſchfreiſinnig. Er hat auch keine Anlehnung mit der Sozialdemokratie.“

4 gg

Man wäge ſolche Sätze, die damals mit Heiter- keit aufgenommen wurden! In welcher Stim⸗ mung muß ein deutſcher Reichskanzler ſein, der den Papſt, einen italieniſchen Prälaten, für deutſch⸗ freundlicher als die Mehrheit der deutſchen Volks⸗ vertretung erklärt!

Noch einmal fand das Bismarckſche Genie einen Ausweg. Das Hauptagitationsmittel der Libe⸗ ralen ſeit Beginn des Verfaſſungslebens war die Oppoſition gegen die Militärausgaben geweſen.

Allmählich aber war der Staatsgedanke in den

Maſſen erſtarkt und damit auch das Verſtändnis für die Notwendigkeit des Heeresaufwandes ge⸗ wachſen. Bismarck erkannte, daß der Moment gekommen ſei, wo man den Spieß umdrehen könne. Der Zufall wollte, daß in dem Auf und Ab der Spannungen mit Frankreich die Revancheidee ein⸗ mal wieder nach oben gekommen und in einem jorſchen General namens Boulanger einen unter- nehmungsluſtigen Vertreter gefunden hatte. Wenn auch noch kein formelles Bündnis mit Rußland beſtand, ſo war die Annäherung doch ſo weit ge⸗ diehen, daß die Franzoſen ſicher darauf rechneten, in einem Kriege mit Deutſchland von den Ruſſen

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nicht im Stich gelajjen zu werden. In Deutſch⸗ land hatte man angeſichts der ungünſtigen Reichs⸗ finanzen die Heeresſtärke erheblich unter den her⸗ kömmlichen Satz von 1% der Bevölkerung ſinken laſſen; jetzt beantragte die Regierung im Hinblick auf die drohende Kriegsgefahr die Herſtellung dieſer Verhältniszahl durch Vergrößerung der Armee um 41 000 Mann (von 427000 auf 468 000). Nicht nur wegen der unverkennbaren äußeren Gefahr, ſondern auch innerlich waren die beiden Oppoſitionsparteien, das Zentrum und die Deutſch⸗ freiſinnigen, geneigt, der Regierung entgegenzu⸗ kommen. Die Taktik des Abgeordneten Windt⸗ horſt war es ja ſchon lange, ſich gleichzeitig der Regierung unentbehrlich zu machen und ſie unter Druck zu halten und ihr Konzeſſionen abzupreſſen. Die deutſchfreiſinnige Partei hatte ſich im Jahre 1884 aus der alten Fortſchrittspartei und den nationalliberalen Sezeſſioniſten neu gebildet mit dem unausgeſprochenen Programm, einmal bei einem Regierungswechſel ſich dem neuen Kaiſer zur Verfügung zu ſtellen und Bismarck zu erſetzen. Da nun kein deutſcher Kaiſer je in Armeefragen mit ſich ſpaßen laſſen wird, ſo mußte ſie ſehr vor⸗

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ſichtig ſein. Auf der anderen Seite aber hatte ſie und nicht weniger das Zentrum vor ihren Wählern von je über die Militärlaſten geklagt und im beſonderen die jährliche Bewilligung durch den Reichstag gefordert, um der parlamentariſchen Macht willen. Selbſt die Nationalliberalen hatten ſich ja im Jahre 1874 nur mit Mühe zu einer Bewilligung auf ſieben Jahre beſtimmen laſſen. Bismarck forderte deshalb die um 41 000 Mann verſtärkte Armee aufs neue auf ſieben Jahre. um dieſen Zeitraum, um das Septennat, entbrannte der Kampf. Heute wiſſen wir, wie wenig das zu bedeuten hat, da kein Reichstag mehr notwendige Heeresausgaben verſagen und es auf eine Macht⸗ probe ankommen laſſen wird. Damals aber er⸗ ſchien es als der Mittelpunkt des konſtitutionellen Lebens. Schritt für Schritt kamen die Parteien der Regierung entgegen und boten endlich die ganze Forderung auf drei Jahre. Das ſachlich Notwendige wäre damit gegeben geweſen, aber wenn die Parteien für ihre Bewilligungen nicht nur praktiſche, ſondern auch taktiſche Geſichtspunkte in Betracht zogen, ſo verſtand Bismarck dieſe Kunſt nicht minder. Er ſah ſeinen Vorteil. Keinen

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Zoll gab er nach. Die Parteien aber hätten ihre ganze Vergangenheit verleugnet, wenn ſie das Septennat ohne jeden Abſtrich hätten annehmen wollen. So mancher Anhänger Bismarcks zwei⸗ felte, ob die Frage Triennat oder Septennat geeignet ſei, eine Wahlparole für eine Auflöſung abzugeben; der Unterſchied ſei zu fein, die Maſſen würden ihn nicht verſtehen. Aber Bismarck kannte die Volksſeele beſſer: was ſchert den gemeinen Mann Triennat oder Septennat, wenn er zur Wahl⸗ urne gerufen wurde? Er empfand nur: für oder gegen die Armee.

Seit ihrer Spaltung im Jahre 1880 hatte die nationalliberale Partei ein unerfreuliches Daſein gefriſtet, ſie war auf einige 40 Stimmen im Reichs⸗ tag zuſammengeſchmolzen, die keine poſitive Be⸗ deutung hatten. Hatte die Regierung die Rechte und das Zentrum für ſich, jo bedurfte fie der

Nationalliberalen nicht; hatte ſie das Zentrum gegen ſich, ſo konnten ihr die Nationalliberalen nichts helfen. Verzweifelnd an einer erſprießlichen Tätigkeit, hatten die beiden Führer Miquel und Bennigſen auf ihre Mandate verzichtet und ſich aus dem politiſchen Leben zurückgezogen. Jetzt

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holte Bismarck fie mwiever heran. Auf der fon- ſervativen Seite hatte ſich im Beginn der acht⸗ ziger Jahre eine demokratiſch⸗demagogiſche Rich⸗ tung unter Führung des Hofprediger Stöcker ent⸗ wickelt, die hauptſächlich mit den antiſemitiſchen

Empfindungen im Volke arbeitete. Bismarck ſetzte

es nunmehr durch, daß Stöcker mit ſeinem Anhang in den Hintergrund geſchoben wurde und die Kon⸗ ſervativen, Freikonſervativen und Nationallibe⸗ ralen ein Bündnis zu gegenſeitiger Unterſtützung,

ein Kartell, ſchloſſen.

Das Aufwerfen der Armeefrage und das

Kartell gaben ihm bei den Wahlen (21. Februar 1887) einen glänzenden Sieg. Die Kartellpar⸗ teien gewannen etwa 70 Sitze und damit 20

Stimmen über die abſolute Majorität. Die Nationalliberalen verdoppelten ſich geradezu und

7 g

kamen auf faſt 100 Stimmen; den Haupt⸗ | verluſt hatten die Deutſchfreiſinnigen und neben

ihnen die Sozialdemokraten, die von 25 Eigen auf 11 reduziert wurden, und die Welfen, die von

i | 0 i | Ä

11 Sitzen ſechs verloren.

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Der neue Reichstag bewilligte das Septennat, | ein großes Extraordinarium für die Armee und eine

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neue Branntweinſteuer, die hundert Millionen einbrachte. Dieſer Reichstag ſchuf weiter das Hauptſtück der Sozialreform, die Invaliditätsver⸗ ſicherung. Aber das Kartell der Parteien, auf das er gegründet war, hielt nicht vor. Schon im Herbſt des Jahres 1887 war der Abgeordnete Windthorſt wieder in einer großen Frage der Führer des Hauſes. Die Weltmarktpreiſe der Agrarprodukte blieben in ſtändigem Rückgang, ſo daß die Regierung abermals eine Erhöhung der Getreidezölle von 3 auf 6 Mark vorſchlug. Dafür war die nationalliberale Fraktion nicht zu haben, und das Zentrum gab ſchließlich die Entſcheidung, indem es den Zoll auf 5 Mark feſtſetzte.

Alle bisherigen politiſchen Kombinationen ſchie⸗ nen in Frage geſtellt, als nun das Jahr 1888 den doppelten Thronwechſel brachte. Aber Hoffnungen oder Befürchtungen hüben wie drüben wurden enttäuſcht. Kaiſer Friedrich behielt den Fürſten Bismarck als Reichskanzler und Kaiſer Wilhelm II. ließ kundgeben, daß er die Kartellpolitik billige. In der ergreifenden Rede, in der Bismarck dem Reichstag das Ableben Kaiſer Wilhelms berichtete, teilte er mit, welch ein Troſt es für den Sterben⸗

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den geweſen jei, aus der einmütigen Bewilligung, mit welcher der Reichstag große, außerordentliche Mittel für das Heer zur Verfügung geſtellt hatte, den Beweis der Einheit der geſamten deutſchen Nation zu entnehmen. Nach außen ſollte aber nicht nur niemand durch dieſe geſchloſſene Macht des Deutſchtums bedroht werden, ſondern Bis⸗ marck wünſchte ſogar den Franzoſen, um ſie von ihren Revanchegedanken abzulenken, große kolo⸗ niale Erwerbungen, um ihnen Erſatz für Elſaß⸗ Lothringen zu verſchaffen. Nicht nur, ohne von Deutſchland darin behindert zu werden, ſondern ſogar mit einer gewiſſen Unterſtützung Deutſch⸗ lands gewannen die Franzoſen als die Beſiegten von Sedan das große Kolonialreich, nach dem ſie als „grande nation“ ſo lange vergeblich geeifert hatten. Halfen ſolche Wohltaten nicht, ſo griff der große Zauberer zu Drohung und Einſchüchte⸗ rung. Mitten in dieſer aber zeigte er wieder ſach⸗ liches Entgegenkommen. Im Januar 1887 ſtellte er den Franzoſen das saigner à blanc in Ausſicht, wenn ſie uns angreifen ſollten; als aber im April wegen der Verhaftung eines franzöſiſchen Spions, namens Schnäbele, unmittelbar an der Grenze,

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ein Lärm in der franzöſiſchen Preſſe entſtand, der zum Kriege hätte führen können, ließ Bismarck den Mann unter einem ritterlichen Vorwande frei, und als im Herbſt desſelben Jahres ein deut⸗ ſcher Grenzſoldat einen franzöſiſchen Forſtwärter erſchoß, den er auf deutſchem Gebiet betroffen und für einen Wilderer gehalten hatte, da löſchte Bismarck abermals durch Entgegenkommen den Funken, der den Brand entzünden konnte: die franzöſiſche Preſſe forderte mit lauten Drohun⸗ gen 40 000 Francs für die Witwe als Entſchädi⸗ gung: Bismarck ſandte durch den deutſchen Bot⸗ ſchafter 50 000 Mark, ehe noch die franzöſiſche Re⸗ gierung ſo weit gekommen war, eine Forderung aufzuſtellen. Gleich darauf erſuchte die deutſche Regierung den Reichstag um eine Verlängerung der Landwehrpflicht, die Aufſtellung von 700 000 Triariern: die Rede, in der Bismarck die Forde⸗ rung begründete, brachte jenes Wort: „Wir Deutſche fürchten Gott und ſonſt nichts in der Welt“ und entfachte einen Sturm der Begeiſterung in Deutſchland, dem Inhalt nach aber war es eine Friedensrede, fand Entſchuldigungs⸗ und Er⸗ klärungsgründe für die drohenden Truppenver⸗

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ſchiebungen der Ruſſen an unſerer Grenze und enthielt ſich ſo ſehr jeder Drohung, daß ſie ſogar die aktuelle Kriegsgefahr direkt ableugnete.

Die erfolgreiche Friedenspolitik nach außen, die fruchtbare Geſetzgebung im Innern ſchienen dem Reichskanzler eine ebenſo grandioſe wie uner⸗ ſchütterliche Stellung zu geben.

Trotzdem fühlte er ſich immer b

Von allen Seiten drängte man mit Forderun⸗ gen an ihn heran, die, ſeiner Politik an ſich nicht widerſprechend, ihr ſogar konform, doch ſeiner Individualität widerſtrebten, ſeiner ſubjektiven Auffaſſung nicht zuſagten und denen er ſich mit einem gewiſſen Alterseigenſinn widerſetzte. Die preußiſche Klaſſen⸗ und Einkommenſteuer be⸗ durfte dringend einer Neuordnung; die preußi⸗ ſche Landgemeindeordnung zeigte unerträgliche Mißbräuche. Die Sozialreform bedurfte einer Ergänzung durch ein Arbeiterſchutz⸗Geſetz ſo ſehr, daß der Reichstag es in einſtimmigen Reſolutionen forderte. Bismarck wollte von alledem nichts wiſſen. Rings um ſich herum aber glaubte er Intrigen zu bemerken, die auf ſeinen Sturz ausgingen oder ſich wenigſtens ſchon darauf rüſteten, ihn zu beerben.

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Der Hauptanſtoß ging von der äußerſten Rechten aus, geführt von dem Hofprediger Stöcker und dem Chefredakteur der Kreuz⸗Zeitung, Freiherrn v. Hammerſtein. „Das Gold altpreußiſch⸗konſer⸗ vativer Prinzipien ſolle keine Legierung erfahren mit unedlem Metall aus der Schatzkammer des Liberalismus, verkündete die Kreuzzeitung und griff immer von neuem das Kartell an, weil es die Politik in liberale Bahnen führe. Im Ab⸗ geordnetenhauſe arbeiteten die Konſervativen ein Geſetz über die Aufhebung des Schulgeldes in den Volksſchulen um, in Gemeinſchaft mit dem Zen⸗ trum, ſo daß ſelbſt das Herrenhaus ſich dagegen auflehnte und die Vorlage wieder im Sinne der Regierung und der Mittelparteien zurückrevidierte. Als geheimes Haupt der konſervativen Fronde gegen den Reichskanzler galt der Chef des Großen Generalſtabes, der Nachfolger Moltkes, General Graf Walderſee, man weiß nicht, wie weit mit Recht. Sicher bezeugt iſt nur durch ſpätere Enthüllungen, daß Stöcker und Hammerſtein an Bismarcks Sturz arbeiteten.

Aber wenn die Konſervativen, wenigſtens zum Teil, wieder unzufrieden waren mit Bismarck

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wegen ſeines Liberaliſierens, ſo waren auch die Nationalliberalen keineswegs mit ihm zufrieden oder er mit ihnen. Im Januar 1888 brachte die Regierung ein neues, ſehr verſchärftes Sozialiſten⸗ geſetz ein für die Dauer von fünf Jahren. Unter Führung der Nationalliberalen lehnte der Reichs⸗ tag es ab und verlängerte nur das beſtehende Geſetz noch auf weitere zwei Jahre. Im Februar 1889 brachten die „Hamburger Nachrichten“ einen offenbar inſpirierten Artikel, der die National⸗ liberalen anklagte, auf das Ableben Bismarcks zu ſpekulieren, ſeitdem er in einer Reichstags⸗ ſitzung den Eindruck gemacht habe, daß er im Be⸗ griff ſtehe, dem Greiſenalter ſeinen Tribut zu zollen. Selbſt unter den treueſten Anhängern des Kanzlers erwuchs eine ſtarke Mißſtimmung wegen überaus gehäſſiger Angriffe auf das Andenken Kaiſer Friedrichs. Man beſchuldigte ihn der Unter⸗ grabung der monarchiſchen Geſinnung, und das Zentrumsblatt, die „Germania“, brachte einen höhniſchen Artikel mit der Überſchrift: „Es gelingt nichts mehr.“ Es war vorauszuſehen, daß bei den Reichstags⸗ wahlen, die Anfang 1890 ſtottfinden mußten,

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die Kartellmajorität in die Brüche gehen würde. Der Zufall, daß nach Erhöhung der Getreidezölle die Weltmarktpreiſe ſtark in die Höhe gingen, ließ dieſe Zölle als agrariſche Ausbeutung erſcheinen, und die hohe neue Branntweinſteuer, die ſo kon⸗ ſtruiert war, daß den Brennereien dabei eine ſehr reichliche Entſchädigung für die Laſten des Geſetzes zufiel, bot ebenfalls ein ſehr aufreizendes Agita⸗ tionsmittel für die Maſſen.

Das Kartell verlor über 70 Stimmen; die So⸗ zialdemokraten ſtiegen von 11 auf 35, das Zentrum erreichte mit 106 Stimmen ſein Maximum, die Freiſinnigen ſtiegen von 32 auf 67.

Ein derartiges Ergebnis wurde von jedermann erwartet, und in Bismarcks Gedanken muß die Frage, wie er ſich zu einem ſolchen Reichstag ſtellen werde, längſt hin und her geprüft worden ſein.

Ahnlich zuſammengeſetzte Reichstage hatte er ja auch 1881-1887 gehabt und ſchwer genug mit ihnen gekämpft. Jetzt war die Lage noch viel un⸗ günſtiger. Damals hatte er die große Gabe der Schutzzölle zu vergeben gehabt und hatte die Außen⸗ werke der Kulturkampfgeſetzgebung geopfert und vielleicht ſchon etwas mehr. Was der Kartell⸗

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reichstag an Heeresbewilligungen und Steuern gebracht hatte, war viel, aber doch immer noch nicht genug. Die drohende ruſſiſch⸗franzöſiſche Gefahr, die ſchon bis zu ruſſiſchen Truppenverſchie⸗ bungen an die deutſche Grenze gediehen war, machte neue Heeresverſtärkungen unabweislich, und ſchon meldete ſich auch die Forderung der Schaffung einer Marine an. Welche Bedingungen würde das Zentrum für ſolche Bewilligungen ſtellen? Und wenn es Steuern zu bewilligen ſich bereiterklärte, welche Steuern? Bismarck ver⸗ langte Monopole, die große Mehrheit des Abge⸗ ordnetenhauſes Reform der Einkommenſteuer mit Progreſſion, was er verabſcheute. Im Jahre 1889 hatte man ihn einmal dahin gebracht, einem Ent⸗ wurf in dieſem Sinne zuzuſtimmen, aber in dem Augenblick, als das Abgeordnetenhaus in die Be⸗ ratung eintreten wollte, ließ Bismarck die Seſſion in brüsker Weiſe unter einem Vorwand ſchließen (30. April 1889). Endlich drohten alle die anderen Forderungen, im beſonderen die Gewerbe⸗ und Ar⸗ beiterſchutzgeſetzgebung, die ihm als einem Mann des praktiſchen Lebens zu unerträglichen Eingriffen der Bureaukratie zu führen ſchienen, wo er ſich

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zu widerſetzen entſchloſſen war, jo ſehr ihm auch ſein nächſter Mitarbeiter, der Staatsſekretär d. Boetticher, zuredete, dem einmütigen Wunſch des Reichstages, dem auch der junge Kaiſer zuſtimmte, entgegenzukommen.

Die Lage ſchien hoffnungslos und ſie wurde es um ſo mehr, als Bismarck ſich von Berlin fernhielt, ſich in der Einſamkeit von Friedrichsruh vergrub (vom Mai 1889 bis Januar 1890) und gegen alle, die mit ihm zu tun hatten, ſeinen eigenen Sohn nicht ausgenommen, ausfallend und heftig wurde. Man raunte ſich in dieſen Kreiſen zu, der Alte wiſſe nicht mehr, was er wolle, er ſei nicht mehr richtig im Kopf.

In einer Staatsminiſterialſitzung vom 7. Fe⸗ bruar 1890 gab Bismarck eine Erklärung ab, daß er, wie die einen es verſtanden, ſeine preußiſchen Inter abgeben und ſich auf die Reichspolitik zurückziehen wolle, wie die anderen es verſtanden, daß er nur die Auswärtige Politik behalten wolle. Auf einen Wink Maybachs ergriff darauf Boetticher das Wort und ſprach ſein Bedauern aus, daß der Fürſt aus dieſem Kreiſe ausſcheiden wolle, und die Hoff⸗ nung, daß man dennoch ſeines weiſen Rats ver⸗

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möge des Zuſammenhangs von Reich und Preußen nicht entbehren werde. Am Abend traten die Miniſter ohne Bismarck noch einmal zuſammen, um zu beraten, wie ſie ſich verhalten ſollten. Der Finanzminiſter Scholz riet, man ſolle formell alles beim Alten laſſen und den Fürſten nur Ur⸗ fehde ſchwören laſſen, daß er ſich um das Innere nicht mehr bekümmern und dem Staatsſekretär freie Hand laſſen wolle. Damit der Rücktritt auf die Wahlen keinen ungünſtigen Einfluß aus⸗ übe und auch nicht als Folge der veränderten Majorität erſcheine, ſolle er am Abend des Wahl⸗ tages ſelbſt, am 20. Februar erfolgen.

Der Plan dieſes teilweiſen Rücktritts zeigte ſich bei näherer Betrachtung als unausführbar. Der bayriſche Bundesbevollmächtigte Graf Lerchenfeld erklärte dem Kanzler, der Kitt des Reiches ſei deshalb ſo feſt, weil ſtets die Gewißheit beſtehe, daß was der Reichskanzler wolle, auch Preußen wolle; was ſollte werden, wenn neben dem Kanzler im Bundesrate der Vertreter Preußens ſitze und nachdem jener geſprochen, erkläre, daß er anderer Anſicht ſei?

Aber der alte Löwe war noch nicht ſo kraft⸗ und entſchlußlos, wie man ringsum meinte. Er hatte

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noch einen anderen Plan im Hintergrund, und die Ausführung hatte bereits begonnen.

Bismarck hatte das Deutſche Reich errichtet, nicht bloß indem die bisher gewonnenen Einzel⸗ ſtaaten ſich vertragsmäßig zu einem neuen Staats⸗ weſen vereinigten, ſondern indem eine von allen erwachſenen Männern gewählte Verſammlung darüber beriet, die Regierungen die Verfaſſung mit ihr vereinbarten und ſie von ihr in jeder einzelnen Beſtimmung gutheißen ließen. Vorſichtigerweiſe hatte Bismarck dieſen neuen Bund vorläufig nur für Norddeutſchland geſchaffen und die ſüddeut⸗ ſchen Staaten erſt 1871 eintreten laſſen, da er mit einem aus ganz Deutſchland gewählten Reichstag möglicherweiſe nicht imſtande geweſen wäre, ſich über eine Verfaſſung zu einigen. Je länger, je mehr hatte ſich ihm nun gezeigt, wie ſchwer es ſei, das Reich mit einer ſolchen Verſammlung zu re⸗ gieren. Bei weitem die Mehrheit des deutſchen Volkes hatte ja im Grunde dieſes Reich mit dieſer Verfaſſung nicht gewollt: die einen, weil ſie eine Republik oder wenigſtens den reinen Parlamentaris⸗ mus anſtrebten, die anderen, weil ſie die preußiſche Führung verwarfen und einen mehr lockeren Bund

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mit Einſchluß Oſterreichs anſtrebten. In Momen⸗ ten hoher nationaler Erregung hatte dann doch dieſe mehr rote oder mehr ſchwarze oder auch ſchwarz⸗weiße Oppoſition ſich gefügt und mitge⸗ arbeitet, brach aber immer wieder hervor und er⸗ ſchwerte die erſprießliche Regierung des Reiches aufs äußerſte. Schon im Jahre 1884 hatte Bis⸗ marck deshalb den Bundesrat jenen Beſchluß faſſen laſſen, wonach die Regierungen befugt geweſen wären, den Bund wieder aufzulöſen und auf anderer Grundlage einen neuen zu ſchließen.

Wie leicht es für den erfinderiſchen Geiſt Bis⸗ marcks geweſen wäre, den Verfaſſungskonflikt her⸗ aufzubeſchwören, wenn er ihn wünſchte, zeigen einige Außerungen, die er einem Journaliſten gegen⸗ über noch ſpäter getan hat. Die deutſche Reichs⸗ verfaſſung enthielt die Beſtimmung, daß die Abge⸗ ordneten als ſolche keine Diäten beziehen dürften; als die Verfaſſung erlaſſen wurde, hatte Bismarck ſelber erklärt, auf Privatabmachungen beziehe ſich dieſe Beſtimmung nicht, und die Sozialdemokratie, die ja vielfach vermögensloſe Mitglieder in ihren Reihen zählte, gab dieſen Parteidiäten. Auf Grund

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des Wortlauts der Verfaſſung hatte Bismarck ſpäter Anklage erheben laſſen, und das Reichsgericht hatte in der Tat ſolche Diäten für ungeſetzlich er⸗ Härt und ſie für die Staatskaſſe einziehen laſſen. Der Erfolg war natürlich nur, daß die Partei eine andere Form für die Unterſtützung der für ſie unentbehrlichen Vertreter wählte. Bismarck er⸗ klärte nunmehr: die Diätenloſigkeit ſei bei Herſtel⸗ lung der Verfaſſung das Aquivalent für das all⸗ gemeine und geheime Wahlrecht geweſen; wenn dieſes Aquivalent reichstagsſeitig nicht gegeben wäre, ſo würde eben auf die Unterlagen des da⸗ maligen Kompromiſſes wieder zurückgegriffen werden müſſen. Es frage ſich, ob ein Reichstag, der ſich der Verfaſſung nicht füge (wie es durch die Geſtattung der Teilnahme der Empfänger von Parteidiäten an Verhandlungen des Hauſes ge⸗ ſchehe), berechtigt ſei, die Reichstagsfunktion aus⸗ zuüben. Dem Kaiſer ſtehe das Recht der Über⸗ wachung der Reichsgeſetze zu, und man könne fra⸗ gen, ob es nicht angezeigt wäre, daß der Kaiſer eine Botſchaft an den Reichstag richte, in der dieſer zu ſtrikter Ausführung der Verfaſſung an ſeinem Teile aufgefordert würde.

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Man braucht ſich dieſen Vorgang nur zu Ende zu denken, und der offene Kampf iſt da: der Reichs⸗ tag lehnt die Botſchaft natürlich ab, und der Kaiſer muß entweder nachgeben oder erklären, daß nach⸗ dem der Reichstag die Verfaſſung gebrochen, er ſeinerſeits ſie auch beiſeite ſetzen müſſe.

Vorübergehend erwog der Kanzler den Gedan⸗ ken, den Reichstag ganz wieder zu beſeitigen und wieder zu den Formen des alten deutſchen Bundes zurückzukehren. Aber ſofort verwarf er das wieder und ſuchte nach einer Modifikation des Wahl⸗ rechts, vermöge welcher beſſere Mehrheiten er⸗ zielt werden konnten. Er fand ſie in dem ſeiner älteſten Amtsſtellung als Deichhauptmann ent⸗ nommenen Satz „Was nicht will mit deichen, das muß weichen.“ War es nicht ein Widerſinn, Leute, die ſich in ihren eigenen Programmen als Feinde des Deutſchen Reiches bekannten und deſſen Zerſtörung anſtrebten, als Vertreter eben dieſes Reiches zu beſtellen? Bismarck dachte ſich alſo ein Wahlrecht, das zwar wie bisher prinzipiell all⸗ gemein und gleich, doch notoriſche Sozialdemo⸗ kraten (worüber eine Behörde entſcheiden konnte) ausſchloß; zu dieſem Zweck ſollte ſtatt der gehei⸗

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men Abſtimmung, wie Bismarck ſchon 1867 ge⸗ wünſcht hatte, die öffentliche eingeführt werden.

Freilich konnte das nur mit einem Gewaltſtreich durchgeführt werden. Kein Reichstag hätte ſich ſelber in dieſer Weiſe entmannt; ſelbſt die Einfüh⸗ rung der öffentlichen Abſtimmung wäre mit dem Reichstag niemals durchzuführen geweſen. Sogar im Kartellreichstag wäre ſo wenig Ausſicht auf Er⸗ folg geweſen, daß Bismarck nicht einmal den Antrag darauf zu ſtellen wagte; wieviel weniger hätte ein ſpäterer Reichstag ſich dazu hergegeben. Bis⸗ marck aber ſtellte ſich vor, daß die ſozialdemokra⸗ tiſche Bewegung ihrer Natur nach notwendig in einer revolutionären Eruption enden müſſe. Durch abſichtliche Reizung konnte man dieſe Erup⸗ tion vielleicht beſchleunigen, zu einem vorzeitigen Ausbruch verleiten, ſie niederſchlagen und den ſtarren Schreck, der das Bürgertum während des Kampfes lähmen werde, benutzen, um den Staats⸗ ſtreich auszuführen. Der König von Preußen hätte eine Proklamation erlaſſen, daß er die Verantwor⸗ tung nicht länger tragen könne, und die Kaiſer⸗ krone niedergelegt, zugleich aber ſeine Mitfürſten aufgefordert, das Reich mit einer modifizierten

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Verfaſſung neu zu errichten und dieſe Neuſchöpfung als Fortſetzung des alten Reiches anzuſehen.

Das alles ſtand noch nicht feſt in ſeinen Einzel⸗ heiten, war ein Entwurf, der noch vielfach hätte gewandelt werden können —, aber als Entwurf iſt der Plan durchaus genügend bezeugt, und auch die Ausführung hatte bereits eingeſetzt.

Um ſie einzuleiten, mußte zunächſt das beſtehende Sozialiſtengeſetz aus dem Wege geräumt werden. Der Kartellreichstag hatte es noch einmal bis zum 30. September 1890 verlängert und bot nun ſtatt des Ausnahmegeſetzes ein allgemeines, dauerndes Geſetz an, das der Polizei ſehr weitgehende Be⸗ fugniſſe einräumte. Dieſe von den Nationallibe⸗ ralen ausgehende Prozedur war von ſehr zweifel⸗ haftem Wert, denn wenn auf der einen Seite das Gehäſſige eines Ausnahmegeſetzes wegfiel, ſo war es doch für das Volk in ſeiner Geſamtheit eine harte Zumutung, ſich Polizeivollmachten zu unter⸗ werfen, die eigentlich nur die Sozialdemokraten treffen ſollten. Aber man war bereit, dieſes Opfer zu bringen. Nur eine weſentliche Beſtimmung der neuen Geſetzesvorlage lehnten die Mittelparteien, auch die Freikonſervativen ab, die Befugnis der

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Regierung, Agitatoren unter gewiſſen Umſtänden aus ihren Wohnſitzen ausweiſen zu können. Man wollte dieſe Beſtimmung nicht, in der Erwägung, daß ſie zwar einzelne Sozialdemokraten hart treffen konnte, nach der zwölfjährigen Erfahrung aber, die man nun gemacht hatte, der Partei viel mehr nützte als ſchadete. Denn die aus Berlin und ande⸗ ren Großſtädten ausgewieſenen Agitatoren waren es geweſen, die recht eigentlich die Bewegung ins Land getragen und ihr zu immer größerer Verbrei⸗ tung verholfen hatten. Auch der dem Fürſten Bis⸗ marck beſonders naheſtehende Abgeordnete v. Kar dorff vertrat dieſen Standpunkt.

Bismarck legte nun entweder wirklich auf dieſe Beſtimmung großen Wert oder benutzte ſie als taktiſchen Vorwand, um dem Führer der Konſer⸗ vativen, v. Helldoff, der deshalb in Friedrichsruh bei ihm anfragte, zwar nicht direkt zu ſagen, aber ihn doch merken zu laſſen, daß ihm die Ablehnung des Geſetzes nicht unlieb ſein würde. Die Konſer⸗ vativen erklärten nunmehr, daß ſie nur in dem Falle für das Geſetz ſtimmen würden, wenn die Regierung vorher erklären würde, daß ihr das recht ſei. Ob dieſe Erklärung gegeben werden

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würde oder nicht, darauf kam es an. Es fand noch ein Kronrat ſtatt, in dem der Kaiſer per⸗ ſönlich dringend dafür eintrat, daß man das Geſetz annehme, wie es geboten würde, aber Bis⸗ marck, dem ſich die übrigen Miniſter, wohl alle gegen ihre Überzeugung, anſchloſſen, blieb feſt; die gewünſchte Erklärung vom Regierungstiſch wurde nicht gegeben; Bismarck ſelbſt erſchien in der entſcheidenden Reichstagsſitzung überhaupt nicht; die Konſervativen ſtimmten gegen das Geſetz, und es fiel. Mit dem 30. September des Jahres ſollten die außerordentlichen Vollmachten der Polizei gegen⸗ über der Sozialdemokratie, nachdem ſie zwölf Jahre beſtanden hatten, erlöſchen.

Nunmehr trug der Kanzler dem Kaiſer ſeine weiteren Pläne vor. Er beabſichtigte, dem jetzt neu zu wählenden Reichstag ſofort ein neues, noch ſchärferes Sozialiſtengeſetz vorzulegen. Weder dieſer noch ein etwaiger Nachfolger würde es an⸗ genommen haben, und der Konflikt, zu dem ja noch manches Scheit hinzugetragen werden konnte, war da. Der Kaiſer aber lehnte ab. Sein Großvater auf der Höhe ſeiner Erfolge und ſeiner Autorität hätte vielleicht auf dieſe Weiſe eine Verfaſſungs⸗

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änderung durchführen können; er jelber aber könne und wolle ſeine Regierung nicht damit be⸗ ginnen, daß er auf ſeine Untertanen ſchießen laſſe.

Der Kaiſer wollte etwas ganz anderes, das ge⸗ rade Entgegengeſetzte. Er wollte die lange ge⸗ forderte Arbeiterſchutzgeſetzgebung (Sonntags⸗ ruhe, Einſchränkung der Frauen⸗ und Kinderarbeit, Fabrikauſſicht) ernſthaft und ſogar auf inter⸗ nationaler Grundlage in Angriff genommen ſehen. Noch am 7. Januar, als der Miniſter v. Boetticher

den Reichskanzler in Friedrichsruh beſuchte, hatte dieſer ganz ſicher geglaubt, daß er dem Kaiſer ſolche Gedanken ausreden werde. Jetzt war er nicht nur mit den Parteien des Reichstages, ſondern auch mit dem Monarchen in einem unlöslichen Wider⸗ ſpruch.

Es bedarf heute keines Beweiſes mehr, daß die Bahn, die Bismarck einſchlagen wollte, ins Ver⸗ derben geführt haben würde. Obgleich die Wahlen von 1890 noch unter der Herrſchaft des Sozialiſten⸗ geſetzes ſtattfanden, ſo hatte ſich die Zahl der ſo⸗ zialdemokratiſchen Stimmen doch in den drei Jahren ſeit 1887 etwa verdoppelt und war auf Millionen geſtiegen. Daß durch Auflöſung

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oder auch wiederholte Auflöſungen ſich eine andere Reichstagsmehrheit erzielen ließ, wie 1887, war völlig ausgeſchloſſen. Das Kartell, nicht einmal in ſich einig, war unkräftig gegenüber dem Zuſammen⸗ halten aller Oppoſitionsparteien, des Zentrums, der Freiſinnigen, der Sozialdemokraten und Polen. Die Anwendung der Gewalt, die Bismarck in Ausſicht genommen hatte, mußte alſo ſehr bald kommen, und da er einmal, wie er zu dem Führer der Konſervativen im Reichstag, Herrn v. Hell⸗ dorff ſagte, ſich vorgenommen hatte, den größten Fehler ſeines Lebens (das allgemeine Stimmrecht) wieder gutzumachen, ſo entſprach es weder ſeiner Natur noch ſeinem Alter, noch lange zu fackeln. Wie ſehr ſetzen doch die Hiſtoriker ihren Helden herab und verflachen die Tragik ſeiner Laufbahn,

die noch heute zweifelnd fragen: war ſeine Schöp⸗

ferkraft erloſchen? Seine Kraft war keineswegs erloſchen, und diejenigen, die verbreiteten, er wiſſe nicht mehr, was er wolle, oder er ſei nicht mehr rich⸗ tig im Kopf, waren nicht weiſer als die, die im Jahre 1862 gefragt hatten, ob dieſer Junker denn jemals einen politiſchen Gedanken gehabt habe. Nicht den Strohtod des einſchlafenden Alters iſt er

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geftorben, um mit den alten Germanen zu reden, ſondern den Tod des Kämpfers, den die Walküren hinauftragen nach Walhall. Unterlegen aber iſt er eben den Mächten, die er ſelber geſchaffen oder zur höchſten Kraft emporgeführt, dem Reichstag und der Monarchie. Immer wieder hatte er verkündet, in Preußen müſſe der König regieren, und hatte don der Fülle dieſes Königtums auch in das deutſche Kaiſertum hinübergeleitet, ſoviel der föderative Charakter des Reiches erlaubte; nach dem Willen des Königs zu regieren, hatte er Wilhelm I. ge- lobt, als er die Geſchäfte übernahm: jetzt mußte er die Kraft dieſes Geſetzes an ſich ſelber erfahren und es war Deutſchland zum Heil. Es iſt das Schicksal der Sterblichen, daß jede Individualität, auch die größeſte, ihre Grenzen hat. Die echte Schöpfung erweiſt ihre Größe darin, daß fie nicht nur den Schöpfer überlebt, ſondern auch Früchte und Folgerungen treibt über das hinaus, was er ſelber gewollt und beabſichtigt hat. Bismarck fiel, weil die Kämpfe, in denen er ſein Werk vollendet, ihm Feindſeligkeiten geſchaffen, deren er nicht mehr Herr zu werden vermochte, weil er die Konſequenzen ſeines eigenen Werkes nicht mehr

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mitmachen wollte und deshalb zum Kampf in

eine Richtung gedrängt wurde, wo die innere Logik der Dinge nicht mehr für, ſondern gegen ihn war und er notwendig unterliegen mußte. Aber er fiel im Kampf.

Hat man ſich erſt die ganze Größe der Gegenſätze klargemacht, die hier miteinander rangen, ſo iſt

es nicht nötig, ſich in die einzelnen Zerrereien zu

vertiefen über eine vergilbte Kabinettsordre,

einen Konſulatsbericht aus Rußland, Differenzen in der auswärtigen Politik u. dgl., was die letzten Wochen erfüllte. Bis zuletzt ſuchte Bismarck ſeine

Stellung zu verteidigen. Von ſeinem Privat⸗

bankier Bleichröder eingeführt, erſchien der Ab- geordnete Windthorſt bei Bismarck, und dieſer ſtellte ihm die Frage, unter welcher Bedingung er ihm ſeine parlamentariſche Unterſtützung leihen werde. Windthorſt erwiderte: völlige Zurück⸗ nahme der Kulturkampfgeſetzgebung. Bismarck erklärte das für unmöglich, worauf Windthorſt erwiderte: ſeine Unterſtützung ohne ſolche Gegen⸗ konzeſſion zu verlangen, ſei ſo viel, als wenn ihm zugemutet würde, ſich vor der Front zu er⸗ ſchießen. Nichtsdeſtoweniger brachte noch zwei

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Tage darauf (12. März) die „Norddeutſche Allg. Zeitung“ einen Artikel, die Vorſtellung, daß die Konſervativen ſich niemals mit dem Zentrum ver⸗ ſtändigen könnten, beweiſe nur, daß der Freiſinn nicht den Mut beſitze, der Wahrheit ins Auge zu ſehen, und eine Berechnung aufmachte, daß auf dieſe Weiſe eine Majorität zu erzielen ſei.

Die Konſervativen aber oder wenigſtens ihre Führer wollten damals von dieſem Bündnis nichts wiſſen und proteſtierten dagegen. Einige Zeit ſpäter ſaß einmal Windthorſt mit dem Führer der Kon⸗ ſervativen im Abgeordnetenhauſe v. Rauchhaupt und einem anderen Abgeordneten im Foyer zu⸗ ſammen, als Rauchhaupt zu Windthorſt ſagte: „Einmal bin ich doch klüger geweſen als Euer Exzellenz, ich bin auch zu Bismarck berufen worden, aber ich wußte ſchon, daß es mit ihm zu Ende ſei, und bin nicht hingegangen.“

In Ländern mit parlamentariſcher Verfaſſung iſt es ein natürlicher und ſelbſtverſtändlicher Vor gang, daß ein Miniſter, der die Majorität der Volks⸗ vertretung gegen ſich hat, den Abſchied nimmt. In Deutſchland ſchenkte man dieſem Zuſammen hang zwiſchen dem Ergebnis der Wahlen vom

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20. Februar und dem Rücktritt des Kanzlers vom 20. März kaum irgendwelche Beachtung und fragte und ſinnierte über nichts als über ſein Ver⸗ hältnis zu dem vor zwei Jahren auf den Thron gekommenen neuen Herrſcher.

Anmerkung.

Indem ich dieſe Blätter in die Druckerei ſenden will, geht mir ein Artikel von Friedr. Thimme aus den „Süddeutſchen Monatsheften“ (April) „Der Fall des Sozialiſtengeſetzes und Bismarcks Staats⸗ ſtreichplan“ und der 3. Band des Werkes „Fürſt Bis⸗ marck 1890—1898“ von Hermann Hof mann zu, die den Bismarckſchen Staatsſtreichplan wieder in das Reich der Fabeln zu verweiſen ſuchen. Die Be⸗ weisführung iſt jedoch völlig verunglückt. ;

Beide berufen ſich darauf, daß Bismarck jelber den angeblichen Plan ſpäter abgeleugnet habe, und Thimme im beſonderen bringt einen bisher un⸗ bekannten Brief an den Abgeordneten von Kardorff bei, worin in den ſtärkſten Ausdrücken die Verant⸗ wortung für das Scheitern des Sozialiſtengeſetzes ab⸗ gelehnt und auf Helldorff geſchoben wird. Da jedoch Bismarck in ähnlicher Weiſe die Verantwortung für den Kulturkampf auf andere hat abladen wollen und auch ſonſt mehrfach in dieſer Weiſe bei ſpäter als falſch erkannten Maßregeln andere vorzuſchieben ge⸗ ſucht hat, ſo muß der kritiſche Hiſtoriker hier eine

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Schwäche des Alten anerkennen, die jein Zeugnis nicht ohne weiteres anzunehmen erlaubt. Vgl. Buſch, Tagebuchblätter III, 330. Ferner II, 418—426 ver⸗ glichen mit Chr. v. Tiedemann, „Sechs Jahre Chef der Reichskanzlei“, S. 148. Weiter die Erzählung von Tiedemann und Lasker in der „Frankfurter Zeitung“ v. 1. Aug. l. J. Erſtes Morgenbl. 2. Seite, 2. Spalte. Eine ähnliche Erzählung bei Ludwig von Gerlach, Auf⸗ zeichnungen II, 233, 276, 289. Preuß. Jahrb. Bd. 96 (1899), S. 461ff.

Weshalb hat Bismarck, wenn er denn wünſchte, daß das Sozialiſtengeſetz angenommen werde, dieſen Wunſch dem Abgeordneten v. Helldorff, der noch zwiſchen der zweiten und dritten Leſung, am Abend vor der entſcheidenden Abſtimmung, eingehend mit ihm darüber geſprochen hat, nicht zu erkennen ge⸗ geben? Früher wurde von einem Mißverſtändnis geſprochen. Thimmes Verdienſt iſt, daß er die Mög⸗ lichkeit eines derartigen Mißverſtändniſſes zwiſchen zwei Männern, die ſich ſo genau kannten, energiſch beiſeite geſchoben hat. Er nimmt die Inſinuation Bismarcks auf, daß Helldorff mit vollem Bewußtſein, im Einverſtändnis mit der Hofclique, die Bismarck ſtürzen wollte, ihn wie die Fraktion verraten und dieſe abſichtlich irregeführt habe. Es leben ja noch genug Perſonen, die Herrn v. Helldorff gekannt haben; ich glaube nicht, daß ſich darunter jemand finden wird, der Thimme die Mär von dieſer dunklen Verſchwörung

5 Delbrück, Bismarcks Erbe 129

glaubt. Auch die „Deutſche Tageszeitung“ hat die ungeheuerliche Behauptung doch nicht nachzuſprechen gewagt, ſondern ſie in ihrem Bericht über den Thimmeſchen Aufſatz mit vielſagendem Stillſchweigen übergangen (7. April 15) und ſich wieder auf das „Mißverſtändnis“ zurückgezogen. Ich ſchrieb darüber noch an Herrn v. Maltzahn⸗Gültz, der bis Ende 1888 neben Herrn v. Helldorff Führer der konſervativen Fraktion im Reichstag war, und erhielt die Antwort: „daß Helldorff ſeiner Fraktion abſichtlich eine falſche Auskunft darüber, was der Kanzler ihm als ſeinen Wunſch mitgeteilt hätte, gegeben haben ſollte, iſt natürlich vollſtändig ausgeſchloſſen.“

Thimme findet den Beweis darin, daß, nach Hell⸗ dorffs eigener Ausſage, Bismarck ſeine Inſtruktion in die Worte zuſammengefaßt habe: „Mir liegt mehr an der Erhaltung der Kartellpolitik als an dem ganzen Sozialiſtengeſetz.“ Dieſe Antwort ſei vollkommen klar und eindeutig geweſen, denn Kartellpolitik be⸗ deutete Zuſammengehen mit den Freikonſervativen und Nationalliberalen, und da dieſe mit dem ab⸗ geſchwächten Sozialiſtengeſetz zufrieden waren, ſo hätten es auch die Konſervativen ſein müſſen.

Wenn aber Bismarck wirklich eine ſo klare und ein⸗ deutige Antwort geben wollte, weshalb hat er dann nicht einfach geſagt: „Nehmt das Geſetz an, ich wünſche es“? Warum die merkwürdige Umſchrei⸗ bung: „Mir liegt mehr an der Erhaltung der Kartell⸗

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politik als an dem ganzen Sozialiſtengeſetz?“ Man erinnere ſich an die Situation. Die Wahlen ſtanden vor der Tür, und es war ſicher, daß das Kartell da⸗ bei die Mehrheit nicht behaupten würde. Das Kartell konnte erſt unter ganz neuen Bedingungen wieder brauchbar werden. Helldorff konnte alſo jenes angeb⸗ lich eindeutige Wort ganz umgekehrt dahin auslegen, daß dem Fürſten an dem jetzigen Sozialiſtengeſetz nichts liege, daß man aber für eine zukünftige Wieder⸗ belebung der Kartellpolitik zunächſt einmal durch eine Kriſis hindurchgehen müſſe. Vielleicht findet jemand auch noch andere Interpretationen jenes dunklen Satzes. Gerade indem Thimme jenen Satz als richtig überliefert akzeptiert, beſtätigt er, daß Bis⸗ marck es an einer „klaren und eindeutigen Antwort“ hat fehlen laſſen und der Fürſt wußte, daß das die Ablehnung des Geſetzes herbeiführen werde. Er war eben der echte Diplomat: er ſagte nicht dem um eine Entſcheidung bittenden Abgeordneten „lehnt das Geſetz ab“ denn dann hätte die Verantwortung auf ihm gelegen, ſondern er umging die direkte Antwort und ſchob damit die Verantwortung der Fraktion zu, wußte aber, daß ſie nun ſo ſtimmen würde, wie er ſich wünſchte.

Um der konſervativen Fraktion, in der viele kon⸗ fliktslüſterne Heißſporne waren, den Rückzug zu er⸗ leichtern, verlangte Helldorff, daß die Regierung noch zwiſchen der zweiten und dritten Leſung die Er⸗

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klärung abgebe, fie fei mit dem Sozialiſtengeſetz, wie

es der Reichstag geſtaltet, zufrieden; genau genommen verlangte er nicht einmal das, ſondern er verlangte nur, daß die Regierung ſage, „wir legen Wert darauf, uns zu überlegen, ob wir ein abgeſchwächtes Geſetz annehmen können, wir wünſchen alſo, daß uns nicht die Entſcheidung darüber unmöglich gemacht wird.“ Die Regierung tat es nicht. Bismarck erſchien bei dieſer grundſtürzenden Entſcheidung nicht einmal ſelbſt im Reichstag. Er ſtellte den Satz auf, er habe ſtets daran feſtgehalten, daß die verbündeten Re⸗ gierungen ſich wohl vor Reichstagsvoten, nicht aber vor Kommiſſionsbeſchlüſſen beugen könnten. Thimme und andere Hiſtoriker haben dieſen Grundſatz un⸗ beſehen gelten laſſen, ohne ſich klar zu machen, daß es ſich jetzt gar nicht mehr um einen Kommiſſions⸗ beſchluß, ſondern um die Beſchlüſſe des Reichstages ſelbſt in der zweiten Leſung handelte, und Thimme fügt hinzu, daß, wenn die Regierung freiwillig auf die Ausweiſungsbefugnis verzichtet hätte, ſie ſich ſelbſt damit die Möglichkeit genommen hätte, die ver⸗ ſtümmelte Vorlage von einem neuen Reichstag gleich⸗ ſam komplettieren zu laſſen. Er beweiſt damit, daß ihm weder die damalige Lage noch die parlamen⸗ tariſche Praxis des Fürſten Bismarck genügend be⸗ kannt iſt. Einen Reichstag, bereit, das Sozialiſten⸗ geſetz zu komplettieren, erwartete niemand mehr, und die Erfahrung, die wir ſeitdem gemacht haben,

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ſpricht darüber deutlich genug. Der angeblich ftet3 feſtgehaltene Grundſatz, erſt den Reichstag in dritter Leſung abſtimmen zu laſſen und ſich dann erſt vom Regierungstiſch zu erklären, hat wohl in der Form exiſtiert, daß Bismarck bei Geſetzen, die ſicher ab⸗ gelehnt wurden, doch, wie er es ausdrückte, die Quittung verlangte, im übrigen iſt aber das gerade Gegenteil ſeine ſtändige Praxis geweſen. Thimme möge einmal das Zuſtandekommen des erſten So⸗ zialiſtengeſetzes nachleſen. Schon in der Kommiſſion (1. und 2. Oktober 1878) gab Graf Eulenburg die Erklärung ab, wie weit die Regierung den gefaßten Beſchlüſſen zuſtimmen könne oder nicht, und vor der dritten Leſung hielt ſogar der Bundesrat eine eigene Sitzung, um zu erklären, daß er auf das von den Fraktionen (nicht vom Reichstag) geſchloſſene Kom⸗ promiß eingehe. Bismarck ſelbſt aber erklärte (9. Ok⸗ tober 1878) gleich im Beginn der zweiten Leſung, daß er zwar das nach den Wünſchen des Reichstages geſtaltete Geſetz für durchaus ungenügend halte, es trotzdem aber annehme, um gemäß den gemachten Erfahrungen ſpäter Ergänzungen vorzuſchlagen. Das iſt alſo das gerade Gegenteil der Taktik von 1890, und der Unterſchied iſt nicht ſchwer zu erklären: 1878 wünſchte er, daß das Geſetz angenommen würde, und 1890 wünſchte er, daß es zu Falle käme.

Nun haben wir auch eine Erklärung für den völ⸗ lig rätjelhaften Vorgang, den Herr v. Maltzahn⸗

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Gültz in den jüngſt erſchienenen „Erinnerungen an Bismarck“, Geſammelt von A. v. Brauer und anderen, S. 115ff. berichtet. Bismarck beſtand im Winter 1889/90 auf jenem angeblichen Grundſatz, ſich erſt zu Beſchlüſſen dritter Leſung des Reichstages zu äußern, auch in Etatsfragen, obgleich man damit in einen völligen Widerſinn geriet. Die Staats⸗ ſekretäre des Innern und des Reichsſchatzamtes waren in Verzweiflung, wußten ſich das Verhalten des Kanzlers nicht zu erklären und handelten endlich auf eigene Fauſt. Wir aber erkennen nunmehr von neuem, von wie weither der Kanzler ſeine Gänge anlegte, alles vorbedacht war und alles ineinandergriff. Nein, ſeine geiſtige Kraft war wirklich noch nicht zu Ende.

Daß Bismarck nach Thimme im Miniſterrat am 24. Januar keinen Zweifel darüber gelaſſen haben ſoll, daß auch das abgeſchwächte Geſetz nach den Beſchlüſſen des Reichstages anzunehmen ſein würde, ſteht mit der von mir gegebenen Darſtellung nicht etwa in Widerſpruch: Bismarck wußte ja, daß wenn er nichts Poſitives dafür tue, das Geſetz nicht zuſtandekommen würde. In⸗ dem der Miniſterrat es nach Bismarcks Wunſch ablehnte, die gewünſchte Erklärung im Reichs⸗ tag abzugeben, votierte er tatſächlich für die Ab⸗ lehnung, entgegen dem Wunſch und Vorſchlag des Kaiſers, der nachher ſagte: „Das ſind ja

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nicht meine, das find ja des Fürſten Bismarck Miniſter.“

Thimmes Artikel iſt übrigens ein intereſſantes Bei⸗ ſpiel, wie ſchnell die direkte Tradition abſtirbt. Jeder, der die Zeit noch politiſch denkend erlebt hat, weiß, wie die Politik in dem Zwieſpalt zwiſchen Bismarck und den ſämtlichen Parteien zu einer Art Stillſtand gekommen war. Es war unmöglich, noch irgend etwas Poſitives zuſtande zu bringen oder auch nur in Angriff zu nehmen. Die Konſervativen erließen ein Wahlprogramm, das der „Kladderadatſch“ nicht ſo übel verſpottete, indem er unter der Überſchrift einen weißen Fleck brachte. Thimme aber ſchreibt heute ganz wohlgemut: „Man glaube doch nicht, daß Bismarck im Februar 1890 durch die Ausſicht auf einen renitenten Reichstag irgendwie geſchreckt oder auch nur irritiert worden wäre.“

Die nähere Begründung meiner Darſtellung iſt zu finden Preuß. Jahrb. Bd. 147, S. 1, S. 341; Bd. 153, S. 121. Regierung und Volkswille S. 61. Als neue Zeugen für die Richtigkeit meiner Dar⸗ ſtellung ſind mir ſeitdem die Miniſter Miquel und Hobrecht und der Botſchafter v. Keudell bekannt ge⸗ worden, die Anderen den Zuſammenhang ſchon früher genau ſo wie ich hier erzählt haben. Das Neue, wo⸗ mit ich in dieſer Schrift meine früheren Mitteilungen ergänzt habe, geht zurück zum Teil auf eigene Er⸗ innerung, zum Teil auf die Miniſter v. Boetticher

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und Boſſe und Mitteilungen aus der nächſten Um⸗ gebung Windthorſts. Boetticher war übrigens eben⸗ ſowenig wie Rottenburg in den Plan Bismarcks eingeweiht.

Bismarck nahm den Abſchied und Deutſchland blieb ſtumm. Solange er an der Spitze der Ge⸗ ſchäfte ſtand, war ihm von der Oppoſition immer wieder der Vorwurf entgegengeſchleudert worden, er habe die Verfaſſung des Reiches allein auf ſeine Perſon zugeſchnitten; ohne ihn würde ſie ſich als unhaltbar erweiſen. Sie hat ſich gehalten und be⸗ währt bis auf den heutigen Tag und ertrug auch ſeinen eigenen Abgang ohne die geringſte Erſchütte⸗ rung. Weder im Reichstag noch im Landtag wurde ein Wort darüber geſprochen, und auch in der dem Scheidenden freundlichen Preſſe hatte man wohl Worte inniger Dankbarkeit, aber kein Wort der Ent⸗ rüſtung oder die Forderung, daß er bleibe. In allen führenden Kreiſen der Parlamente wie der Preſſe wußte man, daß der Abgang nichts mit irgend⸗ welchen perſönlichen Verſtimmungen zwiſchen ihm und dem Kaiſer zu tun habe, ſondern innerlich notwendig geweſen ſei, und da die Führer ſchwie⸗ gen, ſchwieg auch das Volk. Im Herzen aber

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empfand es anders. Ich weiß nicht, ob in der Weltgeſchichte noch ein zweites Beiſpiel dafür zu finden iſt wie hier von dem Unterſchied zwiſchen der Menge und ihren Rednern, zwiſchen dem Volk und den gewählten Volksvertretern.“) Es iſt keine Frage, daß die ungeheure Mehrheit nicht bloß der alten Anhängerſchaft Bismarcks, ſondern bis tief in die Reihen ſeiner Gegner hinein in der Art der Entlaſſung eine ſchnöde Undankbarkeit und ein unſagbares Unglück erblickten. Aber erſt ganz allmählich im Laufe der nächſten Jahre fand dieſe Stimmung Vertreter und Gelegenheiten, ſich zum Ausdruck zu bringen. In den politiſchen Kreiſen wurde der Nachfolger mit einem allſeitigen Ver⸗ trauen und Wohlwollen aufgenommen, ſo daß ich damals in den „Preußiſchen Jahrbüchern“ einen Ge⸗ ſandtſchaftsbericht aus England vom Jahre 1742, auf den Sturz Walpoles bezüglich, als Analogie anführen konnte, der als zutreffend durch alle Zeitungen ging:

„Was in 28 Jahren nicht geſehen, nicht gehört, nicht geglaubt worden, das hat ſich nunmehr er⸗

*) Daß es eine reine Fiktion iſt, in den Parlamenten die Verkörperung des Volkswillens zu ſehen, habe ich ein⸗ gehend dargelegt in der gedruckten Vorleſung „Regierung und Volkswille“. Berlin 1914.

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geben; Whigs und Tories, Patrioten und wie ſie alle hießen, ſeien einig miteinander und wett⸗ eiferten miteinander, ihre Königstreue und Vater⸗ landsliebe zu betätigen. Whigs und Tories wurden bei Hofe geſehen und gnädig empfangen; weder im Ober⸗ noch im Unterhauſe gäbe es eine Oppoſition; was der König vom Parlament fordern möge, alles werde ihm bewilligt.“

Ingrimmig und verbittert verließ der Mann des Jahrhunderts Berlin und zog ſich in ſeinen Sachſen⸗ wald zurück. Wie hätte er auch ſelber dafür Ver⸗ ſtändnis haben können, daß eine unſchätzbare Gunſt des Himmels ihm zu allem ſeinem Ruhm auch noch den Heiligenſchein des Martyriums verlieh? Was hätte er an der Spitze des Staates noch weiter er⸗ reichen können? Auf der Bahn, die er bisher ver⸗ folgt, war es unmöglich, noch höher zu ſteigen, aber die Vorſtellung, die ſich nunmehr bildete, daß er, der Schöpfer unſerer Größe, der Vater des Vaterlandes, von tückiſchen Intriganten zu Falle gebracht, mit ſchwarzem Undank gelohnt, ſeine Tage in Ungnade und Untätigkeit verbringen müſſe, ließ alle Herzen, bis in die Reihen ſeiner Gegner hin⸗ ein, um ſo höher für ihn ſchlagen und machte aus

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Friedrichsruh einen nationalen Wallfahrtsort. Er ſelber konnte die Dinge nicht ſo anſehen, und ſo haben wir das ſonderbare Schaufpiel, daß während der acht Jahre, die ihm noch zu leben vergönnt war, er umwogt wurde von einer ſich bis zur Andacht ſteigernden Verehrung und Dankbarkeit, er aber gleichzeitig ſeine „Gedanken und Erinne⸗ rungen“ aufzeichnen ließ und ſonſt Kundgebungen in die Welt hinausſandte, die nicht nur ſeine alten Feinde, die Deutſch⸗Freiſinnigen, das Zentrum, die Sozialdemokraten, ſondern auch faſt nicht weniger ſeine alten Freunde und Stützen, ſeine Miniſterkollegen, die Konſervativen, die Junker, die Militärs, die Beamten mit immer erneuten Anklagen und Anſchuldigungen belegen und ver⸗ folgen. Sie hatten nach ſeiner Vorſtellung eben bei ſeinem Sturze alle entweder zuſammengewirkt, oder ihm wenigſtens nicht genügend ſekundiert und trafen ſich dann in der einmütigen hoffnungsvollen Begrüßung des Nachfolgers.

* * *

Wir haben Bismarcks Laufbahn bis zu ſeinem Abgang verfolgt weſentlich unter dem Geſichts⸗

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punkt der Widerſtände, die er zu überwinden hatte, der erſchütternden Kämpfe, die er beſtehen mußte, um das Ziel zu erreichen. Auch mit der Errichtung des Reiches und der Proklamation des Kaiſertums am 18. Januar 1871 war das nationale Staats⸗ weſen, das er begründen wollte, noch keineswegs vollendet. Ein ganzes Syſtem von Neuorganiſa⸗ tionen, eine unabſehbare Geſetzgebung gehörte dazu, um die äußere Einigung durchwachſen zu laſſen zu der inneren, erſt wahrhaft unauflöslichen. Schutthaufen von feudaliſtiſchen und partikulari⸗ ſtiſchen Inſtitutionen, die noch an vielen Stellen herumlagen, mußten weggeräumt und neue natio⸗ nale und ſtaatsbürgerliche Einrichtungen geſchaffen werden. Alles das vollzog ſich nur in immer er⸗ neuten Kämpfen, aus denen wir nur die beſonders charakteriſtiſchen herausgehoben haben. Es ließe ſich noch viel erzählen; von der neuen Kreisordnung in Preußen, die nur mit einem Pairſchub im Herrenhaus durchzubringen war, oder von den Reichsjuſtizgeſetzen, oder von der ſanften Gewalt, mit der Hamburg genötigt werden mußte, in

den Zollverein einzutreten, aber es ſei genug

damit.

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Wir wollen Bismarcks Werk ja nicht als ſolches, ſondern wir wollen es betrachten unter dem Ge⸗ ſichtspunkt des Erbes, das er uns hinterlaſſen hat, und da iſt es vor allem wichtig, ſich klar zu machen, wie ſehr Bismarck durch den inneren Ausbau des Reiches bis zum Schluß in Anſpruch genommen war und wie ein ſo wichtiges Stück wie die geregelte Finanzgebarung, das Gleichgewicht von Ausgaben und Einnahmen ihm bis zu ſeinem Abgang noch nicht geglückt war, unter Dach zu bringen.

Der Fortgang unſerer Betrachtung wird ſich darauf zu richten haben, inwieweit unter ſeinem Nachfolger das begonnene Werk weitergeführt, inwieweit das Erbe als neue, aus dem Überliefer⸗ ten erwachſene Aufgabe betrachtet worden iſt. Denn, wie Conſtantin Rößler beim Abgang Bis⸗ marcks in den Preußiſchen Jahrbüchern ſchrieb: Das iſt überhaupt der Erfolg der hiſtoriſchen Men⸗ ſchen, daß ſie nicht ruhigen Beſitz, ſondern größere Probleme zurücklaſſen.

Der Kaiſer ſelbſt verkündete, trotz des Perſonen⸗ wechſels an der leitenden Stelle bleibe der Kurs der alte. Die vorwaltende Meinung iſt wohl eher die umgekehrte: daß man den Kurs Bismarcks

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verlaſſen, in vielem das Gegenteil getan von dem, was er wollte und anſtrebte, und, wie weiter nicht Wenige glauben oder glaubten, daß ſeitdem alles im Reiche ſchlecht geworden und Deutſchland immer weiter heruntergekommen ſei.

Daß Deutſchland im Gegenteil in dieſen 25 Jah⸗ ren einen unerhörten Aufſchwung genommen hat, und daß gerade die Furcht der Nachbarn vor ſeiner ſchwellenden und ſtrotzenden Kraft einer der weſentlichſten Gründe des Weltkrieges gewor⸗ den iſt, braucht heute nicht mehr bewieſen zu werden. Jener unendlich oft wiederholte und immer von neuem variierte Satz, daß Bismarcks Erbe in der unverantwortlichſten Weiſe ver⸗ ſchleudert worden ſei, wird den böſen Mäulern, die ihn verbreiteten, nicht mehr geglaubt und wurde ihnen ſchon vor dem Kriege nicht mehr geglaubt.

Auch die im Eifer des Parteikampfes von einem großen Gelehrten 1881 herausgeſchleuderte Frage: „gibt es noch die Krone der Hohenzollern? Unſere Kinder werden die Antwort darauf zu geben haben“ hat mittlerweile ihre Antwort ge⸗ funden, und die einſt landläufige Behauptung, die

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Reichsverfaſſung ſei allein auf die Perſon Bismarcks zugeſchnitten, iſt verſchollen.

Die Frage aber, ob in dieſem Vierteljahrhundert im weſentlichen nach dem Kurſe Bismarcks weiter geſteuert oder was erreicht wurde, gerade vermöge eines anderen Kurſes erreicht worden iſt, bedarf einer näheren Unterſuchung.

Die Konfliktspolitik freilich ließ man fallen, aber darüber, daß das kein verderbliches Abweichen von der echten Bismarckpolitik war, darüber wird man jetzt einig ſein: die einen, weil ſie an die Konfliktsabſichten überhaupt nicht glauben, die anderen, weil ſie in dem Aufgeben ſolcher Pläne nichts Verderbliches ſehen.

Das Sozialiſtengeſetz ſelber hat nach der jetzt wohl ziemlich allgemein angenommenen Meinung ſeinen Zweck verfehlt. Nach dem erſten Zuſammen⸗ zucken erholte ſich die Sozialdemokratie, ertrug mit bewunderungswürdiger Charakterfeſtigkeit alle Martyrien und wuchs von einer Wahl zur andern an Stimmen wie an Mandaten. Die Nebenwir⸗ kungen aber, die das Geſetz gehabt hat, ſind, wie ich aufs ſtärkſte betonen möchte, für Deutſchland höchſt ſegensreich geweſen. Vor allem: es hat die

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Sozialdemokratie jelber erzogen. Vor 1878 hatte ſie einen Zug ins Anarchiſtiſch⸗Pöbelhafte. Hier und da iſt dieſer Zug auch ſpäter noch aufgetaucht, aber die Partei im ganzen hat ſich in die ſtrengſte Diſzi⸗ plin genommen und ihre eigenen Anhänger ſo ſehr an dieſe Disziplin gewöhnt, daß ſie für fie ein- ſtehen kann. Ohne das Sozialiſtengeſetz hätten wir in Deutſchland vermutlich eine Periode von ſozialen Unruhen durchzumachen gehabt, die ohne Blutvergießen nicht zu Ende gekommen wären. Jetzt haben wir es ſchon vor dem Kriege erlebt, daß die Polizei mit den ſozialdemokratiſchen Ord⸗ nern zuſammen für die Erhaltung der Ordnung auf den Straßen geſorgt hat. Die berauſchende Idee der proletariſchen Revolution, des Straßen⸗ kampfes und der Barrikaden verlor ihre Kraft und wurde zur ſchalen Phraſe.

Noch höher aber dürfte der Wert des Sozialiſten⸗ geſetzes für den poſitiven ſozialen Fortſchritt ſelbſt anzuſchlagen ſein. Jede ſoziale Geſetzgebung leidet unter der ungeheuren Schwierigkeit, daß die Klaſſen, denen ſie zugute kommen ſoll, ihr oppo⸗ nieren, weil ſie nicht genug bringe und ſie ſich das ideale Ziel nicht durch kleine Abſchlagszahlungen

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verderben laſſen wollen; umgekehrt aber, die Klaſſen, die geben ſollen, finden die Gaben ſchon zu groß und fürchten weitere Konſequenzen. Bismarck ſetzte es durch, daß die beſitzenden Klaſſen die Laſten der Kranken⸗, Unfall- und Invaliditäts⸗ verſorgung, mit mäßigen Beiträgen von den Arbeitern ſelbſt, auf ſich nahmen, weil er ihnen gleichzeitig durch das Sozialiſtengeſetz die Siche⸗ rung gegen die ſoziale Revolution zu geben ſchien. Nur indem der Kanzler ſeine ganze, durch die aus⸗ wärtige Politik und die Gründung des Reiches gewonnene Autorität gleichzeitig für das Sozia⸗ liſtengeſetz gegen die Proletarier und für die ſozialen Geſetze für die Proletarier einſetzte, konnte er in ſchweren, jahrelangen Kämpfen, namentlich gegen den Doktrinarismus der Liberalen, die ſoziale Reform unter Dach bringen. Auch die Schutzzollgeſetzgebung muß man hier noch einmal heranziehen. Ohne die Sicherung des inneren Mark⸗ tes und der überlieferten Preiſe vermöge der Grenz⸗ zölle würden Induſtrie und Landwirtſchaft ihm auf dem Wege der Sozialgeſetzgebung nicht gefolgt ſein.

Im Jahre 1890 hatte das Sozialiſtengeſetz dieſe ſeine beſſeren Wirkungen ſo ziemlich erſchöpft, die

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Furcht vor der roten Revolution war in weiten Kreiſen des Bürgertums ebenſo verblaßt, wie der Wille dazu in den Kreiſen der Genoſſen verraucht, und die Erfahrung eines Vierteljahrhunderts zeigt, wie das deutſche Volk ſich in voller Freiheit günſtig entwickeln konnte.

Beginnen wir mit der inneren Politik, ſo bedarf zunächſt einer beſonderen Betrachtung das Polen⸗ problem. Nach der verbreitetſten Anſchauung hat Caprivi die Polenpolitik Bismarcks fallen laſſen, ſeine Nachfolger aber haben ſie wieder aufgenom⸗ men und ſie mit den größten Mitteln weitergeführt.

Dieſe Auffaſſung iſt eine grundverkehrte. Vor allem Bismarck war zwar äußerlich der Schöpfer, innerlich aber ein Gegner der deutſchen bäuerlichen Koloniſation in den Oſtmarken. Immer von neuem hat er öffentlich erklärt, daß er dieſe Politik nicht billige, und daß ſie dem, was er gewollt habe, nicht entſpreche.

Am 16. September 1894 hielt er eine Anſprache an die Deutſchen aus der Provinz Poſen, in der er wörtlich ſagte, zunächſt in einer Erinnerung an 1848: „Ich bemerke dabei, daß der Kampf auch damals nicht mit dem polniſchen Volke im großen

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und ganzen, ſondern mit feinem Adel und jener Gefolgſchaft geführt wurde.“ Ferner: „Ich glaube, viele von Ihnen werden polniſch ſprechende Arbeiter und Knechte haben und dabei den Ein⸗ druck haben, daß die Gefahr nicht von dieſen unte⸗ ren Schichten der Bevölkerung ausgeht.“

„Mit denen iſt zu leben, und von denen geht eine Unruheſtiftung niemals aus. Sie ſind keine För⸗ derer einer uns feindlichen Bewegung, abgeſehen davon, daß ſie vielleicht anderen Stammes ſind als der Adel, deſſen Einwanderung in die ſlawiſchen Gaue ſich im Dunkel der Vorzeit verliert. Um die ganze große Zahl der arbeitenden und bäuerlichen Volksklaſſe vermindert ſich alſo die ſtatiſtiſche Zahl der Gegner eines friedlichen Zuſammen⸗ arbeitens beider Stämme. Die Maſſen der unteren Schichten ſind zufrieden mit der preußi⸗ ſchen Verwaltung, die vielleicht nicht immer voll⸗ kommen ſein mag, die aber in jedem Falle beſſer und gerechter ſie behandelt, als ſie es in den Zeiten der polniſchen Adelsrepublik gewohnt waren. Und damit ſind ſie zufrieden. Es iſt nicht mein Pro⸗ gramm geweſen, daß bei der Anſiedlungskommiſ⸗ ſion vorzugsweiſe auf die Anſiedlung kleiner Leute

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deutſcher Zunge Bedacht genommen würde. Die polniſchen Bauern ſind nicht gefährlich, und es iſt nicht entſcheidend, ob die Arbeiter polniſch oder deutſch ſind. Die Hauptſache war, daß der große Grundbeſitz Domäne wurde unter einem Pächter, auf den der Staat fortdauernd Einfluß behält. Das Bedürfnis, raſch zu verkaufen und zu koloniſieren, iſt von anderer kompetenter Stelle ausgegangen, aber nicht von mir. Ich habe dieſe Maßregeln nicht ſo überwachen, nur anregen können.“

Etwas anders gewandt, aber faſt noch ſtärker gegen die deutſche Koloniſation gerichtet und ſogar eine polniſche indirekt befürwortend, äußerte ſich der Fürſt am 23. September desſelben Jahres zu einer weſtpreußiſchen Deputation —; hier heißt es: „Wir ſind, wie ich glaube, etwas zu eilig in der Sache vorgegangen. Mit der Zeit, auf dem Wege der Rentengüter, fand es ſich ja wohl, daß man in Ruhe eine, wenn nicht deutſche, ſo doch deutſchtreue Bevölkerung allmählich herſtellen konnte.“

Ganz ebenſo hat der Fürſt ſchon im Jahre 1872, als er zuerſt mit ſcharfen Erlaſſen den Miniſter des Innern, Grafen Eulenburg, darauf verwies,

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daß er mehr Obacht auf die polnische Agitation haben müſſe, den polniſchen Bauernſtand aus⸗

drücklich ausgenommen und nach Mitteln verlangt, wie man jenen zahlreichen und an ſich der Regie⸗ rung zugeneigten Stand von dem Einfluß des pol⸗ niſchen Adels möglichſt emanzipieren könne. Auch als er das Geſetz über den Ankauf polniſcher Güter im Abgeordnetenhauſe einbrachte, hütete er ſich wohl, von Bauernanſiedlungen zu ſprechen, ſon⸗ dern ſprach nur von Deutſchen, die auf den pol⸗ niſchen Gütern angeſiedelt werden ſollten, was alſo auch deutſche Großgrundbeſitzer oder Pächter ſein konnten.

Wie war es denn aber möglich, daß er überhaupt das polniſche Anſiedlungsgeſetz, das doch bäuer⸗ liche Koloniſation vorſieht, hat einbringen können? Wir haben darüber eine ganz authentiſche Auskunft. Zu den nächſten parlamentariſchen Vertrauten des Reichskanzlers gehörte in jener Zeit der frei⸗ konſervative Abgeordnete von Kardorff. Dieſer beſaß Scharfblick genug, um zu erkennen, daß, wie er ſich ausdrückte, die Sache nicht marſchieren werde, ging zum Fürſten und trug ihm ſeine Bedenken vor. Er empfahl, ſich auf den gelegentlichen An⸗

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kauf polnischen Großgrundbeſitzes und die Ein- ſetzung deutſcher Domänenpächter zu beſchränken. In der Aufzeichnung über das Geſpräch, die Kar⸗ dorff hinterlaſſen hat, fährt er nun weiter fort: „Der Fürſt hat meine Ausführungen, ohne mich zu unterbrechen, angehört, um mir nun folgendes zu erwidern: ‚Dieje von Ihnen empfohlene Art des Vorgehens entſprach meiner eigenen Anſchauung, aber ſie wird mir unmöglich gemacht durch die Haltung der nationalliberalen Partei, welche eine deutſche bäuerliche Anſiedlung als eine Vorbe⸗ dingung für ihre Zuſtimmung zu der Etatsforde⸗ rung hingeſtellt hat und mich dadurch nötigt, ihr nachzugeben. Ihre Bedenken gegen die geplanten bäuerlichen Anſiedlungen ſcheinen aber doch auch von Kennern der polniſchen Verhältniſſe, z. B. dem Oberpräſidenten Graf Zedlitz nicht für ſo ſchwerwiegende gehalten zu werden, als ſie er⸗ ſcheinen, und ich kann Sie nur bitten, nicht über⸗ ſehen zu wollen, daß es ſich hier um eine Frage handelt, welche in unſere auswärtige Politik hinein⸗ greift. Die Niederlage, welche Polen, Zentrum und Linke in den polniſchen Fragen der Reichsregierung im Reichstag bereitet haben, haben im Auslande

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Aufſehen erregt und unſere Beziehungen zu mancher der auswärtigen Mächte (Rußland?) weſentlich erſchwert. Für dieſe Niederlage bedarf ich einer glänzenden Genugtuung, wie ſie mir nur eine ſtarke Majorität des preußiſchen Abgeordneten⸗ hauſes zu verſchaffen vermag, und dieſe ſtarke Majorität kann ich ohne Beihilfe der National⸗ liberalen nicht haben.““

Das Vorgehen Bismarcks gegen die Polen im Jahre 1886 iſt hiernach zunächſt einzureihen in die Geſamtſituation des damaligen parlamentariſchen Kampfes, wo die feindliche Reichstagsmajorität dem Kanzler einen Stich nach dem anderen ver⸗ ſetzte und er in der Aufnahme des Polenkampfes einen günſtigen Boden fand, national-deutjche Empfindungen anzurufen und im Abgeordneten⸗ hauſe die Stütze zu finden, die ihm der Reichstag verſagte. Die letzte Wurzel iſt aber in der aus⸗ wärtigen Politik zu finden. Bismarck war keines⸗ wegs, wie auch ſchon die obigen Außerungen zeigen, ein prinzipieller Polenfeind. Niemals hat er etwa argumentiert: das Deutſche Reich iſt deutſch und nicht polniſch, und deshalb müſſen wir ſehen, dieſen Fremdkörper möglichſt auszumerzen oder ihn

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zu unterdrücken ſuchen. Ein derartiger Doktrinaris⸗ mus, wie wir ihn in den letzten Jahrzehnten oft haben vortragen hören, war ſeinem politiſchen Denken durchaus fremd.

Wie jeder Doktrinarismus ſo lag ihm auch

der Nationalismus fern. „Sein Geſichtskreis“, ſchreibt ſein ihm ſo naheſtehender Kabinettschef Tiedemann“), „ging weit über die Grenzen ſeines

engeren Vaterlandes hinaus und er war völlig

frei von dem Chauvinismus der vulgären Vater⸗ landsliebe; er nannte ſich ſelbſt wiederholt einen Europäer“. Obgleich Ehrenmitglied des Allge⸗ meinen deutſchen Sprachvereins, liebte er es, ſeinen Reden durch den Gebrauch von Fremdwörtern und Zitaten aus fremden Sprachen nicht bloß Präziſion, ſondern auch Fülle, Eleganz und Buntheit zu verleihen.“)

Überbliden wir fein Verhalten zu den Polen ſeine ganze Laufbahn hindurch, ſo ſehen wir, daß es ſich immer rein praktiſch nach den Umſtänden

*) Perſönliche Erinnerungen an den Fürſten Bismarck von Chriſtoph v. Tiedemann, S. 42. Leipzig, S. Hirzel. *) Vgl. meine Schrift „Die Sprachreinigung, Fürſt

Bismarck und Heinrich v. Treitſchke. Verlag Georg Stilke.

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gerichtet hat. In der Revolutionszeit, wo die Polen voran auf allen Barrikaden kämpften, war er ſtark antipolniſch. In der erſten Periode ſeiner Miniſterſchaft, wo es ihm darauf ankam, mit Ruß⸗ land Freundſchaft zu pflegen, half er mittelbar 1863 den ruſſiſch⸗polniſchen Aufſtand unter⸗ drücken, hielt ſich aber zu den preußiſchen Polen neutral. 1870 verhandelte er mit Erzbiſchof Ledo⸗ chowski in Verſailles perſönlich und verlangte von dem Kronprinzen, wie er ſelbſt verſchiedentlich erzählt hat und ich aus dem Munde der Kaiſerin Friedrich beſtätigen kann, ganz ernſtlich, daß er ſeine Söhne polniſch lernen laſſe. Der Kultur⸗ kampf wurde dann beſonders ſtark gegen die pol⸗ niſche Geiſtlichkeit geführt; aber den eigentlichen Nationalitätenkampf nahm er doch erſt gegen Ende ſeiner Laufbahn im Jahre 1886 auf, jedenfalls wieder, neben den ſchon erwähnten parlamen⸗ tariſchen Momenten, im Zuſammenhang mit der auswärtigen Politik. Es war die Zeit, wo er alle ſeine Kraft daran ſetzte, das ruſſiſch⸗franzöſiſche Bündnis hintanzuhalten und wieder ein leidliches Verhältnis zu Rußland zu gewinnen. Da konnte es kein beſſeres Mittel geben, als die Polen zu

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preſſen. Eine deutſche Regierung, die einen Krieg mit Rußland erwartet oder ihn ſogar vorbereitet, wird vor allem ſuchen, ſich die Polen freundlich zu ſtimmen, und man kann es als den ſtärkſten Beweis, daß Deutſchland den jetzigen Weltkrieg nicht gewollt hat, anſehen, daß es härtere und immer härtere Maßregeln bis zum Enteignungs⸗ geſetz gegen die Polen ergriffen hat. Ein Beweis klugen politiſchen Vorausſehens war das gewiß ebenſowenig wie die Bedrückungen der Serben, Kroaten und Rumänen durch die Magyaren. Viele glauben, daß der Krieg im Oſten für uns erheblich günſtiger verlaufen wäre, wenn die ruſſiſchen Polen anſtatt abzuwarten, wie ihre beiden Feinde ſich gegenſeitig niederkämpften, von Anfang an auf unſere Seite getreten wären. Aber wie dem auch ſei, Bismarck iſt jedenfalls an dieſem vielleicht ſchwerſten Fehler der preußiſch⸗deutſchen Politik in den letzten Jahrzehnten unſchuldig, und es war eine grobe Irreführung der deutſchen öffentlichen Meinung, wenn die Fortſetzung dieſer Politik ihr immer wieder aufgeredet wurde mit der Begrün⸗ dung, daß es ſich um eine Ausführung Bismarck⸗ ſcher Gedanken handle. Die nationalen Leiden⸗

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ſchaften waren nun einmal fo erregt, daß auch ſeine eigenen Warnungen das Fortſchrei⸗ ten auf der verderblichen Bahn nicht mehr haben aufhalten können.

Man mag ſich ja damit tröſten, daß mit einem Aufwand von einer Milliarde in den vielen Anſiedlungsdörfern immerhin ein erheb⸗ liches Kulturwerk errichtet worden ſei. Aber auf der anderen Seite iſt es Tatſache, daß vermöge der nicht gewollten indirekten Folgen unſerer Polenpolitik die Oſtmarken, namentlich die Städte, mehr poloniſiert als germaniſiert worden find. Wer Bismarcks Erbe nach Abſchluß der jetzigen Kriſis recht verwalten will, wird ſich nicht an einzelne ſeiner Ausſprüche aus dieſer oder jener Periode ſeiner politiſchen Laufbahn halten dürfen, ſondern das unter allen Umſtänden ſehr ſchwierige Problem in ſeinem Geiſt, das heißt, nicht doktrinär, ſondern realpolitiſch und praktiſch zu löſen ſuchen. Zwiſchen dem einen Extrem, daß man don den Prinzen des Königlichen Hauſes verlangt, daß ſie polniſch lernen ſollen, und dem anderen, daß man Lehrer ſtrafverſetzt, die denun⸗ ziert worden ſind, weil ſie mit irgend jemand

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polniſch geſprochen haben, 5 es mancherlei Mittelwege.“)

Auch auf anderen Gebieten des öffentlichen Lebens muß man ziemlich ſtark durchgreifen, um die Frage der Nachfolge Bismarcks von Fabeln und Legenden zu ſäubern und ihr auf den Grund zu kommen. Aber wer guten Willen hat, vermag ſchließlich die Wahrheit ohne große Schwierigkeiten zu erkennen.

Fahren wir fort mit der inneren Politik, ſo ſehen wir, wie unter Caprivi eine höchſt fruchtbare Geſetzgebung einſetzt. Der Miniſter von Berlepſch ſchuf die Arbeiterſchutzgeſetzgebung, der Bismarck ſich ſo lange widerſetzt hatte; der Finanzminiſter von Miquel reformierte in genialer Weiſe in Preußen das Syſtem der direkten Steuern. Der Miniſter Herfurth brachte eine neue Landgemeinde⸗ ordnung durch, die den Klagen auf dieſem Gebiet ein Ende machte. Der Reichskanzler Caprivi ſelbſt nahm ſich der Armeereform an und ermöglichte durch Einführung der zweijährigen Dienſtzeit und entſprechende Vermehrung der Rekrutenzahl die Ausbildung jener Maſſen von Reſerviſten, vermöge

*) Näheres in meinem Buche „Regierung und Volks⸗ wille“ S. 157 fl.

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deren wir jetzt imſtande geweſen find, mit der Ausſicht auf den Erfolg in den Weltkrieg zu gehen. Alles das ſind Dinge, die Bismarck tatſächlich nicht wollte, oder auch nicht konnte, da er ſich zu ſehr dagegen feſtgelegt hatte. Sehen wir aber auf die Grundideen der Bismarckſchen Staatskunſt, ſo müſſen wir geſtehen, daß ein innerer Grund, wes⸗ halb er alle dieſe Geſetze nicht hätte gutheißen können, nicht vorliegt, im Gegenteil, man darf ſie ſogar als natürliche und notwendige Konſequenzen ſeiner eigenen Politik anſprechen, und wenn er ſelbſt dieſe Konſequenzen nicht gezogen hat, ſo lag das an gewiſſen, man möchte ſagen Zufälligkeiten ſeiner Individualiät, die er als alter Mann nicht mehr überwinden konnte und wollte, oder wie bei der dreijährigen Dienſtzeit, die ihm, wie wir geſehen haben, unweſentlich war, an hiſtoriſchen Bindun⸗ gen, die er nicht mehr ſo leicht loswerden konnte. Man muß alſo ſozuſagen einen idealen Bismarck und einen Bismarck in Fleiſch und Blut unter⸗ ſcheiden; von dieſem letzteren hat ſich der neue Kurs tatſächlich entfernt und freigemacht, mit jenem aber hat er ſich dadurch keineswegs in Wider⸗ ſpruch geſetzt, ſondern ihn ſogar erfüllt.

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Nicht viel anders ſteht es mit der auswärtigen Politik. Bismarck ſelbſt iſt der Anſicht geweſen, daß ſein Nachfolger unſer gutes Verhältnis zu Rußland, das er immer noch aufrecht gehalten habe, zerſtört habe. Andere glauben, daß um⸗ gekehrt unter Caprivi das Verhältnis Deutſch⸗ lands zu Rußland beſſer geworden ſei, als es zuletzt unter Bismarck geweſen. Richtig iſt, daß Caprivi gleich bei ſeinem Amtsantritt den ſoge⸗ nannten geheimen Rückverſicherungsvertrag mit Rußland, der abgelaufen war, nicht erneuerte. Der Grund dieſer Nichterneuerung lag aber nicht in einer ſtärkeren Feindſeligkeit gegen Rußland oder in einer Annäherung an England, vielmehr wurde in der Beratung, die darüber ſtattfand, von einem der Teilnehmer, ich vermute, daß es Herr von Holſtein geweſen iſt, geltend gemacht, daß wenn der Vertrag bekannt würde, er in Oſter⸗ reich eine ſehr ſtarke und gefährliche Verſtimmung hervorrufen könne, man aber nicht ſicher ſei, ob nicht der Altreichskanzler bei ſeinem Temperament

das Geheimnis einmal herauslaſſe. Dieſe Er⸗ |

wägung gab den Ausſchlag und daß fie nicht un⸗ berechtigt war, hat ja die Folgezeit bewieſen, als

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Bismarck tatſächlich, aus welchem Grunde auch immer, den Vertrag kundbar gemacht hat.

Die Frage, wie man ſich diplomatiſch am beſten zu Rußland geſtellt hätte und ob dieſe oder jene Maßregel richtig oder fehlerhaft war, hat heute ſehr an Intereſſe verloren, da niemand mehr be⸗ zweifelt, daß die wilde Flut des Panſlawismus ſich durch keinerlei diplomatiſche Mittel auf die Dauer hätte eindämmen laſſen.

In den erſten Jahren der Regierung Nikolaus' II. war, wie jüngſt ein Hiſtoriker bemerkt hat“), das Verhältnis zwiſchen Berlin und Petersburg zeit⸗ weilig ſehr viel herzlicher als in den letzten Jahren Bismarcks. Aber was hat es genützt? Wir konnten nichts anderes tun, als die Bismarckſche Politik fortſetzen, die eingeſtellt war auf den Zaren und ſeine Ratgeber, aber die alte ruſſiſche Autokratie iſt allmählich dahingeſchwunden; der Zar und ſeine Ratgeber haben ſich mehr und mehr vom Steuerruder verdrängen laſſen müſſen, und die fanatiſchen Inſtinkte der Panſlawiſten, der ruſſiſchen Intelligenz, die die ungeheuren moskowitiſchen

) Luckwaldt, „Bismarcks Erbſchaft und der Krieg“, „Das neue Deutſchland“, Bismarck⸗Nummer, S. 183.

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Maſſen hinter fich herzieht, regieren das Reich und drängen fort und fort zu immer größeren Eroberungen. Wie wir die Dinge jetzt ſehen, iſt es nicht erſtaunlich, daß wir im Jahre 1914 in den Krieg geraten ſind, ſondern nur, daß er ſich ſeit dem Jahre 1879, wo uns Rußland zum erſten Male damit bedrohte, bis zu dieſem Jahre hat hintanhalten laſſen können.

Richtig iſt, daß mit dem Einſetzen einer aktiven deutſchen Orientpolitik und der Anknüpfung näherer Beziehungen zur Türkei, auf deren innere Natur noch zurückzukommen ſein wird, der neue Kurs mittelbar eine ſchärfere Stellung gegen Rußland nahm und inſofern von dem alten abgewichen iſt. Bismarck ſelber hat ſich darüber noch öfter tadelnd geäußert. Aber die Abweichung wird wieder geringer als ſie ſcheint, wenn man herausarbeitet, wie ſehr ſie ſchon unter Bismarck ſelbſt angelegt war. Freilich hat er erklärt (1887), „wir werden uns wegen dieſer Frage (der orientaliſchen) von niemand (d. h. von Oſterreich⸗Ungarn) das Leitſeil um den Hals werfen laſſen“, und alle jene Fragen berührten die deutſchen Intereſſen nur inſoweit, als das Deutſche Reich mit Oſterreich in ein ſoli⸗

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dariſches Haftverhältnis trete. Aber eben dieſes ſolidariſche Haftverhältnis hat er ja nicht nur ge⸗ ſchaffen, ſondern ſogar gewünſcht, das internationale Bündnis zu einem in beiden Reichen verfaſſungs⸗ mäßig unauflöslichen zu machen, und ſchon im Sommer 1880 befürwortete er die Entſendung einer Militärmiſſion nach der Türkei mit der Erwägung: „Wenn in Rußland der Chauvinismus, der Pan⸗ ſlawismus und die antideutſchen Elemente uns an⸗ greifen ſollten, ſo wären die Haltung und die Wehr⸗ haftigkeit der Türkei für uns nicht gleichgültig. Gefährlich könnte ſie uns niemals werden, wohl aber könnten unter Umſtänden ihre Feinde auch unſere werden.“ Immerhin bleibt ein weſentlicher Unterſchied zwiſchen dieſen Maßregeln und der Politik des neuen Kurſes, und der tiefere Grund dieſer Abweichung wird noch in einem allgemeinen Zusammenhang zu erörtern fein. Daß gerade der General von Caprivi Bismarcks Nachfolger wurde, iſt wohl einigermaßen auf ihn ſelbſt zurückzuführen; ſchon als er ihn als jungen General kennen lernte, hat er zu ſeinem Kabinetts⸗ chef geäußert: „in dieſem Mann ſtecke ein zukünfti⸗ ger Kanzler“. Nachdem er ihn dann als ſeinen

6 Delbrück, Bismarcks Erbe 161

unmittelbaren Untergebenen (Staatsſekretär des Reichsmarineamts 1883-1888) genauer kennen gelernt hatte, da nahm er ihn, als er ſeine letzte Idee der gewaltſamen Niederſchlagung der Sozial⸗ demokratie ins Auge faßte, für dieſen Kampf als Miniſterpräſidenten in Ausſicht; nicht wegen ſeiner politiſchen Anſichten, wie er es ſpäter erklärt hat, ſondern wegen ſeiner hervorragenden Charakter⸗ eigenſchaften freilich eine Unterſcheidung, die praktiſch nicht ſtandhält, denn wie hätte er einen Miniſterpräſidenten neben ſich ſtellen können, von dem er nicht vorausſetzte, daß er ſehr ähnliche politiſche Anſchauungen habe wie er ſelber? Fragen wir, wie Caprivi es zuſtande gebracht hat, mit dem Reichstag auszukommen, da doch ein Bismarck an dieſer Möglichkeit bereits verzweifelt hatte, ſo iſt wieder der Grund nicht in abweichenden Prinzipien zu ſuchen, ſondern in der Tatſache, daß der Nachfolger perſönlich von gewiſſen hiſtoriſchen Bindungen, von denen ſich Bismarck nicht mehr zu löſen vermochte, frei war. Zwiſchen dem Zentrum und Bismarck und noch mehr zwiſchen der deutſch⸗ freiſinnigen Partei und Bismarck hatten die jahr⸗ zehntelangen Kämpfe einen Abgrund des Haſſes

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ausgehöhlt, der nicht mehr zu überbrücken war. Mit Bismarck hätte das Zentrum nur unter unan⸗ nehmbaren Bedingungen, die deutſch⸗freiſinnige Partei überhaupt nicht verhandelt. Caprivi waren die beiden Oppoſitionsparteien bereit, entgegenzu⸗ kommen, und auch er kam ihnen entgegen, nament⸗ lich mit der zweijährigen Dienſtzeit. Bismarck, der eine dreijährige Dienſtzeit feſthalten wollte, hätte mit ihr die große Armeevermehrung im Reichstag niemals durchgebracht.

Er verſtand in Friedrichsruh die beſſeren Be⸗ ziehungen zwiſchen den beiden Faktoren der Ge⸗ ſetzgebung ſo wenig, daß er glaubte, der Reichs⸗ tag getraue ſich nicht mehr ſolche Oppoſition zu machen, wie einſt ihm, gerade weil es den Männern des neuen Kurſes ſo gänzlich an Autorität und Er⸗ fahrung mangele, und warf dem Reichstag des⸗ halb geradezu Nachgiebigkeit, Schwäche und Leiſe⸗ treterei vor.“) So leicht iſt es Caprivi auf die Dauer freilich doch nicht geworden. Auch er ſtieß auf die alte antimilitariſtiſche Oppoſition, aber mit der Gabe der zweijährigen Dienſtzeit in der Hand

) H. Hoffmann, Fürſt Bismarck 1890—98. Bd. III, S. 59, 104.

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konnte er es endlich wagen, den Reichstag aufzu- löſen, ſprengte damit die deutſch⸗freiſinnige Partei in zwei Teile, lockte auch die Polen an ſich und ge⸗ wann ſo die Majorität.

- Auf demſelben Wege ſetzte er auch die Bewil⸗ ligungen für die Flotte durch, auf die noch im Zu⸗ ſammenhange mit der deutſchen Weltpolitik und der Erwerbung Helgolands zurückzukommen ſein wird.

Trotz aller ſeiner Erfolge iſt das Andenken Caprivis in der Erinnerung des deutſchen Volkes ſchwer belaſtet. Zunächſt durch zwei anſcheinende oder wirkliche legislatoriſche Mißgriffe: eine Gruppe von Handelsverträgen und das Volks⸗ ſchulgeſetz des Grafen Zedlitz. Die Handelsver⸗ träge haben der deutſchen Volkswirtſchaft un⸗ zweifelhaft den größten Nutzen geſchaffen, aber ſie beruhten in einem Punkt auf einem Irrtum. Der ſchlechte Ausfall der Wahlen im Jahre 1890 war, wie wir geſehen haben, zum Teil darauf zurückzu⸗ führen, daß die Weltmarktpreiſe für Getreide an⸗ gezogen hatten und der im Jahre 1887 erhöhte Kornzoll infolgedeſſen als Brotwucher erſchien. Die Handelsverträge ſetzten deshalb den Kornzoll, zwar nicht ſehr, aber doch um einiges, von 5,5 Mark

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auf 3,5 Mark herab, wofür der Landwirtſchaft, zu⸗ mal der oſtdeutſchen, eine Kompenſation, vielleicht ſogar eine Überkompenſation durch Aufhebung des Identitätsnachweiſes beim Export von Getreide gewährt wurde. Unmittelbar darauf begannen aber die Weltmarktpreiſe aufs neue rapid zu ſinken, was niemand vorausgeſehen hatte. Kein Wunder, daß, als die deutſche Landwirtſchaft nun in große Not geriet, ſie die Schuld bei den Handels⸗ verträgen ſuchte und eine gewaltige Agitation gegen Caprivi in Szene ſetzte. Man mag zugeben, daß Bismarck viel zu ſehr Agrarier geweſen wäre, um jene Herabſetzung der Zölle zu dulden, und daß hier wirklich eine Abweichung von ſeinem Kurſe vorliegt. Aber auf der anderen Seite iſt nicht zu vergeſſen, daß ohne die Milderung dieſer Zölle und ohne die Handelsverträge dem leitenden Staatsmann die Sprengung der deutſch⸗frei⸗ ſinnigen Partei ſchwerlich gelungen wäre.

Dem Zedlitz ſchen Volksſchulgeſetz wurde der Vorwurf gemacht, daß es die Klerikaliſierung der Volksschule bedeute. Mir ſcheint, daß das doch nur in wenigen Punkten der Fall war, über die eine Vereinigung mit den Nationalliberalen wohl

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zu erzielen geweſen wäre, und daß weniger durch die Fehler in der Sache ſelbſt, als durch einige par⸗ lamentariſch⸗taktiſche Fehler des Kultusminiſters und Caprivis ſelbſt das Geſetz zu Falle gekommen iſt. Einen Gegenſatz zur Bismarckſchen Politik darf man daraus aber kaum konſtruieren, wenn man ſich an deſſen letzte Verhandlungen mit Windthorſt erinnert und nachlieſt, daß er in jenen Tagen verkünden ließ, die Vorſtellung, daß die Konſer⸗ vativen ſich niemals mit dem Zentrum verſtän⸗ digen könnten, beweiſe nur, daß der Freiſinn nicht den Mut beſitze, der Wahrheit ins Auge zu ſehen.

Der wirkliche und letzte Grund, weshalb Caprivi in der Erinnerung des deutſchen Volkes heute noch mit einer Art von Haß verfolgt wird, iſt kein anderer, als daß er eben der Nachfolger Bismarcks geweſen iſt und mit dieſem dann in die peinlichſten perſön⸗ lichſten Reibereien geriet. Bismarck hatte daran nicht weniger Schuld als Caprivi aber wie konnte ſich dieſer überhaupt auf ſolchen Kampf einlaſſen? Die große Maſſe des Volkes glaubte ohnehin, daß die Entlaſſung Bismarcks nichts als eine Sache der Laune und der Intrige geweſen ſei. Nun wurde der Held ſogar noch perſönlich ver⸗

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unglimpft und gemißhandelt. Selbſt diejenigen, die ſchon damals die innere Notwendigkeit von Bismarcks Abgang erkannten, verlangten dennoch, daß der Vater des Vaterlandes, was er ſich auch ſelber zuſchulden kommen laſſe, doch ſtets mit der Ehrerbietung behandelt werde, die ſeinem Ver⸗ dienſt gebührte und die die einfache Dankbarkeit verlangte.

Dieſer Fehler hat es verſchuldet, daß das frucht⸗ bare und, wie wir geſehen haben, in der Tiefe dem Geiſte Bismarcks ſehr verwandte Wirken Caprivis ihm doch keinerlei Anerkennung im Den⸗ ken und Empfinden des deutſchen Volkes einge⸗ bracht hat.

Ein ſehr erfahrener und ſehr eingeweihter Par⸗ lamentarier ſagte mir einmal, eigentlich habe Graf Walderſee auf die Reichskanzlerſchaft ſpeku⸗ liert, ſich aber zuletzt doch geſagt: Nachfolger Bismarcks? Das iſt unter allen Umſtänden ein ſehr ſchlechtes Geſchäft Nachfolger ſeines Nach⸗ folgers aber würde er gern geworden ſein.

Was von Caprivi gilt, gilt nun im weſentlichen auch von ſeinen Nachfolgern. Sie haben, von Kaiſer Wilhelm berufen, die deutſche Politik als

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Erbe Bismarcks zu verwalten geſucht. Einmal

fand noch, an den Namen des Miniſters von Köller anknüpfend, ein böſer Rückſchlag in den falſchen Bismarckianismus ſtatt, der eine ſo große Be⸗ wegung wie die Sozialdemokratie glaubte mit Polizeimaßregeln niederhalten zu können, aber bald bog man von dieſem falſchen Kurſe wieder ab, um nun endlich zu jener wahren Verwaltung eines großen Erbes überzulenken, die nicht bloß auf Erhaltung, ſondern auf Mehrung und Steige⸗ rung des Ererbten bedacht iſt.

Als Bismarck am 18. Januar 1871 im Kaiſer⸗ ſaale des Verſailler Schloſſes die Kaiſerproklama⸗ tion verlas, da ſoll auch ihn, den Eiſernen, die innere Erregung faſt überwältigt haben. Der Kanzler ſprach, wie ein Augenzeuge berichtet, anfangs mit einer vor Erregung keuchenden Bruſt, bleichem Antlitz und ſo blutleeren Ohren, daß ſie faſt durchſichtig waren. Mit Mühe rangen ſich die erſten Sätze aus der Bruſt, aber allmählich wurde die Stimme klar und durchdrang den Saal, be⸗ ſonders bei den Schlußworten „Wir übernehmen die kaiſerliche Würde in dem Bewußtſein der Pflicht, in deutſcher Treue die Rechte des Reiches und

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jeiner Glieder zu ſchützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutſchlands, geſtützt auf die geeinte Kraft ſeines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen ſie an, in der Hoffnung, daß es dem deut⸗ ſchen Volke vergönnt ſein wird, den Lohn ſeiner heißen und opfermütigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die ſeit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und unſeren Nachfolgern an der Kaiſerkrone wolle Gott ver⸗ leihen, allzeit Mehrer des Deutſchen Reiches zu ſein, nicht an kriegeriſchen Eroberungen, ſondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Geſittung.“

Alle die zwanzig Jahre, die es Bismarck noch vergönnt war, am Steuerruder des Staates zu ſitzen, hat er im Sinne dieſer Worte ſeines Amtes gewaltet. Deutſchland war nach ſeinem Ausdruck „ſaturiert“; nach keiner Richtung bedurfte es einer Erweiterung. Jedem Gedanken, einmal fremd⸗ ſprachiges Gebiet für Deutſchland zu erwerben, war er nicht nur abhold, ſondern direkt feindlich,

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ſo daß er im Verſailler Frieden ſelbſt Metz nur ſehr ungern auf das Andringen Moltkes genommen hat. Das neue Reich wollte nichts, als ſich ſelbſt ſchützen und den Frieden, und die fruchtbare Geſetzgebung, die dieſe beiden Jahrzehnte erfüllt, gaben auch dem deutſchen Geiſte und ſeinem Streben vollauf Beſchäftigung und Genugtuung. Nicht gerade häufig, aber doch zuweilen, ſind Völkern ſolche Perioden einer gewiſſen Ruhe vergönnt geweſen. Wir wiſſen, daß dieſe Ruhe auch nur eine ſehr relative war, daß man wohl auch gerade umgekehrt ſagen kann, es iſt eine Zeit heftiger innerer Kämpfe und Spannungen geweſen; Ruhe war es nur in⸗ ſofern, als man nach außen im Frieden lebte und im Innern, wenn man die auf Bismarcks Abgang folgenden beiden Dezennien hinzunimmt, ſich die

überlieferten Probleme allmählich löſten, die be⸗

ſtehenden Formen ſich befeſtigten.

Die Weltgeſchichte aber ſteht nicht ſtill und ein Volk auch nicht, oder wenn es ſtill ſtehen ſollte, ſo würde es erſtarren, ſeine geiſtigen Kräfte nicht nur nicht ausbilden, ſondern ſie allmählich ver⸗ lieren. Die materiellen Güter, das Streben nach ihnen, der Genuß und die materialiſtiſche Geſin⸗

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nung gewinnen dann nach und nach die Ober- hand.

Die Deutſchen konnten, nachdem ſie ihre natio⸗ nale Einheit nach außen und innen erkämpft, ſich nicht für immer damit begnügen, eine euro⸗ päiſche Kontinentalmacht zu ſein, den Frieden zu wahren und den anderen Kulturvölkern zu über⸗ laſſen, die Meere zu beherrſchen und die Kon⸗ tinente unter ſich zu verteilen. In Europa freilich konnten ſie ſich für „ſaturiert“ erklären, aber die Zeit mußte kommen, wo ſie ſich von der Kontinen⸗ talmacht zur Weltmacht erheben, Weltpolitik treiben und ein Kolonialvolk werden mußten.“)

*) Meine eigene Auffaſſung vom Weſen der Kolonial⸗ politik habe ich niedergelegt in dem Aufſatz „Über die Ziele unſerer Kolonialpolitik“ in den „Preußiſchen Jahrb.“ Bd. 147 S. 503 (1912), der in der engliſchen Militär⸗Zeit⸗ ſchrift „Journal of the United Service Institution“ über- ſetzt wurde und jetzt von der Atlantie Monthly in Boſton, von mir mit einer auf die Gegenwart bezüglichen Einleitung ver⸗ ſehen, für das amerikaniſche Publikum neugedruckt worden iſt. Für das Nachfolgende habe ich noch weſentlich die eben erſchienene höchſt wertvolle „Geſchichte der deutſchen Ko⸗ lonialpolitik“ von Dr. Alfred Zimmermann (Berlin, E. S. Mittler) und die ſehr exakt gearbeitete Schrift „Vor⸗ ausſetzungen und Veranlaſſungen für Bismarcks Eintritt in die Weltpolitik“ von Maximilian v. Hagen (Verlag

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Jedes wahrhaft große Volk iſt ein Koloniſations⸗ volk. Das heutige deutſche Volkstum iſt geſchaffen worden durch gewaltige Koloniſation. Das Reich, das einſt Ludwig der Deutſche aus dem Erbe Karls des Großen übernahm, reichte im Oſten nur bis an die Ens, an den Böhmerwald, das Fichtel⸗ gebirge, an die Saale und Elbe. Der Überſchuß der germaniſchen Volkskraft hat faſt das ganze heutige Deutſch⸗Oſterreich, Sachſen, Schleſien, Brandenburg, Mecklenburg, Oſtholſtein, Preußen und große Teile von Poſen und Weſtpreußen im Laufe von einigen Jahrhunderten dem Deutſch⸗ tum gewonnen, auch Kurland, Livland, Eſt⸗ land in den Oberſchichten germaniſiert. Die welt⸗ geſchichtliche Nachwirkung Friedrich Barbaroſſas iſt vor allem, daß er durch ſeine maßvolle Politik im Innern eine Stellung über den Parteien ge⸗ wann und dadurch die Ausdehnung des deutſchen Gebiets nach Oſten über die Oder hinaus von der Grenzboten 1914) herangezogen und mich in der Weiterführung meiner Auffaſſung in erſter Linie beſtim⸗ men laſſen durch die ganz ausgezeichnete Schrift von Prof. Kurt Wiedenfeld „Der Sinn des deutſchen Kolonial-

beſitzes“ (A. Markus und E. Weber, Bonn), aus der ich manche Sätze wörtlich übernommen habe.

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Schleſien bis nach Pommern ermöglichte. Im 14. Jahrhundert kamen dieſe Erwerbungen ins Stocken, und als die neuen Weltteile entdeckt und in den europäiſchen Verkehr und Machtbereich gezogen wurden, da war Deutſchland nicht fähig, ſich an den Koloniſationen, die nun hier begonnen wurden, zu beteiligen. Die Spanier, Portugieſen, Franzoſen, Niederländer und Engländer und nach anderer Richtung die Ruſſen teilten ſich in die Welt. Sollte das kraftſtrotzende deutſche Volk auf immer hiervon ausgeſchloſſen ſein?

Es iſt ein Irrtum, wenn man ſich vorſtellt, daß, als das Deutſche Reich gegründet wurde und damit unſer Volk in die Reihe der großen Nationalſtaaten eintrat, die außereuropäiſche Welt bereits vergeben geweſen ſei. Das Innere von Afrika, eines ganzen Weltteiles, war nicht nur noch nicht vergeben, ſondern noch nicht einmal bekannt. Erſt nach der Mitte der ſiebziger Jahre durchquerte Stanley als erſter Weißer das afrikaniſche Zentralgebiet, und welche Maſſe von ſonſtigen großen und frucht⸗ baren Landſchaften ſind ſeitdem noch unter die Herrſchaft europäiſcher Völker getreten! Die Engländer, Franzoſen und Italiener haben große

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Stücke des Türkiſchen Reiches, Agypten, Tunis und Tripolis abgegliedert und unter ihre Obhut ge⸗ nommen. An Agypten hat England den zukunfts⸗ reichen Sudan angeſchloſſen. Die Engländer haben ihr vorderindiſches Reich noch fortwährend ausgedehnt, Belutſchiſtan hinzugefügt und waren in den letzten Jahren im Begriffe, ſich mit Rußland in Perſien zu teilen. Schritt für Schritt iſt ihnen Rußland von Norden her in der Richtung auf Indien entgegengerückt. In Hinterindien haben neben den Engländern die Franzoſen ein gewaltiges Kolonialreich in Beſitz genommen. Ob China ein ſelbſtändiger Staat bleiben oder ähnlich wie Indien unter England, ſo unter die Herrſchaft Japans kommen wird, oder etwa zwiſchen Japan, England und Rußland verteilt wird, iſt heute noch nicht ab⸗ zuſehen. Das Hauptgebiet der eigentlichen Kolo⸗ nialerwerbungen aber iſt Afrika geblieben. Die Franzoſen haben ſich von Algier bis zum Kongo ausgedehnt, ſich im Nordweſten Marokkos be⸗ mächtigt, im Südoſten der Inſel Madagaskar. Englands Beſitzung in Kapland dehnte ſich immer weiter nach Norden aus und hat endlich auch die beiden Burenrepubliken verſchlungen. In Zentral⸗

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afrika gründete König Leopold II. von Belgien das eigentümliche Gebilde des Kongoſtaates, nicht als eine Kolonie des Königreiches Belgien, ſondern als eine Art internationaler Unternehmung mit dem König von Belgien an der Spitze. Wenn alle dieſe Verſchiebungen und Erweiterungen ſich noch nach der Gründung des Deutſchen Reiches haben vollziehen können, weshalb hat das Deutſche Reich nicht von Anfang an, indem es ſeine neu⸗ gewonnene Macht einſetzte, ſich an dieſer Erwerbs⸗ politik beteiligt?

Schon früh ſind im 19. Jahrhundert vereinzelte Stimmen laut geworden, die deutſche Kolonien verlangten und im Jahre 1867, zwiſchen den beiden großen Kriegen, veröffentlichte Lothar Bucher in dem offiziöſen Organ der Regierung, der „Nord⸗ deutſchen Allgemeinen Zeitung“, eine Reihe von Artikeln in dieſem Sinne. Auch beim Friedens⸗ ſchluß 1871 haben ſich einige Stimmen erhoben, die darauf hinwieſen, daß Deutſchland von Frank⸗ reich auch Kolonien erwerben könne. Aber ſie blieben ganz vereinzelt. Erſt im Beginn der achtziger Jahre dürfen wir wirklich von Anfängen einer deutſchen Kolonialbewegung ſprechen. Aber

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jie ging nicht von der Regierung aus und ebenſo⸗ wenig von der öffentlichen Meinung, im Sinne einer Bewegung großer Maſſen. Einzelne Perſön⸗ lichkeiten waren es, hanſeatiſche Kaufleute, wie Woermann in Hamburg, Lüderitz in Bremen, Großkaufleute wie Colin und Hanſemann, Welt⸗ reiſende wie Claus v. d. Decken, Brenner, Kerſten, Rohlfs, v. Weber, Schweinfurth, Nachtigal, v. Maltzan, Miſſionare wie Fabri und junge Aben⸗ teurer oder Idealiſten, Karl Peters, Jühlke, Graf Joachim Pfeil, Gebrüder Denhardt, die mit pro⸗ phetiſchem Blick ein neues Zukunftsdeutſchland zu ſchauen glaubten oder auf eigene Hand hinaus⸗ fuhren, um es zu verwirklichen.

Es iſt höchſt merkwürdig, wie der leitende Staats⸗ mann ſich zu dieſen neuen Ideen ſtellte. Zunächſt lehnte er ſie trotz Bucher prinzipiell ab, da das Reich ſelbſt noch nicht fertig ſei, oder wie er es in ſeiner bilderreichen Sprache draſtiſch ausdrückte, „dieſes Kolonialgeſchäft wäre für uns genau ſo, wie der ſeidene Zobelpelz in polniſchen Adels⸗ familien, die keine Hemden haben“. Ende der ſiebziger Jahre ſchrieb er „ich bin nicht ohne Sorge, daß wir durch faktiſches Vorgehen der Marine

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in eine Gründung hineingeraten, die einer kaiſer⸗ lich deutſchen Kolonie nicht unähnlich ſieht“. Er ſei von Haus aus kein Kolonialmenſch. Als Kom⸗ merzienrat Baare in Bochum wieder einmal den Erwerb Formoſas empfahl, bemerkte Bis⸗ marck (1883): „Zu Kolonien gehört ein Mutter⸗ land, in dem das Nationalgefühl ſtärker iſt als der Parteigeiſt.“ „Mit dieſem Reichstag iſt es ſchon ſchwer genug, dem Reiche zu erhalten, was es hat, ſogar das Heer im Inlande. Solange das Reich finanziell nicht konſolidiert iſt, dürfen wir an ſo teure Unternehmungen nicht denken.“

Aber bei dieſer reinen Negation konnte er nicht bleiben. Der Inſtinkt ſeines Genius ſagte ihm, daß er unmöglich eine ſolche Bewegung einfach ablehnen, ſich einer derartigen Zukunftspolitik völlig verſagen könne. Dazu kamen wiederholte Beſchwerden von deutſchen Kaufleuten, die an der Küſte von Afrika oder in der Südſee Handel trieben und weder bei den wilden Häuptlingen noch den Engländern einen Rechtsſchutz fanden. Dem konnte der Deutſche in dem neuen Reiche nicht mehr ausgeſetzt bleiben. Aber unmöglich war es auch wiederum, daß der Kanzler die Aufgabe etwa

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in demſelben Stil der Großartigkeit angriff, wie er einſt den deutſchen Nationalſtaat ins Auge ge⸗ faßt hatte, oder die Grundlinien für die neue Sozialpolitik zog. Er ſuchte nach einem Mittelweg. Das franzöſiſche Syſtem, wie er es nannte, mili⸗ täriſche Beſitzergreifung und Errichtung einer ſtaat⸗ lichen Verwaltung, verwarf er. Statt deſſen kam er auf einen öfter von England angewandten Modus, nämlich die Erteilung von kaiſerlichen Schutz⸗ briefen für Private, die auf eigene Koſten, Gewinn und Gefahr ein Gebiet erwerben und verwalten wollten. Fürſtliche Kaufleute oder Geſellſchaften konnten auf dieſem Wege Kolonialpolitik treiben, ohne das Reich finanziell zu belaſten und es poli⸗ tiſch gleich unwiderruflich zu engagieren. Das koloniale Programm ſollte ſein: Schutz den deut⸗ ſchen Pionieren, nicht ſtaatlicher Kolonialbeſitz. Nach dieſem Grundſatz wurde ſeit Anfang der achtziger Jahre verfahren. Aber der erſte Wider⸗ ſacher, auf den er dabei ſtieß, war die deutſche Volksvertretung. Zwar erklärten ſchon im März 1885 ſämtliche Parteien (mit Ausnahme der Polen und Sozialdemokraten) ihre Zuſtimmung zu der Kolonialpolitik nach dem vom Kanzler entwickelten

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Programm. Die Redner des Zentrums verſicher⸗ ten, „daß die Majorität des Reichstags niemals fehlen würde, wo es ſich darum handelt, das An⸗ ſehen und die Ehre des Deutſchen Reiches zu wahren“, und daß das Zentrum voll und ganz dabei ſei, wenn es ſich darum handele, eine ge⸗ ſunde, nicht abenteuerliche Kolonialpolitik ins Werk zu ſetzen. Der Abg. Frhr. v. Stauffenberg erklärte namens der Freiſinnigen, „daß wir, wie wir es ſchon früher getan haben, die Politik, die der Herr Reichskanzler in der bekannten Sitzung des vorigen Jahres ausführlich entwickelt hat, voll⸗ ſtändig billigen und bereit ſind, ſie in dieſem Um⸗ fang zu unterſtützen“. Aber das ging über die Theorie nicht weit hinaus, da ja der Kanzler ſelbſt eigentlich nichts forderte. Kamen wirkliche For⸗ derungen, ſo ging die Maſchine ſehr ſchwer. Bis⸗ marck mußte deshalb (18. März 1886) dem Kolo⸗ nialverein in Halle ſchreiben: „Bei der Zurück⸗ haltung, mit welcher die Mehrheit des Reichstages unſeren kolonialen Beſtrebungen bisher gegenüber⸗ ſteht, vermag ich dem deutſchen Unternehmungs⸗ geiſte in anderen Weltteilen nicht das Maß von Unterſtützung zuzuwenden, welches dem nationalen

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Intereſſe entſprechen würde“; und (amd. Juni 1889) dem Miſſionsinſpektor Fabri: „Was die koloniale Frage im allgemeinen betrifft, ſo iſt zu bedauern, daß dieſelbe in Deutſchland von Hauſe aus als Parteiſache aufgefaßt wurde, und daß im Reichstag Geldbewilligungen für koloniale Zwecke immer noch widerſtrebend und mehr aus Gefälligkeit für die Regierung oder unter Bedingungen eine Mehrheit

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finden. Die Kaiſerliche Regierung kann über ihr

urſprüngliches Programm bei Unterſtützung über⸗ ſeeiſcher Unternehmungen nicht aus eigenem An⸗ triebe hinausgehen und kann nicht die Verantwor⸗ tung für Einrichtung und Bezahlung eigener Ver⸗ waltungen mit einem größeren Beamtenperſonal und einer Militärtruppe übernehmen, ſolange die Stimmung im Reichstage ihr nicht helfend und treibend zur Seite ſteht und ſolange nicht die nationale Bedeutung überſeeiſcher Kolonien all⸗ ſeitig ausreichend gewürdigt wird und durch Kapital und kaufmänniſchen Unternehmungsgeiſt . . . Förderung findet.“

Die mangelnde Triebkraft in der Volksvertre⸗ tung erzeugte doppelte Vorſicht dem Auslande gegenüber.

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Nicht nur engliſche, ſondern auch franzöſiſche Intereſſen, wurde den Unternehmern eingeſchärft, müßten ſorgſam geſchont werden. Das Wort „Englands Freundſchaft iſt uns wichtiger als Zanzibar und ganz Oſtafrika“, mag in dieſer Form nicht gefallen ſein, immerhin liegen Außerungen Bismarcks vor, die dasſelbe ſagen.

Im Reichstag ſelbſt erklärte er (26. Januar 1889): „Ich betrachte England als den alten tra⸗ ditionellen Bundesgenoſſen, mit dem wir keine ſtreitigen Intereſſen haben; wenn ich ſage „Bundesgenoſſen', jo iſt das nicht in diplomatiſchem Sinne zu faſſen; wir haben keine Verträge mit England aber ich wünſche die Fühlung, die wir ſeit nun mindeſtens 150 Jahren mit England ge⸗ habt haben, feſtzuhalten, auch in den kolonialen Fragen. Und wenn mir nachgewieſen würde, daß wir die verlieren, ſo würde ich vorſichtig werden und den Verluſt zu verhüten ſuchen.“

Als Peters ein halbes Jahr ſpäter ſeinen Zug über Witu ins Innere Afrikas antrat, erklärte die Regierung in der „Norddeutſchen Allgemeinen Zeitung“, daß, falls das Komitee ſie befragt haben würde, ſie von dem Unternehmen dringend abge⸗

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raten haben würde. „Die beſtehende Freundſchaft mit England iſt für uns von größerem Werte als alles, was die Expedition am oberen Nil im gün⸗ ſtigſten Falle erreichen könnte.“ Einige Tage ſpäter wurde ſogar erklärt, man beſorge nur die Geſchäfte unſerer europäiſchen Gegner, wenn man Deutſchland mit ſeinen Freunden (den Eng⸗ ländern) verhetze. „In Oſtafrika überſchreitet die

Ausdehnung unſerer Gebiete ſchon jetzt die zu

ihrer Ausnützung verfügbaren und bereiten Kräfte.“ Ganz im Einklang damit wurde im Oktober an Hol⸗ ſtein die Inſtruktion gegeben, die Erhaltung von Lord Salisbury als leitender Miniſter habe für Bismarck mehr Wert als ganz Witu.

So iſt Oſtafrika eigentlich von Karl Peters gegen den Willen Bismarcks für Deutſchland erworben worden.

In Bismarck und Bismarcks Politik iſt alles einheitlich.

Sein höchſtes Ziel war, den Frieden zu erhalten. In dieſem Beſtreben verhinderte er im Jahre 1878 den Krieg, den damals Oſterreich und England gegen Rußland führen wollten, und übernahm auf dem Berliner Kongreß die undankbare Rolle des

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Friedensvermittlers. Im Winter 1884/85 verhin⸗ derte er den ſtündlich erwarteten Krieg zwiſchen Rußland und England um Afghaniſtans willen. Um des Friedens willen wandte er mit der Zeit allen Mächten Vorteile zu, England Agypten, Frankreich ſein ganzes neues Kolonialreich, Oſterreich Bosnien und die Herzegowina; Italien hätte er Albanien, Rußland Bulgarien gegönnt. Was er für Deutſch⸗ land gewann, war verhältnismäßig wenig und geringwertig. Aber Deutſchlands Lage war ein⸗ mal ſo; auch ein Bismarck konnte das nicht ändern.“) Seine nächſten Nachfolger, denen nicht ſeine Welt⸗ autorität innewohnte, noch weniger.

Sie wollten und konnten zunächſt nichts weiter tun, als die Bismarckſche Politik mit allmählicher Steigerung der öffentlichen Mittel fortſetzen.

Die Sentenz, die Caprivi nachgeſagt wird: „Je weniger Afrika, deſto beſſer,“ finde ich nirgends bezeugt, immerhin ſagte er, „daß wir Gott danken könnten, wenn uns nicht jemand ganz Afrika ſchenkte“ (17. Februar 1894). Er hielt es für eine Ehrenpflicht, Gebiete, über denen nun ein⸗ mal die deutſche Flagge geweht habe, auch feſt⸗

) Vgl. Luckwaldt a. a. O.

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zuhalten, betont auch gleich in feiner erſten Rede (12. Mai 1890), daß nicht bloß wirtſchaftliche, ſondern auch nationale Intereſſen und Empfin⸗ dungen in Betracht kämen, ſein Blick aber war ge⸗ bannt durch die Gefahr des ruſſiſch⸗franzöſiſchen Krieges. Während Bismarck zwar auch in erſter Linie dieſer Sorge nachhing, dabei aber doch immer noch an der Hoffnung feſthielt, daß man ihr ſchließ⸗ lich entgehen werde, rechnete Caprivi ſchon damit, wie ich mich noch erinnere, aus ſeinem eigenen Munde gehört zu haben, daß dieſer Krieg früher oder ſpäter unvermeidlich ſei.

Die Vorſicht und Zurückhaltung, mit der die Bismarck⸗Capriviſche Kolonialpolitik betrieben wurde, verſchaffte Deutſchland wenigſtens indirekt einen großen Erfolg: Caprivi erwarb bei der Ab⸗ grenzung der engliſchen und deutſchen Gebiete in Afrika Helgoland im Austauſch für das kleine Königreich Witu (nicht Zanzibar, wie man zu ſagen pflegt, wo wir weder Anſprüche noch Aus⸗ ſichten hatten), und von welchem unſchätzbaren Werte dieſe Erwerbung für uns geweſen iſt, er⸗ kennt die allgemeine Meinung eigentlich erſt jetzt. Damals zweifelte ſelbſt die Marine daran, ob Hel⸗

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goland ihr einen ſtrategiſchen Nutzen ſchaffe, und der kommandierende Admiral ſelber äußerte dar⸗ über in ebenſo freimütiger, wie wenig weit⸗ blickender Weiſe dem Kaiſer ſeine Bedenken. Auch Bismarck, der ſich ſchon ſeit längerer Zeit bei den Engländern um Helgoland bemüht hatte, drückte ſich doch in Friedrichsruh recht zweifelnd über ſeinen Wert aus, ja er wies dieſe Erwerbung geradezu zurück, eben weil ſeine Politik noch ganz und gar auf die Abwehr des ruſſiſch⸗franzöſiſchen Angriffs eingeſtellt war und er dabei darauf rech⸗ nete, daß England zu uns halten werde. Er legte immer den höchſten Wert darauf, England nicht etwa auf die franzöſiſche Seite hinüberzutreiben. Im Gegenteil, England hat ihm ſogar helfen müſſen, was heute merkwürdig genug klingt, Italien dem öſterreichiſch⸗deutſchen Bündniſſe zu⸗ zuführen.

In Helgoland aber ſah er, wenn es deutſch wurde und England neutral blieb, den Stützpunkt für den zukünftigen franzöſiſchen Angriff auf unſere Nordſeeküſte. Daß wir einmal eine der franzö⸗ ſiſchen gewachſene deutſche Flotte haben würden,

ſah er noch nicht.

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Die Erwerbung von Helgoland war der einzige wirkliche Nutzen, den die deutſche Kolonialpolitik dem Reiche in den beiden erſten Jahrzehnten ge⸗ bracht hat. Im übrigen endete das Syſtem, das Bismarck, wie es ſchien, ſo wohl durchdacht und mit immerhin erheblichem Landgewinn aufgebaut und ſeine Nachfolger fortgeſetzt hatten, und für das allein der Reichstag ſich hatte ſtark machen wollen, mit einem, rund herausgeſagt, völligen Banferott.*)

Die Kräfte, auf die man gerechnet hatte, ver⸗ ſagten ſo gut wie vollſtändig.

Als die erſten „Kaiſerlichen Schutzbriefe“ ver⸗ liehen wurden, hatte Heinrich v. Treitſchke jubelnd in den „Preußiſchen Jahrbüchern“ (Bd. 54) ver⸗ kündigt, jedermann wiſſe, „daß ſie nicht, wie einſt jener Anſiedlungsverſuch Kurbrandenburgs, dem kühnen Einfall eines großen Kopfes entſtammten, ſondern daß eine ganze Nation ſie mit einem freu⸗ digen ‚endlich, endlich“ begrüßte.“ Aber der Jubel war verfrüht geweſen. Die Volksbewegung war wohl da, aber bei weitem nicht ſtark genug.

Die „fürſtlichen Kaufleute“, die große Kapita⸗ lien in eine Kolonie hineinſtecken konnten und

) Zimmermann S. 192.

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wollten, um die nächſte Generation die Früchte ernten zu laſſen, fanden ſich nicht. Die Geſell⸗ ſchaften, die halb aus Idealismus, halb aus Ge⸗ ſchäftsſinn gegründet wurden, hatten ihre Mittel ſchnell verbraucht. Die Perſönlichkeiten, die ent⸗ weder auf eigene Hand hinausgingen oder hinaus⸗ geſandt wurden, erwieſen ſich meiſt als ungeeignet, verſtanden weder politiſch noch wirtſchaftlich noch ſozial das Richtige zu tun und ſich richtig zu halten, zankten ſich untereinander, waren brutal gegen die Eingeborenen undreiztenſie zu Aufſtänden. Gar nicht abreißende Kolonialſkandale zeigten den deutſchen Nationalcharakter im ungünſtigſten Licht. Zwar iſt die Kolonialgeſchichte aller Völker vom Stand⸗ punkt der Humanität aus ſehr häufig unerquicklich zu leſen, aber in Deutſchland hatte man gehofft, daß die aus Idealismus geborene Bewegung von ſolchen Greueln unbefleckt bleiben werde. Der letzte und der eigentliche Fehler aber war, daß man das Koloniſieren unternommen hatte, nicht als einen großen politiſchen Akt, ſondern teils aus einem unklaren nationalen Tätigkeitsdrang, teils in der Vorſtellung, es handle ſich um einen rein wirtſchaftlichen Akt, um ein Geſchäft.

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Es hat in der Tat zuweilen Kolonien gegeben, die, als rein wirtſchaftliche Unternehmungen in Szene geſetzt, ſich rentiert haben. Aber das iſt nur geſchehen, wo beſonders günſtige Umſtände vorlagen und zuſammentrafen. Gerade indem in Deutſchland die erſten Gedanken auftauchten, daß auch unſer Volk an der transozeaniſchen Koloni⸗ ſation beteiligt werden müſſe, hatte man in Eng⸗ land die Rechnung aufgemacht, daß Koloniſation keineswegs ein beſonders rentables, ſondern ſogar ein verluſtbringendes Geſchäft ſei, und darüber das tiefere theoretiſche Verſtändnis für das eigene Tun, ſelbſt hier im Mutterlande der modernen großen Koloniſationen, ſo gut wie verloren.

Das 19. Jahrhundert, ſo reich es an idealiſtiſchen Gedanken und Taten geweſen iſt, iſt doch in hohem Maße erfüllt mit materialiſtiſchen Vorſtellungen. Auf dieſem Boden des materiellen Intereſſes, das das Leben der Völker beſtimmt, iſt ja die ſo⸗ genannte materialiſtiſche Geſchichtsauffaſſung er⸗ wachſen, die wiederum ein weſentliches Element der ſozialdemokratiſchen Bewegung geworden iſt. Kolonien, lehrte man in den fünfziger und ſech⸗ ziger Jahren in England, ſeien wirtſchaftliche

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Unternehmungen und danach zu beurteilen, ob jie als ſolche ein gutes Geſchäft darſtellten oder nicht. Der große Freihändler Cobden war zu dem Er⸗ gebnis gekommen, daß ſchließlich die Bilanz ein ſchlechtes Ergebnis aufweiſe, und in vollem Ernſt hatte man in England die Frage erörtert, ob es nicht am beſten ſei, ſich der Kolonien auf gute Manier zu entledigen. Selbſt der leitende engliſche Miniſter Gladſtone ſtand dieſen Auffaſſungen nicht fern, und bis auf dieſen Tag iſt ja auch in Deutſch⸗ land noch die Meinung ganz vorherrſchend, daß unſere Kolonialpolitik um wirtſchaftlichen Ge⸗ winnes willen inſzeniert worden ſei und betrieben werden müſſe. Man wollte die Rohſtoffe aus eigenen Kolonien beziehen und Waren dahin abſetzen. Leicht war da die Antwort gegeben, daß doch auch die fremden, namentlich die eng⸗ liſchen Kolonien dem deutſchen Handel durchaus nicht verſchloſſen ſeien, und daß es wirtſchaftlich ſo⸗ gar viel vorteilhafter ſei, den fremden Nationen die Laſt der Kolonialverwaltung zu überlaſſen, ſelber aber an den wirtſchaftlichen Vorteilen vermöge kaufmänniſcher Tatkraft und induſtrieller Leiſtungs⸗ fähigkeit ſo viel zu gewinnen wie möglich. Wandte

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man dagegen ein, daß ein ſolches Arbeiten und Ernten auf fremdem Gebiet doch immer von dem guten Willen der Fremden abhängig ſei und eines Tages abgeſchnitten werden könne, ſo ſchlug auch das nicht eigentlich durch, denn im Verhältnis zum überſeeiſchen deutſchen Geſamthandel konnte der Handel der eigenen deutſchen Kolonien immer nur einen ſehr geringfügigen Satz ausmachen.

Im Jahre 1913 belief ſich die geſamte Einfuhr in Deutſchland aus ſeinen Schutzgebieten auf 53 Millionen Mark, während die Geſamteinfuhr 10,8 Milliarden Mark betrug; von der Geſamt⸗ ausfuhr von 10,1 Milliarden Mark nahmen unſere Kolonien nicht mehr als 57 Millionen bei ſich auf. Aus der Fremde führten wir Olfrüchte für 300 Millionen ein, aus dem eigenen Machtbereich für 7 Millionen, ähnlich bei den anderen Rohſtoffen: Kautſchuk, Kakao, Baumwolle, Schafwolle, Hanf, Kupfer. Das iſt wirtſchaftlich nicht ſchlecht vom Geſichspunkt der Kolonien aus, wenn man be⸗ denkt, wie kurze Zeit ſie erſt nach Sammlung der nötigen Erfahrung und Überwindung der Kinder⸗ krankheiten ernſtlich im Betrieb ſind; vom Geſichts⸗ punkt des deutſchen Wirtſchaftslebens aus kommt

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es kaum in Betracht. Es handelt ſich um ½ % unſeres geſamten Außenhandels.

Lehrt denn wirklich aber die Kolonialgeſchichte der Welt, daß das Okonomiſche ihr Weſen ausmacht? Wie klägliche Gebilde wären die Staaten und Völker, wenn dem ſo wäre. Wer ſo rechnet, der hat ſelber jenen Krämergeiſt, den wir ſo oft den Engländern zum Vorwurf machen. Gibt es ja bei uns ſogar Leute, die den heutigen Weltkrieg aus wirtſchaftlichen Urſachen ableiten und ſich und uns einreden wollen, daß um irdiſcher Schätze willen unſere Jungen draußen bluten. Das Wirtſchaftliche iſt zwar immer die Grundlage des Daſeins, aber nicht ſein Zweck, ſondern nur Mittel zum Zweck. So iſt auch der letzte Zweck der Ko⸗ lonialpolitik nicht im Wirtſchaftlichen, ſondern im Nationalen und Politiſchen zu ſuchen.

Sehr verſchiedene Arten von Koloniſierung weiſt die Weltgeſchichte auf. Die Griechen kolo⸗ niſierten einſt durch Anlegung zahlloſer Handels⸗ ſtätten auf barbariſchen Gebieten vom Schwarzen Meer bis nach Spanien. Mit dieſer ihrer Kolo⸗ niſation haben ſie ſchließlich den ganzen Orient helleniſiert. Die Römer haben in Italien Kolonien

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angelegt, die einen halb bäuerlichen Charakter trugen und vielleicht am beſten als Ackerbürger⸗ ſtädte bezeichnet werden können. Mit ihrer Hilfe haben ſie Italien latiniſiert, den übrigen Okzident aber weſentlich durch die Verwaltung, durch ariſto⸗ kratiſche und ſtädtiſche Kultur. England hat Nord⸗ amerika teils durch ariſtokratiſche, teils durch bäuer⸗ liche, teils durch ſtädtiſche Anſiedlungen angliſiert, und ähnlich iſt im Mittelalter der heutige deutſche Oſten germaniſiert worden. Das bäuerliche Ele⸗ ment war darin das wenigſt bedeutende, jedenfalls nicht das entſcheidende; dieſes Entſcheidende gaben die überquellenden oberen Schichten. Das waren damals Ritterſchaft, Kirche und Kaufmannſchaft. Die Kaufmannſchaft, die mit dem Handwerker⸗ tum noch eng verbunden war, gründete die Städte, alle zuſammen verbunden mit der Kirche germani⸗ ſierten die unterworfenen Slawen und Preußen. Welcher Art der Koloniſation bedarf heute das deutſche Volk? Die ſicherſte aller Koloniſationen iſt die Bauernkolonie, die ein ſo kompaktes Volks⸗ tum ſchafft, daß es nicht entnationaliſiert werden kann und die Kolonie ſich fühlt, als ob ſie ein Stück des Mutterlandes ſelbſt wäre. An eine ſolche

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Bauernkoloniſation können wir heute nicht denken, aus dem einfachen Grunde, weil wir keine über⸗ zähligen Bauern mehr haben. Unſere ganze über⸗ ſeeiſche Auswanderung iſt ſchon ſeit Mitte der neun⸗ ziger Jahre auf 20—30 000 Seelen im Jahr ge⸗ ſunken, während wir gleichzeitig an eine Million ausländiſcher Arbeiter, Ruſſen, Polen, Ruthenen, Slovaken, Italiener, Skandinavier in Deutſchland beſchäftigen. Deutſchland iſt fein Auswanderungs⸗, ſondern Einwanderungsland. Die Bauern und landwirtſchaftlichen Arbeiter, die ſich anſiedeln laſſen möchten, brauchen wir aufs dringendſte in der Heimat und haben wenig oder nichts über See abzugeben. Was unſere Kolonien füllen und ihnen das Gepräge geben muß, iſt die Oberſchicht, die Tauſende mittleren und höheren Bildungs⸗ ſtandes, die unſer reiches Schulweſen unausgeſetzt produziert und für die wir im Vaterlande keine genügende Verwendung haben. Die Männer um die Dreißig, die in der Blüte ihrer Kraft ſtehen, und ſich alle Kenntniſſe und Fertigkeiten ange⸗ eignet haben zur Erfüllung eines größeren Wir⸗ kungskreiſes, ſitzen ja bei uns häufig müßig oder halbmüßig herum und warten auf eine Anſtellung

7 Delbrück, Bismarcks Erbe 193

mit kärglichem Gehalt. Dieſe müſſen wir als Techniker, Kaufleute, Pflanzer, Arzte, Aufſeher, Offiziere und Beamte ausſchicken, damit ſie die großen Maſſen der niederen Raſſen regieren, wie die Engländer Indien. Es kann nun aber nicht genügen, hier und da in einigen größeren und kleineren Landſchaften ſolche Oberſchichten aus⸗ zubreiten, ſondern einen dauernden und geſicherten nationalen Gewinn erzielt man nur vermöge der Schaffung eines ſo großen zuſammenhängenden Gebietes, daß die verſchieden gearteten Land⸗ ſchaften ſich gegenſeitig ergänzen, dadurch ſich ſtützen und feſthalten. Ein ſehr großes zuſammen⸗ hängendes Gebiet, das einheitlich verwaltet wird, gewinnt auch eine gewiſſe politiſche Konſiſtenz; das einheitliche Zollgebiet ſchafft Verbindungen und Intereſſen, die nicht ſo leicht zu zerſtören ſind. Städte mit größerer weißer Bevölkerung und eigenem kommunalen Leben verlangen ein ſehr großes Hinterland. Ganz feſt aber werden wir ein ſolches Kolonialreich an das Mutterland knüpfen, wenn wenigſtens einige Teile des Ge⸗ bietes ſo beſchaffen ſind, daß ſich über den Einge⸗ borenen nicht bloß ein wechſelndes, ſondern ein

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bodenſtändiges, hier und da vielleicht auch ein bäuer⸗ liches Deutſchtum behaupten und fortpflanzen kann.

Dieſe letzte Betrachtung habe ich im Jahre 1912 niedergeſchrieben. Die heutigen Kriegsläufte haben das Bild beſtätigt und vertieft. Ein ſehr großer Teil der höheren und mittleren Intelligenzen, die im Vaterlande kein ihren Fähigkeiten ent⸗ ſprechendes Arbeitsfeld fanden, ſuchten bisher ihr Brot in der Fremde. Während in Deutſchland außer einigen Jockeys, Tanzlehrern und Köchen weſentlich nur Sprachlehrer und Bonnen fremder Zunge ihre Bildung verwerten, haben wir Rußland Arzte, Apotheker, Lehrer, Ingenieure, Chemiker, Techniker, Brauer, theoretiſch gebildete Landwirte, Kaufleute, Vorarbeiter, höhere Handwerker uſw. geliefert, die nun ins Elend geraten, ihres Berufes verluſtig, nach dem Kriege in die Heimat zurück⸗ ſtrömen werden, ſo weit ſie nicht gar von den Ruſſen nach Sibirien transportiert, in Hunger und Froſt umgekommen ſind. Auch in England waren ganze Kolonien von Deutſchen des höheren und kleineren Mittelſtandes und nicht viel weniger in Frankreich. Wo ſoll ihnen allen eine neue Stätte an Stelle der zerſtörten errichtet werden?

a 195

Eine Gegend, wo wir fie hätten hinſenden können, um ſich mit einem bildſamen Volk niederer Kulturſtufe zu vermiſchen und dieſes zum Deutſch⸗ tum emporzuziehen, wie im Mittelalter unſere öſtlichen Nachbarn, gibt es heute nicht mehr. Wie aber, wenn wir dieſe Kulturſchicht über einer niederen Raſſe als Erzieher⸗ und Herrenſtand an⸗ ſiedeln, ein überſeeiſches Deutſchland ſchaffen, und die jetzt vergeudete Volkskraft für uns zu⸗ ſammenhalten und dem nationalen Tätigkeitsdrang ein unabſehbares neues Arbeitsfeld bieten?

Dazu aber gehört Weltpolitik, Seepolitik und Flotte. |

Von dieſer neuen Aufgabe, die die Idee einer deutſchen Kolonialpolitik dem deutſchen Weſen ſtellte, hatte Bismarck und Bismarcks Zeit noch keine Vorſtellung und konnte ſie noch nicht haben.

Grundſätzlich verzichtete der Staat damals darauf, ſich die Kinder des Volkes, die die Heima verlaſſen hatten, feſtzuhalten. „Gibt es ein zweites Volk auf der Welt,“ ſchreibt Paul Rohrbach“), „deſſen Regierung es über ſich gebracht hätte, Hunderttauſenden von Volksgenoſſen im Ausland

*) Der deutſche Gedanke in der Welt, S. 60.

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ihre Zugehörigkeit zur Nation abhanden kommen zu laſſen, bloß weil ſie ſo lange keine Formel finden konnte, nach der dieſe Deutſchen ihren nationalen Verpflichtungen genügen ſollten? War es nicht für den Deutſchen eine Schande, die zum Himmel ſchrie, daß ſein endlich einig gewordenes Vaterland es nicht mehr für der Mühe wert hielt, ſich um ihn zu kümmern, ſobald er zehn Jahre lang nach Verlaſſen der Heimat dem Heiligtum konſulariſchen Aktenpapieres fernblieb?“ Aber der Vorwurf für die Regierung wird gemildert, weil die breiteſten Schichten des Volkes in allen Ständen und Klaſſen nicht anders dachten.

Wir finden Spuren, wie der Begründer des Nationalſtaates mit dem Scharfblick des ſtaats⸗ männiſchen Genius die Tragweite der neuen Gedanken erkannte und ſie auch wieder ſozuſagen vor ſich ſelber verbarg, als er ſich dem Vorgehen

nicht mehr entziehen konnte.

Noch im Jahre 1881 äußerte er zu einem Ab⸗ geordneten: „Solange ich Reichskanzler bin, trei⸗ ben wir keine Kolonialpolitik. Wir haben eine Flotte, die nicht fahren kann; und wir dürfen keine verwundbaren Punkte in anderen Weltteilen

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haben, die den Franzoſen als Beute zufallen, ſobald es losgeht““). Als er nun aber die erſten Erwerbungen vor dem Reichstag vertrat und ihm entgegengehalten wurde, daß das Reich ja gar nicht in der Lage ſei, dieſen Gebieten ſeinen Schutz zu gewähren, da erwiderte er: „Die Kolonien laſſen ſich verteidigen vor den Toren von Metz.“ Iſt das wirklich zutreffend? Ja aber in noch viel höherem Maße nein. Jene Drohung „vor den Toren von Metz“ bedeutet eine Drohung mit dem Weltkrieg. Konnte man wegen jeder kleinen kolonialen Streitigkeit dieſe Herkuleskeule in die Hand nehmen? Konnte man Frankreich be⸗ drohen, wenn man mit England, Portugal, Japan oder China etwas auszumachen hatte?

Hier iſt der Punkt, wo ſich die nachbismarckſche Epoche von der bismarckiſchen ſcheidet: „Unſere Zukunft liegt auf dem Waſſer.“ Unſere innere Kraft wuchs und wuchs und wir blieben neben den Rieſenweltreichen die beſcheidene europäiſche Kon⸗ tinentalmacht. War es wirklich unſere letzte Beſtim⸗ mung, den heimiſchen Herd zu pflegen, unſere

) Zimmermann S. 64, nach Poſchinger, Fürſt Bis⸗ marck und die Parlamentarier III, 54

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Jugend auszubilden, damit ſie anderen Völkern ihr Können zutrage, unſere Polen und Dänen zu ſchikanieren und mit weißen, gelben und ſchwarzen Menſchen Geſchäfte zu machen?

Daß Bismarck in der Tat, wie wir oben ſchon geſehen haben, die Kolonialpolitik nur als etwas Beiläufiges, Außerliches, man möchte faſt ſagen, als eine dem Gemüt wohltuende Dekoration an den eigentlichen Mauern ſeiner nationalen Poli⸗ tik anſah, erkennt man noch nicht ſo ſehr an der zögernden und vorſichtigen Form ihrer Ein⸗ leitung, als an der Tatſache, daß er die Augen noch vollſtändig verſchloß vor der Flottenfrage. Im Jahre 1874 hatte man drei Panzerſchiffe gebaut, dann ſtellte man den Bau von Schlachtſchiffen bis zum Jahre 1888 wieder ein; ein einziges, noch dazu in der Konſtruktion völlig verfehltes kleines Panzerſchiff „Oldenburg“ lief 1883 vom Stapel, außerdem im ganzen fünf ungepanzerte Kreuzer und Patrouillenſchiffe. Die Aufgabe der deutſchen Seemacht, ſtellte man ſich vor, ſei eine rein defen⸗ five, die am beſten mit dem jüngſt erfundenen und ausgebildeten Torpedoboot geleiſtet würde. Von Hochſeeaufgaben für deutſche Kriegsſchiffe

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wollte man nichts wiſſen. Kein Zweifel, daß Caprivi hierin im Herzen ebenſo dachte wie Bis⸗ marck, und wenn nichtsdeſtoweniger er es geweſen iſt, der die Grundlage für unſere heutige Flotte gelegt und mit ſeiner außerordentlich geſchickten parlamentariſchen Taktik, indem er, wie bei der Heeresvorlage, auch die polniſchen Stimmen heran⸗ zog, die Majorität des Reichstages dafür gewonnen hat, ſo iſt der Grund nicht in einer tieferen poli⸗ tiſchen Einſicht zu ſuchen, ſondern war nichts als Entgegenkommen gegen den Willen eines Höheren, des Kaiſers: ganz wie Bismarck einſt ſich für die dreijährige Dienſtzeit eingeſetzt hatte, nicht ſowohl, weil er ſie ſelbſt für unerläßlich hielt, ſondern weil er den Willen König Wilhelms dadurch erfüllte. So iſt die Gründung der deutſchen Flotte ausſchließlich das Werk und der Wille Kaiſer Wilhelms II. geweſen, und Caprivis Verdienſt, freilich kein geringes, war die parlamentariſche Ausführung, auf welcher Grundlage dann der Admiral Tirpitz nach langer, ebenſo kunſtvoller, wie erfolgreicher Bearbeitung der öffentlichen Meinung das Werk hochgebracht hat.

An dieſer Stelle, und man kann ſagen allein an dieſer Stelle liegt die wirklich große und

200.

durchgreifende Abweichung von der Bismard- tradition, der Unterſchied zwiſchen dem alten und dem neuen Kurſe.

Es iſt richtig, daß ſchon Bismarck unſere haupt⸗ ſächlichſten kolonialen Erwerbungen gemacht hat, aber in einem Geiſt und unter Vorausſetzungen, die das Gedeihen von vornherein unmöglich mach⸗ ten. Schon er ſelbſt und in ſteigendem Maße ſeine Nachfolger mußten zu dem urſprünglich allgemein perhorreſzierten franzöſiſchen Syſtem übergehen und Reichsmittel für die Kolonien flüſſig machen. 1885 hatte er auf die Frage Bambergers, ob im Falle des Mißerfolges der kolonialen Geſellſchaften das Reich für ſie eintreten werde, erwidert: „Wie kann man das von mir annehmen, daß ich dann mit der den Deutſchen eigentümlichen Schwer⸗ fälligkeit eine ſolche mißglückte Frage als eine nationale erkläre; wenn Sie jemals einen ſolchen Reichskanzler hätten, müßten Sie ihn fortjagen.“ Aber ſchon von 1889 an mußte der Reichstag um Bewilligungen angegangen werden, die im Jahre 1913 auf faſt 100 Millionen geſtiegen ſind.

So alt der Satz iſt, daß man nicht ernten kann, was man nicht geſät hat, ſo ſcheint es, müſſen ihn

201

doch die Völker auf neuen Gebieten immer erſt von neuem lernen. Frankreich hat ſich in der Generation ſeit 1870 nicht nur durch den Revanchegedanken, ſondern auch durch ſeine großartige und erfolgreiche Kolonialpolitik aufrecht erhalten und verjüngt. Das deutſche Kolonialweſen ſtand lange in dem Ruf, daß nur verkrachte Exiſtenzen und bodenloſe Aben⸗ teurer ſich darin tummelten und wohlfühlten “).

Die erſte und wichtigſte aller nationalen For⸗ derungen, die wir bei dem zukünftigen Friedens⸗ ſchluß zu erheben haben, wird die eines ſehr großen Kolonialreiches ſein müſſen, eines deutſchen Indien. Das Reich muß ſo groß ſein, daß es ſich im Kriegs⸗ fall ſelbſt zu verteidigen fähig iſt. Ein ſehr großes Gebiet kann kein Feind vollſtändig beſetzen. Ein ſehr großes Gebiet ernährt eigene Truppen und birgt zahlreiche Reſerviſten und Landwehrmänner. Indem Eiſenbahnen die Hauptpunkte verbinden, ſind die verſchiedenen Gegenden in der Lage, ſich wechſelſeitig zu unterſtützen. Ein ſehr großes Ge⸗ biet kann eigene Munitions⸗ und Waffenfabriken haben. Ein ſehr großes Gebiet hat auch Häfen und Kohlenſtationen.

) Wiedenfeld S. 8.

202

Indem ein ſolches Kolonial⸗Deutſchland uns zur Weltmacht erhebt, bringt es uns zugleich die Löſung der ſchwerſten aller ſozialen Fragen, die Schaffung einer befriedigenden Tätigkeit für die aufſteigenden Söhne des Volkes, den Über⸗ ſchuß in der Intelligenz, der zu Hauſe keinen Arbeitsplatz findet. Haben wir nicht jetzt ſchon zu viel Abiturienten? Zu Viele, die über den Stand des Vaters heraufzukommen bemüht ſind in ehr⸗ lichem Vorwärtsſtreben und dann nicht wiſſen, wo ſie bleiben ſollen? Geht nicht der allgemeine Wunſch dahin, daß nach dem Frieden für die be⸗ gabteren Kinder aller Klaſſen die höheren Bildungs⸗ ſtufen zugänglich gemacht werden ſollen? Erſt dann aber wird der Zweck voll erreicht, wenn für die gute Ausbildung auch eine gute Verwertung ge⸗ funden wird, und das kann nur geſchehen über Land und See. Geſchieht es aber, ſo ſchafft man damit zugleich eine Verbreiterung und Bereiche⸗ rung unſeres Volkstums, die durch ihre Rückwirkung die ſtockenden Säfte in dem eingeengten Europa⸗ Deutſchland in Bewegung erhält.

Der Koloniſt, der ſich ſelber fein Schickſal ſchafft, bildet ein anderes Selbſtgefühl aus, als wer im

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gewohnten Trott zu Haufe feinen Weg läuft. Das Sprichwort „Bleibe im Lande und nähre dich redlich“, iſt ebenſo philiſterhaft wie es brav iſt. Der Blick weitet ſich auf der See und der Wille ſtählt ſich. Der Überſeedeutſche iſt ein anderer Deutſcher als der Heimdeutſche, und beide zuſammen werden das größere und höhere Deutſchtum des 20. Jahrhunderts her⸗ vorbringen, die Vermehrung ſeiner ideellen und materiellen Kraftfülle und Lebensbetätigung (Rohrbach). | |

Wir haben eine derartige Ergänzung des heim- deutſchen Volkstums um ſo dringender nötig, als unſere Entwicklung auf eine immer ſtärkere Sozia⸗ liſierung unſeres Wirtſchaftslebens hinweiſt. Alle Erfahrungen des Krieges dienen dazu, die ſchon längſt vorhandene Tendenz mit einem Rieſendruck zu verſtärken, und man darf das, um dem Aus⸗ wachſen des Kapitalismus zum Mammonismus entgegenzuwirken, nur gern und freudig will⸗ kommen heißen. Aber dieſe Entwicklung hat auch eine Schattenſeite, vor der wir die Augen nicht verſchließen dürfen. Die Sozialiſierung des Wirt⸗ ſchaftslebens oder der Staatsſozialismus, wie man

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es auch genannt hat, die Monopole, die Ver⸗ waltung ganzer Wirtſchaftszweige durch Staats⸗ beamte oder rieſige Geſellſchaften und ihre Direk⸗ toren verringert die Zahl der ſelbſtänd igen Perſönlichkeiten, die, um ſich ſelbſt auf eigene Gefahr und Verantwortung vorwärts zu bringen, zugleich dem Wachstum des Ganzen dienen. Pflichttreue und gewiſſenhafte Beamten ſind etwas Gutes, aber der unternehmende, wage⸗ mutige Geſchäftsmann und Kaufmann ebenſo, und jedenfalls für eine geſunde, fortſchreitende Nation und einen kräftigen Nationalcharakter unentbehrlich. Die Kolonien, die See und das Arbeiten im Ausland überhaupt, wo der Mann allein auf ſich ſelbſt geſtellt iſt, ſollen uns wiedergeben, was wir zu Hauſe vielleicht um eines höheren Zweckes willen teilweiſe opfern müſſen.

Iſt aber Zentralafrika, das man dafür zunächſt ins Auge faſſen möchte, auch wenn man es noch ſo ſehr ausdehnt, imſtande, ſolche Laſt zu tragen? Iſt der Boden geeignet? Iſt er, nicht bloß im na⸗ türlichen Sinne, ſondern auch ganz allgemein ge⸗ ſprochen, fruchtbar genug? Tragkräftig genug?

205

Sit etwa ſtatt deſſen oder daneben Hinterindien, Cochinchina in Ausſicht zu nehmen?

Darüber haben wir hier nicht zu handeln. 8c ſchreibe nicht über Kriegsziele, ſondern will feſt⸗ ſtellen, was heute unſere nationale Aufgabe iſt, in derſelben Weiſe wie im Jahre 1862, als Bis⸗ marck ans Steuer berufen wurde, die Einigung die nationale Aufgabe war. Es iſt die Schaffung eines größeren Deutſchland vermöge neuer weiter Arbeitsgebiete, auf denen das Deutſchtum der Auswanderer ſich zu erhalten vermag und ſich ſelbſt und damit auch Altdeutſchland mit neuen Kräften und Anregungen bereichert.

Genügt Afrika, oder welches exotiſches Gebiet es ſei, dafür nicht“), ſo gibt es zu unſerem Heil

*) Um Mißverſtändniſſe zu vermeiden, möchte ich aus⸗ drücklich hinzufügen, daß etwa der belgiſche und franzö⸗ ſiſche Kongo allein das deutſche Indien, das wir anſtreben müſſen und nach unſerem Kriegserfolge beanſpruchen dürfen, nicht fein könnten. Zwar kann dieſes Aquatorial⸗ land der ſpäteren Zukunft Schätze bieten, die man heute kaum ahnt, aber für die nächſte Generation wird es wegen ſeiner außerordentlich dünnen Bevölkerung noch unergiebig bleiben und bringt nicht nur nichts, ſondern koſtet. Erſt wenn die ringsherum liegenden, jetzt in engliſcher Hand befindlichen reichen Gebiete hinzugefügt werden, ſind hier ſofort die realen Vorbedingungen für ein deutſches Indien in ausreichendem Maße gegeben.

206

1 5

noch eine andere Art der Koloniſation und ein anderes Kolonialfeld, das uns gleichzeitig dieſer Krieg öffnet und ſchon jetzt mit Sicherheit zur Ver⸗ fügung hält. Die Türkei, die noch immer in Europa, in Kleinaſien, in Syrien, in Meſopotamien die älteſten und ergiebigſten Kulturgebiete der Menſch⸗ heit beſitzt, ſucht den Anſchluß an die europäiſche Kultur und kann, wenn ſie dieſen Krieg ſiegreich überſteht, von dieſer Bahn nicht mehr zurück. Sie bedarf dazu der europäiſchen Lehrmeiſter, und kann ſie nirgendwo anders mehr ſuchen, als bei den Deutſchen. Man hat früher von der Anſiedelung deutſcher Bauern in Kleinaſien oder Meſopotamien geſprochen: es kann keinen verkehrteren Gedanken geben; die Türken ſelbſt würden es ſich verbitten. Deutſche Lehrmeiſter aber und deutſches Kapital, um ein neu⸗türkiſches Staatsweſen zu gründen und das älteſte Kulturland vom wirtſchaftlichen Tode zu erwecken, das ergäbe eine Gemeinſam⸗ keit des Wirkens und der Intereſſen, die durch keine politiſchen Intrigen wieder zerriſſen wer⸗ den könnte. Mit den Reiſen des Kaiſers nach Kon⸗ ſtantinopel und Jeruſalem und mit dem Bau der Bagdad⸗Bahn durch deutſche Ingenieure und mit

207

deutſchem Kapital hat dieſe Politik einſt eingeſetzt. Eine dauernde enge wirtſchaftliche, wie pädago⸗ giſche, wie politiſche Verbindung ſoll uns jetzt die Epoche nach Abſchluß dieſes Krieges bringen. Paul Rohrbach hat das ſchon vor dem Kriege ſehr ſchön aus⸗ gedrückt“): „Nicht die politiſche oder ökonomiſche oder koloniſatoriſche Germaniſierung der Türkei oder dieſes oder jenes Stückes von ihr iſt es, was wir wol⸗ len, ſondern die Hineinleitung deutſchen Geiſtes in den großen nationalen Erneuerungsprozeß, der das⸗ jenige Volk des Orients erfaßt hat, dem die Zukunft und die politiſche Herrſchaft zwiſchen dem Perſiſchen Golf und dem Mittelmeer gehört und gehören wird!“

Wir ſind wieder angelangt bei dem Punkt, wo wir die erſte große poſitive Abweichung des neuen Kurſes von der Bismarckſchen Tradition feſtſtellten, der deutſchen Orientpolitik. Auch hier iſt ein Stück unſerer Seepolitik: unſere Schiffe und unſere Matroſen kämpfen heute im Schwarzen Meer und an den Dardanellen. Unſere Schlachtflotte feſſelt die meiſten, ſtärkſten und beſten Schiffe Englands in der Nordſee und hindert ſie an den Meerengen den Todesſtoß zu führen, dem die

) Der deutſche Gedanke in der Welt, S. 238.

208

r

Teilung des osmaniſchen Reiches folgen würde. Bismarck hat noch ganz ernſthaft den Gedanken, daß wir den Ruſſen Konſtantinopel laſſen könnten, erwogen. Heute wiſſen wir, daß unſer Volk da⸗ mit abgeſägt wäre von dem vielleicht wichtigſten Arbeitsgebiet ſeiner Zukunft. Schon Friedrich Liſt und Leopold Ranke haben es vorausgeſagt, der geniale öſterreichiſche Miniſter Bruck hatte bereits vor 60 Jahren die Umriſſe für praktiſche Pläne entworfen, die Gegenwart führt uns auf Adlers Fittichen dem Ziele zu. |

Von der Nord⸗ und Oſtſee bis zum Perſiſchen und Roten Meer wird ſich zwar kein deutſches Herr⸗ ſchaftsgebiet, aber ein Arbeitsgebiet für den deut⸗ ſchen Geiſt, das deutſche Organiſationstalent und die deutſche Wirtſchaftskraft erſtrecken, das wir einſt im Frieden uns zu gewinnen trachteten, nun aber, da wir es vor den Geiergriffen der anderen mit dem Schwerte haben ſchützen müſſen, durch die Bande der Kriegskameradſchaft und der Dank⸗ barkeit auf immer uns verbunden haben. Babylon und Ninive ſind heute Trümmerſtätten, aber das Land, das einſt dieſe Prachtreſidenzen ernährte, be⸗ darf nur einer geordneten, zielbewußten Regierung,

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um ſich von neuem mit der alten Fruchtbarkeit zu bedecken. Wenn Deutſchland die Hand reicht, wird die Erſtarrung, die jetzt über jenen Gefilden liegt, ſich löſen. Konſtantinopel, Damaskus, Je⸗ ruſalem, Mekka, Moſſul, Bagdad das Reich des Sultans iſt groß: es bedarf unſer zu ſeiner Er⸗ hebung; wir bedürfen ſeiner, weil wir eine Auf⸗ gabe haben müſſen. Die Aufgabe iſt keineswegs leicht. Der Iſlam und die europäiſche Kultur ſind einander in ihren Grunderſcheinungen ſo ſchroff entgegengeſetzt, daß man theoretiſch an einem Aus⸗ gleich faſt verzweifeln möchte. Wäre der Muſel⸗ mann bloß rückſtändig dem Europäer gegenüber, ſo könnte man hoffen, ihn mit einigem Schieben vorwärts zu bringen. Er iſt aber nicht bloß rück⸗ ſtändig, ſondern er iſt zugleich dem Europäer, nicht bloß dem Levantiner, ſondern auch dem wirklichen Europäer in mancherlei Tugenden über⸗ legen“). Dieſe Tugenden machen ihn uns ſym⸗ pathiſch, ſie erwecken die Hoffnung, daß ein ſo tüchtiger Kern, ſo tapfere, ehrliche, würdige Männer mit den Ideen Europas in Berührung

*) Jäckh, Der aufſteigende Halbmond. Deut⸗ ſche Verlagsanſtalt.

gebracht nur um jo mehr müßten leiſten können. Aber es gilt, ihnen dieſe Ideen nahezubringen, ohne ſie die Tugenden ihrer Überlieferung und ihrer Religion darüber verlieren zu laſſen. Der Krieg ſelbſt hat uns jetzt ſo feſt aneinandergeſchmie⸗ det, daß wir getroſt die Hand ans Werk legen dürfen. Wie gern hätten unſere Feinde die Türken in dieſem Kriege neutral bleiben ſehen! Wie ſänftiglich gingen ſie mit ihnen um um ſie, nachdem fie uns niedergeworfen, freundſchaftlich unter ſich zu verteilen. Die Türken hatten po⸗ litiſchen Scharfblick genug, das zu erkennen, und haben ihrerſeits zur Waffe gegriffen, ehe es zu ſpät war. Nicht bloß wir ſind ihnen, auch ſie ſind uns zu Hilfe gekommen, und ein ſolcher Bund hat Zukunft. Mag dieſer Krieg noch die Engländer aus Agypten vertreiben oder nicht was iſt die engliſche Herrſchaft am Nil, wenn die Türkei ſich jetzt behauptet, ſich militäriſch und wirtſchaftlich verjüngt und aufrafft und ihr Eiſenbahnſyſtem ſo ausbaut, daß es große Armeen mit allem Zubehör bis an die ägyptiſche Grenze befördern kann? Mit 6000 Mann europäiſcher Beſatzung hat bisher Eng⸗ land in Friedenszeiten das Pharaonenland zu

211

behaupten vermocht. Wie auch immer die zu⸗ künftigen Friedensbedingungen lauten mögen, mit dieſem Idyll der engliſchen Weltherrſchaft iſt es vorbei.

Bismarcks Erbe. Auf allen anderen Gebieten iſt, wie wir uns überzeugt haben, ſein Erbe ver⸗ waltet worden in ſeinem Sinne. Nicht ſo, daß die Einzelheiten der Ausführung dem entſprochen hätten, wie er es ſich gedacht hat. Im Gegenteil, wir haben geſehen, daß auf vielen und wichtigen Gebieten die Fortbildung geſchah in einer Weiſe, der er ſelber heftigen Widerſpruch entgegengeſetzt hat oder ſicherlich entgegengeſetzt haben würde. Er hat auch in Friedrichsruh noch ſelbſt genug gemurrt über das, was ſeine Nachfolger anſtellten. Nichtsdeſtoweniger läßt ſich mit Fug behaupten, daß die Fortbildung in ſeinem Geiſte geſchehen iſt. Ja, hinſichtlich der auswärtigen Politik ſind neuerdings ſogar Behauptungen aufgetaucht, daß man ſich nur zu ſehr an ſeine Überlieferungen gehalten habe. Sein Beſtreben, unter allen Um⸗ ſtänden den Frieden zu wahren und ſeine Lehre, unter keinen Umſtänden einen Präventivkrieg zu führen, ſei nur zu ſtrikt befolgt worden. Man kann

212

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dieſer Auffaſſung nicht entſchieden genug wider⸗ ſprechen. Kein Satz aus dem Nachlaß Bismarcks ſteht höher als die Verwerfung des Präventiv⸗ krieges, und nichts iſt mehr zu preiſen, als daß wir dieſem ſeinem Geſetze treu geblieben ſind. Ihm verdanken wir nicht bloß das gute Gewiſſen, mit dem wir jetzt in den Kampf gegangen ſind, ſondern auch die überwältigende Erſcheinung der Einmütig⸗ keit unſeres Volkes, wie unſere zweitauſendjährige Geſchichte ſie noch niemals aufzuweiſen vermocht hat.

Hinausgegangen aber iſt unſere Epoche über Bismarck vermöge unſeres Übergangs von der Kontinental⸗ zur Weltpolitik. Sie hat ſich damit von Bismarck entfernt, hat ſie ſich aber damit auch in Widerſpruch zu ihm geſetzt? Das deutſche Volk wird heute einmütig antworten: es iſt kein Widerſpruch, es iſt die Erfüllung. Ein Widerſpruch wäre erſt da, wenn man den nationalen Boden ſeiner Politik aufgeben, wenn man aus Deutſchland einen Na⸗ tionalitätenſtaat machen oder in irgendeiner Form eine deutſche Welthegemonie anſtreben wollte. Das iſt es, wovor er ſtets gewarnt, was er immer wieder abgelehnt hat. So ſchon bei der Kaiſer⸗ proklamation in Verſailles. So in der großen

213

Reichstagsrede, in der er den Berliner Kongreß an- kündigte (19. Februar 1878), wo er erklärte, „ich bin nicht der Meinung, daß wir den napoleoniſchen Weg zu gehen hätten, wenn auch nicht der Schieds⸗ richter, gewiſſermaßen auch nur der Schulmeiſter in Europa ſein zu wollen“. Ahnlich in der erſten An⸗ ſprache, die er nach ſeinem Rücktritt an eine Abord⸗ nung der Techniſchen Hochſchulen Deutſchlands hielt (22. März 1890): „Das größte Glück für Deutſch⸗ land iſt der Friede; ich glaube nicht, daß je ein deutſcher Kaiſer mit einem Blick auf die Landkarte napoleoniſche Eroberungsgelüſte hegen wird“.

Das Erbe Bismarcks iſt bewahrt worden, indem man auch nach ſeinem Abgang noch 24 Jahre lang den Frieden gehütet. Es iſt aber erſt recht erfüllt worden, als man, da nun der Friede ſich nicht länger wahren ließ, ſo hochgemut und zuverſicht⸗ lich wie nur je er ſelber in den Kampf eingetreten iſt, zunächſt um unſer Daſein zu verteidigen, dann aber weiter, um neben den anderen Weltmächten ſelber Weltmacht zu ſein.

Geſchrieben im März April 1915.

RUF

r

Regiſter“

Abgeordnetenhaus, preußiſches 15, 20, 112.

Agypten 174, 183, 211.

Afghaniſtan 183.

Afrika 178 ff.

Agrarier 86.

Albanien 183.

Albert, König v. Sachſen 49.

Ansbach⸗Bayreuth 32f.

Anſiedlungskommiſſion 146.

Arbeiterſchutzgeſetz 108, 123.

Attentate 27, 89.

Auguſta, Kaiſerin 26, 68.

Baare, Kommerzienrat 177. Babelsberg, Unterredung in 20 Baden 52.

Bagdad 210.

Bagdadbahn 209. Bamberger, Ludwig 201.

Bayern 26, 50, 51 ff., 175.

Belgien 43—45.

Bennigſen, Rud. v., 23, 26, 40, 81, 84, 91, 103.

Berlepſch, v., Miniſter 156.

Berliner Kongreß 182f.

Blankenburg, Moriz v. 41, 83.

Bleichröder 126.

Blumenthal 64.

Böhmen 32.

Bosnien 183

Boſſe, Miniſter 136.

Bötticher, v., Staatsſekretär 118, 128, 135 f.

Brandenſtein, v., General 63.

Branntweinmonopol 97.

Branntweinſteuer 111.

Brenner, Weltreiſender 176.

Brinkmann, Biſchof 79.

Bronſart v. Schellendorf 68.

) Die am häufigſten vorkommenden Namen, wie Bis march, Wilhelm I. uſw., ſind nicht als Stichworte aufgenommen.

217

Bruck, öſterr. Miniſter 209. Bucher, Lothar 175. Bulgarien 183.

Bundestag, deutſcher 23. Burenrepubliken 174.

Canrobert 46.

Caprivi 15, 16, 146, 156, 158, 161 f., 165 f.

Centrum ſ. Zentrum.

Chalons 46.

China 174, 198.

Cobden 189.

Colin, Großkaufmann 176.

Dänemark 24.

Decken, v. d., Klaus 176.

Delbrück, Rudolph 50.

Denhardt, Gebrüder 176.

Deutſche im Ausland 195.

Diäten 116f.

Dienſtzeit, drei⸗ und zweijährige 15—17.

Duncker, Franz 81.

Eberhard, Biſchof 79.

Elſaß⸗ Lothringen 50, 106,

Elſäſſer, Partei 93, 99.

England 14, 158, 181, 183, 188, 191, 198.

Eulenburg, Graf Fritz 40, 82, 148.

„Europäer“, Bismarck als 152.

Fabri, Miſſionsinſpektor 176, 180. Falckenſtein 59.

Falk, Kultusminiſter 76.

Flotte 51, 199f.

Forckenbeck, Max v. 21, 40. Formoſa 177.

218

Fortſchrittspartei 40f., 51, 81, 9,

Frankenſteinſche Klauſel 95. [101,

Frankfurt 38.

Frankfurter Parlament 12 f., 28.

Frankreich 14, 25, 34, 42, 58 f., 100, 106, 183, 198.

Franz Joſeph, Kaiſer 25.

Freikonſervative Partei 41, 89.

Freiſinnige Partei 16, 94, 99, 101, 111, 124, 127, 139, 162 f., 179.

Friedrich der Große 11. Friedrich III., Kaiſer 26, 35 f., 41,

49, 51, 68f., 110, 153 Friedrich VII. von Dänemark 24. Friedrich Karl, Prinz 32. Friedrich Wilhelm I. 11. Friedrich Wilhelm IV. 13, 22, 75. Friedrichsruh 113, 123, 139, 168, Frieſen, v., Geſandter 78. (212.

Gambetta 60, 63, 65. „Gedanten und Erinnerungen“ 35, Germania 110. ˖ 1139. Gerlach, Ludwig v. 41, 75, 81. Getreidezölle 105, 164

Gladſtone 189.

Gneiſt, Rudolf v 21.

Goltz, Graf Robert 44.

Gramont, Herzog v. 46. Großdeutſche 74.

Hagen, M. v. 171. Hamburg 140, 176. Hamburger Nachrichten 110.

Hammerſtein, v., Chefredakteur Handelsverträge 164. 1109. Hannover 38, 74. Hanſemann 176.

Helgoland 164, 184 ff.

Helldorf⸗Bedra, v. 121, 124, 129.

Horrmann, H. 128, 168. Hohenlohe, Prinz 78. Holland 43.

Holſtem, v. 158. Hoverhed, Freiherr v. 81. Huene, lex 96.

Indemnität 31.

Indien 174. |

ein deutſches 202. Snfallibilität, päpſtliche 76, 79 Invaliditätsverſicherung 105, 145. Iſlam 208.

Italien 27, 45, 47, 76, 188. Jäckh, Ernſt 210.

Japan 174, 198.

Jeruſalem 207. 210.

Jolly, Miniſter 49.

Jühlke, Afrikareiſender 176. Juſttzgeſetze 83.

Kaffeezoll 83.

Kaiſerproklamation 212.

Kardorff 129. 149.

Karl, Prinz 33.

Kartell 104 ff. 111, 124.

Katholiſche Kirche 75.

Kerſten, Weltreiſender 176.

Keudell, n., Botſchafter 135

Kladderadatſch 26, 135.

Kleinaſien 207.

Kleiſt, Chef des Ingenieurweſens 64.

Kleiſt⸗Retzow, Hans v. 41.

Klerikale 42, 56, 74.

Kögel, Oberhofprediger 76.

Köller, v., Miniſter 168.

Kolonialpolitik 171—210.

Kolonialſkandale 187.

Koloniyation, ältere 172, 191 ff.

Kongoſtaat 175.

Königgrätz 30, 32.

Konſtantmopei 207, 210.

Kontinental politik 171, 213,

Konſervative Partei 41, 82, 92, 127. 139.

Krankenkaſſengeſetz 92, 145.

Kreisordnung in Preußen 140.

Kreuzzeitung 109.

Kroaten 154.

Kronrat 122.

Kulturkampf 74, 87, 111.

Kurheſſen 38.

Landgemeindeordnung 156.

Ledochowsti, Kardinal 76, 79, 153.

Lehndorff, Graf, Flügeladiutant

Leo XIII. 87. 128—30.

Leonhard, Juſtizminiſter 40.

Leovold II. von Beigien 175.

Lerchenfeld Graf 114

Lippe, Graf 40.

Lift, Friedrich 209.

Luckwaldt, Friedrich 159.

Lüderitz 176.

Ludwig, Konig von Bayern 53,

Luxemburg 43.

Mac Mahon 46.

Magyaren 154. Maigeſetze 78.

219

Maltzahn, v., Weltreiſender 178.

Maltzahn⸗Gült, v., Führer der Konſervativen Partei 130, 133.

Maybach, Miniſter 113.

Manteuffel, v., Feldmarſchall 70.

Marcks, Erich 73.

Martin, Biſchof 79.

Matrikularbeiträge 95.

Mekka 210.

Melchers, Erzbiſchof 79.

Meſopotamien 207.

Metz 170, 198.

Militärvorlage 101 ff., 107.

Miquel 91, 103, 135.

Mittelſtaaten 25, 52f.

Moltke 28, 29, 31, 85, 37f., 57, 66 ff., 71.

Monopole 97, 112.

Moſſul 210.

Mühler, v., Kultus miniſter 40, 76.

Nachtigal 176.

Napoleon I 214.

Napoleon III. 25, 27, 35, 43 ff.

Naſſau 38.

Nationalliberale 39 ff., 81, 89 ff., 96, 102, 110, 165

Nationalverein 22.

Nikolaus II. 159.

Nikolsburg 35, 43 48

Norddeutſche Allgemeine Zeitung 127, 175.

Norddeutſcher Bund 38, 42, 48f.

Oldenburg, Panzerschiff 199.

Orientpolitik, deutſche 160 208 f.

Oſtafrita 181f.

Oſterreich 11, 14, 23, 27, 32, 33, 35, 45, 47, 56, 116, 158, 182.

220

Öfterreichiich-Schleften 82. Oſtſeeprovinzen 172.

Panſlawismus 150 ff

Papſt 88, 99.

Paris 59f.

Perſien 174.

Peters, Karl 176, 181. Petersburg 44, 159.

Pfeil, Graf Joachim 176.

Pius IX. 86.

Polen 94, 99, 124, 150, 164, 178. Polniſche Frage 16, 146—156. Portugal 198.

Poſchinger, E. v. 198. Präventivkrieg 213.

Ranke, Leopold v. 209.

Rauchhaupt, v. 127.

Reichsgericht 117.

Reorganiſation der Armee 15, 19,

Richter, Eugen 16. 938

Roggenpreiſe 87. N

Rohlfs 176.

Rohrbach, Paul 196, 204, 208.

Rom, Konzil zu 76.

Roon, Albrecht v., 18, 28, 30, 37f., 62, 66, 80.

Rößler, Konſtantin 141.

Rottenburg 136.

Rumänen 154.

Rußland 14, 44, 100, 108, 112, 126, 151, 153, 159ff., 182f

Sachſen 32 f., 35, 49. Schanz, Nationalökonom 95. Schleswig⸗Holſtein 24, 38. Schnäbele 106.

Schneider, Hans 159.

Scholz, Finanzminiſter 114.

Schutzgebiete, Ein⸗ und Ausfuhr

Schutzzölle 86, 95, 111. 1190.

Schweinfurth. Georg 176.

Sedan 60.

Septennat 103.

Serben 154.

Simſon, Eduard v. 19, 21.

Sozialdemokraten, Sozialdemo⸗ kratie 89, 98, 111, 116, 124, 139, 168, 178.

Sozialiſtengeſetz 74, 89 ff., 97, 110, 120, 122, 130 f., 143f.

Sozialreform 74, 105, 108.

Spaniſche Thronkandidatur 47.

Sprachverein 152.

Stanley 173.

Stauffenberg, Freiherr von 179.

Stöcker, Hofprediger 104, 109.

Stoſch, v., General 72.

Süddeutſche Staaten 42, 48 f., 115.

Sybel, Heinrich v. 21.

Syrien 207

Tabaks monopol 97.

Thimme, Fr., Hiſtoriker 128—136.

Tiedemann, v., Chef der Reichs⸗ kanzlei 129 152.

Tirpitz. Admiral 200.

Treitſchke, Heinrich v. 152, 186.

Tripolis 174.

Trochu, General 61.

Tunis 174.

Türfei 161, 174, 207f.

Tweſten, Karl 21, 39, 41.

Unfallverſicherungsgeſetz 93, 145. Unruh, Hans v. 21.

Varzin 86.

Venetien 27.

Verdy du Vernois 63.

Verfaſſungskonflikt in Preußen 15, 18, 22, 25.

im Reich 116 ff., 143.

Verſailles. Kaiſerproklamation 55, 140, 213.

Viktoria, Kaiſerin 68, 153.

Wahlrecht 26, 31, 117ff.

Walderſee, Graf, General 109, 167.

Walpole, engliſcher Miniſter 137.

Weber, von, Weltreiſender 176.

Weizenpreiſe 87.

Welfen 94, 99.

Welthegemonie 213.

Weltpolitik 171, 213.

Werder, v., General 70.

Wiedenfeld, Kurt 172, 202.

Wien 32, 44. s

Wilmowski, v., Kabinettsrat 70.

Windthorſt 92, 105, 126, 136.

Wirtſchafts kriſis 84 ff.

Witu 181. 184.

Woermann 176.

Württemberg 52.

Zanzibar 181, 184.

Zedlitz, Graf, Oberpräſident 150, Zentralafrika 205. [164f. Zentrum 76, 88, 92ff., 96, 98f.,

139, 150, 162, 179.

Zimmermann, A. 171, 186, 198. Bollparlament 42.

Zollverein 42.

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